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Full text of "Russische Revue - Monatsschrift für die Kunde Russlands 7.1875 Stanford"

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I 



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. . • r \ 0 

RUSSISCHE REVUE 

MONATSSCHRIFT 

FÜR DIE KUNDE RUSSLANDS 

Herausgegeben 

von 

Carl Röttger. 

VII. BAND. 

ST. PETERSBURG 

Kaiserliche Hofbuchhandlung H. Schmitzdorff 

(CARL RÖTTOEBl 

1875 


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STANFORD UNlVERSHY 
U8RARICI 


JA« 


Stacks 


R Z3 

v. 7 


JlossoJieHO ucHaypoio.— C.-rieTepÖypre», ii-ro JJeiraöpi 1875 ro/uu 


Buchdruckerei von Röttgkr & Schneidet, Newsky-Prospect M 5* 


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Inhalts-Verzeichniss. 


Seite. 

_^Zur Charakteristik der literarischen Bewegungen in Russ- 
' land in den Jahren 1820—1860. Historische Skizzen 

von Prof. A. Pypin. . fv ■*•*/>V a 4 u W . 1—36 

490-523 

__Das russische Geldwesen während der Finanzverwaltung 

des Grafen Cancrin (1823—1844). Eine finanzhisto¬ 
rische Studie von Dr. Alfred Schmidt . 1 . 37— 66 

n.. 97-138 

hi. .... 215—240 

— Der Alexander-Garten in St. Petersburg. Von Dr. E.Regel. 67— 86 

Zur Charakteristik der Kaiserin Katharina II. Von Pro- 

^ fessor A . Bruckner . 1. 139— 164 

II. . 193—214 

-^■Die Meteorologie in Russland. Von Dr. A. Wojeikow. . . 165—177 

Ein Blick auf die Resultate der Hissar’schen Expedition. 178—188 

— Ein Besuch auf Hochland. Von Richard Sivers ^ 240—251 

Der asiatische Handel Russlands im Jahre 1873. Von r<J V 

Fr. Matthäi . . 251—274 

_Otto Anton Pleyer, der erste accredirte österreichische 

Diplomat am russischeoHofe. 1692—1719. Von A.Iias* 
sellblattl . . . hl ,.\. -v / * t /Vu *J.. & 'w* f« n 281 — 316 

n..".415-435 

Die Lederindustrie in Russland. Von Prof. M. Kittara 316—343 
Ueber Handel und industrielle Thätigkeit der Stadt 

Kasan. Eine statistische Skizze von /. T. Ssolowjew 344—356 

_Zur Geschichte der didaktischen Literatur in Russland im 

achtzehnten Jahrhundert. I. Von Prof. A. Brückner . . 377—414 

Der Güterverkehr auf den russischen Eisenbahnen im 

Jahre 1873 .435 -445 

Notizen über ökonomische Verhältnisse im Gouverne¬ 
ment Wjatka . .445—453 

Der dritte internationale Orientalisten-Kongress .... 453—461 

Das physikalische Central-Observatorium in St. "Peters¬ 
burg und die neuere Entwickelung der Meteorologie 

in Russland. Vom Akademiker H. Wild .473—489 

Die Fortschritte der geologischen Beschreibung Russ¬ 
lands in den Jahren 1873 und 1874. Von Professor 
Barbot de Mamy . . 523—557 


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Seite. 


Kleine Mittheilungen. 


Zur Statistik des Eisenbahnverkehrs in Russland. 83— 86 

Ueber die Wirksamkeit der städtischen Kommunalbanken im Jahre 1874 260—267 

Haushalt der Stadt St Petersburg für das Jahr 1874 . 267 - 269 

Ueber Flachs- und Hanfproduktion in Russland ... 269—274 

Uebersicht der Ergebnisse der letzten Volkszählung in Kijew am 2 Mai 

1874. 356—360 

Die Bevölkerung des Gouvernements Wladimir in den Jahren 1796—1874 360 

Die Schulbildung und die Bevölkerung .. 461 — 464 

Literaturbericht. 

Die völkerrechtliche Bedeutung der Kongresse. Akademische Abhand¬ 
lung von Witold Zaieski . .... . . . 87— 93 

Bemerkungen zum Igorlied vom Fürsten Paul Petrowitsch Wjasemskij 275 — 278 

Bemerkungen zu dem Referat von W. K. über meine Abhandlung: 

«La distribution de la pression atmosph£rique dans la Russie d’Eu- 

rope. Von M. Rikatscheff . . 360—364 

Hebräische Chrestomathie mit Verweisungen auf die Gesenius'sche (und 
Edwald’sche Grammatik, nebst einem hebräisch-russischen Glossar, 

von Prof. C. Kossowicz . 365 — 369 

Hosea et Joel Prophetae, ad fidem codicis Babylonici Petropolitani edidit 

Hermanns Strack . 369 -371 

A. Harkavy und H. L. Strack , Catalog der hebräischen und samarita- 
nischen Handschriften der Kaiserlichen Oeffentlichen Bibliothek in 
St. Petersburg. Band I, der hebräischen Bibelhandschpften erster 

und zweiter Theil, Von A, Harkavy . . 464—468 

Recueil des Trait6s et Conventions conclus par la Russie avec les puis- 
sances 6trang&res, publil d’ordre du Ministere des affaires etrangcres 
par F. Martens . Professeur ä FUniversit6 imperiale de St. Petersbourg. 556 -567 

Revue Russischer Zeitschriften. . .93—95 189—190 278—279 

372—373 469—470 567—568 

Russische Bibliographie. . . 96 191—192 280 

374—375 470—471 568 


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Zur Charakteristik der literarischen Bewegungen 
in Russland in den Jahren 1820—1860. 

Historische Skizzen 

von 

A. Pypin. 

Unter dem vorstehenden Titel veröffentlichte Hr. Prof. Pypin im 
«Europäischen Boten» (B'fecraHK'b EBponw) eine Reihe von Arti¬ 
keln, die nun in einem stattlichen Bande vereinigt, erschienen sind. 
Bereits im Jahrgange 1873 unserer Zeitschrift haben wir unseren 
Lesern zwei dieser Skizzen mitgetheilt, und zwar in Bd. H. SS. 45 
bis 55, 160—175, 261—286: «Die Slawophilen in Russland», in 
Bd. III. S. 240—269: «Der Dichter Gogol». Wir lassen nun mit 
Genehmigung des Verfassers die übrigen Skizzen folgen und zwar 
zunächst die «Einleitung» und «die Romantik in Russland» (Shu- | 
kowsky und Puschkin), den nächsten Heften der «Russ. Revue» \ 
die Fortsetzung dieser so interessanten als wichtigen Beiträge zur 
Kenntniss der Entwickelung des geistigen Lebens in Russland vor¬ 
behaltend. 


Einleitung. 

Unsere literarische Kritik war lange Zeit fast ausschliesslich eine 
ästhetische. Das war natürlich, so lange es sich um die Feststellung 
literarischer Grundbegriffe und um die Bestimmung des relativen 
Werthes der einzelnen Schriftsteller handelte. Dieser Standpunkt 
blieb bis in die letzte Zeit der herrschende. Aber die Entwicke¬ 
lung der Literatur bietet noch ein anderes Interesse dar: die Litera¬ 
tur ist ein Theil der ganzen Geschichte der Gesellschaft, und eben 
diese Seite der Betrachtung ist unbedingt von grösster historischer 
Bedeutung. In unserer Zeit erhebt sich die Literatur in ihren Werken 
nur selten bis zur höchsten Vollkommenheit künstlerischer Schönheit; 
die Literatur ist jetzt überhaupt mit den socialen und politischen 
Erscheinungen des Lebens innig verbunden und giebt in den beiden 

Bus. Ktro*. Bd. VU. . 


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am meisten beliebten Formen: dem Roman und der Novelle, den 
Kampf, das Streben, die Ideen der Zeit wieder. Wenn solche Werke 
vielleicht auch durch weniger erhabene Mittel wirken, so ist doch 
ihre Leidenschaft, ihre Ueberzeugungskraft, die Gewalt ihres unmit¬ 
telbaren Einflusses auf die Geister um desto grösser. So kann es 
kommen, dass ein Urtheil über die Bedeutung eines Schriftstellers 
vom Standpunkte jener Literaturgeschichte, von der wir hier 
sprechen — im Lichte des socialen Lebens — ganz anders ausfällt, 
als vom rein künstlerischen Standpunkte. 

Erst diese Gegenüberstellung der Literatur und des unmittelbaren 
Lebens kann uns den Einblick in die wahre Bedeutung des histori¬ 
schen Progresses eröffnen, und man könnte nicht behaupten, dass 
diese Seite der literarischen Betrachtung bisher mit genügendem 
Licht beleuchtet sei. Es ist augenscheinlich, dass bei einer solchen 
Schätzung sämmtliche Bedingungen, unter welchen die Literatur 
überhaupt existirt, in Betracht gezogen werden müssen, und erst 
diese allgemeine Bestimmung weist auf den wirklichen Werth der 
Literatur für das Leben hin, erklärt ihren Umfang, ihren Ein¬ 
fluss, u. s. w. 

Seit dem Anfänge dieses Jahrhunderts ist bei uns viel von Volks¬ 
thum und Volksthümlichkeit die Rede gewesen. So soll dieselbe, 
nach der Meinung der Kritiker, in einigen Werken Shukowsky’s zu 
finden sein, in den Fabeln Krylow’s, dann bei Puschkin, endlich bei 
Gogol. In der That trat die poetische Literatur allmählich aus der 
Periode künstlicher Nachahmung heraus, von dem Streben beseelt, 
durch Aneignen russischer Themata’s und russischer Farben Selbst¬ 
ständigkeit zu erwerben. Und man kann sagen, dass mit Puschkin, 
namentlich aber mit Gogol, dieses Ziel erreicht war. Die Literatur 
wurde wirklich volksthümlich oder national, eigenthümlich und 
selbstständig in Ideen, Färbung, Ton und Form. 

Nun blieb aber noch eine andere Frage zu lösen: — die Stellung 
der Literatur zum Gesammtleben der Nation. In welchem Verhältnisse 
stand die Entwickelung der russischen Literatur zu den nationalen 
Factoren des russischen Lebens, waren sie ihr günstig oder nicht, 
welchen Charakter nahm die Literatur unter ihrem Einflüsse an, wie 
stand es dabei um die Sache der nationalen Bildung, und welche 
Resultate sind erzielt worden? 

Kehren wir zum allgemeinen Begriff der Nationalität und ihrem 
Verhältnisse zur Civilisation zurück. 


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Die Nationalität ist nicht nur der Inbegriff der äusseren Besonder¬ 
heiten in Hinsicht auf die formale Seite des Volksgeistes und der 
Volksphantasie, sondern unterliegt in einem gegebenen Momente in 
gleichem Maasse dem Einflüsse der Anschauungen und Kenntnisse, 
welche die Vergangenheit des Volkes aus sich entwickelt hat. Dieser 
Einfluss kann sowohl günstig als ungünstig sein. Wenn die Kennt¬ 
nisse und die Gewohnheit der geistigen Arbeit gering sind, so wird 
die geistige Entwickelung nothwendigerweise aufgehalten, und der 
frühere Stillstand wird in den Massen zum Hemmschuh des Fort¬ 
schritts. Wir sehen das deutlich, wenn wir die Civilisationen ver¬ 
schiedener Völker mit einander vergleichen; wir gestehen, dass 
Russland in dieser Hinsicht anderen Nationen bedeutend nachsteht, 
aber selten geben wir zu, dass dieser Umstand sich direkt im Um¬ 
fange unserer Anschauungen abspiegeln müsse. Eben dieser Umfang 
der Kenntnisse und Anschauungen bildet einen Hauptbestandteil des 
nationalen Lebens, und demselben sind die höchsten Schöpfungen 
nationaler Schriftsteller und Dichter unterworfen. 

Daraus folgt jedoch nicht, dass ein solcher Zustand fatalistisch 
sein müsse. DieNationalität ist nicht stabil und unbeweglich, sondern 
im Gegentheil der Veränderung und Vervollkommnung durchaus 
fähig. Darin liegt die Möglichkeit und die Hoffnung des Fortschritts. 
Es ist nicht schwer einzusehen, dass der geistige Inhalt eines Volkes 
von Periode zu Periode wechselt. Die nationalen Principien durch¬ 
laufen die ganze Phase des historischen Lebens, welches ihnen sein 
gewichtiges Siegel aufdrückt Ihre Unzerstörbarkeit ist nur eine 
scheinbare. Man weist uns oft auf tausendjährigeUeberlieferungendes 
heidnischen und patriarchalischen Zeitalters hin, vergisst aber dabei, 
dass dieselben die ihnen einst innewohnende Bedeutung gänzlich ver¬ 
loren haben. Wenn wir letztere jetzt wieder zu errathen anfangen, so 
haben wir es nicht einem nationalen Gedächtniss zu verdanken, son¬ 
dern der emsigen Arbeit der westeuropäischen Wissenschaft. Eben 
so wenig darf man sich darüber täuschen, dasjdiese neu entdeckte 
Bedeutung einer nationalen Ueberlieferung im Volke jemals wieder 
aufleben könnte, sie dient nur zur Bereicherung und Vervollständi¬ 
gung unseres historischen Wissens. Der innere Gehalt einer Ueber¬ 
lieferung ist gleichfalls ohne Werth für uns. Denn wie ein religiöser 
Mythos uns nur ein historisches Interesse darbieten kann, so kann 
auch eine archäologisch aufgefundene Moral von keiner allgemeinen 
Verbindlichkeit sein. Die Doctrinäre des Volksthums berufen sich 
dagegen auf die «Achtung» für das Volk und den pseudohistorischen 

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Schluss, dass eben diese Ueberlieferungen die allein-seligmachen- 
den Principien enthielten. Aber der historische Fortschritt besteht 
nicht nur in der Entwickelung der ursprünglichen Anschauungen, 
sondern auch in der Aneignung ganz neuer, gänzlich fremder und 
den früheren durchaus unähnlicher Begriffe. Beispiele dafür sind 
das aus Byzanz herübergekommene Christenthum, der unter orien¬ 
talischem und byzantinischem Einflüsse entstandene Absolutismus 
des Moskauer Fürstenthums, die dem westlichen Europa entnom¬ 
menen wissenschaftlichen Ansichten vom Weltall. Das Neue ist dem 
Volke oft ganz fremd, und, bei der Aneignung dasselbe zuweilen 
umgestaltend, unterwirft es sich doch seinem Einflüsse. Aber bei den 
rein wissenschaftlichen Begriffen, die seit Peter dem Grossen auch zu 
uns einzudringen begannen, ist nicht einmal diese Umgestaltung mög¬ 
lich gewesen. Zwischen den neuen wissenschaftlichen Wahrheiten und 
den mittelalterlichen Anschauungen war eine Versöhnung undenkbar. 
Und doch waren diese Wahrheiten keine gleichgültigen Theorien, 
sondern griffen im Gegentheil in die eingewurzeltesten Vorstellungen 
des Volkes hinein. So schränkte die neue Naturforschung mit einem 
Male das Gebiet des Wunders ein, welches im Mittelalter in allen 
Verzweigungen des Lebens eine so grosse Rolle spielte. Diese 
Macht der logisch-wissenschaftlichen Bewegung ist von den natio¬ 
nalen Eigenthümlichkeiten total unabhängig, und bei der Aneignung 
derselben empfangt ein Volk ein ganz neues, sein ganzes morali¬ 
sches Sein veränderndes Element, ein Bildungsmittel von der 
grössten Wichtigkeit. Was aber die Achtung für das Volk betrifft, 
so besteht sie nicht im Bemänteln seiner Naivität, sondern in dem 
Wunsche nach möglichst bedeutender allgemeiner Bildung und 
Selbstständigkeit, verbunden mit Wohlstand, damit es mit voller 
Kraft in die Triebräder der Civilisation, seines socialen und politi¬ 
schen Lebens hineingreifen könne. 

Auch darin irren die Doctrinäre des Volksthums, wenn sie be 
haupten, dass das Volk selbst seine Ueberlieferungen eifersüchtig 
bewache und bewahre. Dieselben bestehen nur, so lange Nichts 
vorhanden ist, was ihre Stelle einnehmen könnte. Das Volksleben 
war fast bis zur letzten Zeit nach dem eigenen Geständniss des 
Volkes ein «dunkles» Leben; es bewahrte die phantastischen Vor¬ 
stellungen des Heidenthums, weil es in den Lehren der neuen Reli¬ 
gion nur schlecht unterwiesen wurde. Als dann später die religiösen 
Ideen allmählich den mehr bestimmten Charakter des Christenthums 
Annahmen, bewahrte das Volk ebenso die ceremoniellen Formen 


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der äusseren Frömmigkeit, weil ihm die Möglichkeit einer geistigeren 
Auffassung nicht gegeben war. Diese Anschauungen des XVII. Jahr¬ 
hunderts haben sich fast bis auf diese Stunde bei der Menge er¬ 
halten. Dass aber selbst dieses «dunkle» Volk nicht bei der Ver¬ 
bindlichkeit einer Ueberlieferung stehen bleibt, das zeigen viele 
nationale Bewegungen, so z. B. der sogenannte Raskol (eine weit¬ 
verbreitete und in viele Zweige auseinandergehende religiöse Secte). 
Zuerst mit dem Charakter einer conservativen Opposition gegen 
beabsichtigte Neuerungen auftretend, betritt er bald selbst den Weg 
solcher Neuerungen, auf welchem er zwei Grund-Autoritäten des 
alten Lebens — die Autorität der Kirche und die Autorität der 
Macht — zur Seite stösst. So traten mitten im Volke die einge¬ 
wurzeltesten Traditionen vor dem Drange cfes neuen Gedankens 
zurück. 

Zu derselben Kategorie gehört auch die neue geistige Bewegung, 
die mit Peter dem Grossen ihren Anfang nahm und welche die 
Doctrinäre gewöhnlich als Entfremdung vom Volke bezeichnen. 
Diese Bewegung stand in der That in keinem unmittelbaren Zusam¬ 
menhänge mit der alten Tradition, mit ihr begann eine neue Civili- 
sation, aber sonderbar ist es, zu behaupten, dass sie ein «Verrath» 
an den nationalen Principien wäre, dass sie eine unnütze Schwen¬ 
kung in die andere Seite mache. Denn die neue Bewegung kam 
nach allen ihren Schwankungen und Anstrengungen doch wieder 
auf die Sache des Volkes zurück. Es sind auch hier, wie überall, 
Maasslosigkeiten und Uebertreibungen, Fehler und Misserfolge zu 
verzeichnen, aber doch sind alle Reformen Peter’s des Grossen und die 
ganze Geschichte des neu beginnenden geistigen Lebens ein echt 
nationales Werk. Die alten Traditionen hatten sich überlebt, sie 
konnten weder das Volk noch den Staat den Forderungen der Zeit 
gemäss unterstützen, und damit hatten sie ihre Rolle ausgespielt. 

Peter der Grosse war der erste «verneinende» Geist (um einen 
modernen Ausdruck zu gebrauchen) und dadurch wurde er einer 
der grössten «nationalen* Helden Russlands — denn er negirte 
das in sich Zerfallene und suchte nach den Quellen eines neuen Le¬ 
bens. Mit ihm beginnt jene kritische Auffassung des nationalen 
Lebens, welche sich durch verschiedene Schulen bis in unsere Zeit 
hineinzieht. Diese Auffassung wurde immer tiefer und ernster, zog 
immer neue Gegenstände in ihren Kreis hinein, war aber niemals 
ein «Verrath» an der Nationalität, wie dieses Wort jetzt oft auf Jene 
angewandt wird, welche den nationalen Vorurtheilen, Schwachheiten 


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und Lastern zu fröhnen nicht geneigt waren. Solche Kritiker des 
nationalen Lebens waren auch die Männer, welche an der Spitze 
der neuen literarischen Bewegung standen, mit welcher wir uns 
im Verlauf unserer Darstellung beschäftigen werden. Das waren 
Menschen von oft ganz entgegengesetzten Meinungen, «Slawo- 
philen» und «Westeuropäer» — aber Alle waren von dem einen 
Streben nach Selbsterkenntniss beseelt, Alle waren sie auf gleiche 
Weise Freunde des Volkes, dienten auf gleiche Weise dem natio¬ 
nalen Interesse. Die wahren Feinde des «Nationalen» gehörten 
Alle zu einer Kategorie, das waren die Obskuranten, die Unter¬ 
drücker des kritischen Gedankens. 

So giebt uns die Geschichte zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen 
Anlass: erstens, dass die Nationalität, ihre Eigenthümlichkeit be¬ 
wahrend, in verschiedenen Perioden sehr verschieden gewesen ist, 
beeinflusst von aussen und unter diesem Einflüsse sich auch innen 
umgestaltend; und zweitens, dass das nationale Leben selbst Bei¬ 
spiele einer kritischen Betrachtung der eigenen Lebensbedingungen 
und der sittlichen und politischen Ideen darbietet. 

Worin bestand nun die Entwickelung unseres nationalen Geistes? 

Seit Peter dem Grossen stand Russland Auge in Auge den Fort¬ 
schritten der westeuropäischen Civilisation gegenüber. Diese Givili- 
sation hatte sich Europa im Mittelalter erworben, als Russland im 
Kampfe mit den asiatischen Horden darniederlag, mit dem Ein¬ 
impfen der unbedeutenden byzantinischen Civilisation und der 
Gründung des eigenen Staates beschäftigt war. Damit begann die 
Periode der geistigen Nachahmung und Aneignung. 

Die Doctrinäre des Volksthums können diesen kühnen Schritt Peter 
dem Grossen noch bis jetzt nicht verzeihen. Diese Periode der Nach¬ 
ahmung, «die St. Petersburger Periode» ist in ihren Augen noch 
immer eine Art babylonischer Gefangenschaft; ihm wird noch immer 
Alles Schwere in den Reformen und ihren Folgen aufgebürdet. Ohne 
Verständnis für den Begriff der historischen Nothwendigkeit jener 
Reformen, legte man ihm sogar jene rauhen Seiten des XVIII. Jahr¬ 
hunderts zur Last, welche ein directes Erbtheil des XVII. Jahrhun¬ 
derts waren, wie z. B. den unbeschränkten Absolutismus Peter’s 
und seiner Nachfolger. 

Aber eine solche Periode der Abhängigkeit und Nachahmung ist 
eine Erscheinung, die sich "in der Geschichte der allgemeinen Civili¬ 
sation oft wiederholt Seitdem der Samen der Bildung in Europa 




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Wurzel gefasst hat, bieten sich viele analoge Fälle dar. Die Ver¬ 
breitung der Gvilisation war immer eine ungleichmässige; es gab 
immer bestimmte Mittelpunkte, zu welchen die anderen Nationen 
sich hingezogen fühlten. Im Alterthum war Griechenland ein solcher 
Mittelpunkt, dem sich Rom .unterwarf; in späterer Zeit wurde Rom 
wieder der allgemeine Anziehungspunkt für das westliche Europa, 
welches jener Stadt die höchste moralische und politische Autorität 
zuerkannte; in der Epoche der Renaissance spielte Italien eine 
solche Rolle; in der Zeit der Reformation bilden sich wieder neue 
Mittelpunkte; im XVIII. Jahrhundert herrscht allgemein die franzö¬ 
sische Civilisation u. s. w. Die europäische Civilisation war eben 
das Resultat der gemeinsamen Arbeit aller europäischen Nationen, 
so dass es schwer zu bestimmen ist, welcher Nation der erste Preis 
gebührt; aber eine jede der Hauptnationen Europa’s hat ein Mal 
den ersten Platz behauptet, und alle anderen Nationen unterwarfen 
sich dann ihrem Einflüsse. * 

Nicht anders war es mit Russland. Als es, den Boden der natio¬ 
nalen Ausschliesslichkeit verlassend, den neuen Weg betrat, blieb 
ihm nichts übrig, als die Aneignung dessen, worin West-Europa ihm 
voraus war. Mit Peter dem Grossen begann eine ununterbrochene 
Reihe von Nachahmungen; die neuen theoretischen und prakti¬ 
schen Kenntnisse, die neuen Sitten trugen ein neues Element in das 
russische Leben hinein, ein Element, welches das alte Leben zer¬ 
setzen oder es bis zum Niveau des westeuropäischen Lebens hinauf¬ 
ziehen musste. Oft ist bei uns zu den verschiedensten Zeiten die 
Ansicht ausgesprochen worden, als sei die Periode der Nachah¬ 
mung endlich zuEnde, dass wir selbstständig geworden, dass wir jetzt 
unsere eigene russische Wissenschaft gründen müssten u. s. w. 
Auf die Selbsttäuschung, die darin liegt, ist nicht erst nöthig hinzu¬ 
weisen. Es genügt ein Blick um uns her, um zu sehen, wie wenig 
Selbstständigkeit in unserem Leben noch vorhanden ist: aus West- 
Europa nehmen wir unsere Institutionen (die guten wie die schlech¬ 
ten); unsere Gelehrten, die einigermassen von ernstem Streben be¬ 
seeltsind, haben ihre Studien im Auslande beschlossen; aus West- 
Europa stammen die Muster unserer Waffen und unserer Press¬ 
gesetze; Preussens Beispiel bewegt uns zur Einführung der Erbs¬ 
wurst, und dasselbe Preussen oder England liefert uns die Argu¬ 
mente für oder gegen klassische Bildung; viele Zweige der In¬ 
dustrie liegen Russland noch ganz fern, nicht weil sie bei uns un¬ 
möglich sind, sondern weil sie uns durch die Vorzüglichkeit der 


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westeuropäischen Industrie und wegen der eigenen Unwissenheit 
verschlossen sind; im Handel sind wir noch jetzt ein Gegenstand 
der Exploitation; — von der Literatur sprechen wir später. 

Mit einem Worte, die Thatsache der Abhängigkeit kann vor einem 
unparteiischen Richter keinem Zweifel unterliegen. Aber die Aneig¬ 
nung des europäischen Stoffs und das eigene ideale Streben der Lite¬ 
ratur konnte nicht ohne Kampf von Statten gehen. Gleich im Anfänge 
stiessen die Reformen in den Volksmassen auf einen doppelten 
Widerstand. Einerseits waren es die unnütze Grausamkeit und die 
Maasslosigkeit, mit welcher Peter der Grosse seine Reformen in # s 
Werk setzte, welche den Widerstand hervorriefen, und darin war 
das Volk im Recht; andererseits war es aber ein Widerstand gegen 
den ganzen Gehalt, das Wesen der Neuerungen, ein Widerstand 
der Rohheit und Uncultur, und hier war Peter im Recht Dieser 
Widerstand der € dunklen» Masse ist bis jetzt der traurige Begleiter 
unserer Civilisation geblieben, und wir werden später sehen, wie die 
Doctrinäre des Volksthums in dieser Erscheinung ein neues Argu¬ 
ment gegen den «Europäismus» zu finden glaubten und in dem 
Volke eine eitele Selbsttäuschung heranbilden wollten, welche direkt 
zum Obskurantismus hinführt. 

Leider war das Misstrauen des Volkes gegen die neue Bildung 
durchaus natürlich. Selbst den höheren Schichten der Gesellschaft 
von Peter d. Gr. aufgezwungen, blieb sie fast bis auf die letzte Zeit 
ausschliessliches Eigenthum des Adels; das Volk fand in der neuen 
Richtung nichts für sich, als nur neues Leid und neues Wehrder 
Druck der Leibeigenschaft und des Beamtenthums unter diesen «ge¬ 
bildeten» Klassen wurde um so schwerer. Früher war ein gewisses 
patriarchalisches Verhältniss möglich, h^beigeführt durch gleiche 
Sitten und gleiche Gewohnheiten; jetzt schlossen sich Gutsherren 
und Beamte ganz vom Volke ab, wurden in Sitten und Begriffen ihm 
fremd, und der Druck, den sie ausübten, war oft unerträglich. 
Der Masse des Volkes selbst war die Bildung fast unzugänglich: 
während des ganzen XVIII. Jahrhunderts war für den Leibeigenen 
die Bildung eine juridische Unmöglichkeit; ebenso unmöglich war 
sie dem freien Manne wegen der gegen sie eingewurzelten Antipa¬ 
thie, und auch wegen Mangel an Schulen und wegen allgemeiner 
Armuth. Es ist leicht begreiflich, wie dadurch der Gang der Civili¬ 
sation aufgehalten wurde, wie viele frische, aus dem Innersten der 
Nation kommende Kräfte ihr verloren gingen; zugleich aber bildete 
diese Rohheit der Massen eine ungeheure Macht, welche allen Reac- 


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tionsströmungen des Obskurantismus der höheren Sphären unter¬ 
stützend zur Seite stand. 

Diese Reactionsströmungen wiederholten sich beständig und waren 
auch ganz natürlich. Unter Peter dem Grossen waren die Reformen 
und die Sorge für die allgemeine Bildung Sache der Regierung, und 
Niemand dachte daran, dass die Bildung irgendwelche Unzulänglich¬ 
keiten nach sich ziehen könnte. Aber bald traten schon Anzeichen 
einer selbstständigen Bewegung auf, welche in der Regierung die 
Furcht vor der Freigeisterei erweckte. Schon unter Peter dem 
Grossen begann eine Verfolgung der «religiösen Freigeisterei». 
Später wendet die Regierung, unter Beihülfe der Geistlichkeit, ihre 
Waffen immer mehr und mehr gegen sogenannte «schädliche Theo¬ 
rien», wie z. B. das Copernicanische Weltsystem. Mit einem Worte, 
die ersten Regungen eines selbstständigen Gedankens oder die ersten 
Aneignungen ernster Ideen des Westens wurden mit Misstrauen, 
Verbot und Verfolgung begrüsst. Die Sache der allgemeinen Bil¬ 
dung stiess wieder auf ein Hinderniss — von Seiten der Regierung. 
Die Letztere wünschte selbst eine gewisse Bildung, aber nur bis zu 
einem bestimmten Grade, für den unmittelbaren praktischen Zweck. 
Die Regierung konnte den Gedanken gar nicht fassen, dass die Wis¬ 
senschaft Freiheit haben muss, wenn sie von productiver Kraft sein 
soll; sie construirte im Gegentheil eine gewisse Stufenleiter der Wis¬ 
senschaften: gute und schlechte, schädliche und nützliche. Es gab 
zwar Zeiten, in denen sich dieses Misstrauen zu legen schien, so z. B. 
im Anfänge der Regierungen Katharina’s II. und Alexanders I., 
aber darauf wuchs das Vorurtheil gegen die Wissenschaft von Neuem 
empor und gestaltete sich in der Zeit, von der wir zu sprechen haben 
werden, zu einer gewaltigen Macht. 

Eine solche Erscheinung war natürlich. Eine echte Wissenschaft 
mit vollständiger Gedankenfreiheit hatte bei uns niemals existirt. 
Die neuen Reformen brachten uns nur jene praktischen Lehren, 
welche bei einseitigem Verständniss für das materielle Bestehen des 
Staates als nothwendig erachtet wurden. Aber die Bekanntschaft 
mit der westeuropäischen Literatur musste uns auch mit einer wahr¬ 
haft freien Wissenschaft bekannt machen; es traten in Folge dessen 
Ideen und Anschauungen auf, welche denen des bestehenden R6- 
gime’s durchaus unähnlich waren. Dieses Regime liess nicht das 
geringste freie Urtheil zu; es war selbst zu wenig gebildet, um das 
Unschädliche solcher Anfänge einer wissenschaftlichen Selbststän¬ 
digkeit darzulegen, und zugleich diese Versuche zu ermuntern. 


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10 


Wir haben niemals einen Joseph II. oder Friedrich II. in unserer Ge¬ 
schichte gehabt; selbst Katharina II., welche zuerst einen solchen 
Weg betrat, lenkte bald in das System der Anna und Elisabeth ein. 
Die französische Revolution bestärkte noch mehr in der Ueberzeu- 
gung von der Nothwendigkeit einer strengen Aufsicht; Niemand 
gab sich die Mühe, Ausschreitungen und Uebertreibungen von der 
ruhigen freien Untersuchung zu unterscheiden; ein jeder kühne und 
ungewöhnliche Gedanke wurde für revolutionär erklärt und unserer 
halb-kindlichen Gesellschaft revolutionäre Umtriebe zugeschrieben. 
Es war einerseits eine Ahnung davon, dass sich etwas Neues, Brei¬ 
teres in der Gesellschaft heranbilde, andererseits aber die Furcht vor 
den geheimen Intriguen, die im XVIII. Jahrhundert eine so bedeu¬ 
tende Rolle gespielt haben. Dieses Vorurtheil gegen die Wissen¬ 
schaft und die Rede- und Gedankenfreiheit war nicht bloss auf die 
höheren Sphären beschränkt; die Mehrzahl der nur oberflächlich 
Gebildeten war derselben Meinung. Endlich wurde dieses Vorur¬ 
theil noch durch die Ansicht gestärkt, dass es im «Geiste des Vol¬ 
kes» begründet sei: in der einfältigen Unwissenheit der Massen sah 
man die Bestätigung seines Misstrauens gegen die Wissenschaft und 
erblickte in der Gedankenfreiheit eine Verletzung des Volksthums. 

Eine solche Anschauung entwickelte sich in denjahren 1810 — 1830, 
wo die Furcht vor dem Liberalismus besonders gross war. Man kann 
sich leicht vorstellen, in welchem Maasse sie die Entwickelung unse¬ 
rer Civilisation aufgehalten hat. Wenn wir uns bis jetzt nur wenig 
in Betreff der Mitarbeit an europäischer Literatur und Wissen¬ 
schaft rühmen können, wenn die Dosis unserer geistigen Kraft kaum 
zum täglichen Hausgebrauch ausreicht, wenn in Literatur und Kunst 
* die Mittelmässigkeit so vorherrschend ist, wenn sogar hervorragende 
Geister und Talente verhältnissmässig nur wenig erreichen, d. h. nur 
selten in ihren Werken sich zu der Höhe eines allgemein menschli¬ 
chen Interesses erheben — so trägt die Schuld daran zum nicht gerin¬ 
gen Theil jener Druck, welcher auf der abstracten Forschung wie auf 
dem künstlerischen Schaffen lastete. Nirgends freilich ist die Erwer¬ 
bung der Gedankenfreiheit ohne Kampf gegen Vorurtheil und Aber¬ 
glauben vor sich gegangen, aber bei uns war das Entkeimen des 
Gedankens selbst mit den grössten Schwierigkeiten verbunden, nir¬ 
gends fand die Sache Unterstützung und war die That einer unbe¬ 
deutenden Minorität; Literatur und Wissenschaft mussten sich durch 
die dicke Schicht des Aberglaubens und der Unwissenheit hindurch¬ 
arbeiten, welche durch die Ueberlieferung, die Sitten unterstützt 


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IX 


wurden. Es ist begreiflich, dass diese Arbeit oft erfolglos blieb, 
dass von dem freien Gedanken nur einzelne Splitter abfielen, die 
fragmentarisch und unentwickelt in die Geister drangen. Daraus folgte 
dann bei der lesenden Menge die Ungewohnheit des logischen Den¬ 
kens, die Neigung zu unfertigen Schlüssen, abweichende Beweisfüh¬ 
rungen, sowie alle diese Anzeichen und Merkmale einer halben Bil¬ 
dung, an denen unsere Gesellschaft schon seit lange so reich ist. 


Das waren die Bedingungen, unter welchen die Literatur Russ¬ 
lands in jene Periode eintrat, die uns beschäftigen wird; sie blieben 
dieselben während der ganzen Zeit. Der allgemeine Charakter 
bleibt derselbe, aber die Bewegung nimmt an Breite zu und wird an 
Inhalt ernster; zugleich damit steigt jedoch auch der Widerstand 
der Tradition und Reaction. Hinsichtlich der Wissenschaft hatte 
Russland immer dieselbe Aufgabe zu bewältigen: die Aneignung 
der Resultate und des Wesens westeuropäischer Forschung; auf dem 
Gebiete der Poesie hatte es die Entwickelung des künstlerischen 
Schaffens unter dem Einflüsse des westeuropäischen Gedankens und 
der Poesie West-Europas zu fördern, und zwar auf beiden Gebieten 
verbunden mit dem Streben nach Selbstständigkeit. Indem die Li¬ 
teratur diese Aufgabe erfüllte, hatte sie wieder mit denselben Hin¬ 
dernissen zu kämpfen — mit der Gleichgültigkeit und der halben 
Bildung der Gesellschaft, mit den Traditionen. 

Dass die Bewegung unserer Literatur und der gesellschaftlichen 
Anschauungen in der That in dieser Richtung fortschritt, wird bei 
einem aufmerksamen Blicke auf die historische Entwickelung der¬ 
selben vollkommen klar. In dem kleinen Kreise, in welchem eine 
gewisse Bildung vorhanden war, folgte dieselbe Schritt für Schritt 
dem Gange der westeuropäischen Civilisation. Als durch Peter den 
Grossen die «Wissenschaften zu uns verpflanzt-* wurden und mit 4P 
ihnen die erste «protestantische Freigeisterei» bei uns Eingang fand, 
nahm die russische Civilisation eine Menge verschiedener Eindrücke 
in sich auf, welche der westeuropäischen Bewegung eigenthümlich 
waren. So erschien auch bei uns im vorigen Jahrhundert die Wölfi¬ 
sche Philosophie, die Freimaurerei, die französische Philosophie und 
Freigeisterei, die Reaction der Schwärmerei und der Sentimentalität; 

•in diesem Jahrhundert trat wieder die Romantik in allen ihren For¬ 
men bei uns auf, vom reinsten Mysticismus bis zum skeptischen 
Weltschmerz; in Verbindung mit der Romantik beginnt auch bei 


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uns, wie in West-Europa, eine geheime liberale Bewegung einer¬ 
seits und eine Reaction andererseits; zu gleicher Zeit entwickelte 
sich auch bei uns die historische und poetische Archäologie und 
die Lehre vom «Volksthum»; dann folgen in den dreissiger und 
vierziger Jahren Schelling und Hegel, endlich Fourier und Saint- 

Simon. Das genügt, um auf die enge Verbindung unserer 

geistigen Interessen mit denen West-Europa’s hinzuweisen. Wir 
sehen sogar, dass im Slawophilenthum dieselben Einflüsse wirksam 
waren. Später aber, nach Erringung einer gewissen Selbstständig¬ 
keit, bleibt der Reichthum der westeuropäischen Wissenschaft doch 
noch immer die Quelle unserer Bildung. 

Es ergiebt sich also, dass der Einfluss West-Europa's auf unsere 

Literatur eine constante Erscheinung ist. Eine vollständige 

Rechtfertigung dieser Periode der Nachahmung finden wir aber 
darin, dass diese Einflüsse wesentliche Stützen unserer historischen 
Entwickelung wurden. Die Nachahmungen hatten natürlich nicht 
den Werth selbstständiger Arbeiten, aber in ihnen lag ein bedeu¬ 
tendes historisch-pädagogisches Element. Bei den erschwerenden 
Bedingungen, in welche das russische Leben gestellt war, war die 
Aneignung westeuropäischer Ideen nicht so leicht, wie es vielleicht 
den Anschein haben könnte. Einige Personen aber fassten sie in 
genügender Klarheit auf, um ihnen Verbreitung geben zu können, 
indem sie dieselben zugleich selbstständig weiter entwickelten. 
Eine solche Arbeit gewann eine gewisse historische Bedeutung, 
indem sie die früheren Anschauungen zurückdrängte und zur Ver- 
grösserung des geistigen Horizontes beitrug; eine jede Richtung, 
welche wir auf solche Weise miterlebten, wurde ein Markstein 
unserer historischen Entwickelung, an dem Europa zwar schon vor¬ 
übergegangen, der uns aber noch fremd war. Vieles konnte darin 
flir uns von nur geringer Bedeutnng sein, aber im Ganzen war zwi¬ 
schen diesen Richtungen eine logische Verbindung; wir folgten auf 
solche Weise den Wendungen der westeuropäischen Bildung, und 
dies allein gab uns die Möglichkeit, uns einmal zum Niveau der Civi- 
lisation Europa’s zu erheben. 

Die Aneignung der Resultate des westeuropäischen Wissens war die 
eine Seite der Aufgabe; die andere Seite bestand in der Verbreitung 
jener Resultate. Wegen der Leibeigenschaft war es undenkbar, in 
den Volksraassen selbst für eine Verbreitung der Bildung zu wirken; 
es galt, die Sache der Civilisation wenigstens in den Kreisen zu 
erhalten und zu starken, wo dieselbe überhaupt möglich war. 


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*3 


Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Thätigkeit der Literatur 
in diesem Sinne viel bedeutender gewesen wäre, wenn sie volle 
Freiheit der Entwickelung gehabt hätte. Leider war diese Freiheit 
nicht vorhanden. 

Der Stoff, den es zu verbreiten galt, war durch den Gang der euro¬ 
päischen Civilisation bedingt. Es waren überhaupt allgemeine Resul¬ 
tate aus allen Zweigen des Wissens und ihre Anwendung auf das wirk¬ 
liche Leben; das ideale Ziel der Literatur war die Verbreitung der Be¬ 
griffe des wahren Volkswohls und der wahren Bildung, die Noth- 
wendigkeit eines kritischen Blickes auf das eigene nationale Leben, 
und das Streben nach Erweckung eines bewussten Gefühls mensch¬ 
licher und nationaler Würde. Das europäische Leben befand sich 
damals gerade in einer schweren Krisis. Die französische Revolu¬ 
tion hatte einer Reaction weichen müssen, welche durch alle Mittel 
in Politik und im socialen Leben das Alte wiederherzustellen be¬ 
müht war. Aber die Resultate der Revolution waren nicht so leicht 
auszurotten: viele alten Traditionen hatten unwiederbringlich ihren 
Werth verloren. Es war für die russische Gesellschaft schwer, 
diesem Kampfe fern zu bleiben, dieser Arbeit an neuen politischen, 
moralischen, socialen Principien; Russland stand in zu enger Ver¬ 
bindung mit den Interessen West-Europa's. Der Enthusiasmus der 
jungen Generation für freieres politisches und geistiges Leben fand 
auch bei uns einen WiederhalL Die neuen Ideale der westeuropäi¬ 
schen Poesie hatten um so mehr Anziehungskraft für uns, weil das 
eigene Leben so überaus arm war. Unter dem Einflüsse dieser Ideale 
bildetdh sich nun neue, selbstständige Bestrebungen, die ihre Nah¬ 
rung aus dem innersten russischen Leben zogen. 

In der Periode, von welcher wir zu sprechen beabsichtigen, tritt 
im russischen Leben ein neues Princip, eine neue Idee auf — 
die Idee des Volksthums, zum Theil als Folge der westeuropäi¬ 
schen Bewegung, zum Theil vollkommen selbstständig. Im west» 
liehen Europa aus dem Hasse gegen das Joch Napoleons entstanden, 
wurde diese Idee der Nationalität zu gleicher Zeit das erste Merk¬ 
mal einer Reife des Selbstbewusstseins im Volke und äusserte sich 
in der Literatur durch die wissenschaftliche Erforschung des natio¬ 
nalen Alterthums. Eigentlich lag dieser Bewegung ein tief demo¬ 
kratischer Zug zu Grunde, denn dieses literarische Interesse für da9 
Volk war in seinem Wesen ein Anzeichen der Rolle, welche das 
Volk in naher Zukunft zu spielen haben würde. Die literarische Be¬ 
wegung im Sinne des Volksthums deckte in der That die ganze 


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*4 


Bedeutung dieses nationalen Elementes auf. Aber die Romantik gab 
auch dieser Bewegung in ihrem reactionären Geiste eine conserva- 
tive Schwenkung. Auch bei uns durch dieselben Ereignisse 
hervorgerufen und durch die westeuropäische Literatur verstärkt, 
wurde diese Bewegung einerseits der Mittelpunkt jedes geisti¬ 
gen Fortschritts, andererseits der Ausgangspunkt einer conser- 
vativen Bevormundung. Vom Volksthum sprach man in den offi- 
ciellen Akten der Regierung und zugleich in den verschiedensten 
literarischen Parteien. Aber das gemeinsame Stichwort bedingte 
durchaus nicht eine gleiche Auffassung desselben. 'Auf der einen 
Seite verstand man darunter den officiellen Status quo der Nation — 
diese Ansicht herrschte bei der Regierung und bei der grossen 
Mehrzahl vor. Aber in der gebildeteren Minderheit bildeten sich 
andere Meinungen, welche man in zwei Kategorien theilen könnte. 
Die Einen waren auch mit dem Status quo einverstanden, aber sie 
idealisirten das Volk, fanden in seinem Sein ein Heiligthum erha¬ 
bener Principien, und die Entwickelung hätte, ihrer Meinung nach, 
nur in der Erforschung dieses Heiligthums und der in ihm ruhenden 
Ideen, wie in der Ausbreitung derselben auf das ganze nationale 
Leben bestehen müssen, welches durch die Reformen aus dem Ge¬ 
leise gebracht worden war. Die Anderen dagegen meinten, dass 
das Volksthum gar kein so unverletzlicher und allumfassender Co¬ 
dex sei, der ein für alle Mal den Gang der Entwickelung regele, 
sondern dass das Volksthum sich bis zur Idee des allgemein Mensch¬ 
lichen erheben müsse, welche allein ihm Würde und historische 
Bedeutung zu geben im Stande ist. * 

So wurde die Idee des Volksthums selbst zum Streitpunkt der 
Parteien. Die Einen hielten sie für bekannt, erreicht und verwirk¬ 
licht, die Anderen strebten nach ihrer Ergründung und Erklärung. 
Für Alle hatte sie aber die Bedeutung der Selbstständigkeit. Aber 
.der gereizte Streit zwischen den Parteien zeigte, dass der gesuchte 
Kern doch noch nicht gefunden sei, wie es auch noch heute der 
Fall ist. 


Das sind die bewegenden Ideen der Periode in den zwanziger 
Jahren, welche auch noch bis jetzt ihre Rolle spielen. Denn in jenem 
für die nur halb gebildete Mehrheit bestimmten Theile der Literatur 
wird noch jetzt vom * Volksthum» gesprochen, und daraus leider 
nur zu oft ein Schild für jede Art nationalen Eigendünkels und na¬ 
tionaler Selbstgefälligkeit gemacht. 


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15 


Was die Einzelnheiten der Bewegung betrifft, so hat sich ihr 
Charakter in den fünfziger Jahren bedeutend verändert. Die politi¬ 
sche Erregung hat sich nach dem Jahre 1825 gänzlich gelegt, da die 
Führer der politischen Agitation und Viele, welche daran bethei¬ 
ligt waren, der Katastrophe zum Opfer gefallen sind. Doch unter¬ 
dessen ging das Leben seinen Gang ruhig weiter. Alle Versuche 
der Einwirkung auf die Gesellschaft und die Verwirklichung der 
ideelleif Theorien wurden beiSeite gelassen, weil sie unausführbar 
waren; aber trotz alledem begann das nationale Selbstbewusstsein 
zu erstarken. Es kam ein ernster Zug in die Literatur, ungeachtet 
des Mangels an einem politischen Interesse; sie trat den treibenden 
Fragen der Bewegung viel näher und die Zahl der Menschen, denen 
allgemeine Interessen am Herzen lagen, ward um ein Bedeutendes 
grösser als früher, wenn sie auch jetzt noch relativ gering war. 

Es hat sich in unserer Literatur nicht selten ein bedeutendes skep¬ 
tisches Misstrauen gegen den sogenannten Fortschritt gezeigt; über 
alle Maassen erhoben, hat dieser Progress oft nicht einmal die gering¬ 
fügigsten Resultate in Literatur und Gesellschaft erzielen können. 
In unseren Tagen, nach vielen getäuschten Erwartungen und Hoff¬ 
nungen, findet der Skepticismus noch grössere Nahrung. Es ist in 
der That nicht leicht, ihn von sich fern zu halten, wenn man auf 
Schritt und Tritt erfährt, dass die Reformen nicht in das russische 
Leben eindringen wollen, dass durch alle neuen Institutionen, von 
denen man sich so viel für die gesammte Kraft der Nation versprach, 
die alte Rohheit und Beschränktheit hindurchschlägt, dass die 
wenigdenkende Menge und ihre literarischen Organe die Bande 
der alten Ordnung noch fester knüpfen durch Eigenlob und Selbst¬ 
gefälligkeit. Dieser Skepticismus ist durchaus begründet und wir 
wollen ihn auch nicht bestreiten. Aber es wäre ein Irrthum, ihn auf 
das Ganze der historischen Bewegung ausdehnen zu wollen. Wir 
sind in der That an Persönlichkeiten von Energie und Kraft nicht 
reich, unsere Geschichte zeigt nur wenige Charaktere, welche auf 
dem Wege der Civilisation voranzugehen im Stande wären; aber in 
jener Periode, von der wir sprechen, hat es nicht wenig talentvolle 
Männer gegeben, welche die Gegenwart gut verstanden und, nicht 
ohne Gefahr für sich, den Kampf gegen ihre Gebrechen aufnahmen. 
Denjenigen, die nur oberflächlich auf den Gang unserer Entwicke¬ 
lung herabblicken, müssen die Namen jener Männer in Erinnerung 
gerufen werden, welche ein edles, wenn auch oft erfolgloses Bei¬ 
spiel darbieten, wie viel Anstrengung es gekostet hat, das Bewust- 


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sein der Gesellschaft wachzurufen und die Nation zu einem besseren 
Ziele zu leiten. Zugleich aber legen sie Zeugniss dafür ab, dass sogar 
in den schwersten Zeiten Keime einer gesunden und dauernden Ent¬ 
wickelung vorhanden waren. So viel steht jedenfalls fest, dass un¬ 
sere Literatur unbedingt den Beweis liefert für eine fortschreitende 
Entwickelung und diese Thatsache nährt die Hoffnung, dass die Ge¬ 
schichte der Literatur zu günstigen Resultaten hinleiten wird; es 
wird vielleicht eine langsame Entwickelung sein, aber ihre Lebens¬ 
kraft unterliegt keinem Zweifel. 

Wir beabsichtigen durchaus nicht, eine ausführliche Geschichte 
der literarischen Bewegung in diesen Skizzen zu geben, und haben 
überhaupt nur die Absicht, auf einige wesentliche Punkte dieser Ge¬ 
schichte in Verbindung mit den gesellschaftlichen Zuständen hinzu¬ 
weisen. Unserer Meinung nach ist eine erschöpfende Darstellung 
gegenwärtig eine Unmöglichkeit. ..... 


Die Romantik in Russland. 

Shukowsky und Puschkin. 

Die literarische Erscheinung, welche in den dreissiger und vier¬ 
ziger Jahren zum Ausgangspunkte der geistigen Bewegung wurde, 
ist die Romantik. Sie tritt bei uns in der ersten Hälfte des zweiten 
Jahrzehnts auf und findet ihren Abschluss mit dem Erscheinen der 
Werke Gogol’s. Die Jahre 1820 bis 1840 sind die bedeutendsten in 
der Thätigkeit dieser Schule. 

Das eigentliche Wesen der Romantik kam in den Romantikern 
selbst niemals zur Klarheit. Sie trugen den fertigen Begriff aus der 
westeuropäischen Literatur in die russische hinein, indem ein Jeder 
demselben eine besondere Bedeutung beilegte. Nur dasEine wussten 
sie, dass das Romantische in der Literatur einen Gegensatz zum 
Klassischen bilde. 

Ohne uns in die Darlegung des Streites zwischen Klassikern und 
Romantikern einzulassen, wollen wir uns bemühen, auf die Verbin¬ 
dung hinzuweisen, welche zwischen dieser Richtung und den allge¬ 
meinen Anschauungen der Gesellschaft bestand und darauf, worin 
sich der Einfluss der Romantik äusserte. 


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Nach dem Urtheile der Zeitgenossen waren Shukowsky und 
Puschkin die bedeutendsten Repräsentanten der Romantik. Bei 
Shukowsky treten in der That zuerst jene poetischen Motive auf, 
welche man mit dem Worte «romantisch» bezeichnen kann, wie er 
sich ja auch selbst für den Vater der russischen Romantik hielt. 
Die ersten Werke Puschkin’s tragen ebenfalls den Stempel der Ro¬ 
mantik an sich, und selbst später, nachdem Puschkin schon voll¬ 
kommen selbstständig national geworden war, glaubte sowohl er 
selbst, als auch seine Freunde, in ihm einen Vertreter der roman¬ 
tischen Schule zu sehen. 

Shukowsky und Puschkin, die damals eine besonders hervorra¬ 
gende Stellung in der Literatur einnahmen, sind sehr charakteristi¬ 
sche Repräsentanten dieser Richtung, welche eine besondere Sprosse 
in der Leiter unserer geistigen Entwickelung bildet, eine besondere 
Uebergangsstufe von der patriarchalischen Tradition und den elemen¬ 
taren Bildungsanfängen des XVIII. Jahrhunderts zu der kritischen 
Bewegung in den dreissiger Jahren. 

Man hat oft darauf hingewiesen, dass der Charakter der Dich¬ 
tungen Shukowsky’s in steter Abhängigkeit von seiner persönlichen 
Stimmung gewesen sei. In der That spielt das subjective Gefühl in 
seiner Poesie eine bedeutende Rolle. Eine unglückliche Liebe zu 
einer nahen Verwandten, die eben deswegen nicht seine Frau wer¬ 
den konnte, fand ihren Ausdruck in poetischen Herzensergiessungen, 
denen eine melancholische Schwärmerei zu Grunde lag, welche für 
immer den Dichtungen Shukowskys eigen blieb. Er war von Anfang 
an vor Allem Uebersetzer; der englischen und deutschen Sprache 
mächtig, wählte er in den betreffenden Literaturen die Stücke 
aus, die gerade zu seiner Stimmung passten, zugleich die eigenen 
Originalgedichte unter dem Einflüsse derselben Stimmung verän¬ 
dernd. Ausserdem hatte sowohl seine Erziehung, als auch sein 
erster Eintritt in die gebildeten und literarischen Kreise und die in 
denselben herrschende mystische Frömmigkeit einen ganz beson¬ 
deren Einfluss auf ihn ausgeübt. 

Aber ungeachtet dieser Subjectivität und der schwärmerisch¬ 
mystischen Richtung hat die Poesie Shukowsky’s ihre besondere 
historische Bedeutung. Sein Mysticismus war ein in der russischen 
Literatur noch gänzlich unbekannter Mysticismus, nämlich der der 
Romantik. 

Als Shukowsky seine literarische Thätigkeit begann, hatte er 
wohl schwerlich die Absicht, eine neue Richtung in die Literatur 

Run. Berne Bd. VII. 2 


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hineinzubringen. Sein Ziel war die Verbreitung der Liebe zur Auf¬ 
klärung und zur Poesie, als eines moralischen Bildungsmittels; ihm 
war die Aufklärung vor Allem Sittenlehre und die Poesie die Führe¬ 
rin der Menschheit zur Tugend und zur Religiosität. Es waren noch 
dieselben Ansichten, die seiner Zeit Karamsin vertreten hatte. Und 
wie Karamsin so fand auch Shukowsky in der europäischen Literatur 
einen neuen Zug, der auf so wunderbare Weise mit seiner oben 
gezeichneten Stimmung harmonirte. Die westeuropäische Literatur, 
unter deren Einfluss bei uns die pseudo-klassische Schule entstanden 
war, gab nun auch die Mittel zur Untergrabung derselben und 
wurde wieder die Quelle der Nachahmung und der Umbildung.' 

Die europäische Romantik spielte bei uns fast dieselbe Rolle, die 
seinerzeit der Pseudo-Klassicismus bei uns gespielt hatte. Die in 
Form und Inhalt neue Richtung fand um so mehr in der jungen Ge¬ 
neration sogleich Beifall, als sich die alte Schule ausgelebt hatte 
und in eine inhaltslose Vielschreiberei ausgeartet war. Es war daher 
natürlich, dass die neue europäische literarische Richtung durch die 
Mannigfaltigkeit ihres Inhalts und ihrer Formen auf alle Diejenigen, 
in denen noch frisches Leben pulsirte, von bedeutendem Einflüsse 
sein musste. 

Welche Elemente fand nun die russische Literatur in der europäi¬ 
schen Romantik? 

Jene Bewegung, welche man mit dem Worte: Romantik bezeich¬ 
net, war eine höchst complicirte Erscheinung. Ihre Anfänge liegen 
in jener besonderen Erregung der Geister, welche für die zweite 
Hälfte des XVIII. Jahrhunderts so bezeichnend ist. Die gährenden 
Elemente der Zeit machten sich schon lange vor der französischen 
Revolution in vielfachen Ausbrüchen Luft, und als der Umschwung 
endlich eintrat, trieb er alle fortschrittlichen und conservativen Ele¬ 
mente in den Kampf. Als der Sturm sich legte,'war aber die wie¬ 
derhergestellte «Ordnung» länge nicht die frühere. Vieles war 
errungen worden, was sich nicht mehr vergessen Hess. Die Roman¬ 
tik, welche eine charakteristische Erscheinung der damaligen 
Geistesstimmung ist, enthielt daher auch viele conservativen Ele¬ 
mente, aber nebenbei auch viele Ideen und Anregungen der eben 
durchlebten Zeit, und das sind eben ihre hellen Seiten. Es lag in 
der Romantik doch das Bestreben, neue moralische und sociale 
Ideale zu schaffen, die neue Basis zu finden, welche das persön¬ 
liche und das allgemeine Leben veredeln und heben könnte. Trotz 
des Druckes der Reaction erhoben sich Elemente einer neuen, tie- 


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19 


feren Bewegung, und neben den Versuchen einerRechtfertigung des 
reactionären Stillstandes entwickelten sich die Anfänge einer neuen 
Philosophie und einer neuen Poesie. 

So diente die Romantik zu gleicher Zeit dem wissenschaftlichen 
und literarischen Fortschritt und einer erbitterten Reaction, die zum 
Obskurantismus führte. So erweiterte z. B. Herder’s Idee von der 
Einheit des Menschengeschlechts, von der Romantik weiter ent¬ 
wickelt, den Kreis der wissenschaftlichen Begriffe und den Umfang 
der Poesie, und führte zu eingehenden Untersuchungen über allge- ' 
meine Literatur und Geschichte; so gab das Studium des Alter¬ 
thums, wie es Lessing und Winkelmann betrieben und die Roman¬ 
tiker fortgesetzt hatten, dem Begriffe der Kunst eine so umfassende 
Bedeutung, wie es früher kaum denkbar gewesen; so gab die ro¬ 
mantische Hinneigung zur idealisirten Vergangenheit den Unter¬ 
suchungen über das nationale Leben und das nationale Alterthum 
einen mächtigen Anstoss und regte ein höchst mannigfaltiges histo¬ 
risches und ethnographisches Studium an. Aber andererseits fehlte 
es dieser literarischen Richtung an einem realen Verständnisse des 
Lebens, es brach eine starke Neigung zum Pietismus, zur Mystik, 
zum Glauben an alles Uebernatürliche und Wunderbare hervor; 
das Studium der Geschichte führte zur Proklamirung mittelalter¬ 
licher Begriffe für Staat und Gesellschaft; der poetische Idealismus 
gab sich in einer schrankenlosen Herrschaft der Phantasie kund. 

Die reactionären Züge der Romantik zeigten sich schon früh, doch 
fanden sie die grösste Ausbreitung während der Restauration; und 
unter dem Einflüsse der Zeit, der Wiederherstellung der alten poli¬ 
tischen Systeme in Frankreich und Deutschland, wurden der Ob¬ 
skurantismus und die Reaction, oder die Hinneigung zu ihnen, die 
hervorragendsten Eigenthümlichkeiten der Romantik. 

Das war ungefähr der Charakter jener Bewegung, deren Einfluss 
sich unsere Literatur mit dem Beginn der Thätigkeit Shukowsky's 
unterwarf. Wie immer, so war es auch dieses Mal keine vollständige 
Aneignung. Es waren nur einige guten, namentlich aber die 
schwachen Seiten der Romantik, welche in unsere Literatur Ein¬ 
gang fanden. Bei der allgemeinen Unkenntniss war es unmöglich, 
Das in dem nöthigen Maasse aufzunehmen, was an dieser Be¬ 
wegung nützlich und bildend war; weder konnte man den Gegen¬ 
satz der Romantik zum alten Skepticismus erfassen, noch seine be¬ 
freienden Elemente und wissenschaftlichen Bestrebungen würdi¬ 
gen; wie gewöhnlich eignete sich unsere Literatur ein wenig von 


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dem Guten, wie vom Schlechten an, und hauptsächlich das, was 
dem allgemeinen Niveau der Bildung entsprach. 

Als Shukowsky die Romantik bei Uns einführte, hatte er, wie wir 
oben bemerkten, durchaus kein irgendwie bewusstes Ziel. Er wollte 
nur fortsetzen, was Karamsin begonnen hatte, und in der That 
haben Beide in ihren moralisch-idealisirenden Ansichten Vieles ge¬ 
mein. Der Unterschied Beider lag darin, dass, während Karamsin's 
journalistische Thätigkeit eine viel mannigfaltigere Richtung nahm, 
Shukowsky sich, der Eigenthümlichkeit seines Talentes gemäss, 
fast nur auf das Gebiet der Poesie beschränkte. Die ihm zusagenden 
Motive in der westeuropäischen Literatur aufsuchend, übersetzte 
sie Shukowsky mit einer Meisterschaft, die ihn bald auf eine Reihe 
mit den alten Berühmtheiten und an die Spitze der neuen poeti¬ 
schen Richtung stellte. 

Die Bedeutung der neuen Schule bestand darin, dass sie erstens 
die formalen Begriffe der Poesie erweiterte, und zweitens in die 
russische Lyrik die bis dahin noch wenig bekannte Welt der inneren 
Gefühle hineintrug; in Shukowsky’s melancholischer Poesie zeigte 
sich ideales Menschenthum und erhebendes, inniges Gefühl. Der 
Weg dazu war zum Theil schon durch Karamsin’s sentimentale 
Erzählungen gebahnt, welche aber zu gekünstelt, zu weinerlich 
und gefühlsselig waren. Bei Shukowsky jedoch sprach sich dies 
Gefühl mit solcher Innigkeit und in so schöner Form aus, dass hier 
die Lyrik zu ihrem vollen Rechte kam. Zuerst übersetzte er freilich 
noch Florian, Thomson, Klopstock, Matthisson, aber bald führte 
ihn sein poetischer Instinkt zu den bedeutendsten Vertretern der 
westeuropäischen Literatur, zu Goldsmith, Thomas Moore, Walter 
Scott, Byron, Schiller, Goethe, Uhland, Hebel, Rückert. 

Der Einfluss der neuen Richtung war in vieler Hinsicht ein durch¬ 
aus wohlthätiger. Shukowsky wollte, nach dem Beispiele der Roman¬ 
tiker, dje Poesie zum höchsten Princip des Lebens machen, er pre¬ 
digte die Liebe zum Wahren und Guten, weckte in den Menschen 
die Welt der inneren Gefühle, regte die humane Behandlung der 
Nebenmenschen an, und die ihn beherrschende Melancholie gewann 
einen grossen Reiz für diejenigen, in denen inmitten der allgemei¬ 
nen Rohheit sich bessere Gefühle Bahn gebrochen hatten. 

In diesem, so zu sagen, pädagogischen Sinne wirkte Shukowsky’s 
Poesie auf die Gesellschaft; aber hierin lag auch die Grenze dieser 
Wirkung. Shukowsky wandte seine Aufmerksamkeit nur selten dem 
realen, um ihn sich regenden Leben zu. Ein Mal, im Jahre 1812, 


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21 


sprach sich auch bei ihm die allgemeine patriotische Stimmung in 
einem Gedichte aus: «Der Sänger im Lager russischer Krieger*. Es 
ist gewiss in begeisterter Stunde entstanden und hat durch seinen 
nationalen Enthusiasmus eine bedeutende Wirkung ausgeübt. Aber 
doch fehlte demselben das Bewusstsein des realen Zusammenhanges 
mit der Wirklichkeit, denn auch hier, bei dem Ausdruck des so 
nationalen Vertheidigungskrieges, hielt er es für* nöthig, seine 
Landsleute in antikes oder mittelalterliches Costüm zu hüllen, und 
kam auch hier wieder auf seine gewöhnlichen Meditationen über 
die Eitelkeit der Welt, den Schmerz des Verlustes, und die Tugend 
zurück. 

Wenn wir überhaupt in den Dichtungen Shukowsky’s nach An¬ 
knüpfungspunkten an das wirkliche Leben suchen wollen, finden 
wir sie nur in zwei Arten seiner Gedichte; einmal in den an Mit¬ 
glieder des Kaiserlichen Hauses gerichteten und zu Hoflesten 
verfassten Poesien, und dann in freundschaftlichen «Episteln* und 
Albumversen. 

Wir sind weit davon entfernt, von Shukowsky politische Lyrik 
irgendwelcher Art zu verlangen. Wir geben sein Verdienst um 
die formale Entwickelung der Literatur vollkommen zu, wir räu¬ 
men ihm durchaus sein Recht ein zu einer poetischen Sonderstel¬ 
lung, und leugnen auch nicht seine wohlthätige pädagogische Be¬ 
deutung für die Gesellschaft. Wir wollen nur darauf hinweisen, 
dass er ungeachtet dessen doch ein charakteristisches Beispiel dar¬ 
bietet für die Entfremdung der Romantik vom realen Leben. Denn 
seiner Melancholie lag doch eine gewisse Gleichgültigkeit, um nicht 
zu sagen Feindseligkeit gegen die unmittelbaren Lebensanforderun¬ 
gen, gegen die Kämpfe und Interessen der Gegenwart zu Grunde. 
Das wurde schon von seinen Zeitgenossen empfunden und sogar 
für schädlich erklärt. So schreibt Rylejew an Puschkin: «Zum 
Unglück war sein Einfluss auf den Geist unserer Literatur im hohen 
Grade verderblich: der Mysticismus, von welchem der‘grösste 
Tfieil seiner Gedichte durchdrungen ist, seine Träumerei, Unbe¬ 
stimmtheit und eine gewisse Nebelhaftigkeit, die zuweilen in ihm be¬ 
zaubernd sind, haben Viele entkräftigt und viel Schaden gebracht*. 

Diese Worte zeichnen vollkommen richtig Shukowsky’s schwache 
Seite. Er hat darauf noch dreissig Jahre für die russische Literatur 
gewirkt und sie mit vielen Uebersetzungen bereichert, aber aus sich 
selbst heraus, zu dem, was er in. der ersten Periode seiner Wirk¬ 
samkeit gebildet, Nichts hinzugefügt. 


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Der Inhalt dieser ersten Periode, die unmittelbar nach Karam- 
sin’s poetischer Thätigkeit felgte, konnte dem ersten und theil- 
weise auch dem zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts genügen; 
da überholte ihn die Zeit. 

Die europäische Romantik trug nicht die Schuld daran. Der 
Umfang derselben war viel grösser, aber Shukowsky und seine 
Schüler nahmen nur das auf, was ihrer sentimentalen Auffassung 
entsprach und beachteten das Andere nicht oder fühlten eine Anti¬ 
pathie dagegen. Er fasste die europäische Romantik von einem zu 
engen Standpunkte auf. Seine Urtheile über «Hamlet», den er ein 
«Ungeheuer» und eine «wunderbare Missgeburt» nannte, können 
als Beispiele seines beschränkten Einblickes in das Wesen der Ro¬ 
mantik gelten, deren Abgott Shakespeare gerade war. Dieser Um¬ 
stand findet seine Erklärung im ganzen Wesen Shukowsky’s: das 
Gemälde der menschlichen Seele mit ihren Kämpfen und Bestre¬ 
bungen, Zweifeln und Schmerzen stiess ihn ab, weil es seine eigene, 
sorgfältig gehegte, sentimentale Weltanschauung umzustürzen 
drohte. Ebenso wenig verstand er den energischen Skepticismus 
Byron’s, wie er nie jene Poesie verstanden und geliebt hatte, die 
sich in den Kampf des realen Lebens hineinwagte und die mensch¬ 
lichen Ideale einem kritischen Skepticismus unterwarf. Diese Poesie 
forderte männliche Kraft der Kritik und des Denkens; aber Shu¬ 
kowsky war ihr nicht gewachsen. 

Nicht nur als Dichter war Shukowsky den bewegenden Fragen 
der Zeit fern geblieben, sondern auch als Mensch. Im persön¬ 
lichen Verkehr besass er viele liebenswürdige Eigenschaften: auf¬ 
richtige Menschenliebe, Bereitwilligkeit zur Hülfe, jugendliche 
Fröhlichkeit im Freundeskreise, die seiner melancholischen Poesie 
ganz unähnlich war. 

Der eigentliche Grund seines Indifferentismus lag in den eingewur¬ 
zelten Sitten und Traditionen, welche jede Kritik der allgemeinen 
Verhältnisse ausschlossen und durch Erziehung und Umgebung un¬ 
terhalten wurden. 

Persönlich gutmüthig wünschte Shukowsky allgemeine Verede¬ 
lung der Sitten, eine milde Regierung, und ermunterte durch sein 
Beispiel zu philanthropischen Werken. So gab er, als er im Jahre 
1822 aus dem Auslande kam, wie es scheint, unter dem frischen 
Eindrücke westeuropäischer Sitten und unter dem Einflüsse Schil¬ 
lers, seinen Leibeigenen die Freiheit, so schrieb er später einigen 
hochgestellten Persönlichkeiten von «Selbstverleugnung der Macht» 


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23 


und von den Pflichten der Regierung, aber ebenso, wie bei 
Karamsin, war seine ganze Theorie vom staatlichen und gesell¬ 
schaftlichen Leben eine moralische Abstraction und entbehrte einer 
ernsten kritischen Auflassung: er blieb bei der Vorzüglichkeit des 
Status quo stehen. Ebenso wenig gelang ihm die Behandlung 
der rein wissenschaftlichen Fragen. Dem Charakter der Zeit ge¬ 
mäss, der Literatur und dem Humanismus fast ausschliesslich zu- 
gethan, versuchte er es zwar, eine Art Naturphilosophie zu be¬ 
gründen, aber es kam nur ein Bruchstück «Ein Blick vom Himmel 
auf die Erde» zu Stande, in welchem er bloss die Darlegung seiner 
romantischen Frömmigkeit mit naturphilosophischen Details umgab. 

Das Resultat war, wie man Äs nicht anders erwarten konnte: 
Shukowsky’s persönliche Ansichten neigten immer mehr dem 
Pietismus zu, das Verständniss seiner Zeit war ihm verschlossen. 
Die ganze Civilisation Europa’s schien ihm einem unvermeidlichen 
Verfall entgegenzueilen, wie es folgende Stelle bezeugt: 

«Wenn wir auf den Westen des jetzigen Europa's hinblicken, was 
sehen wir? Ein freches Verleugnen der höchsten Macht zeigt sich 
jetzt in Allem, was in den Volksversammlungen vorgeht. Ueberall 
herrscht Egoismus und todter Materialismus. Welche lebensvollen 
Folgen kann man davon erwarten? Kann menschliches Wohl auf 
einem solchen Fundamente errichtet werden? Der Glaube an das 
Heilige ist verschwunden, — das traurige Resultat der Reformation, 
welche, selbst eine Folge des Vorangegangenen, den sichtbarsten 
Ausgangspunkt bildet, von dem man den allmählichen Gang und 
die Entwickelung der Gegenwart verfolgen kann. Es ist nicht zu 
leugnen, dass die Reformation eine grosse geistige Bewegung her¬ 
vorgerufen hat, aus der endlich das Bürgerthum entstanden ist, 
oder die sogenannte Civilisation unserer Zeit.Die Reforma¬ 

tion hat gegen die Autorität der Kirche das demokratische Princip 
aufgewiegelt; indem sie das Recht einer Kritik der Offenbarung 
einräumte, hat sie den Glauben zum Wanken gebracht, und mit 
ihm alles Heilige. Dieses Heilige wurde durch die heidnische Weis¬ 
heit der Alten ersetzt; der Geist des Widerspruchs erhob sich; es 
begann der Aufruhr gegen die göttliche und menschliche Macht. 
Dieser Aufruhr übte seine Wirksamkeit in zwei Richtungen: erstens 
entstand aus der Vernichtung der Autorität der Kirche der Rationa¬ 
lismus (die Leugnung der Gottheit Christi), hieraus der Pantheis- 
mus (die Vernichtung der Persönlichkeit Gottes), endlich der Atheis¬ 
mus (Leugnung der Existenz Gottes); zweitens hat die Idee vom 


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24 


göttlichen Ursprung der regierenden Macht dem Gesellschafts- 
Vertrag weichen müssen. Daraus entstand die Souveränität des 
Volkes, deren erste Stufe — die constitutioneile Monarchie, die 
zweite — die Demokratie, die dritte — den Socialismus und Kommu¬ 
nismus bilden; vielleicht ist noch eine vierte, letzte Stufe möglich: 
die Vernichtung der Familie, und als Folge davon das Herabsinken 
der von jeder Pflicht und jeder Grenze befreiten Menschheit zur 
völlig ungebundenen Verthierung. Das sind die beiden Punkte, 
zu denen diese beiden Wege hinführen und zum Theil bereits hin- • 
geführt haben; auf der einen Seite die Souveränität des mensch¬ 
lichen Geistes und die Vernichtung des Reiches Gottes; auf der 
anderen die Herrschaft Aller und die Vernichtung der Gesellschaft. 
Und im Kampf zwischen diesen beiden Extremen entkräftigt sich 
die Civilisation des westlichen Europa’s». (Werke, Bd. VI, 
697—699). 

In der Literatur nahm Shukowsky schon seit lange eine ganz 
vereinzelte Stellung ein, ausserhalb jeder Verbindung mit dem 
Gange der Entwickelung derselben. Als endlich das Erscheinen 
Gogol’s eine gewisse Reife des literarischen Strebens ankündigte, 
blieb Shukowsky dieser Bewegung ganz fremd, und erst später, als 
Gogol das Beste, was er hervorgebracht hatte, gleichsam selbst 
abgeschworen, kam eine Annäherung zu Stande. Denn jetzt 
begegneten sie sich auf demselben Boden der romantischen 
Sentimentalität. Die religiöse Manie Gogol’s traf mit dem Pie¬ 
tismus Shukowsky’s zusammen und seiner Gleichgültigkeit gegen 
das allgemeine Interesse. Düster und niederdrückend ist der Ein¬ 
druck der letzten Lebensjahre Shukowsky’s. Der Pietismus, dem 
er ganz verfallen war, schien ihm endlich die Lösung des Räthsels 
zu geben, nach welcher er während seines ganzen Lebens gesucht. 
Seine poetische Wirksamkeit erschien ihm fast wie eine Verirrung. 
Dieser Ausgang entsprach der ganzen früheren Anlage seines We¬ 
sens: die romantische Melancholie fand ihre Basis; die Geister und 
Gespenster seiner Gedichte standen jetzt in Wahrheit vor ihm. . . . 

Wir führen diese Charakteristik Shukowsky’s nicht als einzelnes, 
alleinstehendes Exempel an, sondern als Beispiel der Entwicke¬ 
lung, welche die sentimentale Romantik bei uns genommen hat. 
So viel Subjektives in Shukowsky auch gewesen sein mag, so ist 
doch diese conservativ-romantische Richtung ein in die Augen fal¬ 
lender Zug der ganzen Schule. In der Geschichte der Entwickelung 
der Literatur und ihrer Formen hat diese Schule ihre Arbeit gethan, 


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*5 


indem sie das Gebiet der Poesie formell und ideell erweitert hat; in 
Hinsicht aber auf die allgemeine geistige Entwickelung der Gesell¬ 
schaft war sie bei den Ideen Karamsin’s stehen geblieben. Sie 
wünschte zwar das allgemeine Wohl, aber dieser Wunsch ist ein 
platonischer geblieben. Als Nachfolger einer Generation, welcher 
die Idee der Selbstthätigkeit der Gesellschaft überhaupt noch 
fehlte und welche sich dieselbe nur unter der mythologischen Form 
der Freimaurerei vorstellen konnte, haben Shukowsky und seine 
Schule diese Frage nur wenig vorwärts gebracht; ihre abstrakte 
Moral und die Predigt der Tugend fanden keinen Anhalt an den 
realen Thatsachen und an der bestehenden Ordnung der Dinge; 
zur Anknüpfung aber an das* praktische Leben fehlte es ihnen an 
Kraft und Fähigkeit. 


Die Romantik hatte ausser jener Rückkehr zum Mittelalter, zur 
Legende und zum Feudalismus, von dem wir eben gesprochen, noch 
eine andere Seite. 

Die nationale Erregung und Erhebung in Deutschland, die unter 
dem Joch Napoleon’s ihren höchsten Gipfelpunkt erreicht hatte, 
fand ebenfalls in den Formen der Romantik poetischen Ausdruck. 
Die von der «Aufklärung» des achtzehnten Jahrhunderts übermit¬ 
telten Freiheitsideen mit dem Kampfe um Befreiung des Vater¬ 
landes verbindend, vereinigten diese Bewegung die nationalen und 
die socialen Interessen in ein Bestreben, welches in den Geheim¬ 
bünden, in der patriotischen Poesie Ausdruck fand. 

In gleicher Weise bestand in Frankreich eine romantische Schule, 
die einerseits sich in das Mittelalter versenkte, andererseits aber die 
liberalen Elemente in sich barg, welche sich mit der politischen 
Agitation gegen die Restauration verbanden. 

In England repräsentirten Walter Scott und Byron die beiden 
Seiten derselben Bewegung. Byron’s üppige Poesie, beissende 
Satire und finstere Erbitterung waren von bewältigender Wirkung, 
und die Wenigen, die ihn selbst in Europa damals verstanden, 
sahen wohl ein, dass seiner Dichtung politischer Radicalismus zu 
Grunde lag. 

Diese Seite der westeuropäischen Romantik, mit den politischen 
Strömungen jener Zeit eng verbunden, spiegelte sich in unserer 
Literatur auf dieselbe Weise ab, wie die politische Gährung Euro- 
pa’s in unserem socialen Leben. In unserem Liberalismus der zwan- 


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ziger und dreissiger Jahre lag in der That viel Romantisches, sowohl 
in den geheimen Verbindungen, als auch in den idealistischen Frei¬ 
heitsbestrebungen. 

Wir finden diese Seite der Romantik in der ersten Periode der 
Thätigkeit Puschkiris ausgeprägt. Bei ihm wie bei Shukowsky 
haben wir nicht die einzelne Persönlichkeit im Auge, sondern behan¬ 
deln ihn nur als hervorragendsten Repräsentanten und als einen ganz 
besonders charakteristischen Vertreter jener Richtung. 

Als Puschkin’s politische Ansichten sich zu bilden anfingen, war 
er durchaus liberal gesinnt und ein Freund vieler Mitglieder gehei¬ 
mer Verbindungen, in die er selbst einzutreten grosses Verlangen 
trug. In den Notizen der Zeitgenossen sind manche interessante 
Erinnerungen auf uns gekommen, die uns bezeugen, wie sehr ihn 
die geheimen Verbindungen anzogen, seine Freunde hielten sie vor 
ihm geheim, er errieth sie aber und fühlte sich beleidigt, dass man 
ihn nicht aufnehmen wolle. 

In dieser Zeit entstanden viele kleine Gedichte und Epigramme, 
die eine offenbare politische Bedeutung hatten. Als Manuskripte 
kursirten sie von Hand zu Hand und wurden überall fieissig abge¬ 
schrieben, so dass ein Ausspruch eines Zeitgenossen, Polewoi’s, 
nicht ohne Berechtigung ist: «Nicht die Vielseitigkeit seines Genie’s, 
nicht die Schönheit der Bilder rissen die Jugend fort, sondern die 
wohllautenden Verse, welche die innersten Gedanken derselben 
enthielten. Man könnte behaupten, dass Puschkin’sName am meisten 
durch einige seiner kleinen Gedichte in Russland bekannt geworden 
ist, Gedichte, die man jetzt vergessen, die aber damals in unzähligen 
Abschriften von Hand zu Hand gingen». 

Puschkin selbst hat später gewünscht, dass diese Gedichte in der 
That der Vergessenheit anheimfallen möchten, aber nichtsdesto¬ 
weniger besitzen sie doch einen gewissen historischen Werth. Sie 
bilden ein interessantes Moment damaligen Lebens und' der Ent¬ 
wickelung Puschkin’s; es sprach aus ihnen ein edles Verlangen 
nach einer besseren Ordnung der Dinge, und sie enthielten eine 
beissende Satire gegen solche Persönlichkeiten, welche in der 
That dem allgemeinen Wohl nur Schaden brachten. Es war auch 
ganz natürlich, dass diese erste Periode Puschkin so viel Anerken¬ 
nung und Ruhm einbrachte, denn das Publikum fand darin den 
Ausdruck der eigenen Gedanken und Wünsche. Ausserdem waren 
diese Gedichte mit so viel Witz, so viel Anschaulichkeit, so viel 
Poesie ausgeführt, dass sie in kürzester Zeit eine imgewöhnliche 


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Popularität erhielten. Es lag ihnen ein gegenseitiges Verständnis 
zwischen Dichter und Publikum zu Grunde — vielleicht das erste 
Beispiel dieser Art in unserer Literatur. . .. 

Später neigte sich Puschkin ganz der conservativen Richtung zu, 
aber in den zwanziger Jahren finden wir bei ihm oft ganz richtige 
und vorurteilsfreie Urtheile, die er dem Einflüsse der Zeit und des 
liberalen Kreises, in welchem er lebte, zu verdanken hatte. 

In dem in Kischinew geschriebenen Tagebuche Puschkin's äussert 
er z. B. seine Ansicht über die Regierung der Nachfolger Peter’s 
des Grossen und bemerkt in Betreff der misslungenen Versuche 
der Aristokratie, die Macht in ihrer Hand zu vergrössern: «dies 
hat uns vor dem ungeheuerlichen Feudalsystem bewahrt, und ver¬ 
hütet, dass sich die Existenz des Volkes von der Existenz des 
Adels durch eine ewige Scheidewand abtheilt*; — im Falle des 
Erfolges wären diese Anschläge des Adels von vernichtendem Ein¬ 
fluss auf das Leben des Volkes gewesen, «sie hätten alle Mittel zur 
Lösung der Bauernfrage erschwert oder paralysirt, sie hätten die 
Zahl der dem Adel Angehörenden eingeschränkt und den anderen 
Ständen den Weg zu staatlichen Aemtern und Ehren versperrt». 
«Jetzt aber, sagt Puschkin, verbindet das Verlangen nach Besse¬ 
rem alle Stände gegen den gemeinsamen Feind, und diese feste 
friedliche Einstimmigkeit kann uns bald in eine Reihe mit den auf¬ 
geklärten Nationen Europa’s hinaufheben». Vollkommen rich¬ 
tig ist die Bemerkung des Herausgebers jenes Tagebuches, dass 
selbst unter den aufgeklärtesten Männern jener Zeit nur sehr Wenige 
ein so treffendes Urtheil über die historische Bedeutung der russi¬ 
schen Aristokratie gehabt haben. 

Interessant ist ferner die Aeusserung Puschkin’s über die Sitten 
am Hofe der Kaiserin Katharina BL: «Die Favoriten kannten weder 
Maass noch Ziel in ihrer Habsucht, und die entferntesten Verwandten 
derselben genossen gierig die Vortheile der kurzen Herrschaft. 
Daraus entstanden dann jene grossmächtigen Besitztümer gänzlich 
unbekannter Familien und die gänzliche Abwesenheit von Ehre und 
Ehrlichkeit in vielen Kreisen der höheren Klassen der Nation». 
Man begreift nach diesen Wotten den geringschätzenden Ton, 
mit dem er überhaupt von den Zeiten der nordischen Semira- 
mis spricht. 

Diese Beispiele zeigen, dass Puschkin damals die politischen 
Dinge ziemlich klar aufzufassen verstand, obgleich er später über 
dieselben Gegenstände ganz anders gedacht hat. Und daher konnte 


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28 


er in dieser ersten Periode seiner Wirksamkeit mit Recht zu dem 
liberalen Kreise herangezogen werden. In dieser Hinsicht stand er 
auch unter dem Einflüsse der Romantik. Sein Talent reifte sehr 
rasch heran; schon früh eignete er sich Alles an, was Dershawin, 
Karamsin, Shukowsky für Vers und Sprache gethan hatten. Die 
romantischen Elemente der europäischen Literatur drangen in jener 
Zeit immer mehr und mehr in die russische Literatur ein. Die fran¬ 
zösische Literatur war das tägliche Brod des damaligen Geschlechtes; 
die deutschen Einflüsse vertrat Shukowsky, aber die gewaltigste 
Wirkung hat auf unsere jungen Romantiker, und also auch auf 
Puschkin, Byron ausgeübt. Es ist schon oft bemerkt worden, dass 
Puschkin seinem ganzen Wesen nach Byron unmöglich in genü¬ 
gender Weise verstehen konnte; eben so wenig war er bloss sein 
Nachahmer; trotz alledem zeigt sich in seinen Werken der ge¬ 
waltige Eindruck, den Byron auf ihn gemacht hat. Die Ent¬ 
täuschung, die Unzufriedenheit mit dem Leben, ein romanti. 
sches, unklares Suchen*nach Freiheit finden wir bei allen Helden 
Puschkin’s. Und seine Gedichte gefielen dem jungen, zur romanti¬ 
schen Schwärmerei disponirten Geschlechte so sehr, dass einige 
Verehrer seines Talentes ihn sogar den «russischen Byron» nannten. 
Unabhängig von dem poetischen Werthe seiner Schöpfungen, boten 
dieselben noch ein anderes Interesse dar, wodurch die romantische 
Idee einen Schritt über Shukowsky hinaus machte. Puschkin war, 
der Anlage seiner Natur gemäss, der melancholischen Sentimen¬ 
talität, die Shukowsky zum Pietismus führte, nicht fähig. In seiner 
Poesie trat das Gefühl der realen Wirklichkeit sehr stark hervor, 
es begann eine gewisse, wenn auch unselbstständige, aber doch auf 
das reale Leben gerichtete Kritik. Die Zeitgenossen erblickten 
darin freilich Vieles, was gar nicht vorhanden war, denn sie glaub¬ 
ten in ihm einen Dichter zu sehen, der das Streben* der jungen Ge¬ 
neration zum Ausdruck bringen würde. Aber das geschah nicht. 
Wir wissen jetzt, dass es nach Puschkin’s ganzem Wesen als Mensch 
und Schriftsteller nicht geschehen konnte. 

Das Ende der Regierung Alexanders I., in welchem ein Um¬ 
schwung in unserem staatlichen Leben eintrat, wurde auch für 
Puschkin zur entscheidenden Krisis. Als die hervorragendsten Cha¬ 
raktere des liberalen Kreises verschwanden, lösten sich die früheren 
Verbindungen auf. Aber der tiefere Grund des Bruches lag in 
Puschkin selbst: er war so sehr objectiver Künstler, dass ihm in 
der poetischen Auffassung die mannigfaltigsten Seiten des Lebens 


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29 


vollkommen zugänglich waren, während die Fragen des Augenblicks 
ihm fern blieben. Und noch ein anderer Zug lebte in ihm, der einen 
seiner neuesten Kritiker zu folgender richtigen Bemerkung veran- 
lasste: «Es lag überhaupt in Puschkin’s Charakter die Neiguqg, 
Traditionen zu lieben und zu achten, er liebte das Alterthum, 
war in seinem Herzen, wenn man es so ausdrücken kann, ein bis zu 
einem gewissen Grade alterthümlicher Mensch, ungeachtet dessen, 
dass sein durchdringender Geist, seine Bildung und seine prakti¬ 
sche Anschauung der Dinge ihm sehr gut den Unterschied klar leg¬ 
ten zwischen den Forderungen der Gegenwart und den Begriffen, die 
sich überlebt hatten». Diese conservative Neigung entwickelte sich 
später bis zu einer solchen Höhe, dass er in der Literatur die neuen 
Anschauungen und Forderungen der Kritik nicht verstehen konnte, 
und in Hinscht der staatlichen Zustände der Verehrer des zu einem 
Ideal wenig tauglichen Status quo wurde. 

Diese Züge zeigten sich schon in der ersten Zeit seines Libera¬ 
lismus, in welchem mehr romantischer Enthusiasmus, als aufrichtige 
Ueberzeugung vorhanden war. Puschkin war aufgeweckt genug, 
um die Berechtigung seines Liberalismus efnzusehen, aber allmählich 
gewann die obenerwähnte Objectivität die Oberhand über das logi¬ 
sche Urtheil. Seine begeistertsten Verehrer, wie z. B. der bekannte 
Kritiker Belinsky, haben schon bemerkt, dass die intellectuelle 
Thätigkeit seines Geistes dem poetischen Anschauungsvermögen 
bedeutend nachstand. Daher war sein Liberalismus mehr ein Kind 
der Zeit, als die Folge selbstthätigen logischen Denkens. Zufällige 
Eindrücke und persönlicher Enthusiasmus haben immer grossen Ein¬ 
fluss auf ihn ausgeübt, und als sich die Zeiten änderten, unterwarf 
auch er sich der herrschenden Strömung. Dieser Mangel an Ernst 
war es, der ihm den Eintritt in die geheimen Verbindungen unmög¬ 
lich machte und der seine damaligen Freunde mit Sorge und Unzu¬ 
friedenheit erfüllte. 

Die liberale Schule der Romantik fand ihren Abschluss mit dem # 
Verschwinden der politischen liberalen Partei. Betrachtet man 
diese Erscheinung von einem höheren historischen Gesichtspunkte, 
so ist es klar, dass das Niveau der allgemeinen Bildung diesen Ideen 
sich noch nicht gewachsen zeigte, dass sie der wenig entwickelten 
Gesellschaft noch nicht verständlich waren. Sie gewannen nur einen 
unbedeutenden Anfang und die Vertreter derselben mussten dem 
ersten Zusammenstoss zum Opfer fallen. 

Puschkin’s Rolle war in diesem Conflict eine höchst cllfcrakteristi- 


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30 


sehe. Seinem Wesen nach war er ein «alterthümücher Mensch» 
und stand in keiner solidarischen Verbindung mit den Meinungen 
der zwanziger Jahre. Er söhnt sich immer mehr mit dem Leben aus 
und findet dort Motive seiner Poesie, wo sie fiir einen Dichter, der 
ernst und wahrhaft durch die Byron’sche «Verneinung» hindurch- 
‘ gegangen, ganz undenkbar gewesen wären. 

Puschkin’s Abfall von den früheren Ansichten ist nicht plötzlich 
geschehen, er hat sie nicht «feierlich abgeschworen». Als er nach 
Pskow verbannt wurde, stand er noch in einem gewissen selbstge¬ 
fälligen Gegensätze gegen die Regierung. Aber allmählich trat er 
schon in jene Periode der Reife, von der wir oben gesprochen, 
in die Periode des künstlerischen Schaflens im Sinne der Romantik 
und des politischen Indifferentismus, der zuletzt in die völlige 
Anerkennung des status quo überging. Die Poesie hatte nach seiner 
Ansicht, die er oft im mündlichen Gespräch und in seinen Gedichten 
ausgesprochen hat, nur sich selbst zum Ziel; das poetische Schaffen 
unterwirft sich nur der Eingebung; der Dichter ist der Auserwählte 
der Götter, der nur für die höheren Wesen existirt: «odi profanum 
vulgus et arceo». Mit dem Drama «Boris Godunow» betritt Puschkin 
diesen Weg, den er nie mehr verlassen hat. 

Die Verdienste Puschkin’s um die russische Literatur waren trotz 
alledem gross: er vollendete die formale Entwickelung der Lite¬ 
ratur; er hat endgültig die Regeln künstlerischer Dichtung festgesetzt, 
hat die alten Begriffe und Vorurtheile vernichtet, und hat eine 
poetische, von Rhetorik freie, Sprache geschaffen. Die Poesie war 
in den Augen der Gesellschaft durch ihn auf jene Höhe gehoben 
in der sie erst ihre rechte Bedeutung gewann. Ungeachtet dessen 
begann aber das Publikum allmählich für ihn zu erkalten. Viele, 
und unter ihnen sogar Belinsky, haben das Publikum deswegen 
beschuldigt. Dieses Urtheil ist nicht ganz gerecht. Die Kunst als 

Kunst an und für sich ist ein theoretisches Extrem. Der Dichter 
* 

kann nie auf der Höhe seiner Anschauung bleiben, weil das reale 
Leben ihn schliesslich, ohne dass er sich dessen bewusst ist, zum 
Anhänger einer Partei macht und zum Diener eines bestimmten 
Principes. Der Dichter übertreibt leicht seine «prophetische» Mis¬ 
sion, und so wird er oft gleichgültig gegen die lebendigsten Inter¬ 
essen der Gesellschaft. Das war das Schicksal Puschkin’s. Die 
Gesellschaft aber dachte anders. Zuerst hatte sie Puschkin als 
«Echo» ihrer Ansichten in den Himmel erhoben; sie hatte instinktiv 
errathen, "dass die Poesie der Ausdruck des realen Lebens sein 


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3 * 


müsse, dem Schutze ihrer Interessen dienen, auf lebensvolle Ideale 
hinweisen solle. Man kann das Publikum wegen seiner Kälte nicht 
beschuldigen, wenn es da, wo es Bilder des russischen realen Le¬ 
bens erwartete, nur, so zu sagen, mit künstlerischem Luxus ausge- 
führte Dichtungen erhielt. 

In der zweiten Periode vollendete Puschkin seinen «Eugen 
Onägin». Das war die einzige bedeutende Dichtung, in welcher er 
das russische Leben seiner Zeit berührte; später wandte er sich 
wieder dem Alterthum zu, oder wählte Gegenstände, die dem russi¬ 
schen Leben ganz fremd waren. Es ist bekannt, mit welchem Inter¬ 
esse das Publikum zuerst den «Eugen Onägin» verschlang, dann 
aber allmählich immer mehr dagegen erkaltete. Der Grund war wohl 
der, auf den wir hingewiesen: dem Publikum genügte die blosse 
«romantische» Verknüpfung nicht, es erwartete eine ernste Berüh¬ 
rung der allgemeinen Interessen. 

Eine spätere Kritik hat den «Eugen Onägin > wieder sehr hoch ge¬ 
stellt. SeitBelinsky ist es bei uns Sitte geworden, auf poetischenTypen 
eine Geschichte der Gesellschaft zu begründen. Diese Idee ist fehlerhaft 
und jedenfalls ist eine solche Geschichte unvollständig. Sie war viel¬ 
leicht am Platz so lange eine andere von der Literatur unabhän¬ 
gige Geschichte unmöglich war. Aber abgesehen davon, dass es 
noch viele anderen Quellen zu einer Gesichte der Gesellschaft 
giebt, waren diese poetischen Typen niemals vollständig, sie er¬ 
schöpften niemals den ganzen Inhalt des jeweiligen Lebens. Auch 
das ist noch zu beachten, dass die poetische Literatur in ihrem 
Schaffen niemals frei war: es wäre sonderbar, dort von der Freiheit 
des künstlerischen Schaffens zu sprechen, wo ein jeder Schritt nur 
unter Aufsicht geschehen konnte, wo die Bevormundung den Dichter 
packte, sobald der «freie Schaffensdrang» die gesteckten Grenzen 
überschreiten wollte. 

Es ist oft bei uns wiederholt worden, dass der «Eugen Onägin» 
ein vortreffliches Bild der gesellschaftlichen Zustände jener Zeit, 
dass der Held des Gedichtes ein charakteristischer Typus sei u. s. w. 
Aber schon in den dreissiger Jahren hat die Kritik einige Entgeg¬ 
nungen gemacht und mehr Gewicht auf die nebensächlichen Bilder 
des russischen Lebens, als auf die Darstellung des Charakters selbst 
gelegt. Onägin ist in der That mehr einTypus aus dem engen Kreis 
des weltmännischen Lebens, als ein Vertreter seiner Zeit, welche 
ein viel bewegteres und mannigfaltigeres Ringen in sich enthielt, als 
Onägin es repräsentirt. Wir sind natürlich nicht berechtigt, von einem 


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3 * 


Dichter die Schilderung dieser oder jener Seiten des menschlichen 
Lebens zu verlangen — analysiren wir aber die Gründe der 
Wahl seines Stoffes, so können wir uns einen Begriff von seinen 
Ansichten und seinem geistigen Horizonte bilden, und müssen in 
diesem Falle wieder auf den früheren Schluss zurückkommen, dass 
die politischen Ideen jener Zeit Puschkin doch fremd geblieben und 
von keinem tieferen Interesse für ihn gewesen sind. 

Die übrigen Dichtungen Puschkin’s, die Werke der letzten Pe¬ 
riode, stehen mit der Zeit, in welcher sie geschrieben worden sind, 
in keinem Zusammenhänge. Sie sind von bedeutendem Einfluss auf 
die Entwickelung der Literatur als Kunst gewesen, aber auf die 
Selbsterkenntniss der Gesellschaft haben sie nicht eingewirkt, haben 
auf keine Ideale hingewiesen. Es waren namentlich historische 
Ereignisse, durch die Puschkin jetzt in seiner Dichtung mit dem 
russischen Leben in Verbindung trat. «Aber auch hier — bemerkt 
ein Kritiker Puschkin’s — ist Puschkin sich selbst treu geblieben; 
er hat nichts ihm Eigenthümliches in denselben ausgesprochen; 
seine Ansicht über die historischen Charaktere und Erscheinungen 
warder Abdruck allgemeingültiger Anschauungen. Peter der Grosse— 
war ein grosser Mann, ein weiser Herrscher; Karl XII. — ein toll¬ 
kühner Held; Mazeppa — ein hinterlistiger Verräther:—das ist 
Alles, was in dem Gedicht «Poltawa» über diese Personen heraus¬ 
zulesen ist. Das Drama «Boris Godunow» ist die Wiederholung der 
Charaktere und der Ansichten Karamsin’s. Ueberhaupt sind die 
historischen Dichtungen Puschkin’s durch psychologische Treue 
der Charaktere ausgezeichnet, nicht aber dadurch, dass Puschkin 
in den dargestellten Ereignissen den tiefen inneren Sinn aufgedeckt 
hätte, wie es z. B. Goethe in seinem «Götz von Berlichingen»gethan». 

Der historische Standtpunkt Puschkin's war jetzt ganz derselbe 
geworden, den Karamsin in seiner «Geschichte des russischen 
Kaiserreichs» einnahm. Belinsky äussert sich darüber in folgenden 
Worten: «Puschkin war so sehr in den Geist dieser Geschichte ein¬ 
gedrungen, dass er zum Beschützer und Vorkämpfer derselben 
geworden war; er rechtfertigte sie nicht nur als Geschichte, son¬ 
dern sogar als einen politischen und staatswissenschaftlichen Koran, 
der nicht bloss für unsere Zeit aufs Beste passe, sondern auch für 
immer so bleiben müsse». 

Diesen Karamsin’schen Standpunkt finden wir bei Puschkin ver¬ 
treten in Anwendung auf die verschiedensten socialen und literari¬ 
schen Gegenstände, und wir erstaunen über seine geringen Anfor- 


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33 


derungen und seine bemerkenswerthe Uebereinstimmung mit der 
herrschenden Routine. Einige aufs Gerathewohl herausgenommenen 
Beispiele werden den Charakter seiner Ansichten genügend be¬ 
leuchten. Mit Verachtung spricht er «von den bemitleidenswerthen 
skeptischen Theorien des vergangenen Jahrhunderts»; über die 
deutsche Philosophie, mit der man in den dreissiger Jahren sich bei 
uns zu beschäftigen anfing, sagt er, «dass sie vielleicht zu viele junge 
Anhänger gefunden hat», dass ihr Einfluss übrigens ein wohlthätiger 
gewesen .sei, denn «sie hat unsere Jugend vor dem frostigen Skepti- 
cismus der französischen Philosophie bewahrt und sie von den be¬ 
rauschenden und schädlichen Schwärmereien fern gehalten, welche 
auf die Blüthe der vorangangenen Generation einen so schrecklichen 
Einfluss gehabt haben»; er unternimmt eine ungeschickte Verthei- 
digung des Mäeenatenthums in der Literatur, und vertheidigt noch 
ungeschickter die Gensur: «Keine Macht, keine Regierung kann, 
der Alles zerstörenden Wirkung der typographischen Presse gegen¬ 
über, bestehen. Achtet den Schriftsteller, aber lasst es nicht zu, 
dass er sich Euer ganz bemächtigt. Die Handlung des Menschen 
ist momentan und vereinzelt, die Wirkung eines Buches vielfach 
und an vielen Orten zugleich. Die Gesetze gegen den Missbrauch 
der Presse erreichen nicht ihr Ziel: sie kommen dem Uebel nicht 
zuvor, es nur selten im Keim erstickend. Beides kann nur die 
Censur zu Stande bringen». In der Bauernfrage stand er auf dem 
Standpunkte Karamsin’s; von der Wichtigkeit der Hofetiquette 
sprechend und bemerkend, dass der Kaiser Alexander Einfachheit 
undUngezwungenheit liebte, fügt er hinzu: «er hat die Etiquette 
vermindert, welche zu erneuern jedenfalls nicht schlecht wäre». 
Man denke ferner an seine ununterbrochene und kleinliche Jagd nach 
aristokratischen Vorrechten, seine Angriffe ,auf die sogenannten 
französischen «Schreier», d. h. die Parlamentsredner und die Publi- 
cisten, an die Complimente in seinen Gedichten u. dgl. 

Es kt bekannt, dass Puschkin immer mit einer gewissen Gering¬ 
schätzung von seinen Kritikern gesprochen hat, und nach ihm hat 
man auch später wiederholt, dass die Kritik ihn niemals vollkommen 
verstanden hätte. Dieses Urtheil ist ungerecht, denn die Kritik ver¬ 
stand Puschkin sehr gut zu schätzen und hat auf seine Fehler mit 
solcher Sachkenntniss aufmerksam gemacht, wie es bis dahin in der 
russkchen Literatur noch nicht vorgekommen war. Die Kritik war 
nicht immer richtig, aber sie enthielt viel Wahres über ihn und 
seine Schule. 

Uom. Bern, Bd. YII» * 


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Die Geringschätzung Puschkin’s gegen diese Kritik hatte ihren 
Grund nicht in der Verneinung der Principien dieser Kritik und ihrer 
Forderungen, sondern in dem fast versteinerten Conservatismus des 
Kreises, an dessen Spitze Puschkin stand. In diesem Kreise 
herrschte zwar ein reger ästhetischer Geschmack und ein leben¬ 
diges Gefühl fiir künstlerische Vollendung; aber die neue Entwicke¬ 
lung der Literatur, die mit Gogol begann, blieb seinem Verständniss 
fremd. Es ist kaum zu leugnen, dass eben dieser Kreis einen be¬ 
deutenden Einfluss auf Puschkin’s conservative Richtung ausgeübt 
hat, indem er ihn von dem profanum vulgus, d. h. von der Gesell¬ 
schaft und ihren Vertretern ablenkte und an sich fesselte. Wie gross 
der Einfluss und namentlich welcher Art derselbe gewesen sein 
muss, ist zum Theil aus der Herausgabe der Werke Puschkin's 
ersichtlich, welche eben diese seine Freunde nach seinem Tode 
unternahmen. Wohl im Bewusstsein der Solidarität mit ihrem ver¬ 
storbenen Freunde und Führer erlaubten sie sich solche Rücksichts¬ 
losigkeiten, die einem jeden gebildeten Menschen geradezu unbe¬ 
greiflich sind. Nicht nur, dass sie einzelne Sätze und ganze Auf¬ 
sätze, gegen welche selbst die Censur Nichts einzuwenden gehabt 
hätte, ganz strichen und ausschlossen, sondern sie veränderten 
sogar ohne jede Nothwendigkeit mit staunenswerther Willkür die 
poetischen und prosaischen Arbeiten Puschkin’s, und zwar von 
einem Standpunkte, von dessen beschränktem Horizonte aus Pusch- 
kin’s Bedeutung für die russische Literatur im Namen veralteter lite¬ 
rarischer und moralischer Forderungen fast zu einem Minimum her¬ 
absank. Das waren die Freunde, die ihn umgaben, deren Ansichten 
zum Theil auch die seinigen waren! 

Es wäre ungerecht, wollte man der Wirksamkeit Puschkin’s den 
Charakter der ganzen Schule beilegen, dessen Namen sie trägt; er 
bildete nur das hervorragende Talent in dem Kreise der Schrift¬ 
steller, deren persönlicher Freund er zugleich war. Der Charakter 
der Schule hing ab von dem Geiste der Zeit, von der durchlaufenen 
literarischen Entwickelung, dem westeuropäischen Einflüsse, dem 
allgemeinen Bildungsgrade, den persönlichen Eigenschaften der 
Schriftsteller. Zugleich muss man aber auch in Betracht ziehen, 
dass Puschkin grossen Einfluss durch sein Beispiel und durch sein 
billigendes Urtheil, welches die Schriftsteller im Glauben an den 
Werth und die Richtigkeit in Form und Inhalt ihrer Werke 
bestärkte, ausgeübt hat. Puschkin war in Ertheilung des Lobes 
bekanntlich nicht sparsam, theilweise, weil ihm die Werke in der 


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That gefielen, zum Theil aber auch aus freundschaftlicher, oft 
unnützer Nachsicht. Wenn Puschkin’s gewaltiges Talent ihn vor 
romantischen Ausschreitungen bewahrt hat, so stand seinen Freun¬ 
den und Nachfolgern dieses Schutzmittel nur in geringerem Grade zu 
Gebote; daher treten die Mängel der Schule und der Zeit bei ihnen 
besonders stark hervor. In dem poetischen Gesetzbuch der Roman¬ 
tik, wie dasselbe aus West-Europa zu uns herübergekommen ist, 
war das beliebteste Thema die über das Maas hinausgehende Erhe¬ 
bung des persönlichen, individuellen Gefühls, verbunden mit der 
Schilderung ausschliesslicher Charaktere. Unsere Romantiker warfen 
sich mit Eifer auf dieses Thema, und daraus entstanden dann jene 
Dichtungen voll persönlicher Herzensergiessungen, romantischer 
Melancholie, Enttäuschungen, titanischer Leidenschaften, unent¬ 
wirrbarer Seelenstimmungen u. s. w.; mit Verachtung wurde dieProsa 
des Lebens zurückgewiesen, das freie Spiel der Inspiration gefor¬ 
dert, die praktische Thätigkeit der Zeit, ihre Wissenschaft, ihr 
kalter Verstand geschwächt 

Damit verband sich bei den Vertretern der russischen Roman¬ 
tik, wie bei ihrem Führer, jene Gleichgültigkeit für die unmittelbare 
Gegenwart, welche so naturgemäss aus einer übertriebenen Vor¬ 
stellung von dem alleinseligmachenden Werthe der Poesie und der 
Kunst und dem Mangel staatlich-politischer Kenntnisse folgen 
musste. Der Romantiker hielt sich, so beschränkt sein Talent auch 
sein mochte, für eine bevorzugte Natur und gab sich das Recht, 
von oben herab auf die Wirklichkeit hinabzusehen. Es kam ein Ton 
der Lüge in die Literatur, der aber die genügsamen Leser befrie¬ 
digte, weil die Poesie in ihren Augen etwas ganz besonders Erha¬ 
benes war, welches mit dem realen Leben in keiner Verbindung 
stand. Der Einfluss Puschkin’s, welcher selbst dieser romantischen 
Theorie gehuldigt hatte, war nicht im Stande dagegen anzukämpfen, 
wodurch dass Verständniss der durch und durch realen Dichtungen 
Gogol’s dem Publikum später so schwer fiel. 


Das waren die Züge der Romantik in unserer Literatur. Die 
Romantik hat in Hinsicht literarischer Formentwickelung einen 
grossen Schritt vorwärts gethan, aber was das staatlich-gesell¬ 
schaftliche Leben betrifft, so wiederholte sie entweder die Mei¬ 
nungen der Karamsin’sehen Epoche, oder blieb den Fragen 
und Interessen des wirklichen Lebens vollkommen fern. Jene Seite 

3 * 


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36 


unserer Romantik, in welcher sich lebensvollere Elemente in staat¬ 
licher Hinsicht regten, verschwand zu gleicher Zeit mit ihren 
Vertretern. 

Dieser politische und sociale Indifferentismus begann, wie es aus 
dem Beispiele Shukowsky s ersichtlich ist, mit dem ersten Erschei¬ 
nen der Romantik. Nach dem Umschwung während der Regierung 
des Kaisers Alexanders I. nahm er an Stärke zu. Das progressive 
Element wurde ganz ausgeschlossen, und das blieb natürlich nicht 
ohne Einwirkung auf die ganze Literatur: die schon früher passive 
und schwankende Romantik lenkte jetzt ganz in die Bahnen ein, 
welche Shukowsky und Puschkin in der letzten Phase ihrer Ent¬ 
wickelung betreten hatten. Sie waren die Bundesgenossen des herr¬ 
schenden officiellen Conservatismus, der dadurch in der Literatur 
eine grosse Stütze und bedeutende Kraft gewann, denn es waren 
die ersten Männer der Literatur, welche denselben vertraten. 

Shukowsky und Puschkin haben gewiss ein grosses Verdienst um 
die Entwickelung der rassischen Literatur: sie haben dieselbe in 
formaler Hinsicht von der Herrschaft der alten rhetorischen Schule 
befreit, sie haben die Bedeutung der Literatur in den Augen der 
Gesellschaft erhöht, und durch ihre humanen und erhabenen poeti¬ 
schen Ideen einen wohlthätigen, pädagogischen Einfluss ausgeübt; 
aber in den Idealen des staatlichen Lebens, denen sie gehuldigt, 
sind sie auf dem früheren Standpunkte stehen geblieben und haben 
dem alten Inhalt nichts Neues hinzugefügt. Dazu bedurfte es neuer 
Kräfte, und die erstanden für die poetische Literatur erst in Gogol 
und fiir die literarische Kritik in der Reihe der Kritiker, die unter 
dem Einflüsse deutscher Philosophie und neuer volkswirthschaft- 
licher Lehren selbstständige Ideen und Anschauungen zum Ver¬ 
ständnis russischen Lebens zu entwickeln begannen, und die Fragen, 
die« sich innerhalb desselben aufdrangen, wenn auch nicht er¬ 
schöpfend, so doch zum ersten Mal wahrhaft kritisch zu beleuchten 
versuchten. — o — 


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Das rassische Geldwesen während der Finanzrer- 
waltnng des Grafen Cancrin (1823—1844). 

Eine finanzhistorische Studie 
von 

Dr. Alfred Schmidt. 

Erster Abschnitt 

Zustand und Entwickelung des russischen Geldwesens von 1823—1844. 

I. Die klingende Münze. 

A. Die klingende Münze russischen Gepräges, 
i. Die Kupfermünze . 

Durch das Gesetz vom 20. Juni 1810 (Nr. 24,264) 1 war bestimmt 
worden, das Kupfergeld stets nach dem Werthe des Rohmaterials zu 
prägen, so dass damals 24 Rbl. aus einem Pud Kupfer geprägt wurden. 
Allmählich änderte sich aber der Preis des Kupfermetalls und 1827 
hatte er die Höhe von ungefähr 34 Rbl. für das Pud erreicht; da 
jedoch nach wie vor das Kupfergeld zu 24 Rbl. aus dem Pud ge¬ 
prägt wurde, so erlitt die Krone dadurch auf die Summe von 
30 Mill. Rbl. Kupfermünze einen Verlust von etwa 12 Mill.Rbl. Diese 
Preisdifferenz zwischen dem Kupfermetall und der Kupfermünze ver¬ 
leitete natürlich auch zu massenhaftem Einschmelzen der letzteren, 
trotz der strengsten Verbote. Hieraus entstand aber für die Krone 
wiederum ein bedeutender Schaden. Der Finanzroinister 2 schlug 
daher zur Beseitigung dieser der Krone erwachsenden Nachtheile 
im Jahre 1827 vor, das Kupfergeld von nun an zu 36 Rbl. aus dem 
Pud zu prägen. Da von den 30 Mill. Rbl., die sich in Umlauf befin¬ 
den sollten, 15 Mill. in Kronskassen brach lägen, so würde die 
Krone durch die Umprägung 5 Mill. gewinnen, das Brachliegen 
gebe ja einen Beweis dafür ab, dass 15 Mill. für den Verkehr 
genügten. 

Im Reichsrathe theilten sich die Stimmen; acht Mitglieder stimm¬ 
ten für den Vorschlag des Ministers, dreizehn dagegen. Diese 

1 Die eingeklammerten Zahlen bezeichnen die Nummer, welche das Gesetz in der 
• Vollständigen Gesetzsammlung« (riojmoe coöpame saKOHOBi») trägt. 

2 Im Verlauf der ganzen Abhandlung ist darunter immer Graf Cancrin verstanden. 


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3 « 




letzteren behaupteten nämlich, der Preis von 34 Rbl. für Kupfer 
sei vielleicht nur ein zufälliger, durch die Umprägung würde das 
Angebot von Kupfer auf dem Markte vergrössert und dadurch 
möglicherweise ein Fallen des Metallpreises bewirkt werden. End¬ 
lich sei eine Veränderung im Geldsysteme stets eine sehr missliche 
Sache. Die Nachtheile könnten auch nicht sehr bedeutend sein, 
weil während der verflossenen 16 Jahre des alten Systems der Preis 
der Assignaten und das Agio auf Gold sehr wenig geschwankt 
hätten. Dieses Votum der Majorität wurde vom Kaiser gut ge¬ 
heissen und Alles blieb beim Alten ’. 

Schon nach Verlauf zweier Jahre, im Jahre 1830, kam dieselbe 
-Frage im Reichsrathe wieder zur Verhandlung. Der Finanzminister 
brachte den Vorschlag von 1827 mit derselben Motivirung aufs Neue 
vor, nur gingen seine Forderungen dieses Mal etwas weiter; er 
wünschte nämlich, dass die neue Kupfermünze zugleich auch eine 
andere Stückelung erfahre; statt blosser 2-Kopekenstücke,. (rpo- 
nieBHHKn) sollten jetzt auch 5-, 2- und 1-Kopekenstücke geprägt 
werden, (iLHTaKH, AByxJconheqHHZH hjih rpoura h KonhBui). Diese 
neue Münze würde, ausser dem aus der Umprägung für die Krone 
sich ergebenden materiellen Vortheil noch den einer grösseren 
Circulationsfahigkeit in Folge ihres geringeren Gewichtes bieten, 
ein Umstand, der zu der Hoffnung berechtigte, dass sie künftighin 
weniger durch ausländisches Billon aus dem Verkehr gedrängt 
werden würde, wie dieses namentlich in den westlichen Gouverne¬ 
ments und in den Ostseeprovinzen damals der Fall war. Einen Ein¬ 
fluss auf den Kurs der Assignaten könnte die Umprägung des 
Kupfergeldes seiner Meinung nach nicht haben, da die Assignaten 
lediglich auf dem Credite beruhten und einen Werth besonderer 
Art hätten, der vollkommen unabhängig von dem des Kupfers und 
des»Silbers wäre. Der Preis von 36 Rbl. sei auch nicht zu niedrig, 
denn in anderen Staaten würde das Kupfergeld zu 60 — 80 Rbl. 
aus dem Pud geprägt, zu so niedrigem Werthe könne man es aber 
nicht prägen, weil bei uns das Kupfergeld nicht, wie in anderen 
Staaten, nur Scheidemünze, sondern auch Courantgeld (miaTexcHaa 
MOueTa) sei. Das Kupfergeld alten Gepräges sollte inzwischen auch 
noch in Umlauf bleiben, was zu keinen Unbequemlichkeiten oder 
Nachtheilen führen könnte, da die alte und die neue Kupfermünze 
ja von sehr verschiedener Grösse seien, und auch die Erfahrung bei 
uns gezeigt habe, dass Kupfermünzen von verschiedenem Werthe 

1 Memorial des Reichsraths vom 8. Mai 1827. 


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39 


ganz gut nebeneinander kursiren könnten, wie z. B. die alten 5-K0- 
peken- und die gegenwärtigen 2-Kopekenstücke. 

Der Reichsrath stimmte dieses Mal dem Finanzminister voll¬ 
kommen bei und wünschte nur, auch noch ro-Kopekenstücke 
(rpuBHbi) geprägt zu haben l . (cf. 'Gesetz vom 1. Juni 183a, 
Nr. 5406 2 ). 

Eine weit wichtigere, das alte Kupfergeld betreffende Verände¬ 
rung fand im Jahre 1842 statt. Im Manifest vom 1. Juli 1839 
(Nr # 12,497) über das neue Geldsystem, war keine besondere 
Bestimmung über die Prägung einer neuen Kupfermünze nach 
Silberwerth getroffen, und bezüglich des in Umlauf befind¬ 
lichen nur bestimmt worden, dass 3 V* Kopeken Kupfer gleich 
1 Kopeken Silber gerechnet werden sollten (Punkt 12). Diese 
Bestimmung hatte aber zu Verlusten für das einfache Volk geführt. 
Da es nämlich keine Münze für die Ausgleichung der sich erge¬ 
benden Bruchtheile gab, so musste das Volk stets in runder Summe 
zahlen und die Kaufleute gewannen diese Bruchtheile. Da nun das 
einfache Volk einen grossen Theil der Bedürfnisse des Alltagsle¬ 
bens mit Kupfergeld bestritt, so mehrten sich diese Bruchtheil- 
verluste und wurden dadurch in der That empfindlich. Man brachte 
in Folge dessen 1842 den Vorschlag in den Reichsrath ein, für die 
alte Kupfermünze einen bestimmten Preis in Silber festzusetzen, zu 
welchem sie im Verkehr angenommen werden müsste. Es befand 
sich wohl auch nach Silberwerth geprägtes Kupfergeld in Umlauf, 
doch nicht in genügender Menge, um das alte einziehen zu können. 
Der Finanzminister opponirte aus folgenden Gründen auf das Ent¬ 
schiedenste gegen diesen Vorschlag: 1. Das Volk habe sich mit 
den Bruchtheilen selbst zurechtgefunden. 2. So lange noch Assig¬ 
naten existirten, erscheine es wünschenswerth, ja nothwendig, zwei 
Arten Scheidemünze (pa3Mi3HHOfi mohctw) zu haben, da noch: in 
vielen Gegenden nach Assignaten (bei festem Kurse) gerechnet 
würde. Aus diesem Grunde könnte das Kupfergeld leicht zwei Preise 
erhalten: auf Assignaten und auf Silber, was sehr misslich wäre, 
daher jene Massregel wenigstens bis zur Einziehung der Assignaten 
zu verschieben sei. 3. Der Nennwerth des alten Kupfergeldes würde 
im Widerspruche zu der Aufschrift desselben stehen, und dieser 
Umstand Unzufriedenheit beim Volke hervorrufen, da es die 
grössere alte Münze zu gleichem Preise mit der neuen kleineren 

* 1 M. d. R. v. 18. und 19. April 1830. 

9 Pie betreffenden Gesetze der Jahre 1823-1844 folgen weiter unten im HI. Abschnitt 


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40 


annehmen müsste. 4. Der Gewinn bei der Umprägung für die 
Krone werde nach Umbenennung der alten Münze nicht mehr so 
bedeutend sein. 5. Allerdings würde die Krone dadurch bei den 
Zahlungen der Branntweinspachten gewinnen, dieses könnte jedoch 
auch durch Publication besonderer Tabellen erreicht werden. 6. 
Die Prägung der neuen Kupfermünze ginge rasch von Statten, daher 
in einigen Jahren die Einziehung des alten Kupfergeldes möglich 
sein würde. 7. Die Frist für den Umlauf des Kupfergeldes alten Ge¬ 
präges sei schwer zu bestimmen. Ein langer Termin würde zu Auf¬ 
käufen von 10- und 5-Kopekenstücken durch die Wechsler führen, 
was Anlass zu einem Agio auf Kupfergeld geben könnte, die daraus 
aber erwachsenden Missstände und Verluste wären schlimmer, als 
die jetzigen Verluste von Siebentel-Kopeken. 8. Durch die neue 
Werthbestimmung würde das alte Werthverhältniss der Münzen 
zu einander verändert. Früher war nämlich das 10-Kopekenstück 
so viel werth als 10 einzelne Kopeken, jetzt aber würde ersteres 
= 3 Kop. Silber, letztere aber nur = 2 tys Kop. Silber sein, da das 
Kopekenstück = */« Kop. Silber gerechnet werden sollte. 

Es ist kaum begreiflich, wie Cancrin, der es sich doch so sehr hatte 
angelegen sein lassen, ein möglichst einheitliches Geldsystem auf 
Silber als Grundmünze beruhend im Jahre 1839 einzufiihren, gegen 
diese gewiss vernünftige, zeitweilige Massregel opponirte. Denn 
eine hinlängliche Versorgung des Verkehrs mit Kupfergeld nach 
Silberwerth hätte, der von 1839 —1842 gemachten Erfahrung ge¬ 
mäss, noch Jahrzehnte in Anspruch genommen. Cancrin führt auch 
nicht ein einziges treffendes Argument zur Unterstützung seiner 
Ansichten an. 

Der erste Einwand ist ganz hinfällig, denn das Volk hatte sich 
durchaus nicht «zurechtgefunden», sondern erlitt täglich neue 
Verluste. Ebenso der zweite, denn seit 1839 gab es nur eine Grund¬ 
münze oder Währung, und das war das Silber; die Assignaten 
besassen nur einen relativen Werth und die Scheidemünze musste 
auf Silber lauten, wollte man ein wirklich einheitliches Münzsystem 
haben. Es sei auch noch bemerkt, dass sich Cancrin in diesem 
Punkte selbst widerspricht, denn er hatte bei einer anderen Gele¬ 
genheit (p. 38) betont, dass die Assignaten ein reines Creditgeld 
seien, ganz unabhängig vom Werthe des Kupfers oder Silbers. — 
Der dritte Grund ist auch nicht richtig, denn der Widerspruch 
zwischen Nennwerth und Aufschrift wäre nur ein rein formeller 
gewesen. Das Volk kannte die Münze nicht nach ihrer Aufschrift,-' 




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4* 


(welche die Mehrzahl gar nicht zu lesen verstand), sondern durch 
Gewohnheit nach ihrer Grösse und ihrem Aufsehen und würde sich, 
da es durch die Feststellung eines neuen Werthes der Münze vor 
täglichen Verlusten geschützt werden sollte, sehr schnell an den 
neuen Werth derselben gewöhnt haben. — Ueber den vierten Ein¬ 
wand, der geradezu unverantwortlich genannt werden muss, kann 
man nur ausrufen: soll denn etwa das Volks wohl den Finanzinter¬ 
essen aufgeopfert werden! Aehnliches gilt von der rein fiscalischen, 
fünften, Bemerkung. — Grund sechs steht im Widerspruche mit 
der Wahrheit, denn angestellte Berechnungen hatten ergeben, 
dass, wenn die Prägung so fortschreite, wie sie von 1839—1842 
stattgefunden habe, der Verkehr erst in Jahrzehnten hinlänglich mit 
neuer Kupfermünze versorgt worden wäre. — Die Furcht vor der 
möglichen Entstehung eines Agio war durchaus unbegründet, denn 
der Werth der Kupfermünze sollte ja überall der gleiche sein, und 
dieselbe an allen Kronskassen u. s w. zu diesem Preise angenom¬ 
men werden; es existirte ja kein Kurs für dasselbe. —Der achte 
und letzte Grund ist endlich auch nicht haltbar, denn er verkennt 
die Bestimmung des obersten Grundsatzes des Manifestes vom 
1. Juli 1839, dass es nur eine Silberwährung geben solle. Assignaten 
und Kupfer sind nur Stellvertreter des Silbergeldes und können 
daher nicht nach irgend einem Verhälltnisse zu einander berechnet 
werden, sondern einzig und allein nach ihrem Verhältnisse zum 
Silber. 

Es daff uns nicht Wunder nehmen, dass Cancrin mit seiner Wi¬ 
derlegung im Reichsrathe gar nichts ausrichtete, sondern der Vor¬ 
schlag angenommen und auch vom Kaiser bestätigt wurde l . (cf. Ge¬ 
setz vom 10. Juni 1842, Nr. 15,734. 

Cancrin selbst verblieb aber auch späterhin bei seiner Ansicht 
über die Unzweckmässigkeit dieser Veränderung, denn in seinem 
Rechenschaftsberichte an den Kaiser spricht er von ihr als «ver¬ 
frühter Massregel, welche nothwendig dazu führe, auf einen 
schleunigen Umsatz der Bank-Assignaten in Silberscheine Bedacht 
zu nehmen» *. Weshalb aber dieser nothwendig sei, erklärt Graf 
Cancrin nicht. 


* M. d. R. vom 26. Januar 1842. 

* S. «Aus den Reisetagebüchern des Grafen Georg Cancrin aus den Jahrtfn 1840 bis 
1845». Herausgegeben von Graf A. Keyserlingk. 2 Bde. Braunschweig 1865. Bei¬ 
lage II, p. 62. 


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42 


2. Die Gold- und Silbermünze. 

Im Jahre 1826 war bei der Regierung ein Vorschlag vom Kauf¬ 
mann Subzaninow eingelaufen, der auf Grundlage des existirenden 
Volks-Agio (Näheres über dieses Agio gebe ich weiter unten im 
II. Abschnitt) Folgendes proponirte: Die Regierung solle ihren Pro- 
viantmeistem u. s. w. den Befehl ertheilen, alle Ankäufe in Silber zu 
machen, welches sie an der Börse für 375 Kop. erhalte und bei den 
Bezahlungen zum Volkskurse von 400 Kop. verausgaben könne. 
Hieraus würde der Krone ein Vortheil von nahe an 10 Mill. Rbl. Beo. 
erwachsen, welcher jetzt zum grössten Theile in die Taschen der 
Beamten fliesse. Der Reichsrath erkannte wohl die Existenz des 
Volks-Agio an, beschloss aber, den Vorschlag des Kaufmanns Sub¬ 
zaninow nicht zu acceptiren und, um die Beamten vor derartigen 
Missbräuchen zu warnen, das Gesetz vom 27. Octoberi826, Nr. 636, 
zu erlassen. 

Eine der wichtigsten Vorlagen für das Geldwesen war der von 
Cancrin im Jahre 1830 in den Reichsrath eingebrachte Vorschlag, 
die Annahme klingender Münze bei Abgabenzahlungen zu gestatten 
und zu dem Zwecke für dieselbe einen festen Kurs zu bestimmen. 

Das Manifest vom 9. April 1812 (Nr. 25,080) hatte vorgeschrie¬ 
ben, dass alle Zahlungen in Assignaten zu erfolgen hätten und dass 
alle Staatseinnahmen in denselben einfliessen sollten. Mag diese 
Bestimmung ihrer Zeit nothwendig und gerechtfertigt gewesen sein, 
im Jahre 1830 hatte sich die Sachlage jedenfalls bedeutend geändert. 
Durch die Verminderung der Assignaten und die Vermehrung der 
klingenden Münze waren die Abgabenzahlungen in Assignaten be¬ 
deutend erschwert worden, aber andererseits hatte die Nichtannahme 
der klingenden Münze entschieden zur Ausbildung des Agio auf 
Assignaten mitgewirkt. Allerdings war es seit 1824 und 1827 ge¬ 
stattet worden, einige wenige Abgaben in Silber zum Kurse von 
365 Kop. zu zahlen, doch konnten diese unwesentlichen Erleichte¬ 
rungen nicht dazu führen, die Unbequemlichkeiten zu beseitigen, 
welche aus den verschiedenen Börsen-, Krons- und Volks-Kursen 
entsprungen waren und welche wesentlich die Geldumsätze erschwer¬ 
ten. Gold wurde nirgends von der Krone angenommen, während es 
beim Volke sehr beliebt und häufig anzutreffen war, zumal seitdem 
die entwickeltere Goldproduction des Ural den Verkehr reichlich 
mit diesem Metalle versorgte. Bei einer solchen Sachlage hielt es 
Cancrin durchaus für nothwendig, jenes Gebot: alle Abgaben in As- 


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43 


signaten zu zahlen, aufzuheben Und seitens der Krone überall 
und bei allen Abgabenzahlungen die Annahme von Gold-, Silber¬ 
und Platina-Münze zu festem Kurse anzubefehlen. Gleichzeitig 
wünschte er auch die verschiedenen bis dahin üblichen Kronskurse 
zu einem allgemeinen vereinigt zu sehen, damit von Seiten der Re¬ 
gierung das Mögliche zur Vereinfachung des Geldwesens geschehe. 
Es existirten nämlich drei Kronskurse für die Annahme des Silbers : 
1. der Zollabgabenkurs von 360 Kop. seit 1819; der Zoll musste 
stets in Assignaten gezahlt werden. Obgleich die Tarifsätze in Sil¬ 
ber angegeben waren, erfolgte doch stets eine Umrechnung bei der 
Zahlung; ausserdem für die obenerwähnten Ausnahmen: 2. der 
Kronskurs für Pässe von 365 Kop., und 3. der für die übrigen Aus¬ 
nahmen von 370 Kop. Sollten die Kronskassen verpflichtet wer¬ 
den klingende Münze anzunehmen, so verstand es sich von selbst, 
dass sie auch berechtigt werden mussten, Zahlungen in derselben 
zu gleichem Kurse zu leisten, was durch das Manifest des Jahres 
1812 ebenfalls verboten war. Cancrin war der Meinung, dass die 
Annahme von klingender Münze bei Abgabenzahlungen den Assig¬ 
natenkurs nicht herabdrücken würde, (es ist in der Folge auch 
nicht geschehen), da der Kurs derselben ein ganz fester sei und man 
durch jene Annahme nur einem dringenden Wunsche des Publikums 
nachkäme, was entschieden eher zur Hebung als zur Herabdrückung 
des Staatscredits beitragen würde. Er hoffte durch diese Massregei 
es zu erreichen, dass die den inneren Verkehr so sehr belästigenden 
Volkskurse verschwinden würden. 

Die Annahme dieses Vorschlags seitens des Reichsraths gereichte 
dem Volke zu einem sehr wesentlichen Vortheil, denn es wurde 
durch diese Massregei vor vielen Verlusten bewahrt und der ganze 
Umlauf der klingenden Münze bedeutend erleichtert, beschleunigt 
und verallgemeinert, so dass sie sich seit dieser Zeit wieder vollkom¬ 
men im Alltagsverkehre einbürgerte. 

Der für die Annahme an Kronskassen geltende Silberkurs sollte 
etwas niedriger als der jeweilig herrschende Börsenkurs festgesetzt 
werden, damit nicht sobald Veränderungen desselben nöthig würden. 
Der Kurs sollte, um möglichste Einförmigkeit und Gleichheit herbei¬ 
zuführen, für den Zoll und für alle anderen Abgaben derselbe sein 1 . 

Die hierauf bezügliche Verordnung wurde am 5. Januar 1831 
(Nr. 4241,) publicirt. Nach derselben wurde die Annahme nur von 
Silber- und Platina-Münze anbefohlen und zwar bloss versuchsweise 

1 M. d. R. vom 10. November 1830. 


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in denjenigen Gouvernements, wo ein Ueberfluss an klingender 
Münze vorhanden. Die Annahme von Gold an Kronskassen, die 
1831 noch nicht zugelassen wurde, erfolgte erst durch die Verord¬ 
nungen vom 10. Mai und 8. November 1833, *Nr. 6194 und 6562. 
Der Kurs wurde zu 360 Kop. für den Silber- und zu 375 Kop. für 
den Goldrubel festgesetzt. 

Schon im Jahre 1834 brachte Cancrin eine neue Vorlage in den 
Reichsrath ein, in welcher er eine Herabsetzung des Kronskurses für 
Gold beantragte. Seine Motive waren folgende: der Börsenkurs von 
Gold und Silber war bedeutend gefallen, so dass er, am meisten derje¬ 
nige für Gold, tiefer als der Kronskurs stand. Die Folge davon 
war, dass das Volk einerseits wohl die Abgaben vorherrschend in 
klingender Münze zahlte, aber Schwierigkeiten machte, die klin¬ 
gende Münze von der Krone in Zahlung zum Kronskurse anzu- 
nehmen, da es dadurch Verluste erlitt. Das starke Einfliessen der 
klingenden Münze erschwerte es aber der Krone bedeutend, ihre 
Ausgaben zu bestreiten, da ja die Circulationsfähigkeit des Metalls 
eine weit geringere als die der Assignaten ist; dazu kamen die Ver¬ 
luste, welche die Krone durch den zu hohen Kurs erlitt, endlich 
drückten auch die an der St. Petersburger Hauptstaatskasse zusam¬ 
mengeflossenen grossen Goldmassen den Kurs des Goldes noch mehr 
herab. Um nun allen diesen Uebelständen abzuhelfen, verlangte 
Cancrin vor allen Dingen Herabsetzung des Goldkurses und zwar von 
375 auf 365, da der Börsenkurs 369 Kop. betrug. Der Kronskurs 
auf Silber sollte 360 Kop. bleiben, weil man denselben während der 
Branntweinspacht-Periode nicht ohne grosse Schwierigkeiten und 
Verluste ändern konnte und der Börsenkurs für Silber nur wenig 
tiefer als der Kronskurs stand (nämlich 359); wollte man ihn aber 
verändern, so musste man einen neuen dritten Kronskurs schaffen, 
da der bestehende aus Rücksicht auf die Branntweinspächter in kei¬ 
nem Falle verändert werden durfte. Die Schöpfung eines solchen 
dritten Kurses hätte zu neuen Complicationen u. s. w. geführt. 
Cancrin’s Vorschlag ging im Reichsrathe durch, weil man nament¬ 
lich auch die Krone vor unnützen Verlusten schützen wollte, und 
überdies Var ja Niemand gezwungen in Gold zu zahlen, oder dasselbe 
von der Krone anzunehmen 1 , (cf.Gesetz vom 25. Juni 1834, Nr. 7215). 

Nach dieser Vorlage ist es fast unerklärlich, dass Cancrin noch in 
demselben Jahre, am 29. October, eine neue Vorlage beim Reichs¬ 
rathe einbrachte, worin er mit Beibehaltung des Kurses von 360 

1 M. d. R. vom 9. April 1834. 


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45 


für Silber beim Zoll, die Herabsetzung desselben auf 3$5 für alle 
anderen Abgaben verlangte. Diese Forderung steht in. grellem 
Widerspruche mit seiner; eben erwähnten Motivirung, in welcher 
er sich auf das Entschiedenste gegen die Einführung eines neuen 
dritten Kurses ausspricht. Das einzige Motiv, welches ihn jetzt zur 
Herabsetzung bewog, war das, die Kronskasse vor Verlusten zu be¬ 
wahren, da der Börsenkurs des Silbers noch etwas mehr herunter¬ 
gegangen war. Warum er aber den alten Kurs für die Zollabgaben 
beibehalten wissen wollte, ist nicht klar zu ersehen *. Jedenfalls 
liess Cancrin sich hier eine grosse Inconsequenz zu Schulden kom¬ 
men und es stand daher zu erwarten, dass der Reichsrath seine Zu¬ 
stimmung zu diesem Vorschläge, wie es faktisch auch geschah, 
verweigern würde a . 

Trotzdem Cancrin mit dem Antrag, den Kronssilberkurs herabzu¬ 
setzen, 1834 nicht durchgedrungen war, kam er 1838 bei Gelegenheit 
der Festsetzung des Gold- und Silberkurses für 1839 mit einem 
ähnlichen beim Reichsrathe ein. Er hielt jetzt die Zeit zu einer 
Aenderung des Kronskurses für noch angemessener als 1834, weil 
mit dem Jahre 1839 eine neue vierjährige Branntweinspacht-Periode 8 
begann. Es kam noch hinzu, dass inzwischen der Börsenkurs für 
Silber bedeutend unter den Kronskurs gesunken war, — er betrug 
352 Kop., — während er für Gold auf 363 stand, also nur wenig unter 
dem Kronskurse, und Cancrin daher den letzteren auch unverändert 
lassen, den erstefen aber auf 350 herabgesetzt sehen wollte. Er 
machte auch darauf aufmerksam, dass der Kurs des Silbers die ent¬ 
schiedene Tendenz zeige, in Folge des steigenden Credits der Assig¬ 
naten, des günstigen Wechselkurses u. s. w. noch mehr zu sinken. 
Der Verlust, welcher der Krone aus der zu hohen Annahme des 
Silbers erwachse, betrage etwa 3 Mill. Rbl. jährlich. Dieser Verlust 
wäre aber von 1839 an noch bedeutender geworden, da jetzt ge¬ 
stattet werden sollte, statt der früheren 20 pCt., 30 pCt. der Brannt¬ 
weinspacht in klingender Münze zu zahlen. Auch die Branntweins¬ 
pächter verloren durch jenen zu hohen Kronskurs, wenigstens bei 
den Summen, die sie nicht in klingender Münze als Pacht der Krone 

1 Ich neige der Ansicht zu, d esshalb: weil die Krone aus jenem höheren Kurse 
einen Vorth eil zog, da ja der Zollsatz in Silber fixirt war, aber in Assignaten ge¬ 
zahlt werden musste. 

* M. d. R. vom 29. October 1834. 

• Seit dem Jahre 1827 wurde das Recht des Branntwein Verkaufs von der Regierung 
an den Meistbietenden (Ur je einen Zeitraum von vier Jahren verpachtet Der Pachtzins 
vertrat die Stelle der Accise. 


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zahlen konnten, da sie gezwungen waren, das Silber von den Ge¬ 
tränkekäufern zum Kronskurse anzunehmen. — Die Anführung 
dieses mächtigen Verlustes von 3 Mill. Rbl. ist eine List Cancrin’s, 
mit der er seine Gegner zu blenden versuchte. Ein solcher konnte 
nimmermehr stattfinden, da die Krone das Silber zu eben demselben 
Kurse verausgabte, zu welchem sie es in den Abgaben empfing. 
Ein wirklich triftiger Grund wäre die Bemerkung gewesen, dass 
die Beamten des Staates durch Zahlung der Gehalte u. s. w. in 
Silber Verluste erlitten. Wie wenig aber Cancrin, wo es den Vor¬ 
theil der Krone galt, an die Benachtheiligung des Volkes dachte, 
geht klar daraus hervor: dass er gleichzeitig den Zollabgabenkurs 
für Silber mit 360 beibehalten wünschte, weil dadurch der Krone 
ein reiner Vortheil von 2 1 /* Mill. Rbl. jährlich zufloss. Ein sehr we¬ 
sentlicher Grund sprach zu Gunsten des Cancrin’schen Vorschlags: 
das war die Erschwerung und Vertheuerung der Bestreitung der 
Regierungsausgaben mit dem schwerbeweglichen Metalle, welches 
allerdings in Massen einlief. (Nach Cancrin’s Angaben war allein 
in St Petersburg ipi Jahre 1838 für 25 Mill. Rbl. Münze ein¬ 
gekommen). 

Der heftigste Gegner dieser Vorlage Cancrin’s war der frühere 
polnische Finanzminister Fürst Drutzki-Ljubetzki. Seinen Haupt¬ 
widerspruch richtete er gegen die nicht gleichzeitige Herabsetzung 
des Zollabgabenkurses, eine Massregel, die er für eine ebenso un¬ 
sittliche Bereicherung der Staatskasse hielt, wie den Verkauf 
kleinen Silbergeldes an der Börse zu einem höheren Kurse, als 
dasselbe von der Krone bei Zahlungen angenommen wurde. Er 
wandte ein, dass der Verlust der Branntweinspächter nicht zu leugnen 
sei, so weit sie nämlich mit dem Silber Assignaten zur Bezahlung 
ihrer Pacht aufkaufen müssten, dass sie es aber in allen anderen 
Fällen zum Volkskurse verausgabten, der stets höher als der Krons¬ 
kurs stand. Diesem Verluste der Pächter ständen aber die unver¬ 
gleichlich grösseren Verluste gegenüber, welche das Volk erleide, 
sobald der Kronskurs unter dem Börsenkurse stehe. Ferner habe 
jede Kursveränderung auch eine Veränderung der Staats- und Privat¬ 
schuldverhältnisse zur Folge, erstere würden z. B. durch eine Her¬ 
absetzung des Kurses von 360 auf 350 mit einem Federstriche um 
30 Mill. Rbl. Assignaten vermehrt. Der Finanzminister habe selbst 
angeführt, dass die klingende Münze das Verkehrsmittel des täg¬ 
lichen Lebens sei, die Assignaten aber ganz in die grosse Cirkulation 
übergegangen wären! Es sei nicht Recht, in einem solchen Falle von 


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den Abgabenpflichtigen Assignaten zu verlangen, die sie nicht besas* 
sen, oder ihnen die Erlaubnisse mit dem zu zahlen, was sie besassen, 
d.h. mit Silber, durch Herabdrückung des Kurses illusorisch zu machen, 
wobei noch die Krone an anderer Stelle, beim Zolle, für die An¬ 
nahme von Assignaten gar ein Agio fordere. Fürst Drutzki-Lju» 
betzki beantragte daher dringend, die Vorlage des Finanzministers 
zu verwerfen, zumal da derselbe keinen einzigen volkswirtschaft¬ 
lichen, sondern bloss fiskalische Gründe zu Gunsten derselben an* 
führe. Endlich handle es sich ja nur um eine zeitweilige Beibehal¬ 
tung des alten Kurses, da ja eine Reorganisation des ganzen Geld¬ 
systems in nächster Aussicht stehe. Der Reichsrath stimmte dem 
Fürsten vollkommen bei, und als das Gutachten dem Kaiser vorge¬ 
legt wurde, bestätigte er es mit den Worten: «Sehr klar und er¬ 
scheint mir vollkommen recht und billig 1 >. 

B. Die ausländische Münze» 

I. Das Billon oder die ausländische Scheidemünze. 

In allen russischen Grenzgouvernements fand ein bedeutender 
Umlauf ausländischer Scheidemünze statt: in den Ostseeprovinzen 
war es preussische und polnische, in den westlichen Gouverne¬ 
ments polnische und in den südwestlichen türkische. Schon wieder¬ 
holt war der Umlauf ausländischer Scheidemünze, doch stets ohne 
Erfolg, verboten worden; Cancrin verlangte daher 1827 ein neues 
verschärftes Verbot. Er behauptete nämlich, dass das ausländische 
Billon sich nicht aus wirklichem Bedarf an kleiner Münze in Um¬ 
lauf erhielte, sondern bloss aus Gewohnheit und Bequemlichkeit 
der Bewohner der Grenzgouvernements. Dieser Ansicht wider¬ 
sprachen aber auf das Entschiedenste die Gouverneure jener Pro¬ 
vinzen, welche versicherten, dass die Grenzbewohner zur Ermög¬ 
lichung und Erleichterung des Grenzverkehrs einer Münze durch¬ 
aus bedürften, die in möglichstem Einklänge mit der ausländischen 
Scheidemünze stände. Da nun das russische Kupfergeld dieser An¬ 
forderung gamicht entspräche, so hätte sich das ausländische 
Billon in unseren Grenzprovinzen eingebürgert. Es gäbe nur ein 
Mittel es zu vertreiben: unsere Kupfermünze in Einklang mit dem 
ausländischen Billon zu setzen. Thäte man dieses nicht, so müsste 
man das ausländische Billon in Umlauf lassen, da der Grenzver¬ 
kehr desselben bedürfe; eine polizeiliche Verfolgung würde nur 

1 M. d. R. vom 31. October, 7. und 14. November 1838. 


/ 


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Erbitterung gegen die Regierung Hervorrufen. Der Reichsrath 
beschloss daher, vorerst keine neuen Verordnungen gegen den 
Umlauf des ausländischen Billon zu erlassen K Das Gutachten 
wurde vom Kaiser bestätigt. — Im folgenden Jahre brachte der Fi¬ 
nanzminister denselben Antrag noch einmal beim Reichsrathe ein, 
indem er eine Prägung russischer Kupfermünze im Einklänge mit 
dem ausländischen Billon, welches zu 72 Rbl. aus dem Pude ge¬ 
prägt wurde, für unausführbar erklärte. Bei uns sei nämlich das 
Kupfergeld nicht nur Scheidemünze, wie im Auslande, sondern 
auch Courantgeld und die Assignaten beruhten auf demselben; 
diese würden also in ihrem Werthe durch die Prägung minderwer- 
thigen Kupfergeldes leiden *. Er hob abermals hervor, dass für den 
Umlauf der ausländischen Scheidemünze keine Nothwendigkeit vor¬ 
handen, sondern dass derselbe bloss auf einer schlechten Angewohn¬ 
heit der Grenzbewohner beruhe; den besten Beweis liefere dafür der 
Umstand, dass dieselben sogar lieber Billon als vollwichtige russische 
Silbermünze entgegennähmen. Dieses Umstandes habe ich allerdings 
sonst nirgends erwähnt gefunden und nehme an, dass Cancrin selbst 
dies wohl kaum hätte beweisen können. Sein Vorschlag blieb auch 
diesmal unberücksichtigt 8 . 

Bis zum Jahre 1837 wurde nun diese Frage nicht mehr berührt, 
man hatte nur noch einmal das alte Verbot von Neuem eingeschärft, 
sonst aber der Sache freien Lauf gelassen. Allmählich aber hatte die 
Lage der Dinge einen immer schlimmeren Charakter angenommen ; 
nicht allein, dass alle Grenzprovinzen mit ausländischer Scheide¬ 
münze überschwemmt waren, sondern es liefen auch allseitig von 
den dortigen Generalgouverneuren Klagen an den Finanzminister 
ein, dass das ausländische Billon im täglichen Verkehre zu einem, 
seinen inneren Werth übersteigenden Kurse vom Publikum ange¬ 
nommen würde. Die Folge davon sei, dass sich Spekulanten ein 
Geschäft daraus machten, da die freie Einfuhr verboten sei, Billon 
heimlich in Masse ein- und dagegen vollwichtiges russisches Silber 
auszuführen, auch münze man sogar Billon nach. 

Der Finanzminister wandte sich desshalb abermals mit einer Vor¬ 
lage an den Reichsrath. Er gab in Betreff der eingelaufenen Klagen 
folgende Erklärung ab: 1. falsches Billon habe sich nach einer ange- 

1 M. d. R. vom 5. December 1827. 

* Wenige Jahre darauf behauptete allerdings Cancrin gerade das Gegentheil: dass 
die Assignaten ganz unabhängig in ihrem Werthe von dem Kupfergelde seien (p. 38). 

# M. d. R. v. 1. Mai 1828. 


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stellten Untersuchung nicht im Verkehre vorgefunden, aber wohl 
sei es wahr, dass die ausländische Scheidemünze zu viel zu hohem 
Werthe in den Grenzprovinzen kursire. 2. Das kleine russische Sil¬ 
bergeld könne sich in den westlichen Gouvernements im Verkehre 
nicht erhalten, da es gegen Billon ausgeführt würde. Die Kupfer¬ 
münze dagegen liege grösstentheils in den Kronskassen brach und 
könne auf keine Weise in Umlauf gebracht werden. 3. Die Zoll¬ 
ämter könnten unmöglich die heimliche Einfuhr des Billon völlig 
verhindern. Aus diesen Gründen verlange er nachdrücklichst den 
Erlass eines Verbotes über den Umlauf ausländischer Scheidemünze, 
wie dieses in allen übrigen europäischen Staaten der Fall sei, und 
strenge Bestrafung Aller, welche gegen dieses Verbot fehlten. 
Da sich aber das Billon in grossen Massen in jenen Grenzpro- 
vinzen in Umlauf befinde, so könnte ein plötzliches, gänzliches 
Verbot desselben zu Störungen im Verkehre führen und diejenigen, 
die im augenblicklichen Besitze des Billon wären, dadurch Ver¬ 
luste erleiden; desshalb sollte für den Umlauf noch eine Frist von 
einem Jahre festgestellt werden. 

Das Departement der Reichsökonomie wie die Majorität im 
Reichsrathe stimmten dieses Mal dem Vorschläge des Finanzmini¬ 
sters vollkommen bei: weil jene Provinzen inzwischen hinlänglich 
mit kleinem Silbergelde und neuer Kupfermünze versehen worden 
wären, die Ausfuhr des kleinen Silbergeldes zum Eintausch gegen 
werthloses Billon das Volkskapital schädige und das Kupfergeld 
ganz zwecklos in den Kronskassen brach läge, statt sich in Umlauf 
zu befinden. Drei Mitglieder des Reichsraths, unter diesen Admiral 
Greigh, stimmten gegen den Antrag und waren — meiner Ansicht 
nach — auch entschieden im Recht. Sie hoben hervor, dass das 
hartnäckige Festhalten an dem ausländischen Billon weniger auf 
eingewurzelter Angewohnheit wegen des bequemen Gebrauches 
dieser Münzzeichen beruhe, vielmehr daher rühre, dass jene 
Gegenden entschieden noch nicht hinlänglich mit russischem Klein¬ 
gelde versehen seien. Seit 1813 bestand ein Verbot des Umlaufes, 
2824 und 1827 wurde es erneuert und doch war es im Verlaufe von 
34 Jahren nicht im Stande gewesen, den Umlauf des Billon zu ver¬ 
hindern. Das ist doch ein sprechender Beweis dafür, dass der Geld¬ 
verkehr in jenen Provinzen dieser Münze nothwendig bedurfte; man 
bedenke dabei, dass nicht einmal die Furcht vor Strafe die Grenz¬ 
bewohner verhindert hatte, sich des Billon zu bedienen. Wenn 
man nur jene Provinzen hinlänglich mit russischer Scheidemünze 

Hau. Barn«. Bd. VH. . 


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versorgt hätte, so würde das Bülon schon von selbst aus dem Ver¬ 
kehre verschwunden sein. Die Behauptung des Finanzministers, 
dass man sich in jenen Provinzen aus Eigennutz des Billons bediene, 
ist falsch; es geschah einfach aus Mangel an Scheidemünze. War 
dieser Mangel doch damals im ganzen Reiche so fühlbar, dass es 
selbst in der Residenz sehr schwer war, kleines Geld herauszube¬ 
kommen, wenn man bei einem Einkauf für wenige Kopeken mit 
einem 75 Kopekenstück (3 Rbl. Assignaten) zahlte; sehr häufig 
musste man bei solchen Einkäufen noch Verluste fürs Wechseln erlei¬ 
den. Nicht weniger zeugen für jenen Mangel auch die in St. Peters¬ 
burg in den Clubs angewandten Marken und die Stadtmarken, die 
in Est- und Livland als Ersatz von Scheidemünze von Privatper¬ 
sonen eingeführt waren. — Admiral Greigh äusserte in Bezug auf 
den Umlauf des Billon sehr richtig: «Ueberall bemerkt man, dass 
die Fehlgriffe der Regierungen durch das Volk ausgeglichen und Mit¬ 
tel und Wege ausgedacht werden, solche Fehlgriffe weniger fühlbar 
oder unbedeutend zu machen» *. 

Die eigentliche Ursache jenes fortgesetzten Umlaufs von Billon 
war meiner Ansicht nach einfach die Unvollkommenheit unseres 
Geldsystems. Kleine silberne Scheidemünze existirte nicht und das 
Kupfergeld war durch seine Grösse und Schwere bei Weitem nicht 
so für den Kleinverkehr geeignet, als das ausländische Billon. Can- 
crin wollte, wie dies so häufig bei ihm der Fall war, diesen Uebel- 
stand nicht einsehen, weil er im Widerspruche mit seinen Plänen 
stand. Er wollte eine möglichst grosse Einheit der in Umlauf be¬ 
findlichen Münzen herbeiführen, und daher lag ihm die Vertreibung 
des ausländischen Billon zunächst am Herzen. Mit den Mitteln, die 
ihm zur Erreichung eines Zieles dienen sollten, hat er es niemals 
gar zu genau genommen; wir werden auf ähnliche Fälle noch öfter 
stossen. 

Im Jahre 1838 fand dann noch einmal eine Berathung dieser Frage 
statt. Ich entnehme derselben einige interessante Notizen. Unter 
Billon verstand man bei uns, wie oben erwähnt, kleine ausländische 
Scheidemünze, die sich in den Grenzgouvernements in Umlauf be¬ 
fand. Es war nicht eigentliches Geld (A'hflCTBHTejibHaa MOHeTa): 
denn es war kein gesetzliches Zahlmittel und wurde von der Krone 
in keiner Zahlung, ja selbst von Privaten nur nach freiwilligem 
Uebereinkommen angenommen. Seine Benutzung beschränkte sich 
meistens auf den täglichen Kleinverkehr beim Kauf und Verkauf 

1 M. d. R, v. 39. November 1837. 


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St 


von Lebensmitteln unter dem einfachen Volke, namentlich unter den 
bäuerlichen Grenznachbarn. Seit dem Jahre 1719 datiren die Ver¬ 
bote hinsichtlich des Umlaufs ausländischer Scheidemünze; bis zum 
Jahre 1801 erstreckten sie sich auf einzelne Arten derselben, dann 
aber heisst es in der Geldordnung vom 20. Juni 1810: «der Umlauf 
und die Einfuhr ausländischer kleiner Scheidemünze, bekannt unter 
dem Namen «Billon», wird vom Jahre 1812 gänzlich verboten». 
Dieser Termin wurde jedoch 1813 für die Ostseeprovinzen bis 1815 
ausgedehnt. Da aber alle diese Verbote gänzlich erfolglos blieben, 
versuchte man ipi Jahre 1824, das Billon während vier Monaten an 
den Staatskassen gegen russische Münze einzuwechseln; jedoch auch 
diese Massregel erzielte nicht das gewünschte Resultat. Es wurde 
sogut wie.gar kein Billon zur Einwechselung präsentirt, da diese 
nach einer festen Taxe, nach dem Metallwerthe de6 Billon erfolgte, 
zu einem Preise also, der tief unter ihrem Verkehrswerthe stand. 
Nach Verlauf jener vier Monate sollte alles Billon, das im Verkehre 
angetroffen wurde, confiscirt werden. Aber selbst diese Drohung 
blieb erfolglos, denn 1827 musste das Verbot wieder verschärft wer¬ 
den und^auch das half nichts. Diese Erfahrungen überzeugten das 
Departement der Reichsökonomie, dass die Gewohnheit des Volkes 
im Gebrauch des Billon auf einem wirklichen örtlichen Bedürfnisse 
begründet sei. Da aber andererseits das neue Kupfergeld (seit 1832 
in Umlauf gesetzt) nach den Versicherungen des Finanzministers 
alle Eigenschaften besass das Billon zu ersetzen und die Grenzpro¬ 
vinzen auch hinlänglich mit demselben versorgt waren, ohne es in¬ 
dessen im Verkehre zu benutzen, so hielt das Departement es für 
nothwendig, ausser der Wiederholung des früheren Verbots hinsicht¬ 
lich des Billon noch folgende Massregeln durch den Finanzminister 
treffen zu lassen: 1. in jenen Provinzen Kassen einzurichten, bei 
welchen man nach Wunsch Assignaten und Silber gegen Kupfer¬ 
geld, und umgekehrt Kupfergeld gegen Assignaten und Silber zu 
jedem Betrage einwechseln könne. 2. Den Umlauf des Kupfer¬ 
geldes möglichst zu befördern. — Der Reichsrath billigte dieses 
Verlangen und es wurde also beschlossen, kein neues Gesetz zu 
erlassen, sondern es zu versuchen, das Billon dadurch zu ver¬ 
treiben, dass man das Bedürfniss nach demselben beseitigte l . 

Doch auch dieser Versuch schlug fehl, denn im Jahre 1844 war 
noch so viel Billon in Umlauf, dass ein neues strenges Verbot gegen 


1 M. d. R. Yom 2 . Juni 1838. 

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den Umlauf desselben erlassen wurde, doch das geschah schon nach 
Cancrin’s Rücktritte, liegt also ausserhalb des Rahmens unserer 
Studie. 

2. Die Gold• und Silbermünze . 

Seit den ältesten Zeiten hatte, ohne dass dem Verkehre dadurch 
irgendwelcher Nachtheil erwachsen war, ausländische Gold-und Silber¬ 
münze im Reiche kursirt. Mit der Hebung des Werthes der Assignaten 
fand sie sich aber auch in grösserer Menge ein, und wurde allmählich 
so häufig, dass sie geradezu einige Gouvernements überschwemmte, 
was besonders seit 1830 zu häufigen Klagen Anlass gab. Im Jahre 
1834 reichten Moskau’sche Kaufleute sogar eine Petition an den 
Reichsrath ein, um ein Verbot des Umlaufs ausländischer Gold- und 
Silbermünze zu.erwirken. Die Klagen der Kaufleute liefen darauf 
hinaus, dass fremde Goldmünze (besonders französische) den Markt 
dermassen beherrsche, dass das Agio auf Assignaten 12 pCt. er¬ 
reicht habe und die russische Goldmünze ganz vom Markte ver¬ 
schwunden sei. Dies beeinträchtige den Credit; Käufer wollten 
keine Wechsel auf Assignaten ausstellen, die in 7 Monaten um 
2 l /t pCt. gestiegen seien; Verkäufer keine auf Gold ausgestellten 
annehmen. Es hätte sich — so hiess es weiter in der Petition — ein 
besonderer Handelszweig ausgebildet, um russisches Gold aus- und 
ausländisches einzuführen, letzteres sei aber seinem Metallwerthe 
nach viel schlechter als das russische. Die Kaufleute baten daher, 
man möge die Einfuhr ausländischer Goldmünze, ausgenommen 
holländischer Dukaten, die vollwichtig wären und sich schon längst 
in Russland in Umlauf befänden, verhindern. Ferner erklärten sie, 
dass der ganze Handel der Moskauer Kaufleute ein interner sei, 
der zum grössten Theile mit baarem Gelde geführt würde. Der 
Grosshandel sei vollständig in den Händen ausländischer Kaufleute, 
von diesen würde denn auch der Import ausländischer Münze ins 
Werk gesetzt. Den Nachtheil müssten aber die einheimischen Fa¬ 
brikanten und kleinen Kaufleute empfinden, welche gezwungen 
seien, ihre Waare rasch abzusetzen, weil sie nur kleine Betriebs¬ 
kapitale besässen, und da sie ihr Geld brauchten, aus Noth jed¬ 
wede Art von Geld annähmen. Diese ungünstige Lage der Verkäu¬ 
fer nützten die Käufer für sich aus, indem sie in ausländischer Münze 
zahlten, welche im Verkehr einen höheren als ihrem Metallwerthe 
entsprechenden Kurs hätte. Aehnlich verführen die Schuldner mit 
ihren Gläubigern; wohl wissend, dass diese langwierige Processe 


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scheuen würden, zwängen sie dieselben, ausländische Münze als 
vollwichtige russische anzunehmen. Am meisten aber litten von 
dem Umlauf ausländischer Münze zu einem zu hohen Kurse die 
arbeitende Klasse und überhaupt der kleine Mann. 

Der Finanzminister gab wohl zu, dass aus dem Umlaufe ausländi¬ 
scher Goldmünze zu einem ihren inneren Werth übersteigenden 
Kurse grösser Nachtheil für's Volk erwachse, aber gleichzeitig müsse 
erwogen werden: i. Dass es nicht wahrscheinlich sei, dass russi¬ 
sches Gold zum Ankäufe ausländischer Münze ausser Landes gehe, 
weil, das ausländische Gold viel bequemer auf kaufmännischem 
Wege zu erhalten wäre. 2. Dass der wahre Grund der Einfuhr frem¬ 
der Münze die günstige Handelsbilanz sei, denn während 1829 
der Import den Export um 19V2 Mill. Rbl. Assignaten überwog, 
überstieg seit 1830 der Export den Import um 12—23V2 Mill. jähr¬ 
lich. Ferner käme der Umstand in Betracht, dass bei uns Gold und 
Silber überhaupt höher im Preise ständen, als in andern Ländern, 
und dazu trete dann noch der Leichtsinn und die Oberflächlichkeit 
hinzu, mit der unser einfaches Volk die fremde Münze in ihrem 
Werthe mit der unsrigen vergleiche, so dass selbst verschiedene 
Verwaltungsmassregeln fruchtlos geblieben, welche in dieser Bezie¬ 
hung Vorsicht und Kenntnis verbreiten sollten. 3. Dass das Verbot 
des Umlaufs ausländischer Münze mit politischen und wirtschaft¬ 
lichen Schwierigkeiten verbunden sei. Wer ausländische Münze be¬ 
sitze, würde durch Einwechselung derselben in den Wechselbuden 
verlieren, auch würde das Verbot erfolglos sein, da es an anderen 
Werthzeichen mangele. — Der Finanzminister rieth daher, keine 
besonderen Massregeln gegen den Umlauf ausländischer Münze 
zu ergreifen und hoffte, dass in kurzer Zeit die fremden Münzen 
ihren richtigen Werth im täglichen Verkehre gewinnen würden, 
wozu die Regierung durch häufige Publikationen von Tabellen über 
den wahren Werth ausländischer Münze viel beitragen könnte. Die 
Frage erschien jedoch so wichtig, dass man zur genauen Erfor¬ 
schung derselben ein besonderes Comite einsetzte. Das Comite 
fand: 1. Dass sich keine zu leichten 20-Francstücke in Umlauf be¬ 
fanden; man hatte nämlich auch darüber geklagt, dass Speku¬ 
lanten Ducaten ins Ausland schickten, um sie dort in 20-Franken- 
stücke umprägen zu lassen, und zwar aus je drei Ducaten zwei 
20-Frankenstücke. 2. Dass thatsächlich in den Gouvernements, 
wo viel ausländische Münze kursire, das Agio besonders hoch 
stände, so namentlich in Moskau, wo etwa viermal soviel ausländi- 


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sehe wie inländische Münze in Umlauf wäre. 3. Dass ein Export 
russischer klingender Münze 1833 so gut wie gar nicht stattgefun¬ 
den habe 9 im Ganzen nur für 632,000 Rbl. Assignaten, und zwar nur 
Silbermünze; dagegen wäre eingeführt worden: an 

Gold in Barren für 3,000 Rbl. Assignaten 
* Münze * 33,285,024 * » 

Silber in * » 3 >° 93>957 » » 

» Barren * 1,428,065 » » 

37,810,046 Rbl. Assignaten. 

Der Finanzminister gab hierauf folgende Erklärung ab: 1. Die bis¬ 
herige zu hohe Schätzung der ausländischen Münze komme unse¬ 
rem Publikum bereits zum Bewusstsein, und dieser Umstand habe 
das plötzliche Steigen des Agio auf russische Münze und Assig¬ 
naten, — ein Jeder, der russische Münze besass, hielt sie zurück, — 
sowie den raschen Umlauf der ausländischen Münze bewirkt, Jeder 
wollte sie jetzt möglichst rasch los werden. 2. Die Einfuhr von Münzen 
als Waare sei ein Zeichen günstiger Handelsbilanz. Der dem Publi¬ 
kum daraus erwachsende Nachtheil sei nur Folge derSpeculation eini¬ 
ger Personen, ausländische Münze zu einem zu hohen Kurse in 
Umlauf zu bringen. 3. Mit dem Bekanntwerden des wahren Wer- 
thes der ausländischen Münze würde die Speculationseinfuhr dersel¬ 
ben aulhören, auch hätte ihr Werth im Verhältnisse zur russischen 
Münze bereits zu fallen begonnen. 4. Es gehe nicht an, ein Einfuhr¬ 
verbot zu erlassen, denn die Aus- und Einfuhr von Münzen werde 
durch die Handelsbewegung regulirt. 5. Die Regierung könne auslän¬ 
discher Münze unmöglich einen Zwangskurs verleihen, weil die An¬ 
nahme derselben auf freiem Uebereinkommen beruhe. 6. Eine amt¬ 
liche Verfolgung hinsichtlich des Umlaufs, — denn ein blosses Ver¬ 
bot würde nichts helfen, — hätte unerträgliche Beschränkungen 
u. s. w. für den Handel zur Folge. 

Der Reichsrath entschied schliesslich dahin, dass, so misslich 
auch der Umlauf ausländischer Münze zu einem ihren inneren Werth 
übersteigenden Kurse für das Volk sei, doch dagegen keine Ver- 
botsmassregeln ergriffen werden könnten, weil die Regierung sonst 
von ihrem Principe der freien Aus- und Einfuhr edler Metalle in 
Barren und Münze abweichen müsste. Ueberdies sei es noch sehr 
fraglich, ob man durch solche Mittel das gewünschte Resultat er¬ 
zielen werde, da beim Billon das Verbot des Umlaufs gar nichts 
geholfen. Eine Einziehung aller in Umlauf befindlichen ausländi- 


"V 


V 


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sehen Münze zu einem festen Kurse könne leider nicht ins Werk 
gesetzt werden, weil es dazu an einem genügenden Kapitale fehle, 
da die Menge der kursirenden ausländischen Münze ausserordentlich 
gross sei. Die Regierung könne demnach weiter nichts thun, als 
durch wiederholte Publikationen über den wahren Werth der auslän¬ 
dischen Münze darauf hinwirken, dass sie zu einem, diesem Werthe 
entsprechenden Kurse im gewöhnlichen Verkehre angenommen 
werde. Ferner sollte es Jedermann gestattet sein, ausländische 
Münze zur Umprägung an die Münzhöfe einzuliefern, ohne dass 
ihm die Umprägungskosten angerechnet würden, und in den bedeu¬ 
tenderen Städten sollte an den Kronskassen einem Jeden ausländi¬ 
sche Münze gegen russische klingende Münze eingewechselt wer¬ 
den, doch nur bis zum Betrage von ioo Rubeln 

Man vermisst in erster Reihe bei Durchsicht dieser Verhandlung 
die Erwähnung der wahren Ursache des Importes ausländischer 
Münze: den Mangel an russischer. Denn selbst gesetzt den Fall, 
dass die Handelsbilanz eine so günstige gewesen sei, als sie Cancrin 
angiebt, — wogegen übrigens nicht unbedeutende Zweifel sich 
erheben, — so wäre es dem Auslande bei sonst normalen Verhält¬ 
nissen noch immer vortheilhafter gewesen, die sich ergebende 
Differenz zwischen seinem Import und Export mit Gold und Silber 
in Barren auszugleichen, statt in Münze, da diese ja bekanntlich 
im eigenen Lande stets in höherem Preise, als in fremdem steht. Da 
es nun aber Thatsache ist, dass allein im Jahre 1833 von den 
37 Mill. Rbl., die an edlen Metallen importirt wurden, nur etwa 
1 */* Mill. auf Barren, die übrigen 35 l /i Mill. auf Münze kamen, so 
kann dieser Umstand nur davon herrühren, dass sogar ausländische 
Münze, nicht nur Gold und Silber, wie Cancrin bemerkt, bei uns 
in höherem Preise stand, als in dem Lande, wo sie legales Zahl¬ 
mittel war. Diese Thatsache kann aber wohl kaum anders erklärt 
werden, als dadurch, dass es dem Verkehre in Russland an eigener 
Münze zur Bestreitung seiner Geldumsätze in hohem Grade man¬ 
gelte; man war daher wegen des Bedarfs an klingender Münze ge¬ 
zwungen, für die ausländische einen so hohen Preis zu zahlen, dass 
die Ausländer es für vortheilhaft finden mussten, ihre Münze aus 
dem eigenen Lande auswandern zu lassen. Wir haben hier die ein¬ 
fache Erscheinung von Nachfrage und Angebot. Aus diesem Grunde 
hätte' wohl die erste Pflicht des Finanzministers die sein müssen, 
den Verkehr hinlänglich, mit klingender Münze des eigenen Landes 

1 M. d. R. v. 3. Mai 1834. 


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zu versorgen; dieses Mittel würde radikal geholfen, dem Unwesen 
des Umlaufs ausländischer Münze zu einem unnatürlich hohen 
Kurse ein Ende gemacht, und aller Wahrscheinlichkeit nach die 
fremde Münze bald ganz aus dem Verkehre gedrängt haben. Aber 
von diesem Hilfsmittel ist auch nicht einmal die Rede. War die 
Möglichkeit nicht vorhanden, es auszufiihren, oder fürchtete man 
etwa, dadurch den Handel zu beeinträchtigen, in der Meinung, das 
Ausland würde nicht mehr so viel kaufen, wenn es sein Gold und 
Silber oder seine Münze nicht mehr so vortheilhaft wie früher nach 
Russland absetzen könnte! Wir wissen es.nicht, wir haben nirgends 
auch nur eine Andeutung darüber gefunden, warum man nicht zu 
diesem Auskunftsmittel griff. Allerdings beging der Reichsrath, 
wohl durch Cancrin dazu veranlasst, den Fehler, den Import von 
Gold und Silber in Barren und den in Münze nicht getrennt zu be¬ 
trachten, — und doch liegt ja darin ein grosser Unterschied: Münze 
ist nicht nur Waare, sondern auch Geld. 


n. Die Reichsschatzbillete. 

(BaneTM rocyflapcTBeHHaro KaaHaneflcTBa.) 

Unter den im Manifeste vom 15. Juli 1831, Nr. 4704, angegebe¬ 
nen Gründen, welche die erste Ausgabe der Reichsschatzbillete 
veranlassten, war der Hauptgrund, die ausgebrochenen Unruhen 
in Polen, weggelassen worden, was natürlich aus politischen Rück¬ 
sichten geschah. Der Finanzminister schritt selbst, wie er es 
wenigstens aussagte, sehr ungern zu dieser Vermehrung der bereits 
existirenden Creditpapiere, aber die so plötzlich hereingebrochenen 
schwierigen Verhältnisse zwangen ihn zu diesem Schritte. Die 
Zinsen wurden nicht höher als 4 pCt. festgesetzt, weil man verhin¬ 
dern wollte, dass das Publikum die Einlagen aus den Creditanstalten 
zurückziehe. Die näheren Bestimmungen über den Charakter dieser 
Papiere ersieht man aus dem angeführten Gesetze. 

Diese Reichsschatzbillete fanden einen grossen Absatz. Als sich 
im Jahre 1834 wieder ein Deficit in dem Budget herausstellte, hervor¬ 
gerufen durch grosse Rückstände in den ordentlichen Einnahmen, 
durch vermehrte Unkosten bei der Herbeischaffung des Branntweins 
und durch Vergrösserung des Ausgabe-Etats des Kriegsministeriums 
in Veranlassung der stark erhöhten Preise fast aller Gegenstände 


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der Verproviantirung der Truppen, musste wiederum an ausser- 
ordentliche Mittel zur Deckung desselben gedacht werden. Es gab 
nach der Meinung des Finanzmfnisters vier Wege, um diese nöthig 
gewordenen Mehrausgaben zu bestreiten: i. Das Kriegsreserve, 
kapital anzugreifen ‘—wäre seiner Ansicht nach bei den unruhigen 
Zeiten in fast ganz Europa geradezu eine Thorheit gewesen. 2. Eine 
auswärtige Anleihe konnte in dem Augenblick unmöglich abgeschlos¬ 
sen werden, da die letzte, dritte 5-procentige vom 14. Mai 1831 im 
Betrage von 20 Mill. Rbl. Silb. erst vor Kurzem vollkommen reali- 
sirt worden war. Eine neue würde daher im Auslande zu der Ver- 
muthung Anlass gegeben haben, Russland denke an Krieg, oder es 
seien seine Quellen dermassen versiegt, dass es nicht einmal im 
Stande sei, in Friedenszeiten seine ordentlichen Ausgaben selbst zu 
decken. Beide Vermuthungen hätten zum sofortigen Fallen unse¬ 
rer, schon ohnedies tiefstehenden Fonds geführt, wodurch die An¬ 
leihe auch noch besonders vertheuert worden wäre. Ueberhaupt 
aber sind auswärtige Anleihen nach der Meinung Cancrin’s beson¬ 
ders drückend und ein Staat darf nur in Fällen äusserster Noth zu 4 
ihnen greifen. 3. Das Auskunftsmittel einer Anleihe bei den Cre- 
ditanstalten konnte auch unmöglich ergriffen werden, da die Credit- 
anstalten damals zu dem Zwecke nicht mehr genug flüssiges Kapital 
besassen, weil bereits im Jahre 1834 verschiedene kleine Anleihen 
gemacht worden waren und auch noch gemacht werden sollten. 
Auch hätten die Einlagen zurückgefordert werden können, zumal 
' sie jetzt lange nicht mehr so reichlich einflossen, wie in früheren 
Jahren. Im August 1833 gab es in der Leih- und Commerzbank über 
421V2 Mill. Rbl. freies Kapital, am 1. October war es auf 2Ö 1 /* Mill. 
herabgegangen und am 24. December betrug es nur noch 10 Mill. 
Rbl. 4. Eine neue Emission von Reichsschatzbilleten und Sistirung 
der Tilgung der ersten. Dieses war die einzige Quelle, zu der man 
seine Zuflucht nehmen konnte. Folgende Umstände sprachen noch 
besonders für diesen Weg: Die Billete vom Jahre 1831 hatten sehr 
guten Absatz gefunden und beim Publikum waren sie sehr beliebt, 
so dass man die zur Tilgung nöthige Anzahl derselben nicht erhal¬ 
ten konnte. Cancrin hielt sie daher für die beste Form einer inne¬ 
ren Anleihe und ganz besonders zur Deckung ausserordentlicher 
Ausgaben geeignet, viel mehr als die Assignaten. Eine vermehrte 
Ausgabe der letzteren hätte ihren Kurs sofort herabgedrückt, d. h. 
den Staatscredit gefährdet, während die Ausgabe der Reichsschatz- 


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5 « 


billete auch nicht den geringsten schlimmen Einfluss auf den Kurs 
der Assignaten gehabt hätte. 

Was nun die alten Serien vom Jahre 1831 anbetrifft, so waren 
noch 20 Mill. derselben in Umlauf; 10 Mill. aber, nicht aus regel¬ 
mässigen Einnahmen, sondern vermittelst Bankanleihen getilgt. Im 
Jahre 1834 mussten nun wieder 10 Mill. getilgt werden, die Mittel 
dazu waren aber nicht vorhanden und da rieth denn der Finanzmi¬ 
nister, die Tilgung zu sistiren, was die neue Ausgabe von Reichs- 
schatzbilleten für's Erste sogar unnöthig machen würde. Der Reichs¬ 
rath stimmte dem bei (cf. Manifest vom 9. Januar 1834, Nr. 6706). 

Da auch diese neuen Serien, nach Einwechselung der alten, sich 
grosser Gunst beim Publikum erfreuten, so dass von den für 40 Mill. 
Rbl. ausgegebenen Billeten bis 1837 nur 8,183,300 Rbl. in den ver¬ 
schiedenen Creditanstalten eingewechselt und bis auf 183,300 Jlbl. 
auch durch Verbrennen getilgt waren, so rieth der Finanzminister 
im Jahre 1837 die im Verkehr befindlichen Reichsschatzbillete zwei¬ 
ter Emission vor ihrer Ablaufszeit (1840) gegen neue einzutauschen. 
Er betonte abermals, dass diese Billete eine vortreffliche Einnahme¬ 
quelle für die Regierung in Zeiten der Noth darböten und man das 
Publikum ja nicht durch Herausziehen derselben aus dem Verkehre 
von ihrem Gebrauche entwöhnen solle. Sein Vorschlag wurde vom 
Reichsrathe angenommen und auch im Jahre 1839 ausgeführt, zu¬ 
mal in letzter Zeit aus den inneren Gouvernements eine consequente 
Nachfrage nach Reichsschatzbilleten stattgefunden hatte; man ver¬ 
langte sie namentlich von den St. Petersburger Kaufleuten als Zah¬ 
lung statt Geldes. Dieser Anforderung konnte aber nur wenig ge¬ 
nügt werden, da es im Verkehre an ihnen vollkommen mangelte, 
(cf. Senatsbefehl vom 29. März 1839, Nr. 12,185). 

Im Jahre 1840 fand dann noch einmal eine neue Emission von 
Reichsschatzbilleten statt, 4 Serien, jede zu 3 Mill. Rbl. Silber (cf. 
Senatsbefehl vom 19. April 1840, Nr. 13,383). Der Grund zu die¬ 
ser Ausgabe waren die enormen Rückstände in den ordentlichen 
Einnahmen, veranlasst durch die Missernten, welche einen gros¬ 
sen Theil des Reiches betroffen hatten. Da die Unkosten zur 
Herstellung der Reichsschatzbillete sehr bedeutend waren, so bat 
sich der Finanzminister die Erlaubnis aus, dieses Mal gleich Billete 
für 30 Mill. Rbl. Siib. im Voraus anfertigen zu dürfen, obgleich nur 
für 12 Mill. Rbl, Silb. emittirt werden sollten. 


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59 


HL Die Reorganisation des Geldsystems im Jahre 1839. 


A. Historischer Rückblick auf das Assignatensystem. 


Der erste Versuch Assignaten einzuführen, stammt noch aus der 
Zeit des Zaren Alexei Michailowitsch, Der schwedische und pölni- 
sehe Krieg hatten der Staatskasse dermassen Silbermünze geraubt, 
dass die Regierung sich bei eingetretenem vollkommenem Mangel 
an Mitteln entschloss, eine auswärtige Anleihe zu contrahiren. Man 
wandte sich zu diesem Zwecke an die grosse Bank der Republik 
Venedig, erhielt aber von dort eine abschlägige Antwort. Da 
wusste man sich denn anders zu helfen, und im Jahre 1656 wurden 
neue Kupfermünzen geprägt, denen ein Zwangskurs al pari mit der 
Silbermünze beigelegt wurde. Es war dies Mittel nichts anderes als 
eine besondere Art von Papiergeld-Emanation, denn diese neue Kupfer- 
assignate unterschied sich von eigentlichem Papiergelde nur darin, 
dass jene Assignaten doch einigen materiellen Werth (Kupfer) 
besassen, während die Papierassignate werthlos ist. Die Folgen der 
Kupferassignaten von 1656 waren genau dieselben, wie man sie bei 
jeder Papiergeldwirthschaft beobachten kann. Kaum hatte sich 
jenes neue Kupfergeld, von welchem ein Rubel = einem Rubel in 
Silber gelten sollte, während das wirkliche Verhältnis beider 
Metalle wie 62 l /*: 1 war, im ganzen Reiche verbreitet, so trat auch 
bereits (1658) seine Entwerthung und in deren Gefolge Theuerung 
u. s. w. ein. Diese Entwerthung nahm natürlich ungemein schnell 
zu, so dass man im Jahre 1663 schon gegen 17 Kupferrubel für 
einen Silberrubel zahlte. 1662 war in Veranlassung der durch die 
Entwerthung des Geldes hervorgerufenen Galamität ein Volksauf¬ 
stand ausgebrochen, der zwar mit Waffengewalt unterdrückt wurde, 
aber doch von Einfluss auf die im Jahre 1663 erfolgte Einziehung 
des gesammten Kupfergeldes und die Ausgabe neuen Silbergeldes 
gewesen zu sein scheint. Eine eigentümliche, sonst wohl kaum 
dagewesene Thatsache ist die, dass die Regierung das Kupfergeld 
nicht etwa nach dem Kurswerte desselben in Silber, ja nicht ein- 


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6 o 


mal nach dem wahren Werthverhältnisse beider Metalle zu einander, 
sondern nach einem viel niedrigeren Verhältnisse gegen Silber¬ 
münze eintauschte. Sie gab nämlich für ioo Rbl. Kupfer nur einen 
Rbl. in Silber, während thatsächlich letzterer im Verkehre nur 
17 Kupferrubel galt, und das damalige Werthverhältniss der beiden 
Metalle Kupfer und Silber 1 : 62 Va war. Zugleich wurde auch noch 
bestimmt, dass, wer sein Kupfergeld zu jenem von der Regierung 
angesetztem Preise nicht an die Krone verkaufen wollte, dasselbe 
einschmelzen, aber bei Strafe der Confiskation sich seiner nicht als 
Geld im Verkehre bedienen durfte l . 

Bei der nun folgenden Darlegung der Entwickelung des eigent¬ 
lichen (Papier) Assignatensystems, werde ich mich möglichst kurz 
fassen, da über diesen Gegenstand ausführlichere Arbeiten existiren, 
auf welche ich hiermit verweise 2 * * * * * . 

Um von der Gestaltung des Assignatenwesens dem Leser ein 
möglichst prägnantes Bild zu geben, fügen wir eine Tabelle bei, 
welche uns die stete Zunahme der Assignatenmasse (Colonne 2 und 
3), das Fallen und Steigen ihres Kurswerthes (Colonne 4), den 
jeweiligen Werth der ganzen Assignatenmasse in Silber (Colonne 
5) und den entsprechenden Wechselkurs auf Amsterdam (Colonne 7) 
zeigt. Die Tabelle ist dem Gutachten des Grafen Speranski «Ueber 
den Geldumlauf» entnommen; dasselbe wurde in seinem Nachlasse 
gefunden und dem Departement der Reichsökonomie, als es die Ver¬ 
handlungen über die Reorganisation des Geldsystems im Jahre 1839 
begann, zugestellt. Graf Speranski sagt von dieser Tabelle: «sie ist 
nach positiv officiellen Quellen zusammengestellt» 8 . 


1 Eine genaue und ausführliche Darlegung dieser^Kupfergeld-Operation findet man 
bei A. Brückner: Kupfergeldkrisen. Dorpat 1867. p. 16 ff und 65 ff. Diesem Buche 
sind auch meine Bemerkungen entnommen. — Cf. auch Lamanski: Geschichtlicher 
Ueberblick des Geldumlaufs in Russland von 1650 — 1817, p. 68. (JlairaHCKitt: Hcto- 
pHHecail onepin» AeHexHaro o6pameHift bt» Pocciu ci» I650—1817). 

2 a)H. Storch: Cours d’Economie Politique. 1815; b) Jacob: Ueber Russlands Papier¬ 

geld. 1817; c) Lamanski: a. a. O.; d) A. Brückner: Die Geschichte des russi¬ 

schen Papiergeldes. (Hildebrand’s Jahrbücher fiir Nationalökonomie und Statistik. 

Jena 1863. Bd. I, p. 48 ff.); e) W. Goldmann: Das russische Papiergeld 2. Aufl. 

Riga 1866. (Auch in russischerUebcrsetzung erschienen). 

Ä Journal des Dep. der Reichsokonomie 1839. Nr. 77, Bl. 358 ff. 




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Tabelle über die Bewegung und den Werth der Assignaten. 

(Zusammengestellt vom Grafen Speranski nach officiellen Daten.) 


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1 Diese 761 Mill. waren von der Regierung in Umlauf gesetzt worden, bei der späteren Einzie¬ 
hung der Assignaten ergab sich aber die Summe von 832 Mill., von denen alsö # wenigstens 71 Mill. 
gefälscht waren, sie wurden aber alle von der Regierung eingetauscht. Die Angaben Über die Maxi- 
mal-Summe der Assignaten schwanken, die angegebenen Daten stammen vom Grafen Speranski. Der 
Fürst Drutzki-Ljubetzki giebt dieselbe auf 836 Mill. an. Lamanski in seinem HcropKiecKil oiepai. 
AeHexHaro oöpameHU auch auf 836 Mill. Dieselbe Summe auch A. Brückner in seiner «Geschichte 
des russischen Papiergeldes» (Hildebrand’s Jahrbücher 1863, pag. 55). Goldmann scheint als Maxi¬ 
mum 700 Millionen anzunehmen, cf. sein «Russisches Papiergeld*, p. 39. 

3 Dieser Kurs ist zu niedrig, man kann daher annehmen, dass es ein Versehen des Abschreibers 
war und nicht Irrthum Speranski’s; dafür spricht auch der Werth des Bancorubels von 9 StÜver, die 
etwa 24 4 /s Kop. Silber gleichkommen. Dieser letztgenannte Kurs ist auch entschieden der niedrigste 
gewesen, ihn finden wir auch bei Jacob «Ueber Russlands Papiergeld» p. 147 angegeben. Derselben 
Meinung sind auch Lamanski und Goldmann a. a. O. 

3 Dieser Durchschnittskurs ist falsch, woran wohl der Fehler von Punkt 2 Schuld ist 
1 Nach Speranski’s Rechnung müsste hier rund 595 Mill. stehen, nämlich 76 1 — 166 Mill. 
(Spalte 3 und 2). Die Angabe von 595^776,310 ist aber jedenfalls die richtige, denn dieselbe Summe 
wird im Manifeste vom 1. Juni 1843, Nr. 16,903, Punkt I. angeführt (cf. Abschnitt III). 


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t)ie erste Emission der Assignaten erfolgte im Jahre 1769 auf 
Grundlage des Manifestes vom 29. D.ecember 1768 (Nr. 13,219); 
als Grund dieser Massregel wurde daselbst angeführt, dass das 
Kupfergeld sich für den Verkehr und namentlich für die Ueber- 
sendung von Ort zu Ort wenig eigne. Diese ersten Reichs-Banco- 
Assignationen waren ein reines Geldsurrogat, sie hatten keinen 
Zwangskurs, sollten in ihrem ganzen Werthe durch klingende Münze 
gedeckt sein und besassen noch obendrein Steuerfundation. Sie 
lauteten auf «gangbare Münze» (xoAjreeio mohctoio), und waren 
gegen solche an den zu diesem Zwecke besonders gegründeten 
Einwechselungskassen zu St. Petersburg und Moskau jeder Zeit 
einlösbar. Seit dem Ukas vom 30. März 1764 (Nr. 12,116) galten 
als gangbare Münzen: Gold, Silber und Kupfer, doch existirte 
zwischen den beiden letzteren Metallen kein besonderer^bestimmter 
Kronskurs. Das Kupfergeld wurde in seinem Preise durch seinen 
verhältnissmässig hohen Metallwerth (16 Rbl. aus dem Pude Kupfer) 
gehalten; es war auch nicht eine sehr grosse Quantität davon im Ver¬ 
kehr, zumal sich auch Silbermünze in grosser Menge in Umlauf 
befand; — es mussten ja alle Zollabgaben in Silber entrichtet Wer¬ 
dern Trotzdem dass die Ausgabe der Assignaten bald zur Bestreitung 
laufender Staatsausgaben benutzt wurde, hielten sie sich doch in 
ihrem Kurse, weil sie von der Krone bei allen Zahlungen entgegen¬ 
genommen wurden und die in Umlauf befindliche Menge derselben 
den Bedarf nicht überstieg. Im Jahre 1786 trat durch das Manifest 
vom 28. Juni (Nr. 16,407) eine Veränderung ein: die beiden Ein¬ 
wechselungskassen wurden zu einer Assignationsbank vereinigt und 
der Einwechselung überhaupt mit keinem Worte mehr erwähnt. 
Mit, dem Aufhören der faktischen Einlösbarkeit der Assignaten 
stützte sich nunmehr ihr Werth allein auf ihre Steuerfundation und 
das Versprechen der Regierung, dass die Menge der ausgegebenen 
Assignaten die Summe von 100 Millionen Rbl., die etwa der ganzen 
Jahreseinnahme der Krone gleich kam, nicht übersteigen würde. 
Die alten Assigpaten von 1769 wurden bei dieser Gelegenheit gegen 
neue eingetauscht. Obgleich aber letztere einen ganz anderen Cha¬ 
rakter hatten, als die ursprünglichen, fand doch die Regierung es 
iiir nöthig, auch bei diesen die alte Aufschrift: «dem Vorzeiger 
der Assignate zahlt die Assignationsbank x x Rubel in gangbarer 
Münze» zu belassen. Der Grund dazu liegt auf der Hand: die alte 
Assignate, als einlösbare Note, hatte im Laufe der 16 Jahre ihres 
Bestehens allgemeines Vertrauen erworben — dieses wäre aber bei 


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—*_ 

einer Veränderung der Aufschrift sofort erschüttert worden. In der 
That war demnach durch (das Manifest vom Jahre 1786 eine neue 
Art Assignaten geschaffen worden, die mit den ursprünglichen nichts 
als die Aufschrift gemein hatten. 

In der Entwickelung des Assignatenwesens muss man drei Perio¬ 
den unterscheiden, wie sie uns die erwähnte Tabelle des Grafen 
Speranski verdeutlicht. 

Die erste Periode, welche als die Periode des Umlaufs der Assig¬ 
naten al pari mit dem Silber bezeichnet werden kann, zeigt sonst 
nichts Aussergewöhnliches. Sie umfasst 16 Jahre, von 1769—1786, 
d. h. die Zeit der einlösbaren Assignaten, und ihre Gesammtmenge 
betrug 40 MilL Rbl. 

Die zweite Periode, die Periode des beständigen Sinkens der 
Assignaten in ihrem Werthe, beginnt im Jahre 1787, ein Jahr nach 
der Vermehrung der vorhandenen Anzahl um 60 Mill. Rbl. In den 
beiden darauf folgenden Jahren hatten die Assignaten bereits 9 pCt. 
ihres ursprünglichen Werthes in Silber eingebüsst; als nun 1790 
zu den im Umlauf befindlichen* 100 Mill. noch' 11 Mill. neue hinzu¬ 
kamen, fiel der Werth der Assignaten sofort noch um 4 pCt. Von 
nun an sank der Kurs der Assignaten mit jeder neuen Vermehrung 
derselben beständig, dabei fand aber zwischen der jedesmaligen 
Vermehrung der Assignatenmenge und dem nachfolgenden Fallen 
des Assignatenwerthes kein entsprechendes, bestimmtes Verhält¬ 
nis statt. Das konnte auch nicht der Fall sein. Wenn die ver¬ 
mehrte Ausgabe auch die Hauptursache des Sinkens war, so wirkten 
dabei doch noch viele andere Factoren mit, wie z. B. Kriegszeiten, 
die Gestaltung des auswärtigen Handels und des Wechselkurses, 
der Volkswohlstand, das Umlaufsgebiet der Assignaten u. s. w. Das 
Fallen der Assignaten wurde auch noch dadurch beschleunigt, dass 
die Regierung zur Bestreitung extraordinärer Ausgaben, wahr¬ 
scheinlich zur Kriegsführung, klingende Münze unumgänglich 
brauchte und zu diesem Zwecke, wie Fürst Drutzki-Ljubetzki in 
seinem Gutachten über die Beseitigung des Volks-Agio hervorhebt, 
Beamte mehrere Jahre nacheinander im Innern des Reiches herum¬ 
reisen Hess, um Gold und Silber mit Assignaten aufzukaufen 1 . 

Es liegt nicht in meiner Absicht hier die Folgen zu schildern, 
welche die Entwerthung der Assignaten für die Volkswirtschaft 
hatte, sie sind ja überall dieselben und von der Theorie des Papier¬ 
geldes hinlängüch verallgemeinert worden. 

1 J. d. Dep. d. Reichsökon. 1839 Nr. 77. 


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<55 


Im Jahre 1815 erreichten die Assignaten ihren tiefsten Stand, 
der Bancorubel galt 24 l j$ Kop. Silber 1 , und nicht, wie Graf Spe- 
ranski in seiner Tabelle angiebt, 20 Kop. 2 , hiernach musste man 
für einen Silberrubel 413 Kop. Banco zahlen; der Assignatenrubel 
galt also nicht einmal ein Viertel seines ursprünglichen Werthes 
in Silber. 

Diese zweite Periode umfasste 28 Jahre, die Zeit von 1787—1815. 

Die wichtigsten Gesetze, welche während dieser zweiten Periode 
erlassen worden sind und an welche man die Hoffnung knüpfte, 
dass sie eine Hebung der Assignaten erzielen, oder doch wenigstens 
ein ferneres Sinken derselben verhindern würden, waren folgende. 

Durch das Manifest vom 2. Februar 1810 (Nr. 24,116) wurde 
bestimmt, alle fernere Ausgabe von Assignaten einzustellen; damit 
aber die, namentlich durch die grossen Kriege veranlassten erhöhten 
Staatsausgaben durch regelmässige Staatseinnahmen gedeckt werden 
könnten, wurden gleichzeitig fast alle Abgaben erhöht. In den Mani¬ 
festen vom 13. April (Nr. 24,197), 27. Mai (Nr. 24,244), 20. Juni 
(Nr. 24,264), 29. August (Nr^ 24,333) unc * l 9 • December (Nr. 24,465) 
desselben Jahres wurde bekannt gemacht, dass die Gesammtmenge 
der in Umlauf befindlichen Assignaten 577 Mill. betrage; dass zur 
Verminderung der Staatsschulden Verkäufe von Staatsdomainen 
stattfinden und zur Einlösung von Assignaten innere Anleihen bis 
zum Betrage von 100 Mill. Rbl. in Assignaten eröffnet werden soll¬ 
ten, und dass der Silberrubel gegenwärtigen Gepräges und Werthes 
zum gesetzlichen und unveränderlichen Preismaass (zur Münzeinheit) 
alles im Reiche kursirenden Geldes festgesetzt werde. Durch das 
Manifest vom 11. Februar 1812 (Nr. 24,992) wurden die Abgaben, um 
die Schuldentilgung und die Assignateneinziehung zu beschleuni- ^ 
gen, nochmals erhöht. — Doch sistirten die Manifeste vom 9. April 
(Nr. 25,080) und vom 17. October 1812 (Nr. 25,449) die meisten 
dieser Massregeln, denn sie enthielten die Bestimmung, dass im gan¬ 
zen Reiche alle Rechnungen und Zahlungen auf Assignaten lauten 
und in ihnen bezahlt werden mussten. Hiermit wurden die Assig¬ 
naten zur einzigen Reichsmünze erhoben, d. h. es gab von nun ab 
in Russland nur Papiergeld. 

Die dritte Periode, die Periode der beständigen Kursbesserung 
der Assignaten, beginnt mit dem Jahre 1815. Soweit sich dieHe- 

1 v. Jacob a. a. O. p. 147; Lamanski a. a. O. p. 1555 Goldmann a. a. O. p. 39. 

1 cf. Anmerkung 2 der Tabelle. 

Bus. Beta«. B4. VII* e 


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66 


bung der Assignaten auf dieses und das folgende Jahr bezieht, ist 
sie von keinen besonderen Regierungsmassregeln abhängig, dage¬ 
gen aber wohl seitdem Jahre 1818. Das Manifest vom 1 6. April 1817 
(Nr. 26,791) hatte nämlich bestimmt: die durch den Krieg ein¬ 
gestellte Schuldentilgung und Assignateneinziehung, wie sie durch 
das Manifest von 1810 befohlen war, wieder aufzunehmen, und die 
Verminderung der in Umlauf befindlichen Assignatenmenge so lange 
fortzusetzen, bis der Werth des Assignatenrubels wieder al pari 
mit dem Silberrubel stände. Um die Einziehung der Assignaten 
sofort in’s Werk setzen zu können, wurde eine Anleihe ausgeschrie¬ 
ben, deren Zinszahlung und Amortisation mit den 30 Mill. bestritten 
werden sollten, welche für die Einlösung der Assignaten aus den 
Reichseinnahmen auszuscheiden seien. Die eingezogenen Assigna¬ 
ten wurden durch öffentliche Verbrennung vernichtet. 

Von nun an beginnt ein stetes Steigen des Werthes der Assignaten. 
Mit den allgemeinen Missständen, welche die Hebung eines tief und 
lange entwertheten Papiergeldes im Gefolge hat, macht uns aber¬ 
mals die Theorie des Papiergeldes bekannt, weshalb ich auf diesel¬ 
ben nicht näher «inzugehen brauche, und verweise nur noch in die¬ 
ser Beziehung, wie auch in Betreff der Nachtheile des Sinkens von 
Papiergeld mit besonderer Genugthuung auf die Erörterungen des 
Grafen Cancrin, welche mit zu den besten Partien seines «Weltreich¬ 
thum» 1 und seiner «Oekonomie der menschlichen Gesellschaften »^ge¬ 
hören. Einen Missstand aber hatte die Hebung des Assignaten- 
werthes in Russland zur Folge, wie er wohl noch nirgends beobach¬ 
tet worden ist, es war dies die Entstehung und Ausartung des soge¬ 
nannten Volks-Agio. Ich habe dieser eigenthümlichen und wohl 
einzig in ihrer Art dastehenden Erscheinung in dem wirtschaft¬ 
lichen Leben eines Volkes eine eingehende Erörterung in einem 
folgenden Abschnitte gewidmet. Da wir im Laufe des Reformver¬ 
suches des Geldwesens, mit welchem wir uns jetzt beschäftigen 
wollen, wiederholt finden werden, dass man des Volks-Agio als 
eines Krebsschadens erwähnt, so verweise ich ein für alle Mal hin¬ 
sichtlich Dessen, was das Volks-Agio betrifft, auf den erwähnten\ 
Exkurs. (Fortsetzung folgt.) 

i Weltreichlhum, Nationalreichthum und Staatswirthschaft. München 1821^.46-79. 

a Die Oekonomie der menschlichen Gesellschaften und das Finanzwesen. Stuttgart 
1845, P- 113-138- 





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Der Alexander-Garten in St. Petersburg. 

Von 

Dr. E. Regel. 

Einige Mittheilungen über den Alexander-Garten in St. Peters¬ 
burg gab der Referent im ersten Bande (pag. 177 ff.) der «Russi¬ 
schen Revue», zur Zeit als die Arbeiten für die Anlage des Gartens 
in vollem Gange waren. 

Gegenwärtig, wo alle diese Arbeiten vollendet sind, dürfte ein 
Nachtrag, gleichsam als Ergänzung jenes ersten Artikels, einiges 
Interesse bieten. 

Ausser den 17,000 [DFaden 1 Flächenraum, welchen der Alexander- 
Garten einnimmt, wurden die Boulevards, welche die Admiralität 
umgeben, noch in die Anlage hineingezogen und neu hergestellt, 
so dass der ganze Flächenraum des Gartens jetzt 21,600 □ Faden 
oder ungefähr 9 Dessjatinen beträgt. 

Der Kostenanschlag für die Anlagen des Gartens (17,000 □ Faden) 
allein betrug 95,000 Rbl. Ausserdem ward aber auch noch der Bou¬ 
levard aus der gleichen Summe hergestellt und doch waren von den, 
von der Stadtduma eingezahlten 95,000 Rbl. nach Zahlung aller 
Arbeiten und Anschaffungen noch etwas über 12,000 Rbl. als Ueber- 
schuss geblieben. 

Die Kanäle zum Abzug des Wassers, die Wasserleitung, die 
Wasserbassins, von denen eines im Laufe dieses Jahres ausgeführt 
werden sollte, und endlich der eiserne Zaun um den Garten, waren 
von Anfang an aus der vom Gartenbauverein vorgestellten 
Kostenberechnung ausgeschlossen, indem die Ausführung dieser 
Arbeiten Von der Duma direkt abgegeben wurde. Dagegen wurden 
aus der nur für die Anlage des Gartens bestimmten Summe die 
Ausgaben für Nivellirung, die Lockerung des festen aus Schutt 
bestehenden Bodens auf i 1 /* Arschin besorgt; ferner die Verthei- 
lung und das Auffahren des gelockerten Bodens nach dem Nivel¬ 
lement, nachträgliche Vermischung der aufgefahrenen Erde mit dem 
Untergrund, Anschaffung von Erde, Schutt, Sand, Anlage der 
Wege und Rasenplätze, Anschaffung der Pflanzen und Beflanzung, 
Anschaffung von 115 eisernen Gartenbänken, einer Verpflanz¬ 
maschine für grosse Bäume, von Walzen und allen für die Gärtner 
nothwendigen Instrumenten, Herstellung eines provisorischen Zau¬ 
nes um den Garten, Ausführung mehrerer kleiner Baulichkeiten etc. 

Gepflanzt wurden: 

320 grosse Bäume von Vs — 1 Fuss Durchmesser des Stammes. 

4,940 Bäume, wie man solche in erster Stärke aus den Baum¬ 
schulen bezieht. 


* 1 Faden = 7 Fuss engl. 

5 * 


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68 


I2,6 oo grössere und kleinere Sträuchen 

4,000 Stück perennirende Pflanzen in einigen Blumengruppen und 
in der Steinpartie des Hügels. 

1,000 Stück Florblumen in die Blumengruppen. 

Gute Gartenerde ward im Ganzen 3179 Kubikfaden (7 Fuss engl, 
im Kubikmaass) angefahren. 

684 Kubikfaden Schutt ward ziir Bildung der Wege verwendet. 

Ferner: tausende von Fuhren gewöhnlichen Schuttes zur Bildung 
des Hügels und der von diesem ausgehenden Anschwellung der 
nach dem Hügel ansteigenden Rasenplätze; lur die Wege wurden 
ausserdem verwandt 2 5 Kubikfaden rother Sand und 21 */* Kubik¬ 
faden feiner Kies für den Reitweg. Zur Bildung der Rasenkanten 
gingen auf 535 □ Faden Rasen. 

Das obenerwähnte ausserordentlich günstige Resultat in Bezug 
auf die Herstellungskosten ward dadurch erreicht, dass: 

a. Auf Befehl des Herrn Ministers der Reichsdomänen aus den 
Wolkow’schen Baumschulen, aus dem Kaiserlichen Botanischen Gar¬ 
ten, aus dem Forstcorps undaus der Akademie zu Petrowsky ein 
grosser Theil der Bäume und Sträucher nur gegen Ersatz der 
Transportkosten geliefert wurden. 

b. Die Aufsicht über Ausführung der Arbeiten und Annahme 
der Materialien von Seiten der Kaiserlichen Gartenbau-Gesellschaft 
umsonst geführt wurden. 

Die Anlage des Gartens begann im Herbste 1872, ward im 
Frühjahre 1874 vollendet und am 8. Juli 1874 fand die feierliche Ein¬ 
weihung und Eröffnung des Gartens durch Sr. Majestät den Kaiser 
statt, wobei Sr. Majestät und Sr. Kaiserliche Hoheit der Grossfiirst 
Konstantin Nikolajewitsch geruhten je einen Eichbaum einzupflanzen. 
Seit seiner Eröffnung ist der Alexander-Garten täglich von Tausenden 
von Spaziergängern im Sommer und Herbst besucht worden, und es hat 
sich schon allgemein die Ueberzeugung Bahn gebrochen, dass gerade 
die, der Lokalität angepasste Umwandlung des früheren Peterplatzes 
den Eindruck des dort errichteten Monumentes Peter’s des Grossen 
nicht nur nicht beeinträchtigt hat, sondern dass dasselbe gegenwärtig 
in seiner grossartigen Einfachheit und genialen Auffassung viel 
schöner hervortritt als früher, sowie dass die freundliche niedrig 
gehaltene Umgebung desselben das Beschauen desselben wesentlich 
erleichtert und die Zahl der Bewunderer bedeutend vergrössert hat. 
Ebenso hat sich die, besonders von Architekten zuvor ausge¬ 
sprochene Befürchtung, dass der niedrige Hügel gegenüber dem 
Monumente der Wirkung desselben schaden würde, in keiner Be¬ 
ziehung bewährt, denn die ganze allmähliche Erhebung des Hügels 
mit seinen grünen Rasenflächen und niedrigen Bosquetpartien auf 
der einen, und das am Fusse mit grünen niedrigen Bosquetpartien 
abgedeckte mächtige Senatsgebäude auf der anderen Seite, dienen 
gerade dazu, das Denkmal wie in einen Rahmen gefasst, schön 
und grossartig hervortreten zu lassen. Der Hügel aber darf, ohne 
Uebertreibung, als einer der schönsten Punkte innerhalb der Stadt 



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bezeichnet werden, der einen herrlichen Blick auf unsere nordische 
Metropole gewährt. Im Süden erhebt sich die Isaakskirche, welche 
die Baumpflanzungen jetzt schon theilweise, später aber ganz ein¬ 
rahmen werden, so dass dieser stolze majestätische Bau, in seinem 
wunderbar schönen Ebenmass aller Theile und seiner kolossalen 
Grösse, abgegrenzt von allen anderen Gebäuden der Stadt, wie 
nirgendswo anders vortheilhaft und grossartig jetzt schon hervor¬ 
tritt und später noch mehr hervortreten wird. Nach Westen ge¬ 
währt der Hügel den Blick auf das Monument Peteris des Grossen, 
nach Nordwesten, Norden nnd Nordosten aber die Aussicht auf die 
Newa, deren krystallheller Wasserspiegel von der Nikolaibrücke 
bis zur Festung, nebst den die Ufer umsäumenden Gebäuden von 
Wassili-Ostrow, von hier aus übersehen werden kann. 

Die Abhänge des Hügels selbst sind theils — nach Norden und 
Osten — mit Tannen bepflanzt, welche die Aussichten einrahmen, 
theils mit anderen Holzgewächsen, und überall da, wo der Blick nicht 
begrenzt werden darf, ziehen sich die Rasenplätze bis zur Höhe des 
Hügels oder es umsäumen denselben Steinpartien, durchschnitten 
von schmalen Wegen. In diesen Steinpartien wachsen die schö¬ 
neren ausdauernden Stauden der Gebirge Sibiriens, des Kaukasus 
und der europäischen Alpen. 

Wer den Alexander-Garten besucht hat, den hat wohl auch die 
Mannigfaltigkeit der Baum- und Strauchgewächse, die hier ganz gut 
gedeihen, erfreut. Litten doch in dieser Beziehung die meisten 
Gärten in und um St. Petersburg unter dem Eindrücke einer grossen . 
Einförmigkeit. Einer unserer schönsten Bäume des Nordens, die 
Birke, herrscht in den meisten Anpflanzungen in so bedeutendem 
Maasse vor, dass durch den Mangel an Abwechselung, der durch die 
Leichtigkeit und die zierliche grazile Verästelung der Zweige der¬ 
selben bedingte pittoreske Eindruck dieses Baumes, zur langweiligen 
Eintönigkeit herabsinkt. Der Alexander-Garten, dessen Ausführung 
von Seiten der Kaiserlichen Gartenbau-Gesellschaft aber nur deshalb 
übernommen ward, um einerseits dem Publikum zu zeigen, welche 
Menge verschiedenartiger Holzgewächse und ausdauernder Stauden 
im Klima von St. Petersburg noch gut im Freien überdauern, sowie 
um andererseits in der Art seiner Anlage und Unterhaltung für die 
fernere Anlage von öffentlichen oder Privatgärten ein Muster zu bie¬ 
ten, wird diesem Zwecke in hohem Maasse genügen. Der Augen¬ 
schein lehrt hier jedem Unbefangenen, welchen vorzüglichen Effect 
die richtige Mischung und der richtige Contrast der Baumgruppen 
untereinander, die Umsäumung der Bosquetpartien mit den in den 
verschiedensten Farben den Sommer hindurch reichlich blühenden 
Strauchgewächsen, und das frische Grün der Rasenplätze hervorzu¬ 
bringen vermögen. 

Wir halten es deshalb für geeignet, zunächst auf dieses lebendige 
Material, welches hier in St. Petersburg, auf Grund der vom Refe¬ 
renten seit 20 Jahren im Kaiserl. Botanischen Garten und in seinen 
Privatbaumschulen gemachten Erfahrungen, zum ersten Mate in 


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grösster Mannigfaltigkeit zur Verwendung kam, von der praktischen 
und allen Gartenfreunden interessanten Seite etwas näher einzugehen 
und die im Alexander-Garten gewonnenen Resultate zu besprechen*. 

1. Nadelhölzer. Starke Exemplare-von 15— 30 Fuss Höhe sind 
überhaupt sehr schwer mit gutem Erfolge zu verpflanzen. 

Von diesen sind die im Winter mit Frostballen verpflanzten Exem¬ 
plare am Besten fortgekommen. Kleinere mit Ballen den Baum¬ 
schulen entnommene Exemplare sind durchschnittlich mit wenig Ver¬ 
lust angewachsen, wenn dieselben im Frühjahre vor dem Beginne des 
Triebes oder unmittelbar nach Beendigung des Triebes Mitte Juli bis 
Mitte August gepflanzt wurden. 

Im Herbste gepflanzte Exemplare sind durchschnittlich schlecht 
gewachsen und Sommerpflanzungen, welche im Herbste aus uner¬ 
warteten Ursachen nochmals verpflanzt wurden, gingen sämmtlich 
ein. Ebenso war dies der Fall mit den aus weiterer Entfernung im 
Sommer und ohne Erdbällen bezogenen Tannen- und Lebensbäumen. 

Nadelhölzer, welche im Sommer gepflanzt wurden, sollten im 
ersten Winter mit Bastmatten oder Zweigen anderer Tannen lose 
eingebunden und diese Umhüllung nicht eher im nächsten Frühjahre 
entfernt werden, als bis keine Fröste mehr zu besorgen sind und der 
neue Trieb beginnt. 

Die eigentliche Winterkälte schadet denselben nämlich nicht, dage¬ 
gen ist vom Februar an der wechselnde Einfluss von der höheren Ta¬ 
gestemperatur unter Einfluss von Sonnenschein mit niedrigen Nacht¬ 
temperaturen schädlich. Treten dazu im April, zur Zeit wenn das Le¬ 
ben im Baume sich zu regen beginnt, noch kalte trockene Luftströme, 
dann werden an allen aus Nordamerika und Sibirien stammenden 
Arten, vorzugsweise aber an den im Vorjahre verpflanzten Exem¬ 
plaren, alle Blätter gebräunt und Exemplare, die im Jahre vorher 
schon schöne junge Wurzeln gezogen, gehen nachträglich noch ein. 
Man entferne daher die Umhüllung nicht eher als gegen Ende April. 

Bei Anpflanzung von kleineren Exemplaren Von 2—4 Fuss Höhe, 
welche, wenn mit Ballen verpflanzt, die sichersten Resultate geben, 
wende man statt Einbinden ein Umstecken mit Tannenzweigen an, 
welche letztere über den Exemplaren zusammengebunden werden. 
Solche leichte luftige Deckung schützt genügend und besser vor 
dem verderblichen Einflüsse der Frühjahrssonne und der kalten 
Winde, und ist dem Einbinden mit St oh oder Bastmatten noch 
vorzuziehen. Solche Art des Schutzes wende man bei uns vorzüg¬ 
lich bei den Lebensbäumen (Thuja occidentalis und Th. Warreana), 
dann bei den Föhren, Fichten und Tannen Sibiriens und Nordame¬ 
rikas an, welche bei uns noch aushalten, so also bei Pinus Cembra 
L., P. Strobus L., Picea alba Lk., P. rubra Lk., P. nigra Lk., Abies 
sibirica Ledb., A. Fraseri Lk. und A. balsamea Lk. — Unsere ge¬ 
meine Fichte (Picea excelsa) und Föhre (Pinus sylvestris), sowie 
die Fichten der höheren Gebirge (Pinus Mughus Scop., P. Pumilio 
Hänke und P. uncinata Ramond), haben diesen Schutz nach dem 
Verpflanzen weniger nothwendig. Dem Walde entnommene grössere 



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Exemplare von Picea excelsa, selbst wenn sie mit möglichst viel Bal¬ 
len ausgegraben werden, wachsen stets nur zum kleinen Theil an. 

Endlich ist in Bezug auf die Anpflanzung von Nadelhölzern im Gar¬ 
ten noch zu bemerken, dass die Erde eine lockere Lehm- oder auch 
schwarze Moor- oder Haide- oder Lauberde, letztere 3 Sorten aber ge¬ 
mischt mit lehmiger Erde, erstere gemischt mitHumus, sein kann, und 
dass die Nadelhölzer um so besser gedeihen und annehmen werden, 
je mehr die Erdmischung zu gleichen Theilen aus Lehm und den 
genannten Humusarten besteht. Eine nur sehr wenig mit alter 
Düngererde vermischte,Erde ist ebenfalls zum Gedeihen der Nadel¬ 
hölzer nicht schädlich, ja in armen sandigen Bodenarten ist eine 
schwache Düngung mit recht altem verrottetem Dünger sogar 
nützlich. Wo aber der Boden stärker gedüngt, wie z. B. auf zum Gar¬ 
ten umgewandeltem Gemüseland, oder auf von Gemüseland angefah¬ 
rener Erde, da nehmen Nadelhölzer nicht an; sondern sterben ab. 

Leider mussten wir diese Erfahrung auch vielfach im Alexander- 
Garten machen. Die dort angeführte Erde bestand nämlich nur 
zum kleineren Theile aus einer guten nahrhaften Lehmerde, weil die 
letztere Erde, bei dem enormen Bedarf, nicht schnell genug aus 
weiteren Entfernungen angefahren werden konnte. Der grösste 
Theil der Erdlieferungen bestand aber aus einer fetten schwarzen 
Erde aus alten stark gedüngten Gemüsegärten. Wo nun die letztere 
Erde vorherrschte, sind die Tannenpflanzungen im Allgemeinen 
schlecht gediehen, d. h. die Bäume wuchsen i_m ersten Jahre an 
und starben im zweiten ab, wo dagegen vorzugsweise Lehmerde 
angelegt war, gediehen solche viel besser. 

2. Laubbäume. Für die Mehrzahl der Laubbäume ist der Herbst 
während und nach dem Laubfalle und das Frühjahr bis zum Beginne 
des Triebes die geeigneteste Zeit zum Verpflanzen. Wenn aber 
im Spätherbst Nachtfröste und bei Tage so niedrige Temperaturen 
eintreten, dass die Oberfläche des Bodens nicht mehr aufthaut, 
dann soll man nicht mehr verpflanzen. Je früher man im Herbste 
gleichzeitig mit dem Beginn des Laubfalles die Pflanzungen aus¬ 
führt, desto sicherer werden die Pflanzungen gedeihen. Eine Aus¬ 
nahme machen nur die baumartig gezogenen Pappeln und Weiden, 
welche jn unserem Klima nur im Frühjahre vor Beginn des Triebes 
gepflanzt werden sollten, da selbst unsere heimischen Weiden und 
Pappeln bei Herbstverpflanzung mehr oder weniger leiden. Eichen 
können zeitig im Herbste noch mit gutem Erfolge zur Pflanzung 
benutzt werden, aber wenn sie erst im Spätherbste oder namentlich 
bei beginnendem Frostwetter gepflanzt werden, so nehmen solche 
sehr schlecht an. Im Frühjahre können die Eichen sowohl vor 
Beginn des Triebes, wie auch wenn deren Vegetation schon etwas 
begonnen hat, noch mit gutem Erfolge versetzt werden. 

Eschen , Linden , Birken , Vogelbeeren , Ahorn , Ulmen , EUem , Sibiri¬ 
sche Aepfel, werden mit gleich gutem Erfolge im Herbste und Früh¬ 
jahre gepflanzt. Aesculus und andere zartere Arten nur im Frühjahre. 
Lerchen im Frühjahre vor Beginn oder mit Beginn des Triebes. 


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Grosse starke Laubbäume sind bei Winterverpflanzung am Besten 
fortgekommen. Zu diesem Behufe werden die betreffenden Exem¬ 
plare im Herbste umgraben und mit dem beginnenden Frost¬ 
wetter wird der Ballen von oben und den Seiten durch Laubdeckung 
geschützt. 

Im Winter bei Schlittbahn und einer massigen Kälte, die nicht 
unter—io bis —12° R. fällt, nimmt man dann das Verpflanzen auf 
die zuvor bezeichneten Stellen vor, wo der Boden gleichfalls durch 
Laub- oder Mistdeckung vor dem Eindringen des Frostes geschützt 
wurde. Man hüte sich aber, tiefere Kältegrade längere Zeit auf 
den entblössten Ballen und die gleichzeitig bloss gelegten Wurzeln 
wirken zu lassen, denn bei Exemplaren, wo dies geschah, leiden 
die Wurzeln und die Bäume wachsen nicht an. Einen der schönsten 
Eichbäume, der zur Verpflanzung kam, gelang es z. B. nicht, wegen 
des grossen Gewichtes seines Erdballens, mit der zum Heben ange¬ 
wendeten Maschine, aus der Grube auf den Schlitten zu heben. 
Darüber blieb der Ballen unbedeckt eine Woche stehen und dieser 
Baum ist nicht angewachsen. 

Ausserdem war der Transport der mit Frostballen ausgehobenen 
Bäume schwierig, weil dieselben nicht stehend transportirt werden 
konnten, sondern wegen der vielfach zu passirenden Telegraphen¬ 
linien umgelegt werden mussten. Die ersten Bäume, die transpor¬ 
tirt werden sollten, rollten dabei mit den Ballen vom Schlitten her¬ 
unter, blieben, bis der Schlitten eine Einrichtung erhalten hatte, 
damit Baum und Ballen sicher und fest lagen, 24 Stunden frei bei 
starkem Frostwetter liegen, und auch diese sind nicht ange¬ 
wachsen, — während ausserdem alle anderen mit Winterballen ver¬ 
pflanzten Bäume sehr gut fortgewachsen sind. 

Das zuerst vom Fürsten Pückler-Muskau in seinen Parks zu 
Muskau und Branitz in grossartigem Maassstabe ausgeführte Ver¬ 
pflanzsystem, nämlich grosse Bäume im Frühjahre und Herbste 
ohne Ballen, aber mit möglichst gut erhaltenen Wurzeln zu ver¬ 
pflanzen, gab bei uns weniger günstige Resultate, als das Ver¬ 
pflanzen derselben mit Frostballen, ist aber, weil einfacher und 
leichter auszuführen, auch viel weniger kostspielig als das Letztere 

Nach diesem Pücklerschen Systeme wurde im Alexander-Garten 
im Frühlinge und Herbste verpflanzt. Die im Frühlinge auf diese 
Weise umgepflanzten Bäume nahmen im Allgemeinen, ja selbst 
wenn sie erst zu Anfang des Triebes gepflanzt wurden, besser an, 
als die im Herbste gepflanzten. Wir bedienten uns dazu des nach 
englischem Systeme unter Anleitung des Herrn Gartendirektors 
Petzold in Muskau angefertigten Verpflanzwagen erster Grösse, von 
16 Ctr. oder 48 Pud Gewicht. Die Anfertigung desselben in Muskau 
kostet 230 Thaler und ist dieser Wagen jetzt im Museum der land- 
wirthschaftlichen Geräthschaften (im Exercierhause, gegenüber dem 
Winterpalais) ausgestellt. Man construirt aber in Muskau auch 

1 Die Kosten für Ausgraben, Transport und Pflanzen der grösseren Bäume 
mit Frostballen, schwankten zwischen 8—25 Rbl , je n*ch Grösse der Exemplare. 


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mittlere und kleine Verpflanzwagen, — die mittleren von 12 Ct. = 
36 Pud Gewicht zu 200 Thaler, und die kleinen von 8 Ctr. = 24 Pud 
Gewicht zum Preise von 160 Thalern. 

Nach unseren Erfahrungen würden wir die Verpflanzwagen mitt¬ 
lerer und kleinerer Grösse als viel leichter zu handhaben und noch 
genügend stark empfehlen. 

Diese Verpflanzwagen sind ausserordentlich einfach construirt, 
da nur einfache Hebelkraft bei denselben in Anwendung kommt. 
Ein solcher Wagen erster Grösse besteht aus einer starken eisernen 
Achse von 8 Fuss 2 Zoll Länge, die von 2 starken, 5 Fuss 6 Zoll 
hohen Rädern getragen wird. Auf der oberen Seite der Achse ist 
aus starkem festem Eichenholz eine sich allmählich verschmälernde, 
ungefähr 2 Fuss über die Achse sich erhebende Erhöhung (Trag¬ 
bock) angebracht, die in eine Art von Sattel endet, der stark ge¬ 
polstert und breit und dazu bestimmt ist, sowohl beim Ausbeben, 
wie beim Transport das ganze Gewicht des Baumes zu tragen. Auf 
der vorderen Seite ist mit der Achse eine starke, 15 Fuss lange 
Deichsel verbunden und auf der entgegengesetzten Seite sind die 
Ringe angebracht, an welche die Pferde angespannt werden. So¬ 
bald der zu verpflanzende Baum so gut als möglich, ohne die Wur¬ 
zeln zu stark zu beschädigen, umgraben und respective ringsum 
bis auf die in die Tiefe gehenden Wurzel gelöst ist, wird derselbe 
mit der der Deichsel entgegengesetzten Seite an den Baum so dicht 
als möglich angeschoben. Nun stellt man die Deichsel aufrecht an 
den Baum empor und bindet* den Stamm des Baumes mit Stricken 
sowohl auf das Tragkissen, wie weiter oben einige Mal an die 
Deichsel an. Da wo der Stamm mit der Maschine auf diese Weise 
verbunden wird, muss er zuvor fest und dicht mit Emballage oder 
Bastdecken umwickelt werden, und die Befestigung selbst mit den 
Stricken muss sehr fest und solid gemacht werden, denn wenn dies 
versäumt wird und der Baum sich rühren kann, wird namentlich 
beim Verpflanzen im Frühjahre, wenn der Baum schon in Saft ist, 
die Rinde abgequetscht, so dass der Baum zum Verpflanzen un¬ 
tauglich wird. 

Gleichzeitig mit dem Befestigen des Stammes an das Tragkissen 
und die Deichsel, wird auch oben im Baume ein langer Strick befes¬ 
tigt, an dem nun nach der Seite der Deichsel zu, von 10—40 Mann, 
je nach derGrösse des Baumes, ruckweise gezogen wird, bis auch die 
unteren Wurzeln des Baumes sich lösen, so dass derselbe auf den 
Wagen zu liegen kommt, auf dem er nun durch Pferde bis zu der 
Stelle geschafft wird, wo für denselben schon das Pflanzloch ausge¬ 
graben ist. Mit Hülfe der oben befestigten Stricke wird dann der 
noch immer auf der Maschine liegende und befestigte Baum aufrecht 
in die Pflanzgrube gestellt und so viel Erde eingefüllt, dass er fest 
steht, bevor die ihn mit der Maschine verbindenden Stricke gelöst 
-werden. Ohne diese letztere Vorsichtsmassregel würde der Baum 
beim Ablösen von der Maschine sich rühren und die Rinde würde 
stark beschädigt werden. Hierauf wird die Maschine abgefahren 


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74 


und der Baum gepflanzt. Während der Operation des Einpflanzens 
muss derselbe von Arbeitern mittelst der oben befestigten Stricke 
gehalten, sowie so oft hin und hergezogen und Erde ein und unter 
gebracht werden bis er hoch genug steht, und der Stamm eine voll¬ 
kommen senkrechte Richtung besitzt, worauf die Erde überall gleich- 
mässig zwischen die Wurzeln eingefüllt wird. Beim Verpflanzen im 
Frühjahre erfolgt ein starkes Begiessen, beim Verpflanzen im Herbste 
ist das aber nicht nothwendig. Dass der Baum wieder genau nach 
den Himmelsgegenden gepflanzt werden müsse, wie er zuvor ge¬ 
standen, das ist eine viel verbreitete Ansicht und ich wurde sehr oft 
darüber befragt, — es ist aber nach meinen Erfahrungen ganz ohne 
Einfluss, ob man ihn wieder genau in der gleichen Richtung oder in 
beliebig anderer Richtung einpflanzt. Was von Einfluss ist, das ist 
das sorgfältigste Ausgraben der Wurzeln, sorgfältigste Befestigung, 
sorgfältiger Transport mit so viel Leuten als nothwendig sind, um 
die Krone des Baumes zu halten, dass diese während des Transpor¬ 
tes nicht leidet, sorgfältiges Ausbreiten der Wurzeln in der genügend 
weiten Pflanzgrube, sorgfältiges Einfüllen der Erde, das Einpflanzen 
in der Höhe, dass die obersten abgehenden Wurzeln gerade nur mit 
Erde bedeckt sind und endlich wiederholtes starkes Begiessen nach 
dem Einpflanzen im Laufe des ersten Frühjahrs und Sommers. 

Was die Maschine anbetrifft, so ist die grösste derselben nur für 
ganz grosse Bäume von mehr als i Fuss Stammdurchmesser zu em¬ 
pfehlen; für gewöhnliche grosse Bäume von Va Fuss Stammdurch¬ 
messer sind, wie wir schon erwähnten, die mittleren und die klein¬ 
sten Verpflanzmaschinen viel bequemer und besser geeignet. 

Mit der Maschine und ohne Ballen zu verpflanzende Bäume werden 
stets liegend transportirt. Die im Winter mit Frostballen zu ver¬ 
pflanzenden Bäume werden mit starken Lastschlitten, und wo es an¬ 
geht, aufrecht transportirt, da wo man aber zur Pflanzstelle zahlreiche 
Telegraphenleitungen passiren muss, wie dies bei uns der Fall war', 
da muss gleichfalls liegend transportirt werden, wozu man sich einen 
längeren und breit gebauten Schlitten einrichten lassen muss, wo, 
nachdem der Baum aufrecht auf den Schlitten gestellt ist, durch seit¬ 
lich einzusteckende feste, dicke Stangen, der Ballen vor dem Herab¬ 
rollen gesichert und hinten am Schlitten Stützen angebracht werden 
können, auf welche der Stamm gelegt und befestigt werden kann. 
Herr Hofgärtner Müller in Zarskoje-Sselo wendet die Winterpflanzung 
mit Frostballen gleichfalls seit einer Reihe von Jahren mit gutem 
Erfolge an. 

Die Bäume und deren Verwendung im Garten bestimmen vor¬ 
zugsweise den Charakter des letzteren, sei es, dass sie partien¬ 
weise als Hainpflanzung oder als Bosquetpflanzung, oder als Einzel¬ 
bäume angewandt werden. Um geschlossene, von Anfang an effekt¬ 
volle Partien zusammenstellen zu können, muss man besonders in 
einem öffentlichen Garten auch von Anfang an viel mehr Bäume 
pflanzen, als später stehen bleiben können. Das ist auch im Alexan¬ 
der-Garten in so hohem Maasse geschehen, dass später kaum der 




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zehnte Theil der jetzt zu Partien vereinigten Bäume bleiben darf. 
Die Sache der Aufsicht und Unterhaltung eines solchen Gartens 
ist es, sobald die Partien sich dichter schliessen, immer mehr und 
mehr einzelne Bäume fortzunehmen, so dass die stehen bleibenden 
Exemplare sich frei und natürlich entwickeln können. Versäumt 
man es, dieses rechtzeitig auszuführen, dann schiessen alle die zu 
dicht stehenden Exemplare zu hohen dünnen unten astlosen Bäumen 
empor, die ihreA eigenthümlichen Charakter gar nicht ausbilden 
können. 

In einem Klima, wie im St. Petersburger, wo es viel länger als in 
milderen Klimaten dauert, bis ein Baum zu einiger Stärke empor¬ 
wächst, da beobachtet man in den Garten-Anlagen im Allgemeinen 
viel zu viel Pietät gegenüber den Bäumen, man kann sich nicht ent¬ 
schlossen, die zu dicht stehenden zu lichten, oder die sich auf 
Kosten des Totaleffekts zu sehr verbreitenden Gruppen zu beschrän¬ 
ken, und bringt es dadurch schliesslich dahin, dass man in der gan¬ 
zen Anlage nur wenig schön entwickelte Bäume sieht, wie dies 
leider das Schicksal der meisten Park-Anlagen ist. Die ursprünglich 
in einen Garten angepflanzten grossen und starken Bäume sind 
mehr dazu bestimmt, der ganzen Anlage Halt- und Stützpunkte 
zu geben und einzelne Punkte herauszuheben. Später werden diese 
grossen starken Exemplare von den im jüngeren Alter gepflanzten 
überholt und diese letztere sind es, welche, durch entsprechende 
zeitige Lichtung, die Haine schöner einzelner Bäume und die 
Schattenpartien bilden müssen. Ein Garten, in welchem daher 
nicht rechtzeitig verständig gelichtet und aufgeräumt wird, muss 
bei sonst vollkommener Unterhaltung später den Eindruck der Ver¬ 
wilderung machen. 

In unserem ersten Artikel über den Alexander-Garten gaben wir 
ein kurzes Verzeichniss der für unser Klima wichtigsten Bäume. 

Jenem kurzem Verzeichnisse wollen wir diesmal noch eine Art 
und einige Formen nachtragen, die in unseren Gärten mit der Zeit 
eine sehr wichtige Rolle zu spielen bestimmt sind. 

Acer dascycarpum Ehrh ., (A. eriocarpum Mx.), ward von uns er¬ 
wähnt. Dieser herrliche Baum mit seiner weit ausgebreiteten Krone, 
seinen tief handförmig gelappten und unterhalb weisslichen Blättern, 
verdient es aber ganz besonders hervorgehoben zu werden. Der¬ 
selbe stammt aus Nordamerika und ist, wenn er erst einmal über 
die erste Jugend hinaus ist, noch unempfindlicher gegen unsere 
Winterkälte, als der gewöhnliche Berg-Ahorn (Acer platanoides 
L.). Derselbe hat nämlich bei der Anzucht bei uns im Norden die 
gleiche Eigenthümlichkeit, wie manches andere aus Nordamerika 
stammendes Holzgewächs. Aus Samen erzogen, leiden die üppigen 
Triebe, wie solche die 2- oder 3-jährige Pflanze bildet, von der 
Winterkälte, ebenso die der amerikanischen Wallnussbäume (Juglans 
cinerea u. nigra). Ist aber der Stamm erst gebildet und der Trieb ge¬ 
mässigt, dann leidetdieser prächtige Ahorn auch in den härtesten Win¬ 
tern nicht. Ferner sind von unserem gemeinen Bergahom , dem Acer 
platanoides einige Abarten für unsere Gärten von hohem Werthe. 


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Ueber die buntblättrigen Abarten haben wir in Bezug auf 
unser Klima noch kein vollgültiges Urtheil, denn es ist eine 
eigene, in der Natur tief begründete Erscheinung, dass die bunt¬ 
blättrigen Abarten imjner viel empfindlicher, als die grünen Stamm¬ 
arten sind. So halten z. B. Ulmen, Sommereichen bei uns sehr gut 
aus, die buntblättrigen Abarten derselben wollen aber unser Klima 
nicht ertragen, — denn buntblättrige Pflanzen sind solche, in denen 
eine Krankheitserscheinung (Umbildung des Chlorophylls) durch un¬ 
geschlechtliche Fortpflanzung mittelst Veredelung festgehalten 
wird. Dass aber solch ein krankhafter Organismus der Ungunst 
der äusseren Einflüsse weniger widerstehen kann als ein gesunder, 
das liegt ja in der Natur tief begründet, da verhalten sich unsere 
Pflanzen ganz wie die durch die Cultür verzärtelten Thierragen. — 
Wenn wir nach dieser Abschweifung zum Berg-Ahorn zurück¬ 
kommen, so haben wir zu erwähnen, dass von demselben in der 
allerneuesten Zeit eine Abart mit im jungen Zustande tief rothen, 
aber auch später immer noch röthlichen Blättern erzogen worden, 
der als Acer platanoides Schwedleri in den Gärten verbreitet ist und 
auch bei uns sich noch als vollkommen dauerhaft erwies. Als erster 
rothblättriger, bei uns ausdauernder Baum, hat diese Form einen 
hohen Werth für unsere Gärten. Auch eine Form mit geschlitzten 
Blättern des gemeinen Ahorn ist schön und dauerhaft. 

3. Sträucher. Mit wenigen Ausnahmen werden alle Sträucher 
ebenso sicher im Herbste, wie im Frühjahre gepflanzt. Nur einzelne 
zartere Sorten, wie gefüllte Rosen, immergrüne Berberitzen etc. 
pflanzt man besser im Frühjahre, als im Herbste. Wir geben in 
Nachstehendem ein kurzes Verzeichniss der wichtigsten im Alexan¬ 
der-Garten angepflanzten Sträucher. 

Amelanchier Botryapium DC. 10 — 15' hoher Strauch von dichtem 
Wuchs. Weisse, massenhaft erscheinende Blüthentrauben im ersten 
Frühjahre, süssliche, essbare, schwärzliche Beeren im Herbste. 
Stammt aus Nordamerika und eignet sich auch zu Hecken. 

Ampelopsis hederacea DC\ Der wilde Wein, als eine der besten 
holzigen Schlingpflanzen für unser Klima. Nordamerika.. 

Azalea pontica L . Die gelbblumige Azalea des Kaukasus hält bei 
uns noch gut aus, wenn sie gruppenweise in leichte moorige Erde 
gepflanzt und im Winter mit Laub eingedeckt wird. Der starke 
Wohlgeruch der Blumen zeichnet dieselbe ebenso sehr aus, wie deren 
nah verwandte Arten mit weissen, rosarothen und röthlichen Blu¬ 
men, die aus Nordamerika stammen, wie A. nudiflora L., A. calon- 
dulacea Mx., A. viscosa L. und die schöne, rothgelb blühende 
A. chinensis Lodd., letztere in Japan heimisch und etwas zarter. 

Die Berberitzen mit fallendem Laube sind im St. Petersburger 
Klima noch alle hart und nur in besonders ungünstigen Wintern 
frieren dieselben zumTheil zurück. Da ist die B. vulgaris L., oder die 
gemeine Berberitze mit ihren zahlreichen Abarten, unter denen für 
unsere Gärten als besonders schön hervorzuheben ist die Abart mit 
schwarzrothen Blättern (B. vulgaris atropurpurea), dann die Form 


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mit den röthlichen, gefurchten, sterilen Trieben und festeren klei¬ 
neren Blättern (B. vulgaris sulcata), und endlich die Form vom 
Amur (B. vulgaris amurensis), welche noch einmal so grosse Blätter 
als die Stammart besitzt. Von den Berberitzen mit immergrünen 
gefiederten Blättern (Mahonien) halten B. Aquifolium L., B. repens 
Lindl. und B. nervosa Pursh., alle drei aus Nordamerika, bei uns 
noch ganz gut aus. Dieselben sind als die einzigen immergrünen 
im St. Petersburger Klima noch dauerhaften Sträucher mit grossen 
schönen Blättern zu nennen. Bilden bei uns nur i—3 Fuss hohe, 
sich stark ausbreitende Sträucher, welche man in Gruppen oder ein¬ 
zeln frei in den Rasen pflanzt und im Winter mit Tannenreis deckt 
oder umsteckt, damit unsere Frühjahrssonne deren Laub nach gut 
überstandenem Winter nicht verderbe.— Von den gelbblumigen Ca - 
ragana- Arten Sibiriens, hier Akazien genannt, halten alle aus. Von 
ihnen ist C. arborescens Lam . als hoher Bosquet- und Heckenstrauch 
allgemein bekannt und verbreitet. Niedriger und weit schöner ist 
C. frutcscens DC. y von der eine grossblumige Abart (C. grandiflora 
hört.) und eine zweite Abart mit hängenden Zweigen (C. frutescens 
pendula) hochstämmig veredelt sehr zieren und auch im Alexander- 
Garten häufig vertreten sind. Man verwendet beide vorzugsweise 
als kleine Kugelbäume. Zu ähnlichem Zwecke dienen auch 2 klein¬ 
blättrigere Arten, Caragana pygmaea DC. und C. spinosa DC. 

Von Comus alba L. ist vorzugsweise die Form mit korallenrothen 
Zweigen zu empfehlen, namentlich da, wo man durch diesen rasch 
wachsenden Strauch Sibiriens schnell etwas decken will. 

Von Cotoneaster sind vorzugsweise C. laxiflora Lindl. mit schwar¬ 
zen Beeren und C. vulgaris Lindl. mit rothen Beeren, beide in Eu¬ 
ropa und Asien heimisch, als niedrige Sträucher für unser Klima zu 
empfehlen. — Aus der Gattung Cytisus ist der in den Gärten West- 
Europa’s viel verbreitete C. Laburnum für das St. Petersburger 
Klima schon zu zart, dagegen halten von den Arten von niedrigem 
Wuchs C. austriacus L., C. capitatus Jacq. y C. elongatus W. et K., 
C. hirsutus L etc., alle in dem mittleren Europa heimisch, noch 
ganz gut aus, nur C. nigricans L. und C. sessilifolius L. frieren jähr¬ 
lich zum Schnee ab, blühen dann aber noch ganz gut. — Diervilla 
(Calyptrostigma) Middendorffiana Trautv. et Mey aus dem nord¬ 
östlichen Sibirien, ist einer unserer schönsten harten Blüthen- 
sträucher, mit grossen gelblichen, röthlich gezeichneten Blumen. 
Aus der Gattung Elaeagnus ist nur der E. argenteus Pursh . mit 
silberweissen Blättern, aus Nordamerika, bei uns noch als ganz 
hart zu empfehlen. — Evonymus europaeus L. und E. verrucosus Scop . 
sind 2 schöne hohe Sträucher, die im Herbste massenhaft schöne ro- 
the Früchte tragen. — Genista tinctoria L., in den Gärten meist als 
G.sibirica verbreitet, ist ein niedriger, reich goldgelb blühender Strauch 
Europa’s und Sibiriens. — Hippophae rhamnoides L. t mittelhoher 
Strauch, der im Geschiebe der Flüsse Europa’s und Sibiriens wächst, 
und der mit seinen graugrünen, schmalen, weidenartigen Blättern 
und den gelben essbaren Beeren im Herbste einen sehr guten Effekt 


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im öarten macht. — Lotticera alpigena Z. (Schweiz), Z. chrysantha 
Turcz . (Dahurien), L. caerulea L. (Sibirien), Z. Maximowiczi Rupr . 
(Mandschurei), L. Kuprechtiana RgL (Mandschurei), Z. tatarica 
Z. (Südliches- Sibirien und Russland), Z. Xylosteum Z. (Europa), 
sind alles schöne nicht schlingende Geisblatt-Arten, die in St. Pe¬ 
tersburg gut aushalten. Die schönste Art unter ihnen ist das 
hoch und rasch wachsende tatarische Geisblatt, mit weissen, 
blassrosa, rothen und dunkelrosarothen Blumen, die massen¬ 
haft erscheinen und dasselbe zu einem der schönsten Blüthen- 
sträucher unserer Gärten stempeln. Z. Caprifolium Z. und Z. Perl- 
clymenum Z. dagegen sind die beiden allbekannten und beliebten 
halb schlingenden Geisblattarten mit wohlriechenden Blumen aus 
Mitteleuropa. Noch härter als diese beide Arten ist das gleichfalls 
schlingende, gelbblumige Geisblatt Nordamerika^, di z Lonicerapubes- 
eens Sweet — Philadelphus , gewöhnlich wegen des starken Wohl¬ 
geruchs der Blumen «Jasmin» genannt, gehört zu den beliebtesten, 
noch dauernden Sträuchern, und zwar halten sowohl die Formen des in 
Europa, Asien und Nordamerika heimischen Pk. coronarius L (P. 
nanus Mill., P. floribundus Schrad., P. hirsutus Nutt., P. latifolius 
Schrad., P. tenuifolius Maxim., P. Schrenki Rupr., P. Satsumi 
Sieb.), wie die, von dem ausschliesslich in Nordamerika vorkom¬ 
menden Ph. grandiflorus Willd. abstammenden Abarten (P. inodorus 
L., P. laxus Schrad., P. speciosus Schrad., P. Gordonianus Lindl.) 
bei uns aus, verlangen aber doch einen wasserfreien Boden und 
geschützten Standort. — Potentilla fruticosa Z., die von den Steppen 
Russlands durch Sibirien nach Nordamerika reicht, mit ihren Ab¬ 
arten und den, den ganzen Sommer hindurch unaufhörlich erschei¬ 
nenden Blumen, gehört zu den empfehlenswerthesten niedrigen 
Sträuchern unserer Gärten. Ihr schliesst sich die weissblumige Poten¬ 
tilla des Altai (P. glabra Lodd.) würdig an. — Rhamnus catharticus 
L. und R. Frangula Z. bewohnen Europa und Sibirien und sind 
besonders für Stellen, wo andere Sträucher nicht mehr wachsen 
wollen, wie z. B. unter Bäumen, als noch gut gedeihend zu empfeh¬ 
len.— Von den zahlreichen Ribes-Arten gedeihen leider die schönsten 
mit rothen Blumen im St. Petersburger Klima nicht mehr; von der 
schwarzen Johonnisbeere (R. nigrum) sind nur die Abarten mit ge¬ 
flecktem oder geschlitztem Laube für den Ziergarten zu empfehlen; 
R. alpinum Z., in Sibirien und Europa heimisch, ist gut zur Anpflan¬ 
zung unter Bäumen. R. aureum PursA., aus Nordamerika, mit gold¬ 
gelben Blüthentrauben, R. floridum Ü Her., aus Nordamerika, und 
R. petraeum Jaq . (Europa); letztere beide mit röthlichen Blumen, 
sind aus der Gruppe der Arten mit Blüthentrauben, als schöne zur 
Anpflanzung zu empfehlende Arten, zu nennen, — während alle 
Arten aus der Gruppe der Stachelbeeren keinerlei Werth für den 
Ziergarten haben. — Die Gattung Rosa enthält eine Masse von Arten*. 
Unter denselben sind die folgenden für unsere Gärten im Freien 
vorzugsweise zu empfehlen und auch im Alexander-Garten vielfach 
angepflanzt. Die dunkelrothe und grossblumige einfache Abart von 


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R.gallica Z. macht, als Pflanze der Bosquetränder verwendet, einen 
bedeutenden Effect und ist bei uns durchaus hart. Ebenso schön 
und gleichfalls hart sind deren gefülltblumige Abarten, besonders für 
Blumengruppen zu empfehlen. Die gefüllten Abarten der in Europa 
heimischen./?. tf/&*Z., die alsR.Maidenblush undR.unica bekannt sind, 
und die gefüllt blühende Abart der R. cinnamomeaL.{ Europa) sind bei 
uns noch ziemlich hart. Die gefüllten Abarten der R. damascena Z. 
und R. centifolia L ., beide aus dem Orient, können bei uns nur 
wurzelecht angepflanzt werden, und verlangen im Winter Schutz 
durch Deckung des Bodens mit Laub und Ueberdeckung der 
Gruppen mit Tannenreis. Ferner ist als hart zu nennen die Ab¬ 
art mit schwefelgelb gefüllten Blumen der R. sulphurea Ail, 
(Orient), welche als R. Persian yellow bekannt ist. Von der 
im Westen Europa's und im Kaukasus heimischen R . gallica L . 
sind die Abarten mit dunkelrothen, grossen, einfachen Blumen 
und dann die zahlreichen gefüllten Sorten für unser Klima vor¬ 
zugsweise zu empfehlen. R. nitida MUL (Neufundland) ist eine 
hübsche, einfach rosaroth blühende Sorte mit glänzend grünen Blät* 
tern. R. pimpinellifolia Z., in Europa und Sibirien heimisch, wird 
nur 2—3 Fuss hoch, und sind von derselben besonders die gefüllt 
blühenden Sorten mit weissen und rosarothen Blumen zu empfehlen. 
R . rubrifolia VilL , im westlichen Europa heimisch, hat einfache 
rosenrothe Blumen, dagegen sind die Formen mit dunkelrothen 
Blättern ausserordentlich schön als Dekorationspflanzen am Rande 
von Gebüschen. R. rugosa Thbg . (Japan), schön wegen des dichten 
Wuchses und prächtigen Laubes, ist sowohl als einfach, gross rosa¬ 
roth blühende Stammform, wie besonders auch als gefülltblumige 
Abart für unsere Gärten geeignet als ganz harte schöne Sorte. — 
Aus der Gattung Rubus sind R. odoratus Z., rothblühend, und R. 
nutkanus Mogin , weissblühend, beide aus Nordamerika, als schöne 
Blüthensträucher zu nennen. — Unter den Strauchweiden sind Salix 
angustifolia W., S. Lapponum Z., S. repens Z., S . rosmarinifolia Z., 
alles niedrige* in Europa heimische Arten mit weisslichen Blättern, 
— und S. purpurea Z. und S. undulata Ehr/t. sind unter den höhei 
wachsenden Strauchweiden die decorativesten, und deshalb am mei¬ 
sten zu empfehlen. Alle andere Sorten sehr zu beachten, als ausser¬ 
ordentlich schnell wachsend, wo hässliche Gegenstände gedeckt 
werden sollen. — Sambucns nigra L. und S. racemosa Z., beide in 
Europa heimisch, werden bis 12 Fuss hoch und sind von sehr raschem 
Wüchse. Die Erstere besitzt mehrere schöne Abarten mit geschlitz¬ 
ten und bunten Blättern, welche aber wie die Stammart im Winter 
meist bis zum Schnee abfrieren, dann aber wieder austreiben und 
noch üppige Sträucher bilden. S. racemosa ist viel härter und ziert 
im Herbste durch seine rothen Beeren. Als Hochstamm mit Krone 
gezogen ist derselbe eine wahre Zierde unserer Gärten. Sambucus 
canadensis Z., aus Nordamerika, ist fast ebenso hart als S. racemosa, 
und als schnell wachsender Strauch sehr verwendbar. 

Die meisten schönen Blüthensträucher, welche bei uns vollständig 


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hart sind, bietet für unsere Gärten die Gattung Spiraea . Als 
rothblühende in St. Petersburg harte Arten derselben nennen 
wir Sp. salicifolia L. (Europa, Sibirien), Sp. Douglasi Hook, und 
Sp. tomentosa L. aus Nordwestamerika, sowie Sp ., callosa Thbg. 
aus Japan. Zwischen diesen Arten sind eine Masse von For¬ 
men erzogen worden, die wir zu den unbedingt dankbarsten 
und am schönsten blühenden Ziersträuchern unserer Gärten 
rechnen; theils werden diese als Formen der obenerwähnten Ar¬ 
ten aufgeführt, theils finden sich solche in den Gärten als Sp. exi- 
mia, Billardieri, bethlemensis, Lenneana, semperflorens, Regeliana 
etc. verbreitet. Als weiss oder fleischfarb blühende, bei uns 
ausdauernde Spiraea-Arten nennen wir noch Sp. acuttfolia Willd 
Sp. alba Dur., Sp. amurensis Max., Sp. cana W. et K., Sp. carpini- 
folia Willd., Sp. chamaedryfolia L., Sp. confusa Rgl. et Körn., Sp. 
crenata L., Sp. laeyigata Z., Sp. opulifolia Z., Sp. sorbifolia L., Sp. 
Pallasi Rgl. und Sp. trilobata Z., alle in Europa oder Sibirien hei¬ 
misch und schön und reich blühende Arten. — Symphoricarpus race - 
tnosus Mich., aus Nordamerika, ist ein niedriger hübscher Strauch, 
der im Herbste weisse Beeren trägt. — Von den Syringa-Arten ist 
nur 5 . vulgaris L. (Südeuropa und Persien), mit ihren zahlreichen 
schönen Abarten ünd S. Josikaea Jacq. aus Ungarn, bei uns noch 
dauerhaft Namentlich die erstere ist als beliebtester Zierstrauch 
bei uns in die meisten Gärten eingewandert und wird auch schon 
von Bauern gepflanzt und zum Verkauf auf den Markt gebracht. 
— Endlich erwähnen wir noch Vibumunt' Lantana L. (Europa), 
V. Opulus Z. (Europa), V. Oxycoccos Pursk. (Nordamerika), und 
V. Lentago L. (Nordamerika) als schöne, bei uns ausdauernde, 
mittelhohe Ziersträucher. Von V. Opulus ist die Abart, welche vor¬ 
zugsweise als Schneeballen bekannt ist (V. Opulus roseum), bei uns 
etwas zärtlicher, hällt aber auf geschütztem Standorte noch gut aus. 

4. Perennirende Stauden. Die Zahl der im St. PetersburgerKlima 
noch aushaltenden perennirenden, schönblühenden und dekorativen 
Stauden ist unverhältnissmässig grösser, als die der Holzgewächse, 
da bei uns mit wenigen Ausnahmen noch alle jene Arten gedeihen, 
welche im westlichen mittleren Europa im freien Lande aushalten. 
Der Grund davon liegt in der Art ihres Wachsthums. Im Winter 
sterben meist deren oberirdische Stengel ganz ab, und der Wurzel¬ 
stock im Boden, oder selbst auch deren niederliegende perennirende 
Stengel finden bei uns in Folge der beständigen Schneedecke einen 
genügenden Schutz, so dass bei uns sogar manches schöne Pflänz¬ 
chen der Alpen und Sibiriens besser gedeiht, als im westlichen 
Europa. Als ein schlagendes bekanntes Beispiel der Art ist die 
Cultur der grossfrüchtigen Erdbeeren zu nennen, welche in so gross¬ 
artigem Maassstabe, wie um St. Petersburg, fast nirgends betrieben 
wird. Dessjatinenweise sieht man um St. Petersburg freie Felder 
mit dieser Staude bepflanzt, während die gleiche Pflanze in bedeu¬ 
tend milderen Klimaten im Winter viel häufiger und viel mehr lei¬ 
det, als das um St. Petersburg der Fall ist. Und doch sind es kaum 


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8i 


io Jahre her, als auf den Feldern um St. Petersburg noch keine der 
neueren grossfrüchtigen Erdbeeren gezogen, und diese nur in gerin¬ 
ger Anzahl in einzelnen Gärten angebaut wurden. 

So ist es jetzt auch noch mit der grossen Anzahl der schönblü¬ 
henden Stauden, die, obgleich sie als ausdauernd den bleibenden 
Schmuck der Gärten bilden, doch bis jetzt nur in einzelnen Gärten 
in grösserer Zahl Eingang gefunden haben, so z. B., wenn wir die 
reichen Stauden-Sammlungen des Kaiserlichen Botanischen Gartens 
ausschliessen, in dem hinter Oranienbaum gelegenen Garten des 
Präsidenten der Kaiserlichen Gartenbaugesellschaft, Reichscontro- 
leur S. A. Greigh, wo sich jetzt eine der vollständigsten und reich¬ 
sten Sammlungen von Stauden befindet, welche dem Garten vom 
Frühjahre bis zum Spätherbste zur schönsten Zierde gereichen. 

Auch im Alexander-Garten, ist, wie wir oben schon erwähnten, 
in der Steinpartie an dem Hügel eine Sammlung von Stauden ange¬ 
pflanzt, und den ganzen Sommer hindurch sieht man einzelne Garten¬ 
freunde sich dort Notizen machen; so dürfte der Alexander-Garten 
einen wichtigen Anstoss zur Verbreitung der schöneren Holz¬ 
gewächse und Stauden in den Gärten unserer Gartenfreunde geben, 
wodurch die bis jetzt in den kleinern Gärten herrschende Eintönig¬ 
keit allmählich verschwinden dürfte. 

5. Grasplätze. Vom Publikum sind die schönen, frisch grünen 
Rasenplätze des Alexander-Gartens besonders bewundert worden. 
Ein schöner, den ganzen Sommer hindurch schwellender, grüner 
Rasenplatz ist eine der grössten Zierden eines gut gehaltenen Gartens, 
und die Frage, wie die Rasenplätze des Alexander-Gartens angelegt 
seien, ist wohl hundert Mal an mich gerichtet worden. 

Es handelt sich da um: richtige Auswahl der für unser Klima 
geeignetesten Gräser, richtige Vorbereitung des Bodens und sorg¬ 
fältige Pflege. Das sind die drei Faktoren, durch deren Zusammen¬ 
wirken ein ausdauernder, frisch grüner Rasenplatz nur allein unter¬ 
halten werden kann. 

In England, - dessen grüne Rasenplätze besonders bewundert 
werden, benutzt man das Raygras (Lolium perenne L.) zur Bildung 
derselben, und von dort aus hat sich dasselbe zum gleichen Zwecke 
über den grössten Theil des westlichen mittleren Europa^ verbreitet. 
In St. Petersburg wintert dasselbe aber aus. Trotzdem benutzte man 
es aber früher und noch vor 18 Jahren auch im Kaiserlichen Botani¬ 
schen Garten zur Anlage einzelner Rasenplätze, die vorzugsweise 
schön gehalten werden sollten. Das aber hat zwei Uebelstände, die 
darin bestehen, dass einmal, derartige Rasenplätze jährlich im Früh¬ 
jahre umgegraben werden und neu besäet werden müssen, und dann, 
dass im ersten Frühjahre, wo man sich am meisten über das erste 
frische Grün freut, die Rasenfläche braun und traurig daliegt. 

In grösseren Anlagen fand ich damals das Lieschgras (Phleum 
pratense L.) als einziges Gras zur Bildung dauerhafter Rasenplätze 
angewendet« Dauerhaft ist dieses Gras in unserem Klima allerdings; 
es bildet auch dichte feste Rasen, aber nach dem Schneiden be¬ 
kommt es, bis frische Blätter gebildet sind, eine um so stärker 

Bum. Berne. Bd. YU. 5 

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82 




röthliche Färbung, je höher es geworden. Dagegen hat das Liesch¬ 
gras den Vorzug, dass es im Frühjahre von allen unseren Gräsern am 
ersten grünt. Um es daher für einen dauerhaften stets frisch grünen 
Rasenplatz nutzbar zu machen, kam es darauf an, dasselbe mit 
einem feinen dauerhaften Gras vermischt auszusäen. In dieser 
Beziehung wurden verschiedene feinere Gräser probirt, und schliess¬ 
lich stellte sich (Jas Wiesenrispengras (Poa pratensis L.) als das geeig¬ 
neteste zu diesem Zwecke heraus. Auch die Rasenplätze im Ale¬ 
xander-Garten sind aus diesen beiden Gräsern gebildet. 

Vor der Aussaat muss der zu einem Rasenplatz bestimmte Platz tief 
umgegraben und gut gedüngt werden. Dann muss die Oberfläche 
gut geebnet und so gelegt werden, dass dieselbe eine leichte Anschwel¬ 
lung zeigt, denn nur derartig angelegte Rasenplätze präsentiren sich 
- dem Auge in der gefälligsten, sogenannten schwellenden Weise. 
Bei der Aussaat wird der viel gröbere Samen des Lieschgrases 
zuerst und nicht gar zu dicht und gleichmässig ausgesäet und darauf 
mit Rechen eingehackt. Nachdem dies geschehen, wird der Samen 
vom Rispengras darüber ausgesäet, und darauf nur der Rasenplatz 
mit dem Rechen gut geebnet, wodurch dieser feine Samen tief 
genug in den Boden kommt. Ist der Boden nass, so wird er, nachdem 
er abgetrocknet, erst mit einer hölzernen Walze gewalzt; bei der 
Aussaat im Herbste walzt man daher erst im folgenden Frühjahre beim 
Eintritt trockenen Wetters. Ist der Boden aber trocken, so wird sofort 
nach der Aussaat gewalzt oder mit einem Brettstück festgestampft. 

Das Lieschgras geht stets zuerst auf und erst im Schutze dessel¬ 
ben erscheint später das Rispengras. 

Mit dem jungen Gras erscheinen aber auch gleichzeitig verschie¬ 
dene Unkräuter. Wer deshalb einen schönen Rasenplatz herstellen 
will, muss auf frisch ausgesäeten Rasenplätzen die Unkräuter 
mehrmals wie auf einem Blumenbeete mit der Hand ausziehen, und 
die grossen Wurzeln sogar mit kleinen Handspaten vorsichtig, ohne 
die Grasnarbe zu sehr zu beschädigen, ausstechen lassen. 

Die fernere Pflege besteht im Reinhalten von Unkräutern, häu¬ 
figen Schneiden des Grases, nämlich wenigstens alle 14 Tage ein¬ 
mal und wo es nur einigermassen möglich, in starkem Ueberspritzen 
des Rasenplatzes bei trockenem Wetter. 

Zum Schneiden empfehlen sich am meisten die Grasmähmaschi¬ 
nen, denn bei der Sense gehört schon ein sehr geschickter Arbeiter 
dazu, wenn man nach dem Mähen die Sensenstriche nicht sehen, 
oder wenn nicht hier und da die Sense zu tief greifen soll, wodurch 
hässliche Stellen im Rasenplatz erzeugt werden. Mit einer guten 
Mähmaschine kann dagegen Jeder arbeiten und die Arbeit wird 
stets so gleichmässig, dass der Rasen jenes schöne sammetartige 
Aussehen erhält; — doch darf man das Gras nicht zu hoch werden 
lassen, sondern muss es, je nach dem Wetter, alle 8—14 Tage 
schneiden und auch die Maschine so stellen, dass das Gras nicht 
zu kurz geschnitten wird. Nicht alle Mähmaschinen sind aber gut. 
Im Alexander-Garten wurden mehrere geprüft, aber nur eine ame¬ 
rikanischer Construction, welche wir durch die Samenhandlung von 


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«3 


J. Siem in der Karawannaja in St. Petersburg bezogen, zeigte sich 
in ihren Leistungen untadelhaft und als sehr leicht im Gebrauche 
zu handhaben. Zu bemerken ist noch, dass der erste Schnitt mit 
einer Mähmaschine, wenn das Gras noch ungleich lang, stets 
schwieriger, der zweite Schnitt aber bedeutend leichter ist, und dass 
nach dem Schneiden das feine Gras mit einem Besen vom Rasen¬ 
platz abgefegt werden muss. Ein gründliches Begiessen der Rasen¬ 
plätze bei trockenem Wetter ist allerdings nicht überall möglich. 
Im Alexander-Garten sollen zu diesem Zwecke noch Röhren der 
Wasserleitung gelegt werden; man braucht dann nur Schläuche 
anzuschrauben, um die Rasen gründlich bespritzen zu können. 
Dass der Rasen sich daselbst im verflossenen Jahre so gut hielt, 
hatten wir dem feuchten Sommer zu danken. Ohne Vorrichtungen 
für das Begiessen ist bei anhaltend trockenem und heissem Wetter 
ein stets grüner Rasen im Sommer nicht zu unterhalten und in diesem 
letzten trockenen Sommer waren denn auch die Rasenplätze des 
Alexander-Gartens ziemlich gelb; denn während alle Strassen St. 
Petersburgs überspritzt werden können, ist dies im Alexander-Garten 
leider noch nicht der Fall. 


Kleine Mittheilnngen.. 


(Zur Statistik des Eisenbahnverkehrs in Russland.) 
Für die internationale geographische Ausstellung, welche am 4./16. 
Juli d. J. eröffnet wurde, hat der Verf. im statistischen Departement 
des Ministeriums der Communicationen auf Grund der, den Eisen¬ 
bahngesellschaftsberichten entnommenen Daten; zwei Kartogrammen 
ausgeführt, welche für das Jahr 1873 und die hauptsächlichsten Orte 
Russlands die eine: den Waarenumsatz im Eisenbahnverkehre, die an¬ 
dere: die Zahl der abreisenden Passagiere darstellen. — Da diese 
zum ersten Male berechneten Zahlen überhaupt von Interesse sind, 
ihre Veröffentlichung auf gewöhnlichem Wege, wenn überhaupt, nur 
sehr spät erfolgt, so theilen wir vorläufig einige davon mit. 

Die Betriebslänge der russischen Bahnen betrug im Jahre 1873: 
13,625,49 Werst oder 14,538,40 Kilometer (nicht mit eingerechnet 
sind die Bahnen von Ssewastopol, Liwny, Pawlowsk, Bolderaa und 
diejenigen von Finland); dieselben berührten 808 verschiedene Orte. 

Der Umsatz an Frachtgütern, solcher ausschliesslich, welche neu 
aufgegeben oder den Adressaten abgeliefert wurden, betrug 


mehr als 5 Mill. Pud ..an 47 Orten 

» » 3 » » und weniger als 5 Mill. Pud >37 » 

>>2»»» » »3» »*50» 

• »1*»» > » 2 > » • 97 » 

* * 1 1 * * 577 * 


Mehr als 5 Millionen Pud hatten folgende 47 Orte (s. die Tabelle 
auf Seite 84). 6 # 


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84 

Waarenverkehr 


Mt 


2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

15 

16 

17 

18 

19 

20 
21 
22 

23 

24 

25 

26 

27 

28 

29 

30 

31 

32 

33 

34 

35 

36 

37 

38 

39 

40 

4 1 

42 

43 

44 

45 

46 

47 


Rane der Ortschaften I Ab 8« #Bdt A,R * ko “" en 

Pud_Pud_Pud 


Moskau. 33 » 7 6 7 » 3 i 5 151.402,071 185,169,386 

St. Petersburg. .. . 22,051,354 56,546,041 78 , 597.395 

Ssossnowitze. 32,470,340 32,610,643 65,080,983 

Odessa. 11,686,903 43,011,841 54,698,744 

Warschau. 12,400,835 31,873,395 44,274,230 

Orel. 22,207,828 20,092,766 42,300,594 

Riga... . 9 . 815,575 22,204,540 32,020,115 

Wirballen . . ~ . 4,082,013 18,050,219 22,132,232 

Rybinsk . ...... 18,598,531 2,528,556 21,127,087 

Zarizyn. 17,956,083 2,710,049 20,666,132 

Nishnij-Nowgorod. . 13 > 7 6 7 , 53 ° 5 . 395.404 19,162,994 

Rostow am Don. . . 3,538,722 14,881,366 18,420,088 

Grjasy. 1,697,814 15,868,200 17,566,014 

Koslow. 8,600,253 5,875,431 I4,475, 6 84 

Kijew. 4,224,980 9,294,296 13,519,276 

Charkow. 3,697,472 9,326,427 13,023,899 

Ssaratow. 5,013,450 7,681,308 12,694,758 

Taganrog. 2,222,233 9,944,336 12,166,569 

Wolotschisk. 4,678,692 7,754,882 12,133,574 

Woronesh. 6,517,507 5.579.726 12,097,233 

Donskaja. 1,002,912 10,499,340 11,502,252 

Kursk.. . 5 . 330.943 5,635,839 10,966,782 

Sserpuchow. 6,922,171 2,420,630 9,342,801 

Alexandrow. 6,624,705 2,683,909 9,308,614 

Wilna. 4,290,2 76 4,832,837 9,123,118 

Dünaburg. 3.500,673 5 ,i 7°>557 8,671,230 

Twer. 5.040,330 3 , 133.396 8,173,726 

Rjasan. 6,525,386 1,640,979 8,166,365 

Reval. 3,474,787 4,449,178 7,923.965 

Brjansk. 4,567,772 3,283,267 7,851,039 

Brest-Litowsk. . . . 2,941,272 4,472,155 7,413,427 

Lodz. 425,396 6,813,574 7,238,970 

Werchowje. 3.500,354 3,401,875 6,902,229 

Jarosslaw. 4,772,078 2,081,957 6,854,035 

Iwanowö. 710,333 6,111,479 6,821,812 

Tula. 3,261,876 3,516,410 6,778,286 

Orjechow. 644,303 5 , 994,304 6,638,607 

Schachtnaja. 6,169,798 266,491 6,436,289 

Krementschug. . . . 4,672,630 1,762,695 6,434,725 

Skopin. 4,851,873 1,476,190 6,328,063 

Koljuschky. 599 ,101 5,688,010 ' 6,287,111 

Morschansk. 4 , 657,751 1,298,389 5,956,140 

Radziwillow. 1,694,612 4,146,99 6 5,841,608 

Reschetnikow. . . . 5,654,328 135,566 5,789,894 

Ssergijewa-Lawra. . 4,878,504 777,96O 51656,464 

Poltawa. 1 , 751,957 3,830,862 5,581,919 

Kischmew. 3,398,412 2,024,754 5,423,166 


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85 


Passagierverkehr 


je 

Hanen der Ortschaften 

Zahl der abreisenden F 

inl.u. n. Kl. | in HI. u. IV. Kl. 

assagiere 

überhaupt 

I 

Moskau. 

3 ".343 

1,592,611 

1 , 903,954 

' 2 

St. Petersburg . . . 

253,530 

796,683 

1,050,213 

3 

Warschau.. 

118,442 

383,300 

501,742 

4 

Charkow.'. . 

85,399 

174,807 

260,206 

5 

Riga. 

40,496 

218,587 

259,083 

6 

Odessa.. 

61,632 

194,332 

255,964 

7 

Rostow am Don . . 

48,226 

204,190 

252,416 

8 

Kursk. 

35,127 

192,569 

227,696 

9 

Orel. 

35,682 

181,875 

217,557 

IO 

Ssergijewa-Lawra. . 

20,378 

185,993 

206,371 

II 

Wilna. 

46,219 

147,092 

I 93 , 3 t» 

12 

Kijew. 

47,964 

144,228 

192,19 2 

»3 

Dünaburg. 

21,637 

ti 9,387 

141,024 

>4 

Oranienbaum .... 

34,991 

97,929 

132,920 

15 

Taganrog. 

25,379 

106,444 

131,823 

16 

Nowo-Tscherkask . 

27,071 

101,850 

128,921 

17 

Koslow. 

12,89t 

" 5,557 

128,448 

18 

Shmerinka. 

31,442 

95.526 

126,968 

*9 

Mitau. 

16,525 , 

107,767 

124,292 

20 

Jarosslaw. 

12,219 

108,104 

120,323 

21 

Rjasan. 

12,256 

101,986 

114,242 

22 

Kischinew. 

17,163 

89.398 

106,561 

23 

Nishnij-Nowgorod . 

20,752 

83,373 

104,125 

24 

Gatschina. 

25,070 

77,882 

102,952 

25 

Grjasy. 

10,657 

91, 43 1 

102,088 

26 

Ssmolensk. 

",974 

87,370 

99,35» 

27 

Tula . . . .. 

18,812 

77 , 8 i 4 

96,626 

28 

Skemewice. 

19,098 

76,504 

95,602 

29 

Piotrkow. 

14,760 

80,836 

.95,596 

30 

Jelissawetgrad. . . . 

20,511 

75,019 

95,530 

31 

Ssossnowitze. 

33,962 

61,101 

95,063 

32 

Minsk. 

17,771 

76,939 

94,700 

33 

Chotkowo. 

7,"7 

85,271 

92,388 

34 

Sserpuchow. 

7,776 

84,298 

92,074 

35 

Poltawa. 

25 , 95 i 

64,223 

90,174 

36 

Kolpino ....... 

12,582 

77,222 

89,804 

37 

Brest.. 

17,969 

70,245 

88,214 

38 

Wladimir. 

6,973 

79,582 

86,555 

39 

Puschkino. 

20,268 

66,025 

86,293 

40 

Alexandrow. 

19,976 

66,168 

86,134 

41 

Berditschew. 

22,532 

I 62,640 

85,172 

42 

Neu-Peterhof .... 

26,530 

57,481 

84,011 

43 

Rjäschsk. 

8,084 

1 75,899 

83,983 

44 

Strelna. 

20,100 

1 62,235 

82,335 

45 

Krassnoje-Sselo . . 

20,205 

I 62,018 

82,223 

46 

Bjelostok .. 

7,863 

73,057 

80,820 

47 

‘Tschenstochow . . . 

14,665 

65,645 

80,310 

48 

Tambow. 

12,314 

67,948 

80,262 

1 


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86 


In Bezug auf Abgang und Ankunft der Wäaren vertheilen sich die 
Stationen wie folgt: 

Abgang Ankunft 


unter 500,000 Pud. 538 665 

von 500,000 bis 1,000,000 Pud . . 94 56 

» 1,000,000 » 2,000,000 » . ♦ 93 38 

» 2,000,000 » 3,000,000 » . . 37 12 

» 3,000,000 * 5,000,000 -* . . 26 12 

* 5,000,000 * 10,000,000 » . . 11 14 

über 10,000,000 Pud . 9 n 


Derjenige Theil Russlands, in welchem Eisenbahnen den Verkehr 
vermitteln, kann wohl als begrenzt betrachtet werden durch: 1. die 
Wolga, 2. die Ostsee, 3. die westliche Landesgrenze, und 4. das 
Schwarze Meer mit dem Asow’schen Meere. 


Die auf diese Linien kommenden Eisenbahnstationen weisen, für 
jede Linie summarisch genommen, folgende Waarenbewegung auf: 


Abgang 

1. Wolga (Twer, Rybinsk, Jarosslaw, Kineschma, 

Nishnij-Nowgorod, Ssaratow, Zarizyn).69,008,5 II 

2 . Ostsee (St. Petersburg, Reval, Bald sch-Port, Riga, 

Libau) . .. ... . .*36,582,081 

3. Landesgrenze (Wirballen, Grajewo, Alexandrow, 

Graniza, Ssossnowitze, Radziwillow, Wolotschisk) . 5^,690,284 

4. Schwarzes Meer mit dem Aso w’schen Meere 

(Odessa, Nikolajew, Taganrog, Rostow mit dem Ha¬ 
fen von Gnilow) . . . •.17,771,684 


Ankunft 

23,887,145 

87,482,768 

67,252,761 

72,418,742 


Die Stationen der Linien 2.—4. haben empfangen 227,154,271 
Pud, welche vom Innern Russlands kamen und von denen ein Theil 
ins Ausland ging; dieselben Stationen haben ins Innere 107,044,049 
Pud abgefertigt, von denen ein Theil vom Auslande ankam. 

Der Gesammtumsatz der bezeichneten vier Grenzlinien mit dem 
von Moskau zusammengenommfen, macht 42 pCt. des Gesammtum- 
satzes der russischen Bahnen (1,455,024,607 Pud) aus. 


Mit neu gelösten Fahrkarten sind abgereist: 


mehr als 80,000 Passagiere , 



von 

48 Orten 

» » 50,000 und weniger als 80,000 Passagiere 

» 

22 » 

* » 25,000 » » 

* 50,000 

9 


80 » 

» » 10,000 » » 

* 25,000 

» 

> 

»55 » 

» > 5,000 » » 

» 10,000 

» 

» 

200 » 

» 

» 5,000 

» 

» 

303 » 


Mehr als 80,000 Passagiere weisen folgende 48 Orte auf (s. die Ta¬ 
belle auf Seite 85). 


A. Stein. 


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8 7 


Literaturbericht. 


Die völkerrechtliche Bedeutung der Congresse. Akademische Abhandlung von Witold 
Zateski , Mag. dipl. Dorpat 1874. 76 S. und 5 Thesen. 

Einzelne der bedeutenderen Congresse von internationalem Cha¬ 
rakter. sind Gegenstand besonderer Monographien gewesen; die 
rechtliche und speciell also völkerrechtliche Bedeutung derselben 
innerhalb der ganzen Reihe von internationalen Congressen wurde 
aber nicht genügend, oft gar nicht hervorgehoben, im Gegentheil, 
diese Monographien über einzelne Congresse behandeln mehr die 
politischen Unterhandlungen, geben hier die Motive an und liefern 
überhaupt mehr der Geschichte im Allgemeinen, als speciell der des 
Staatenrechts^ Unter solchen Umständen kann das Unternehmen des 
Hm. Zatgski, sich an jenes genannte Thema gemacht zu haben, nur 
bewillkommnet werden. — Ehe wir nun zu einer Beurtheilung des¬ 
sen übergehen, wie er sich seiner Aufgabe gewachsen gezeigt, und 
in wie weit er den von ihm behandelten Gegenstand durch seine 
Abhandlung gefördert hat, geben wir eine kurze Uebersicht über 
den Inhalt des Buches. Im Vorworte wird über die Schwierigkeit, 
eine vollständige Geschichte aller Congresse zu geben, gesprochen, 
und dann in kurzer Weise das Programm für die vorstehende Ab¬ 
handlung gegeben, in der der Verfasser von einer Geschichte der 
Congresse absieht und im ersten allgemeinen Theile seiner Abhand¬ 
lung eine Zusammenstellung der durch die Geschichte der Congresse 
und ihrer Verhandlungen gelieferten und auf das Zustandekommen, 
den Ort, die Zahl und Art der Mitglieder, das Ceremoniell, die Ver¬ 
handlungen und die Beendigung der Congresse bezüglichen Materia¬ 
lien in Aussicht stellt — «um so ein formelles Congressrecht der 
völkerrechtlichen Praxis zu entnehmen* —, dem im zweiten, beson¬ 
deren Theile, der Versuch folgen soll, die verschiedenen auf den Con¬ 
gressen behandelten Materien nach den bei ihrer Entstehung leiten¬ 
den Principien und nach ihrem Inhalte zu ordnen, unter Zugrunde¬ 
legung des von Bulmerincq angedeuteten Systems des Völkerrechts. 
— Der Inhalt der einzelnen Theile zerfällt in Paragraphen. Im 
allgemeinen Theil handeln die einzelnen Paragraphen: Si über die 
Begriffsbestimmung und Unterscheidung der Congresse und Con- 
ferenzen. Die Haltung Berner’s, Bluntschli’s, Calvo’s und v. Martens’ 
diesen Fragen gegenüber wird kurz angedeutet, und dann auch mit 
ein paar Worten des Gebrauchs der Ausdrücke «Congress* und«Con- 
ferenz* in der Staatenpraxis gedacht. Nach der Ansicht des Hrn. Za- 
t§ski wäre «das Merkmal der Beschlussfähigkeit recht wohl dazu ge¬ 
eignet, die Congresse von denConferenzen bestimmt zu unterscheiden, 
wenngleich dieser Unterschied kein absoluter sein würde, denn die 
Bestimmungen der Congresse erfordern gewöhnlich noch die Rati¬ 
fication der resp. Monarchen oder gesetzgebenden Körper, falls die 
Souveräne nicht persönlich auf dem Congresse zugegen waren; aber 
schon das Zustandebringen eines solchen definitiven Actes, welcher 


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88 


nur einer Sanction für seine Gültigkeit bedarf, unterscheidet die 
Congresse von den Conferenzen, welche letztere nur das Material 
zu solch einem definitiven Entscheid zu sammeln und über einzelne 
Punkte der Details sich zu verständigen bestimmt sind.» Darauf 
finden sich am Schlüsse dieses Paragraphen einzelne Andeutungen 
über die Entstehung der modernen Congresse, die so ziemlich in die 
Zeit der Genesis, der Idee des politischen Gleichgewichts, nachdem 
die Concilien aufgehört hatten, fällt. Die Geschichte der völker¬ 
rechtlich bedeutsamen Congresse beginnt nach Hrn. Zatgski’s An¬ 
sicht mit dem zu Münster und Osnabrück. — §2 giebt Bemerkungen 
über das Zustandekommen der Congresse, wobei die verschiedenen 
Modi mit Beispielen aus der Geschichte der Congresse belegt werden. 
In den meisten Fällen sind die Congresse in Folge direkter Ueber- 
einkunft der kriegführenden oder der sonst interessirten Staaten zu 
Stande gekommen. Man vereinigte sich in solchem Falle über die 
zu verhandelnden Punkte, ohne Präliminarartikel zu unterschreiben, 
und auf Grund einer solchen Uebereinkunft fand dann der betreffende 
Congress Statt». Zum Schlüsse werden besonders die Congresse der 
heiligen Allianz besprochen. — § 3: «der Ort, die Zahl und Art der 
Mitglieder, das Ceremoniell eines Congresses», giebt namentlich in 
seinem letzten Theile recht pikante Bemerkungen. Der darauf 
folgende Paragraph spricht über die «Congressverhandlungen»: von 
der Wahl des Vorsitzers, der Prüfung und Auswechselung der 
Vollmachten, dann specieller von den Verhandlungen selbst, 
wie sie geführt wurden durch Vermittler, schriftlich oder,mündlich 
etc. Alles ist mit Beispielen aus der Geschichte versehen, und in 
besonders ausführlicher Weise wird der Wiener Congress herange¬ 
zogen. — §5 handelt über die * Beendigung des Congresses». «We¬ 
gen des Erfordernisses der Einstimmigkeit bei zu fassenden Con- 
gressbeschlüssen ist die Zahl der resultatlos verlaufenen Congresse 
ziemlich gross, obgleich die Auflösung derselben auch vielfach aus 
anderen Gründen erfolgt ist». Im Fall eines günstigen Resultates der 
Congressverhandlungen, im Fall einer allgemeinen Verständigung 
und Uebereinkunft wird eine Schlussacte unterzeichnet, deren for¬ 
melle Seite eine verschiedene sein kann. «Neben der Schlussacte des 
Congresses können auch noch einzelne Verträge, aber nur als 
Annexe vorhanden sein». Ferner bespricht dieser Paragraph die 
Garantie der Congressbestimmungen, die von einem oder meh¬ 
reren Staaten zum Zweck der Congressbestimmungen die nothwen- 
dige Kraft und Bürgschaft hinsichtlich ihrer Ausführbarkeit zu 
geben im Congressact selbst oder durch besondere Deklarationen 
übernommen wurde; die Protestationen gegen die Bestimmungen 
der Congresse seitens dritter Staaten, in allen Fällen, die angeführt 
werden, figurirt der Papst mit; die Ratification der Congressbe- 
schlüsse, resp. der Verweigerung derselben; einzelne Fälle, wo zur 
Ausführung der Congressbestimmungen specielle Conventionen abge¬ 
schlossen wurden; die officielle Congresssprache; die Dauer der 
Congressverhandlungen. — § 6: «die allgemeinen Congresse» handelt 
über den Pariser Allianz vertrag vom 20. November 1815 und das 



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89 


Aachener Protokoll vom 15. November 1818, die Londoner Confe- 
renz der fünf Grossmächte von 1830—1839, über den Vorschlag 
eines allgemeinen europäischen Congresses seitens Napoleon’s III. 
vom Jahre 1863, die Congresse zu Panama und Lima, und schliesst 
mit einem Referat über Lorimer’s Vorschläge für einen völkerrecht¬ 
lichen Congress auf dem Princip des tatsächlichen Besitzstandes 
(de facto). — §7: «die geschichtliche Eintheilung und Bedeutung der 
Congresse* giebt eine Periodisirung der Congresse seit 1648 bis 
1866 in drei Perioden (1713, 1789 und bis 1866), die in einzelne 
Gruppen zerfallen — fünf, sechs und vier, — und eine Charakteri¬ 
stik der wichtigsten Congresse, indem von einer Würdigung der 
geschichtlichen Bedeutung aller dieser (— in diesem Paragraphen 
aufgezählten?) Congresse abgestanden wird. Zu den wichtigsten 
Congressen zählt Hr. Zatgski den Westphälischen, Pyrenäischen, 
Utrechter und Nystädter, den Wiener von 1815 und Pariser von 
1856 und schliesst: «wie verschieden auch die Meinungen über die 
Leistungen und die Bedeutung der völkerrechtlichen Congresse sein 
mögen, jedenfalls gebührt ihnen das Verdienst, dass sie dass Bewust- 
sein der Zusammengehörigkeit der europäischen Staaten gegenüber 
der Abgeschlossenheit jedes einzelnen Staates geweckt haben«. 
Welchen Antheil der Westphälische, Wiener und Pariser Congress in 
Bezug hierauf gehabt, wird alsdann kurz angegeben. — S 8 handelt 
über die leitenden Principien der Congresse. 1648 und 1713 war das 
von Frankreich in Umlauf gesetzte «Princip des politischen Gleich¬ 
gewichts in Europa» massgebend gewesen. 1815 kam das Princip 
der Legitimität zur Geltung. Talleyrand sagte: la restauration est 
un principe, tout le reste est une intrigue. «Durch die Deklaration 
vom 15. November 1818 war ein Völkerrechtscodex, waren die Richter 
und ihre Entscheidungsnorm proklamirt. Diese Erklärung blieb aber 
zunächst eine theoretische, in der Praxis richteten sich die fol¬ 
genden Congresse zu Troppau, Laibach und Verona nach dem Le- 
gitimitätsprincip und suchen die territorialen und politischen Ein¬ 
richtungen des Jahres 1815 unbedingt aufrecht zu erhalten». 

Der Inhalt des besonderen Theiles wird nach der von Bulmerincq 
vorgeschlagenen Systematie in auf materielles und formelles Völker¬ 
recht bezügliche Congressbestimmungen zergliedert. In Bezug auf 
materielles Recht haben wir drei Paragraphen: § 1. Bestimmungen 
über die Rechte der Staaten (p. 42—52), S 2. über das Staats- und 
Privatvermögen (p. 52—59), S 3. über die internationalen Verträge 
und Erwerbsarten (p. 59). In Bezug auf formelles Recht: 1. (§4) 
Bestimmungen über die Organe des völkerrechtlichen Verkehrs (p. 
60—61), und 2./ (S 5) das völkerrechtliche Verfahren mit Einschluss 
der Intervention (p. 61—66). 

In der Schlussbetrachtung (p. 67—68) bemerkt der Verfasser, 
dass sich die Verhandlungsgegenstände der einzelnen Congresse 
vorzüglich mit territorialen Festsetzungen und erst in zweiter Reihe 
mit anderen Fragen beschäftigt haben, und dass die politischen Prin¬ 
cipien immer die leitenden waren, während die völkerrechtlichen 
mehr in den Hintergrund gedrängt wurden. Der Erörterung allge- 


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s 



90 


mein völkerrechtlicher Fragen stellten sich aber viele Hindernisse 
entgegen, in Anbetracht welcher den einzelnen, von den Congressen 
aufgestellten, dem allgemeinen Rechtsbewusstsein Rechnung tragen¬ 
den, Principien eine um so grössere Anerkennung gebührt, und stellt 
sich somit Hr. Zatgski in stricten Gegensatz zu Vattel und dessen 
Commentator Pinheiro Ferreira, von denen der Erstere Angesichts 
der beiden erfolglosen Congresse von Cambray und Soissons über 
das ganze Genus den Stab brach, und der Letztere ihnen mehr 
Schlechtes als Gutes beilegte. — Darauf folgen 5 Thesen. 

Wie zahlungsfähig hat sich nun Hr. Zatgski in seiner Abhandlung 
gegenüber dem im Titel derselben ausgestellten Wechsel gezeigt? 
Nach dem, was der Hr. Verfasser im Titel und in der Vorrede ver¬ 
spricht, nach dem ferner, wie er den Begriff des Congresses aufzu¬ 
fassen scheint, wird uns zum wenigsten die Hälfte, wenn nicht mehr, 
einer Dogmengeschichte des Völkerrechts seit der Entstehung der 
neueren Staatsidee in Aussicht gestellt; es sollen, wie bemerkt, die 
verschiedenen auf den Congressen behandelten Materien nach den 
bei ihrer Entscheidung leitenden Principien und nach ihrem Inhalte 
geordnet werden. Diesem ist der Verfasser nun keineswegs nach¬ 
gekommen, denn abgesehen davon, dass er keine in Form/ einer prä- 
cisen Definition gegebene Begriffsbestimmung der Congresse auf¬ 
stellt, sondern in der von uns angedeuteten Weise die Sache so ganz 
obenhin berührt und im Grunde nichts Anderes als Berner sagt, hat 
er auch der aus seinen Andeutungen zu formirenden Definition keine 
Folge geleistet, sondern ganz willkürlich den westphälischen Con- 
gress von 1648 als den ersten völkerrechtlich bedeutsamen bezeich-' 
net, in welche Kategorie dann später so beiläufig auch der Congress 
zu Brömsebro eingereiht wird, dann weiter unter die Congresse auch 
nur solche Zusammenkünfte von Staatsvertretern aufgenommen, die 
von der Staatenpraxis und darauf in den geschichtlichen Nachrich¬ 
ten oder Bearbeitungen hierüber, oder von beiden letzteren allein, 
mit dem Namen Congress bedacht worden sind. Nach Schoell und 
Ghillany Hess sich leicht verfolgen, welchen Weg Hr. Zatgski einge¬ 
schlagen hat, um seine sogenannten Congresse zu finden. Er be¬ 
dachte gar nicht, dass nach seiner Auffassung der Congresse, die 
allerdings nicht ganz präcis und definitionenmässig zum Ausdrucke 
gebracht wird, jedem Friedensschlüsse fast ohne Ausnahme ein Con¬ 
gress vorausgehen musste; die Geschichte Polens und Russlands 
lag dem Verfasser besonders nahe, und hätte er so aus der russischen 
Geschichte des XVI., XVII., XVIII. Jahrhunderts das zur Genüge 
erkennen sollen, dass die Zahl der Congresse sich nicht auf die 
von ihm aufgeführten beschränken könne. Nach dem, was wir ge¬ 
sagt, brauchen auch die völkerrechtlich bedeutsamen Congresse nicht 
erst mit dem Westphälischen zu beginnen; für die nordischen Ange¬ 
legenheiten giebt es schon zu Ende des XVI. und Anfang des XVII. 
Jahrhunderts nicht minder völkerrechtlich bedeutsame Congresse, 
als für die mitteleuropäischen Staaten es der Westphälische war. Die 
Congresse des XVI. und XVII. Jahrhunderts, auf denen Russland 
und Polen oder Russland und Schweden als Contrahenten auftraten, 


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9i 


finden bei Hm. Zatgsld keine Berücksichtigung, selbst die in den 
historischen Nachrichten freilich einfach als Friedensschlüsse bezeich- 
netenCongresse zu Kardis und Andrussow werden keiner Bemerkung 
gewürdigt. Die Friedensverhandlungen zu Oliva und Altona z. B. 
werden ganz gewöhnlich als Congresse bezeichnet; Hr. Zatgski folgt 
dem und durchaus nicht im Widerspruch zu seinem angedeuteten 
Grundsatz. Die Friedensverhandlungen von Niemirow, Fokschany 
und Bucharest v. J. 1737, 1772 u. 1773 werden als Congresse bezeich¬ 
net, die darauf stattgehabten Unterhandlungen von Belgrad (1739) 
und Kutschuk-Kamardschi (1774) sind gar nicht genannt, gehören 
also nach Hrn. Zatgski’s Ansicht oder auch nach der von Ghillany 
nicht zu den Congressen, während Hr. Zatgski auch hier mit seiner 
Auffassung des Begriffes • Congress» in den grellsten Widerspruch 
geräth. Aber auch der Congress zu Jassy 1791 existirt für Hm. Za- 
tgski als solcher nicht, gleichfalls der zu Grodno 1792, zu Bucharest 
1812, zu Adrianopel I829, der bedeutende Fürsten congress zu Tilsit 
— während des zu Erfurt wohl gedacht wird —, der im Haag 17 IO, 
welche einen interessanten Fall für die Geschichte der Neutralisation 
zu Kriegszeiten abgeben. Mit gleichem Rechte, wie die Verhand¬ 
lungen zu Fokschany, Bucharest und vorher zu Niemirow als Con¬ 
gresse bezeichnet werden konnten, sollten es auch die dem Frieden 
zu Kardis und Andrussow vorangegangenen, so z. B. der sehr be¬ 
deutende Congress zu Wilna von 1657, auf dem Russland und Polen 
vertreten waren, und an dem auch aus Moskau nach Hause reisende 
kaiserliche Gesandte Theil nahmen. Die in neuerer Zeit behufs 
Verkehrserleichterungen von Delegirten verschiedener Staaten ab¬ 
gehaltenen Congresse werden gar nicht angedeutet, obgleich sie 
gerade nicht zum wenigsten das Völkerrecht fördern, was Hrn. Za- 
tgski doch nicht unbekannt sein dürfte, zumal er diesen Gegenstand 
in seiner Magister-Dissertation berührt hat l . 

Dass die Vereinigung der deutschen Staaten im norddeutschen 
Bunde und deutschen Reiche, und schon früher seit 1648 auf einem 
völkerrechtlichen Verhältnisse beruht hat und beruht, und somit 
auch der Bundestag und der deutsche Reichstag zu Congressen zu 
rechnen sind — ganz im Einklänge mit der von Hrn. Zatgski aufge¬ 
stellten Auffassung über Congresse — hat der Verfasser gar nicht 
bedacht. Die Congresse in Folge der Dinge von 1866 und 1870/71 
sind gleichfalls übergangen. — Spricht der Verfasser endlich von 
völkerrechtlichen Congressen, so ist nicht recht abzusehen, was dar¬ 
unter verstanden werden soll, da das ein nicht üblicher Ausdruck ist 
und ihm von Hrn. Zatgski auch kein Commentar beigegeben wurde. 
Der Titel verspricht überhaupt von Congressen zu handeln, man er¬ 
sieht jedoch aus dem Zusammenhänge, dass die politischen oder 
Staatscongresse gemeint sind, d. h. die von Staaten beschickten und 
im direkten Interesse dieser zusammengetretenen, ohne Unterschied 
der zu verhandelnden Gegenstände, wie wir das auffassen. Der 
Begriff des Congresses und sein* Unterschied zur Conferenz ist also 


1 Zur Geschichte und Lehre der internationalen Gemeinschaft, Dorpat 1866. 


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9 2 


nicht genügend formulirt und die Vorstellung davon in der Abhand¬ 
lung selbst durchaus inconsequent durchgeführt. 

Wie sind nun die in den angeführten Congressen stipulirten Bestim - 
mungen über internationale Rechtsverhältnisse behandelt worden? 
Nichts weniger als befriedigend; es findet auch hier eine ganz will¬ 
kürliche Auslese der Bestimmungen statt, und eine Zahl im ersten 
Theil genannter Congresse werden im zweiten vergebens gesucht; 
selbst auf den angezogenen Congressen behandelte Gegenstände von 
völkerrechtlicher Bedeutung, welche nicht zum Entscheid gelangt 
sind, kpmmen nur ganz ausnahmsweise ein paar Mai im zweiten 
Theile der Abhandlung vor. Einzelne Bestimmungen werden dagegen 
wieder so ausführlich gegeben, wie es sich gar nicht mit der Sym¬ 
metrie des Buches verträgt, so p. 48 und 49 in Bezug auf die Gewis¬ 
sensfreiheit v. 1648, p. 50—52 über die Aufhebung des Negerhan¬ 
dels; und überhaupt wäre eine grössere Kürze in der Wiedergabe 
der Bestimmungen des Wiener Congresses von 1815 wünschenswerth 
gewesen gegenüber den oft nur in Andeutungen gegebenen Notizen 
über wichtigere Bestimmungen anderer Congresse. Das Capitel 
über territoriale Bestimmungen ist ferner auch sehr weit und breit 
behandelt, was an und für sich nichts tadelnswerthes ist; über den 
Schutz des Privateigenthums wird dagegen mit ganz unverständlichen 
Worten hinweggegangen. Die internationale Justiz und Gesetzge¬ 
bung, für die sich in den von Hrn. Zatgski angeführten Congressbe- 
schlüssen Bestimmungen finden, wird gar nicht berührt. Die Rege¬ 
lung von Erbansprüchen regierender Fürsten und die Thronfolgeord¬ 
nung gehören nicht in's Völkerrecht, und hätten die in Congressacten 
hierüber gefällten Bestimmungen nicht berücksichtigt werden sollen, 
zumal Hr. Zatgski sich wenigstens f in seiner früheren Schrift von 
1866 zum internationalen Rechtsprincip bekannt hat und auch in der 
vorstehenden Abhandlung auf dasselbe zu recurriren scheint. — Der 
Paragraph über Bestimmungen der betreffenden Congressbeschlüsse 
in Bezug auf internationale Verträge und Erwerbsarten ist zu kurz 
und dürftig gegenüber dem reichen Material, das sich dem erschliesst, 
der den Text der Congressbeschlüsse liest und ihn durchdenkt. 
Gleiches gilt von den Bestimmungen über die Organe des vöker- 
rechtlichen Verkehrs und in gemilderter Weise von denen über das 
völkerrechtliche Verfahren. Ueber die Mediation und den Krieg 
hätte sich ganz anders sprechen lassen. Das über die Kriegscontre- 
bande Gesagte ist auch nur so, um da zu sein, angeführt. Der der 
Intervention gewährte Raum hätte in anderer Weise ausgefüllt 
werden können. — Werden aber nun die Congresse in so beschränk¬ 
tem Umfange herangezogen und dann das auf ihnen zum definitiven 
Entscheid gebrachte Rechtsmaterial in so willkürlicher Weise berück¬ 
sichtigt, so kann selbstverständlich auch von einer dogmen-histori- 
schen Darstellung der betreffenden 'Völkerrechts-Institute und -Sätze 
nicht recht die Rede sein, und somit fehlt auch eine an allen Glie¬ 
dern vollständige Kette, ohne die sich der Fortschritt der, den 
bezüglichen Instituten und Sätzen innewohnenden Ideen Schritt für 
Schritt nicht verfolgen lässt. 


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Wollte Hr. Zatgski daher unter "dem seiner Abhandlung gegebe¬ 
nen Titel etwas für die Wissenschaft leisten, und hatte er sich ein¬ 
mal an die Lösung der völkerrechtlichen Bedeutung der Congresse 
gemacht, so durfte er kein Stückwerk liefern; der Begriff Congress 
und Conferenz und ihr Unterschied zu einander mussten nicht nur als 
Material für eine Definition, wie die Rechtswissenschaft eine solche 
verlangt, angedeutet werden, sondern eben präcis formulirt. Danach 
hätten dann die Congresse aufgesucht werden sollen, aber auch 
wieder ohne Rücksicht auf politische Principien, wie das des politi¬ 
schen Gleichgewichts. Die einzelnen Congressbeschlüsse sollten 
darauf in grösstmöglichster Vollständigkeit, aber zugleich auch in 
angemessenster Kürze zu einer Philosophie oder Theorie oder Phy¬ 
siologie des völkerrechtlichen Fortschrittes der Congressschlussacte 
zusammengefasst werden, unter Angabe der sie umgebenden und 
sie beeinflusst habenden Umstände. Der grössten Ausführlichkeit 
wird durch die angedeutete, allerdings noch fast gar nicht zur Geltung 
gekommene Methode die gebundenste Kürze verliehen. — Ob nun 
Hr. Zatgski in einer Doctorschrift diese Aufgabe so lösen konpte, ist 
eine andere Frage, jedenfalls eine von uns nicht näher zu erörternde. 
Es ist aber unmöglich, sich mit einer solchen Lösung der im 
Titel in Aussicht gestellten Aufgabe zu verständigen, und braucht 
man nicht diesen langen Weg erst einzuschlagen, um gegenüber 
VattePs und Pinheiro Ferreira’s vernichtendem Urtheil über die Con¬ 
gresse das Gegentheil zu beweisen. Sollte also ursprünglich nichts 
Anderes geleistet werden, als was uns vorliegt, so lohnte es sich 
überhaupt nicht, an diese Arbeit zu gehen, und den gewiss alle un¬ 
sere Anerkennung verdienenden Fleiss, der auf die Abfassung der 
Abhandlung verwandt wurde, hätte der geehrte Hr. Verfasser eher 
auf einem anderen begrenzteren Gebiete des Völkerrechts verwer- 
then sollen, wo wir die Leistung gewiss in anderer Weise hätten an¬ 
erkennen können; denn dass er zu arbeiten versteht, hat er bewie¬ 
sen, wenn ihm allerdings auch eine rechte dogmatische Auffassung 
abgeht, und die Auslese der Beispiele nicht selten nur zufällig zu 
sein scheint Otto Eichelmann. 


Revue Russischer Zeitschriften. 


«Russisches Archiv» (Russkij Archiw — Pyccxift ApxHBi>) — 

herausgegeben von Peter Bartendew. XIII. Jahrgang. 1875. 3. Heft. Inhalt: 

Autobiographische Tagebücher des Senators E t Th . v, Bradke . (Gossner. — Die 
südliche Ansiedelung. — Graf Witt. — Der polnische Aufstand. — Die Einnahme 
von Lowitscb. — Der Kijewer Lehrbezirk. — Die Eröffnung der Universität des heil. 
Wladimir. — Das Leben in Kijew. — Professor Zieh. — Arreste. — Der Dienst im 
Domainenministerium und im Senat.) — Aus einem alten Notizbuche, begonnen im 
Jahre 1813. (Erzählungen aus Warschau. — Logogriphen. — Fürstin Jussupow. — 
T. B. Potemkin. u. s. w.). — Verbesserungen und Bemerkungen zum Testament des 
Feldroarschall Grafen B. P. ScheremetjeV. — Bilder aus den kleinrussischen Familien. 


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94 


Materialien zur Geschichte der Gesellschaft im XVH. und XVHI. Jahrhundert. Ge¬ 
sammelt von A. M. Lasarewsky. — Drei Briefe des Fürsten A. Tschartorissky an 
N. N. Nowossilzow. Mitgetheilt von N. Makarow . — Anekdoten aus der Zeit des 
Kaisers Alexander Pawlowitsch. Mitgetheilt von Z>. D . Pjabinin. — Aus den Erinne¬ 
rungen M. M. Jewreimow’s. Von N . K. Sagrjaschskqja . — Papiere des Fürsten J. W. 
Wassiltschikow, mit einem Vorworte von seinem Sohne A. J. Wassiltschikow: Drei 
Briefe des Kaisers Alexander Pawlowitsch. — Wer verliess zuletzt Ssewastopol? Aus 
den Erinnerungen J 9 J. Krassowsky* s . — Fünf Briefe aus dem vorigen Jahrhundert, 
mit einem Nachwort von J, W\ Tolstoi. — Die Hochzeit des Grafen P. J. Panin: Der 
Brief W. E. Adadurow’s an den Grafen N. J. Panin. 1748. Mitgetheilt von der Fürstin 

M. A. Meschtschersky . 

-4. Heft. Inhalt: 

Papiere von J. B. Pestell. (Kurze Biographie; Notizen über seinen Dienst, von ihm 
selbst geschrieben, u. s. w.). Mitgetheilt von S. J. Pestell. — Der Kanzler Fürst Bes- 
borodko. Cap. X. (Die Reise nach der Krim. Zerwürfnisse mit der Türkei.). Von 

N. J. Grigorowitsch. — Bilder aus den kleinrussischen Familien. Materialien zur Ge¬ 
schichte der Gesellschaft im XVIII. und XIX. Jahrhundert. Gesammelt von A. M, La~ 
sarewsky. — N. Th. Pissemsky und seine fünfundzwanzigjährige literarische Thätig- 
keit Von B. N. Almasow. — Aus einem alten Notizbuche, begonnen im Jahre 1813. 
(Das Hazardspiel. — Der Diensteifer. — Nowossilzow und Baikow in Warschau. — 
General Kuruta. — u. s. w.). — Brief des General-Adjutanten Grafen P. E. Kotzebue 
an den Herausgeber, in Veranlassung des Artikels: «Wer verliess zuletzt Ssewastopol?» 
— Das Alter des Zarskoje-Sselo’schen Lyceums: I. W. D. Wolchowsky. 2. Th. Th. 
Matuschkin. 3. Die Jahrestage des Lyceums. Vom Akademiker J 9 K . Groth. — An¬ 
zeige des Grafen G. A, Miloradowitsch. 

Journal für Civil- und Criminal-Recht (Journal grashdanskawo i ugo- 
lownawo Prawa — )KypHajn> rpaxcAaHcitaro n yrojiOBHaro npaßa) 
V. Jahrgang. 1875. Heft 3. Mai-Juni. Inhalt: 

Gesetze und Verordnungen der Regierung. — Bemerkungen über Fragen, die aus 
einer Convention, bei Uebergabe zur Aufbewahrung, entstehen. Von P, Marko7v. — 
Das Volksgericht und das Völkerrecht. Von I. Orschansky. — Ueber Feuerversiche- 
rungs-Uebereinkunft. Von A. Brandt. — Ueber die russische Advocatur. Von S . Pia - 
tonow . — Bibliographie: 1. A. Gradowsky: Der Anfang des russischen Staatsrechis. 
Von N. Korkunow . 2. Graf L. Komarowsky: Der Beginn der Nichtintervention. Von 

F. Martens. 

«Militär-Archiv» (Wojennij Ssbornik — BoeHKBifl CöopHHiCb.) — 

Achtzehnter Jahrgang. 1875. Nr. 6. Juni. Inhalt: 

Materialien zur Geschichte des ungarischen Krieges im Jahre 1849. Mitgetheilt vom 
Generallieutenant des Generalstabs Menkow. — Die Brüsseler Deklaration über Gesetze 
und Gebräuche des Krieges. Von F. Martens. — Die turkestanischen Truppen und 
die Bedingungen ihres Feld- und Schlachtenlebens. (Schluss.) Von L. Kostenko. — 
Die Attaque der österreichischen Ulanen in der Schlacht bei Custozza am 24. Juni 1866. 
Uebersetzt aus dem Deutschen von Oberstlieutenant Baron Krüdner . — Die Schnellig¬ 
keit und Ausdauer der Kavallerie. (Uebersetzt nach dem Werke des französischen 
Obersten Boni.) Von T. . . . — Die Mobilisation der deutschen Armee. (Schluss.) 
Von A. Pusyrewsky. — Nochmals über den Truppentransport Von N . B. — An¬ 
merkung zum Artikel des Hm. Archipow: «Zur Frage der Brustmessung und des Wä¬ 
gens des Körpers und deren Bedeutung*. Von N. Seland. — Andreas Globa. (Bruch¬ 
stücke eines nicht beendeten Romans.) Von A. Spakowsky, — Bibliographisches. — 
Militärische Umschau in Russland. — Militärische Umschau im Auslande. 

Journal des Ministeriums der Volksaufklärung (Journal miriister- 
stwa narodnawo prosweschtschenija — )KypHa;n> MmmcTepcTBa 
HapOAHarO IlpoCB'femeHiH). Mai 1875. Inhalt: 

Regierungsverordnungen. — Die russischen Schulen und das Erlernen der russischen 
Sprache im Weichselbezirke vor dem Erlass der Bestimmungen vom 30. August 1864. 
Von E. Kryshanowskij. — Versuche Über die Entwickelungsgeschichte der christlichen 
Legende. (Schluss). Von A. N . Wesselowshij . — Die Verhandlungen Russlands mit 
den auswärtigen Mächten vor dem vaterländischen Kriege des Jahres 1812 (Fortsetzung). 
—- Kritiken und Bibliographie. Anlässlich der «Antwort» des Hm. Wladislawlew. 


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95 


Von A. E. Swjetilin. — Unterrichtsliteratur und Lesebücher. — Nachrichten über die 
Thätigkeit und den Zustand unserer Lehranstalten: a) Universitäten, b) Gymnasien. — 
Die Eröffnung des Orenburger Lehrbezirks. — Brief aus Paris. Von Z— r. — Abthei¬ 
lung für klassische Philologie. Untersuchung über Heimat, Verwandte und Geburtsjahr 
Herodot’s. Von Ph. N. Djatschan, — Untersuchung über die Modi im russischen und 
griechischen Verbum. Von S. Schaf,ranow. — Bibliographie. Corsen. Ueber die 
Sprache der Etrusker. Band I. Angezeigt von L. I. — Rede über P. M. Leontjew. 
Gehalten von A. /. Georg) ewskif. 

— — Juni 1875: Inhalt: 

Regierungsverordnungen. — Ueber die zweite Verkeilung der Prämien Peteris des 
Grossen. — Das Hypotheken- System und seine Reform. Von Ph . Schmigalskij . — 
Die Inschriften am Wansee und ihre Bedeutung für die Geschichte Vorderasiens. Von 
K. P. Patkanow . — Das Karpathische Russland. Von y. Th, Golowazkij. — Die 
ethische Bedeutung der Mythen. Von Z. Ph. Wojewodskij. — Kritiken und Bibliogra¬ 
phie. Neue Erscheinungen in der ausländischen Literatur. — Unterrichtsliteratur und 
Lesebücher. — Ueber den Unterhalt der Elementar- Lehrer und- Lehrerinnen in Preus- 
sen. Von A. S. IVoronow. — Nachrichten über die Thätigkeit und den Zustand unse¬ 
rer Lehranstalten: a) Universitäten, b) niedere Schulen. — Brief aus Paris. Von Z—r. 
— Abtheilungen für klassische Philologie. Ueber den altcyprischen Dialekt. Von P, 
Nikitin . — Untersuchung Ober die Modi im russischen und griechischen Verbum. 
(Schluss). Von S, N. Schafranow, 

Der «europäische Bote» (BicTHmci» Eßponbi—Westnik Jewropy). 

X.Jahrgang. 1875. Juni. Inhalt: 

Der Kosak Kudejar. Historische Chronik in 3 Büchern. III, Buch. Von N. J . Ko- 
stomarew . — W. H. Bjelinski. Biographischer Versuch. X. Bjelinski’s letzte Krankheit 
und Tod. (Mai 1848). Schluss. Historische Studien. VII. Die Reichsstadt. VIII. Die 
Ritterschaft. Der deutsche «Junker». IX. Die Geistlichkeit. Der deutsche Prälat und 
der Kanonikus. X. Der Graf und der «Herr». XI. Der Fürst. Seine Gewalt. XD. Die 
Lebensweise des deutschen Fürsten. XIII. Die niedere Klasse — «Canaille». Von A, 
S. Traczewsjey. — Mignon. Nach Goethe. Von N. IV. Gerbet. — Die Löwen-Insel. 
Briefe von der Insel Ceylon. III.—IV. Von J. P. Minajetv. — Die Freistadt Krakau. 
1815—1846. XVI—XVH. (Schluss). Von N. A. Popow. — Im grossen Dorf und am 
Seitenwege. Skizze aus dem Dorfleben. HI—VU. Von O. Sabyti. — Chronik; Psy¬ 
chologische Kritik. Bemerkungen J. Ssamarin's zudem Werke: «Die Aufgaben der 
Psychologie». Von K. D. Kawelin. — Die Handels-Bilanz und ihre Bedeutung. Von 
y. G. — Rundschau im Inlande. — Correspondenz aus Berlin: Politische Unruhe. 
Von K . — Pariser Briefe: III. Die Bilderausstellung in Paris. Von E. Z—l . — Ein 
gelehrter Disput in Moskau in Verbindung mit der Universitätsfrage. Von W. N. — 
Was soll man vom Spiritismus denken? Anlässlich des Prof. Wagnerischen Briefes. 
Von A. S. Schklarewsky . — Nachrichten. — Bibliographische Blätter. — 

«Das alte Russland» (Russkaja Starina — PyccKaa CTapraa). — 

Herausgegeben und redigirt von M.J.Ssemewskij . Sechster Jahrgang. Heft VI. Juni 
1875. Inhalt: 

Fürst Gregor Alexandrowitsch Potemkin, der Taurier. Biographischer Abriss, 1739 
—1791. Cap. VH. Briefwechsel mit P. A. Potemkin 1789—1790. — Bemerkung über 
das Portrait des Fürsten Potemkin und über den Graveur Akademiker J. S. Poschalos- 
tin. — Das St. Petersburger Findelhaus unter der Verwaltung von J. J. Betzky. Eine 
historische Untersuchung von A. P. Pjatkowskij. Cap. IU. — Die französische Armee 
in den Jahren 1792—1808, vor dem Kriege mit Russland. Uebersetzt nach einer franzö¬ 
sischen Handschrift Mitgetheilt von M. D. — Der Hetraan des Donischen Heeres 
M. G. Wlassow in den Jahren 1836—1848. Biographischer Abriss und Erinnerungen 
seines Adjutanten. — Das erste Bombardement auf Ssewastopol vom 5.—13. October 
1854. Abriss von M. J. Bogdancnmtsch. — A. S. Dargomy’schskij. Briefe an seine 
Freunde 1847—1865. Mitgetheilt von K. K . Stassow. — Erinnerungen der Frau L. J, 
Karinalin geb. Belenitzin: M.’J. Glinka und A. S. Dargomyschskij. — Blätter aus 
dem Notizbuche der «Russkaja Starina»: Pugatschewsche Blätter, 1774 - — «Der 
Candidat.» Russische Oper in Jarosslaw 1780. Mitgetheilt von M. y. Lestwizin.— 
Bibliographische Mittheilungen üb^r neue russische Bücher (auf dem Umschläge). 


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96 


Rassische Bibliographie. 


Lowitzky. Abriss der inneren Geschichte Klein-Russlands in der 
zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts. Lfg. i. Kiew. 8°. 200 S. 
(TleBMUKiM, Opecrb. O^epia» BHyTpeHHefl HCTopin Majiopoccin bo 
BTopoft nojiOBHH'fe XVII B'feica. Bbin. I. Kießi». 8 a. 200 CTp.) 

Uebersicht der Rumjanzow’schen Beschreibung Klein-Russlands 
Lfg. 3. (das Regiment Starodubsky). Von N. Konstantinowitsch. Heraus¬ 
gegeben vom Tschernigow’schen statistischen Comitö. 8°. 857 S. 
(Oöo3p'fcHie PyMRHUOBCKoö odhch Majiopoccin. Bbin. III. (IIojikt> 
OrapoAyöcKift). H. KoHCTaHTMHOBNHa. Ü3ä. Hepmir. Ty6. CTaT. Komh- 
TCTa. HepHnroBi». 8 a. 857 CTp.) 

Neselenow, A. Nikolai Iwanowitsch Nowikow. Herausgeber der 
Journale in den Jahren 1769—1785. St. Petersburg. 8°. 447 S. (HeaeJie- 
hobi, A. HnKOJiafi HBaHOBH*n> Hobhkobt>, H3AaTejib acypHajioB-b 
1769—1785 rr. Cn6. 8 a. 447 CT P-) 

Blioch, I. Die russischen Eisenbahnen bezüglich ihrer Einnahmen 
und Ausgaben etc. Graphische und Zahlen- Tabellen. St. Petersburg. 
Folio. 88 Bogen. (Bjlioxi, M. PyccKiÄ Äejrfc3HbiR Aoporn OTHocHTejibHo 
Aoxoaobt* h pacxoAOBi> sKcnjiyraiuö, ctohmocth npoB03a n ABH»te- 
Hia rpyaoBi». 4iicjiOBbiÄ h rpaoHHecxia Ta6jnm,bi. Cn6. 2 a. 88 ji.) 

Kessler, K. Die russischen Fluss-Krebse. St. Petersburg. 8°. 94 S. 
und 5 Bogen Abbildungen. (KecCJiep'b, K. Pyccxia p'fcmibiH paxa. Cn6. 
8 a. 94 CTp. h 5 ji. pnc.) 

Tschmyrow, N- Uebersicht der allgemeinen und russischen Geo¬ 
graphie. Moscau 8°. 32 S. (HafafpeB'b, H. KoHcneirrb Bceoömeft h pyc- 
CKofl reorpa<£in. MocKBa. 8 a. 32 crp.) 

Alandsky, P. I, Die Poesie als Wissenschaft. I. Theil. Kiew. 4 0 . 
199 S. (AjiaHACKiff, II. M. no93ia, Kaxi» npeAMerb HayKH. 4 . I. Kießi>. 
4 A. 199 CT P-) 

Roschdestwensky, S. Kurze Auslegung der Sophoclefschen Tragö¬ 
die «Oedipus auf Kolonos*. Moskau. 12 0 . 24 S. (PomAecTBeHCKifi, C. 
KpaTKoe H3AO»ceHie TpareAia Co<x>omia • Bähet» bt> Kojioirfe ». 
MocKBa. 12 a. 24 CTp.) 

Markow, E. Junge Herren. Bilder aus der Vergangenheit. St. Peters¬ 
burg. 8°. 441 S. (MapKOBb, EßreHiö. EapnyKH. KapTHHbi nponuiaro. 
Cn6. 8 a. 441 CTp.) 

Melescheff, P. R. Russische Volksscenen. Kiew. 8°. 75 S. (MeJlB- 
UieBb, fl. fl. Pyccxia HapoAHbi* cneHbi. Kießi>. 8 a. 75 CTp.) 

Kokscharow, Nikolai. Materialien zur Mineralogie Russlands. Ende 
des VI. und Anfang des VII. Bandes. St. Petersburg. 8°. 408 S. 

Jakowicki, Anton. Zur physiologischen Wirkung der Bluttransfusion. 
Dorpat. 8°. 49 S. 

Jung-Stilling, Fr. Die directen Steuern der Livländischen Bauernge¬ 
meinden im Jahre 1871. Riga. 4 0 . 24 S. 


Herausgeber und verantwortlicher Redacteur Ca&l Röttgbr. 


AodBo-icHo ueHaypoio. C.-IleTep6ypn», 10-ro 1 k>jul 1875 roaa. 


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Das russische Geldwesen während der Finanzver- 
waltung des Grafen Cancrin (1823—1844). 

Eine finanzhistorische Studie 
von 

Dr. Alfred Schmidt. 


(Fortsetzung.) 


B. Die Reorganisation des Geldsystems im Jahre 1839. 


Bevor ich zur Wiedergabe der Verhandlungen, welche über 
diesen Gegenstand im Reichsrathe gepflogen worden sind, über¬ 
gehe, muss ich, um die Darlegung der bis zum Jahre 1839 auf dem 
Gebiete des Geldwesens getroffenen Massregeln zu vervollständi¬ 
gen, noch zweier Vorlagen erwähnen, wofür ich hier die geeignetste 
Stelle finde. 

i. Als man im Jahre 1834 im Reichsrathe über die Klageschrift 
der Moskauer Kaufleute hinsichtlich des Umlaufs ausländischer 
Münze berieth (cf. p. 52), wurde zu gleicher Zeit eine zweite Frage 
behandelt, diejenige über die Ausstellung von Wechseln auf «gang¬ 
bare Münze* (HaxoÄÄHeio MOHeTy). Es waren nämlich von vielen 
Seiten her Klagen über diese Art von Wechselausstellung einge¬ 
laufen. Die angestellte Untersuchung ergab, dass unter dem Aus¬ 
druck «gangbare Münze* im Publikum russische und ausländische 
Gold- und Silbermünze verstanden wurde, letztere aber bei Zah¬ 
lung der Wechsel nicht nach ihrem Edelmetallwerthe, sondern 
nach ihrem höheren Volkskurse berechnet wurde, woraus für die 
Wechselinhaber natürlich mannigfache Verluste erwuchsen. Da 
diese Art Wechselausstellung in direktem Widerspruche mit der 
neuen Wechselordnung vom Jahre 1832 stand, so beschloss der 
Reichsrath zu verordnen, dass jede Vermerkung auf «gangbare 
Münze* widergesetzlich sei, daher Wechsel mit dieser Bemerkung 
als ungültig betrachtet und die Uebertretung dieser Verordnung 

Rom. Revue. Bd. VII. » 


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9 8 


bestraft werden sollte. In der Wechselordnung von 1832 wurde 
wohl ein Unterschied zwischen inländischen und ausländischen 
Wechseln gemacht; während letztere auch auf ausländische Münze 
ausgestellt sein konnten, durften erstere nur auf russische klingende 
Münze oder Assignaten lauten, und auch diese Betimmüng sollte 
dem Publikum von Neuem eingeprägt werden 

2. Im Jahre 1837 kam eine ganz ähnliche Frage im Reichsrathe 
zur Verhandlung. Das Gesetz vom 8. October 1834 (Nr. 7,442), 
welches alle schriftliche Abmachungen auf «gangbare Münze» 
strengstens verboten hatte, überliess den contanten Kauf und Ver¬ 
kauf vollkommen dem freien Uebereinkommen zwischen Käufer und 
Verkäufer. Dies war namentlich aus zwei Gründen geschehen: 
erstens in der Erwartung, dass jenes Gesetz allmählich der «Rechnung 
auf Münze» 2 (cHerh Ha MOHeTy) überhaupt ein Ende machen würde, 
und zweitens, um nicht ohne äusserste Noth zu lästigen polizeilichen 
Ueberwachungen schreiten zu müssen. Jenes Verbot hatte aber 
durchaus nicht den gehofften Erfolg 8 , und die aus der «Rechnung 
auf Münze» sich ergebenden Nachtheile für den Alltagsverkehr 
hatten sich inzwischen durchaus nicht verringert, sondern bedeutend 
zugenommen. Der Finanzminister reichte daher 1837 eine Vor¬ 
lage beim Reichsrathe ein, von der er überzeugt war, dass durch ihre 
Ausführung alle Uebelstände der «Rechnung auf Münze» und des 
Volks-Agio beseitigt werden könnten. Diese Vorlage verlangte, dass 
ausser den durch das Gesetz vom 4. October 1834 verbotenen 
schriftlichen Abmachungen «auf Münze» auch alle mündlichen Ab¬ 
machungen, jeglicher Kauf und Verkauf nach dieser Art Rechnung 
verboten werden sollten, mit der gleichzeitigen Bestimmung, dass 
alle Zahlungen in ausbedungenen Fällen in Gold, Silber und Assig¬ 
naten je nach ihrem Börsenkurse, in allen anderen Fällen aber 
nach dem Abgabenkurse zu geschehen hätten. Die Annahme des 
kleinen Silbergeldes sollte jedoch bei Bruchzahlungen zum Volks¬ 
kurse (vier Rbl. Assignaten gleich einem Silberrubel) gestattet blei¬ 
ben. Wer diese Verordnung übertreten würde, sollte gerichtlich 

1 M. d. R. v. 3. Mai 1834. Ausführlicheres im Gesetz vom 8. October 1834 
Nr. 7,442. 

* Genaueres über diese «Rechnung auf Münze* findet man weiter unten im Exkurs 
über das Volks-Agio im II. Abschnitt. 

3 Ja Fürst Drutzki-Ljubetzki behauptete sogar, dass diese Verordnung nur noch 
zur Verbreitung des Agio beigetragen hätte, da man in Folge derselben gezwun¬ 
gen war, sich häufiger als sonst an die Wechsler zu wenden. (J. d. Dep, d. Reichs¬ 
ökonomie Nr. 77. 1839). 



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99 


belangt werden und derselben Strafe wie fiir Betrug unterliegen. — 
Das Departement der Reichsökonomie, davon absehend, dass diese 
Massregeln sich gar nicht auf den Grund des Uebels, sondern bloss 
auf die Folgen desselben bezogen, hielt sie trotzdem für unausführbar; 
es sei sehr wenig Aussicht vorhanden, dass man durch ihre Verwirk¬ 
lichung das gewünschte Resultat: Unterdrückung der «Rechnung 
auf Münze», erreichen würde, was schon die Erfahrung lehre, 
welche man mit dem Verbote schriftlicher Abmachungen auf «gang¬ 
bare Münze» gemacht habe. Ferner würde das erforderliche polizei¬ 
liche Spionirsystem mit Recht grosse Klagen hervorrufen, den freien 
Verkehr zum Nachtheil des ganzen Volkes erschweren und beein¬ 
trächtigen, ja es sei überhaupt sehr zweifelhaft, ob man mündliche 
Abmachungen irgendwie polizeilich verhindern könnte. Was die 
Ausnahme zu Gunsten der Annahme des kleinen Silbergeldes zum 
Volkskurse anbeträfe, so könnte dieselbe Grund zum Fortbeste¬ 
hen der Agiotage geben, ausserdem wäre es doch eine mehr als 
missliche Sache, durch ein Gesetz verschiedene Preise für eine 
Münze von gleichem Gewichte und gleichem Feingehalte zu be¬ 
stimmen! — Im Reichsrathe wurde der Antrag des Finanzministers 
auch als unausführbar verworfen. Hier wurde noch hervorgehoben, 
dass die vorgeschlagenen Massregeln den Grund der Calamität gar 
nicht beseitigen, dagegen ihre Ausführung selbst mit ganz bedeu¬ 
tenden Nachtheilen für die Volkswirthschaft verbunden sein würde. 
Es war eben Allen, bis auf den Finanzminister, klar geworden, dass 
die Ursache des ganzen Uebels die falsche Grundlage des beste¬ 
henden Geldsystems sei, und eine wirkliche und endgültige Ab¬ 
hülfe aller Missstände nur von einer Reorganisation des herrschen¬ 
den Geldsystems erwartet werden könnte K 


Vergegenwärtigen wir uns nun in kurzen Zügen die Lage des Geld¬ 
wesens bis zum Jahre 1839. 

Die Assignaten, bei ihrer ersten Ausgabe (1769) ursprünglich ein¬ 
lösbare Noten mit Steuerfundation, verloren mit der Aufhebung der 
Einwechselungskassen 1786 ihre Einlösbarkeit, behielten aber noch 
ihre Steuerfundation; 1812 wurde ihnen dann Zwangskurs beigelegt 
und sie damit in eigentliches Papiergeld umgewandelt. 1815 hatten 
sie ihren tiefsten Stand erreicht, und mit 1818 beginnt ihr Steigen in 
Folge nicht unbedeutender Einziehung von Assignaten und des 

4 M. d. R. v. 29. Nov. 1837. 

7 * 


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100 


Versprechens der Regierung, die Verminderung der in Umlauf be¬ 
findlichen Menge so lange fortzusetzen, bis die Assignaten ihren ur¬ 
sprünglichen Werth wieder erreicht hätten, d. h. al pari mit dem Sil¬ 
ber ständen. Mit dem Verwaltungsantritte des Grafen Cancrin wurde 
dieses, wie er es nannte *, «unvorsichtige System, welches darauf hin¬ 
ausging, die ganze Assignatenmasse in verzinsliche Schuld umzu¬ 
wandeln», abgeschafft, wodurch eine Ausgabe von jährlich 18 Mill. 
Rbl. Banco in Wegfall kam. 

'Für die klingende Münze war das Manifest vom 20. Juni 1810 
(Nr. 24,264) von grösster Bedeutung, denn durch dasselbe wurde 
ein neues Münzsystem hergestellt. Der Rubel in Silber wurde zum 
allgemeinen gesetzlichen Preismass, zur Münzeinheit bestimmt. 
Dieser neue Rubel erhielt folgende Theilung: es sollte kleines Sil¬ 
bergeld gleichen Korns in 50-, 20-, 10- und 5-Kopekenstücken ge¬ 
prägt werden. Da jedoch für das 5-Kopekenstück keine dem Werthe 
entsprechende Einwechselungsmünze, d. h. keine Kopeken in Silber¬ 
werth geprägt wurden, so zerstörte man damit die Einheit des 
Münzsystems. Im S 9 des Manifestes heisst es nämlich: «Das kleine 
Silbergeld (silberne Scheidemünze) wird nach Massgabe seiner 
Ausprägung in den Verkehr treten, jedoch nach einem, seinem 
Metallwerthe entsprechenden Kurse, d. h. mit einem Agio gegen 
Kupfer und Assignaten, wie. ein solches an der Börse für Silber 
bestehen wird». Auch der durch das Manifest vom 30. März 1764 
(Nr. 12,116) anerkannte Grundsatz, dass das Werthverhältniss 
zwischen Gold- und Silbermünze genau demjenigen der beiden 
Metalle zu einander entsprechen müsste, wurde im Manifeste von 
1810 nicht mehr eingehalten, denn während der alte Silberrubel 
jetzt in seinem Gewichte reinen Silbers verändert wurde, liess man 
der Goldmünze ihr altes Gewicht. —Das Kupfergeld hatte seit 1810 
zweimal in seinem Werthe Veränderungen erlitten (18 io und 1832).— 
Die neue Platinamünze, die ursprünglich nach dem Werthverhält¬ 
nisse des Platinametalls zum Silber geprägt wurde, entsprach dieser 
Werthrelation schon lange nicht mehr, denn das Platinametall war 
im Preise gegen Silber bedeutend gesunken, während die Platina¬ 
münze noch nach ihrem Nennwerthe, also zu einem viel zu hohen 
Kurse, sich in Umlauf befand. 

Das Gesetz von 1786 war von allen, das Geldwesen betreffenden 
Gesetzen aus den Jahren 1786, 1810, 1812, 1817, 1828, 1829, 


4 Reisetagebücher, Beilage II, p. 59. 


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IOI 


1832 und 1834 dasjenige, welches man als letzte Grundursache des 
beständigen Schwankens unseres damaligen Geldsystems ansehen 
muss, während alle übrigen wesentlich dazu beigetragen haben, 
diese Unbeständigkeit mit allen ihren volkswirthschaftlichen Schä¬ 
den zu befestigen, zu verbreiten und sie tiefe Wurzeln schlagen zu 
lassen. Die Hauptveranlassung zu der unerträglichen Lage des 
Geldwesens in Betreff der verschiedenen Kurse (namentlich des 
Volkskurses) war die Bestimmung, dass alle Abmachungen, Con- 
trakte, Rechnungen u. s. w. ausschliesslich auf Assignaten lauten 
mussten, während die Regierung gleichzeitig verkündigte, dass sie 
mit Hülfe von Anleihen und erhöhter Abgaben Assignaten aus dem 
Verkehre ziehen würde, bis diese wieder ihren ursprünglichen Werth 
erreicht hätten, d. h. al pari mit dem Silber ständen. Bis zum Jahre 
1839 fehlte dem bestehenden Geldsysteme alle feste Basis und 
Einheit, es herrschte in allen Geldverhältnissen ein wahres Chaos. 
Da ist kein constantes Preismass, keine Münzeinheit vorhanden, 
dagegen kursiren eine Menge Geldarten, die alle in keinem festen 
Werthverhältnisse zu einander stehen; die Goldmünze hat den 
Goldrubel, die Silbermünze den Silberrubel, die Kupfermünze den 
alten Kupferrubel, die Assignate eigentlich gar nichts zur Basis. 
Ausserdem befanden sich noch ausländische Scheidemünze (Billon) 
und ausländische Gold- und Silbermünze zu einem ihren Metall¬ 
werth bedeutend übersteigenden Kurse in Umlauf, und in einer 
solchen Menge, dass sie an manchen Orten die vorhandene einhei¬ 
mische Münze um das Vierfache übertrafen. Dazu kam noch ein 
grosser Uebelstand: die Existenz dreier Kurse, des Börsen-, Abga¬ 
ben- und Volkskurses für die eigene Münze. So lange ein getrennter 
Zoll- und Abgabenkurs existirte, gab es deren zeitweise sogar vier. 
Alle diese Uebelstände wurden aber noch bedeutend von den wirt¬ 
schaftlichen Nachtheilen des ausgearteten Volks-Agio übertroffen 
(cf. Abschnitt II.). Ueber die durch dasselbe hervorgerufenen Schä¬ 
den hörte man daher auch die häufigsten und nachdrücklichsten Kla¬ 
gen. Der Grund aber zu diesem Agio lag unleugbar nur in dem, jeg¬ 
licher festen Grundlage entbehrenden damaligen Geldsysteme. Da¬ 
her war die Reorganisation desselben im Jahre 1839 die grösste Wohl¬ 
tat, welche die Regierung dem Volke erweisen konnte. 

Inzwischen war zur Abstellung der Missstände im Laufe der Can- 
crin’schen Finanzverwaltung Folgendes geschehen. Es war die An¬ 
nahme klingender Münze bei den Abgabenzahlungen anbefohlen 
und Tabellen waren publicirt worden, welche die genaue Werthan- 


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102 


gäbe aller, zu einem ihren Metallwerth bedeutend übersteigenden 
Kurse im Reiche in Umlauf befindlichen ausländischen Münzen 
enthielten; auch hatte die Regierung denVersuch gemacht, diese 
gegen russische Münze einzutauschen. Alle schriftlichen Abmachun¬ 
gen «auf Münze» wurden verboten und den Ortsaufsehern in den 
Gouvernements strengstens befohlen, darüber zu wachen, dass das 
Volks-Agio nicht mehr gesteigert werde. Alle diese Massregeln 
hatten aber nicht den gewünschten Erfolg: das Volks-Agio zu unter¬ 
drücken. Ebenso wenig hatte der Versuch einiger Kaufleute in 
Moskau und anderen Städten, einen festen unveränderlichen Kurs 
von 360 Kopv Assignaten für das Silber einzuführen, gefruchtet. Die 
Erklärung liegt auf der Hand: alle diese Massregeln waren nicht 
gegen den Grund des Uebels, sondern nur gegen die Folgen des¬ 
selben gerichtet! Nur eine Reorganisation des bestehenden Geld* 
Systems konnte radical helfen. 

Ich will nun versuchen, den Gang dieser Reorganisation in seinen 
Hauptzügen zu schildern, wobei ich den verschiedenen Gutachten, 
welche über diese Frage von namhaften Staatsmännern jener Zeit 
schriftlich abgegeben worden sind und die mir zur Einsicht Vorge¬ 
legen haben, folgen werde. 

Diese Gutachten, welche meistens zwei Fragen getrennt behan¬ 
deln: die Unterdrückung des Volks*Agio und die Gründung einer 
Depositenkasse für Einlagen in Silber bei der Commerzbank, sind 
folgende: 

I. Von dem Finanzminister Grafen Cancrin über beide Fragen, 
vom 29. Juli 1837; 31. Januar, 1. März, 15. November 1838 
und ohne Datum aus dem Jahre 1839. 

II. Vom Grafen Speranski: Ueberden Geldumlauf. Ohne Datum *. 

III. Vom Fürsten Drutzki-Ljubetzki: a. Ueber die Depositenkasse, 
vom 9. November 1837 un d b. Ueber die Unterdrückung der 
Rechnungen «auf Münze», vom 11. Mai 1838. 

IV. Vom Admiral Greigh über beide Fragen, vom 9. December 

»837- 

V. Vom Grafen Mordwinow: Ueber die Münze, vom 6. Fe¬ 
bruar 1838. 

Der wesentlichste Inhalt dieser Gutachten in Betreff der einzu¬ 
führenden Massregeln ist folgender. 

I. Der Finanzminister schlug vor: 1) zuerst in St Petersburg bei 
der Commerzbank, dann aber auch bei ihren Filialen in Moskau und 

1 Dieses Gutachten wurde erst nach dem Tode des Grafen im Februar 1839 bekannt. 


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103 


Riga Depositenkassen zum Zwecke der Ausgabe von Papiergeld, 
gegen Einlagen von Silbermünze, in Appoints von 5, io, 25, 50 
und 100 Rubeln unter dem Namen «Depositenbillete* zu gründen. 
Die Einlagen sollten einen unantastbaren Fond bilden, die neuen 
Billete einen freien Umlauf al pari mit der Silbermünze und zu 
einem festen Kurse, dem Abgabenkurse, ohne alles Agio gegen 
Assignaten, haben, bei allen Kronszahlungen, mit alleiniger Aus¬ 
nahme der Zollabgaben, angenommen, wie auch von der Krone bei 
allen Zahlungen, ausgenommen in den Creditanstalten, ausgegeben 
werden. Der Abgabenkurs sollte stets nach dem Börsenkurse des 
Silbers geregelt und nur geringe Abrundungen gestattet werden. 

2) nach der Ausgabe von Depositenbilleten alle Abgaben und 
Kronszahlungen allmählich auf Silber umzurdchnen. — 3) Wenn die 
Depositenbillete sich eingebürgert hätten: a. alle Staats-Einnahmen 
und -Ausgaben nach Silber zu rechnen; b. nach Massgabe des Ein¬ 
laufens der jetzigen Assignaten in die Kronskassen und Banken die¬ 
selben gegen Depositenbillete oder Assignaten auf Silber (je nach¬ 
dem man dieses dann bestimmen würde) nach dem zu der Zeit gel¬ 
tenden Abgabenkurse einzuwechseln; letzterer sollte aber von 
dann ab bis zum gänzlichen Eintausch aller alten Assignaten unver¬ 
ändert bleiben und gleichzeitig ein besonderer Einwechselungsfond 
für die neuen Billete gegründet werden; e. endlich auch alle Bank¬ 
schulden und Einlagen nach demselben festen Kurse auf Silber um¬ 
zurechnen. 

II. Sehr ähnlich waren die Vorschläge des Grafen Speranski: 
1) Ausgabe einer neuen Art Creditbillete, auf Grundlage thatsäch- 
licher Einlagen, unter dem Namen Depositenbillete. Diese sollten 
an allen Kronskassen al pari mit dem Silber und anstatt Assignaten 
zum Abgabenkurse von 360 Kop. angenommen und ausgegeben 
werden. 2) Alle Zahlungen soMten von nun an in Silber oder jenen 
Depositenbilleten zum festgesetzten Kurse gemacht werden können. 

3) Schliesslich alle Bank-Assignaten gegen Depositenbillete einzu¬ 
tauschen; damit diese aber in ihrem Werthe durch Silber gedeckt 
seien, sollte eine Anleihe im Betrage der einzuwechselnden Assig¬ 
naten in Silber gemacht werden, wobei die Einlagen der Depositen¬ 
kasse unter allen Umständen unangetastet bleiben müssten. Der 
Eintausch der Assignaten sollte nicht direkt gegen Silber, sondern 
gegen die in ihrem vollen Silberwerthe gedeckten Depositenbillete 
erfolgen. 

HI. Fürst Drutzki-Ljubetzki verlangte : 1) Anerkennung des jetzj- 


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104 


gen Silberrubels als Münzeinheit. 2) Beibehaltung seiner jetzigen 
Theilung, nur vervollständigt durch die Ausgabe von Kupfergeld 
nach Silberwerth in 3-, 1- und V 8 -Kopekenstücken. Dieses neue 
Kupfergeld sollte 40 pCt. unter seinem Nennwerthe geprägt wer¬ 
den. 3) Alle Zahlungen, Rechnungen, Schulden u. s. w. sollten künf¬ 
tighin auf Silber lauten; daher a. alle Abgaben zum festen Kurse 
von 360 Kop. Banco für den Silberrubel umzurechnen seien; b. alle 
Zahlungen bis zur gänzlichen Einziehung der Assignaten auch in 
Silber zum festgesetzten Kurse geleistet werden könnten; c. Gold- 
und Platinamünze, wie die Silbermünze zu ihrem Nennwerthe, die 
jetzige Kupfermünze dagegen zu gleichem Werthe mit den Assig¬ 
naten kursiren zu lassen; mit der Prägung der Platinamünze jedoch 
aufzuhören und dieselbe überhaupt aus dem Verkehre zu ziehen. 
4) Gründung einer Depositenkasse bei der Commerzbank zur Ein¬ 
wechselung russischer Silber münze auf folgender Grundlage: a. Aus¬ 
gabe neuer Assignaten auf Silber in Appoints von 1, 5, 10, 25, 50 
und 100 Rubeln, und zwar allein für 30MUI. Rbl. 1-Rubelscheine 
und für dieselbe Summe von allen anderen Gattungen zusammen. 
Diese Scheine sollten einen Umlauf al pari mit der Silbermünze 
und zum Kurse von 360 Kop. für den Rubel gegen Assignaten er¬ 
halten. b. Alles in Staatskassen einlaufende Silbergeld sollte zum 
Eintausch gegen die 1-Rubelscheine in die Depositenkasse abge¬ 
liefert, dagegen die Gold- und Silberbarren in russische Münze um¬ 
geprägt und zur Einwechselung der Silber-Assignaten benutzt 
werden, c. Aus den erzielten Gewinnen der Depositenkasse einen 
Fond zur Einwechselung der Bank-Assignaten zu bilden. Sollte 
aber die Einziehung schnell ausgeführt werden, dann eine Anleihe 
zu diesem Zwecke zu machen. 

Wesentlich abweichend sind die beiden letzten Gutachten. 

IV. Admiral Greigh schlug vor: 1) Umprägung aller in Umlauf 
befindlichen Münze, um den Silberrubel auf den vierten Theil seines 
damaligen Werthes zu reduciren, d. h. ihn dem Assignatenrubel 
gleich zu machen (dabei musste aber dem damaligen Viertelrubel 
45 Kop. Banco in Silber zugestzt werden, da der Kurs des Silber¬ 
rubels 355 Kop. Banco betrug). Münzen zu 25 und 50 Kopeken, 
zu 1, 2 und 3 Rbl. in Silber, zu 5, 10 und 20 Rbl. in Gold zu 
prägen. Das Gewicht des Kupferrubels sollte 60 Solotnik betragen. 
2) Bis zur Umprägung aller Münze zu gestatten, Zahlungen u. s. w. 
sowohl in Assignaten, als auch in der neuen Münze zu machen. 


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105 


3) Bei Schuldzahlungen jedoch die Annahme der Goldmünze dem 
freien Uebereinkommen zu überlassen. 

V. Graf Mordwinow verlangte: i) Die Kronsgoldwäschen zu 
verstärken und sie Compagnien zu übergeben. 2) Die dadurch er¬ 
zielten grösseren Gewinne zur Eröffnung und Unterstützung von 
Privatbanken in den Provinzen zu verwenden. 3) Mit Zunahme der 
Goldmünze auch das Papiergeld zu vermehren (bis um 200 Mill. RbL 
Assignaten), und an den Staatskassen Assignaten und Münze ohne 
Unterschied bei allen Zahlungen anzunehmen, den Silberrubel zum 
festen Kurse von 400 Kop. Banco. 4) Alle in Umlauf befindliche 
ausländische Münze in russische umzuprägen und, um die Ausfuhr 
letzterer zu verhindern, eine Abgabe für dieselbe zu erheben. 5) In 
der Folge statt der vorhandenen Bank*Assignaten, Assignaten auf 
Silber einzuführen. 

Von diesen fünf Gutachten sind die beiden letzten im Reichsrathe 
unberücksichtigt geblieben. Dasjenige vom Grafen Mordwinow — 
weil es sich hauptsächlich auf die Entwickelung des inneren Ver¬ 
kehrs bezog, soweit es aber das Geldsystem berührt, in den übri¬ 
gen Gutachten schon enthalten war; dasjenige des AdmiralsGreigh— 
weil seine Ansicht in Betreff der Depositenbank mit der Cancrin’s 
und Speranski’s übereinstimmte, und seine Anschauung bezüglich 
des neuen Geldsystems wohl als sehr lehrreich, aber doch nicht 
als anwendbar angesehen wurde, da 1) eine Veränderung in der 
Münzeinheit von nachtheiligem Einflüsse auf den auswärtigen Handel 
und Credit sein könnte; 2) ein Beibehalten der gegenwärtigen As¬ 
signaten die Wiederkehr aller jetzt herrschenden Missstände doch 
möglich machen würde; 3) die Prägung von kleinem Silbergelde 
für den täglichen Verkehr obwohl nothwendig, bei der gewünsch¬ 
ten Theilung jedoch in Folge seiner zu kleinen Grösse unmöglich 
wäre; und 4) andere Vorschläge die Majorität im Reichsrathe und 
den Finanzminister für sich hätten. 

Die Vorschläge des Grafen Speranski und des Fürsten Drutzki- 
Ljubetzki sind im Wesentlichen so übereinstimmend mit der Vor¬ 
lage des Finanzministers, dass sie mit derselben zusammen einer 
Betrachtung unterworfen werden können. Sie verlangen alle drei 
1) Anerkennung der Süberwährung und des Silber-Rubels als Münz¬ 
einheit; Annahme dieser Münze nach festgesetztem Kurse an allen 
Kronskassen und Banken. 2) Gründung einer Depositenkasse zum 
Zweck der Ausgabe von Depositenbilleten oder Assignaten auf Süber, 
die in ihrem Silberwerthe durch Silbermünze gedeckt seien. 3) Die 


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kursirenden, auf «gangbare Münze» lautenden, Bank-Assignaten 
gegen Assignaten auf Silber lautend einzutauschen. 

Diese drei Gutachten entsprachen auch vollkommen den Grund¬ 
forderungen, denen bei der Reorganisation des damaligen Geld¬ 
systems Genüge geleistet werden sollte: i) dem Reichsgelde 
durch Wiederherstellung der Münzeinheit und der Einheit des 
Münzsystems einen positiven, festen Preis zu geben; 2) zur Festig¬ 
keit und Beständigkeit des Geldsystems dieses auf der Silberwährung 
zu begründen; 3) um das Volks-Agio in seinem letzten Grunde zu 
unterdrücken und ein Steigen der Assignaten zu verhüten, sowie 
zur Erleichterung der Geldumsätze, neues, in seinem Werthe durch 
Silber gedecktes, Papiergeld zu emittiren und die Assignaten gleich¬ 
zeitig einzuziehen. 

Da eine ausführliche Besprechung aller vorgeschlagenen Mass- 
regeln 1 zu weit führen würde, so werde ich nur bei den wichtigsten 
derselben länger verweilen. 

I. Ueber die Zeit der Einführung der nothwendigen Massregeln. 

Fürst Drutzki-Ljubetzki verlangte sofortige Publikation über die 
Ausführung aller Massregeln mit Ausnahme des Eintausches der 
alten Bank-Assignaten gegen Assignaten auf .Silber. Die Grafen 
Cancrin und Speranski wollten dagegen ein allmähliches Vorgehen, 
wenn möglich in drei, sonst in zwei Perioden; und zwar sollten am 
1. Januar 1840 alle Massregeln in Kraft treten, ausgenommen die 
Einwechselung der Assignaten, die erst am 1. Januar 1841 oder je 
nach Umständen auch noch später beginnen sollte. — Obgleich die 
Majorität im Reichsrathe der Vorlage des Finanzministers im We¬ 
sentlichen vollkommen beistimmte, differirte sie mit ihm in drei 
Punkten: 1) sie verwarf alle von ihm vorgeschlagenen Ausnahmen 
(cf. Vorlage Punkt 1, p. 102); 2) verlangte sie sofortige Bestim¬ 

mung eines festen, unveränderlichen Abgabenkurses (cf. Vorlage 
Punkt 1, p. 102), und 3) hielt sie die Nachtheile des Fortbestehens 
eines Volks-Agio während noch siebenMonaten (die Verhandlungen 
fanden im Juni 1839 statt) für so schädlich, dass sie die möglichst 
rasche Fixirung des Assignatenkurses und die Publikation eines 
darauf bezüglichen Manifestes für absolut geboten hielt. Dadurch 
hoffte man dem Uebel die Spitze abzubrechen und für alle anderen 
Massregeln Zeit zu gewinnen. Das Manifest sollte die Fixation des 
Assignatenkurses und den Befehl der Annahme von Silbermünze 
zum festgesetzten, unveränderlichen Kurse an allen Staatskassen 

1 M. d. R. v. 10., la. und 17. Juni 1839. 



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107 


und an den Creditanstalten bringen. Alle übrigen Massregeln sollten 
aber erst mit dem i. Januar 1840 eingeführt werden. 

II. Ueber die Fixation des Kurses. 

Welcher Kurs sollte bis zur vollendeten Einziehung der Assig¬ 
naten zum festen, unveränderlichen Kurse für letztere bestimmt 
werden? Diese Frage ist wohl die wichtigste in der ganzen Ver¬ 
handlung über die Reorganisation des Geldsystems von 1839. — 
Es standen sich hierbei zwei Ansichten schroff gegenüber. Die 
Einen, an ihrer Spitze der Finanzminister Graf Cancrin, verlangten 
zum festen, unveränderlichen Kurse den Börsenkurs, die Anderen, 
unter ihnen der Fürst Drutzki-Ljubetzki, den Abgabenkurs von 
360 Kop. für den Silberrubel bestimmt zu sehen. 

Für die Fixation nach dem Börsenkurse, welche übrigens nur die 
Minderzahl im Reichsrathe befürwortete, wurde mit vielem Rechte 
geltend gemacht, dass die Regierung verpflichtet sei, Sorge dafür 
zu tragen, dass die Ungerechtigkeit, welche sie mit jeder Fixation un¬ 
vermeidlich begehen müsse, eine möglichst geringe sei. Der Finanz¬ 
minister hob hierbei noch hervor, dass die Regierung bei der Ein¬ 
führung eines Zwangskurses sich vor Nichts so sehr scheuen müsste, 
als vor einem Vorgehen, das nur den geringsten Anschein von Will¬ 
kür habe; sie müsse dagegen suchen, dem allgemeinen Vertrauen 
möglichst Rechnung zu tragen. Es ist nun aber gewiss klar, dass 
der Börsenkurs der Assignaten ohne Frage ein weit richtigerer 
Massstab für das Vertrauen des Publikums in den Credit des Staates 
war, als der Abgabenkurs, denn letzterer war ja von der Regierung 
selbst festgesetzt worden. Es wundert mich auch sehr, dass man 
den eifrigen Vertheidigern des Abgabenkurses nicht in Erinnerung 
gebracht hat, dass der Abgabenkurs bei seiner Einführung, d. h. 
neun Jahre bevor er zum fixen Kurse gemacht werden sollte, auch 
kein anderer als der damalige Börsenkurs mit einiger Abrundung, 
der leichteren Berechnung wegen, gewesen ist. Jetzt entsprach er 
aber schon lange nicht mehr dem Börsenkurse, wie dieses doch 
eigentlich der Fall sein sollte. Der St. Petersburger Börsenkurs 
schwankte vom 1. Mai 1838 bis zum 1. Mai 1839 zwischen 353 und 
346 Kop. Banco für den Silberrubel, während der Abgabenkurs 
nach wie vor 360 betrug. — Der Abgabenkurs, da er niedriger 
als der faktische war, hätte, als fixer Kurs eingeführt, alle 
-Gläubiger stark benachtheiligt. Den Schuldnern sollte es näm¬ 
lich dem Gesetze nach freistehen, ihre Schulden in * Assignaten 
nach fixem Kurse oder in Silber zu bezahlen; die Gläubiger 


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/ 



dagegen waren gezwungen die Geldart anzunehmen, in welcher der 
Schuldner zahlen wollte. Durch denselben wären auch alle Perso¬ 
nen, die vom Ertrage fixer Kapitalien lebten, beeinträchtigt worden; 
desgleichen die Banken, welche den Depositären ihre Einlagen auf 
Wunsch in Assignaten zurückzahlen mussten; die Depositäre hätten 
also ihre Einlagen in Assignaten herausgezogen, für dieselben billi¬ 
geres Silber gekauft und dieses wieder in die Banken als Einlagen 
zurückgegeben, aus welcher Operation ihnen ein grosser Vortheil, 
den Banken aber ein entsprechender Schaden erwachsen wäre. Da 
die Kündigungen in solch einem Falle wahrscheinlich in Masse statt- 
funden hätten, so würde der Baarvorrath der Banken, mit dem es 
schon an und für sich schlecht bestellt war, nicht genügt haben, alle 
gekündigten Einlagen auszuzahlen; es wäre also zu schlimmen Krisen 
gekommen. Der zu niedrige Kurs hätte auch der Staatskasse direk¬ 
ten Nachtheil gebracht, indem sie nicht mehr mit 360 Kop. Banco, 
sondern mit einem Silberrubel alle Dinge bezahlen musste, diese sich 
aber in ihren Preisen nach dem höheren, natürlichen, d. h. dem Bör¬ 
senkurse der Assignaten, umgestaltet hätten. 

Als ein Hauptargument für die Fixation des Abgabenkurses wurde 
von den Vertretern desselben angeführt, er hätte sich beim Volke 
im Laufe der neun Jahre seines Bestehens vollkommen eingebür¬ 
gert, da alle Abgaben nach ihm entrichtet würden. Dabei vergassen 
die Herren vollkommen, dass die Zahlung von Abgaben nur einen 
sehr geringen Theil der gesammten Geldumsätze des Volkes aus¬ 
macht, bei weitem die meisten Zahlungen also nicht nach dem 
Abgabenkurse ausgeführtwurden. Ferner behaupteten sie, dass 
nur die Fixirung des Abgabenkurses zum beständigen Kurse der 
Regierung die Möglichkeit eröffne, dem Voikskurse sofort ein Ende 
zu machen. Merkwürdigerweise scheint dieser Vorzug des Abga¬ 
benkurses von den Gegnern nie beanstandet worden zu sein; wäh¬ 
rend, meiner Ansicht nach, die Bestimmung des Börsenkurses 
genau denselben Vortheil darbot, wenn man statt des projektirten 
Durchschnittes des Börsenkurses vom Jahre 1839, den Durch¬ 
schnittskurs vom 1. Mai 1838 bis zum 1. Mai 1839 zum unveränder¬ 
lichen Kurse bestimmt hätte. Triftiger erscheint dagegen der Ein¬ 
wand, dass es ungerecht sei den Börsenkurs von St. Petersburg, wie 
man dies vorgeschlagen, zum fixen Kurse zu machen. Warum man 
allerdings diese wesentliche Ungerechtigkeit begehen zu müssen 
glaubte, habfe ich nirgends ersehen können; es lag doch so nahe, den 
Durchschnittskurs der Hauptbörsen zum fixen Kurse zu bestimmen > 

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109 


zumal der Börsenkurs für den Silberrubel an den Haupthandelsplätzen 
nicht ganz unbedeutend von einander abwich, am höchsten stand er 
gewöhnlich in St. Petersburg. Man könnte auch noch einwenden, dass 
es ebenso ungerecht war, den Durchschnittskurs nur des Jahres 1839 
zur Fixation zu wählen, und nicht den mehrerer Jahre oder den am 
Tage der Publikation des Manifestes an der Börse notirten. Letzteres 
wäre vielleicht das Gerechteste, aber doch nur scheinbar so gewesen, 
denn ein Tageskurs kann von sehr zufälligen Umständen bedingt 
werden, und wäre dieses Mal auch aus dem Grunde gewiss nicht 
zweckentsprechend gewesen, weil das Gerücht von der Absicht der 
Regierung, den Tageskurs zum fixen zu bestimmen, sich nothwen- 
digerweise vor derZeit unter dem Publikum verbreitet hätte und damit 
die Bildung jenes Tageskurses vollkommen der Willkür des grossen 
Handelsstandes, der die Börse beherrscht, Preis gegeben gewesen 
wäre. Den Durchschnitt mehrerer Jahre hätte man gewiss wählen 
können, aber dieses machte die Berechnung des fixen Kurses be¬ 
deutend complicirter, und eine grössere Gerechtigkeit wäre damit 
auch nicht gerade erzielt worden, zumal die meisten Geldverbind¬ 
lichkeiten, x Kapitalumsätze u. s. w. im Laufe eines Jahres vor 
sich gehen. 

Nach den heftigen Debatten, welche im Reichsrathe über die 
Fixation stattfanden, ist es um so befremdender, dass das Mani¬ 
fest vom 1. Juli 1839, Nr. 12,497, «Ueber die Organisation des Geld¬ 
systems» in Punkt 2 und 3 nur eine Bestimmung über die Fixa¬ 
tion des Kurses enthält: er wird zu 350 Kop. Banco für den Silber¬ 
rubel normirt und der Abgabenkurs von 360 Kop. bis zum 1. Januar 
1840 für alle Zahlungen, die nach ihm laut früheren Bestimmungen 
erfolgen sollten, beibehalten. Es wird hier im Manifeste auch nicht 
mit einem Worte erwähnt, warum gerade der Kurs von 350 Kop. ge¬ 
wählt worden!? Dieser Kurs von 350 Kop. für den Silberrubel kam 
dem Durchschnitts-Börsenkurse vom 1. Mai 1838 bis zum 1. Mai 1839 
wohl nahe, überstieg ihn aber doch selbst für St Petersburg und 
noch mehr für andere Handelsplätze. 

DI. Ueber die Stückelung des neuen Papiergeldes. 

Der Finanzminister hatte Appoints von 5, 10, 25, 50 und 
100 Rubel vorgeschlagen, der Fürst Drutzki-Ljubetzki aber auch 
noch 1-Rubelscheine dringend verlangt. Das Departement der 
Reichsökonomie und der Reichsrath stimmten für den Vorschlag des 
Fürsten Drutzki-Ljubetzki, sie betrachteten die Ausgabe von 
I-Rubelscheinen für durchaus wünschenswert!!, weil sich leicht ein 


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Mangel an i-Rubelstücken einstellen könnte. Der Finanzminister 
wandte dagegen mit grösstem Rechte ein, dass es unzweckmässig 
sei, Billete in so kleinen Appoints in Umlauf zu setzen, weil das 
Augenmerk der Regierung darauf gerichtet sein müsse, die klingende 
Münze stets als Verkehrsmittel des täglichen Lebens zu erhalten, 
das Papiergeld dagegen nur im Grossverkehre cirkuliren zu lassen, 
wo es namentlich seiner grösseren Cirkulationsfahigkeit wegen be¬ 
deutende Vorzüge vor der klingenden Münze besitze. Eine Ausgabe 
von i- und 2-Rubelscheinen hielt Cancrin für geradezu gefähr¬ 
lich, diese könnten die klingende Münze wieder aus dem Verkehre 
treiben und dadurch nur all zu leicht wieder zum Agio-Unwesen 
Anlass geben lm 

IV. Ueber den Eintausch der Assignaten und den zu diesem 
Zwecke zu gründenden Fond. 

Graf Speranski schlug vor: i) eine Anleihe ganz ohne Rücksicht 
auf die in der Depositenkasse vorhandenen Einlagen zur Gründung 
des Fond zu machen, und 2) die Einwechselung der Assignaten 
nicht direkt gegen klingende Münze, sondern gegen, in Silber in 
ihrem Werthe gedeckte Depositenbillete vorzunehmen. — Fürst 
Drutzki-Ljubetzki wollte den Fond aus dem Ertrage der Depositen¬ 
kasse, wenn die Einwechselung der Assignaten aber rasch erfolgen 
sollte aus einer Anleihe gebildet haben. Unter allen Umständen 
sollte aber jedes Depositenbillet, auch das zum Eintausch der Assig¬ 
naten bestimmte, ganz in seinem Werthe durch Edelmetall ge¬ 
deckt sein. Der Finanzminister beantragte dagegen: Gründung 
eines Einwechselungsfond im Betrage von einem Fünftel oder einem 
Sechstel der zur Einwechselung der Assignaten ausgegebenen De¬ 
positenbillete, mit gleichzeitiger Garantie der Staatskasse, dass die 
Einlösung der neuen Billete ununterbrochen und ohne den gering¬ 
sten Aufenthalt vor sich gehen würde. Ferner sollten fürs Erste nur 
die in Staatskassen einlaufenden Assignaten eingetauscht werden, 
und an den Kreisrenteien die Einlösung der neuen Billete nur nach 
Massgabe des Baarvorraths derselben erfolgen, so wie nur in be¬ 
schränktem Betrage an ein und dieselbe Person. 

Das Departement der Reichsökonomie argumentirte seinerseits: 
die Ursache der gegenwärtigen Calamität liege in der Natur der 
Assignaten, die keine Pfandscheine (aKTM aajiora) seien, sondern 
ganz gewöhnliche, in ihrem Werthe durch gar nichts gedeckte 
Wechsel. Um das Uebel mit der Wurzel auszurotten, sollte nun die 

1 J. d. Dep. d. Reichsökon. 1839. Nr. 77. 




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III 


Natur der Assignaten verändert werden, indem sie jetzt auf Silber 
lauten und in ihrem Werthe durch Silber gedeckt sein sollten, anstatt" 
wie früher auf «irgendwelche gangbare Münze» (Ha Kaityio-To xoäh- 
nefo MOHeTy), deren Bedeutung von Anfang an nie genau bestimmt 
und in Folge von Zeit und Umständen ganz verdunkelt worden sei. 
Die Depositenbillete, welche zur Einwechselung der Assignaten aus¬ 
gegeben werden sollten, könnten unmöglich dieselbe volle Baar- 
deckung haben, wie die gleichlautenden undgleichaussehenden Depo¬ 
sitenbillete, welche gegen Einlagen in Gold und Silber ausgegeben 
würden. Im Manifeste könne daher nicht die Rede davon sein, dass 
die ganze Masse der ausgegebenen Billete volle Baardeckung habe, 
sondern es könne dort nur heissen, dass ein Fond vorhanden sei, 
der die ununterbrochene Einlösung garantire. Es fragte sich nun, ob 
diese neuen Bilette dadurch nicht mit der Zeit zu denselben Calami- 
täten führen könnten wie die Assignaten? Da aber andererseits der 
Ertrag der Commerzbank bei weitem nicht genügen würde, um 
auch nur im Entferntesten an eine Einlösung der Assignaten durch 
denselben denken zu können, andere Quellen dazu nicht vorhanden, 
eine neue Anleihe in so bedeutendem Betrage (170 Mill. Rbl. Silber) 
unmöglich, eine Einwechselung der Assignaten aber unumgänglich 
nöthig sei, so glaube das Departement der Vorlage des Finanz¬ 
ministers seine Zustimmung nicht vorenthalten zu dürfen, darauf 
rechnend, dass die ununterbrochene Ausgabe von Gold und Silber 
gegen die neuen Depositenbillete und das unbegrenzte Vertrauen, 
welches die Regierung geniesse, das Gelingen dieser in ihren Folgen 
so wichtigen Massregeln mehr als wahrscheinlich mache. 

V. Ueber die nothwendigen Veränderungen im Systeme der klin¬ 
genden Münze. 

Zwei auf diesem Gebiete angeregte Fragen wurden für den Augen¬ 
blick nicht entschieden. Einmal, welche Massregeln gegen den Um¬ 
lauf ausländischer Münzen zu treffen seien, und dann die Einziehung 
der Platinamünze als ungeeignetes Edelmetall geld. Was die Gold- 
und Silbermünze anbelangt, so wurde entschieden, dass sie in Form, 
Gewicht, Korn u. s. w. ganz dieselbe bleiben sollte. Da die Gold¬ 
münze mehr als Waare angesehen wurde, so blieb es den Privat¬ 
leuten überlassen, sie in Zahlung anzunehmen oder nicht; für die 
Annahme derselben an den Staatskassen wurde aber ein fester Kurs* 
bestimmt, der 3 pCt. höher als ihr Nennwerth war; dieses geschah, 
weil sich das Werthverhältniss von Gold und Silber inzwischen ver¬ 
ändert hatte. — Da eine den Verkehrsansprüchen genügende Aus¬ 
gabe von Kupfergeld nach Silberwerth erst im Laufe vieler Jahre 


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112 


erfolgen konnte, so musste inzwischen für das kursirende Banco- 
Kupfergeld auch ein fester Annahmekurs bestimmt werden. Da die 
Assignaten auf Kupfer basirten, wie dies wenigstens von den 
Meisten angenommen wurde, so lag es nahe, das Kupfergeld in 
dasselbe Verhältniss zu bringen wie die Assignaten, d. h. den 
Silberkopeken 3 ] /a alten Kupferkopeken gleich zu setzen y wie es 
auch geschah. Dagegen war von anderer Seite vorgeschlagen wor¬ 
den, das Verhältniss wie eins zu vier zu normiren. Zu Gunsten 
dieser Relation führte man an, dass durch dieselbe alle Umrech¬ 
nungen für das Volk bedeutend erleichtert und alle Brüche ver¬ 
mieden würden, welche namentlich deshalb sehr misslich wären, 
weil seit dem neuen Kupfergelde (1832) die Regierung keine 
Kopeken und halbe Kopeken mehr präge, von den alten sich aber 
nur sehr wenige in Umlauf befänden. Jene andere Werthbestim¬ 
mung für das Kupfergeld würde daher Verluste für das Volk her¬ 
beiführen, indem dieses stets die Brüche, welche sich bei Berech¬ 
nungen ergeben würden, zu Gunsten der Verkäufer cediren 
müsste. — Der Finanzminister hatte Anfangs auch für das Ver¬ 
hältniss von 1:4 gestimmt, dann aber seine Meinung geändert: 
1) weil er durch den Kurs von 3V2 grössere Einheit des ganzen 
Münzsystems zu erreichen hoffte, da ja der Assignatenrubel und 
der Kupferrubel gleichwerthig kursiren sollten; 2) weil den Brannt¬ 
weinspächtern und durch diese der Krone bei einer zu hohen Fixirung 
Nachtheile erwachsen konnten, und 3) endlich, weil er der Ansicht 
war, dass die vom Volke zu erleidenden Verluste bei kleinen Zah¬ 
lungen sehr gering und daher nicht fühlbar sein würden, bei grossen 
Zahlungen aber verschwinden müssten. 

Wie sehr sich aber Cancrin hierin irrte, zeigt die im Jahre 1842 
gepflogene Verhandlung über das Kupfergeld, die wir bereits zu 
Anfang dieses Abschnittes kennen gelernt haben (cf. p. 39). 

VI. Ueber die Gründung der Depositenkasse l . 

Die Umsätze der Commerzbank waren in Folge der schwerfälligen 
Form der Deposita sehr gering gewesen. Es konnten nämlich nur 
Einlagen gegen ! /4pCt. Provision auf sechs Monate gemacht werden; 
die ausgestellten Quittungen lauteten auf Namen, daher ihre Ueber- 
tragbarkeit sehr weitläufig war, zumal sie jedes Mal an der Bank 
selbst geschehen musste. Dazu kam, dass seit der Erlaubniss, 
Abgaben auch in klingender Münze zu zahlen (1831, cf. p. 42 und 
Gesetz Nr. 4,241), dieselbe sich in den Kronskassen massen- 

1 M. d. R. y. 9. November 1837 und J. d. Dep. d. Reichsökon. Nr. 77. 1839. 


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haft ansammelte, wo nun ihre schwierige Verschickung, Aufbewahrung 
u. s. w. der Finanzverwaltung sehr viele Unbequemlichkeiten verur¬ 
sachte. Aus diesen beiden Gründen schlug der Finanzminister eine 
Reform des Depositen-Statuts der Commerzbank vor, die darin 
bestehen sollte, den Quittungen über Einlagen eine circulations- 
fahigere Form zu geben, sie in Depositenbillete au porteur und auf 
bestimmte gleiche Appoints lautend umzuwandeln, und die Aufbe¬ 
wahrungsspesen abzuschaffen. Da die Depositenbillete volle Baar- 
deckung durch die Einlagen hatten, so konnte auf ihren Umlauf 
al pari mit der Silbermünze sicher gerechnet werden, zumal ihnen 
auch noch Zwangsannahme für die Kronskassen beigelegt wurde. — 
Ein für Cancrin gewiss nicht minder wichtiger Beweggrund zur 
Creirung dieser auf Silber lautenden Depositenbillete war seine 
Absicht, bei Wiedereinführung der Silberwährung auch Papiergeld 
auf Silber lautend einzuführen. Durch eben diese Depositenbillete 
wollte er das Volk für eine neue Art Papiergeld vorbereiten, denn 
es war ja anzunehmen, dass das Publikum an diesen Depositen- 
billeten grosses Gefallen finden würde, wie es auch geschah. Wenn 
man nun später, wie dieses in Cancrin's Absicht lag, die Assignaten 
gegen ebensolche Depositenbillete eintauschen wollte, so konnte 
man wohl nicht mit Unrecht darauf rechnen, dass das Vertrauen 
des Publikums zu den Depositenbilleten gegen Einlagen sich auch 
auf die zum Assignateneintausch bestimmten fortpflanzen würde, 
wenn diese sich durch Nichts von den ersteren unterschieden. 

Der Reichsrath stimmte vollkommen mit der Vorlage des Finanz¬ 
ministers überein; sie wurde auch Allerhöchst bestätigt und so 
erschien am i. Juli 1839 gleichzeitig mit dem Manifeste über die 
Organisation des Geldsystems auch ein Manifest über die Gründung 
einer Depositenkasse für Einlagen in Silbermünze bei der Commerz¬ 
bank (cf. Gesetz Nr. 12,498). 

Der Erfolg dieser Depositenkasse war ein eclatanter. In dreizehn 
Monaten waren für 26,666,808 Rbl. Silber Einlagen gemacht und 
nur für 1,596,475 Rbl. Silber Depositenbillete zur Einlösung gegen 
klingende Münze präsentirt worden. Die Billete kursirten im 
ganzen Reiche al pari mit der Silbermünze und genossen beim 
Publikum das grösste Vertrauen. Um nun die Umsätze der Kasse 
noch zu vergrössern und dem Publikum die Einlagen zu erleichtern, 
schlug der Finanzminister im Jahre 1841 vor, auch die Annahme 
von Gold- und Silberbarren an der Depositenkasse zu gestatten. 
Russische Goldmünze und ausländische Gold- und Silbermünze 

Boss. Kerne, Bd, YH. o 


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sollten aber nach wie vor nicht angenommen werden. Letztere 
seien von zu verschiedenem Feingehalte und ihre Annahme könnte 
daher Verluste für die Kasse zur Folge haben. Die russische 
Goldmünze dem Verkehre zu entziehen, wäre ein Nachtheil für den¬ 
selben, auch könnte sie nur nach Gewicht angenommen werden, 
da sehr viel abgenutzte Goldmünze in Umlauf sei. Den Beweis für 
diese Behauptung blieb aber Cancrin schuldig. Das Departement 
der Reichsökonomie erkannte daher sein letztes Argument nicht an, 
sondern betrachtete die Annahme russischer Goldmünze in der Depo¬ 
sitenkasse als einen direkten Vortheil für den Verkehr, da durch 
dieselbe die Silbermünze mehr im Umlaufe erhalten würde, was für 
den täglichen Verkehr von viel grösserer Bedeutung sei, weil die 
Zahlungen im Alltagsleben stets vermittelst Silbermünze gemacht 
würden. Da der Finanzminister sich hierauf erbot, eine besondere 
schriftliche Eingabe über diesen Punkt zu machen, so wurde fürs 
Erste nur die Annahme von Gold- und Silberbarren entschieden 1 
(cf. Gesetz v. io. Februar 1841. Nr, 14,266). 

Die Ein- und Ausfuhr der Depositenbillete war, weil diese Billete, 
nach der Meinung des Reichsraths, ihren Eigenschaften gemäss aus¬ 
schliesslich für den internen Verkehr bestimmt waren und deshalbüber 
ihre Nachahmung ganz besonders gewacht werden müsste, verboten 2 . 


Leser, welche mit den im Vorstehenden geschilderten Zuständen 
bekannt sind, werden manche Lücken in der Erörterung bemerkt 
haben, die einmal dadurch entstanden sind, dass ich über die betref¬ 
fenden Fragen kein genügendes Material habe finden können, oder 
dass das Material nicht wesentlich Bedeutendes enthielt, oder end¬ 
lich, dass dasselbe bereits bis zu einem gewissen Grade unverändert 
in das darauf bezügliche Gesetz selbst übergegangen war. Aus diesem 
Grunde habe ich nun im letzten Abschnitte der Studie möglichst 
sorgfältig die auf das Geldwesen bezüglichen Gesetze nach der voll¬ 
ständigen Gesetzsammlung (üojiHoe CoöpaHie 3 aKOHOBi>) zusam¬ 
mengestellt, mit besonderer Berücksichtigung ihrer Motive, wo 
solche im Gesetze enthalten waren. Ich verweise daher auf diese 
Zusammenstellung, welche die vorliegende Darstellung des Geld¬ 
wesens unter dem Grafen Cancrin wesentlich ergänzt und die Lücken 
meiner Abhandlung ausfüllt. 


1 M. d. R. v. 10. Februar 1841. * M. d. R. v. 18. März 1840. 



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H5 


Zweiter Abschnitt. 

Ueber das Volks*Agio (npocTOHapoAHbtf *m%). 

Es gilt hier einen Versuch, die eigenthümliche Erscheinung des 
«Volks-Agio» zu erklären. Ich betone, dass es nur ein Versuch ist, 
denn weder habe ich in der Literatur über die damalige Zeit irgend¬ 
welche genügende Erklärung dieser wohl einzig in der Volkswirt¬ 
schaft dastehenden Erscheinung gefunden, noch selbst in tmedirten 
Quellen, die mir zu Gebote gestanden und aus denen ich einzelne 
Ansichten über diesen Gegenstand weiter unten ausführlich darlegen 
werde; noch ist es mir selbst gelungen, durch mündliche Bespre¬ 
chung der Frage mit Männern aus jener Zeit eine wissenschaftlich 
genügende Auskunft zu erhalten. Ein Jeder erinnerte sich wohl, 
dass vor dem Jahre 1839 von einem sogenannten Volks-Agio ge¬ 
sprochen worden und auch wohl dessen, dass, wenn man z. B. eine 
Waare für hundert Rbl. erhandelt hatte, es vorgekommen sei, dass 
der Kaufmann, bei der Bezahlung derselben mit einem Hundert-Ru- 
bel-Assignatenscheine, einige Rubel Banco wieder herausgegeben. 
Fragte ich aber warum? wie viel? und dergleichen mehr, so blieb 
man mir stets die Antwort schuldig. Da mir also stricte Erklärungen 
aus jener Zeit fehlten, ich in der Literatur nichts und in den Quellen 
nur einzelne, zum Theil entschieden falsche Andeutungen über die 
Entstehung dieses Agio fand, so galt es eine einigermassen genügende 
Erklärung dieser Erscheinung selbst zu finden. Das habe ich nun in 
Nachfolgendem versucht. Dem mit den Verhältnissen jener Zeit be¬ 
kannten Leser mögen einzelne Erörterungen vielleicht zu weitläufig 
erscheinen, aber man wolle bedenken, dass diese Erscheinung des 
Volks-Agio den Meisten jedenfalls in ihrem Wesen vollkommen un¬ 
bekannt ist, und es demnach meine erste Pflicht war, eine derartige 
Erklärung derselben zu geben, dass sie auch dem Laien möglichst 
verständlich sei. Ein weiteres Motiv habe ich dazu auch noch darin 
gefunden, dass, soweit mir die Literatur zu Gebote gestanden hat, 
das Vorkommen dieses Volks-Agio einzig in Russland bemerkt wor¬ 
den ist. 

Aus dem vorhergehenden Abschnitte konnte man ersehen, dass 
kaum irgend eine das Geldwesen betreffende Verhandlung im Reichs- 
rathe stattgefunden hat, ohne dass in derselben von «der Rechnung 
auf Münz§» (cHen> Ha MOHeTy) und von dem «Volkskurse» (npo- 


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cTOHapoAHUtt KypcT») oder dem «Volks-Agio» (npocTOHapOAHbift 
jia>KT>) die Rede gewesen. Gleich im Jahre 1826 findet die Ver¬ 
handlung über das Projekt des Kaufmanns Subzaninow statt und so 
geht es fort bis zu der grossen Reform des Geldwesens im Jahre 
1839. Ein Hauptmotiv zu dieser letzteren war unbedingt die fürch¬ 
terliche Verwirrung, welche die Existenz «der Rechnung auf Münze» 
und «des Volks-Agio» in dem ganzen Gemeinleben verursacht hatte. 
Ein Krebsschaden war dadurch entstanden, an dem alle Stände 
und Klassen der Gesellschaft, bei weitem aber am meisten das nie¬ 
dere Volk, zumal die Bauern und Tagelöhner litten. 

Aus praktischen Gründen schicke ich meine eigene ausführliche 
Untersuchung über die Entstehung und das Wesen des Volks-Agio 
voraus, bevor ich auf die zeitgenössischen Erklärungen dieser Er¬ 
scheinung und die sich aus der «Rechnung auf Münze» und dem 
Volks-Agio ergebenden Missstände eingehe. 

Das Manifest vom 16. April 1817 (Nr. 26,791) enthielt folgende 
wichtige Bestimmung: «Die im Jahre 1812 in Folge des Krieges 
suspendirte Tilgung der Schulden und Auslösung der Assignaten 
[wie sie nach den Manifesten des Jahres 1810 vom 13. April (Nr* 
24,197), 27. Mai (Nr. 24,244), 20. Juni (Nr. 24,264), 29. August 
(Nr. 24,433) und vom 19. December (Nr. 24,465) stattzufinden hat] 
wird wieder aufgenommen, und zwar ist die Verminderung der in 
Umlauf befindlichen Menge Assignaten so lange fortzusetzen, bis die 
Assignaten in ihrem Werthe al pari mit der klingenden Münze stehen*. 
Veranlasste die Einziehung der Assignaten auch nicht direkt das Ent¬ 
stehen des Volks-Agio, so that sie es doch auf indirekte Weise, indem 
diese Massregel eine Steigerung des Werthes der Assignaten be¬ 
wirkte, welche letztere der Ausgangspunkt für das Volks-Agio wurde. 
Im Jahre 1815 hatten die Assignaten ihren tiefsten .Stand erreicht. 
Derselbe wird für den Assignatenrubel allgemein mit 24V6 Kop. Silb. 
angegeben, welcher Kurs für den Silberrubel etwas mehr denn 413 
Kop. Banco ergiebt l . Ganz im Allgemeinen rechnete man aber 
den Silberrubel gleich vier Rubel Assignaten zur Zeit des tiefsten 
Standes der letzteren. Diesen Kurs müssen wir uns im Laufe der 
Erörterung stets vergegenwärtigen. 


4 v. Jakob: Ueber Russlands Papiergeld. 1817. Tabelle p. 147,148; JlauaHCicil: 
ÜCTopanecKift oMeprb AenexcHaro oöpameHi* bt» Pocciu <n» 1650 - 1817, p. 155. (La- 


manski: Historische Skizze des Geldumlaufs in Russland von 1650- 
Tabelle p. 62, Anmerkung 2. 


1817). cf. auch 



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117 


Nach dem Manifeste vom 16. April 1817 sollte nun der Werth der 
Assignaten, wenn auch im Laufe vieler Jahre, allmählich um das 
Vierfache gehoben werden. Welch* glänzende Aussicht für den 
augenblicklichen Besitzer von Assignaten! Er konnte auf ein stetes 
Wachsen seines in Assignaten bestehenden Vermögens rechnen; 
legte er es nun gar in den Creditanstalten als Einlage an, so erhielt 
er obendrein noch Zinsen und sein Vermögen wuchs ohne das ge¬ 
ringste Zuthun seinerseits, denn die Creditanstalten waren verpflich¬ 
tet, ihm seine Einlage auf Verlangen stets wieder in Assignaten, 
d. h. in der Geldart, in welcher die Einlage gemacht worden war, 
zurückzuzahlen. Da nun wirklich eine fortdauernde Hebung des 
Werthes der Assignaten eintrat, so wurde die Hoffnung des 
Assignatenbesitzers auf Gewinn zur Gewissheit. Dieser Gewinn 
steigerte sich von Jahr zu Jahr, denn der Stand der Assignaten bes¬ 
serte sich erst langsam, dann schneller. Durch welche Ursachen 
das bewirkt wurde, berührt uns an dieser Stelle nicht, denn 
es kommt uns nur auf die Thatsache an, dass jeder Besitzer 
von Assignaten eine Vermögensvermehrung genoss, ohne auch 
nur das Geringste dafür gethan zu haben. Wer aber keine 
Assignaten besass, participirte auch nicht an diesem unverdienten 
Gewinne. Man darf sich daher nicht wundern, dass Diejenigen, 
welche keine Assignaten in ihrem Besitze hatten, sich bemühten, 
doch auch auf irgend eine Weise Theil an jenem unverdienten 
Vermögenszuwachse zu erlangen. Natürlich konnten aber anderer¬ 
seits derartige Gedanken nur Leuten kommen, die wenigstens eini- 
germassen mit dem Geldwesen vertraut waren. Die Hauptklasse 
der Gesellschaft, deren Vermögen nicht in flüssigem Gelde oder An¬ 
lage - Papieren bestand, war der Handelsstand. Dieser wollte nun 
den Besitzern von Assignaten jenen aus der Hebung der letzteren 
erwachsenden Vortheil keinen Falls allein überlassen, sondern selbst 
auch daran Theil nehmen; er suchte ihnen gegenüber dieselbe Stel¬ 
lung zu behaupten, wie er sie vor der Kursbesserung der Assignaten 
eingenommen. Als der Kurs der Assignaten am niedrigsten stand, 
400 Kop. Banco gleich 100 Kop. Silber, war es nämlich wesentlich 
gleich, ob Jemand 400 Rubel in Assignatenscheinen oder 100 Rubel 
in Silber, oder Waare für 400 Rbl. Assignaten oder 100 Rbl. Silber 
besass. Mit der Hebung der Assignaten (von 1817 an) aber änderte 
sich die Sachlage. Waren der Kaufmann und der Assignatenbesitzer 
vorher gleichgestellt gewesen, so war es von jetzt ab nicht mehr der 
Fall. Angenommen, dass der Eine seine Waaren, der Andere seine 


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/ 



Assignatenscheine, die er 1815 im Werthe von 400 Rbl. Banco be¬ 
sessen, bis 1837 nicht verkauft und nicht verausgabt hatte, so war 
Letzterer nun im Vortheil. 1837 hatte sich der Kurs der Assignaten 
allmählich gebessert, wodurch dem Besitzer der Assignaten ohne 
jegliches eigene Verdienst ein Gewinn erwachsen war, denn seine 
400 Rubel Assignatenscheine waren jetzt nicht nur 100 Rubel Silber, 
sondern noch bedeutend mehr werth. Anders erging es dem Kauf¬ 
mann. Seine Waare, damals 400 Rbl., war jetzt dem Kurse nach nur 
noch 352 Rbl. in Assignaten werth, weil der Kurs der letzteren sich 
von 400 auf 352 gehoben hatte. Zwar erlitt er keinen direkten Ver¬ 
lust, denn seine Waare blieb nach wie vor 100 Rbl. Silber werth f 
aber er hatte in diesem Falle auch keinen Antheil an dem Gewinne 
aus der Hebung des Assignatenkurses. Der Kaufmann suchte nun 
nach Mitteln und Wegen, um an jenem unverdienten Vortheile auch 
zu participiren. Er konnte dieses erreichen, wenn er seine Waare 
den Schwankungen des Assignatenkurses anpasste, d. h. mit jedem 
Hinaufgehen desselben auch seine sämmtliche Waare im Preise stei¬ 
gerte. Diese steten Umrechnungen waren ihm viel zu umständlich 
und hätten auch eine beständige Schwankung der Preise herbeige¬ 
führt, was die Käufer stutzig machen musste, u. dgl. m. Kurz, dieser 
Weg, jenen Vortheil zu erjagen, kam dem Kaufmann unanwendbar 
vor und er ersann sich einen anderen. Er stellte z. B. 1837 folgen¬ 
des Raisonnement an: «Vor der Hebung der Assignaten, d. h. zur 
Zeit ihres tiefsten Standes, erhielt ich für meine Waare, die 100 Rbl. 
werth war, 100 Rbl. in Assignaten oder 25 Rbl. in Silber und stand 
mich dabei ökonomisch ganz gleich mit meinem Käufer, der einen 
100-Rubel-Assignatenschein besass; jetzt 1837 ist eben dieselbe 
meine Waare beim Kurse von 352 Kop. Banco (statt damals 400) 
für den Silberrubel nur noch 88 Rbl. in Assignaten werth, während 
der damalige Besitzer des 100-Rubel-Assignatenscheines denselben 
noch in seinem vollen Werthe besitzt. Demnach befinde ich mich 
beim Verkaufe meiner Waare gegen Assignaten zu deren Kurs¬ 
werte im Nachtheil dem Besitzer der Assignaten gegenüber, wenn 
ich unsere beiderseitige gleiche ökonomische Stellung zur Zeit des 
tiefsten Standes der Assignaten berücksichtige». Der Kaufmann 
beschloss demnach, seine Waare dem Käufer nicht direkt gegen 
Assignaten zu verhandeln, sondern einfach auf Rubel, ohne irgend¬ 
welche nähere Bestimmung. Dieses nannte man «Rechnung auf 
Münze» (cnen» Ha MOHeTy) 1 . — Wurde z. B. eine Waare für 100 Rbl. 

* Hierbei sei aber daran erinnert, dass laut Gesetz alle Preise in Assignaten ange¬ 
geben werden mussten. 


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erhandelt, so fragte der Verkäufer erst nach Abschluss des Handels 
den Käufer, worin er zahlen wolle, in Assignaten oder Silber? Je 
nachdem die Antwort ausfiel, stellte er nun seine besondere Berech¬ 
nung an. Wollte der Käufer in Assignaten zahlen, so überlegte der 
Verkäufer folgendermassen: «Durch die Hebung des Assignaten¬ 
kurses von 400 auf 352 ist dem A'ssignatenbesitzer ein Vortheil von 
12 pCt. zu Theii geworden, es ist nun nicht billig, dass ihm allein 
dieser unverdiente Gewinn ganz zufliesse, andererseits kann ich ihn 
aber auch nicht für mich allein beanspruchen, indem ich meine 
Waare um 12 pCt. steigere, worauf der Käufer nicht eingehen würde, 
daher theile ich jenen Vortheil und verrechne dem Käufer die 
Assignate mit 6 pCt. (statt 12) Kurshebung». Der Verkäufer lässt 
sich demnach für die für 100 Rbl. erhandelte Waare vom Käufer nicht 
88 Rbl. in Assignaten auszahlen, was die Waare dem Kurse der As¬ 
signaten nach eigentlich werth ist, auch nicht 100 Rbl. in Assigna¬ 
ten, was sie beim tiefsten Stande der Assignaten werth war, sondern 
94 Rbl. — Eine ähnliche Berechnung stellte der Verkäufer an, wenn 
der Käufer in Silber zahlen wollte. Da er laut Gesetz verpflichtet 
war, den Preis der Waare in Rubeln Assignaten anzugeben, so 
musste er erst seinen in Rubeln angegebenen Preis auf Assignaten 
umrechnen und dann, von diesem letzteren Preise ausgehend, folgen¬ 
der Art seine Berechnung für den Kurs, nach welchem er das Silber 
vom Käufer annehmen konnte, anstellen: «Verrechne ich dem Käu¬ 
fer die Assignaten nach dem Börsenkurse, d. h. zu 352 Kop. für den 
Silberrubel, so erhalte ich in Silber für die 100 Rubel, für welche der 
Handel abgeschlossen wurde, eine Summe, die nur 88 Rbl. in Assig¬ 
naten werth ist, hierbei wäre ich im Nachtheil, denn gegen Assigna¬ 
ten verkauft, erhielt ich 94 Rbl.» Er muss also die Assignaten zu 
einem niedrigeren Kurse verrechnen, und zwar nach folgender Pro- 

P 0rti0n; 88:94 = 352:*; x = 3 S >.94 = 3 J 0 M = 376 , 

also zu einem Kurse von 376, d. h. er wird für jene 100 Rbl. 26*/® 
Rbl. Silber zu lösen suchen, denn 


376:400 = 25 


400.25_10000 


= 26,6. 


376 376 

Dieser Preis von 26 # /5 Rbl. Silber ist aber auch um 6 pCt. höher 
(etwas mehr) als der Werth der Waare nach dem Börsenkurse be¬ 
tragen würde, nämlich 25 Rbl. Silber. Wollte er die Assignaten bei 
der Bezahlung in Silber zum Börsenkurse verrechnen, so müsste er 
für seine Waare einen höheren Preis fordern, nämlich io6 4 /# Rbl., denn 

352 : 376 = 100 : x; x = 376 -- °? = = 106,8. 

* 35* 35* 


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120 


Der Bequemlichkeit wegen würde er die Waare für io6 Rbl. ablas- 
sen, wobei er aber auch in diesem Falle 2Ö 8 /5 Rbl. Silber lösen 
würde. Der Verkäufer schlug jedoch diesen letzten Weg nicht ein, 
weil derselbe eine direkte Preissteigerung der Waare verlangte, die 
er aber unter allen Umständen vermeiden wollte. 

Diese Mehrforderung der Kaufleute, d. h. die Procente, um welche 
sie ihre Waare indirekt theurer verkauften, als sie nach dem jedes¬ 
maligen Börsenkurse der Assignaten werth war, bildete nun das 
sogenannte «Volks-Agio». Dieses bestand demnach in einer Kurs¬ 
differenz-Berechnung, durch welche der Verkäufer von Waare an 
dem, aus der Hebung des Assignatenwerthes sich ergebenden 
Gewinne Theil zu nehmen sich bestrebte. Dem Käufer erschien 
im ersten Augenblicke die Sachlage ganz anders, wenigstens wenn 
er in Assignaten bezahlen wollte. Er erhandelte eine Sache für 
ioo Rbl., bezahlte dieselbe mit einem ioo-Rbl.-Assignatenschein 
und erhielt 6 Rbl. in Assignaten wieder zurück. Diese zurück¬ 
erhaltenen 6 Rbl. betrachtete er nun irrthümlich als einen direkten 
Gewinn, denn die von ihm gekaufte Waare war in dem Augenblicke 
nur 88 Rbl. in Assignaten werth. Er hatte sie mit mehr denn 
6 pCt. zu theuer bezahlt, um ebenso viel, als wenn er in Silber nach 
dem Börsenkurse von 352 gezahlt hätte und der Verkäufer ihm 
für dieselbe Waare 106 Rbl. abforderte, oder auch nur 100 Rbl., 
ihm dann aber die Assignate zum Kurse von 376 für den Silber¬ 
rubel verrechnete. In allen drei Fällen kam ihm die Waare statt 
der 88 Rbl. Assignaten, die sie eigentlich werth war, 94 Rbl. Assig¬ 
naten zu stehen. 

Die Kaufleute Hessen also alle ihre Waarenpreise nominell unver¬ 
ändert, d. h. von den Kursveränderungen der Assignaten unbe¬ 
rührt, wie sie beim tiefsten Stande der Assignaten gewesen waren. 
Sie vermieden namentlich auch deshalb alle Preisveränderungen, 
weil sich ihnen damit die Möglichkeit entzogen hätte, die Waare für 
einen billigeren Preis, als den ursprünglich ausgemachten, wegzu¬ 
geben, durch welchen scheinbare^ Rabatt die Käufer leichter 
bewogen wurden, auf ihre Berechnungen einzugehen. Die Münz¬ 
einheit, nach der die Preisbestimmung beim Abschlüsse eines Handels 
erfolgte, war demnach der Assignatenrubel zur Zeit seines tiefsten 
Standes; die sogenannte «Rechnung auf Münze» (c*ien> Ha MOHeTy): 
eine Preisbestimmung zu einem Kurse der Assignaten, welcher sich 
auf halber Höhe zwischem dem v jeweiligen Börsenkurse der Assig¬ 
naten und dessen tiefsten Stande 1815 befand, und welchen man 


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den «Volkskurs* (npocTOHapoAHufl Kypct) nannte; und das «Volks- 
Agio» selbst (npocTOHapoAHUfi jia>KT>) bestand stets in gewissen 
Procenten, die dem jeweiligen Börsenkurse zugeschlagen wurden. 

Genau dieselben Berechnungen und Verrechnungen fanden bei 
Käufen auf Credit, Schuldverschreibungen u. s. w., kurz bei 
Schliessung aller Geldverbindlichkeiten statt. Es hiess dann immer 
«nach Rechnung auf Münze (uo cneTy Ha MOHeiy) so und so viele 
Rubel zu zahlen», worunter man die Bezahlung nach dem Volks* 
kurse verstand. 

Ich hoffe im Vorhergehenden für den Ursprung und das Wesen 
der «Rechnung auf Münze» (cnerb Ha MOHeTy), des «Volks-Kurses» 
(npocTOHapoAHMft Kypcb) und des «Volks-Agio» (npoeroHapoAHuft 
jiaÄT>) eine genügende Erklärung gegeben zu haben. Wie weit die¬ 
ses Auskunftsmittel der Kaufleute, am Vortheile der Hebung der 
Assignaten Theil zu nehmen, gerechtfertigt werden kann, welche 
Missstände es mit sich führte und ähnliche Fragen, können nicht 
an dieser Stelle beantwortet werden, weil wir bei der Darlegung 
und Kritik der nachfolgenden Ansichten des Grafen Cancrin, des 
Fürsten Drutzi-Ljubetzki und des Grafen Speranski auf dieselben 
zurück kommen werden und zum Schlüsse ein kurzes Ergebniss der 
ganzen Untersuchung zu geben gedenken. 

I. Ansicht des Grafen Cancrin über,das «Volks-Agio». Ich habe 
dieselbe nach den mannigfachen Aeusserungen, welche er wieder* 
holt in den Reichsrathssitzungen über diesen Gegenstand gethan, so 
wie nach dem Gutachten, welches er über die Frage der Reorgani¬ 
sation des Geldwesens bei dem Departement der Reichsökonomie ein¬ 
gereicht hat, zusammengestellt 1 . Ausserdem erwähnt Cancrin ganz 
kurzder Erscheinung des Volks-Agioin seiner «Oekonomie dermensch- 
lichen Gesellschaften», p. 119, mit folgenden Worten: «So stiegen die 
russischen Assignationen . . . wozu noch der höchst sonderbare Um¬ 
stand kam, dass die Kleinhändler auf Metallgeld und Papier zugleich 
die Kurse vergrösserten, so dass zwar das Verhältnis gegen den 
Börsenkurs blieb, aber durch beständiges Erhöhen beider Geldsorten 
bei den Zahlungen für Waare, die auf langen Credit genommen 
worden, ein Gewinn herauskam; sogar wurden diese imaginären 
Kurse im gemeinen Leben herrschend. Eine höchst sonderbare 
Erscheinung, die Manchem kaum begreiflich erscheinen wird, aber 


1 J. d. Dcp. d. Reichsokon. Nr. 180, 1837 und Nr. 77, 1839. M. d. R. v. 29. No¬ 
vember 1837. 


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122 


viel Uebel stiftete». Und in seinem Rechenschaftsberichte an den 
Kaiser über seine zwanzigjährige Finanzverwaltung, welche Graf 
Keyserling als Beilage der Tagebücher abgedruckt (Beilage II, 
p. 6o), lässt sich Cancrin folgendermassen über dieselbe Erscheinung 
aus: «Doch war die Besserung (der Assignaten) auch gewisser- 
massen mit Ungelegenheiten im entgegengesetzten Sinne verbunden, 
und gleichzeitig schlich sich ein eigenthümliches Uebel ein: es bil¬ 
dete sich im Verkehre unter dem niederen Volke ein Agio, nach 
welchem sich für Silbermünze und für Banknoten Kurse von beson¬ 
derer Höhe in gewissem Verhältnisse zu einander nicht nur in 
beiden Residenzen, sondern auch in vielen Gouvernements fest¬ 
stellten. Die augenfällige Tendenz dieses Missbrauchs bestand 
darin, durch beständiges Steigen eines solchen willkürlichen Agio 
für eine kurz vorher contrahirte Schuld weniger zu zahlen und über¬ 
haupt auf mannigfache Weise zu agiotiren. — In Veranlassung eines 
von Commissionären der Krone gegen Schiffsarbeiter ausgeübten 
Betruges kam 1826 über diesen Gegenstand eine Vorstellung des 
Militärressorts an den Reichsrath, der ungeachtet der dringendsten 
Gegenvorstellung des Finanzministers dieses Agio legalisirte K Ur¬ 
sprünglich unbedeutend, wuchs dieses Agio zu einer unglaublichen 
Höhe, so dass endlich sogar bis zu 27 pCt. sowohl zur Silber¬ 
münze als auch zu Banknoten zugeschlagen wurde, wobei noch 
jedes Gouvernement, wie gesagt, sein besonderes Agio hatte; eine 
Sachlage, die geradezu eine Volkscalamität war. — Die Ursache 
dieses jetzt kaum verständlichen Uebels suchte man da, wo sie 
nicht zu finden war, und bei der Neigung Vieler, jede Schuld dem 
Finanzministerium beizumessen, schrieb man sie seiner Nachlässig¬ 
keit zu, wiewohl es energische Massregeln zur Ausrottung dieses 
Betruges wiederholt in Vorschlag gebracht hatte». 

Die Ergänzungen und Ausführungen dieser in wenigen Zeilen aus¬ 
gedrückten Ansichten über das Volks-Agio erhalten wir ^us den 
schon erwähnten Reden und Gutachten im Reichsrathe und dem De¬ 
partement der Reichsökonomie. Das^wichtigste Dokument für uns ist 
sein Gutachten: «Ueber die Noth wendigkeit, der Rechnung auf Münze 
und Assignaten nach dem Volkskurse ein Ende zu machen», am 29. 
Juli 1837 von ihm eingereicht 2 . Der wesentliche Inhalt desselben ist 
folgender. Der Hauptgrund der Einführung undSteigerung der Volks¬ 
kurse war die eigennützige Absicht einiger Kaufleute, sich die Einfalt 

1 cf. Gesetz vom 27. October 1826, Nr. 636. 

* J. d. Dep. d. ReichsokQn., 1839, Nr. 77. 


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123 


und Unwissenheit des niederen Volkes zu Nutzen zu machen, 
indem sie eine Waare aus erster Hand für den früheren Preis 
kauften, sie aber nach höherem Kurse bezahlten j eingegangene Geld¬ 
verbindlichkeiten vermittelst erhöhter Kurse vortheilhaft lösten, oder 
indem sie für verkaufte Waare Geld zu einem Kurse annahmen, 
es aber zu einem anderen vortheilhafteren Kurse wieder veraus¬ 
gabten. Den Erfolg dieses Unternehmens begünstigten: I) die in den 
letzten zwanzig Jahren stattgefundene mächtige Umwandelung in 
unserem Geldwesen, nach welchem, im Gegensatz zu der früheren 
Zeit, das Silber für alle kleinen Zahlungen im Gemeinleben in 
Gebrauch gekommen war, während die Assignaten mehr in die 
grosse Circulation übergingen; und 2) die unbedeutenden Verände¬ 
rungen im Börsen-Agio, als 1818 die Ausgabe von Assignaten ganz 
sistirt und ein nicht unbedeutender Theil derselben durch Anleihen 
• getilgt wurde. Die beim Detail-Verkauf üblichen runden Kurse, wie 
z. B. in St. Petersburg von 375 Kop., waren theilweise Folgen der 
Rechnung auf Münze, theilweise hatten sie sich aber selbstständig 
ausgebildet. Durch diese spekulativen Rechnungen hatte sich all¬ 
mählich in vielen Klassen der Geist des Agiotirens eingeschlichen, 
welcher durch die Wechselbuden genährt wurde. Die Verwirrung 
der Geldverhältnisse wurde durch das höhere Agio auf kleine Silber¬ 
münze noch vermehrt. Dieses gründete sich nicht auf den Mangel 
an solcher Münze im Verkehr, sondern auf die Bequemlichkeit einer 
leichteren Berechnung und hätte keinen besonderen Nachtheil mit 
sich geführt, wenn nicht gleichzeitig eine besondere Rechnung auf 
Münze existirte. 

Cancrin ist der Meinung, dass wenn der Volkskurs stets auf der¬ 
selben Höhe stehen geblieben wäre, er keinen Grund zu einer 
Gewinnsucht erwähnter Art gegeben hätte, die Unbeständigkeit 
des Werthes der verschiedenen Geldarten lieferte ihr aber nur all zu 
reiche Nahrung. Er betont, dass kein Schwanken in dem Volks- 
Agio statt fände, sondern bloss ein stetes Wachsen, und in diesem 
letzteren liege auch der einzige Gewinn, der für Spekulanten aus 
dem Volks-Agio entstehe, es sei dasselbe überhaupt nur Folge der 
Spekulation einzelner Personen. Als Zeugniss für die Absonderlich¬ 
keit des Agio und die schwache Grundlage, auf welcher es beruhe, 
führt Cancrin an, dass die polnischen 7 5-Kopekenstücke (5 Zloten) 
in St. Petersburg und Moskau zu demselben Kurse, wie das kleine 
Silbergeld angenommen wurden. Die Folge davon war, dass man 
dieselben in Massen aus Warschau herschickte; als er aber eine Publi- 


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124 


kation über den zu hohen Kurs jener Münze erlassen, sei dieselbe 
sofort bis auf ihren wahren Werth im Kurse herabgesunken. 


Folgende von Cancrin zusammengestellte kleine Tabelle diene zur 
Charakteristik der Mannigfaltigkeit des Volkskurses; sie bezieht sich 
auf das Jahr 1837: 


In dem Gouvernement 

Börsenkurs Volkskurs 

fiir Silber 

Volks-Agio in 
Procenten d. 

von 

Kop. 

Kop. 

Börsenkurses 

Nishnij-Nowgorod und Jarosslaw 

• 355.»» 

420 

18 

pCt. 

Moskau und einigen anderen Gou- 





vernements ........... 

• 358,»7 

420 

17 

> 

Wjatka .. 

• 3 6 3,«» 

400 

IO 

» 

Astrachan... 

• 354,9* 

390 

IO 

» 

St. Petersburg . 

• 353,77 

375 

6 

• 

Pleskau (Pskow). 

. 361 , »0 

380 

5 

» 

Mohilew. 

. 361,44 

375 

3 S 

'/* ' 


In den westlichen Gouvernements, den Ostseeprovinzen und Sibi¬ 
rien kam der Volkskurs gar nicht vor. Aus dieser Tabelle ergäbe 
sich nun seiner Ansicht nach, dass der Volkskurs nichts Wesent¬ 
liches in sich berge und dass, wenn man das Aufgeld auf die Assig¬ 
naten abrechne, der Preis des Silbers dem Börsen- oder dem Abga¬ 
benkurse gleichkomme, d. h. der Silberrubel 353—363 Kop. Banco 
werth sei. Wer übrigens seine Abgaben in Silber zahle, verlöre 
nichts, sondern gewinne, da der Abgabenkurs höher als der Börsen¬ 
kurs, also (?) auch höher als der Volkskurs wäre. Es sei klar, dass 
in der Rechnung nach dem Volkskurse weder eine Bequemlichkeit 
noch eine Wahrheit, sondern bloss Verirrung, Unwissenheit und Be¬ 
trug enthalten wäre, denn man könnte eben so gut den Silberrubel, 
welcher dem Abgabenkurse nach 360 Kop. werth sei, zu 720 Kop., 
oder einen Fünf-Rubel-Assignatenschein für einen Zehn-Rubelschein 
verrechnen 1 Alle diese Ausführungen seien ein Beweis, dass der 
Volkskurs nicht aus irgendwelchen wesentlichen Mängeln unseres 
GeUJsystems entstanden sei, sondern dass die Regierung hier bloss 
mit Unverstand und Gewinnsucht zu kämpfen habe; dagegen müssten 
systematische Massregeln unwirksam bleiben und nur die strengsten 
Verbote könnten helfen. 

Einzelne von den inneren Gouvernements schrieben die Erhöhung 
des Volks-Agio Moskau zu, dagegen erklärte der Moskauer Kauf¬ 
mannsstand, dass die Assignaten durch Spekulanten aus Moskau in 
das Innere gebracht würden, wegen des dort herrschenden höhe¬ 
ren Agio, und dass daselbst die Krämer und Wechselbuden an ihm 


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die Hauptschuld trügen. Seit einiger Zeit erstrecke sich das Volks- 
Agio in einzelnen Gouvernements auch auf das Kupfergeld. Gegen 
die Behauptung, dass Mangel an Assignaten zum Zweck der Abga¬ 
benzahlungen das Volks-Agio steigere, wendet Cancrin ein, dass 
das Agio sich auf Silber und Assignaten stets gleichzeitig erstrecke, 
ja gewöhnlich sogar beim Silber zu steigen beginne. Er betont 
wiederholt, dass der Volkskurs nichts Anderes als der Börsenkurs, 
nur mit Hinzufügung fingirter Procente sei, um durch deren Ver¬ 
mehrung Vortheile zu erlangen, die Wurzel desselben sei also Ge¬ 
winnsucht und Betrug. Trotz alledem meint er aber an einer ande¬ 
ren Stelle: «Uebrigens ist das Uebel dieser Art «Rechnung auf 
Münze», wenn auch gross, so doch nicht so bedeutend, dass es 
schlimme Folgen für die allgemeine Wohlfahrt haben könnte?! »*. 

II. Ansicht des Fürsten Drutzki-Ljubetzki über das Volks-Agio 1 : 

Das Aufkommen des Börsen-, Abgaben- und des Volkskurses bei 
uns ist nichts Anderes, als ein deutlicher Beweis für das allgemeine 
Bewusstsein der Nothwendigkeit, sich vor Verlusten zu schützen und 
das Nöthige zu sichern. 

Der «Börsenkurs» ist entstanden: i) weil durch das Manifest vom 
9. April 1812 (Nr. 25,089) alle Rechnungen u. s. w. einzig und allein 
auf Assignaten zu führen befohlen wurde; 2) weil die Regierung 
durch das Manifest vom 16. April 1817 (Nr. 26,791) verkündigt hatte, 
dass sie auf die Hebung des Assignatenkurses hinwirken wolle, und 3) 
weil der auswärtige Handel grösstentheils auf Credit effectuirt wird. 
Der Werth der Waaren wird in Assignaten bestimmt, wenn aber der 
Zahltermin kommt, so ist der Börsenkurs wiederum für die Zahlung 
bestimmend. So lange die Assignaten Geld bleiben und nicht blosse 
Surrogate desselben, so lange es vier Arten Münze, die noch ihrem 
inneren Werthe nach sich von einander unterscheiden, geben wird, 
so lange nicht ebenso viel klingende Münze und deren Surrogate in 
Umlauf gesetzt werden, als die zunehmende Bevölkerung u. s. w. 
derselben bedarf, — so lange wird auch der Börsenkurs nothwendi- 
gerweise bestehen. Denn ohne diesen müsste der ganze auswärtige 
Handel aufBaargeld geführt werden — ein Ding der Unmöglichkeit. 
Der Börsenkurs dient dem Handel als Hülfsmittel, um sich vor Ver¬ 
lusten zu schützen, welche ihm aus der Unbeständigkeit der Kurse 
erwachsen könnten. 

1 M. d. R. vom 29. November 1837. 

* Journ. d. Dep. d. ReichsÖkon., 1839, Nr. 77. 


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12 6 


Der «Abgabenkurs». Wollte die Regierung darauf bestehen, 
dass alle Abgaben, welche auf Assignaten festgesetzt sind, auch in 
Assignaten gezahlt würden, so könnte sie, weil es im Verkehre an 
Assignaten mangelte, bedeutende und unvermeidliche Rückstände 
heraufbeschwören. Um Letzteres nun zu vermeiden, gestattete sie 
. das Zahlen in klingender Münze. Hätte sich aber nun der Kurs der 
Assignaten gehoben, so wäre das eine Veranlassung gewesen, Zu¬ 
zahlungen zu fordern, um die Verluste, die durch jene Hebung der 
Assignaten bei Zahlungen in klingender Münze tür die Regierung 
entständen, auszugleichen. Um diesen Uebelstand zu vermeiden, 
wurde der Abgabenkurs niedriger als der Börsenkurs festgesetzt. 

Der «Volkskurs». Das Volk, unbekümmert um Börsen- oder 
Abgabenkurs, weiss wie viel es für seine Arbeit zu fordern hat, da¬ 
mit der erzielte Gewinn ihm die Mittel darbiete, seine Bedürfnisse zu 
bestreiten. Dagegen suchten die Käufer der Arbeit, aus Mangel an 
Geld im Verkehre, den Preis des Geldes zu steigern. Der Volks¬ 
kurs und die «Rechnung auf Münze» seien daher nicht Beweise fiir 
die Gewinnsucht von Spekulanten oder für die Unwissenheit des 
Volkes, sondern unvermeidliche Folgen der Noth. 

Zur Erläuterung dieser seiner Anschauung giebt Drutzki-Lju- 
betzki folgende kleine Tabelle: 


Sone der io Umlaof beflndlielieo Assignateo ood ihr Werth io Silber oaeh dem BdrseoKorm. 



1807 

Bevölkerung: 36 Millionen 

1838 

Bevölkerung: 48 Millionen 


lillioiai 

EU bog. RU. m. 

prt l«jpf der BcföUemg 
RU.Kop.bi. RU.Kop. Bfl. 

lillioiei | 

| Rbl. tasg RU. 89b. | 

m.Im( faltribiaf 
IM.I4.b1. KM.K4.U- 

In Umlauf. 

382 258 

10 61 7 16 

595 '6S 

ia 39 3 43 

Staatseinnahme nach dem 
Voranschlag ..... 

120 81 

3 33 2 25 

SOS * 4 ° 

10 52 2 91 

Verbleiben zur Bestreitung 
des internen Geldbedürf- 
nisses. 

262 177 

7 *8 4 91 

90 aj 

1 87 - 52 


Der Volkskurs und der Umlauf ausländischer Münze zu einem 
ihren inneren Werth übersteigenden Kurse beweisen, dass ein Man¬ 
gel an eigener Münze zur Bestreitung der Bedürfnisse des Gemein¬ 
lebens vorhanden ist. Hieraus ergiebt sich, dass nicht durch Ver¬ 
bote, sondern nur durch hinlängliche Versorgung des Verkehrs 
mit klingender Münze und deren Surrogaten der Volkskurs und da¬ 
mit zugleich das Agio beseitigt werden kann. 


s 


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127 


III. Ansicht des Grafen Speranski über das Volks-Agio ! . 

Ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen dem Wechsel- 
Agio (aacio) und dem sogenannten Volks-Agio (jiaHC't). Von letz¬ 
terem spricht man nur beim Waarenkauf, sei es, dass dieser auf 
Baargeld oder auf Credit geschlossen wird. Beim Kauf auf Baar* 
geld bezeichnet man mit dem Volks-Agio die Procente, um welche, 
bei der Bezahlung der Waare in Silber, dieses gegen seinen eigent¬ 
lichen Tauschwerth erhöht wird; bei der Bezahlung in Assignaten 
dagegen die Procente, welche vom Preise der Waare in Assignaten 
abgelassen werden. 

Bei jedem Kaufe auf Baargeld hatte sich die Gewohnheit einge¬ 
schlichen, mit der Festsetzung des letzten Preises zwischen Ver¬ 
käufer und Käufer folgende zwei Fragen zu verhandeln: soll die 
Zahlung in Silber oder in Assignaten geschehen, und zu welchem 
Preise wird das Silber oder die Assignate vom Verkäufer ange¬ 
nommen werden. Gesetzt den Fall, dass eine Waare für ioo Rbl. 
erhandelt worden ist und der Käufer entschliesst sich, diesen Preis in 
Silber zu zahlen, so setzt der Verkäufer für den Silberrubel einen 
höheren, als den auf der Börse notirten fest; so z. B. in St. Peters¬ 
burg statt 352 Kop. — 375 Kop., also um 23 Kop. zu hoch, und 
dieses Aufgeld, welches fast 6 pCt. ausmacht, bildet das Volks- 
Agio. Nach derselben Rechnung nimmt er auch die Zahlung in 
Assignaten entgegen, indem er jeden Assignatenrubel zu 106 Kop. 
rechnet und demnach die für 100 Rbl. erhandelte Waare für 94 Rbl. 
Assignaten weggiebt, d. h. er giebt dem Käufer 6 pCt. vom Preise 
der Waare ab, und dieser Rabatt bildet wieder das Volks-Agio. 

Vergleicht man diese Berechnung mit dem Börsenkurse, so sieht 
man, dass beim Kaufe einer Waare eine 100-Rubel-Assignate für 
106 Rbl. angenommen wird, gleichzeitig werden aber 100 Rbl. Silber, 
nicht wie auf der Börse für 352 Rbl., sondern für 375 angenom¬ 
men. Hieraus ergiebt sich folgende Proportion: 

io6: 100 = 375 : x, x = 353 ,ti; so beträgt denn der Unter¬ 
schied zwischem dem Preise des Silbers in Assignaten nach dem 
St. Petersburger Börsenkurse und nach seiner Annahme im freien 
Handel auf 100 Rbl. nur 1 Rbl und 77 Kop. Weshalb folgt aber 
der Verkäufer nicht einfach dem Börsenkurse? Der Grund ist augen¬ 
scheinlich. Wenn er dem Börsenkurse folgen wollte, so müsste er 
je nach dessen Veränderungen auch alle seine Waaren im Preise 

1 J. d. Dep. d. Reichsökon., 1839, Nr. 77. 


pT 


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128 


umschätzen, und was er gestern für ioo Rbl. verkaufte, müsste er 
heute nach dem gehobenen Kurse der Assignaten für 98 Rbl. ver¬ 
kaufen u. s. w. Diese grosse Unbequemlichkeit vermeidend, zieht 
er vor, dieselben Procente, welche er bei der Preisbestimmung der 
Waare abziehen müsste, bei der Bezahlung abzurechnen. Wenn 
er z. B. den Silberrubel zu 352 Kop. rechnete, so könnte er nicht 
bei Abschluss des Handels auf Assignaten 6 pCt. ablassen, indem 
er aber den Preis des Silbers auf 375 erhöht, erhält er sich den 
Preis seiner Waare und kann gleichzeitig dem Käufer einen fingirten 
Rabatt geben, in welcher Münze der Käufer auch zahlt. Entschliesst 
sich der Käufer in Silber zu zahlen, so meint er im Preise des Silbers 
23 Kop. (375—352), d. h. fast 6 pCt. zu gewinnen, zahlt er in 
Assignaten, so gewinnt er scheinbar auch 6 pCt., denn er zahlt für 
die für 100 Rbl. erhandelte Waare nur 94 Rbl. 

Dieses ist die Bedeutung des Volks-Agio beim Kauf auf Baargeld. 
Dieselbe Berechnung wird aber auch bei Zahlungen von Schulden 
angewandt. Wer Waare auf Credit gekauft hat, ist, wenn er sie 
nach Jahresfrist nach dem beim Kauf stipulirten Preise bezahlt, der 
Meinung, dass er zu viel zahlt, denn die Assignaten, in welchen die 
Zahlung erfolgt, sind in ihrem Werthe im Laufe des verflossenen 
Jahres gestiegen. — Was soll der Gläubiger thun? Entweder den 
Schuldner verklagen oder sich auf einen nothgedrungenen Rabatt 
verstehen, indem er die Zahlung nach der Rechnung auf Münze 
annimmt. Gewöhnlich wird er sich für Letzteres entscheiden. — Im 
Allgemeinen ist der Volkskurs nichts Anderes, als eine besondere 
Art Berechnung des Börsenkurses. Erdacht und eingeführt ist er 
von den Krämern (wahrscheinlich den Juden), dann aber auch in den 
Grosshandel übergegangen. Der Zweck seiner Einführung war der, 
die Waaren nicht nach den Schwankungen des Börsenkurses stets 
umschätzen zu müssen, und um den Schein eines Rabatts vom wirk¬ 
lichen Preise der Waare zu ermöglichen und den Käufer damit zu 
überlisten; denn der vermeintliche Unterschied von 23 Kop. zwi¬ 
schen den Kursen von 375 und 352 war ja schon in den 100 Rubeln 
enthalten, die anfänglich für die Waare ausgemacht wurden. Ohne 
diesen Unterschied hätte der Käufer für seine Waare nur 94 Rbl. 
verlangt. Für den mit dieser Art Rechnung bekannten Käufer ist 
dieser Versuch der Ueberlistung nichts als Spielerei; er weiss, dass, 
wenn von ihm 100 Rbl. für eine Waare verlangt werden, er darunter 
94 Rbl. Assignaten zu verstehen hat, und handelt auf dieser Grund¬ 
lage mit dem Verkäufer. Ganz etwas Anderes ist es aber, wenn 


V 


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der Handel zwischen einem Kaufmanne und dem niederen Volke 
(etwa den Bauern) stattfindet. Hier wird die Ueberlistung zu einem 
thatsächlichen Betrüge. Der Bauer verkauft auf dem Markte nach 
einem in Assignaten angesetzten Preise; der Kaufmann aber, selbst 
der wohlmeinendste, handelt auf Silber und schätzt dabei den Silber¬ 
rubel zu 375 Kop. Durch alle um ihn her geschehenden Käufe 
glaubt sich der Bauer von der Richtigkeit dieses Preises für 
Silber überzeugt und schliesst in der Meinung, in jedem Silberrubel 
375 Kop. Banco zu erhalten, den HandeL An den Kronskassen wird 
ihm aber derselbe Silberrubel bei seiner Abgabenzahlung nur zu 
360 Kop. in Assignaten angenommen und von dem Wechsler nur 
zu 352 Kop. Auf dieses Weise erleidet der Bauer einen Verlust 
von 15 oder 23 Kop. auf jeden Silberrubel. 

Woher rührte dieser Volkskurs? Vor dem Fallen der Assignaten 
und während desselben hatte er nicht existirt. Während des Sin¬ 
kens der Assignaten kam ein Einw r echseln derselben gegen Silber 
selten vor; das Silber wurde immer theurer und versteckte sich. 
Der ganze interne Handel wurde mit Assignaten betrieben und es 
gab überall nur eine Rechnung auf Assignaten. Sobald aber die 
Assignaten zu sinken aufhörten und zu steigen anfingen, begann 
das Silber billiger zu werden und daher auch im Verkehre wieder 
zu erscheinen. Dazu wurden grosse Summen Goldes und Silbers 
von der Regierung in Umlauf gesetzt. Von dieser Zeit an gab es 
auch im internen Verkehre wieder zwei Geldarten: Assignaten und 
Silber. Wer Silber besass, bedurfte aber häufig Assignaten: 1) weil 
sie zur Versendung geeigneter waren; 2) weil sie im Werthe stiegen 
und 3) weil sie zu der Bezahlung von Schulden in den Creditan- 
stalten unbedingt nothwendig waren; für die Branntweinspächter 
noch besonders, weil, während der Branntweinsverkauf fast aus¬ 
schliesslich gegen Silbergeld stattfand, sie nur 30 pCt. der Pacht¬ 
summe in Silber entrichten durften, das Uebrige aber in Assignaten 
zahlen mussten. Aus diesen Gründen wurde das Wechseln, welches 
früher nur ganz vereinzelt vorkam, zu einem alltäglichen, nothwen- 
digen und allgemeinen Geschäfte. Dieses veranlasste die Entstehung 
der Wechselbuden, eines neuen, bisher unbekannten Erwerbs¬ 
zweiges. Obwohl in der Nothwendigkeit begründet, erregte die¬ 
ses neue Unternehmen doch allgemeinen Unwillen, weil hier der 
Gewinnsucht keine Schranken gesetzt, und es nicht wie die übrigen 
Handelsarten nach festen Grundsätzen betrieben wurde. Es gab 
hier weder eine Concurrenz noch eine Uebermacht grosser Kapita- 

Ruaa. Revue. Bd. VU. 9 


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13 ° 


listen, welche die willkürlichen Berechnungen Weiner Spekulanten 
dämpfte. 

Als Resultat der angestellten Betrachtung zog Graf Speranski 
folgende Schlüsse: 

1. Der Volkskurs ist nichts Anderes, als die Anwendung des 
Börsenkurses (Einwechselungskurses) bei dem Waarenverkaufe und 
bei der Bezahlung von Schulden. 

2. Im Wesentlichen sind Volkskurs und Börsenkurs gleichartig. 

3. Der Volkskurs ist aus Nothwendigkeit eingeführt worden, die 
täglichen Umschätzungen der Waaren zu vermeiden. 

4. Diese Art Rechnung hat bei alledem zwei sehr wesentliche 
Schattenseiten: a) die Zusammensetzung derselben ist nicht Allen 
verständlich, und b) giebt sie beim Kaufe von Waaren Veranlassung 
zu Ueberlistung, ja häufig sogar zu Betrug. 

Nachdem wir so im Vorhergehenden die Ansichten dreier bedeu¬ 
tender Finanzmänner aus der Zeit der Herrschaft des Volks-Agio 
über letzteres ausführlich kennen gelernt haben, will ich noch einige 
kurze Bemerkungen über dasselbe folgen lassen, welche ich an ver¬ 
schiedenen Stellen des Materials, das mir Vorgelegen hat,* ange¬ 
troffen habe. 

Der Reichsrath fand, dass die Verminderung der Assignaten¬ 
menge (seit 1818) und die Vermehrung der klingenden Münze die 
Zahlung aller Abgaben in Assignaten (wie es das Gesetz vom 9. 
April 1812 verlangte) erschwere, und dadurch eben in vielen Gou¬ 
vernements bei Geldzahlungen zwischen Privaten, nicht nur auf 
Gold und Silber, sondern auch auf Assignaten, zu einem besonders 
willkürlichen Agio geführt habe l . Und bei Gelegenheit der Ver¬ 
handlungen über die Geldreform im Jahre 1839 wurde das Uebel 
des Volks-Agio daselbst folgendermassen charakterisirt: «Das 
Uebel des Volks-Agio, oder der Rechnung auf Münze hat schon so 
tiefe Wurzeln geschlagen, dass die Reichs-Zahlzeichen, ihrer ur¬ 
sprünglichen Bestimmung zuwider, nach der sie, nur Verkehrs¬ 
mittel des Kaufs und Verkaufs und anderer Bedürfnisse des Gemein¬ 
lebens sein sollten, — selbst Objecte des Handels geworden sind. 
Sie verändern sich beständig in ihrem Werthe und im ganzen 
Reiche sind diese Veränderungen so mannigfaltig, dass fast jede 
Stadt, jeder Flecken seinen eignen Geldkurs für Assignaten, Silber-, 
Gold-, ja selbst für Kupfermünze besitzt. Daraus erwächst aber: 
Unbestimmbarkeit des Werthes von Geldkapitalien und liegender 

1 M. d. R. v. 10. Nov. 1831. 


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* 3 * 


Gründe, Schwankungen aller Handels- und Industrie-Unternehmungen 
und Erschütterung allen Credits. Abgesehen von dem Handels¬ 
und Handwerkerstande, welche sich mehr oder minder durch Preis¬ 
steigerung ihrer Waare vor den Verlusten, die durch das Agio ent¬ 
stehen, schadlos halten können, leiden am meisten von der gegen¬ 
wärtigen Lage der Geldverhältnisse alle diejenigen Personen, welche 
von einem festen Einkommen leben, namentlich also der ganze 
dienende Stand, dann die Bauern, die Tagelöhner und überhaupt 
das niedere Volk, welchem die Feinheiten der Kursberechnungen 
unverständlich sind. Die Bedrückungen und Verluste, die alle diese 
Stände erleiden, sind so augenscheinlich, dass sie auch von Nieman¬ 
den bezweifelt werden» l . 

Auch das Departement der Reichsökonomie sah in dem Vorziehen 
der Assignaten vor der klingenden Münze die Wurzel des Volks¬ 
kurses und einer lästigen Agiotage, welche alle Geldumsätze bedeu¬ 
tend erschwerte. Ihm zugestellte officielle Berichte meldeten, dass 
in vielen Gouvernements und seit einer Reihe von Jahren das Agio 
auf Assignaten stets kurz vor dem Zahlungstermin der Abgaben be¬ 
deutend stiege 2 . Ein anderes Mai äusserte sich das Departement 
also über denselben Gegenstand: Die Wechselbuden, deren Zahl be¬ 
ständig wächst, haben eine Agiotage hervorgerufen, welche ganz 
besonders schädliche Folgen für die Wohlfahrt des Volkes in sich 
birgt, wie vollkommene Einschränkung der inländischen Industrie, 
Schwankung aller Handels-Verbindlichkeiten und -Unternehmungen', 
Erschwerung des Geldumlaufs und Schwächung des privaten Unter¬ 
nehmungsgeistes. Die Gewinnsucht hat es bereits so weit gebracht, 
dass auf dem «Agio» selbst ein neues System rascher Bereicherung 
gegründet worden ist, zum nicht geringen Schaden des ganzen Volkes, 
besonders aber der zahlreichen Klasse der Landleute. Diese erhal¬ 
ten ihre Arbeit und ihre Produkte fast ausschliesslich in Silber- und 
Goldmünze, die ihnen zum Volkskurse verrechnet wird, bezahlt, 
wodurch sie bei der Bezahlung ihrer Abgaben in Assignaten oder 
nach dem Abgabenkursein einzelnen Gouvernements bis zu 18 pCt. 
verlieren, wenn sie aber das Silber gegen Assignaten eintauschen 
wollen, noch bedeutend mehr. Die Quelle des Volks-Agio kann das 
Departement nicht «in der blossen Gewinnsucht der Spekulanten 
und in der Unwissenheit des niederen Volkes» erblicken, wie dies 
der Finanzminister thut (p. 123), sondern glaubt, dass die Wurzel 

1 M. d. R. V. 10. Nov. 1831. 

* M. d. R. v. 10. Nov. 1831. 

9* 


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*32 


dieses Uebels viel tiefer zu suchen ist, und der gegenwärtige Zustand 
unseres Geldwesens als eine natürliche Folge mehr oder weniger 
falscher Grundursachen angesehen werden muss. Als solche mög¬ 
liche Ursachen führt es an: i) Mangel an kleiner Silbermünze, mit 
welcher doch die meisten internen Zahlungen bestritten werden; 
2) allgemeines Missverhältniss zwischen den vorhandenen Geldzei¬ 
chen und dem zeitweiligen Bedürfnisse an denselben; 3) der immense 
Zufluss ausländischer Münze und der freie Umlauf derselben unter 
dem Volke zu einem ihren inneren Werth bedeutend übersteigenden 
Kurse (die häutigsten Klagen über das Agiowesen liefen seit dem 
Erscheinen der fremden Münze im Verkehre ein), und 4) Mangel an 
Gelegenheit zum freien Einwechseln von Silber gegen Assignaten 
und auch umgekehrt von Assignaten gegen Silber 1 . 

Zum Schlüsse erwähne ich auch noch einiger Ansichten von Pri¬ 
vatleuten, um ein möglichst vollständiges Bild der über das Volks- 
Agio herrschenden Meinungen damaliger Zeit zu geben. 

Eine ganz eigenthümliche Anschauung entwickelte der Admiral 
Greigh über dasselbe. Er sah den Ursprung des Agio in dem Stre¬ 
ben des Volkes nach einer Münzeinheit, die dem Assignatenrubel 
möglichst gleich käme, es fand dieselbe im silbernen 25-Kopeken- 
stücke. Dieses Letztere rechnete nun das Volk gleich 100 Kop. 
Banco und demnach den Silberrubel gleich vier Rubel Assignaten. 
Gestiegen sei das Agio, weil es im Verkehre an 25-Kopekenstücken 
und an dessen Mehrfachen mangelte *! 

Der Kaufmann Subzaninow fand den Grund für den Volkskurs in 
der Leichtigkeit und Bequemlichkeit seiner Handhabung fiir den 
Alltagsverkehr. Man nahm den Silberrubel rund zu vier Rubeln an, 
und verrechnete dann zur Ausgleichung des Agio den Assignaten¬ 
rubel mit 107 und 108 Kop. An den Haupthandelsplätzen und in 
vielen Gouvernements galt der Silberrubel dagegen nur 370Kop.*. 

Die Moskau’schen Kaufleute klagten, dass fremde Goldmünze den 
Markt dermassen beherrsche, dass das Agio auf Assignaten 12 pCt. 
erreicht habe, was den Credit ungemein beeinträchtige. Verkäufer 
wollten nicht Zahlungen in Gold verschrieben haben, Käufer diese 
nicht in Assignaten verschreiben, die in sieben Monaten um 2 f /a pCt. 
gestiegen seien. Ferner sei Anfangs die ausländische Münze zu 
einem, ihren Metallwerth bedeutend übersteigenden Kurse im Ver- 

* M. d. R. vom 10., 12. und 19. Juni 1839. 

* J. d. Dep. d. Reich&ökon. 1S39, 77 - 

* M. d. R. vom 27. October 1826. 




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133 


kehre angenommen worden, als man aber allmählich diesen Fehler 
eingesehen, habe man den Kurs derselben nicht herabgesetzt, son¬ 
dern dem Agio der fremden Münze entsprechend auch den Kurs der 
eigenen gesteigert, so dass das Agio in Folge hiervon für Assigna¬ 
ten auf 14 pCt. gestiegen sei. Es scheint ihnen, als habe sich gleich¬ 
sam ein Fehler in alle Rechnungen und eine Unbestimmtheit in alle 
Handelssachen eingeschlichen, denn das Volk führe alle seine Rech¬ 
nungen auf eine nur in der Einbildung existirende Münzeinheit von 
vier Rubeln, die Regierung dagegen nach einem von ihr selbst be¬ 
stimmten festen Kurse von 360 Kop. K 

In der russischen Commerzzeitung vomJahr£ 1839, Nr. 1, heisst 
es: Das Volks-Agio besteht darin, dass man dem Silbemibel einen 
höheren Werth giebt, als derselbe sich auf der Börse gestaltet, und 
in demselben Verhältnisse schlägt man dann auch Procente zum Kurse 
der Assignaten zu. Allen mit den Eigentümlichkeiten des Geldwe¬ 
sens Vertrauten ist es ferner bekannt, dass diese Rechnung nicht auf 
irgend welchen Mängeln unseres Geldsystems beruht, sondern einzig 
und allein in Folge der Unwissenheit auf der einen und der Gewinn¬ 
sucht auf der anderen Seite entstanden ist Die Macht dieser Rech¬ 
nung besteht in der beständigen Steigerung des Agio, die Haupt¬ 
veranlassung zu den Klagen über dasselbe darin, dass die Schuldner 
und Käufer die Zahlungen verweigern, wenigstens verzögern oder 
auf den Handel nicht eingehen, wenn die Gläubiger und Verkäufer 
das Geld nicht zu höherem Kurse, d. h. mit Agio, annehmen wollen. 
Letztere finden es aber schliesslich vortheilhafter, etwas weniger zu 
erhalten, als noch länger auf die Bezahlung zu warten oder die Waare 
unverkauft zu lassen. — Diese Darlegung des Volks-Agio ist so 
übereinstimmend mit der Ansicht des Grafen Cancrin, dass sie ent¬ 
weder von ihm selbst herstammt, oder doch wenigstens in seinem 
Aufträge von einem seiner Beamten abgefasst worden ist; diese 
Voraussetzung wird dadurch noch wesentlich unterstützt, dass der 
Artikel, dem dieser Passus entnommen ist, keine Unterschrift zeigt. 

In Nr. 34 desselben Jahrgangs schreibt ein Herr Morosow aus dem 
Gouvernement Pensa: Das Volks-Agio ist eine financielle Ano¬ 
malie. Dasselbe bringt keinem Stande so grossen Schaden als den 
Landleuten durch Verwirrung der Wirthschaftsrechnungen. Ist es 
wohl möglich, richtige Berechnungen anzustellen, wenn die Münz¬ 
einheit beständig schwankt? Wenn alle Leute ihre Rechnungen auf 
Silbemibel führen würden, so könnte das gegenwärtige Volks- 

* M. d. R. vom 3. Mai 1834. 




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134 


Agio nie bestehen. Aber anstatt einer gesetzlich festgestellten Münz¬ 
einheit ist im Handel eine Münzeinheit üblich geworden, die gar 
kein bestimmtes Gewicht, gar keinen beständigen Werth hat! In 
der That, was ist der Rubel — Münze? Eine fingirte, willkürliche 

Grösse. In Moskau macht sich bei den unteren Klassen das 

Streben bemerkbar, von der fictiven Rechnung zur wahren zurück¬ 
zukehren. Die Fuhrleute und Handwerker verlangen jetzt häufig 
nicht mehr so und so viele Rubel, sondern Silberrubel, oder sie 
sagen, die Arbeit kostet einen Assignatenschein von der und der 
Farbe. 

Endlich gab es auch-Personen, welche das Volks-Agio vom Jahre 
1813 datirten. Nach Beendigung des Feldzuges von 1813 strömten 
Arbeiter in Massen nach Moskau, wo sie vollauf bei dem Wieder¬ 
aufbau der durch den grossen Brand zerstörten Stadt Beschäftigung 
fanden. Diese Arbeiter verlangten nun der Bequemlichkeit halber, 
zur Vermeidung aller Bruchrechnungen, dass der Silberrubel ihnen 
stets mit vier Rbl. Assignaten verrechnet werden sollte. Um das 
Jahr 1818 war die Annahme des Silberrubels zu diesem Kurse in ganz 
Mittel-Russland üblich geworden. 

Bei allen über die Entstehung und das Wesen des Volks-Agio 
angeführten Ansichten vermissen wir vor allen Dingen die noth- 
wendige Klarheit. Wir finden fast bei Allen die Folgen des gewöhn¬ 
lichen Agio und des Volks-Agio mit einander vermischt, und häufig 
Erscheinungen des ersteren auf letzteres bezogen, so dass man oft 
thatsächlich nicht weiss, welches Agio der Begutachter eigentlich 
im Auge gehabt hat. Die vollständigste Erörterung giebt Graf Spe- 
ranski, bei welchem doch Andeutungen auf den wahren Ursprung 
des Volks-Agio vorhanden sind; die misslungenste ist die des 
Grafen Cancrin, der auf den Ursprung und das Wesen der Erschei¬ 
nung gar nicht eingeht, sondern den allmählich ausgebildeten Miss¬ 
brauch und die Folgen desselben für den Ausgangspunkt ansieht. 
Seine Bemerkungen, welche er den factischen Missständen entnom¬ 
men hat, sind alle richtig, doch hat er sich nie die Zeit genommen, 
der Sache auf den Grund zu gehen, sondern sich nur damit begnügt, 
die zunächst liegende Ursache des Uebels für den Keim der ganzen 
Krankheit zu halten. 

Ich will es nun versuchen, den Entstehungsgrund des Volks- 
Agio und, die sich später daraus entwickelnden Folgen und Miss¬ 
stände auseinander haltend, die Erscheinung des Volks-Agio einer 
Kritik zu unterwerfen. 




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135 


Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Kernpunkt der 
Sache. Den Grund zur Entstehung des Volks-Agio sahen wir in 
der Hebung des Werthes der Assignaten; herbeigeführt wurde es 
durch diejenigen "Personen, welche keine Assignaten besassen und 
doch an dem ' unverdienten Gewinne, welcher den Besitzern von 
Assignaten aus deren Kurshebung zufloss, theilhaben wollten. 
Das Volks-Agio selbst bestand in einer Annahme der Assignaten 
zu einem schlechteren als ihrem Börsenkurse, d. h. zum Volks¬ 
kurse, und die Differenz beider Kurse bildete die Höhe des Volks- 
Agio. Der Ausgangspunkt zur Bestimmung des Annahmekurses 
der Assignaten war der gewesene tiefste Stand derselben. Die letzte 
Ursache der ganzen Calamität war nun freilich die Papiergeld-Miss- 
wirthschaft. —Dieses Streben Derjenigen, die keine Assignaten 
besassen und doch theilnehmen wollten an dem sich aus der 
Hebung des Assignatenwerthes ergebenden unverdienten Gewinne, 
kann nicht ganz unbedingt verurtheilt werden, denn dasselbe war 
im Grunde genommen an sich kein Betrug, sondern nur eine, wenn 
auch nicht zu rechtfertigende Art von Selbsthülfe gegen den aus 
der Hebung der Assignaten sich ganz einsejtig für die Besitzer der 
letzteren ergebenden Vortheil. Wäre dieser eben denselben Personen 
zugeflossen, welche, bei dem Sinken des Papiergeldes unverschul¬ 
deter Weise Verluste erlitten hatten, so müsste jenes Streben unbe¬ 
dingt verurtheilt werden. Es mag wohl vorgekommen sein, dass 
die Assignaten sich bei ihrer Hebung noch in denselben Händen, 
wie zur Zeit ihres Sinkens, befanden, im Allgemeinen war dies 
aber nicht der Fall, und der Gewinn aus der Besserung der Assig¬ 
naten kann mit Recht als ein unverdienter für den jeweiligen Assig¬ 
natenbesitzer bezeichnet werden. — Unter allen Umständen konnte 
aber das Streben, theilzunehmen an diesem Vortheile, auch nur 
so lange auf bedingungsweise Entschuldigung Anspruch erheben, 
so lange der Gewinn thatsächlich zwischen Waarenbesitzern und 
Assignatenbesitzern getheilt wurde, etwa derart, wie es in dem Bei¬ 
spiele zu Anfang dieses Exkurses gezeigt wurde. Aber die daselbst 
angestellte Berechnung kann auch zugleich dazu dienen, die nahe¬ 
liegende Versuchung nachzuweisen, durch Steigerung der Procente 
(welche die Hälfte des Gewinnes betragen sollten) den Besitzern 
der Assignaten ihren Vortheil immer mehr zu schmälern. Dieses 
geschah denn auch, und nun begann allerdings eine Spekulation 
mit Folgen, wie sie Graf Cancrin schildert. Durch stetes Steigern 
der Procente suchte man mehr und mehr zu gewinnen, und es bil- 


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136 


dete sich hierauf gegründet zuletzt factisch ein neues System ra¬ 
scher Bereicherung aus. Der Börsenkurs blieb nun nicht mehr 
massgebend, sondern wurde ganz willkürlich gesteigert, in Folge 
dessen wir so mannigfache Volkskurse finden, die^bedeutend stärker 
von einander abweichen, als die Börsenkurse an denselben Orten. 
Doch dieser Missbrauch hat, im Grunde genommen, mit dem Wesen 
des Volks-Agio nichts gemein, eine Thatsache, welche die meisten 
Personen stets verkannt haben. Sie haben nur nach dieser Spekula¬ 
tionserscheinung die ganze Frage über das Volks-Agio abgeur- 
theilt. Solange nun ein Börsenspiel dieser Art zwischen Kaufleuten 
oder doch wenigstens nur zwischen Leuten, die von Geldsachen 
und diesem Agio einen Begriff hatten, betrieben wurde, brachte es 
wohl sehr bedeutende Nachtheile, vor allen Dingen Unbestimmt¬ 
heit im ganzen Geldwesen, mit sich, konnte aber zu einem facti- 
schen Betrüge ausarten, sowie der eine Theil der beim Handel 
Betheiligten mit dem Volks-Agio unbekannt war. Diesen Betrug 
hat sich nun der Handelsstand damaliger Zeit in hohem Grade zu 
Schulden kommen lassen; besonders sind es die Krämer, aber auch 
die Grosshändler und alle Diejenigen gewesen, welche aus erster 
Hand vom Bauer kauften oder Tagelöhner in Arbeit nahmen. Selbst 
Beamte der Krone haben sich, wie Graf Cancrin dessen selbst er¬ 
wähnt (Reisetagebücher, Beilage II, p. 60) dieses Unrechts schul¬ 
dig gemacht. Die Art und Weise der Verrechnung war in diesem 
Falle eine etwas andere, als in dem oben angeführten Beispiele, 
denn sie ging hier vom Käufer, nicht wie dort vom Verkäufer aus. 
Der Bauer setzte den Preis des Korns u. s. w., das er zum Markte 
brachte, wie er nach dem Gesetze verpflichtet war, in Assignaten 
an, der Kaufmann aber, welcher das Korn kaufte, bezahlte es mit 
Silber und verrechnete dem Bauer für seine Forderung in Assignaten 
das Silber zum Volkskurse, aber nicht einmal zu dem von uns aner¬ 
kannten zulässigen, sondern zu einem willkürlichen, wie ihn die 
Spekulation ausgebildet hatte. Es findet hier ein Handel statt, 
wie ihn Graf Speranski geschildert (cf. p. 128). Diese Art der 
Uebervortheilung des mit Kursberechnungen unbekannten ein¬ 
fachen Mannes hatte in den dreissiger Jahren ganz unglaubliche 
Dimensionen erreicht, und Cancrin nennt sie mit Recht eine wahre 
Volkscalamität (p. 122). Trotzdem verbleibe ich bei meiner Be¬ 
hauptung, dass alle diese Ausartungen und Betrügereien nicht 
charakteristische Kennzeichen des Volks-Agio seien, sondern blosse 
Folgen des Missbrauchs desselben. Das Volks-Agio war aber selbst 


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nur eine Folge der Hebung eines tiefentwertheten Papiergeldes/ ein 
neuer Beweis dafür, wie schwierig und mit welchen Missständen 
es verbunden ist, von einer entarteten Papiergeldwirthschaft zu einer 
geordneten zurückzukehren, wenigstens auf dem Wege der Hebung 
des entwerteten Papiergeldes. 

Ich möchte einerseits von der Einführung des Volks-Agio fast 
dasselbe sagen, was Admiral Greigh über den Umlauf ausländischen 
Billons in Russland sagte: rUeberall bemerkt man, dass die Fehl¬ 
griffe der Regierungen durch das Volk ausgeglichen und Mittel und 
Wege ausgedacht werden, jene Fehlgriffe in ihren Folgen weniger 
fühlbar oder unbedeutend zu machen* ! ; — andererseits mich jedoch 
gegen den Vorwurf verwahren, als wenn ich den Volkskurs oder das 
Volks-Agio in irgendeiner Beziehung habe rechtfertigen oder gut¬ 
heissen wollen, — ich habe mich nur bestrebt, das Wesen und die 
Entstehung des Volks-Agio sowie seine Folgen klar und sachlich 
nachzuweisen. 

Zum Schlüsse dieses Exkurses muss ich noch mit ein paar Wor¬ 
ten des Agio auf Assignaten erwähnen. In den Gutachten, welche 
wir durchgenommen, ist wiederholt bemerkt worden, dass es nicht 
nur ein Agio auf Gold und Silber, sondern selbst auf Kupfer und so- » 
gar auch auf Assignaten gegeben habe. Letzteres ist allerdings wie¬ 
der eine ganz eigenthümliche Erscheinung und, so viel mir bekannt, 
eine bei entwerthetem Papiergelde sonst nie vorgekommene That- 
sache. Es sei wohl verstanden, dass hier nicht von einem Volks- 
Agio, sondern genau von derselben Art Agio, wie es bei Wechseln, • 
Gold und Silber auch in anderen Ländern vorkommt, die Rede ist. 
Das Agio auf Assignaten entstand nach dem Jahre 1812, als durch 
das Manifest vom 9. April desselben Jahres (Nr. 25,080) bestimmt 
wurde, dass alle Abgabenzahlungen mit sehr wenigen und ganz 
unbedeutenden Ausnahmen fortan in Assignaten erfolgen mussten. 
Dadurch wurde natürlich der Bedarfskreis an Assignaten bedeutend 
erweitert. Als nun von 1818 an die Tilgung der Assignaten be¬ 
gann, die Menge derselben bedeutend geringer wurde und sich die 
Assignaten mehr im Grossverkehre concentrirten, während im Klein¬ 
verkehre das Silber wieder Zahlmünze wurde, so geschah cs nicht 
selten, dass zur Zeit der Abgabentermine eine solche Nachfrage nach 
Assignaten entstand, dass derselben mit der am Platze vorhandenen 
Menge nicht genügt werden konnte. Diesen Umstand benutzten 

1 M. d. R. vom 28. October 1837. 


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dann die Wechsler und verlangten beim Verwechseln des Silbers ge¬ 
gen Assignaten ein Agio zum Börsenkurse der letzteren. Dieses Agio 
bildete sich in den inneren Gouvernements aus, wo sich besonders 
leicht Mangel an Assignaten fühlbar machte, denn diese pflegten 
stets nach den Hauptstädten zu strömen, wo sich ja der Sitz der 
Regierung und des Grosshandels befand. — Wie sich das Agio auf 
die Kupfermünze hat ausbilden können, darüber fehlen mir alle An¬ 
deutungen aus jener Zeit, vielleicht kann man es sich so erklären, 
dass das Agio auf Assignaten eine derartige Höhe in manchen Gou¬ 
vernements erreichte, dass die Steuerzahler es vorzogen, ihre Ab¬ 
gaben in Kupfermünze zu zahlen, ein Recht, welches ihnen zu jeder 
Zeit freistand und dass gleichzeitig auch selbst Mangel an Kupfer¬ 
geld vorhanden war. Oder die Wechsler können auch das Agio ein¬ 
fach von den Assignaten auf das Kupfergeld übertragen haben, da 
dieses ja nach der Meinung vieler Leute Zahlmünze für die Assigna¬ 
ten war. Jedenfalls ist dieses Agio sehr unbedeutend gewesen, da 
keine allgemeinen Klagen über dasselbe eingelaufen sind und es 
gewiss nicht leicht an Kupfermünze gemangelt haben kann, da der 
Finanzminister wiederholt darüber klagte, dass Millionen desselben 
in den Kronskassen brach lägen und im Verkehre nicht gehalten 
werden konnten. 

Ich habe des Agio auf Assignaten besonders deshalb erwähnt, 
weil man nur gar zu leicht es mit dem Volks-Agio zu vermengen 
pflegt und beide Erscheinungen zusammen aburtheilt. Am befrem¬ 
dendsten bleibt es aber immer, dass selbst der Finanzminister Can- 
crin keine klare Einsicht in diese Verhältnisse besessen. Das do- 
kumentirt sich auch in seinen mehr als einmal vorgeschlagenen 
Massregeln, durch ein Verbot die Existenz des Volks-Agio und da¬ 
mit zugleich auch alle anderen Schattenseiten des damaligen Geld¬ 
systems zu vernichten. Doch ist ihm dieses trotz mehrfacher Ver¬ 
suche auf diesem Wege nie gelungen. 


(Schluss folgt.) 


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Zar Charakteristik der Kaiserin Katharina II. 


J^HeBHUKii A. B. XpaooBHiiKaro 1782 — 1793. Ho noAJiHHHoH ero pyiconncw, ch 6iorpa- 
4»MMecKoio craTbeio h oö'bflCHHTe^bHhiM'b yKasaTe-ieü-b Hhkojus BapcyicoBa, H-nena 
Axeorpa«tMMecicofl KoMMwcciti. Il 3 A. A. Q. BaayHOBa. Cn6. 1874. XII. u. XXIV. 
610 S. 


Geschichtsquellen, wie das unlängst in neuer Ausgabe erschienene 
Tagebuch Chrapowitzkij’s sind unersetzlich. Ein Mann, welcher 
Jahre lang zu der unmittelbaren Umgebung der Kaiserin gehört, fast 
täglich und nicht selten mehrmals täglich, über die Vorkommnisse 
des Tages, über grosse politische Ereignisse, Verwaltungsfragen, 
Personen und Verhältnisse, Kunst und Literatur sich mit der Kai¬ 
serin unterhielt, genau unterrichtet ist von ihren Studien, Arbeiten, 
Zerstreuungen, von ihrem Befinden, ihrer augenblicklichen Stim¬ 
mung; ein Mann, der mit grosser Aufmerksamkeit allen momen¬ 
tanen Eindrücken, denen Katharina ausgesetzt ist, folgt, jede 
vorübergehende Laune oder Verstimmung als ein wichtiges Ereig¬ 
niss betrachtet, macht über alles Dieses mehrere Jahre hindurch 
ganz kurze Aufzeichnungen. Es giebt Zeiten, in denen kaum ein 
Tag vorübergeht, an welchem nicht wenigstens eine Notiz über 
Katharina oder sonstige Vorkommnisse am Hofe oder in der Politik 
uns begegnen. 

Selten, fast nie sind Geschichtsquellen im Stande, uns in so unmit¬ 
telbarer Weise in historische Situationen längst vergangener Zeiten 
einzuführen. Die Vergangenheit wird beim Lesen dieser Blätter 
zur Gegenwart. Wie reich wären wir an Stoff in Betreff des Le¬ 
bens und Treibens, des persönlichen Verhaltens, des Tempera¬ 
ments und Charakters bedeutender Menschen, wenn Personen der 
Umgebung auch anderer historischer Heroen ähnliche Aufzeich¬ 
nungen gemacht hätten. Briefe und Memoiren sind literarische 
Erzeugnisse, bei deren Abfassung eine gewisse Absicht zu Grunde 
liegt. Es gilt den Verfassern derselben, eine gewisse Wirkung 
zu erzielen. Oft zeichnen sie sich durch Wahrheit aus: in der 
äusseren Correctlieit werden Tagebücher stets viel mehr leisten. 


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So häufige, kurze, zum Theil abgerissene, mit photographischer 
Treue gemachte Aufzeichnungen, welche durchaus keinen Anspruch 
haben, als literarische Production zu gelten, üben einen viel grös¬ 
seren Zauber aus, als Actenstücke oder andere Ueberreste aus der 
Vergangenheit. Jede flüchtige Erregung, welche in wenigen 
Worten sich Luft macht, Ungeduld und Missstimmung, wohlwol¬ 
lender Scherz und heissender Witz, geistvolle tiefe Gedanken und 
ganz momentane Apergu’s, jede Trübung der geistigen Heiterkeit 
und Frische, der Gesundheit und Spannkraft des Gemüthes durch 
leibliches Unwohlsein, das Maass von Arbeit und Genuss, Kraft¬ 
aufwand und Abspannung, Sonnenschein und Regen, Sturm und 
Windstille, wie jeder Tag in dem Leben bedeutender und in bedeu¬ 
tenden Verhältnissen lebender Menschen solche Erscheinungen 
mit sich bringt — alles Dieses finden wir mit gleichsam mechani¬ 
scher Sicherheit, Objectivität und Vollständigkeit in dem Tage¬ 
buche des Geheimschreibers der Kaiserin Katharina. Chrapo- 
witzkij ist wie ein Barometer oder Thermometer oder Anemometer 
neuester Construction, d. h. ein Apparat, der durch sinnreich ange¬ 
brachte Vorrichtungen das Maass der Wärme und des Luftdrucks oder 
die Richtung und Stärke des Windes mechanisch selbstschreibend 
zu Papier bringt. Welchen Eindruck müsste es machen, wenn 
wir über das, was ein Perikies, ein Gottfried von Bouillon, ein 
Gustaf Adolf oder ein Friedrich der Grosse mehrere Jahre hindurch 
täglich äusserten oder thaten, ähnliche reichliche Mittheilungen be- 
sässen. Durch dieselben würden uns Klima und Temperatur histo¬ 
rischer Situationen unvergleichlich näher gebracht werden können, 
als auf irgend eine andere Weise. Hier sehen wir, wie grosse 
Haupt- und Staatsactionen sich hinter den Coulissen ausnehmen. 
Die berühmten Menschen erscheinen nicht in Parade-Uniform, son¬ 
dern im Hauskleide. Die Werkstätten politischer Thaten thun sich 
vor uns auf. Wir blicken hinter das Zifferblatt der politischen Uhr 
in den complicirten Mechanismus und beobachten das Ineinander¬ 
greifen der kleinen Räder und Zähnchen. Wir lernen das Maass 
von Staunen, Ueberraschung, Erschütterung, Freude und Schmerz, 
Hoffen und Bangen kennen, welches von den Ereignissen und Ein¬ 
drücken des Tages bewirkt wird. Kaiser und Minister sind denn 
doch auch Privatleute. Als solche lernen wir sie in dieser Art 
Geschichtsquellen kennen. Die grosse Beleuchtung und Perspec¬ 
tive der Weltgeschichte sind beseitigt. Die Menschen erscheinen 
in unmittelbarer Nähe gesehen, bei gewöhnlichem Tageslichte, wie 


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die Gunst des Himmels es bietet, oder bei dem Scheine einer be¬ 
scheidenen Hauslampe anders. Ob kleiner? 

Man sagt wohl, dass es für den Kammerdiener keinen Helden 
gebe. Aber hierauf ist erwidert worden: nicht weil der Held kein 
Held y sondern weil der Kammerdiener ein Kammerdiener sei. 

Man darf behaupten, dass Katharina durch dieses Tagebuch eher 
gewinnt als verliert. Beim Lesen dieser Blätter empfindet man ein 
noch lebhafteres Interesse für die Persönlichkeit der Kaiserin, als 
sonst. Man lernt ihren Geist und ihre Arbeitskraft, ihr Gemüth und 
ihre Liebenswürdigkeit genauer kennen, als dieses auf andere Weise 
möglich ist. Es dürfte kaum einen so werthvollen und einen so zuver¬ 
lässigen Quellenbeitrag zur Geschichte des Charakters und Tempa- 
rements der Kaiserin geben, als diese Notizen. 

Aber auch für die Geschichte der ganzen Zeit ist das Tagebuch 
eine sehr werthvolle Quelle. Die Gespräche Katharina’s mit Chra- 
powitzkij betreffen sehr häufig die wichtigsten politischen Angele¬ 
genheiten, welche damals die Aufmerksamkeit der Kaiserin in An¬ 
spruch nahmen. Ueber Einzelnheiten der grossen Conflicte mit der 
Türkei und mit Schweden werden wir sehr genau unterrichtet. 
Unzählige Male wird der politischen Correspondenz der Kaiserin 
erwähnt, wobei nicht selten einzelne Stellen aus den Briefen der 
Kaiserin an Joseph II., den Fürsten von Ligne, Potemkin u. s. w. 
wörtlich angeführt werden. Ein solcher Umstand verleiht dem Tage¬ 
buche eine Art archivalisches Interesse. Es lässt sich auf Grund 
dieses Tagebuches ein Verzeichniss der in diesen Jahren von Katha¬ 
rina geschriebenen Briefe zusammenstellen. 

Die Stadt- und Hofgespräche über Menschen und Verhältnisse 
werden fast täglich in ganz kurzen Worten reproducirt. Wir er¬ 
fahren, wie Katharina über eine grosse Anzahl von Zeitgenossen 
geurtheilt hat. Die bedeutenderen und viele minder bedeutende 
Vorkommnisse in der Hauptstadt Russlands werden erwähnt und 
besprochen. Die Bemerkungen über allerlei Vorfälle an anderen 
Höfen sind von dem grössten Interesse. Katharina’s lebhafter 
Verkehr mit den Gesandten der verschiedenen Mächte, ihre Kennt- 
niss von dem Inhalte des Briefwechsels dieser Staatsmänner mit den 
leitenden Ministern der Staaten, der Eifer, mit welchem Katharina 
Zeitungen y Broschüren, politische und historische Schriften, welche 
damals erschienen, liest — Das alles verleiht dem Tagebuche 
Chrapowitzkij’s zum Theil den Charakter eines Tageblattes, und noch 
dazu eines an sehr massgebender Stelle erscheinenden. Wir erfah- 


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142 


ren allerlei von Stürmen und Ueberschwemmungen in St. Peters¬ 
burg, von Korntheuerung in Russland, von Todesfällen so bedeu¬ 
tender Personen wie Potemkin, Joseph II., Gustaf III., von Sie¬ 
gen und Niederlagen der Russen, Türken, Schweden, von Erken¬ 
nungen zu verschiedenen Aemtern und Ordensverleihungen, von 
diplomatischen Schachzügen, von kleinen Verstimmungen zwischen 
den Mächten u. s. w. 

Als Beispiele von dem reichen Inhalte des Tagebuches greifen wir 
einzelne Tage heraus. So notirt Chrapowitzkij (S. 184) am 2. No¬ 
vember 1788 Folgendes: Einige Bemerkungen über die Unter¬ 
stützungen, welche die Kaiserin den Angehörigen der in der Schlacht 
bei Hochland (im Juli 1788) Gefallenen gewährte. Einen recht 
langen, wörtlich citirten Passus aus einem Schreiben des Fürsten 
von Ligne aus Südrussland an den Grafen Cobenzl, welches die rus¬ 
sische Post auf dem Wege der «Perlustration» geöffnet und copirt 
hatte, und aus welchem wir höchst anziehende Einzelnheiten über 
Potemkin’s Verhalten bei der Belagerung Otschakovv’s erfahren. 
Verhandlungen der Kaiserin mit Chrapowitzkij über die Theater- 
direction, welche der Letztere übernehmen sollte. Ueber einen 
komischen Vorfall mit der Fürstin Daschkow, der ehemaligen 
Freundin der Kaiserin, weiche ein Paar Schweine eines ihr ver¬ 
hassten Nachbars hatte umbringen lassen. Eine Verfügung Katha¬ 
rina^ über ein dem Andenken des Admirals Greigh, welcher bald 
nach der Schlacht bei Hochland gestorben war, zu errichtendes 
Mausoleum. 

Aehnlich mannigfaltig ist der Inhalt der Notizen vieler anderer 
Tage. So wird z. B. am 15. April 1798 erwähnt: der Krankheit des 
Königs von England; einiger Aeusserungen der Kaiserin über die 
staatsrechtlichen Bestimmungen in Betreff des Verlustes der Adels¬ 
rechte; eines jungen Verbrechers, welcher verurtheilt wird; des 
Grafen Roger Damas, der als Emigrant sich bei der Einnahme 
Otschakow’s ausgezeichnet hatte u. s. w. 

Bei der Abfassung mancher Actenstücke war Chrapowitzkij mit¬ 
helfend thätig, manche Concepte der Kaiserin hatte er umzuschrei¬ 
ben; viele Privatbriefe, welche übrigens oft politische Bedeutung 
hatten, wie z. B. Briefe an Grimm, Zimmermann, Pohlmann und dgl., 
las Katharina ihrem Geheimschreiber vor, und er notirte dann zuHause 
sogleich den Inhalt so genau wie möglich. Dadurch ist denn Chra¬ 
powitzkij oft in den Stand gesetzt, solche Actenstücke wenigstens 


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theilweise oder im Auszuge mitzutheilen, welche sonst der Geschichts¬ 
forschung gar nicht zugänglich geworden sind *. 

Insofern wir es mit einer so hervorragenden, geistvollen, literarisch 
bedeutenden Persönlichkeit wie Katharina II. zu thun haben, erinnert 
das Tagebuch Chrapowitzkij’s stellenweise an die Art der Gespräche 
Eckermann's mit Goethe. Insofern Fragen der Tagespolitik, Details 
aus der Hof- und Beamtengeschichte darin eine grosse Rolle spielen, 
kann man dieses Tagebuch mit Varnhagen von Ense’s Tagebuch 
vergleichen. 

Ehe wir den Inhalt des Tagebuches nach einzelnen Richtungen hin 
betrachten, müssen wir die Persönlichkeit des Verfassers genauer 
kennen lernen. 


Die Familie Chrapowitzkij stammte aus Polen und ein Mitglied 
derselben wanderte während der Regierung des Zaren Feodor Alexeje- 
witsch, also in der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts 
nach Russland aus. Der Vater des Geheimschreibers der Kaiserin 
Katharina diente in der «Leibcompagnie» der Kaiserin Elisabeth, 
wurde im Jahre 1747 in den Adelsstand erhoben und erhielt 1777 
Generalsrang. Der Grossvater des Verfassers des Tagebuches von 
mütterlicher Seite war der bekannte Ingenieur Serdjukow, ein Mann, 
welcher des Vertrauen des Kaisers Peter in hohem Maasse genossen 
hatte und als Erbauer der Schleusen des Kanals von Wischnij-Wolo- 
tschök und anderer derartiger grossartiger Anstalten eines wohl¬ 
verdienten Ruhmes genoss 2 . 

Alexander Wassil je witsch Chrapowitzkij wurde i. J. 1749 geboren. 
Der Grossfürst Peter (nachmals Kaiser Peter III.) war sein Taufpathe. 
Chrapowitzkij erhielt eine militärische Erziehung und wurde Officier. 
Die Bekanntschaft mit dem berühmten Lomonossow, welcher frei¬ 
lich viel älter war als Chrapowitzkij, regte den letzteren zu literari¬ 
schen Arbeiten an. Männer wie der Herausgeber der «Alten Russi¬ 
schen Bibliothek», Nowikow, oder wie der bekannte Dichter Ssuma- 
rokow, schätzten das poetische und kritische Talent des jungen 
Schriftstellers hoch. Er schrieb Dramen, lyrische Gedichte und sa- 

4 s. z. B. S. 191 ein Schreiben Katharina’s an den Vicekanzler Ostermann über die 
militärischen Operationen in Finland; oder S. 2$7 ein Schreiben Katharina’s an den 
Grafen Woronzow über das Verhalten Russlands zu England im Jahre 1789 und dgl. 

* Einer Tradition zufolge soll die Mutter Chrapowitzkij’s, Helena Serdjukow, eine 
natürliche Tochter Peter’s des Grossen gewesen sein; sonach wäre er selbst der Enkel 
Peter’s. 


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144 


tyrische Briefe, welche letzteren, so wie manche seiner Kritiken, ihm 
einige Feinde erwarben. Zuerst bekleidete Chrapowitzkij ein Amt 
bei dem Grafen Kyrill Grigoije witsch Rasumowskij, später diente er 
als Secretär bei dem General-Procureur Fürsten Wjasemskij, sodann 
wurde er Obersecretär im Senat In den siebenziger Jahren lernte 
er Dershäwin kennen, welcher ebenfalls im Senat diente, und sich 
mit dem strebsamen Dichter und vortrefflichen Prosaschriftstller be¬ 
freundete. Chrapowitzkij war in der That unübertrefflich bei der 
Redaction von Schriftstücken, so dass ein Kenner guten Styls, wie 
I. I. Dmitrijew, die Aeusserung thun konnte, Chrapowitzkij sei von 
allen Zeitgenossen Speranskij’s der einzige, dessen Talent in dieser 
Hinsicht mit der ungewöhnlichen Begabung des berühmten Ministers 
Alexanders I. verglichen werden könne. Gerade in der Eigenschaft 
eines Schriftführers wurde er im Jahre 1782 von dem Fürsten Wja¬ 
semskij der Kaiserin Katharina empfohlen. Es begann der denk¬ 
würdige Abschnitt seines Lebens, in welchen die Abfassung des 
Tagebuches fällt. Dieses Tagebuch führte er vom Januar 1782 bis 
zum September 1793, d. h. bis zu jenem Zeitpunkte, wo er, zum 
Geheimrath und Senator ernannt, seinen Hofdienst beendet hatte. 
Von dem Jahre 1793 an lebte er zurückgezogen und vorherrschend 
sich literarischen Arbeiten widmend, wobei er indessen sich auch als 
Senator bedeutenden Einfluss erwarb und während der Regierung 
des Kaisers Paul durch Aemter und Ehren ausgezeichnet wurde. 
Sehr lebhaft waren seine literarischen Beziehungen zu dem berühm¬ 
testen Dichter jener Zeit, Dershäwin, zu dem Ober-Procureur Dmi¬ 
trijew und anderen Schriftstellern jener Zeit. In dem brieflichen 
Verkehr mit ihnen wie mit seinem Bruder bediente er sich gern der 
gebundenen Rede. Es wurde ihm sehr leicht Verse zu machen, aber 
ein bedeutender Dichter war er nicht. Er lebte als Junggeselle und 
Hagestolz und starb am 29. December 1801. 

In seinem literarischen Nachlass finden sich eine Menge eigen¬ 
händiger Schriften der Kaiserin, darunter mehrere kurze Zettel an 
Chrapowitzkij, Concepte zu allerlei Manifesten und anderen Geschäfts¬ 
papieren, u. A. Besonders anziehend sind Entwürfe und Bruchstücke 
von schriftstellerischen Arbeiten der Kaiserin, welche Chrapowitzkij 
durchzusehen, zu verbessern, in Verse zu bringen hatte. Nur zu 
einem geringen Theile sind diese werthvollen Fragmente veröffent¬ 
licht worden. Sie liefern einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der 
schriftstellerischen Thätigkeit Katharina^ und der Beziehungen 
Chrapowitzkij’s zu der Kaiserin in den Jahren 1782—1793. 


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H5 


Chrapowitzkij verstand es sehr wohl, als Geheimschreiber der Kai¬ 
serin sich das Vertrauen derselben zu erwerben und zu erhalten. In 
seinem Tagebuche findet sich nirgends ein Urtheil über Katharina, 
und nirgends eine Andeutung von Lob oder Tadel. Aber die Ver¬ 
ehrung für die Kaiserin, die unbedingte Ergebenheit Chrapowitzkij’s 
ist aus der Ausführlichkeit zu ersehen, mit welcher er von Allem, was 
die Kaiserin thut und sagt, berichtet. Das Tagebuch enthält keine an¬ 
deren, als die Kaiserin betreffenden Notizen. Der Verfasser desselben 
muss doch auch vieles Andere erlebt, muss doch Verwandte, Freunde 
und sonstige Interessen gehabt haben, aber er erwähnt in seinem 
Tagebuche nur solcher persönlicher Erlebnisse, in denen auch Ka¬ 
tharina eine Rolle spielte. In einer solchen Abgrenzung des Stoffes, 
einer solchen fast monographischen Beschränkung auf einen Gegen¬ 
stand dürfte ein Grund zur Vermuthung liegen, dass Chrapowitzkij 
sein Tagebuch doch nicht bloss für sich schrieb, sondern dass es 
ihm darum zu thun war, einen Beitrag zu liefern für die Geschichte 
der Kaiserin. Es ist sehr zu bedauern, dass der Herausgeber des 
Tagebuches, Hr. Barssukow, bei der Beschreibung der Handschrift 
die Frage gar nicht berührt, ob aus der letzteren zu ersehen sei, dass 
sie eine Reinschrift des ursprünglichen Tagebuches, oder dieses 
selbst sei. In dem ersteren Falle, der nach den Aeusserungen Hrn. 
Barssukow’s wahrscheinlicher ist, würde ein solcher Umstand eben¬ 
falls darauf hindeuten, dass Chrapowitzkij ein Bewusstsein von der 
Bedeutung seiner Arbeit für die Nachwelt als Geschichtsquelle ge¬ 
habt habe. 

Ganz kurz und mit längeren Unterbrechungen wurde das Tage¬ 
buch geführt in den ersten Jahren des obenerwähnten Zeitraumes. 
Die Jahre 1782 bis 1786 nehmen nur 4 Seiten ein. Im Jahre 1786 
werden die Aufzeichnungen sehr viel häufiger und ausführlicher, so 
dass es 17 Seiten umfasst; das Jahr 1787 übertrifft das vorhergehende 
an Ausführlichkeit um das Doppelte; am reichlichsten sind die No¬ 
tizen im Jahre 1788 (sie umfassen 160 Seiten); dann nimmt die Aus¬ 
führlichkeit langsam ab; das Jahr 1789 ist immerhin noch sehr reich 
vertreten (100 Seiten), die folgenden Jahre sind schon spärlicher aus¬ 
gestattet (1790 umfasst 30, 1791—35, 1792—30, 1793—20 Seiten). 

Betrachten wir den Inhalt des Tagebuches im Anschluss an unsere 
kurzen biographischen Bemerknngen in Hinsicht auf den Verfasser 
selbst und seine Stellung zur Kaiserin. 

Sehr ausführlich erwähnt Chrapowitzkij der jeweiligen ihm von 
der Kaiserin aufgetragenen Arbeiten. Er ist denn doch in erster 

Buh. Rutim. B4. TII. IO 


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Linie ihr literarischer Handlanger. Eine seiner Hauptbeschäftigungen 
war die Anfertigung von Reinschriften der von Katharina verfassten 
Theaterstücke. Ihm steht für diesen Zweck eine Anzahl von Schrei¬ 
bern zur Seite, welche nach Vollendung einer Reinschrift in mög¬ 
lichst kurzer Zeit sehr reichliche Geldgeschenke erhalten. Chrapo- 
witzkij selbst muss sich bisweilen sehr anstrengen: es geschieht mit¬ 
unter, dass er einen Theil der Nacht oder die ganze Nacht hindurch 
mit Abschreiben oder mit dem Anfertigen von Versen für die Stücke 
der Kaiserin zubringen muss. Er vergisst dann nie des Wohlwollens 
zu erwähnen, mit welchem seine Herrin seine Mühe und Arbeit an¬ 
erkannt. Wiederholt ist beträchtlicher Geschenke erwähnt, welche 
die Kaiserin ihm macht. Es sind dann einige Tausend Rubel, oder 
eine werthvolle Tabaksdose oder etwas dergleichen. Er ist sehr 
empfänglich für jede Aeusserung von Lob und Tadel von Seiten der 
Kaiserin nicht bloss, sondern auch von Seiten Anderer, z. B. Potem- 
kin’s. So bemerkt er einmal nicht ohne Behagen (S. 250): der Fürst 
Potemkin habe dem Kammerdiener der Kaiserin, Sotow, gesagt, 
Chrapowitzkij sei ein sehr brauchbarer Mensch* oder ein andermal, 
die Kaiserin sei seinem Diener begegnet und habe ihm bemerkt, er 
müsse ebenso gewandt und pünktlich sein, wie sein Herr (S. 231) u. 
dgl. Wie sehr viel ihm an Katharina’s Urtheil gelegen war, zeigt fol¬ 
gende Andeutung. Nachdem ihm die Direktion des Theaters übertra¬ 
gen worden war, geschah es, dass er nach einer Aufführung sich, wie 
er selbst schreibt, nur darum im Zimmer der Kaiserin mit einigen 
Büchern zu schaffen machte, um vielleicht eine Aeusserung Katha¬ 
rina^ über die Aufführung zu hören. Er fügt hinzu, er habe doch 
selbst davon zu reden anfangen müssen und theilt dann einige Be¬ 
merkungen der Kaiserin über die Chöre und Arien der neuen Oper 
mit (S. 240). Sehr oft erwähnt er, dass seine Aeusserungen «beifällig» 
(öjiarociuioHHo oder dgl.) aufgenommen worden seien. Katharina 
bedurfte seiner für die verschiedensten Geschäfte. So hatte er u. A. 
die der Kaiserin eingereichten Bittschriften entgegenzunehmen (S. 3). 
Bisweilen redigirte er «Ukase»; als einmal der Graf Besborodko, 
welcher im gewissen Sinne ein Minister des Auswärtigen genannt 
werden kann, krank ist, hat Chrapowitzkij statt seiner den Vortrag 
der laufenden Geschäfte bei der Kaiserin. Bei der öffentlichen Feier 
des Friedens von Werelä (im September 1790) verliest er das Ver¬ 
zeichniss der Belohnungen und Ordensverleihungen. Dann hat er 
oft für die Kaiserin allerlei Einkäufe von Kunstgegenständen zu be¬ 
sorgen. Es ist häufig von geschnittenen Steinen, Statuen und dgl. 



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die Rede, welche Chrapowitzkij auswählt und der Kaiserin zeigt. 
Beim Abschiede von der Kaiserin, als er zum Senator ernannt, seine 
Stelle bei der Kaiserin verlässt, macht er der Letzteren drei geschnit¬ 
tene Steine zum Geschenk (S. 438). Die Günstlinge der Kaiserin 
hatten Rücksicht auf den Secretär Katharina’s zu nehmen. Mamo- 
now schenkt ihm einmal «einen Zug» Pferde [man fuhr vierspännig 
mit einem Vorreiter] (S. 61), ein andermal eine Tabati£re mit Bril¬ 
lanten im Werthe von 1800 Rbl., welche die Kaiserin selbst ausge¬ 
wählt hatte (S. 141 und 143). Wiederum besorgte er manche Ge¬ 
schenke, welche Katharina ihren Günstlingen machte, wie z. B. ein 
Silberservice für Mamonow, Ehrendegen, goldene Schüsseln und dgl. 
für Potemkin u. s. w. So oft Katharina aus einem Palast in den 
anderen zieht, oder den Aufenthalt in St. Petersburg mit dem Land¬ 
leben in Zarskoje-Sselo vertauscht, hat er die Papiere und Bücher der 
Kaiserin einzupacken und hinüberzubefördern. Bisweilen ertheilt 
ihm die Kaiserin ganz gewöhnliche kleine Aufträge, wie z. B. in Be¬ 
treff eines Hühneraugenpflasters, dessen Wirksamkeit die Kaiserin 
lobt, sich aber dabei doch entschuldigt, dass sie ihn mit einer solchen 
«Kommission» beschwerlich falle (S. 161). 

Katharina scheint seiner Gesellschaft bedurft zu haben. Er wusste 
von Allem; er kannte alle Interessen der Kaiserin; er ging auf ihre 
Gedanken ein; er widersprach nie; er hatte keine eigene Meinung, 
aber er verstand es sehr geschickt, die Aeusserungen der Kaiserin 
zu ergänzen, ein Gespräch weiter zu führen, wenn eine lebhafte Sorge 
die Kaiserin quälte, etwas Beruhigendes vorzubringen, hier und da 
etwas Schmeichelhaftes zu sagen, wobei er denn in seinem Tage¬ 
buche bemerkt, das von ihm Gesagte sei «mit Vergnügen» gehört 
worden. Bisweilen wohnte er den dramatischen Aufführungen im 
kleinsten Kreise der Kaiserin, etwa in den Privatgemächern Mamo- 
now’s, bei und wurde zur Tafel gezogen (s. z. B. S. 156); als* einst 
kurz vor Tische Katharina ihn rufen Hess, um über Statuen mit ihm 
zu sprechen, behielt sie ihn gleich zu Mittag «am kleinen Tische» 
bei sich, indem sie sagte «puisque vous y etes». Oft geschah es, 
dass er, sich mit der Kaiserin unterhaltend, mit ihr «in der Kolon¬ 
nade» auf- und abging. 

Chrapowitzkij war viel jünger als Katharina. Sie war eine Sechs¬ 
zigerin, er erst 40 Jahre. Sie fragte ihn einst, wie alt er sei, und 
meinte lachend, er könne noch sehr wohl heirathen (S. 165). Sehr 
oft erwähnt er, er habe der Kaiserin die Hand geküsst. Sie wusste 
seinen Eifer zu schätzen. Sehr häufig Hess sie ihn mehrmals am Tage 

IQ* 


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kommen, und nannte ihn wohl einmal «in Gegenwart einiger Aus¬ 
länder» ein «souffre douleur», weil sie ihn so oft in Anspruch nehme. 
(S. 28). Einmal fragt sie ihn, ob nicht seine Füsse schmerzen, 
weil sie ihn so viel umherschicke (S. 97). Sie scherzt über seine 
Beleibtheit und freut sich, dass er trotz der vielen ihm ertheilten 
Aufträge nicht magerer werde, und so rasch laufen könne (S. 28 
und 88). «Je vous fatique trop, je ne vous manage gu&re», bemerkt 
sie einmal (S. 129). Als sie ihn einst an seinem Namenstage rufen 
lässt, entschuldigt sie sich, dass sie ihm auch an diesem Tage keine 
Ruhe lasse (S. 141). Eines Tages lachte sie: er müsse eigentlich 
noch besonders Geld für Schuhwerk von ihr erhalten, da er so viel 
für sie zu laufen habe (S. 199); dabei wiederum wusste sie, wie 
gern er ihr diente; als es sich eines Tages traf, dass sie ihn gar 
nicht hatte rufen lassen, fragte sie ihn am folgenden Morgen, was 
er sich wohl dabei gedacht habe, dass sie seiner nicht bedurft 
hatte. Mit Wohlwollen erkundigt sie sich oft nach seiner Gesund¬ 
heit. Als einst in der Nähe seiner Wohnung eine Feuersbrunst 
stattgefunden hatte, fragt sie besorgt, ob er nicht in Gefahr ge¬ 
wesen sei, auch einen Verlust zu erleiden (S. 289). Nur selten be¬ 
richtet er von augenblicklicher Missstimmung der Kaiserin in Betreff 
seiner. So berichtet er im Februar 1789 nicht ohne Missmuth, 
dass Katharina auf seine, das Theaterbudget betreffenden Vorstel¬ 
lungen nicht eingegangen sei und dass er in Folge dessen den 
ganzen Tag in Verstimmung verbracht habe (S. 255). Es ist dieses 
das einzige Mal, dass er von sich, von seiner Stimmung spricht. 
Als er ein andermal Katharina beim Briefschreiben störte, um ihr 
über ein stattgehabtes Unglück — ein Dachdecker war bei einem 
Sturz vom Dache verunglückt — zu berichten, fährt sie ungeduldig 
mit der Aeusserung auf, dass «man sie den unseligen Brief nicht 
ruhig zu Ende schreiben lasse», entschuldigt sich aber wegen ihrer 
Leidenschaftlichkeit nachher «während des Haarkämmens» (S. 70). 
Ein andermal ist sie unwillig über einen ihr von Chrapowitzkij 
erstatteten Bericht in Betreff eines im Bau befindlichen Fahrzeuges 
und fährt auf, sagt aber sogleich, nachdem Chrapowitzkij den Fall 
näher erläutert hat: «Excusez, je suis un peu impatiente aujourd*- 
hui, c’est peut-etre le beau temps, qui en est la cause» (S. 279). Da 
der Vorfall im April sich ereignet, wird das Wetter wohl das Ge- 
gentheil von «schön» gewesen sein. In der Regel ist die Kaiserin 
sehr rücksichtsvoll, wohlwollend, zu, Scherzen aufgelegt. Als einst 
die Miene Chrapowitzkij's ihr bekümmert erschien, bemerkte sie, 



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ersehe so übelgelaunt aus: «netes-vous pas brouilte avec votre 
belle, que sais-je moi?« (S. 69). Einmal nahm sie in harmlosem 
Geplauder eine Rolle Papier und stach damit Chrapowitzkij in den 
Leib, indem sie lachend sagte: *Je vous tuerai avec un morceau 
de papier» (S. 401). Sie war ihm dankbar, wenn er stets etwas 
Neues zu erzählen wusste: «rContez moi toujours plus de nouvelles», 
sagte sie einmal, als sie ihn entliess (S. 283). Wie intim sie mit 
Chrapowitzkij war, ist u. A. aus der gemüthlichen Weise zu ersehen, 
wie sie den sehr corpulenten Mann bedauert, dass er in der heissen 
Sommerzeit so arg schwitze. Sie tröstet ihn, es werde damit bei 
zunehmendem Alter besser, räth ihm häufiger kalte Bäder zu neh¬ 
men, weist auf ihre eigene Erfahrung in dieser Beziehung hin 
(S. 91 u. A. 103), lacht ihn aus, er sei vom vielen Schwitzen ganz 
abgemagert, u. s. w. (S. 103, 113, 402, 429). Sehr lustig ist der 
Rath, den sie ihm einmal giebt, sich nicht auf einen Stuhl, sondern 
auf das Sopha zu setzen, denn, wenn er falle, so werde sie ihn nicht 
aufheben können (S. 429). # 

So geringfügig alle diese Dinge sein mögen, so führen sie uns 
doch in die Atmosphäre ein, welche die Kaiserin umgab. Wir 
begegnen einem glücklichen Temperament; es ist viel Gemüth und 
heitere Laune, viel Liebenswürdigkeit in der Art des Verkehrs 
zwischen Katharina und ihrem Geheimschreiber, den sie als einen 
ehrlichen und in seinem Berufskreise treuen Diener kannte und 
schätzte, und von dem sie einmal bemerkte, sie sei bereit ihre 
Hand zum Verbrennen ins Feuer zu stecken, wenn Chrapowitzkij 
der Bestechung zugänglich sei l . 

Chrapowitzkij war mehr Hofmann als Staatsdiener. Er strebte 
nie nach politischem Einfluss und hatte auch keinen. Er war zugleich 
ein Freund der Kaiserin und gehörte doch auch gleichsam zu ihren 
Dienstboten, wie er denn oft seines Verkehrs mit dem Kammer¬ 
diener Sotow und der Kammerfrau der Kaiserin Maria Sawischna 
erwähnt. Er war wohlhabend und angesehen. Seine Stellung 
mochte von vielen beneidet werden und dennoch ist er eine ganz 
untergeordnete Persönlichkeit. Er lebte dem Dienste der Kaiserin 
und der Literatur, aber hier wie dort blieb er ein Subalterner. 

f Es wird berichtet, Chrapowitzkij sei dem Trunk ergeben gewesen, habe sich in¬ 
dessen in der Regel erst spät Abends berauscht, wenn er vermuthete, die Kaiserin 
werde ihn nicht mehr rufen lassen. Geschah letzteres trotzdem, so musste er durch 
Sturzbäder einige Nüchternheit zu erlangen suchen. S. d. Einleitung zum Tagebuche 
von Barssukow S. XI. 


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Sein grösstes Verdienst, seine bedeutendste Leistung, das was ihm 
bei der Nachwelt einen Anspruch auf Anerkennung sichert, ist die 
Führung des Tagebuches, dessen Werth Männer wie Dmitrijew, 
Karamsin u. A. wohl zu schätzen wussten, dessen Bedeutung als 
Geschichtsquelle indessen bisher doch nicht hinreichend gewürdigt 
worden ist. 

Noch eines Punktes ist hinsichtlich der Beziehungen Chrapo- 
witzkij’s zur Kaiserin zu erwähnen. Es handelt sich um die Frage, 
ob Katharina davon wusste, dass ihr Secretär täglich über sie Auf¬ 
zeichnungen machte. Der Herausgeber des Tagebuches, Hr. Bar- 
ssukow, spricht die Vermuthung aus, dass dem so gewesen sei; 
ja er scheint sogar (s. S. XIII der Vorrede) anzunehmen, dass sie 
in Folge dessen, d. h. nachdem sie erfahren, dass er ein solches 
Tagebuch führe, gegen ihn kälter geworden sei und ihn aus ihrer 
unmittelbaren Umgebung entlassen habe. Es fehlt durchaus an 
Anhaltspunkten für eine solche Hypothese, welche Hr. Barssukow 
auch nicht Irgendwie zu begründen sucht. 

Gewiss ist, dass der tägliche Verkehr zwischen Chrapowitzkij 
und der Kaiserin ein sehr ungezwungener, fast freundschaftlicher 
war, und dass eine etwa eingetretene Spannung wenigstens nicht 
aus dem Tagebuche zu ersehen ist. Die Einzelnheiten, welche wir in 
den folgenden Abschnitten mittheilen, mögen einen Beitrag liefern 
zur Charakteristik Kath^rina’s, der Art und Weise, wie sie mit den 
sie umgebenden Personen umzugehen pflegte. 

Indem wir Proben aus dem Tagebuche geben, wollen wir gleichzei¬ 
tig darthun, wie reichhaltig dasselbe als Geschichtsquelle ist. 

Gruppenweise gedenken wir die Aeusserungen Katharinas in 
Betreff der verschiedensten Gegenstände zu betrachten. Aus ihren 
harmlosen Plaudereien, aus ihren Aeusserungen über Theater und 
bildende Kunst, schöne Literatur und Wissenschaft, über Menschen 
und Verhältnisse ersehen wir sehr viel über sie selbst, ihre eigenen 
Erlebnisse, ihr Geistes- und Gemüthsleben. Fragen der inneren 
Verwaltung, der auswärtigen Politik werden ebenfalls mit grosser 
Ausführlichkeit berührt. 

Katharina verstand es, sich gut zu unterhalten. Meist war sie in 
heiterer Laune, reich an Einfällen, angeregt durch Regierungs¬ 
geschäfte, Lectüre, Kunststudien und den Verkehr mit einer grossen 
Anzahl zum Theil bedeutender Menschen. Chrapowitzkij hat nun 
nicht immer wichtige Aussprüche Katharina’s notirt, sondern auch 
ganz gewöhnliche Aeusserungen; aber gerade das Zufällige, Gele- 


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gentliche, nichts weniger als Monumentale in den Plaudereien, wie 
jeder Tag dieselben veranlasste, bringt uns die Person der Kaiserin 
näher. Wir hören ihr herzliches Lachen, als die Nachricht von 
einem eiligen Rückzuge der Türken eintrifft (S. 58); als sie von 
einem unglücklichen Ehemann hört, der sich scheiden lassen will, 
trällert sie sogleich ein Couplet mit Spottversen (S. 69); sie sitzt 
am Schreibtische und hat einige siebenzig Papiere zu unterzeichnen, 
plaudert die ganze Zeit und bemerkt lachend, die Kaiserin Anna 
habe es beim Unterschreiben viel leichter gehabt, da der Name 
«Anna» so viel kürzer sei als «Katharina» (S. 213 und 349); am 
Fenster stehend spricht sie wohl einmal von den Tauben, welche 
draussen auf dem Fensterbrette sitzen (S. 229); ein andermal er¬ 
blickt sie eine Heerde Dohlen und Krähen, und bemerkt, diese 
Vögel freuten sich nach dem Regen der vielen Würmer und Raupen, 
welche aus der Erde hervörkriechen «tous-se maugent dans ce monde- 
ci» (S. 401); als sie ihre Hündchen, behaglich zusammengekauert, 
im Sonnenschein liegen sieht, ruft sie Chrapowitzkij, zeigt ihm die 
Thiere und sagt lustig, er werde es nicht verstehen, sich so ge¬ 
schickt hinzulegen (S. 409); als einst eine Biene die Kaiserin sticht, 
nennt sie das ein der Todesstrafe würdiges Majestätsverbrechen 
(S. 342). Sie neckt die livländischen Edelleute, dass sie unter sich 
gern esthnisch sprechen (S. 27); sie bemerkt ärgerlich, dass Potem- 
kin stets vergesse seine Briefe mit einem Datum zu versehen* 
(S. 343); sie verspottet ihren Leibarzt Rogersbn, indem sie ihn 
fragt, ob die Engländer den Verlust der amerikanischen Kolonien 
verschmerzt hätten (S. 18). Als Chrapowitzkij ihr zum Fest der 
Maria Verkündigung Glück wünscht, bemerkt sie, es sei eigentlich 
ein Weiberfesttag (S. 307); auf den Glückwunsch zu dem Feste 
ihrer Thronbesteigung und die Aeusserung Chrapowitzkij’s, sie 
möge sechzig Jahre herrschen, sagt sie: «Nein, ich werde den Ver¬ 
stand und das Gedächtniss verlieren; ich werde vielleicht noch 
zwanzig Jahre leben; das letzte Jahr war ein schweres Jahr u. s. w.» 
(S. 309). Es war im Jahre 1789. Der türkische und schwedische 
Krieg hatten ihr viel Sorge bereitet. Als sie einmal niesst, bemerkt 
sie: Quand on £ternue on ne meurt pas» (S. 332). Als einst von 
Finanzfragen die Rede ist, fragt sie Chrapowitzkij, ob er sie für 
geizig halte? u. w. 

Die Unterhaltung war bisweilen recht frei und die übrigens da¬ 
mals schon bejahrte Kaiserin erlaubte es sich, auch etwas bedenk¬ 
liche Gegenstände zu berühren; so spottete sie über manche Anek- 


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doten der griechischen Mythologie, über die Liebesabenteuer 
Jupiter’s, Mars’, Herkules' u. s. w (S. 45, 227, 385); erwähnte sehr 
unbefangen etwas heikler Vorkommnisse der chronique scandaleuse 
(z. B. S. 66 und 316), der lockeren Theaterprinzessinen, welche die 
Sitten verderben (S. 347), u. dgl, m. 

Sehr gern sprach Katharina gelegentlich von ihren Vorgängern 
auf dem russischen Throne. Von Peter I. sagte sie wohl, er sei 
in schwierigen Lagen fähig gewesen, mit dem. Kopfe gegen die 
Wand zu rennen (S. 229). Ein andermal sagte sie, man habe Peter 
nicht geliebt, aber gefürchtet (S. 196). Dann erwähnt sie einst des 
Gerüchtes, demzufolge die Kaiserin Anna eine Tochter Peter’s 
gewesen sein sollte; erzählt, Peter II. sei in die Prinzessin Elisabeth 
verliebt gewesen, doch habe sie ihm einen Korb gegeben. Auch 
sonstiger Anekdoten über Katharina I. und Anna erwähnte die 
Kaiserin (S. 132). Einst verglich sie die Regierung Elisabeths mit 
der ihrigen und meinte, unter Elisabeth hätten Emporkömmlinge 
wie Rasumowskij viel Einfluss gehabt; es sei eine terroristische 
Zeit gewesen (S. 68). Sie tadelte ferner die Unordnung der Ver¬ 
waltung während der Regierung Elisabeth's und meinte, unter Anna 
sei Alles ordentlicher hergegangen (S. 346). 

Auch ihrer eigenen Thronbesteigung erwähnte sie zuweilen; am 
Jahrestage derselben im Jahre 1789 bemerkte sie, es seien nun 
doch schon 27 Jahre seitdem vergangen, und doch scheine es ihr, 
als habe sich Alles vor gar nicht langer Zeit ereignet (S. 309). Ein 
andermal bemerkte sie, ihre Thronbesteigung könne nicht mit der¬ 
jenigen der Kaiserin Elisabeth verglichen werden; im Jahre 1762 
sei Alles einmüthig gewesen, man habe sie vorher 18 Jahre hindurch 
gekannt (S. 82). Dann wieder fiel ihr eine Episode aus jenen Vor¬ 
fällen ein: ein Grenadier des Preobrashenskischen Regiments hatte 
mit Gregor Orlow die Verabredung getroffen, dass Katharina an 
dem verhängnisvollen Tage des Sturzes Peter's III. aus dem Palaste 
heraustreten und ihm, dem Grenadier, die Hand geben werde zum 
Zeichen, dass die Zeit zum Handeln gekommen sei. Im Winter 
1788/89 erinnerte sich nun Katharina dieses Soldaten und erzählte 
ihrem Geheimschreiber, wie der Grenadier in dem Augenblicke, 
als sie ihm die Hand gegeben habe, erschüttert gewesen, in Thränen 
ausgebrochen sei, wie sie ihn in den Adelsstand erhoben habe, es 
seien in jedem Regimente 99 in das Geheimniss der bevorstehenden 
Umwälzung Eingeweihte gewesen u. s. w. (S. 222). 


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Sehr oft begegnen wir in den Gesprächen Chrappwitzkij's mit der 
Kaiserin Urtheilen der Letzteren über Menschen, u. A. auch über 
die Fürsten, welche zu jener Zeit regierten. 

Von Friedrich Wilhelm II. von Preussen hatte Katharina keine 
sehr hohe Meinung. Sie erwähnte bisweilen einiger Vorkommnisse 
am preussischen Hofe in nicht sehr wohlwollendem Sinne; sie sagte 
einmal, Friedrich Wilhelm sei, wie sein Vater und Grossvater, cd* un 
caract£re violent et fougueux». Sie lachte über den Aberglauben 
des Königs, welcher Geister zu sehen glaubte: einst erzählte sie, 
Preussen habe es aufgegeben ihr, der Kaiserin, den Krieg zu er¬ 
klären, weil Friedrich Wilhelm eine Zusammenkunft mit Christus 
gehabt und der Letztere den Krieg verboten habe (S 14, 33, 373). 

Wir begegnen ferner sehr scharfen Urtheilen über den König 
Georg III. von England. Als er 1788 erkrankte, folgte Katharina 
mit Interesse allen Nachrichten über den Verlauf der Krankheit, und 
theilte allerlei Details von Aeusserungen der Geistesstörung des 
Königs ihrem Geheimschreiber mit, wie z. B., dass er die Königin 
geschlagen habe und vier Menschen ihn nur mit Mühe zu halten ver¬ 
möchten. «C’est notre ennemi le plus acharn£ und weshalb? Nur 
weil wir an seinen Dummheiten (wegen der amerikanischen Kolo¬ 
nien) keinen Theil nehmen wollten*, sagte Katharina. Als die 
Kaiserin einst eine Menge Geschäfte auf einmal zu erledigen und den 
«Kopf sehr voll* hatte, bemerkte sie, sie werde am Ende auch noch 
verrückt werden, wie der König von England. Chrapowitzkij trös¬ 
tete, sie habe denn doch einen ganz anders gearteten Kopf wie 
Georg EU., worauf Katharina sagt: «Trouvez vous cela?» und dgl. 
Die Königin von England wird von Katharina als dumm und geld¬ 
gierig bezeichnet. (S. 196, 205, 261, 236). 

Mancherlei Scherze erlaubte sich Katharina in Betreff GustaPs UI., 
wenn sie u. A. einmal erzählt, der König von Schweden und sein 
Bruder, der Herzog Karl von Südermannland, trügen lange Schnurr¬ 
bärte und sähen aus wie Kater, oder wenn sie Gustaf in einem 
Theaterstücke, welches sie schrieb, auf das Gründlichste verspottete 
(s. u. A. S. 168). Leider sind die Nachrichten über die Ermordung 
des Königs ganz kurz, und es finden sich nur Notizen über den Ver¬ 
lauf der letzten Krankheit Gustaf’s, keine Aeusserungen der Kaiserin 
über diesen Vorfall. 

Ebenso ist es zu bedauern, dass bei Gelegenheit von Artois’ Be¬ 
such in St. Peterburg keine Äeussereng Katharina’s über den nach¬ 
maligen König Karl X. sich in Chrapowitzkij’s Tagebuche findet. 


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Dagegen spricht Katharina wiederholt von Joseph II., dessen 
Ueberstürzung und Eile sie tadelt, und dessen Handlungsweise in 
Betreff der Niederlande sie auch nicht durchweg zu billigen ver¬ 
mochte. Aus dem von A. v. Arneth herausgegebenen Briefwechsel 
zwischen Katharina II. und Joseph II. wissen wir, wie sehr die Kai¬ 
serin den Letzteren schätzte, der Tod des Kaisers ging ihr sehr nahe. 
Chrapowitzkij schildert in seinem Tagebuche sehr ausführlich den 
Schmerz, welchen Katharina bei der Nachricht von der letzten 
Krankheit und dem Hinscheiden des Kaisers empfand. Sie verlor 
in ihm einen Freund und einen treuen Alliirten. 

Selbst über einige Glieder der kaiserlichen Familie urtheilte 
Katharina in ihren Gesprächen mit Chrapowitzkij. So bemerkte sie 
einmal, dass der Grossfürst Alexander an Wuchs, Gemüthseigcn- 
schaften und Geistesschärfe den Grossfürsten Konstantin weit über¬ 
treffe (S. 355). Als sie ein andermal mit Befriedigung von der glück¬ 
lichen Entwickelung des Grossfürsten Alexander sprach, bemerkte 
sie: «Wenn er einmal einen Sohn hat, und derselbe auch ähnlich er¬ 
zogen wird, dann ist die Thronfolge in Russland auf ioo Jahre ge¬ 
sichert (sic). Welch’ ein Unterschied zwischen dieser Erziehung und 
derjenigen des Vaters (Paul’s). Damals durfte ich Anfangs keinen 
eigenen Willen haben, und nacher konnte ich den Grossfürsten (Paul) 
aus politischen Gründen nicht von Panin fortnehmen. Alle waren 
der Ansicht, dass, wenn er nicht bei Panin ist, er ganz zu Grunde 
geht». (S. 435). 

Mit besonderem Behagen, wie uns scheinen will, notirt Chrapo¬ 
witzkij in seinem Tagebuche alle tadelnden, gegen hohe Beamte ge¬ 
richtete Aeusserungen Katharina’s. 

So klagte sie einmal: Wjasemskij, Tschernyschew und Panin 
hätten während des letzten Krieges mit der Pforte stets allerlei 
Schwierigkeiten gemacht, statt den Gang der Geschäfte zu fördern, 
so dass Rumjanzow besondere Vollmachten erhalten musste, damit 
der Krieg beendet würde (S. 9). Dagegen lobte sie Potemkin’s 
Energie wiederholt, und aus vielen Stellen des Tagebuches geht 
hervor, dass sie seine Treue und Anhänglichkeit, so wie seine Fähig¬ 
keiten zu schätzen wusste. Einmal sagte sie von ihm: «Potemkin 
sieht wie ein Wolf drein und wird nicht geliebt, hat aber eine gute 
Seele*. (S. 10). Als sich die Einnahme von Otschakow 1788 so 
lange verzögerte, baute sie zuversichtlich darauf, dass Potemkin 
nicht eher ablassen werde, als bis die Festung gefallen sei. Sie sagte 
zu Chrapowitzkij: «Je connais mon homme . . je sais, que son hon- 



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neur y est attachd», u. s. w. (S.203). «Potemkin ist klug wie der 
Teufel», bemerkte sie einmal (S. 82). Von Rumjanzow äusserte die 
Kaiserin einst, er habe grosse militärische Verdienste, sei aber eher 
tapfer mit dem Verstände als mit dem Herzen; vom Grafen Kyrill 
Rasumowskij: er sei nicht dumm, habe aber ein verdorbenes Herz 
(S. 73 ). 

In gereiztem Tone spricht Katharina wiederholt von dem ihr nahe¬ 
stehenden Grafen Besborodko, dessen Dienste ihr von grossem 
Werthe waren, der aber oft ihren Unwillen erregte. Als es im Jahre 
1788 mit der Expedition Saborowskij’s ins Mittelmeer zum Zweck 
derlnsurgirung der Slaven gegen die Türkei nicht rasch genug vor¬ 
wärts ging, schrieb Katharina eine solche Verzögerung der Nach¬ 
lässigkeit Besborodko's zu und machte ihm Vorwürfe, worüber wir 
denn in Chrapowitzkij’s Tagebuche einige Einzelnheiten finden 
(S. 81). Ein andermal war Katharina unzufrieden, dass Besborodko 
müssig auf seinem Landsitze sich aufhielt, während es in der Haupt¬ 
stadt wichtige Geschäfte zu erledigen gab (S. 102 und 423). 

Oft finden sich scharfe Aeusserungen über einzelne Verwaltungs¬ 
beamte, deren Gewissenlosigkeit die Kaiserin kannte. Von dem Gou¬ 
verneur von Astrachan, Alexejew, sagte sie: «il va se casser le nez» 
(S. 57)/und ein andermal, er habe die Kalmyken geplündert (S. 62). 
Jedesmal, wenn die Kaiserin Jemandem «den Kopf wäscht», nimmt 
Chrapowitzkij die Sache zu Protokoll (S. 63, 121, 130 u. dgl. m.). 
In ihrem Unmuth über die Untüchtigkeit mehrerer Beamten platzt 
die Kaiserin einst mit der Aeusserung heraus: «Un beau matin je 
les chasserai tous» (S. 193). Es ist immerhin ein kleiner Beitrag für 
die Biographie der betreffenden Personen, wenn Katharina den Ge¬ 
neral-Gouverneur von Moskau, Archarow, als «reinen Intriganten» 
(S. 341), den General Kamenskij als «sehr langweilig» (S. 331) be- 
zeichnete, wenn sie den Metropoliten Platon mit einem läufischen 
Kater und einem zitternden Hasen verglich (S. 77), wenn sie den 
Dichter Dershawin mit einiger Kälte behandelte (S. 301), oder wenn 
sie über die Fürstin Daschkow, ihre ehemalige Freundin, spottete 
(S. 83 und 304). 

Es ist bewunderungswürdig, dass Katharina bei ihren Regierungs¬ 
geschäften, bei dem unmittelbaren, persönlichen Antheil, welchen 
sie an den Ereignissen der auswärtigen Politik und der inneren Ver¬ 
waltung nahm, doch noch sehr viel Zeit übrig behielt für literarische 
und wissenschaftliche Studien. Ein sehr lebhaftes Interesse hatte 
sie am Theater. Gerade in der Zeit, in welche die Führung von 


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Chrapowitzkij’s Tagebuch fällt, schrieb Katharina ein Theaterstück 
nach dem anderen, und diese Dramen und Lustspiele wurden denn 
auch meist im engeren Hofkreise aufgeführt. 

Mehrere der Dramen haben Stoße aus der ältesten Geschichte 
Russlands zum Gegenstände. So schrieb die Kaiserin ein Stück 
«Rurik», ein anderes «Oleg», ein drittes «Igor». Es wird erwähnt, 
dass der Fürst Potemkin an dem «Rurik» einiges verbessert hatte 
(S. 15). Katharina las Shakespeare’sche Stücke, um an denselben 
Studien zu machen. In einzelnen Stücken, wie z. B. im «Verschwen¬ 
der», versuchte sie es, dem grossen englischen Dichter nachzuahmen. 
In anderen Stücken behandelte sie Stoffe der gleichzeitigen Politik, 
verhöhnte u. A. im «Gore Bogatyr» den König Gustaf III., in dem 
Stücke «Morton et Crispin» den Bruder des Königs, Herzog Karl 
von Südermannland. Ebenso finden sich Seitenhiebe auf Schweden 
in dem Stücke «Kosslaw». In einem kleinen Lustspiele, «le flatteur 
et les flatt^s», behandelte sie den Stoff der Fabel vom Fuchs und vom 
Raben. Es ist zu verwundern, dass die Kaiserin im Drange der 
Geschäfte und gerade zu einer Zeit, in welcher die Conflicte mit 
Schweden und der Pforte Russland in eine bedenkliche Lage ver¬ 
setzten, die Zeit fand, Theaterstücke dutzendweise aus dem Aer'mel 
zu schütteln. Sie selbst aber bemerkte wohl gelegentlich, sie schreibe 
dergleichen, um sich zu zerstreuen (S. 119). Es war gerade die 
Zeit, als, nach dem Ausbruche des Krieges mit Schweden, die Lage 
trotz des bei Hochland über die schwedische Flotte erfochtenen 
Sieges eine recht ernste geworden war. 

Die Kaiserin interessirte sich für viele Details der Inscenirung. 
Als der «Oleg» gegeben werden sollte, suchte sie selbst die Co- 
stüme für die Schauspieler nach Mustern auf alten Heiligenbildern 
zusammenzustellen (S. 308). Während ein Stück eingeübt wurde, 
erkundigte sie sich angelegentlich, wie die Proben gingen, ob die 
Schauspieler zufrieden seien. Sie gab einzelne Rathschläge in Be¬ 
treff der bei der Aufführung zu erzielenden Wirkung; unterhielt sich 
nach der Aufführung darüber, was mehr und was weniger gelungen 
sei. In Katharina’s Stücken wurde viel gesungen. Drei Compo- 
nisten, Cimarosa, Sarti, Martini, hatten vollauf zu thun, die in der 
Regel mit Chrapowitzkij’s Hülfe gereimten Libretto’s der Kaiserin 
in Musik zu setzen. Dann fällte sie wohl ein Urtheil über die Com- 
Positionen, erkundigte sich nach dem Urtheil, welches Andere, z. B. 
Mamonow, gefallt hatten, Hess Einiges ändern, sprach mit Chrapo- 
witzkij über die Regeln, nach denen ein Duett componirt werden 


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müsse, und meinte schliesslich, man brauche sich nicht um derglei¬ 
chen Regeln zu kümmern (z. B. S. 352). 

Einst wurde, um den Günstling der Kaiserin, den Grafen Mamonow, 
zu überraschen, ein von der Kaiserin verfasstes «Proverbe»: «qu’il 
n’y a point de mal sans bien# heimlich einstudirt und in den Ge¬ 
mächern des Grafen aufgeführt. Die Ueberraschung gelang voll¬ 
kommen (s. S. 151 und 156). Die Stücke der Kaiserin wurden ge¬ 
druckt, unter dem Titel: «Recueil des pi&ces donnees au th£atre de 
PErmitage». (S. 183). 

Die Kaiserin war vielseitig und unermüdlich beim Lesen der ver¬ 
schiedenartigsten Werke. Bald lässt sie sich von Chrapowitzkij eine 
Menge Märchen verschaffen, weil sie der leichten Lectüre bedurfte; 
bald studirte sie die französische Encyclopädie oder Blackstone’s 
Werk über die englische Verfassung, um bei der Ausarbeitung neuer 
Gesetze das Richtige zu treffen. Wegen einzelner Fragen, oft wegen 
einzelner Wörter musste Chrapowitzkij häufig in allerlei Werken 
nachschlagen und ihr Bericht erstatten. Nicht selten schaffte der¬ 
selbe Landkarten herbei, wenn Katharina u. A. die Operationen in 
Finland gegen die Schweden, oder den Feldzug der Preussen gegen 
Frankreich genauer zu verfolgen wünschte. Es ist u. A. von Land¬ 
karten die Rede, welche aus Nürnberg verschrieben worden waren. 

Dazwischen las Katharina auch grössere historische Werke, z. B. 
die «Histoire de la maison d’Autriche» des Grafen Girecourt, das 
Werk von Theyls «Memoires pour servir ä Thistoire de Charles XII.», 
die «Oeuvres posthumes deFr6d£ric II.», Mirabeau’s «Histoire secr^te 
de la cour de Berlin», die Memoiren des Kardinals von Retz, u. A. 
Nebenher war die Kaiserin aufgelegt zu allerlei Possen, und veran¬ 
staltete Aufführungen, bei denen die Frauenrollen von Männern und 
die Männerrollen von Frauen gegeben wurden (S. 350); dann wieder 
gab es Zeiten, wo sie Richardson’s Romane mit dem Bedeuten fort¬ 
gab, sie habe keine Zeit zu leichter Lectüre. Einmal rühmte sie sich, 
dass sie nicht weniger als sechs Bücher auf einmal lese. Oft versah 
sie die Bücher, welche sie las, mit Randglossen, wie z. B. Denina’s 
«Essai sur la vie et le r&gne deFrederic II». Bei der Lectüre des Don 
Quixote notirte sie die darin vorkommenden Sprüchwörter (S. 273). 
Aus dem Plutarch (vermuthlich der französischen Ausgabe) übersetzte 
sie das Leben des Alcibiades (doch wohl ins Russische), (S. 323), und 
machte einige wissenschaftliche Bemerkungen zu der Biographie 
Coriolan's (S. 325 und die Bemerkungen des Herausgebers S. 558 
und 559). 


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/ 



Sehr fleissig arbeitete Katharina an Streitschriften, welche gegen 
Gustaf III. gerichtet waren. So verfasste sie eine Entgegnung auf 
Gustafs III. Manifest, welches derselbe bei dem Beginn der Feind¬ 
seligkeiten gegen Russland veröffentlicht hatte. Chrapowitzkij's 
Tagebuch setzt uns in den Stand, mehrere Wochen hindurch dem 
Gange dieser Arbeit zu folgen. An der Abfassung einer, von dem 
Prinzen von Nassau-Siegen herausgegebenenBrochüre, in weicherein 
Schlachtbericht des Königs Gustafs III. in sehr spitzer Weise kritisirt 
und zurechtgewiesen wurde, hatte die Kaiserin ebenfalls Antheil. 

Längere Zeit hindurch beschäftigte sich Katharina mit der älteren 
Geschichte Russlands. Ueber diese Studien giebt das Tagebuch 
Chrapowitzkij’s in sehr anziehender Weise Auskunft. So erfahren 
wir, dass sie mit grossem Interesse Herberstein's Werk über Russ¬ 
land las, dass sie sich eingehend mit Nestor’s Chronik beschäftigte, 
dass sie Einzelnheiten der Topographie in Betreff der Schlacht am 
Flusse Siti studirte (S. 1238) u. s. w. Ihre Bemerkungen über das 
Tatarenjoch, die politische Rolle Alexander Newskij's, über das 
Geschichtswerk des Fürsten Schtscherbatow, über Fragen der 
Genealogie u. s. w. zeugen von umfassendem Wissen und von einer 
gewissen Selbstständigkeit im Urtheil. Sie hatte den Muth, sich 
an schwierige, verwickelte Probleme zu wagen. 

Auch an den Erzeugnissen der bildenden Kunst hatte Katharina 
ihre Freude. In dem Tagebuche Chrapowitzkij's ist wiederholt 
von «Antiken» die Rede, über welche die Kaiserin entzückt ist. 
Bald bringt der Geheimschreiber eine «Bacchantin», bald Medaillen 
oder Cameen. Als im Jahre 1788 Chrapowitzkij ihr geschnittene 
Steine bringt und deren Ankauf vorschlägt, erwidert Katharina, 
dass sie das Geld für den schwedischen Krieg brauche und es vor¬ 
ziehe, einen Ochsen für die in Finland fechtenden Soldaten zu 
kaufen (S. 119). Als 1789 15 geschnittene Steine für den Preis von 
982 Pfund Sterling angeboten werden, besinnt sich die Kaiserin, ob 
sie wohl eine solche Ausgabe machen dürfe. Für eine Camee mit 
dem Bildnisse Potemkin’s bezahlte sie 100 Rbl., sie bemerkte, es sei 
eine Art Krankheit, sich für geschnittene Steine zu begeistern. Als 
Chrapowitzkij entgegnete: «Ja wohl, aber eine Krankheit, bei 
welcher man sich sehr wohl befindet», sagte sie, es sei eine Lieb¬ 
haberei, welche das Wissen erweitert, eine wahrhaft kaiserliche 
Beschäftigung (S. 315). So liebte es die Kaiserin, sich Rechenschaft 
abzulegen von der Bedeutung ihrer Studien. Sie war strebsam, sie 
wusste geistigen Genuss zu schätzen. 


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Mit Spannung lesen wir in dem Tagebuche, wie die Gedanken 
der Kaiserin bisweilen hochfliegend werden, wie sie allgemeine 
Sätze, schwerwiegende Thesen ausspricht. «Wie kann man*, sagte 
sie einmal, «wenn man in Russland herrscht, unthätig sein, oder die 
Arbeit scheuen? Gilt es doch, mit einer einzigen Handbe¬ 
wegung den wichtigsten Angelegenheiten die Richtung zu geben» 
(S. 393). Ein andermal führte sie aus, wie Russland in zwei Epochen 
im Kulturfortschritt aufgehalten worden und hinter dem übrigen 
Europa zurückgeblieben sei: zu der Zeit des Tatarenjochs und in 
den Jahren des Interregnums; in jenen Zeiten habe Jeder nach sei¬ 
nem Privatvortheil gestrebt und das Gemeinwohl nichts geachtet, 
und doch habe es einzelne grosse Männer gegeben (S. 284). Der 
Ausspruch Katharina^ im Jahre 1782, dass es nach 60 Jahren gar 
keine Secten mehr geben würde, weil die Unwissenheit durch 
Volksschulen beseitigt sein werde (S. 2), ist zu optimistisch. Auch 
heute noch giebt es viele Secten, relativ wenig Volksschulen und 
die Ignoranz macht sich noch breit und liefert dem Aberglauben 
viel Spielraum. 

Chrapowitzkij’s Tagebuch führt uns unmittelbar in die Situationen, 
wie das Hofleben dieselben mit sich brachte. Er zeigt uns die 
Kaiserin unter dem Einflüsse momentaner Eindrücke. Wir erfahren, 
dass ein Hündchen ein anderes gebissen, dass die Fürstin Daschkow 
sich mit der Fürstin Naryschkin überworfen habe; wir werden über 
allerlei Brautschaften von Hoffräulein unterrichtet, und ebenso von 
den in der Hofkirche stattfindenden Trauungen. Im Schlafzimmer 
Potemkin’s wird ein Fenster vom Blitz zerschlagen; eine Eule fliegt 
in die Gemächer der Kaiserin; ein Bedienter stiehlt etwas u. dgl. — 
alle derartigen Vorkommnisse werden notirt. Als dem Grossfürsten 
Paul eine Prinzessin geboren wird und die Mutter in der äussersten 
Lebensgefahr schwebt, so dass Alle den Kopf verlieren, legt Katha¬ 
rina ungewöhnliche Geistesgegenwart an den Tag und ordnet ret¬ 
tende Massregeln an (S. 81). Als ein andermal wiederum eine 
Prinzessin geboren wurde, legt Katharina, welche einen Prinzen ge¬ 
wünscht hatte, ihren Unmuth an den Tag, indem sie bei den Freu¬ 
denschüssen bemerkt: «faut-il tant de bruit pour une fichue de- 
moiselle»? (S. 404). 

Katharina’s leicht bestimmbares, sanguinisches, echt weibliches 
Temperament lernen wir aus dem raschen Wechsel der* Stimmungert 
kennen, von welchen Chrapowitzkij berichtet. 


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i6o 


Als der Grossfürst Paul im Sommer 1788 während des schwedi¬ 
schen Krieges zur Armee nach Finland abreiste, weinte Katharina 
(S. 99). Heftige Gemiithsbewegung verursachte ihr die Krankheit 
des Admirals Greigh, welcher ihr soeben noch in der Schlacht bei 
Hochland sehr wesentliche Dienste geleistet hatte. Als in dieser 
Beziehung sehr bedenkliche Nachrichten aus Reval eintrafen, wo 
Greigh sich befand, schrieb Chrapowitzkij in sein Tagebuch, dass 
die Kaiserin tief aufgeseufzt habe («axHyjrn* S. 166). Als man 
erfuhr, dass Greigh's Leben nicht mehr zu retten sei, konnte sie 
sich der Thränen nicht enthalten (S. 173); bei der Nachricht von 
dem Verscheiden Greigh’s war sie sehr kummervoll und weinte, 
indem sie bemerkte: «Cest une grande perte, c’est une perte 
pour l’£tat» (S. 175). Dazwischen findet sich im Tagebuche das 
Wort: «Thränen* (z. B. S. 255), ohne dass die Ursache des Kum¬ 
mers der Kaiserin angegeben wurde. Sehr niedergeschlagen war 
sie über den Tod Potemkin's. Als die Nachrichten aus Südrussland 
in Betreff des Befindens des Fürsten schlimmer wurden, hatte der 
Geheimschreiber mehrmals Veranlassung, «Thränen» zu notiren. 
Bei der Nachricht von dem Tode Potemkin’s heisst es: «Thränen 
und Verzweiflung. Um 8 Uhr Aderlass; um 10 Uhr hat sich IhreMaj. 
zu Bett gelegt». Am anderen Tage wachte die Kaiserin in tiefem 
Kummer und mit Thränen auf, und klagte, dass sie nicht Zeit gehabt 
habe, zum Ersätze Potemkin’s Staatsmänner zu bilden, und dass sie 
nun Niemand habe, auf den sie sich stützen könne. Noch drei Tage 
später schreibt Chrapowitzkij: «Fortsetzung der Thränen. Die 
Kaiserin sagte mir: Wie kann man Potemkin ersetzen? Alle An¬ 
deren sind doch nicht das, was er war u. s. w.» (S. 378). Noch 
einige Wochen später, als Katharina von Potemkin’s Verwandten 
ein Schreiben erhielt, in welchem die Ordnung der Angelegenheiten 
des Verstorbenen ihr anheimgestellt wurde, brach sie plötzlich in 
Thränen aus und bemerkte: «ce sont mes amis qui me font pleurer 
et jamais mes ennemis» (S. 385). 

Die Eindrücke wechselten rasch und mit ihnen die Stimmungen. 
Bald konnte sie über Gustaf III. herzlich lachen, wenn er die Ver¬ 
mittelung Frankreichs in seinem Conflicte mit Russland in Anspruch 
nahm und dabei im Gepräche mit dem französischen Gesandten den 
Ausdruck gebraucht hatte, er werfe sich in die Arme des Königs 
von Frankreich (S. 163); bald liess sie sich von ihrem Unmuthe über 
den schwedischen König so sehr hinreissen, dass sie ihn eine «Bestie» 


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nannte (S. 142), wobei sie übrigens, wegen des allzustarken Aus 
druckes, ihren Geheimschreiber um Entschuldigung bat. 

Es fehlte der Kaiserin oft die Gelassenheit. Gleichmuth war ihre 
Sache nicht. Sie konnte leidenschaftlich auffahren. Sie sagte einmal 
in höchster Erbitterung, sie könnte sich mit allen ihren Feinden ver¬ 
söhnen, aber die Könige von Schweden und Preussen nehme sie aus; 
dem Ersteren.habe Elisabeth eroberte Länder zurückgegeben, dem 
Letzteren sie selbst (S. 178). Als Preussen 1788 eine drohende Hal¬ 
tung annahm, bemerkte Katharina II.: Friedrich Wilhelm II. bilde 
sich ein, der Statthalter Gottes zu sein, der über das Weltall verfü¬ 
gen könne; er sei ganz von Sinnen vor lauter Anmassung (S. 182). 

Sehr hübsch ist eine Aeusserung, welche zeigt, wie heiss Katha¬ 
rina wünschte, den Sieg über die Türkei zu erlangen. Sie sprach 
im Januar 1789 die Hoffnung aus, Potemkin werde im Laufe des 
Jahres in Konstantinopel sein, und fügte hinzu: «wenn es so weit ist, 
dann sagt es mir nicht zu plötzlich» (S. 245). Sie fürchtete, dem 
Uebermass von Freude zu erliegen. 

Hin und wieder schien es der Kaiserin, dass sie der Menge der 
Staatsgeschäfte nicht gewachsen sei. Sie fühlte sich abgespannt, 
klagte über schlechtes Gedächtniss (S. 222), meinte, sie werde alt 
und sei nicht mehr wie früher im Stande, in schwierigen Verhält¬ 
nissen allerlei Hülfsmittel zu ersinnen (S. 285). Sie musste sich Ge¬ 
walt anthun, um die Vorträge in Betreff der laufenden Geschäfte an¬ 
zuhören (s. S. 399). 

Auch fehlte es nicht an Veranlassungen zu Gemüthsbewegungen. 
Wie oft hatte sie Gelegenheit, über die Unehrlichkeit, Saumseligkeit, 
Selbstsucht ihrer Beamten in Unmuth zu gerathen. Als ihre Räthe 
nicht energisch genug gegen England nnd Preussen vorgingen, sagte 
die Kaiserin unter Thränen: «Haben denn meine Unterthanen nicht 
das Herz, als Antwort auf die mir zugefügten Beleidigungen der 
Könige von Preussen und England, diesen die Wahrheit zu sagen? 
Haben meine Unterthanen etwa jenen Fürsten einen Eid geleistet?» 
(S. 164). Die kleinen Vorkommnisse der Verwaltung machten der 
Kaiserin viel Verdruss. Bald hörte sie von falschem Papiergeld, 
das verbreitet wurde, bald machte ihr, wie z. B. im Jahre 1787, die 
Korntheuerung lebhafte Sorgen und Hess sie die Erbitterung des St. 
Petersburger Pöbels empfinden, welcher eines Tages vor dem Pa¬ 
laste erschien und Lärm machte (s. S. 42). Jeden Augenblick hörte 
sie von der Bestechlichkeit der Beamten, von allerlei Unterschleif, 
Unordnungen, Durchstechereien. Bald war es die Verwaltung des 

fatau. Revue. Bd. VII. II 


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ä 



t62 


Hofes, bald das Salzregal, bald das Theaterwesen, bald die Brannt¬ 
weinspacht, bei denen allerlei widerwärtige Handlungen der Beamten 
entdeckt wurden. So fehlte es nicht an Verstimmungen, so dass die 
Kaiserin einmal sagte, man habe ihr so viel Verdruss gemacht, dass 
sie ganz matt sei und immer schlafen wolle (S. 211). Aeusserungen 
wie «beaucoup de mouvements d’impatience» u. dgl. kommen häufig 
in dem Tagebuche vor. 

Am aufgeregtesten war Katharina aber in Fragen der auswärtigen 
Politik. Oft, wenn die Kriegsereignisse nicht nach Wunsch verlie¬ 
fen, wenn es etwa mit der Ausrüstung der Flotte nicht so schnell 
ging, als die Kaiserin erwartete, konnte sie alle Fassung verlieren. 
Als im Frühling 1788 der schwedische Krieg ausbrach und die Be¬ 
fehle der Kaiserin nicht schnell genug vollzogen wurden, sagte sie 
zum Grafen Besborodko: wer jetzt sich mit Intriguen befasse und 
Zeit verliere, sei eine Canaille; denn er schade dem Staate (S. 80). 
Mit diesem Kraftworte nannte sie im Gespräche mit Chrapowitzkij 
den Feldherrn Puschkin, welcher in Finland den Oberbefehl führte 
und unthätig blieb (September 1789, S. 308). Vor Zorn weinend, 
sagte sie einst: «diese Canaillen», die Schweden, würden vielleicht 
nicht einmal kommen, aber man müsse doch die unglücklichen See¬ 
soldaten in bitterer Kälte aufs Meer hinaussenden (S. 362). Als ein¬ 
mal die Russen in Finland in einem Gefechte geschlagen wurden, 
meinte die Kaiserin, welche momentan allen Muth verlor; «Sieben¬ 
undzwanzig Jahre lang habe ich keine so schlimme Nachricht erhal¬ 
ten» (S. 288). Bald klagte sie unter Thränen über die Unthätigkeit 
ihrer Generale (S. 302), bald schluchzte sie über den Tod eines oder 
des anderen derselben, wie z. B. darüber, dass der Prinz von Anhalt, 
ihr Verwandter, in einem Gefechte in Finland eine tödtliche Wunde 
erhalten hatte (S. 330); bald grämte sie sich über die Gefahr, welche 
dadurch drohte, dass die Schweden bei Baltischport gelandet waren, 
so dass Chrapowitzkij in sein Tagebuch notirte, es sei «den ganzen 
Morgen ein Wirrwarr» gewesen» (S. 327). Als man bei Reval (im 
Mai 1790) eine Seeschlacht erwartete, war Katharina äusserst unru¬ 
hig, schlief die Nacht kaum, Graf Besborodko weinte (S. 331). Die 
Nachricht von dem bei Reval erfochtenen Siege regte die Kaiserin 
auf. Es heisst im Tagebuche, sie habe «von der Alteration einen 
rothen Fleck auf der Wange» gehabt (S. 332). 

Oft vcranlasste die Gemüthsbewegung ein vorübergehendes Un¬ 
wohlsein, über welches uns das Tagebuch sehr genau unterrichtet. 
Sie klagte u. A. im Sommer 1788 über Magenverstimmung in Folge 


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der ♦ Alteration» (S. 9$); als einst wichtige Papiere an eine falsche 
Adresse abgegeben wurden, ärgerte sich Katharina so sehr, dass 
sich eine Kolik einstellte (S. 122). Als Chrapowitzkij die Kai¬ 
serin einst im Fieber, ganz krank auf einem Sopha liegend, traf, und 
sie über Schmerzen in der Herzgrube klagte, meinte der Geheim¬ 
schreiber, das Herbstwetter übe vielleicht einen schädlichen Ein¬ 
fluss auf die Gesundheit der Kaiserin. Sie entgegnete: «Nein, es 
ist Otschakow; die Festung wird heute oder morgen genommen; 
j'ai souvent de tels pressentiments* (S. 179). Als einst mehrere 
russische Schiffe in Gefahr waren, in die Hände der Schweden zu ge- 
rathen, und man längere Zeit keine Nachricht von denselben er¬ 
hielt, klagte Katharina: sie habe ein Gefühl, als läge ihr ein schwe¬ 
rer Stein auf dem Herzen (S. 223). 

Chrapowitzkij notirt sehr gewissenhaft alles auf das Wohl- und 
Uebelbefinden der Kaiserin Bezügliche. Wir erfahren, dass sie mit 
verbundener Wange erscheint, dass sie an Brustbeklemmungen, an 
Rücken- oder Magen- oder Kopfschmerzen leidet, wie sie die Nacht 
verbracht hat, dass sie bei einer Schlittenfahrt den Schnupfen be¬ 
kommen, oder dass sie gestolpert und gefallen ist, dass sie einen stei¬ 
fen Hals oder Ohrensausen hat, dass sie an Krämpfen oder an einem 
Husten leidet, dass sehr häufig Kolikschmerzen sie peinigten. Bis¬ 
weilen dauert das Unwohlsein einige Tage Und täglich macht Chra¬ 
powitzkij hierauf bezügliche Bemerkungen. Einmal erzählt die Kai¬ 
serin ausführlich, wie arge Kolikschmerzen sie gehabt, und wie gar 
nichts, weder Warmes noch Kaltes geholfen, bis sie im Bette eine 
solche Lage angenommen habe, wie eine Elster sich hinzulegen 
pflegt, worauf es besser geworden sei (S. 77). Ein anderes Mal, als 
Katharina sich bei dem Festgottesdienste bei Gelegenheit der Ein¬ 
nahme von Otschakow eine heftige Erkältung zugezogen hatte, er¬ 
klärte sie wiederum sehr genau, wie sie im Bette keine Lage habe 
finden können, wie sie hundertmal die Lage verändert, und erst 
gegen Morgen Ruhe gefunden habe (S. 215). 

So werden wir in viele kleinen Geheimnisse des Privatlebens 
der Kaiserin eingeweiht. Sie tritt uns ganz nahe, nicht als nor¬ 
dische Semiramis, nicht als die mächtige Herrscherin, deren 
Einfluss auf die europäischen Angelegenheiten so oft geschildert 
wurde, nicht als die Fürstin, deren Hof in vielen belletristischen 
Werken mit unsauberen Farben dargestellt zu werden pflegt, sondern 
einfach als Privatperson, als eine anziehende Erscheinung voll Geist 
und Gemüth, als ein sehr lebhaftes Temperament, als eine liebens- 


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II 



i64 


würdige Matrone, deren hervorragende Stellung unterstützt wird 
durch hervorragende Gaben, durch Energie und Strebsamkeit, 
durch ein reiches inneres Leben. Wenn sie, indem sie den Plutarch 
übersetzt, die Bemerkung macht: «cela me fortifie Tarne» (S. 331); 
wenn sie in solchen Studien den wirksamsten Trost sucht und findet 
in allerlei Widerwärtigkeiten der politischen Geschäfte; wenn sie 
u. A. erzählt, der Priester habe sie bei der Beichte gefragt, ob sie 
an Gott glaube, es sei eine wunderliche Frage, sie habe sogleich 
«tout le symbole» hergesagt, und hätte, wenn nöthig, auch solche 
Beweisgründe Vorbringen können, an welche noch Niemand gedacht 
habe; wenn sie bei aufregenden Nachrichten vom Kriegsschau¬ 
plätze in Finland bemerkt, sie habe neunzig Pulsschläge in der 
Minute; wenn sie die Bemerkung macht, die Aerzte müssten auf die 
psychische Behandlung mehr Gewicht legen (S. 289); wenn sie aus¬ 
gelassen scherzt, oder wenn sie bei der Nachricht von der Hinrichtung 
Ludwig's XVI. erkrankt und sich zu Bette legen muss; — so lernen 
wir aus solchen einzelnen Zügen die Kaiserin sehr viel genauer ken¬ 
nen, als aus vielen Dutzenden von Geschichtswerken, welche ihr Le¬ 
ben, ihre politische Thätigkeit zum Gegenstände haben. 

Aber, wie wir bereits oben bemerkten, nicht bloss in Bezug auf 
die Persönlichkeit der Kaiserin ist Chrapowitzkij’s Tagebuch eine 
höchst werthvolle, ja im Grunde unersetzliche Quelle. Auch für 
die Kenntniss der Geschichte der wichtigsten politischen Ereignisse 
in den Jahren 1788 bis 1792 finden sich darin zahlose Angaben. Es 
ist die Zeit des Krieges Russlands mit Schweden und mit der Pforte, 
es ist die Zeit der ersten Anfänge der Revolution. Nicht bloss er¬ 
fahren wir durch das Tagebuch, wie Katharina über die Ereignisse 
jener Zeit dachte, wie die politischen Vorgänge auf sie selbst 
wirkten, — auch unzählige Einzelnheiten, deren sonst in keiner 
Quelle erwähnt wird, werden uns durch Chrapowitzkij mitgetheilt. 
Bei Hofe, in den massgebenden Kreisen, wusste man u. A. von den 
Operationen der russischen Truppen in Finland und in Südrussland 
mehr, als man in officiellen Berichten sagen mochte. Daher ist die 
Benutzung des Tagebuches Chrapowitzkij's bei der Erforschung 
der Ereignisse jener Zeit ganz unerlässlich *. A. BRÜCKNER. 

1 Der Verfasser dieser Abhandlung hat bei seinen zum Theil veröffentlichten 
Schriften über den schwedischen und türkischen Krieg, so wie über Katharina 1 s 
Verhalten zur Revolution reichliches Material dem Tagebuche entnommen. 

(Schluss folgt). 




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Die Meteorologie in Russland. 

Von 

Dr. A. Wojeikow *. 

Die ersten meteorologischen Beobachtungen wurden in Russland 
etwa um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts angestellt. Der 
Beobachtunsgspunkte waren wenige, sie waren unregelmässig im 
Lande verstreut und bedienten sich sehr verschiedener Methoden 
und Instrumente. Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts wurde 
die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf das ferne, aber höchst inter¬ 
essante Sibirien gelenkt Als die Naturgeschichte dieses Landes 
von Lepechin, Pallas, Gmelin u. A. untersucht wurde, machte sich 
auch die Nothwendigkeit eines Studiums seines Klimas fühlbar. 
Einige Anstrengungen wurden auch in dieser Richtung gemacht; 
es wurden Thermometer ausgejtheilt, jedoch die Resultate waren 
nicht ermuthigend, und wir wissen so gut wie Nichts von diesen 
ersten sibirischen Beobachtungen. Sogar beim Beginne des neun¬ 
zehnten Jahrhunderts war die Nothwendigkeit des Studiums der 
Meteorologie in Russland noch nicht allgemein erkannt, und erst 
um das Jahr 1820 wurde die Zahl der Beobachtungspunkte grösser. 
In den Jahren 1820 bis 1835 wurden meteorologische Beobachtungen 
an etwa 30 Orten gemacht, im Allgemeinen von Privatpersonen, 
ohne irgend einen einheitlichen Plan und oft mit unvollkommenen 
Instrumenten. Wahrscheinlich sind sogar viele von den meteorolo¬ 
gischen Tagebüchern aus dieser Zeit für die Wissenschaft verloren 
gegangen; denn jeder Beobachter arbeitete auf eigene Hand und 
hatte meistentheils keinerlei Verbindung mit den anderen und den 
leitenden Gelehrten der Zeit. 

Der grosse Impuls, welcher im Jahre 1828 dem Studium des 
Magnetismus gegeben wurde, hatte Einfluss auf die Meteorologie. 
In diesem Jahre wurde in Deutschland der «Magnetische Verein» 
gegründet, und dessen Vorsitzender, A. v. Humboldt, liess es nicht 
an Bemühungen fehlen, um die Russische Regierung zur Einrichtung 

f Aus dem Jahresbericht der < Smithsonian Institution» für 1872 auszugsweise übersetzt. 


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1 66 


magnetischer Beobachtungs-Stationenin ihrem Gebiete zu veranlassen. 
Die Akademie der Wissenschaften unterstützte seine Anstrengungen 
auf das Wärmste, und in deren Folge wurden magnetische Obser¬ 
vatorien gegründet zu St. Petersburg, Kasan, Nikolajew, Sitcha und 
Peking, und etwas später in Jekaterinenburg (Ural), Barnaul (West- 
Sibirien), und an dem Nertschinsker Hüttenwerke (Ost-Sibirien). 

Im Jahre 1833 stellte Kupffer einen Plan zur Reorganisation der 
magnetischen Observatorien vor, nach welchem auch die Meteoro¬ 
logie in ihr Programm aufgenommen werden sollte. Er wurde un¬ 
terstützt vom Minister der Finanzen 1 und dem Chef der Berginge¬ 
nieure, K. W. Tschewkin. Der Plan ward vom Kaiser Nikolaus 
bestätigt und das Ganze wurde, wie schon vorher das System der 
magnetischen Beobachtungen, unter die Verwaltung des Berg¬ 
departements gestellt, mit dem Centrum in St. Petersburg. Magne¬ 
tische und stündliche meteorologische Beobachtungen wurden nun 
angestellt zu St. Petersburg, Barnaul, Jekaterinenburg und Ner- 
tschinsk; ausserdem nur meteorologische Beobachtungen zu Bogo- 
slowsk und Slatoust (Ural), und zu Lugan (Südrussland). Die Beob¬ 
achtungen sollten auf Kosten des Bergdepartements veröffentlicht 
werden; Kupffer wurde zum Direktor des Systems ernannt. Alles 
dieses wurde in den Jahren 1835 bis 1841 durchgeführt. Uebrigens 
standen die Observatorien von Nikolajew, Sitcha und Peking, so 
wie auch das 1844 zu Tiflis gegründete, nicht unter Kupffer’s 
Direktion. Eine jährliche Publikation, welche den Titel «Annuaire 
magnötique et meteorologique» führte, enthielt die Beobachtungen 
sowohl der Stationen des Bergdepartements, als auch jene von 
Sitcha, Peking und Tiflis. 

Im Jahre 1849 wurde das Physikalische Central-Observatorium 
gegründet. In der Lage der Hauptstationen fand keine Aenderung 
statt, aber das Central-Observatorium trat auch in Verbindung mit 
privaten Beobachtern, versorgte sie mit guten Instrumenten und 
publicirte die täglichen Mittel von ihren Beobachtungen, wie auch 
von jenen der Regierungsstationen, in einer Vierteljahrsschrift, die 
den Namen «Correspondence meteorologique» führte. Die Publi¬ 
kation der stündlichen Beobachtungen von den Hauptstationen 
dauerte dabei fort unter dem Namen«Annales de TObservatoire Phy- 
sique Central». So war vorderhand ein allgemeines System von 
meteorologischen Beobachtungen in Russland gegründet. Neue 
Beobachter erklärten sich bereit, mitzuarbeiten, und öffentliche 

1 Dem Grafen Cancrin. D. R. 




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167 


Anstalten nahmen Theil an dieser Bewegung; das Departement der 
Domänen versah die unter ihm stehenden landwirthschaftlichen 
Schulen mit guten Instrumenten, und die Beobachtungen einiger der¬ 
selben sind sehr werthvoll. Hr. Wesselowskij regte deren Eifer an und 
begann gleichzeitig die meteorologischen Tagebücher von privaten 
Beobachtern zu sammeln, um ein allgemeines Werk über das Klima 
Russlands herzustellen. Zahlreiche Tagebücher wurden auf diese 
Weise vor der Vergessenheit gerettet und die Resultate vieler priva¬ 
ten Bestrebungen der wissenschaftlichen Welt zugänglich gemacht. 

Hrn. Wesselowskij's «Klima von Russland» erschien im Jahre 
1857, und weil dieses Werk noch gegenwärtig das umfassendste 
und vollständigste über diesen Gegenstand ist, möge es mir erlaubt 
sein, eine Uebersicht von dessen Inhalte mitzutheilen. 

Da nach der Absicht des Autors das Werk ein ausschliesslich 
klimatologisches sein sollte, mit der Nebenabsicht, die Resultate für 
die Statistik, und namentlich die Lehre vom Einfluss des Klimas 
auf den Menschen, nutzbar zu machen, so ist leider Alles, was sich 
auf den Luftdruck bezieht, daraus ausgeschlossen l . Dagegen sind 
ausgedehnte Tafeln gegeben über die Temperatur von 147 Stationen, 
in deren Zahl 26 aus Sibirien und Russisch-Amerika sind, nebst 
einer klaren Darlegung der Hauptzüge der Verbreitung der Tempe¬ 
ratur, und einem Anhang über die wärmende Kraft der Sonnen¬ 
strahlen und die Temperatur des Bodens. Auch eine Tafel über die 
Zeiten des Zufrierens und des Aufganges von 140 Flüssen und Seen 
wird mitgetheilt. In dieser Hinsicht war Hrn. Wesselowskij’s Arbeit 
begünstigt durch die besonderen Verhältnisse der russichen Flüsse 
und durch die Aufmerksamkeit, welche diesem Gegenstände hier 
stets geschenkt wird. Dennoch verdanken wir die Sammlung sehr 
vieler Daten nur seinen eifrigen Bemühungen. Wir werden da mit 
einer ununterbrochenen Liste über den Auf- und Zugang der Newa 
bei St. Petersburg vom Jahre 1706 an beschenkt, und mit Verzeich¬ 
nissen von 80 — 100 Jahren für ungefähr zehn andere Orte. — Der 
wichtigste Theil des Werkes ist der die Winde betreffende. 
Hr. Wesselowskij war der erste, welcher nach wies, dass im süd¬ 
lichen Russland die vorwaltenden Winde im Herbst und Winter 
östliche seien, während es in dem centralen und nördlichen Theile 
des Landes in diesen Jahreszeiten südwestliche sind, wie in England 
und Deutschland. Diese Beziehungen der Windrichtung zu den 

1 Dieses Kapitel ist gegenwärtig von Hm. Rykatschöw bearbeitet; vgl. den Litera¬ 
turbericht in dieser Zeitschrift 1875, Hft. I, SS. 102—110. D. R. 


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/ 



Jahreszeiten sind mit der grössten Klarheit dargelegt, und die 
neueren Daten haben Hm. Wesselowskij’s Ansichten nur bestätigt; 
so überraschend dies scheinen mag, so lässt sich doch sogar dar- 
thun, dass die Windverhältnisse Russlands gegenwärtig vielfach 
weniger richtig aufgefasst werden, besonders von auswärtigen Me¬ 
teorologen.— Hierauf folgt ein Kapitel über Luftfeuchtigkeit, Bewöl¬ 
kung, Regen und Hagel. Die Beobachtungen waren sehr spärlich, 
während doch diese Erscheinungen, weil sie sehr lokal sind, 
nur gut untersucht werden können an ei ner sehr grossen Menge 
von Beobachtungen. — Das letzte Kapitel des Werkes ist eben¬ 
falls von grosser Bedeutung; es handelt von den Aenderun- 
gen im Klima und liefert überzeugende Beweise davon, dass 
keine merkbaren Veränderungen in historischen Zeiten stattgefun¬ 
den haben. Mit Hülfe der klassischen Autoren beweist Hr. Wesse- 
lowskij, dass die allgemeine Meinung, das Klima Südrusslands sei 
milder geworden, keine Begründung habe. Wenn der in die Länder 
der unteren Donau verbannte Ovid erstaunt war über die Strenge 
des Klimas, so ist dieses völlig natürlich bei einem Südländer. Die 
Donau fror damals zu, wie sie jetzt zufriert, mindestens in ihren 
unteren Theilen. Die Angaben Herodot’s über Skythien sind noch 
wichtiger für uns. Zu jener Zeit waren Regen und Gewitter, wie sie 
es auch jetzt sind, im Sommer häufig, und dies war befremdend für 
einen Griechen, welcher in seiner Heimath an regenlose Sommer 
gewöhnt war; dagegen waren die Winterregen in Skythien spär¬ 
licher als an den Küsten des Mittelmeeres. 

Herodot berichtet auch, dass Südrussland zu seinerzeit eine Steppe 
war, wie es jetzt eine solche ist und wie es wahrscheinlich während 
der ganzen Dauer der jetzigen geologischen Periode eine war. Wei¬ 
terhin liefert das Gefrieren und der Aufgang der Flüsse Hrn. Wesse- 
lowskij einen Beweis dafür, dass das Klima in dieser Beziehung sich 
seit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts nicht verändert habe; 
wenigstens dass die Länge der Zeit, während welcher die Tempera¬ 
tur unter dem Gefrierpunkte steht, jetzt dieselbe ist wie früher. Ge¬ 
wiss sind die Schwankungen der einzelnen Jahre in dieser Hinsicht 
sehr gross, und sogar die Mittel aus io- oder 20-jährigen Zeiträumen 
weichen noch beträchtlich von einander ab; Nichts weist jedoch auf 
eine fortschreitende Aenderung des Klimas hin. Kalten Jahren fol¬ 
gen warme und umgekehrt. Nehmen wir 30-jährige Mittel für 
St. Petersburg, so erhalten wir folgende Zahlen *: 

1 Der Vergleich der im englischen Originale angeführten Zahlen mit jenen in Hrn. 
Wesselowskij’s Werk ergab eine Nichtübereinstimmung derselben; wir zogen es vor, 


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169 


Jahre 

Zugang 

Aufgang 

Dauer der Eis¬ 
bedeckung 

Eisfrei ist der 
Strom 

17 * 4 -«753 

25,7 November 

22,4 April 

« 47 ,» Tage 

217,3 Tage 

«754—*783 

*5» 

» 

20,4 » 

« 45 ,» ■ 

219,4 • 

1784—1813 

22,0 

» 

» 

152,* . 

212,4 • 

1814—1843 

26,4 

» 

*9,5 • 

« 44 ,‘ » 

221,i t 

1844—1873 

24,0 

» 

22,4 • 

« 50 ,* » 

215,1 » 


Die Düna bei Riga, von wo wir einige Beobachtungen schon aus 
dem sechszehnten Jahrhundert besitzen, liefert ein ähnliches Resul¬ 
tat. Die mittlere Zeit des Aufgangs dieses Flusses war in 40 Jahren 
des sechszehnten Jahrhunderts der 9. (9,«) April; in 91 Jahren des 
achtzehnten war es der 7. (7,2) April; 54 Jahre des neunzehnten 
Jahrhunderts ergaben als Mittel den 8. (8,4) April. Die Dwina bei 
Archangelsk und der Dnjepr bei Kijew zeigen ebenfalls nur sehr ge¬ 
ringe Unterschiede zwischen diesem und dem vorigen Jahrhundert. 

Der zweite Theil von Hrn. Wesselowskij’s Werk enthält ausge¬ 
dehnte Tabellen, welche für Meteorologen von unschätzbarem 
Werthe sind. Die mittlere Temperatur, die Zahl mit wässrigem Nie¬ 
derschlag und die Menge des gefallenen Wassers sind daselbst für 
jeden Monat der einzelnen Jahre mitgetheilt, so weit der Autor die 
Daten erlangen konnte. Diese Sammlung von Beobachtungen ist 
ausserordentlich wichtig für das Studium der nicht periodischen 
Aenderungen in den meteorologischen Elementen. Der Auf- und 
Zugang der Flüsse ist ebenfalls für jedes Jahr besonders angegeben, 
und es wäre sehr wünschenswert!!, ähnliche Tabellen auch für an¬ 
dere Länder zu erhalten. Bis jetzt giebt es derselben sehr wenige, 
und kein Land von einigermassen beträchtlicher Ausdehnung hat 
Tafeln dieser Art aufzuweisen, welche sich mit jenen von Hrn. 
Wesselowskij gegebenen vergleichen Hessen. 

Um das Jahr 1850 begann die K. Russ. Geographische Gesellschaft 
Nachrichten über das Klima des russischen Reiches zu sammeln. 
Keine andere Vereinigung oder Institution hat die Möglichkeit, sich 
die Mitarbeiterschaft einer so grossen Anzahl von meteorologischen 
Beobachtern zu sichern, wie diese Gesellschaft, weil dieselbe im gan¬ 
zen Reiche bekannt ist. Es wurde eine Sammlung von topographi- 

auf die Quelle zurückzugehen; da jedoch in den betreffenden Zahlen auch bei Hrn. 
Wesselowskij sich Fehler zeigten, so haben wir die 30-jährigen Mittel aus den lojähri- 
gen neu abgeleitet *, die letzteren stimmen, bis auf kleine Abweichungen in der Deci- 
male, mit den Angaben der Tabelle der einzelnen Jahre (O ajmaarfc Poccia, npmio*. 
PP« 2 53 ) überein. Ferner haben wir die jüngst abgelaufene 30-jährige Periode hin¬ 
zugefügt. Die Daten sind nach neuem Style angegeben. 


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sehen Schilderungen angelegt, welche Angaben über das lokale 
Klima und Beobachtungen über die periodischen Erscheinungen ent¬ 
hielten. Im Jahre 1857 empfahl ein meteorologisches Comite der 
Gesellschaft die Gründung einer Zeitschrift, welche der Meteorologie 
Russlands und den verwandten Wissenschaftszweigen zu widmen 
sei. Die Gesellschaft nahm diesen Vorschlag an und gab unter 
der Redaktion von Kämtz das «Repertorium für Meteorologie« von 
1859 bis 1863 heraus; es erschienen im Ganzen drei Bände, welche 
von den Fachmännern sehr geschätzt wurden. Die wichtigste Arbeit 
war eine von Kämtz «über das Klima der südrussischen Steppen». 
Um diese Zeit, besonders seit 1860 wurde die Ansicht allgemein, 
dass das meteorologische Beobachtungssystem Russlands sich als 
ein verfehltes erwiese, dass die von der Regierung gegebenen Geld¬ 
summen wenig zweckmässig verwendet seien, und dass das ganze 
System einer Reorganisation bedürfe. Wie gewöhnlich in solchen 
Fällen lag in dieser Meinung viel Wahres, aber auch ein gutes 
Stück Uebertreibung. Die ungeheure Ausdehnung des Landes, 
über welches die meteorologischen Stationen zerstreut waren, ver¬ 
hinderte deren häufige Revision, welche eine wesentliche Bedingung 
für die erfolgreiche Wirksamkeit eines meteorologischen Beobach¬ 
tungssystems ist. Die Instrumente der Stationen wurden nicht 
häufig genug mit Normalinstrumenten verglichen. Alles dieses 
verringerte freilich den Werth der Beobachtungen, doch lässt die 
Lage mancher Hauptstationen, wie besonders von Barnaul und 
Nertschinsk, in einem Lande, dessen Verhältnisse so besonders 
fremd und interessant für die Meteorologie sind, auch minder genaue 
Beobachtungen werthvoll erscheinen. Andererseits war die Libe.- 
ralität, mit welcher die russische Regierung den Druck der Beob¬ 
achtungen in extenso ermöglichte, von grossem Nutzen für die 
Wissenschaft. Erst in den letzten 10 oder 15 Jahren haben wir den 
grossen Werth der direkten Beobachtungen kennen gelernt, während 
früher Mittelwerthe für völlig ausreichend angesehen wurden. Die 
russischen Publikationen wurden nicht so geschätzt, wie sie es ver¬ 
dienten, weil sie ihrer Zeit voraus waren, und wir können es gegen¬ 
wärtig aussprechen, dass das von der russischen Regierung begrün¬ 
dete System der Beobachtungen und Publikationen kein Missgriff 
war, sondern der Wissenschaft gute Dienste geleistet hat. 

Um das Jahr 1865 wurden Versuche gemacht, dem meteorologi¬ 
schen Beobachtungssystem eine grössere Ausdehnung zu geben und 
ein System telegraphischer Wetterberichte einzurichten. Die Mi- 


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l 7 l 


nister der Marine und des öffentlichen Unterrichts interessirten sich 
für den Plan, allein das praktische Resultat war so gut wie Null. 

Nach dem Tode Kupffer’s wurde Kämtz zum Direktor des physi¬ 
kalischen Central-Observatoriums ernannt. Ausgedehnte Reformen 
in der Organisation des Beobachtungssystems wurden zu dieser 
Zeit begonnen und von seinem Nachfolger, Hm. Dr. H. Wild, fort¬ 
gesetzt. Das physikalische Central-Observatorium gehört jetzt zum 
Ressort der Akademie der Wissenschaften, welcher auch die Wahl 
seines Direktors obliegt. Eine neue Serie von Instrumenten wurde 
bestellt, am Observatorium verglichen und die verschiedenen Sta¬ 
tionen damit ausgerüstet. Seit 1870 ist die hunderttheilige Scala 
für die Thermometer und das metrische Maass für das Barometer und 
den Regenmesser angenommen, so dass gegenwärtig beinahe auf dem 
ganzen Continente von Europa dieselben Maasseinheiten für die me¬ 
teorologischen Instrumente im Gebrauche sind. Das deutsche meteo¬ 
rologische System, welches unter der Leitung von Hrn. Dove steht, 
bildet allein eine Ausnahme, indem in ihm die Röaumur’sche Ther¬ 
mometer-Scala und das alt-französische Maass beim Barometer und 
Regenmesser angewendet wird. Die Form der Publikationen wurde 
ebenfalls verändert; die stündlichen Beobachtungen wurden seit 
1864 1 mit Ausnahme von Tiflis (und St. Petersburg) eingestellt, 
und es wurde beschlossen, die drei Mal täglich angestellten Beobach¬ 
tungen zu publiciren, ohne dabei einen Unterschied zu machen zwi¬ 
schen Stationen, die von der Regierung unterhalten werden, und 
solchen von privaten Beobachtern. Die ersten in dieser Weise 
publicirten Annalen waren jene für das Jahr 1865; diejenigen für 1866, 
1867 und 1868 waren von derselben Form; die Beobachtungen von 
1870 und 1871 sind nach dem neuen System gemacht und ebenfalls 
bereits publicirt, die Annalen von 1872 in Vorbereitung 2 . 

Kein Beobachtungssystem in Europa besitzt eine Publikation von 
solcher Bedeutung, denn es muss wiederholt werden, dass die Ori¬ 
ginalbeobachtungen in dem gegenwärtigen Stadium der Wissen¬ 
schaft von dem grössten Werthe sind. Diese Beobachtungen müssen 
aber gedruckt werden, um sie völlig nutzbringend zu gestalten und 
sie jedem Arbeiter auf dem Felde der Meteorologie zugänglich zu 
machen. Das ist allgemein von den Fachmännern auch des übrigen 

1 Im Originale steht irrthümlich 1868. 

* Der Jahrgang 1872 erschien im Anfänge des vorigen Jahres (vgl. «Russ. Revue», 
1874, Hft. 2, S. 184), gegenwärtig steht die Publikation der Jahrgänge 1869 und 1873 
in Bälde bevor. 


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Europa anerkannt, welche ebenfalls ein derartiges System der 
Publikation einführen würden, wenn sie nur von den Regierungen 
die Mittel zur Bestreitung der betreffenden Ausgaben sich ver¬ 
schaffen könnten. 

Wir haben gesehen, dass die in Russland angenommene Art der 
Publikation der Beobachtungen empfehlenswerth sei. Die übrigen 
Theile des Systems sind weit davon entfernt, ebenso befriedigend zu 
sein. i. Es giebt zu wenig Stationen in vielen Theilen des Landes, ins¬ 
besondere im Norden und in Sibirien. 2. Die Stationen werden allzu 
selten inspicirt und ihre Instrumente mit Normalinstrumenten ver¬ 
glichen. 3. Die Anwendungen der Meteorologie auf die Praxis 
werden vom Physikalischen Central-Observatorium ausser Augen 
gelassen. Der Nachtheil, welcher aus der zu grossen räumlichen 
Entfernung der Stationen vom Central-Observatorium entspringt, 
ist bereits anerkannt. Hr. Wild schlug vor, sekundäre Central- 
Observatorien in den Universitätsstädten und einigen anderen 
grösseren Städten des Reiches zu gründen, von deren Direk¬ 
toren jedem die Ueberwachung eines gewissen Landkomplexes 
obliegen würde. Die Direktoren dieser Observatorien hätten diese 
Stationen so oft als möglich zu inspiciren und ihre Instrumente 
zu verificiren. Das Physikalische Central-Observatorium zu St. Pe¬ 
tersburg hätte über das System der Beobachtungen und Auf¬ 
zeichnungen zu bestimmen und die Beobachtungen aus allen 
Theilen Russlands zu bearbeiten und zu publiciren. Es waren 
solche Zweig-Observatorien für Moskau, Kasan, Charkow, Kijew, 
Odessa, Dorpat, Warschau, Helsingfors, Wilna, Tiflis, Irkutsk, 
Taschkent und Peking vorgeschlagen. Für Tiflis ist das Sy¬ 
stem durchgeführt, da der Direktor des dortigen Observato¬ 
riums die Controle über die Beobachtungen an den kaukasischen 
Stationen ausübt, deren Instrumente etc. inspicirt und deren Beob¬ 
achtungen schon bearbeitet nach St. Petersburg zur Veröffent¬ 
lichung einschickt. Es ist zu bedauern, dass dieses System von 
Centren wegen Mangels an Geldmitteln noch nicht hat völlig rea- 
lisirt werden können. Die Hauptursache, warum das meteorolo¬ 
gische Beobachtungssystem Russlands, so vortrefflich es in manchen 
Beziehungen ist, nicht wie gewünscht vervollständigt werden kann, 
ist die, dass die Meteorologie in Russland noch keine Anwendung 
auf das praktische Leben gefunden, und dass das Observatorium 
noch nicht dafür gesorgt hat, das Publikum eingehend mit deren Prin- 
cipien und deren Wichtigkeit bekannt zu machen. Dieses ist in 

x. 

V 



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173 


einem solchen Grade wahr, dass nur sehr Wenige, sogar in 
St. Petersburg, eine Idee von der Existenz eines Physikalischen 
Central-Observatoriums haben. Es herrscht in der That die Mei¬ 
nung vor, die Meteorologie bilde einen Theil der Beschäftigungen 
des astronomischen Observatoriums zu Pulkowa ; bei dieser Sach¬ 
lage sind weit weniger Beobachter zu der Arbeit willig, welche 
durch Regierungsvorschriften gefordert wird und für welche sie 
flicht bezahlt werden, weil sie dabei keine bestimmte Kenntniss 
davon haben, was mit ihrer Arbeit geschieht, wenn sie nach 
St. Petersburg abgesandt ist. Einige der früheren Beobachter haben 
es ausgeschlagen, die bedeutende Arbeit zu übernehmen, welche 
mit der Einführung des neuen Systems nöthig wurde, und gewiss 
sind auch Viele, welche den Männern der Wissenschaft völlig unbe¬ 
kannt sind, und deren mühevolle Bestrebungen zum grösseren Theile 
verloren sind, wegen des Mangels einer richtigen Belehrung darüber, 
was und wie sie beobachten sollten. Ein weiterer Nachtheil, den 
man bei Befolgung dieses Systems erleidet, ist die schon oben ange¬ 
deutete Schwierigkeit, die Bewilligung der Mittel vom Staate zu 
erlangen, welche so nothwendig sind zum weiteren Fortschritt der 
Meteorologie sowohl als zu deren praktischer Anwendung. Weit 
davon entfernt, dem Fortschritte der reinen Wissenschaft im Wege 
zu stehen, können die Anwendungen derselben auf die Praxis nur 
zu neuen Entdeckungen führen, indem sie die Zahl der Beobach¬ 
tungen ausdehnen und die Menge von Personen, welche an der 
Wissenschaft Antheil nehmen, vergrössern. 

Indem ich von praktischen Anwendungen spreche, habe ich 
natürlich das System von Witterungs-Telegrammen und -Vorher¬ 
sagungen im Auge, welches gegenwärtig in den Vereinigten Staaten 
in so ausgedehntem Maasse angewandt ist. 

Da einige Hauptzüge in der Bewegung der Atmosphäre festge¬ 
stellt sind und es bekannt ist, dass in Russland die Stürme im All¬ 
gemeinen von West nach Ost sich fortpflanzen, wie sie es überhaupt 
in mittleren Breiten thun, sind wir für die Vorausbestimmung des 
Wetters weit günstiger situirt, als West-Europa, und beinahe so 
günstig, wie die Vereinigten Staaten. Die grosse Zahl meteorolo¬ 
gischer Stationen im Westen Europa’s macht es leicht, telegraphi¬ 
sche Witterungsnachrichten von dort zu erhalten, gegen blosse Be¬ 
zahlung der Telegramme. Das norwegische meteorologische In¬ 
stitut hat bereits Sturmwarnungen eingerichtet, und es bedarf nur 
der Errichtung von Telegraphenlinien längs den Küsten des Weissen 
Meeres und des Eismeeres, um diese Warnungen auch für die Schifft 


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174 


ahrt und Fischerei dieser letzteren Gegenden nutzbar zu machen. Der 
westliche Theil des Reiches mit dem Eismeere, demWeissen Meere, 
der Ostsee und dem Schwarzen Meere würde vorwiegend abhängen 
von den aus dem Auslande erhaltenen Nachrichten, während die 
Eisenbahnbeamten und das zu Lande reisende Publikum vor dem 
Eintritt von Schneestürmen und Regengüssen gewarnt werden 
könnte auf Grund der aus dem westlichen Russland eingelaufenen 
Nachrichten. Den Verkehrsstockungen auf den Eisenbahnen und 
dem Verluste vieler Menschenleben, welcher auf den gewöhnlichen 
Landstrassen so häufig vorkommt, könnte man auf diese Weise bis 
zu einem hohen Grade Vorbeugen. Wenn die Eigenthümlichkeiten 
des Klimas in Russland hinreichend bekannt sein werden, wird auch 
die Landwirtschaft selbst Vortheil ziehen können aus Warnungen 
vor heftigen Regen und Gewittern, welche sie alsdann gerüstet 
empfangen können, und welche so einen Theil ihres verderblichen 
Einflusses verlieren werden *. 

1 Indem wir diese im Wesentlichen und zur Zeit, da sie niedergeschrieben wur¬ 
den, berechtigten Beschwerden eines der hervorragendsten Meteorologen Russlands 
weiteren Kreisen auch in unserem Lande selbst bekannt geben, fühlen wir uns ver¬ 
pflichtet, daraufhinzuweisen, dass in diesen Richtungen im Laufe der letzten Jahre auf 
die Initiative des Physikalischen Centrai-Observatoriums mehrfach wichtige Schritte 
geschehen sind. Im Laufe der zwei letzten Jahre sind in Nordrussland und Sibirien 
eine Anzahl Stationen eingerichtet, die zum Theil bereits ihre Beobachtungen regel¬ 
mässig dem Observatorium zusenden: so in ersterem in Bjelosersk, im Kloster 
Walaam, denen bald wohl auch Ponjevetz folgen wird; in Sibirien in Akmolinsk, 
Irkutsk, Salair (östlich von Barnaul), Semipalatinsk, Tomsk, Kainsk, Ischim, Kras¬ 
nojarsk und Omsk, zu denen in nächster Zeit auch Jakutsk und Narum kommen sollen. 
Die sibirischen Stationen haben wir namentlich den Bemühungen des Direktors 
des russischen Observatoriums zu Peking, Hrn. Fritsche, zu verdanken. Letzterer hat 
auf seiner Reise von Peking nach St. Petersburg und zurück auch die beiden wich¬ 
tigsten, seit 35 Jahren bestehenden, sibirischen Stationen des Bergressorts, Nertschinsk 
und Bamaul besucht; die uralischen Stationen desselben Ressorts so wie einige andere 
sind von Hrn. Rykatschöw im Sommer 1872 inspicirt; diese Reisen im Vereine mit 
einigen anderen haben dem von Hrn. Wojeikow oben sub 2 erwähnten Uebelstande 
vorläufig bis zu einem gewissen Grade abgeholfen; doch ist eine Wiederholung der 
Inspectionen alle 2 — 3 Jahre sehr wünschenswerth. Was nun den letzten der von 
Hrn. Wojeikow erwähnten Punkte, die Anwendung der Meteorologie auf das praktische 
Leben, betrifft, so ist hiefür in letzter Zeit Manches geschehen. Insbesondere müssen 
wir die Errichtung eines Systems von Sturmwarnungen für die Häfen der Ostsee im 
letztvergangenen Sommer erwähnen, zu welchem Zwecke das Central-Observatorium 
sich mit dem St. Petersburger Börsencomite ins Einvernehmen gesetzt hat. Am 10. 
(22.) October wurde die erste Sturmwarnung, sowohl an die hiesige Börse, als auch 
telegraphisch an die Häfen von Kronstadt, Reval, Riga und Windau geschickt. Zu¬ 
gleich wurde auf dem vom Börsencomite auf Wassili-Ostrow, am Ufer der Newa, 
neben dem Physikal. Central-Observatorium (23. Linie) errichteten Maste das Sturm- 


\ 


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* 7 $ 


In den letzten drei Jahren hat dieK. Russ. Geographische Gesellschaft 
sich abermals angelegentlich mit der Beförderung meteorologischer 
Studien in Russland beschäftigt, und der Erfplg der ersten beiden 
Jahre ermuthigt sehr zu weiteren Bemühungen. Uebrigens wünschte 
die K. Russ. Geographische Gesellschaft nicht mit Gebieten sich 
abzugeben, welche bereits in den Kreis der Pflichten des Central- 
Observatoriums aufgenommen waren, wenngleich die Unmöglich¬ 
keit fiir dieses Institut, die ganze vor ihm liegende Arbeit zu leisten, 
am Tage lag. Es wurde die Wahl einer Kommission aus der Zahl 
der Mitglieder der Gesellschaft vorgeschlagen; diese Kommission 
wurde im Anfänge des Jahres 1870 gewählt und hat etwa das zu 
erledigen, was anderwärts meteorologische Gesellschaften leisten. 

Ein allgemeines System von Beobachtungen über Regen und 
Gewitter wurde angelegt, für dessen Ausbreitung die Gesellschaft 
sehr begünstigt wurde durch ihre ausgedehnte Correspondenz im 
ganzen Lande. Rundschreiben, welche die Bedeutung und die Art 
der Beobachtungen erläuterten, wurden an die correspondirenden 
Mitglieder, an verschiedene Schulen, an die Vorstände der Land¬ 
schaftsversammlungen etc. versendet. Ein billiger Regenmesser 
wurde angenommen, dessen Princip einfach und dessen Benutzung 
leicht zu verstehen ist. Im Frühling 1871 gab es schon etwa 60 
neue Beobachter mit dem Regenmesser, obwohl alle nöthigen Vor¬ 
bereitungen nicht vor dem Herbst 1870 abgeschlossen waren. Ein 
Jahr später war die Zahl der Beobachter auf etwa 200 angewachsen 
und als ich St. Petersburg im December 1872 verliess, dauerte dies 
vielversprechende Wachsthum noch fort. Der Erfolg dieser Unter¬ 
nehmung beweist, dass es nicht schwierig ist, zahlreiche Per¬ 
signal aufgehisst. Weitere Warnungen erfolgten am 19. (31.) und am 29. October 
(10. November), so wie am 22. und 27. November (4. und 9. December); da die 
Schifffahrt durch den Zugang der Newa bei St. Petersburg aufgehört hatte, so wurden 
in den beiden letztgenannten Fällen nur die Wamungstelegramme abgefertigt, das Signal 
jedoch am hiesigen Orte nicht aufgehisst. Diese Sturmwarnungen sind als durchaus ge- 
langen zu bezeichnen. Mit Ausnahme der letzten erreichte der Wind seine grösste, und 
zwar eine» sehr bedeutende Stärke nach der Warnung, und auch bei dieser letzten ging 
ein deutlich ausgebildetes barometrisches Minimum in der erwarteten Richtung zur und 
über die Ostsee, war jedoch hier nur von massigen Winden begleitet. 

Zur weiteren Bearbeitung und Ausnutzung der angewandten Theile der Meteorologie 
sind auf Anregung des Observatoriums von der Akademie im Verein mit den Mini¬ 
sterien der Marine und der Domänen zwei Kommissionen niedergesetzt worden, 
welche die Entwürfe zu einem Institut fiir maritime Meteorologie und einem solchen 
fiir land- oder forstwirtschaftliche Meteorologie ausarbeiten sollten; über die Resul¬ 
tate der Thätigkeit dieser Kommissionen ist jedoch bis jetzt noch Nichts officiell be¬ 
kannt geworden. 


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sonen zu finden, welche willig sind für die Zwecke der Wissenschaft 
zu arbeiten, auch wenn ein unmittelbares praktisches Ergebniss 
nicht in Aussicht steht, vorausgesetzt nur, dass die endliche Zweck¬ 
mässigkeit der Ergebnisse genügend auseinandergesetzt sei. 

Um dieses höchst wünschenswerthe Resultat zu erreichen, war es 
erforderlich, Aufsätze meteorologischen Inhalts zu publiciren und an 
die Beobachter zu versenden, deren Interesse für den Gegenstand 
dadurch erweckt und unterhalten werden sollte. Dieses geschah, 
indem die Geographische Gesellschaft in ihren «Iswestija» (Nr. i 
und 5) derartige Artikel lieferte, von welchen alsdann Sonderab¬ 
drücke an alle Beobachter gesendet und überhaupt verbreitet 
wurden. Als Sekretär der meteorologischen Kommission wurde 
ich mit der Bearbeitung der Resultate des ersten Beobachtungs¬ 
jahres beauftragt, das die Zeit vom December 1870 bis zum 
November 1871 umfasste. Die Ergebnisse waren besser, als man 
es bei der wandelbaren Natur der wässrigen Niederschläge erwarten 
konnte. Es war sogar möglich, Linien gleicher Regenmenge 
(Isohyeten) nach diesen Beobachtungen für die Monate Mai, Juli, 
August und September 1871 zu ziehen, der erste derartige Versuch 
in Russland. Es fand sich, dass es leichter sei, Isohyeten für einen 
einzelnen Monat zu entwerfen, als für Mittel verschiedener Jahre 
an den verschiedenen Orten. Was die Gewitter betrifft, so war es we¬ 
niger leicht, allgemeine Resultate aus den wenigen Beobachtungen 
des Jahres 1871 zu gewinnen; zur Entwerfung von Karten reichten 
sie nicht aus. Indessen waren die Resultate in Betreff der Zugrich¬ 
tung der Gewitter und der Tagesstunden ihres Auftretens befrie¬ 
digend. Die vorwaltende Richtung war aus Südwest, nächst ihr 
kamen Süd, Südost, West und Nordwest, während aus den übrigen 
Himmelsgegenden die Gewitter in der That nur äusserst selten auf¬ 
traten. Die Tageszeit, zu welcher die Gewitter am häufigsten 
waren, erwies sich als etwa drei Uhr Nachmittags. An einigen Sta¬ 
tionen, die 100 bis 200 engl. Meilen östlich vom Uralgebirge liegen, 
zeigt sich ein zweites Maximum der Gewitterfrequenz am späten 
Abend. Da die Gewitter von West nach Ost sich bewegen, so sind 
diese letzteren offenbar am Uralgebirge entstanden und kommen, 
ostwärts ziehend, so spät am Beobachtungsorte an; vom Ural¬ 
gebirge aber ist es bekannt, dass Gewitter daselbst im Sommer häufig 
und stark zu sein pflegen. Ein ähnliches Verhältniss konnte für die 
südwestliche Gruppe, Kijew, Podolien und Wolhynien nachgewiesen 
werden; diese Gegenden haben im Westen die Karpathen, und die 
Gewitter aus dieser Richtung erreichen sie in der Nacht. 


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177 


Die Geogr. Gesellschaft beschloss ferner, einen Band ihrer Denk¬ 
schriften («Sapiski») gänzlich der Meteorologie zu widmen, insbe¬ 
sondere auf das Klima von Russland bezüglichen Untersuchungen. 
Das Motiv zu dieser Entscheidung war der Wunsch, diesen Gegen¬ 
stand allseitig erforscht zu sehen und ein Werk hervorzurufen, das 
so auf der dermaligen Höhe der Wissenschaft stehe, wie Hm. Wesse- 
lowskij’s Werk auf der Höhe derselben vor 16 Jahren stand. Es 
wurde gehofft, dass die Mitglieder der meteorologischen Kommis¬ 
sion ihre Beiträge zur Erreichung des gewünschten Zieles liefern 
würden, welches nur durch die vereinten Anstrengungen vieler 
Arbeiter erreicht werden konnte. Die «Iswestija», die periodische 
Publikation der Gesellschaft, sind ihrem Programme nach nicht 
geeignet für meteorologische Aufsätze von bedeutendem Umfange, 
da sie vornehmlich den Fortschritten der Geographie gewidmet sein 
sollen. Die Sibirische Section der Geogr. Gesellschaft hat eben¬ 
falls eine meteorologische Kommission ernannt Viele Beobach¬ 
tungen aus Ostsibirien werden dort bearbeitet, und manche Förde¬ 
rung kann die Wissenschaft von dort her erwarten. Es giebt wenige 
Länder, die so intersesant für die Meteorologie und dabei so wepig 
bekannt sind, wie das östliche Sibirien; es enthält im Winter den 
meteorologischen Pol, nämlich die kälteste Region der Erde; und 
daneben umfasst es ungeheure Länderstrecken mit grossen Ver. 
schiedenheiten im lokalen Klima. 

Ein sekundäres meteorologisches Centrum zu Irkutsk ist auch 
sehr wichtig für die Aufsicht über die Stationen und die Ver¬ 
gleichung der Instrumente, Es ist nahezu unmöglich, diese Auf¬ 
gaben von St Petersburg aus zu besorgen. 

Es würde zu weit führen, die Bemühungen der verschiedenen 
Regierungsbehörden und Gesellschaften zu Gunsten der Errichtung 
von meteorologischen Stationsnetzen in verschiedenen Theilen des 
Reiches aufzuzählen, um so mehr, als gegenwärtig die Nothwen- 
digkeit einer einheitlichen Leitung für den Fortschritt der Wissen¬ 
schaft anerkannt ist. Die meisten dieser Stationsnetze sind jetzt 
mit jenem des Physikalischen Central-Observatoriums verschmolzen, 
indem sie dieselben Methoden und Maasse angenommen haben. 
Dies ist der Fall insbesondere mit der Marine, welche meteorolo¬ 
gische Stationen unterhält an den Küsten des Weissen, Baltischen, 
Schwarzen und Kaspischen Meeres, so wie auch an der Küste des 
Stillen Oceans. 


Bqm. Berua. Bd. T1I. 


12 


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Ein Blick auf die Resultate der Hissär’schen 
Expedition. 

An die mannigfachen und nicht geringen Verdienste, welche der 
Chef des Generdgouvernements von Turkestan um unsere geogra¬ 
phische Kenntniss Von Central-Asien bisher sich erworben hatte, 
reiht sich wieder ein neues. Eine aus drei Mitgliedern, den Herren 
Wischniewski, Majew und Schwarz, bestehende Expedition, die 
vor anderthalb Monaten ihre Aufgabe löste, hat das aus dürfti¬ 
gen, zum Theil in hohes Alterthum hinaufreichenden Nachrich¬ 
ten wenig bekannte, von keinem neueren europäischen Reisenden 
erforschte Gebiet von Hissär, welches zum westlichen Ende des 
oberen Flussgebietes des Amu gehört und dem Emir von Buchara 
gegenwärtig unterthan ist, der wissenschaftlichen Erdkunde er¬ 
schossen. Während die im Jahre 1870 vom Generalgouverneur 
von Turkestan der Leitung des Generals Abramow anvertraute 
Expedition zum Iskeader-kul das obere Flussgebiet des Serafschän 
erforschte, hat die jetzige Expedition nach Hissar das von den 
westlichen Zuflüssen des Amü am rechten Ufer dürchströmte 
Bergland untersucht und dasselbe durch astronomische Ortsbestim¬ 
mungen für die Kartographie so zu sagen erobert. Die bisherigen 
Vorstellungen über diese Gegend gründeten sich theils auf Aussagen 
Eingeborner, theils auf Nachrichten, die, wie schon bemerkt, aus 
historischen Quellen geschöpft waren und deren wir als Einleitung 
zu dem vorläufigen Bericht über die Resultate der Expedition, wie 
er in Nr. 28 der «Turkestanischen Zeitung» von diesem Jahre mit- 
getheilt wird, hier erwähnen wollen. 

Die frühesten Berichte über das südlich vom heutigen Scheh- 
rissäbs, dem alten Kisch, bis zum Amü bei Termedh, gegenüber 
Balch, sich erstreckende Gebirgsland finden wir in chinesischen 
Quellen. Hiuen-Thsang , ein buddhistischer Pilger aus China, ge¬ 
trieben von dem Verlangen, das Mutterland und die Quellen seiner 
Religion kennen zu lernen, ging im Jahre 629 nach Chr. über 
Transoxiana nach Indien, und zog bei dieser Gelegenheit von Ssa - 
markand über Kisch, das er Kie-schoangna nennt, nach Termedh (bei 
ihm Ta-mt). Seine Beschreibung dieser Landstrecke findet sich 
mehr oder weniger abgekürzt in den historischen und geographi- 


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179 


sehen Schriften der Chinesen aus der Zeit der Thang-Dynastie, die 
vom Anfang des VII. bis zum Anfang des X. Jahrhunderts über das 
Mittelreich, welches schon seit dem II. Jahrhundert vor Chr. Bezie¬ 
hungen zu den westlichen Ländern Central-Asiens unterhalten hatte, 
herrschte l . Die Araber drangen schon früh, am Ende der ersten 
Hälfte des I. Jahrhunderts ihrer Zeitrechnung, in die Bergland¬ 
schaften des Amü-Stromes, doch gewähren die über diese Kriegs¬ 
züge auf uns gekommenen Nachrichten kaum einige Einsicht in 
die politischen und ethnographischen Verhältnisse jener Gregenden, 
am wenigsten aber in die topographischen. Wir erfahren nur, dass 
die Landschaft im Norden des Amü, westlich von Termedh, Ssaghä- 
niän hiess und dass sie damals einen besonderen Fürsten hatte. Erst 
die beiden berühmten Geographen des X. Jahrhunderts, Istachri und 
der ihm befreundete Ibn-Hauqäl\ geben uns ausführlichere Nach¬ 
richten über jene Gegenden, wie überhaupt über die Länder am 
Oxus und Jaxartes. Auch ist hier des etwas älteren, als die 
beiden erwähnten Geographen, erst in letzterer Zeit bekannt ge¬ 
wordenen Ibn-Dasta zu erwähnen. Sir Henry Rawlinsan hat be¬ 
kanntlich aus ihm die Stelle über den Lauf des Oxus mitgetheilt, 
wie ich mich jedoch, nachdem ich im vorigen Jahre durch die Güte 
eines hiesigen Gelehrten, des Professors D . Chwolson , dieselbe aus 
der Handschrift des British Museum copirt erhielt, habe überzeugen 
können, ziemlich verkürzt. Die geographische Arbeit des ebenfalls 
dem X. Jahrhundert angehörenden geistvollen Moqaddessi ist noch 


4 Den Bericht Hiuen-Thsang’s findet man in des verstorbenen französichen Akade¬ 
mikers Stanislas Julien Voyages des Pel6rins bouddhistes. Bd. II: Mlmoires sur les 
contrles occidentales, traduits du sanscrit en chinois, en l*an 648, par Hioüen-Thsang, 
et du chinois en frangais par Mr. Stanislas Julien. Tome premier (Paris, 1857. 8°), 
pag. 22—25; ausserdem in Bd. I: Histoire de la vie de Hioüen-Thsang et des ses 
voyages dans linde depuis l’an 629 jusqu’en 645, par Hoeili et Yen-Thsang, suivie 
de documents et d’ 6claircissements g£ographiques tires de la relation originale de 
Hioüen-Thsang. Traduite du chinois par Stanislas Julien, (Paris 1853), pag. 61 und 
397 — 398« Die Nachrichten in den historischen Quellen finden wir in russischer 
Uebersetzung in des Paters Hyacinth (Bitschurin) Co6pairie arta-femÄ o HapoAax* o6m- 
Tanmiuci» bi» CpeAHeft A3in bt> ApeBnia BpeueHa. Bd. III, S. 246 — 247; man vergleiche 
auch S. 187. Hier wird Kisch Schy , aber auch schon Küischa , Geschuanna genannt 
Ferner finden sich dieselben Nachrichten über dieses Land bei einem chinesischeu Ge¬ 
lehrten, Matuanlin, aus dem XIII. Jahrhundert, die uns von Abel-ltemusat (Nouvelles 
Me langes Asiatiques. T. I. Paris 1829. 8°, pag. 238—239) mitgetheilt sind. Vergl. 
Klaproth’s Karte von Transoxiana nach chinesischen Quellen im Magasin Asiaüque. 
T. L (Paris 1825. 8°.), und daselbst S. 121. Der umsichtige und vortrefflich unterrichtete 
jüngste Herausgeber Marco Polo’s, H. YuU, hat die von Hiuen-Thsang gesammelten 
Nachrichten über das Quellgebiet des Oxus nach dem Vorgänge von Cunningham und 
Vivien de St.-Martin in einem besonderen Aufsätze einer neuen kritischen Prüfung un¬ 
terworfen : Notes on Hwen Thsang’s Acconnt of the Principalities of Tokkaristan, im 
Journal of the Roy. Asiatic Society of Great Britain and Ireland. New Series. Vol. VI. 
Part 1, pag. 92 —120, mit einer Karte. Bekannt ist desselben Verfassers Essay on 
the Geography and History of the regions on the upper waters of the Oxus, als Einlei¬ 
tung zu der neuen Ausgabe von John Wood’s in den dreissiger Jahren unternommener 
Reise zu den Oxusquellen; dieses* lehrreiche Memoire ist von Frau Olga Fedtschenko 
ins Russische übersetzt und von ihrem verstorbenen Manne mit Noten begleitet, sowie 
mit einer neuen Karte versehen worden. S. «Russ. Revue» 1873, Bd. III, p. 185—187. 

12* 


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nicht veröffentlicht, wird uns aber wohl nicht mehr lange vorent¬ 
halten werden und den 3 Band, der «Bibliotheca geographicorum 
arabicorum», welche Professor de Goeje in Leyden herausgiebt, 
bilden. Die ersten 2 Bände dieses wichtigen literarischen Unterneh¬ 
mens enthalten die Werke Istachri’s und Ibn-Hauqäl's. Was die noch 
älteren arabischen Geographen el-Jaqiibi (aus dem Ende des IX. Jahr¬ 
hunderts) und Ibn-Kordabbek (aus der Mitte desselben Jahrhunderts) 
über das uns hier interessirende Ländergebiet liefern, ist im Vergleich 
zu den erwähnten Quellen dürftig .und besteht aus kurzen Routen¬ 
angaben, deren Werth durch die Unsicherheit der Lesarten der 
Namen noch beeinträchtigt wird. Neues bieten uns auch die späteren 
Werke der reichen arabischen geographischen Literatur nicht. 

Erst im Anfang des XV. Jahrhunderts betritt ein Europäer einen 
Theil des von der Hissärischen Expedition untersuchten Berglandes. 
Es ist Ruy Gonzales de Clavijo , welcher als Gesandter Heinrich III. 
von Castilien an den Hof Timuris bei Termedh über den Amü setzte 
und von dort durch das berühmte Eiserne Thor nach Kisch und dann 
nach Ssamarkand ging. Sein Itinerar auf dieser Strecke stimmt zu 
den Marschrouten, welche wir in den persisch abgefassten Werken 
über Timuris Geschichte (Scheref-eddin Ali Jezdi, Abdurrhessaq Ssa- 
markandi und Mirchond) finden. Auch über das Land östlich von 
dieser Route finden sich in diesen Werken geographische Daten, 
welche von unseren Geographen nicht erschöpfend benutzt worden 
sind. Dann lässt Sultan Bober , der hier im Anfang des XVI. Jahr¬ 
hunderts umherreiste, uns in seinen lebensfrischen Memoiren einige 
Lichtblicke in die Geographie des Hissär-Gebietes thun. Aus dem 
Ende desselben Jahrhunderts finden sich Nachrichten in der höchst 
ausführlichen Geschichte eines kriegslustigen Herrschers von Trans- 
oxiana, Abdullah-chan’s, die unter dem Titel Scheref-näme-i-schähi 
von einem Hofhistoriographen in persischer Sprache abgefasst, 
und deren Herausgabe von einem Mitglieds der hiesigen Akademie 
unternommen ist. Abdullah-chan unternahm Feldzüge nach Hissär, 
Kuläb und Badachschän. In die Mitte des XVI. Jahrhunderts 
gehören auch die Irrfahrten eines Türken, der hierher verschlagen 
wurde, und dessen Memoiren schon im Jahre 1815 von H. F. v. Diez . 
im II. Theile seiner «Denkwürdigkeiten aus Asien» in deutscher 
Uebersetzung veröffentlicht sind. Der Verfasser, Sidi Ali Kiatib 
Rümi, hat sie «Spiegel der Länder» benannt. Im 10. und 11. Ka¬ 
pitel beschreibt er seine Erlebnisse in den Gebirgen der oberen 
Flussgebiete des Amü und Serafchan. Fedtschenko hat die hier in 
aller Kürze angegebenen Marschrouten in seinen Noten zu Yule’s 
Essay benutzt. 

Unbekannt ist dagegen eine spätere Quelle der Information über 
Hissär, aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, geblieben. Es ist 
ein zuerst von mir während meines Aufenthaltes in Buchara entdeck¬ 
tes historisches Werk, welches die Geschichte des ersten Chans von 
Transoxiana aus dem Stamme Mangyt, Muhammed Rahim’s, des 
Neffen des Stammvaters der jetzigen bucharischen Dynastie, Da- 


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nial-bi’s, behandelt und Tarich-i-Rahim-chäni genannt wird. Rahini- 
chän focht für die Suprematie seines Stammes mit mehreren ande¬ 
ren Usbeken-Stämmen, so auch den Jus und Kungrät in Hissär und 
den Kenegäss in Schehrissäbs. Das Buch verdient wegen der in 
ihm zahlreich enthaltenen ethnographischen und geographischen 
Daten, sowie auch wegen der in ihm geschilderten Begebenheiten 
aus einer sonst kaum bekannten Periode der Geschichte Transoxja- 
nas in eine europäische Sprache übersetzt oder wenigstens im persi¬ 
schen Original edirt zu werden. Ein zweites Exemplar ist von Hrn. 
N. P. Pietrowski , früherem Agenten unseres Finanzministeriums in 
Turkestan, vor zwei Jahren nach St Petersburg gebracht worden. 
Das von mir für das Asiatische Museum der Kais. Akademie der 
Wissenschaften mitgebrachte Exemplar ist leider am Ende defect. 
Den Schluss des Werkes bildet die Geschichte Danial-bi’s. 

Wie schon oben bemerkt, ist das von unserer Expedition unter¬ 
suchte Gebiet von Hissär früher von keinem europäischen Rei¬ 
senden betreten worden. Doch haben Europäer in benachbarten 
Ländern Nachrichten über jenes Bergland gesammelt, so Meyen- 
dorff, Macartney (bei Elphinstone in seinem Werke über Kabul), 
Burnes, Chanykow. In dem letzten Jahrzehnt wurden Hissär und 
Schehrissäbs von einem Eingeborenen Indiens und Agenten der dor¬ 
tigen Regierung, Fais-Bachsch, auf seinen Reisen nach Ost- und 
West-Turkestan besucht. Sein Bericht ist im 42. Bande der Zeit¬ 
schrift der Londoner Geographischen Gesellschaft von H. Yule ver¬ 
öffentlicht worden. 

Zu dem nachfolgenden in der «Turkestani sehen Zeitung» unter der 
Aufschrift «Kurze Nachrichten über die Resultate der Hissär’schen 
Expedition» veröffentlichten vorläufigen Bericht gebe ich einige An¬ 
merkungen, die den oben angeführten älteren Nachrichten entlehnt 
sind. Der Werth der letzteren wird sich erst dann heraussteilen, wenn 
uns eine auf dieUntersuchungenderExpeditiongegründeteKarte und 
die ausführlichen Berichte der Theilnehmer an der Expedition vor¬ 
liegen werden. Der jetzige Bericht, wir können es nicht ver¬ 
schweigen, hätte, bei all seiner Kürze, etwas deutlicher sein können. 
Er giebt uns kein allgemeines orographisches Bild des untersuchten 
Gebietes und berührt nur vereinzelte geographische Data. 

P. LERCH. 


Die Expedition erforschte den westlichen Theil des Gebirgslandes 
von Hissär in zwei Richtungen: vonKarschi über Chusär 1 , Kusch- 


4 Mir ist es unbekannt, woher unsere turkestanischen Geographen, so auch der un¬ 
genannte Verfasser des Berichtes, 1 }taaps = Husar schreiben. Die orientalischen 
Quellen, angefangen von Ibn-Hauq&rs «Wege und Reiche» bis auf das «Tarich-i-Ra¬ 
him-chäni», geben im Anlaute des Namens immer das gutturale eh (das arabische Cha 
mit dem Punkte oben). In der Zahl der 16 von Ibn-Hauqäl und Istachri aufgezählten 
Gaue der Provinz Kisch (von den Arabern Kischsch geschrieben) werden ein Gau 
(Rnstäk) von Chusär und ein Gau des Chusär-Fluss es (Chusär-Rudh) genannt. 


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lusch, Tengi-Choram, Derbend, Slr-Ab und Lailakan nach Schir- 
Abäd, und dann von Tschuschka-Chusär(am Amü) über Schir-Abad, 
Lailakan, das Thal von Kudukli und Pitau nach Baissun. Hierbei 
stellte es sich heraus, dass die Flüsse Chusär-Daija und Schir-Abäd- 
Darja durchaus nicht jene unbedeutenden Flüsschen sind, für die man 
sie bis jetzt gehalten hat; sie sind die Lebensbedingung zweier sehr 
bedeutender Oasen: von Chusär und Schir-Abäd. Ausserdem hat es 
sich erwiesen, dass die Ansicht Fedtschenko’s, der Chusär-Darja 
habe seine Quellen in der Schlucht von Tasch-Kurgan, eine irrthüm- 
liche war; denn in dieser Schlucht entspringt der Kisil-Ssu, welcher 
in der Nähe des Dorfes Kara-Bagh in den Kaschka-Darja sich er- 
giesst. Was den Chusär-Darja anbelangt, so wird dieser aus der Ver¬ 
einigung des Katta-Uru-Darja mit dem Ktschi-Uru-Darja gebildet. 
Der erstere nimmt seinen Ursprung in den Gletschern des Ssengri- 
Dagh-Gebirges, und letzterer in denen des Gebirges von Baissun. 

Die Ufer des Katta-Uru-Darja sind am stärksten bevölkert, und 
es giebt unter diesen Bergbewohnern sehr wohlhabende Leute, die 
Heerden von 2—300oSchafen und 500—ioooKameelenbesitzen. Im 
Sommer verlassen diese Usbeken ihre Ansiedelungen im Thale und 
ziehen mit ihren Heerden höher in die Berge, wo sie in der Nähe 
der Schneeregion den ganzen Sommer hindurch frisches Gras für 
ihre Heerden finden. Die Ansiedelungen stehen daher im Laufe 
des Sommers leer und erst mit Beginn des Herbstes fangen sie an, 
sich wieder zu beleben. Zum Winter treiben die Bewohner dieser 
Ortschaften ihre Heerden in die Hunger-Steppe von Karschi, wo sich 
verhältnissmässig weniger Schnee befindet und wo die üppigen Sal- 
solaceen den Heerden ein kräftiges Winterfutter bieten. 

Die Expedition verfolgte zuerst den Weg nach Baissun. Nach¬ 
dem sie das breite Tschaktscha-Thal passirt hatte, sah sie die be¬ 
rühmte, unter dem Namen: das eiserne Thor (Busgola-chana, d. h. 
Ziegenhaus, wie es jetzt von den Ortseinwohnern genannt wird), be¬ 
kannte Schlucht vor sich. Bis jetzt kannte man diese nur dem Namen 
nach. Die einzigen Reisenden, welche uns über das Eiserne Thor ei¬ 
nige, aber sehr unbestimmte, Nachrichten überliefert haben, waren: 
ein buddhistischer Missionär aus dem VII. Jahrhundert, der Chinese 
Hiuen-Thsang, und der spanische Gesandte am Hofe Timur’s: Ruy 
Gonzales de Clavijo. Beide Reisenden sprechen von dieser Schlucht 
als von einer höchst merkwürdigen Naturerscheinung. Ersterer be¬ 
richtet, dass dieselbe durch ein zweiflügeliges, mit Eisen beschla- 


dem ersten werden die Städte Ssunadsch , Nauqäd-Quraisch und Eskifaghan aufge¬ 
zählt Der Chusär-Rüdh ist ohne Zweifel der heutige Chusär-Darja, Nach dem an¬ 
geführten arabischen Geographen hatte die Provinz Kisch eine Ausdehnung von vier 
Tagereisen in der Länge und ebenso viel in der Breite. Der Chusär-Fluss wird als 
von der Stadt Kisch, die nach chinesischen Nachrichten (bei Pater Hyacinth HI, 247) 
im Anfang des VII. Jahrhunderts erbaut sein soll, 8 Farsangen entfernt angegeben. Er 
vereinigte sich mit dem Dschodsch-Rudh und Choschk-Rüdh zu einem Flusse, der nach 
Afarx<f/(iränische Aussprache Nachschap , das heutige Karschi) floss. Zwischen Nas- 
saf und Kisch waren drei Stationen; von letzterer Stadt bis Nauqftd-Quraisch betrug 
die Entfernung 5 Farsangen, also gegen 40 Werst. 



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i»3 


genes und mit Glocken behängtes Thor gesperrt sei. So lange die 
Kriegskunst noch auf einer niedrigen Stufe der Entwickelung stand, 
konnte freilich solch ein Thor ein ganzes Heer aufhalten. Clavijo 
aber, der 800 Jahre später diese Gegend bereiste, hat jenes Thor 
nicht mehr vorgefunden. Er beschreibt diese Schlucht nur als eine un¬ 
einnehmbare Position. Der Ort aber, wo sich diese Schlucht befand, 
war bis jetzt weder aus der Beschreibung des Chinesen noch des 
Spaniers genau zu bestimmen 2 . 


1 Hiuen-Thsang (s. Stanislas Julien’s Pel^rins bouddhistes II, 22—24), nachdem er 
das Gebiet von Ssamarkand verlassen, ging, wie er berichtet, in südwestlicher Rich¬ 
tung 200 Li (=z 100 Werst ungefähr) und trat darauf in ein Bergland, wo der Weg 
rauh war und an Abhängen vorüberführte. Man sah keine Ansiedelungen, auch kein 
Wasser und kein Gras. Nachdem er in südöstlicher Richtung durch die Berge 300 Li 
gegangen war, kam er an das Eiserne Thor. So nennt man, heisst es bei ihm, den 
Engpass zwischen zwei parallelen Bergen, die sich rechts und links erheben und von 
merkwürdiger Höhe sind. Nur ein schmaler Pfad, welcher von Abgründen durch¬ 
schnitten, trennt sie. Diese Berge bilden von beiden Seiten hohe Steinmauern, deren 
Farbe der des Eisens gleicht. Man hat hier ein zweifliigliges Thor errichtet, welches 
mit Eisen beschlagen ist. An beiden Flügeln ist eine Menge eiserner Glöckchen an¬ 
gebracht, und da dieser Engpass schwierig und stark vertheidigt ist, hat man ihm den 
Namen gegeben, welchen er heute trägt So weit Hiuen-Thsang. Er und andere 
chinesische Berichter geben das Eiserne Thor als an der nördlichen Grenze des alten 
Tocharen-Reiches gelegen an, das sich von Westen nach Osten auf 3000 Li und von 
Norden nach Süden auf 1000 Li ausdehnte, also das Gebiet von Hiss&r in sich begriff. 
— Jaqübi kennt auch das Eiserne Thor unter dem ir&nischen Namen Der-i-ähin, was 
er richtig mit dem arabischen BAb-el-hedid = eisernes Thor übersetzt. Es ist bei ihm 
eine Stadt, die er in einer Reihe mit Kisch und Nachschap als im Norden von Baleh 
gelegen anführt. Edrisi, nach Jaubert, giebt auch beim Eisernen Thor eine «kleine, 
gut bevölkerte Stadt» an (XII. Jahrhundert). Bei Ibn-Hauqnl finden wir folgende 
Marschroute von Nassaf nach Termedh, welches jetzt in Ruinen liegt und Termis ge¬ 
nannt wird: Nassaf \ Sunedsch , Dideki y Kendek , das Eiserne Thor % Ribäth (Herberge, 
hier wahrscheinlich in der Wüste) Därenk oder Säreh , Haschim-Dscherd und Ter¬ 
medh. Rechnet man im Durchschnitt auf jede Station 8 Farsangen und auf jede Far- 
sange 8 Werst, so beträgt die Entfernung von Nassaf bis Termedh ungefähr 450 Werst. 
Von Ssamarkand bis Kisch rechnete man zwei Tagereisen und von Kisch bis Kendek 
drei Stationen. — Die Geschichtsschreiber Timur’s geben folgende Marschroute zwischen 
Termedh und Kisch an. Im Jahre 801 der Flucht setzte am 21. des Monats Redscheb 
(30. März 1398) Timur mit seiner Armee, die er aus dem indischen Feldzuge zurück- 
führte, über den Amü und blieb den 21. und 22. in Termedh. Am 23. verliess er es 
und übernachtete im Dorfe Dschihänschäh^ am 24. am Orte Terki ; den 25. zog er 
durch das Eiserne Thor (Qohluga J, am 26. weilte er in Dschikdalik , am 27. in Qusi- 
Mundaq , am 28. in Duz-Biltschin , am 29. an einem Bache und kam am 30. in Kisch 
an. Clavijo (ich benutze die zweite Ausgabe — Madrid 1782, 4 0 —, in einem Exem¬ 
plare, das aus der Bibliothek von Ssobolewski stammt und gegenwärtig mir gehört) 
verliess Termedh (er schreibt Termit ) am Freitag den 22. August 1404, Nachmittags, 
und verbrachte die Nacht in einer Ebene in der Nähe grosser Häuser. Am Sonnabend 
gingen sie durch stark bevölkerte Ortschaften und übernachteten in einem Dorfe. Am 
Sonntag verzehrten sie ihr Mittagsmahl in einem grösseren Gebäude, wo Timur, wenn 
er diesen Vteg zog, Halt zu machen pflegte, setzten denselben Tag ihren Weg fort und 
brachten die Nacht auf einer Ebene am Ufer eines Flusses zu. Am Montag wurde am 
Fusse sehr hoher Berge das Mittagsbrod eingenommen; es war dort ein kleiner mit 
glasirten Ziegeln geschmückter Pallast. Ueber diese Berge führte ein Engpass, das 
Eiserne 7 hör. Hier wurde von Timur für die Waaren, die aus Indien kamen, Zoll 
erhoben. Clavijo hörte, dass in diesem Pass früher eine eiserne Pforte gewesen wäre. 
Denselben Tag zogen sie weiter und übernachteten im Freien, auf einer Berghöhe. 
Am anderen Tage, nachdem sie der Mittagsruhe in der Nähe eines Nomadenlagers an 


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Fedtschenko meint (s. seine Anmerkungen zu dem Werke von 
Yule «Skizze der Geographie und Geschichte des Quellgebietes 
des Amu-Darja»), das «Eiserne Thor» befinde sich nicht auf dem 
Saumpfade von Chusär, sondern mehr nach Westen auf der Wa¬ 
genstrasse; die Mitglieder der obengenannten Expedition hin¬ 
gegen haben jetzt fest gestellt, dass das Eiserne Thor sich auf dem 
Theile des Gebirgsrückens befindet, auf welchem sich die Wege 
aus Schehrissäbs (die Kalta-minär-Strasse) und aus Karschi (die Chu- 
sarstrasse), unweit von Derbend vereinigen 8 . Eine Wagenstrasse 
nach Hissär existirt gar nicht. 

In einer Entfernung von 3 Tasch 4 vor Derbend, und von dieser nur 
durch den Bergrücken von Derbend getrennt, befindet sich die 
Stadt Baissun. Die Stadt selbst liegt in einem hohen, stets kühlen 
Bergthale, rings von Bergen eingeschlossen. Nachdem die Expedi¬ 
tion den Bergrücken, der von Osten die Kulturoase von Baissun be¬ 
grenzt, überschritten hatten, lag das breite Flussthal des Ssurchan, 
eines wasserreichen Nebenflusses des Amu-Darja, vor ihnen. 

Eine der wichtigsten Fragen, welche die Expedition gelöst hat, 
war die: ob der Fluss Ssurchan überhaupt existire. Auf sehr vielen 
Karten wird der Tupalan oder Tuplang 5 als der westlichste Zufluss 
des Amu-Darja bezeichnet (wenn der Schir-Abäd-Darja, der nicht 
immer bis zum Amü reicht, nicht mitgezählt wird). Zuerst erschien 
er auf der Karte von Burnes, von hier ging er auf die Karte von 
Chanykow und von da auf alle späteren Karten des Gebietes von 
Hissär über. In der letzten Zeit bekräftigte noch Fais-Bachsch 
die Annahme, dass der Tupalan ein bedeutender Fluss sei, indem 
er ihn in die Zahl der fünf grossen Flüsse aufnahm, aus denen der Amu- 
Darja gebildet wird 6 . Indess schon Fedtschenko bezweifelte in 
seinen Anmerkungen zu dem schon angeführten Werke von Yule 
die Richtigkeit dieser Annahme, hielt den Tupalan für ein sehr klei¬ 
nes Flüsschen und bestritt dabei die Existenz des Ssurchan durchaus, 
indem er behauptete, dass ein solcher Fluss gar nicht existire. 

Die Expedition hat nun aber festgestellt, dass der Ssurchan ein 
grosser Fluss und einer der wichtigsten Nebenflüsse des Amu-Darja, 


einem Flüsschen gepflegt hatten, wurde am Abend wieder Halt auf einer Hügelreihe 
gemacht und nachdem sie eine kurze Nachtruhe genossen, von Neuem, noch in der 
Mitte der Nacht aufgebrochen, worauf sie am Donnerstag den 28. August zur Messzeit 
bei der grossen Stadt Kisch ankamen. 

4 Wir sahen früher (Anmerk. 2) dass im X. Jahrhundert die Strasse von Karschi 
(Nassaf) mit der von Schehrissäbs (Kisch) eine Station vor dem Eisernen Thor, bei 
Kendek, sich vereinigte. 

4 Tasch “ Farsange. 

4 Im «Tarich-i-Rahim-chäni» ist dieser Fluss •Tttfalaq • oder *Tupalaq% genannt. 
Gleichzeitig mit diesem Flusse wird der Fluss (Ab = Wasser) des Qara-Tagh genannt. 
Rahim-chän kam mit seinen Truppen an einem Mittwoch von/#rjdr-*-£d/d(Ober-Hissnr) 
zum Flusse Qara-Tagh und am Donnerstag zum Tupalaq , wo dann die Festung Ssar-i- 
Dschui zerstört wurde. Am folgenden Tage ging man zur Festung Dih-i-nau (= Neu¬ 
dorf), welche eben so wie Ssar-i-Dschui im Bergthale Nehän gelegen war. 

• Journal of the Royal Geographical Society. 1872. Vol. 42. Seite 465. 


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derTupalan aber nichts anderes als ein nördlicher Zufluss desSsurchan 
ist, welcher bei den Städten Ssar-i-Dshui und Ssar-i-Ossio vorbei- 
fliesst. Ein anderer wichtiger Nebenfluss des Amü ist der Kaflrnehän, 
der mit dem Tupalan parallel fliesst und von diesem nur durch den 
Bergrücken von Baba-tagh getrennt ist. 

In den Thälern des Ssurchan und des Kaflrnehän liegen alle Städte 
der sogenannten Hissär’schen Provinz, mit Ausnahme der Städte: 
Baissun, welche wie schon gesagt mit ihren Dörfern in einem 
Bergthale liegt — und Schir-Abäd, die weit nach Süden hinter 
einem breiten massigen Gebirge gelegen ist. Wenn wir hier sagen 
cmassigen», so geschieht es desshalb, weil die Berge im Westen 
von Hissär sich nicht in Form besonderer, sich genau abzeichnenden 
Hohenzüge erheben, sondern hohe Plateaus, mit gewissermassen 
durcheinander geworfenen kurzen Bergrücken bilden. 

Aehnlich wie westlich von Hissär die Stadt Baissun mit ihren Dör¬ 
fern ein besonderes Bergthal einnimmt, nimmt die Stadt Fais-Abäd 
östlich von Hissär ebenfalls ein ähnliches Bergthal ein. 

Im nördlichen Theile des Gebietes von Hissär besuchte die Expedi¬ 
tion alle einigermassen wichtige Städte, als: Dih-i-nau, Jurtschi, Ssar-i- 
Dshui, Regar, Karatagh, Hissär, Kaflrnehän, Duschämbe (am Sihdi- 
Darja, einem Zufluss des Kaflrnehän). Ueber den Kaflrnehän, beim 
Städtchen gleichen Namens, musste man über eine Brücke gehen, 
welche jeden Augenblick einzustürzen droht. Noch mehr Schwie¬ 
rigkeiten machte das Durchschreiten des eiskalten Sihdi-Darja beim 
Städtchen Duschämbe. Nur die Erfahrenheit der an solche Ueber- 
fahrten gewohnten Einwohner ermöglichte den Uebergang, ohne be¬ 
sondere Abenteuer auszuführen. Ein ähnlicher Uebergang stand 
später über den Kaflrnehän in seinem unteren Laufe, bei Kobädiän, 
bevor. 

Nachdem die Expedition die Stadt Fais-Abäd 7 , die am Flüsschen 
Ilek (ein Zufluss des Kaflrnehän) in einem von drei Seiten umschlos¬ 
senen Thale liegt, besucht hatte, begab sie sich in das Flussthal 
des Ssurch-äb, dessen Quelle noch Fedtschenko in den Alai’schen 
Bergen, unter dem gleichbedeutenden Namen Kisil-ssu (rothes Was¬ 
ser), entdeckt hat. Nach den Aussagen urtheilsberechtigter Einge¬ 
borener soll der Ssurch-äb wirklich seinen Anfang in dem Alai- 
Gebirge nehmen, und hat auch die Expedition den Theil des Fluss¬ 
thaies Ssurch-äb, über welchen Fedtschenko sehr genaue und rich¬ 
tige Daten gesammelt und den er in seine Karte vom oberen Amu- 
Darja und von Chokand aufgenommen hatte, besucht. Nachdem 
die Expedition in der Niederlassung Norak übernachtet hatte, zog 
sie stromaufwärts den Ssurch-äb entlang durch eine wilde, enge 
Schlucht, in welcher der zu verfolgende Weg über gefährliche und 
schlüpfrige Vorsprünge führte, und überschritt den Ssurch-äb bei 
der berühmten Brücke von Pul-i-Ssengin (Steinerne Brücke). Hier ist 
der Ssurch-äb eingeengt von steilen, hohen Bergwänden, kaum [30 


7 Nicht zu verwechseln mit Faiz-Abüd in Badachschän. 


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Schritt breit, und stürzt sich mit einem furchtbaren Getöse in die 
enge Schlucht hinab. Die Brücke selbst ist nur io Schritt lang und 
an zwei vorspringenden Felsen befestigt. — Es muss übrigens hier 
bemerkt werden, dass der Name Ssurch-äb im Gebiete vonHissär ganz 
unbekannt ist. Hier wird der Fluss von den Einwohner Wachsch 
genannt, aber weiter nördlich trägt er die Bezeichnung Ssurch-äb 8 . 


a Im Tarich-i-Rahim-chAni ist der Fluss nur unter diesem Namen bekannt. Zwischen 
ihm und dem Amü liegt, nach dieser Quelle, die Festung QurghAn-tepe, also wo der 
Wachsch sich dem Hauptstrome des Amü nähert. — In den geographischen Quellen 
des X. Jahrhunderts wird der Wachsch nur Wachsch-Ab genannt. Sir Henry Rawlinson 
hat in der Jahressitzung der Londoner Geographischen Gesellschaft von 1872 (s. Joura. 
of the R. Geogr. Society, vol. 42, S. CXCIX) aus Ibn-Dasta’s Beschreibung des Oxus 
einen Auszug gegeben, den der zu früh verstorbene Fedtschenko in seinen Anmerkun¬ 
gen zur Uebersetzung von H. Yule’s Essay auch mittheilt. Da mir das Original dieser 
Stelle Ibn-Dasta’s auch vorliegt, halte ich es nicht fUr überflüssig, das was er über das 
obere Flussgebiet des Dscheihun (wie der Oxus bei den arabischen Geographen heisst) 
giebt, hier zu wiederholen. Ibn-Dasta beginnt also: «Es kommt der Dscheihun aus dem 
Lande Tibet von Osten her und fliesst durch das Laud Wach An Man nennt ihn dort 
Wach-Ab. Dann fliesst er in die Gegend, welche oberhalb Balch, östlich von ihm liegt. 
Darauf nimmt er eine Richtung von Süden nach Norden bis er zu Termedh gelangt; von 
hier geht er dann zu Setnm , dann zu Amol, endlich nach Chwarizen «. Nachdem der 
Autor das Delta des Dscheihun beschrieben, fährt er fort: «Und es fliessen dem Dschei¬ 
hun mehrere Flüsse zu; unter ihnen ein grosser Fluss, welcher Wachsch-Ab genannt 
wird und aus der Gegend oberhalb des Landes der Charluchen-Türken kommt. Er 
fliesst dann in*s Land FAmtr (im Original steht QAmir y Q für /*, die sich nur durch 
Punkte unterscheiden; das Arabische kennt kein P), dann in’s Land AMj/(im Original 
RAsb y b und / unterscheiden sich wieder nur durch Punkte), dann in’s Land der Ko - 
medh (vallis Comedarum der Alten); darauf fliesst er zwischen Bergen, die zwischen 
dem Gebiete von lyAschdschird und dem Gau (RustAk) des Landes Chottel , welcher 
TemliAt genannt wird, liegen. In dieser Gegend (d. h. wo er zwischen Bergen fliesst) 
ist eine Brücke, welche unter dem Namen « Steinerne Brücke • bekannt ist ist auch bei 
Ittachri und Ibn-Hauq&l unter diesem Namen bekannt; in der Geschichte Timur’s wird 
sie mit ihrem persischen — Pul-i-ssengtn — und türkischen Namen — Tasch-kbpri 
—, welche dieselbe Bedeutung haben, genannt). Ueber diese Brücke geht man von 
Waschdschird nach Chottel. Rechts von seinem Laufe ist das Iand Chottel und links 
das Land Waschdschird. Darauf fliesst er weiter bis er an das Ende von Chottel kommt. 
Er ergiesst sich in den Dscheihun beim Orte, welcher Mileh genannt wird, oberhalb 
der Stadt Termedh. In dem zwischen diesen beiden Flüssen liegenden Lande Chottel 
ist rechts das Gebirge, welches im Osten vom Flusse Wach-Ab berührt wird, und links 
der Waschsch-Ab . Rechts vom Wach-Ab ist der von Süden an ihn sich anlehnende und 
unter dem Namen Bargin bekannte Gau des oberen TocharistAn. Unter ihnen (den 
Flüssen, die in den Dscheihun fallen) ist noch der Fluss, welcher RAmid (so liesst 
Rawlinson — im Manuscript des Britisch Museums scheint SAmil oder SAmid zu ste¬ 
hen) . Er kommt aus dem Lande RAst (im Manuscript wieder RAsb ), welches zwischen 
dem Anfang des Gebietes von Waschdschiod und SsaghAniAn ist. Darauf fliesst er ins 
Gebiet von SsaghAniAn. In ihn ergiessen sich mehrere Flüsse, die vom Gebirge Bottam 
und den Gebirgen SenAm, NihAm und Chawer kommen und Kem-rudh, NihAm-rudh 
und Chawer-rudh heissen. Und es fliesst dieser RAmid bis zum Ende des Gebietes 
von SsaghAniAn, dann ergiesst er sich in den Dscheihun oberhalb Termedh. Die Ge¬ 
birgsgegend zwischen dem Flusse RAmid und dem Flusse Wachsch-Ab wird KowAdiAn 
genannt Sie gehört zur Administration von Chottel. Rechts vom RAmid , im Osten 
SsaghAniAns und links von WeschA-dschird (wohl dasselbe was Waschdschird) fliessen 
in den Dscheihun auch Flüsse, welche von Süden aus dem oberen TocharistAn kommen. 

Sie heissen.(hier folgen Namen, deren Lesart sehr unsicher ist und die Rawl. 

Farghamy Vartan und Dschilan liesst). Das sind die Flüsse, die in den Dscheihun sich 
ergiessen. Oberhalb des Landes Chottel und am Wath-Ab genannten Flusse, welcher 


► 


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iS 7 


Die äusserste Grenze für die Reise der Expedition waren nach 
Osten die Thäler Bal-Dshuan und Kuläb. (Kuläb und nicht Guläb, 
wie Fedtschenko schreibt). Bal-Dshuan liegt in einem engen ge¬ 
wundenen Thale am Ufer eines kleinen, aber reissenden Bergflüss¬ 
chens, welches von den Einwohnern Ssurch-äb genannt wird. Etwas 
weiter südlicher fallt in dieses Flüsschen der Kuläb-Darja, worauf 
sich beide vereinigt in den Wachsch ergiessen. Das Thal von Kul¬ 
äb ist bedeutend breiter als das von Bal-Dshuan. Eng, beinahe 
schluchtartig in seinem oberen Theile, breitet es sich in südwest¬ 
licher Richtung rasch aus, und geht dann in die sumpfige, mit Schilf 
bewachsene und von Tigern bewohnte Niederung des Pändsh und 
des unteren Wachsch über. 

Die Expedition hatte Anfangs die Absicht, bis zum Punkte des 
Zusammenflusses des Wachsch und Pändsch vorzudringen, um 
diesen Punkt astronomisch zu bestimmen. Zu diesem Zweck begab 
sie sich von Kuläb zu der am Wachsch gelegenen befestigten 
Stadt Kurgan-tübe, allein schon hier machten sich bei den Mit¬ 
gliedern der Expedition die schädlichen Einflüsse des Klimas gel¬ 
tend, welchem sie bisher ausgesetzt waren. In Kurgan-tübe er¬ 
krankten am Fieber Hr. Wischniewski und der Dollmetscher Kas- 
bekow. Zwei Kosaken und ein Dschigit lagen ebenfalls am Fieber 
darnieder und phantasirten. Ausserdem litt Hr. Wischniewski 
noch an Rheumatismus des Kopfes und der Füsse, Folgen einer 
Erkältung, die er sich theils bei dem Durchreiten der wasserreichen 
Bergflüsse, theils durch die Einwirkung der kalten, schneidenden 

aus dem Lande Tibet kommt und den Anfang des Dscheihun bildet, wird Gold gefun¬ 
den in Körnern, die grösser als Nadelköpfe sind. 

Die letzte Bemerkung Ibn-Dasta’s bringt mich auf die Vermuthung, dass dieChiwesen, 
welche Peter dem Grossen vom Goldsand im Quellgebiet des Amü berichteten, ihre Nach¬ 
richt aus irgend welchem älteren geographischen Werke herausgelesen haben mögen. 

Was nun die Nachrichtrn Ibn-Dasta’s über das Quellgebiet des Oxus betrifft, so sind 
sie wohl höchst belangreich; ich glaube aber Sir Henry Rawlinson thut den andern 
Geographen des X. Jahrhunderts Unrecht, wenn er jene über deren Nachrichten von der 
genannten Gegend stellt. 1872 war Prof, de Goeje’s Ausgabe von Ibn-Hauqdl’s Werk 
(Leyden 1873) noch nicht erschienen. Ich glaube, dass letzteres und Ibn-Dasta's Werk 
in Betreff des Oxus sich vortrefflich ergänzen. Denn über den Wach-db fasst Ibn-Dasta 
sich sehr kurz und erwähnt nicht seiner ersten Zuflüsse. Ferner finden sich bei Ibn- 
Hauqdl mehrere sehr schätzbare Details über die Reiserouten im Quellgebiet des Oxus. 
Auch stimme ich dem verstorbenen Fedtschenko bei, wenn er der Ansicht Sir H. Raw- 
linson's, der Wachsch-Ab Ibn-Dasta’s sei nicht der Ssurch-Ab, entgegentritt. Sein RA- 
mid scheint der jetzige Kafimehun zu sein. Moqaddessi, wie mir aus einer Copie des 
Codex Sprenger Nr. 6 in Berlin bekannt ist, nennt, ausser den Zuflüssen in SsaghAnidn, 
6 Zuflüsse des Dscheihun: den Fluss von Hulbuk, den BerbAn, den FArgher, den Fluss 
von EndidschdrAgh, den Wachsch-Ab und den Fluss von Kowddian. 

Es wäre eine lohnende Mühe, alle auf uns gekommene Nachrichten über das Fluss¬ 
gebiet des Oxus zusammenzustellen. Andere Arbeiten erlauben mir jetzt und für die 
nächste Zukunft ein solches Unternehmen nicht. Hoffentlich wird uns von Sir Henry 
Rawlinson die Fortsetzung seiner im 42. Bande des Journals der Londoner Geographi¬ 
schen Gesellschaft begonnenen geistvollen Monographie über den Oxus nicht mehr 
lange vorenthalten! Das vorliegende Material ist bei Weitem noch nicht erschöpft, 
wenn auch H. Yule’s Essay und Fedtschenko’s Zusätze zu demselben viel Werthvolles 
zusammengebracht haben. 

d. 18./30. August 1875. P« X* 




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188 


Winde, die aus den Bergschluchten strömen, zugezogen hatte *. 
Die Expedition war daher genöthigt, ihren ersten Plan zu ändern, 
und, anstatt zum Vereinigungspunkt des Pändsch mit dem Wachsch, 
direkt nach Kobädiän zu reisen, mit der schwachen Hoffnung, wenn 
vielleicht die Verhältnisse es gestatten, von dieser Stadt aus die Mün¬ 
dung des Wachsch zu erreichen. Indess verschlechterte sich in Koba- 
diän derZustanddesHrn.WischniewskiderArt, dasser unmöglich wei¬ 
ter reisen konnte. Um keine Zeit zu verlieren, schlug Hr. Majew dem 
Astronomen Hrn. Schwarz vor, mit einem Dollmetscher, drei Ko¬ 
saken und einigen Dschigiten nachBaissun zu reisen,um dort astrono¬ 
mische Beobachtungen anzustellen und den Breitengrad dieses 
Ortes ganz genau zu bestimmen. Dies war um so mehr nothwendig, 
als Hr. Schwarz schon auf der Hinreise in Baissun die vom Monde 
bedeckten Sterne x Capricornii beobachtet hatte. Ausserdem war 
Baissun der Endpunkt der ersten Abtheilung des astronomischen 
Theiles der Expedition. In Kobadian blieben die Hrn. Majew, 
Wischniewski, 2 Kosaken und 2 Dschigits. 

Als nach einigen Tagen der Gesundheitszustand des Hrn. Wisch¬ 
niewski sich gebessert hatte, vereinigten sich sämmtliche Mit¬ 
glieder der Expedition in Baissun. Von hier traten sie den Rückweg 
über Schehrissäbs und Ssamarkand auf dem Wege von Kalta- 
minär an. 

Am 13. Juni langte die Expedition in Schaar an, nachdem sie 
40 Tage lang die Gebiete von Hissar und Kulab durchzogen 
hatte. Am 16. Juni stellten sie sich dem Emir vor, der Tags zuvor, 
am 15. aus Kitab in Schaar, der alten Stadt Timur’s, ange¬ 
kommen war. 

Das Resultat dieser Expedition wird eine genaue Karte des Ge¬ 
bietes von Hissar und Kulab sein, die auf 14, von Hrn. Schwarz 
astronomisch bestimmten Punkten basirt ist. Im Verlauf der ganzen 
Reise haben die Hrn. Majew und Wischniewski Marschrouten aufge¬ 
nommen und täglich wurde eine Karte über die durchreiste Gegend 
angefertigt, auf welche alle Ansiedelungen und andere Punkte aufge¬ 
tragen wurden. Ausserdem wurde während der ganzen Reise ein be¬ 
sonderes Marsch-Tagebuch geführt, in welchem die Entfernungen 
(in Tasch) und die, mit dem Compass bestimmten Richtungen der 
Wege genau verzeichnet wurden. Endlich ist die von Hrn. Majew 
zusammengebrachte entomologische Sammlung Hrn. Oschanin zum 
Ordnen übergeben. (Eine weitere genaue Beschreibung dieser Reise 
wird fiir die nächste Zeit in Aussicht gestellt). 


♦ Die Einwohner von HissAr, Karatagh, Duschämbe und anderer Bergorte tragen 
den ganzen Sommer Pelz-Schlafröcke, dessen ungeachtet leiden in diesen Gegenden 
sehr viele an Rheumatismus. 


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Revue Russischer Zeitschriften 


Journal des Ministeriums der Volksaufklärung (Journal minister- 
stwa narodnawo prosweschtschenija — )KypHajn> MHHHCTepCTBa 
HapOÄHarO IIpOCB'kmeHiil). Juli 1875. Inhalt: 

Auszug aus dem ausführlichen Bericht des Hm. Unterrichtsministers für das Jahr 
1873. — Regierungsverordnungen. — Das Hypothekensystem und seine Reform. Von 
Ph. Sckmigelskij. (Fortsetzung). — Der heilige Synod und sein Verhältnis zu den 
übrigen Reichsinstitutionen zur Zeit Peter’s des Grossen. Von N . Wostokow. — Die 
Nowgoroder Sophien-Kasse. Von E. Prileschajtw . — Ueber die Reifeprüfungen im 
Jahre 1874. — Nachrichten über die Thätigkeit und den Zustand unserer Lehranstalten, 
a) Universitäten. — Brief aus Paris. Von L —r. — Abtheilung für klassische Philologie. 
In coemtione, matrimonii romani forma, uter vir an femina, emisse videatur. Von E ’. 
Werth . — Zur Fra^e über die allmähliche Entwickelung der Casusformen im Lateini¬ 
schen. Von /. ZuQctajcw. 

«Das alte Russland» (Russkaja Starina — Pyccicai* Grapima). — 

Herausgegeben und redigirt von M. J, Ssemewskij. Sechster Jahrgang. Heft VII. Juli 
1875. Inhalt: 

Archimandrit Foti, Prior des Nowgorod’sehen Georgen-KIosters, 1792 — 1838. Bio¬ 
graphischer Abriss. Von E . P. Kamowitsch, — "Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker: 
Abriss seines Lebens und seiner literarischen Thätigkeit Briefe russischer Schriftsteller. 
1817 — 1825. Von y. W. Kossow und M, W, Küchelbecker, — Erinnerungen O. A. 
Przeclawski’s. Von A, S, Schischkow, — Die französische Armee vor dem Kriege mit 
Russland, 1792—1808. Von M. D . — A. S. Dragomyschsky: Briefe an Frau L. J 
Karmalin, geb. Welenizyn. 1859—1868. Von W, W, Stassow, — Blätter aus dem 
Notizbuche der «Russkaja Starina» : I. Ein Anzeigeblatt zur Zeit Peter’s des Grossen. 
Von N. S. Tichonrcnvow. 2. Die Abfertigung der Söhne russischer Kaufleute nach 
England im Jahre 1766. 3. Pugatschew’sche Blätter, 1774. 4. Ein Projekt zur Ent¬ 
fernung der Türken vom Schwarzen Meere, 1780. 5. Zwei Befehle Kaiser Paul’s vom 

Jahre 1799. 6. P er plan Figner’s, 1812. 7. Eine hydrographische Karte Russlands 

vom Jahre 1842. 8. Ueber das Ende A. P. Jermolow’s, 1861. Von M % P. Pagodin . 
9. Gedichte Petschorina’s. Von N, S . Tichonrawow, 10. Erzählungen und Anekdo¬ 
ten. — Das alte Petersburg: Neuigkeiten, Anzeigen und Verordnungen der Regierung 
im Jahre 1798. — Bemerkungen zum Portrait des Archimandrit Foti. — Bibliogra¬ 
phische Mittheilungen über neue russische Bücher (auf dem Umschläge). 

Der «europäische Bote» (B^ctheki» EBponu — Westnik Jewropy). 

X. Jahrgang. 1875. Juli. Inhalt: 

Michel Angelo Buonarotti als Architekt, Bildhauer und Maler, 1475—1564. Von 
A, Prachow. — Pierre Josef Proudhon, Correspondence de P. J. Proudhon. Zweiter Ar¬ 
tikel. Von D—jew. — Deutschland am Vorabend der Revolution. Historische Stu- 


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190 


dien. XIIL Das österreichische Habsburg. XIV. Das preussische Hohenzollem. XV, 
Die deutsche Einigkeit bis zur Zeit Friedrich’s des Grossen. Von S . Traczewsky. — 
Aus Heine: «Lyrische Gedichte». Von A. Giljarow . — Juden und Polen in den süd¬ 
westlichen Gouvernements. Nach neuen Materialien für die südwestlichen Gouverne¬ 
ments. I.—IV. Von N. P. Dragomarow. — Wissenschaft und Literatur im heutigen 
England. — Briefe aus England. Zweiter Brief. Von A Regnard. — Amerikanische 
Pioniere. I.—TH. Von A. Kurbshp. — Der Emigrant. Satyrischer Roman von Jan 
Lam. Von E. L. — Die ersten'Vorstellungen des Lustspiels «Verstand schafft Lei¬ 
den» (Pope oTb yna — Goijä ot uma), 1827—1832. Aus den Erinnerungen eines Mit¬ 
beteiligten. Von Af. G. — Chronik: Psychologische Kritik. Bemerkungen J. Ssama- 
rin’s zu dem Werke «Die Aufgaben der Psychologie». (Schluss.) Von K. D . Kawelin . 
— Rundschau im Inlande. — Pariser Briefe: IV. Charles de Rlmusat. Das Wett¬ 
rennen und das Spiel. Die Jubelfeier zur Erinnerung an Boieldieu. Die Beurteilung 
Lafontaines. Das tragische Paris. Von E. Z—l. — Was soll man vom Spiritismus 
denken? Anlässlich des Prof. Wagner’sehen Briefes. III. Von A. S, Schklarcwsky . — 
Nachrichten. — Bibliographische Blätter. 

«Militär-Archiv» (Wojennij Ssbornik —BoeHUMft C6opira*j>.) — 

Achtzehnter Jahrgang. 1875. Nr. 7. Juli. Inhalt: 

Das Isum'sche Husaren-Regiment in den Kriegen 1812, 1813 und 1814. (Eine Epi¬ 
sode aus der Geschichte des Regiments). Von N . Gerbcl. — Ueber Wachtposten und 
Recognoscirung im Kriege. Von K. Emroth . — Eine kavaleristische Notiz. Von Ni¬ 
colai Gorjatschew . — Der Dienst des Adjutanten in Krieg- und Friedenszeiten. Von A. 
J . Westenrieck. — Ueber die Beschäftigungen der Officiere zur Vervollkommnung in 
der Theorie und Practik der Kriegsangelegenheiten. Von P. L . — Die Junkerschulen 
im Jahre 1874. I. Artikel. Von • • •. — Ueber die Reitpferde der Officiere bei der 
Feld-Artillerie zu Fuss. Von A. Pinjajau . — Bemerkung über den Transport mit Ka- 
meelen. Von L. Af, — Bemerkungen Über die unter dem Kommando des Sadyk-Pascha 
gewesene türkische Kavallerie und slavischp Legion. Von A. Tschaikowskij. — 
Bibliographisches. — Militärische Umschau in Russland. — Militärische Umschau im 
Auslande. 

«Russisches Archiv» (Russkij Archiw — Pyccdfl ApxnBi>.) — 

herausgegeben von Peter Bartenjtiu. XIII. Jahrgang. 1875. 7. Heft. Inhalt: 

Lebensbeschreibung des Fürsten A. D. Menschikow, nach neu entdeckten Papieren. 
I—III. Von H. W. Jessipow . — Bilder aus den kleinrussischen Familien. Materialien 
zur Geschichte der Gesellschaft im XVII. und XVIII. Jahrhundert Gesammelt von A. 
Ad. Lasarewsky. — Erinnerungen aus der Dienstzeit W, L. Tolstoi’s. 1847. — Moskau 
im Jahre 1812. Nach neu entdeckten Papieren. I—II. Von A. A. Popow . — Papiere 
des Fürsten J. W. Wassiltschikow zur Geschichte des Ssemenow’schen Regiments. V — 
VI. (Briefe an den Kaiser und ein Brief an den GrossfUrsten Nicolai Pawlowitsch). — 
Die Verhaftung Gribojedow’s im Jahre 1825. Aus den Erinnerungen N. fV. Schitna - 
nowsky’s. — Aus den Tagebüchern Varnhagen von Ense’s. Mit einem Vorwort und 
Anmerkungen. Von A. A. Tschumikow . — In Sachen der Uniirten. Bemerkungen von 
L. Slowatschewskij. — Genealogische Anzeige von W ’. Z . Hertsig . — Verbesserungen. 
Von J. P. Liprandy . 



Y 


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Russische Bibliographie. 


Kossowitsch, I. Römische Alterthümer. Nach Bojesen. Warschau 
8°. 122 + XV. S. (Koccobmhi, HniaTM. Phmckih apcbhocth. Ilo 
Boe3eHy. BapmaBa 8 a. 122 + XV. CTp). 

Chandrikoff, N. Lehrbuch der russischen Geschichte. 3. vermehrte 
und verb. Ausgabe. Moskau. 8°. 296 S. (XaHAPNKOffb, H. yueÖHHn. 
pyccKofl HCTOpin. Hsa- 3 -e, ncnp. h aodoji., Mocua, 8 4. 296 crp). 

Beschreibung der Reise des Kaiserl. römischen Gesandten Nico¬ 
lai Warkotsch nach Moskau vom 22. Juli 1593. Moskau. 8®. XII + 
36 + VIB S. (OnncaHie nyremecTBia bt» MocKBy nocjia pHMCKaro 
HMnepaTopa, HmcoAaa BapKona, er, 22-ro Iiojih 1593 r. MocKBa. 
8 a. XII + 36 + VIII exp). 

Briefe Sr. Eminenz des Bischofs von Pensa und Ssaratow Inokenti’s 
an die Fürstin S. S. Meschtschersky. 1817—1819. Moskau. 8°. XII 
+ 77 + 1 S. (ÜHCbMa npeocBameHHaro HmioKeHTix, enncaona 
neHseHcaaro h capaTOBCKaro, kt. KHsrnn-fe Co<t>in CeprkeBH-fe Me- 
mepexofl. 1817—1819 r. MocKBa. 8 a. XII + 77 + 1 crp). 

Russische Pilgrimme in Jerusalem. Moskau. 8°. IX + 99 S. (Pyc- 
exie noiuioHHHKH bt> IepycaxHM'fc. MocKBa. 8. a. IX + 99 crp). 

Gurljand, Jakob. Juristische Beurtheilung notarieller Fragen und 
einige Bemerkungen aus der Praxis. Charkow. 8°. IV + 249 S. 
(r ypjMHAV flitOB'b. lOpHAHHeacift pa 36 opi> HOTapiajiBHUXi. BonpocoBT. 
H pa 3 HUfl 3 aM%TKH H 3 T. npaKTHKH. XapbKOBT.. 8 A- IV + 249 Crp). 

Sammlung von Girkularen, herausgegeben von der Kaiserl. Kon- 
trole in den Jahren 1865—1873. D. Buch. St. Petersburg. 4 0 . x -f- 
LXVII4- 446 4- 40 S. (CÖopHHKb iiBpKyjiapoBT., H3AaHHbixT> no 
rocynapcTBeHHOMy KoHTpoAio bt> 1865—1873 r. Kh. II. Cn6. 44. 
1 4- LXVII4 446 + 40 CTp). 

Normane, L Das Spectroscop und seine Anwendung. Uebesetzt 
und vervollständigt von P. Krutitzky. Mit Abbildungen. St. Peters¬ 
burg. 8°. VI4- 88 S. u. 1 B. (Hopmurb, Jloiwiepi. CneK-rpocKom. h 
ero npHM'feHeHia. Ct> H'feM. nepes. h Aon. II. KpyrHTCKift. Ct> pnc. 
Cn6. 84. VI -f 88 CTp. h 1 4. 


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lg2 


Ssabanejew, L P. Beschreibung und Abbildung von Fischen die 
in den Gewässern Russlands Vorkommen. Mit 93 Abbildungen. Mos¬ 
kau. 8°. I + LXXIV +19+16 S. (CatiaHteBl, A- fl. OnncaHie h 
H36pa)iceHU pbi6*b; BCTptvaiomHxcÄ bt> Pocciöcicoft HMnepin. Cy 
93 pnc. MocKBa. 8 a. 1 + LXXTV +19+16 cTp). 

Redkin, A. Politisches Archiv. Nachschlagebuch für Zeitungsleser. 
2. Lfg. Deutschland. St. Petersburg. 8°. 178 S. (PtAKHHY, A. IIojiii- 
THHecKiß c6opHHK*b. CnpaBOHHax KHHra ajir HHTaTejieft ra 3 en>. 
Bun. 2. TepMaHix. Cn6. 8 a. 178 crp). 

Filippow, M- A. Die Gerichtsreform in Russland. III. Band. Gerichts¬ 
ordnung. II. Theil. St. Peterburg. 8°. VIII + 332 S. (<t>MJiMnnoBY, M. A. 
CyAe6Hax pe<x>opMa by Poccin. T. III. CyAoycTpoftcTBo. H. II. 
Cn6. 8 a. VIII + 332 CTp). 

Tschebyschew-Dmitriew, A. Die russische Criminal-Gerichtsordnung 
vom 20. November 1864. St. Petersburg. 8°. 497 S. (HetiuuiesY- 
AMNTpieBY, A. PyccKoe yrojioBHoe cyAonpon 3 BOACTBO 20-ro Hoxöpa 
1864 r. Cn6. 8 a. 497 CTp). 

Zitowitsch, P. P. Vorlesungen über das Handelsrecht. 2. Lfg. 
2. Heft. Odessa. 8°. 374 S. (I^HTOBHMY, fl. fl. üemria no TOproBOMy 
npaßy. Bun. 2. TeTp. 2. OAecca. 8 a. 374 CTp). 

Verhandlungen der Kijewer Naturforschergesellschaft. IV. Band. 
1. Lfg. Kijew. 8°. 76 S. ( 3 anncKH KieBcicaro oömecTBa ecTecTBOH- 
cnMTaTeAeft. T. IV. Bbin. 1. KieBY. 8 a. 76 CTp). 

Verhandlungen der Neurussischen Naturforschergesellschaft. III. 
Band. 1. Lfg. Odessa. 8°. 46 + 8 S. u. 3 B. Zeichn. ( 3 anncKH hobo- 
pociftcicaro oömecTBa ecTecTBoncnbiTaTeJieft. T. III. Bbin. 1. OAecca. 
8 a. 46 + 8 CTp. h 3 ji. puc). 

Danenberg, K. Zur Geschichte und Statistik des Gymnasiums zu 
Mitau. Mitau. 8°. XLIV + 302 S. 

Des Grafen Ludwig August Mellin bisher unbekannter Original¬ 
bericht über das angebliche Griechengrab an der livländischen Mee¬ 
resküste. Mitgetheilt von G. Berkholz. Riga. 8°. 22 S. 

Pharmakowskij, W. Die russische Geschichte mit Beifügung des 
Nothwendigsten aus der allgemeinen Geschichte. Nach der Grube’- 
schen Methode. 2. Aufl. Wjatka. 8°. 229 S. (<l>apMaKOBCKifl, B. Pyc- 
cicaa HCTopix cy npncoBOKynjieHieMY HeoöxoAHMbixY CB'kA'fcHiß 
H3i> HCTopin Bceoömeft. no cnocoöy Tpyöe. H 3 A. 2 -e. BaTica. 
8 a. 229 CTp.) 

Terentjew, A. M. Russland und England in Mittel-Asien. St. Pe¬ 
tersburg. 8°. XIII + 361 S. (TepoHTbeBY, A. M. Poccix h Ahtjidi by 
C peAHeft A31H. Cn6. 8 a. XIII + 361 CTp.) 

Herausgeber und verantwortlicher Redacteur Carl Röttgrr. 

AosBOJieHo ueH3ypoio. C.-rieTep6ypn>, 22-ro ABrycra 1875 roAa. 

A 1 " N 


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Zur Charakteristik der Kaiserin Katharina U. 

(Schluss). 

Vergegenwärtigen wir uns in kurzen Zügen, in wiefern für die 
allgemeine europäische Geschichte jener Zeit in Chrapowitzkij’s 
Tagebuche eine Quelle ersten Ranges vorliegt. 

Die polnischen Angelegenheiten erfreuten sich in jenen Jahren 
nicht so sehr der Aufmerksamkeit Katharina's. Die orientalische 
Frage und der Konflikt mit Schweden nehmen die Kaiserin sehr viel 
mehr in Anspruch. Nur selten und ausnahmsweise ist von Polen die 
Rede. Bei Gelegenheit der Reise Katharina’s in den Süden (1787) 
ist allerdings der Zusammenkunft der Kaiserin mit dem Könige 
Stanislaus August Ponjatowskij erwähnt, aber wir erfahren nichts 
darüber, inwieweit bei diesem Gespräche politische Fragen erörtert 
wurden. Nur selten (u. A. im Januar 1789, S. 232) ist der polni¬ 
schen Reichstage erwähnt und dabei bemerkt, wie einzelne Mag¬ 
naten auf denselben nicht immer zu Gunsten Russlands wirkten. 
Von Interesse ist die Bemerkung Katharina’s am 7. März 1792: 
einer der undankbarsten Polen sei der König Stanislaus Ponjatowskij 
selbst. (S. 392). Sonst ist kaum an irgend einer anderen Stelle des 
Tagebuchs der polnischen Dinge erwähnt. 

Ebenso werden nur sehr selten und ausnahmsweise die Angele¬ 
genheit der entfernter liegenden Staaten, wie z. B. England’s oder 
Spanien’s u. dgl. berührt. Von König Georg III. und dessen 
Krankheit spricht, wie wir bemerkten, Katharina öfter; ebenso 
beobachtet sie mit Spannung die Haltung Englands in Betreff der 
orientalischen Frage. Die inneren Angelegenheiten Englands haben 
für sie wenig Interesse. Hier und da wird wohl der stattfindenden 
Ministerwechsel erwähnt, wie denn u. A. Katharina Anfang 1789 
den Eintritt Portland’s und Fox’s ins Ministerium mit besonderer 
Freude begrüsste (S. 234). Sonst ist nur die Besorgniss merkwürdig, 
mit welcher Katharina einem etwaigen Bruche mit England, nament¬ 
lich im Frühling 1791, entgegensieht. 

Bnp. Bcnxe. Bd. VU. I« 


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194 


Sehr ausführlich wird dagegen das Verhältniss Russlands zur 
Pforte behandelt. Ein Kapitel der Geschichte der orientalischen 
Frage in jener Zeit bildet die Reise Katharina’s im Jahre 1787, an 
welcher der Geheimschreiber der Kaiserin natürlich Theil nahm und 
über welche er zahlreiche, wenn auch meist ganz kurze Bemerkungen 
mittheilt. Katharina’s mitunter launige Bemerkungen über die ihr 
zu Ehren veranstalteten Empfangsfeierlichkeiten, Einzelnheiten über 
die Reiseroute, über den Aufenthalt des Hofes und der übrigen Rei¬ 
senden in Kijew, über das Zusammentreffen mit Kaiser Joseph II., 
über die Reise auf dem Dnjepr und in der Krim u. s. w. sind von 
nicht geringem Interesse. 

Aus einzelnen Bemerkungen geht hervor, wie ungeduldig Katha¬ 
rina war, mit der Pforte zu brechen, das Kriegsglück zu versuchen, 
mit welcher Spannung sie den Kriegsereignissen folgte, wie viel 
Vertrauen sie zu den Fähigkeiten des Fürsten Potemkin hatte, 
welcher im Süden den Oberbefehl führte, wie namentlich die Bela¬ 
gerung Otschakows die Kaiserin in eine gewaltige Spannung ver¬ 
setzte. Da finden sich Fragmente aus den Briefen Potemkin’s an 
die Kaiserin und umgekehrt, genaue Angaben über den Ausgang 
einzelner Gefechte und Schlachten, über die glänzenden Geschenke, 
welche Potemkin zur Belohnung für seine Siege erhielt, allerlei Ur- 
theile über einzelne Generale und Officiere, wie z. B. über Nassau- 
Siegen, Paul Jonas u. A., und mancherlei höchst anziehende Details 
über Russlands Beziehungen zu den Westmächten in dieser Zeit. 

Weit ausführlicher ist Chrapowitzkij in Betreff des schwedischen 
Krieges u.A. schon darum, weil die Gefahr, die vonSeiten Gustafs UI. 
drohte, in St. Petersburg unmittelbar empfunden wurde und die 
Kriegsereignisse zum Theil sogar die Umgebung der Hauptstadt 
zum Schauplatze hatten. Katharina's Aufregung bei den täglichen 
Vorkommnissen in Betreff dieser Ereignisse lehrt uns, wie gross die 
Gefahr, wie bedenklich die Lage war. Wir können genau verfolgen, 
wie mehrere Wochen hindurch die Ungewissheit Katharina quält, 
ob Gustaf UI. Russland angreifen werde oder nicht, und wie sie 
den lebhaften Wunsch hat, von Schweden unbehelligt zu bleiben. 
Bei jeder Nachricht von den Rüstungen in Schweden horcht man 
ängstlich auf. Es werden spitze Reden über Gustaf UI. geführt, 
wie denn u. A. Katharina bemerkt, es liege dem Könige vielleicht 


1 s. meinen Aufsatz: »die Reise Katharina*s II. nach Siidrusslaud im Jahre 1787» in 
der «Russ. Revue» 1873. (Bd. II, p. 1-33 und 97—132). 


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195 


daran, Finland los zu werden, oder wie sie denn ein andermal ihn als 
einen «Verrückten» bezeichnet. Die gedrückte Stimmung, in welcher 
man sich befand, spiegelt sich in der Aeusserung der Kaiserin: «Es 
ist wahr: Peter I. hat die Hauptstadt zu nahe (an der Grenze) ge¬ 
baut». (S. 97). 

Katharina ist in dieser Zeit sehr thätig. Sie lässt sich Karten 
vom Kriegsschauplätze geben und folgt allen Details des Feldzuges; 
sie redigirt gegen Gustaf HI. gerichtetete Staatsschriften; sie sucht 
sich über alle Einzelnheiten der Ausrüstung der russischen Flotte 
und des Heeres zu unterrichten; sie correspondirt mit den Feld¬ 
herren und Admiralen. So erfahren wir denn sehr viel über den 
Ausgang der Schlachten, über alle Operationen zu Wasser und 
zu Lande, über die ConfÖderation von Anjala, die Stimmungen in 
Schweden u. s. w. Es war eine verwickelte Lage: Katharina war 
besorgt; häufig stossen wir in dem Tagebuche auf Aeusserungen 
wie: «nicht heiter», «Verstimmung* u. dgl. Wie der plötzlich durch 
die Verschwörung der finnischen Officiere gegen Gustaf III. herbei¬ 
geführte Umschwung von der Kaiserin als eine Art Rettung für 
Russland angesehen wurde, zeigt ihre Aeusserung, dass sie darin 
einen unmittelbaren Eingriff der Vorsehung zu Gunsten Russlands 
erblickte (s. S. 118). Persönlich verhandelt nun die Kaiserin mit 
den Hauptgegnern des schwedischen Königs, mit Sprengtporten 
und Jägerhorn, und zieht sehr geschickt viel Vortheil aus der Span¬ 
nung, welche zwischen Gustaf III. und dessen Unterthanen herrschte 1 . 
«Heiter», heisst eine Notiz in den Aufzeichnungen des unermüd¬ 
lichen Beobachters am politischen Barometer (S. 122). Katharina 
bemerkt im Gespräche mit Chrapowitzkij, wie die Lage jetzt, 
nachdem man von der ConfÖderation von Anjala Nachricht habe, 
eine ganz andere sei, als in dem Augenblicke, da der diplomatische 
Bruch mit Schweden erfolgte. Ueber das Verhalten der auf 
Russlands Hülfe hoffenden finnischen Officiere ist dieses Tagebuch 
geradezu Hauptquelle. Hastfehr’s Verrath u. A. wird durch das 
Tagebuch entdeckt, während die historische Literatur über diesen 
Punkt bisher nur einzelne Andeutungen enthielt. Ebenso erfahren 
wir mancherlei über die Beziehungen Russlands zu Dänemark und 
das Bündniss beider Staaten gegen Schweden, über das Einschreiten 
Preussens und Englands zu Gunsten Schwedens, und die dadurch 
hervorgerufene Erbitterung Katharina’s. Einzelne Sätze aus den 

1 s. m. Abhandlung über die ConfÖderation von Anjala in der «Baltischen Monats¬ 
schrift* Jahrg. 1870. 


*3 


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196 


Depeschen der im Auslande befindlichen russischen Gesandten wer¬ 
den zum Theil wörtlich mitgetheilt, ebenso manche Sätze aus dem 
Briefwechsel Joseph’s II. mit der Kaiserin. Wirersehen aus diesen 
Bemerkungen, wie Katharina stolz darauf war, dass Russland sein 
Ansehen, seine Stellung, seine Integrität behauptete, allen Schwie¬ 
rigkeiten Trotz bot und seine Feinde demüthigte. So ist denn das 
Tagebuch in Bezug auf diese Ereignisse so inhaltreich, wie ein Blau¬ 
buch und eine Zeitung zugleich. Die Rösselsprünge der Diplomatie, 
die Hin- und Hermärsche der russischen und schwedischen Truppen, 
die Urtheile der Kaiserin und hervorragender Staatsmänner, allerlei 
Gerüchte über die Vorgänge und Entwürfe der kämpfenden Par¬ 
teien, hier und da genaue Angaben über die Mittel, welche den 
Streitenden zur Verfügung stehen, alles dieses ist im Tagebuche 
enthalten und im Mittelpunkte steht die Kaiserin, welche in den 
Tagen, da der Frieden von Werelä geschlossen wurde, die Aeusse- 
rung that: «Ich habe viel Sorge gehabt und Alles gelenkt wie ein 
kommandirender General». Sie meinte, sie sei entschlossen ge¬ 
wesen, im Nothfall die letzten Reservetruppen persönlich gegen den 
Feind zu führen: «Ich habe nie verzagt», sagte sie, «und hätte 
nötigenfalls im letzten Bataillon-Carr6 mein Leben gelassen» 
(S. 345). Mit Genugthuung meint sie: «In den schwierigen Verhält¬ 
nissen der letzten Jahre kann ich mit der Festigkeit meiner Haltung 
zufrieden sein: das Russische Reich sieht doch dem österreichi¬ 
schen Hofe nicht ähnlich» (S. 353). Sie hatte allerdings Grund mit 
sich zufrieden zu sein. 

Von Interesse für die Geschichte Westeuropa^ endlich sind eine 
Menge, die französische Revolution betreffenden Notizen in dem 
Tagebuche Chrapowitzkij’s. Wir erfahren u. A., wie Katharina sich 
für den Halsbandprocess des Kardinals Rohan, für die Notabein¬ 
versammlung, für den Streit mit den Parlamenten und für die Eröff¬ 
nung der Nationalversammlung interessirte, wie die Ereignisse im 
Sommer 1789, u. A. der Sturm der Bastille, sie in Unruhe ver¬ 
setzten, wie* sie schon damals für das Leben Ludwig’s XVI. zu 
zittern anfing und ihm das unglückliche Loos Karl’s I. von Eng¬ 
land prophezeite, nachdem sie von den Ereignissen am 5./6. Ok¬ 
tober in Versailles Nachricht erhalten hatte. «Was würden Boileau 
und Ludwig XIV. sagen, wenn sie jetzt plötzlich wieder aufer- 
stünden», ruft die Kaiserin aus (S. 316). Dann finden sich einige 
kurze Angaben über Katharina's Beziehungen zu den französischen 
Emigranten, welche am russischen Hofe erschienen, über die Auf- 


A 


V 


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nähme, welche der Herzog von Artois daselbst fand, über die Span¬ 
nung, mit welcher die Kaiserin den Feldzug der Verbündeten nach 
Frankreich im Herbst 1792 verfolgte. Die Nachricht von der Flucht 
des Königs aus Paris erfreute sie ebensosehr, als die Verhaftung 
der königlichen Familie in St. Manchould und Varennes ihr 
Schmerz und Kummer bereitete. «Je n’avais qu’un moment de 
joie», sagte sie bei dieser Gelegenheit (S. 366). Wir erwähnten be¬ 
reits, wie die Nachricht von der Hinrichtung des Königs Katharina 
tief erschütterte. Als sie von der Art der Abstimmung über das 
Todesurtheil hörte, bemerkte sie: «Cest une injustice criante meme 
envers un particulier». Ihre Erregung spricht sich in den Worten 
aus: «il faut absolute ment exterminer jusqu’au nom des Frangais»; 
oder in der Aeusserung: «l*£galite est un monstre, qui veut etre roi» *. 

Doch mögen diese Andeutungen über den Inhalt des Tagebuches 
genügen, um einen Begriff davon zu geben, wie wir in demselben 
eine der anziehendsten und reichhaltigsten Quellen über die Ge¬ 
schichte jener Jahre besitzen. 


Wir schliessen mit einigen Bemerkungen über die Edition selbst, 
indem wir die Frage zu beantworten suchen, ob und in wie weit 
der Herausgeber, Hr. Barssukow, seiner Aufgabe gerecht gewor¬ 
den ist, und ob diese dritte Ausgabe des Tagebuches Chrapo- 
witzkij’s die beiden ersteren übertrifft oder nicht. 

Zum ersten Mal erschien das Tagebuch Chrapowitzkij’s gedruckt 
in der historischen Zeitschrift «Vaterländische Memoiren» (Orene- 
CTBeHHMü 3 anncitH), welche in den zwanziger Jahren von Paul 
Sswinjin (CBHHbmn») herausgegeben wurden, in einer ganzen Reihe 
von Bänden dieser Zeitschrift zerstreut, in viele Abschnitte zertheilt, 
hier und da mit einigen Auslassungen. Dem Abdrucke lag die Origi¬ 
nalhandschrift des Tagebuches zu Grunde, wahrscheinlich dieselbe 
von dem Verfasser herrührende, welche auch der dritten, jetzt von 
Hrn. Barssukow veranstalteten Edition zu Grunde gelegen hat. 
Bei der ersten Edition wurde Manches, das Privatleben Katharina’s 
betreffende, fortgelassen. Von einem Commentar wurde bei der 
ersten Edition völlig abgesehen. 

Zum zweiten Mal veranstaltete Hr. Gennadi den Abdruck des 
Tagebuches in der Zeitschrift der historischen Gesellschaft zu 
Moskau im Jahre 1862 (HTema MocxoBCKaro OömecTBa Hcropia h 

1 s. meinen Aufsatz: Katharina II. und die französische Revolution in der «Russ 
Revue» 1873. (Bd. IQ). 


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198 


ApeBHOCTeft 1862. 2. und 3. Heft), wobei nicht die Originalhand¬ 
schrift, sondern zwei Abschriften zu Grunde lagen. Die Sonder¬ 
abdrücke dieser Edition sind bereits seit längerer Zeit ausverkauft. 
Der von Hm. Gennadi verfasste Commentar bestand meist aus 
ganz kurzen biographischen Notizen in Betreff der Personen, deren 
in dem Tagebuche erwähnt ist, und war nicht besser und nicht 
schlechter, als viele derartige Arbeiten, welche in neuerer Zeit in 
Russland erschienen. Hier und da finden sich Erläuterungen nicht¬ 
biographischer Art, Hinweise auf die einschlagende Literatur, 
literarhistorische Notizen in Betreff der Theaterstücke Katharina's 
und sonstige Bemerkungen, welche in der That den Namen eines 
Commentars verdienen. Indess Hess' Hr. Polenow in der Zeit¬ 
schrift «das Russische Archiv» (1867, S. 921 ff) eine sehr scharfe 
Kritik des von Hm. Gennadi verfassten Commentars erscheinen, 
der allerdings etwas flüchtig und oberflächlich zusammengestellt 
war. Ausserdem wurde von Hrn. Polenow dem Herausgeber der 
Vorwurf gemacht, dass er bei seiner Edition nur die ihm zu Gebote 
stehenden zwei Abschriften, nicht aber die nach der Originalhand¬ 
schrift gedruckte Sswinjin’sche Ausgabe berücksichtigt hatte, was 
allerdings eine unverzeihliche Unterlassungssünde war. Die hier und 
da vorkommenden Fehler des Commentars sind relativ unbedeutend 
im Vergleich mit der Nichtbeachtung der Verschiedenheit der Les¬ 
arten in der Originalhandschrift und in den Kopien. Hr. Polenow 
findet es schmerzüch, dass mit so werthvollen historischen Quellen 
so leichtsinnig und nachlässig umgegangen werde, und wir sind 
geneigt ihm beizustimn\en, obgleich wir an dergleichen Erschei¬ 
nungen bereits genügsam gewöhnt sind. Der letzte Herausgeber 
des Tagebuches, Hr. Barssukow, scheint die Entrüstung des 
Hm. Polenow über Hm. Gennadi vollkommen zu theilen. Er be¬ 
merkt wenigstens, nachdem er der zweiten Ausgabe erwähnt hat 
(S. X der Vorrede): «Ich halte es für überflüssig den Werth dieser 
(zweiten) Edition zu würdigen. Eine eingehende Analyse derselben 
erschien bereits im Russischen Archiv». 

Uns scheint, es wäre fiir Hrn. Barssukow von Nutzen gewesen, 
sich eingehender mit den zwei früheren Editionen zu beschäftigen 
und sich über die Leistung Hrn. Gennadijs ein Urtheil zu bilden. 
Statt so wegwerfend über die zweite Edition zu reden, hätte er 
Manches aus derselben lernen können. Wir finden nicht, dass 
Hr. Barssukow seine Sache irgendwie besser gemacht hätte, als 
Hr. Gennadi, während es doch nahe gelegen hätte, die Ausstel- 


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199 


lungen des Hrn. Polenow, die er jedenfalls gelesen haben muss, 
zu beherzigen. 

Hr. Barssukow berichtet über die Art, wie er dazu gekom¬ 
men sei, eine Ausgabe des Tagebuches zu veranstalten, Fol¬ 
gendes. Er hatte im Frühling des Jahres 1872 von dem Fürsten 
Wjasemski den Auftrag erhalten, dessen Papiere zu ordnen. Unter 
anderen werthvollen Handschriften fand sich die Originalhandschrift 
des Tagebuches Chrapowitzkij’s, welche der bekannte Dichter 
Shukowskij in den vierziger Jahren dem Fürsten Wjasemskij ge¬ 
schenkt hatte. Der Letztere gestattete nun dem Hrn. Barssukow die 
Herausgabe der Handschrift Auf den Rath des Fürsten wandte 
sich der Herausgaber an den obengenannten Hm. Polenow mit der 
Bitte, ihn bei dieser Arbeit zu unterstützen. Die Beschreibung der 
Beschaffenheit der Handschrift — in zwei Bänden von 308 und 
170 Seiten in prächtigem Einbande, ist sehr kurz und ungenügend. 
Es findet sich im Grunde nur die Bemerkung, dass die ganze Hand¬ 
schrift Autograph Chrapowitzkij’s, sehr fein geschrieben sei, keine 
oder so gut wie gar keine Correkturen enthalte und dass die Seiten 
ganz ausgefüllt seien, ohne das der Verfasser einen Rand übrig 
gelassen habe. 

Seltsamerweise ist die Frage gar nicht aufgeworfen worden, ob 
wir es hier mit dem eigentlichen Original, d. h. mit dem Tage¬ 
buche selbst, wie es allmählich entstand, zu thun haben, oder mit 
einer von dem Verfasser selbst angefertigten späteren Reinschrift. 
Eine solche Hesse sich, insofern sie von Chrapowitzkij herrührte, 
ebenfalls als Original bezeichnen. Ob nun die beiden Bände die 
erste Redaktion oder eine Kopie enthalten, muss beim Studium der 
Handschrift unschwer zu ermitteln sein. Hr. Barssukow lässt uns 
darüber im Dunkeln, ob er sich auch nur eine derartige so nahelie¬ 
gende Frage aufgeworfen habe oder nicht. So haben wir es denn 
hier schon mit einer nicht zu rechtfertigenden Unterlassungssünde 
des Verfassers zu thun. 

Ferner ist nichts über die Berücksichtigung der früheren Edi¬ 
tionen gesagt, was um so näher gelegen hätte, als ja derselbe 
Hr. Polenow, welcher Hrn. Gennadi so unbedingt verurtheilt, diese 
dritte Edition hat besorgen helfen >. 

* Diese Thatsache ist so auffallend, dass wir den betreffenden Passus aus der Vor¬ 
rede des Hrn. Barssukow hierhersetzen: «IlpucTynafl in» HacTomneuy H3AaHiio Ä hcb- 
Htnca XpanoBHQicaro, h, no cotrhry khssa H. A. BroeMCKaro, oöpaTiuc* n> na* 
rfecTHOMy nameuy yueHouy J\. B. IlojrfcHOBy, KOTOpwft ct» ÖJiarocjtnoHHOio totob- 


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200 


Wir können sehr zahlreiche Fälle anführen, bei denen die Lesar¬ 
ten der ersten und zweiten Edition differirten und dieser Unterschied 
sogar den jeweiligen Inhalt und Sinn änderte, und bei denen gleich¬ 
wohl die Herausgeber der dritten Edition sich gar nicht die Mühe 
genommen haben, die Redaktionen der früheren Ausgaben mit ihrer 
Handschrift zu vergleichen. Dieser Operation hätte das Studium 
der Handschriften, nach denen die verschiedenen Herausgeber ar¬ 
beiteten, vorausgehen, es hätte die Frage aufgeworfen und, wenn 
möglich, beantwortet werden sollen, ob nicht etwa die Handschriften 
in gewissem Zusammenhänge mit einander stehen, ob nicht eine der¬ 
selben nachweisslich das ursprünglich von Chrapowitzkij geführte 
Tagebuch, ob nicht die eine derselben eine Abschrift der ande¬ 
ren sei und, wenn dieses der Fall, welche Verschiedenheiten des 
Textes etwa der Flüchtigkeit des Abschreibens zugeschrieben wer¬ 
den könnten u. dgl. Von der Nothwendigkeit solcher Studien haben 
indessen, wie leicht zu beweisen ist, weder Hr. Barssukow noch der 
nach den obengenannten Aeusserungen des Hm. Barssukow mitver¬ 
antwortliche Hr. Polenow keine Ahnung. Sie thun, als gäbe es gar 
keine anderen Handschriften und Editionen, als hätten sie nur die 
in den Papieren des Fürsten Wjasemskij gefundene Originalhand¬ 
schrift mechanisch abzudrucken, während man doch wenigstens von 
Hrn. Polenow erwarten konnte, dass er die von ihm vor sieben Jah¬ 
ren veröffentlichten Lehren und Ermahnungen in Bezug auf die zu 
lösende Aufgabe, d. h. in Betreff einer solchen zu veranstaltenden 
Ausgabe, in so kurzer Zeit nicht völlig vergessen werde. 

Führen wir zunächst einige augenscheinliche Fehler an, welche in 
der zweiten Edition sich befanden, von Hrn. Polenow scharf gerügt 
wurden und sich dennoch in der dritten Edition wiederfinden, ohne 
dass auch nur mit einem Worte auf die offenbar correktere Lesart 
der ersten Edition hingewiesen worden wäre. 

Am 8. April 1787 ist von dem ehemaligen Chan Schagin-Ghirei die 
Rede. Bei Gennadi heisst es, man habe ihn zwei Mal unterstützt 
(noAKp*hnjixjiH); Hr. Polenow hielt im Jahre 1867 die Lesart bei 
Sswinjin «noARynajiii» — man habe den Chan zweimal bestochen — 
für richtiger (s. «Russ. Archiv» 1867, S. 926); in der neuen Aus¬ 
gabe steht indessen trotzdem uud ohne irgend eine Erläuterung 
< noAKp’fenjuuiH ». 

Hocriio, Bceraa Bcrp^naeMoio bt» jhoahxi» hcthhho o6pa3osaHHbixi>, HS-baomn» corjia« 
cie Ha Moto npocbßy pyKOBOjum» (sic) HSAamem» AweBHHKa, h na r;iy6oicoK) npasHa* 
TCJlbHOCTblO AOJUKCH1» COOÖlUHTb, HTO nOCTOffHHO ÜOJIbSOBaJIC« ero yiCaaaHijIYH, M CBCpXl» 
Toro, ero AparoivfeHHoio ÖHÖAioTexoio». 


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201 


Am 5. Nov. 1788 heisst es in der zweiten Ausgabe, Katharina 
habe beim Hinausgehen aus der «Brillantstube» mit Jelagin gespro¬ 
chen (npe BMXOjrfe H3*b dpHJwiaHTOBOfi). Hr. Polenow hatte so¬ 
dann auf die nach seiner Ansicht correktere Lesart bei Sswinjin «6hji- 
jiiapAHOft» (Billardzimmer) hingewiesen (s. «Russ. Archiv» 1867, 
S. 936). Gleichwohl heisst es in der Edition Hrn. Barssukow’s wie¬ 
derum «6pHJuiiaHTOBöfi», obgleich es sehr nahe liegt, dass das 
Billardzimmer gemeint ist. 

Am 7. September 1787 heisst es bei Gennadi: «das Manifest über 
den Krieg gegen die Türken unterschrieben und gedruckt am 9.». 
Bei Sswinjin heisst es unter 9. September: «das Manifest über den 
Krieg am 7. unterschrieben und heute gedruckt». Hr. Polenow 
hielt die letztere Lesart für die richtigere, «weil Chrapowitzkij am 
7. nicht notirt haben könne, was erst am 9. geschah». Bei Hrn. 
Barssukow heisst es trotzdem wieder unterm 7. September: «Das 
Manifest über den Krieg gegen die Türken unterschrieben, gedruckt 
am 9.». Jenes Argument Hrn. Polenow’s gegen diese letztere Les¬ 
art ist nicht stichhaltig genug, weil es sehr wohl denkbar ist, dass 
Katharina am 7. das Manifest unterschrieb und dabei beschlossen 
wurde, ein etwas späteres Datum, den 9., für den Druck darauf zu 
setzen. An und für sich indessen dürfte die Lesart bei Sswinjin wahr¬ 
scheinlich die correktere sein, und daher hätte bei der neuen Edition 
auf diesen Umstand wenigstens in einer Note hingewiesen werden 
müssen. 

Am 16. Juni 1788 schreibt Chrapowitzkij, Katharina habe beschlos¬ 
sen, den Admiral Greigh mit der Flotte bei Reval «aufzuhalten» 
(ocTaHOBHTb). So bei Gennadi und jetzt wieder bei Barssukow, ob¬ 
gleich die Sswinjin’sche Lesart «ocraBHTb» (Katharina werde Greigh 
mit der Flotte bei Reval verbleiben heissen) von Hrn. Polenow für 
correkter gehalten wurde. 

Ebenso heisst es bei Gennadi unterm 30. Mai 1786 «mejpnca». 
Hr. Polenow corrigirte nach Sswinjin «mejrac#», hat es aber ruhig 
geschehen lassen, dass Hr. Barssukow die nach der Ansicht des 
Hrn. Polenow falsche Lesart «mejrac*» ohne weitere Erläuterung 
stillschweigend wiederholte. 

Dass bei der letzteren Edition die früheren ignorirt wurden, scheint 
uns ferner auch aus folgendem Umstande hervorzugehen. 

Am 5. Juli 1786 schreibt Chrapowitzkij, es sei in Aussicht genom¬ 
menem Süden einen Landstrich zu erwerben, dessen «Areal etwa 
dem Herzog von Kurland gleichkäme». Es liegt auf der Hand, dass 


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s 



202 


hier nicht der Herzog, sondern das Herzogthum gemeint ist, und 
dass es sich um einen Schreibfehler handelt. Diese Vermuthung 
spricht Hr. Barssukow auch in einer Notiz aus, während er im Texte 
die Lesart «Herzog» abdruckt. Hätte er die früheren Editionen nach¬ 
geschlagen, so hätte er gefunden, dass, während bei Gennadi der¬ 
selbe Fehler sich findet, in der ersten Ausgabe «Herzogthum» steht. 

Die bisher angeführten Verschiedenheiten zwischen der ersten 
Edition und der jetzt von Hm. Barssukow veranstalteten dürfen hin¬ 
reichen, um die Annahme des Hm. Barssukow, dem Abdruck in den 
«Vaterländischen Memoiren» habe wahrscheinlich dieselbe Hand¬ 
schrift zu Grunde gelegen, welche Hr. Barssukow unter den Papie¬ 
ren des Fürsten Wjasemskij fand 1 , als sehr voreilig erscheinen zu 
lassen. Es ist Hrn. Barssukow gar nicht eingefallen, dass solche 
Annahmen ohne Beweisgründe unwissenschaftlich seien, und dass 
überhaupt derartige Fragen eine eingehende Untersuchung erfordern. 

Dass Hr. Sswinjin und Hr. Barssukow nicht dieselbe Handschrift in 
Händen hatten, scheint uns noch aus anderen Indicien hervorzuge¬ 
hen, auf welche wir kurz hinweisen wollen, ohne dass wir es unter¬ 
nähmen, die Frage von den Handschriften zu untersuchen. Hm. 
Barssukow’s Handschrift scheint, so viel man aus den beiden Editio¬ 
nen ersehen kann, im Ganzen sehr viel mehr Abkürzungen, nament¬ 
lich der Eigen-, Vater- und Familiennamen, zu enthalten, als die 
Handschrift des Hm. Sswinjin. In vielen Fällen ist die Art der Ab¬ 
kürzung eine andere. Hier und da, wenn auch relativ selten, ist in 
der Handschrift Hrn. Sswinjin’s bei den Namen eine grössere Zahl 
von Buchstaben ausgelassen, als in der Handschrift des Hrn. Barssu¬ 
kow. An einzelnen Stellen stimmt das Datum, d. h. die Angabe 
von Tag und Monat, in beiden Editionen nicht überein. Unbedeu¬ 
tende Differenzen hier und da, z. B. eine etwas veränderte Reihen¬ 
folge der Wörter, Hessen sich in sehr grosser Zahl auffuhren. 

Auch die Uebereinstimmung mit Hrn. Gennadi’s Edition fehlt in 
sehr vielen Fällen, und dies war ja auch eher zu erwarten, da nach 
der Aussage der Herausgeber Hr. Gennadi zwei Abschriften, Hr. Bar¬ 
ssukow eine «Originalhandschrift» besass. 

Eine Eigenthümlichkeit der zweiten Ausgabe, welche in den 
meisten Fällen sowohl der ersten, wie durchgängig der dritten fehlt, 
ist folgende: Hr. Gennadi bemerkt, dass alle vonChrapowitzkij wörtlich 
angeführten Aeusserungen der Kaiserin in den Zeichen « » einge- 

1 CraHbHirb nrfejrb bt» pyxaxi» no sceft räpomvocTH t j cavyio pyronacb, no koto* 
poft HanenaTaHO ■ Harne MSAaHie. 




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schlossen seien, und wir haben Grund zu der Annahme, dass Hr. 
Gennadi diese Zeichen schon in den von ihm benutzten Kopien des 
Tagebuches vorfand. In einem solchen Falle, über den Hr. Barssu- 
kow sich genauer hätte orientiren müssen, wäre es angemessener 
gewesen, diese in der zweiten Edition vorkommenden Zeichen, 
welche die Deutlichkeit des Inhalts sehr wesentlich erhöhen und 
ohne welche die Interpretation vieler Stellen sogar nicht unbeträcht¬ 
liche Schwierigkeiten darbietet, beizubehalten. Allerwenigstens hätte 
er dieser, die zweite Edition auszeichnenden Eigenthümlichkeiten 
erwähnen müssen. Die Sache ist um so erheblicher, als in dem 
ganzen Tagebuche kaum eine Seite zu finden sein dürfte, auf welcher 
nicht wenigstens eine wörtlich, besser mit solchen (« ») Zeichen zu 

versehende Aeusserung der Kaiserin zu finden wäre. In Hrn. Sswin- 
jin’s Edition sind wenigstens hier und da die Aeusserungen Katha¬ 
rina^ mit solchen Zeichen versehen, während Hrn. Barssukow’s 
Handschrift, wenigstens nach dem Druck derselben zu urtheilen, 
keine Spur davon aufweist. 

In dem Maasse, als die Namen in einzelnen Handschriften stark 
gekürzt sind, ist es nicht immer ganz leicht zu errathen, welche Per¬ 
sönlichkeiten, deren Name etwa nur mit Anfangsbuchstaben ange¬ 
deutet ist, gemeint sind. Nun giebt es Fälle, in denen die verschie¬ 
denen Editionen bei solchen Gelegenheiten, d. h. bei der Interpre¬ 
tation der Namen differiren. So heisst es in der ersten Edition un¬ 
term 7. August 1790, Katharina habe ein Schreiben des Fürsten 
Ligne beantwortet, in welchem davon die Rede gewesen, dass cK. 
IL* während des Feldzuges soviel Gepäck habe, dass er 100 Pferde 
bedürfe, um es fortzuschaffen, und ferner mehrere Wagen für die 
Schauspieler. Hr. Sswinjin hatte es unterlassen, Vermuthungen dar¬ 
über anzustellen, wer hierunter eK. TI.» gemeint sei. Hr. Gennadi 
hat hier statt einzelner Buchstaben vollständig ausgeschrieben 
«Kh£ 3£ üoTeMKHHa». In der neuesten Edition des Hrn. Barssukow 
nun finden wir zu unserem Erstaunen «Kop. np.», so dass hiernach 
nicht der Fürst Potemkin gemeint ist, sondern der König von 
Preussen, Friedrich Wilhelm II. 

Dass bei einer so bedeutenden Verschiedenheit der Lesarten, 
wenn es sich um so hervorragende Zeitgenossen der Kaiserin han¬ 
delt, die neuesten Herausgeber des Tagebuches, Hr. Barssukow 
und Hr. Polenow, nicht mit einem Worte einer solchen Verschie¬ 
denheit erwähnen, dass sie es für nicht nöthig gehalten haben, 
Gründe dafür anzugeben, warum sie die in der letzten Edition mit- 


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204 


getheilte Redaktion fiir die correktere halten, dass sie vielleicht eine 
solche Verschiedenheit der Lesarten nicht einmal wahrgenommen 
haben, zeugt von nicht geringer Leichtfertigkeit bei Veranstaltung 
der Edition. 

In solchen Fällen ist die Beschaffenheit der Handschrift, hier z. B. 
das Maass der Originalität der Handschrift, ein nicht unwesentliches 
Argument, um der einen oder der anderen Lesart den Vorzug zu 
geben. Da die Herausgeber nun über die Handschrift selbst nichts 
Eingehenderes mittheilen und, wie oben bemerkt, u. A. die Frage 
nicht erörtern, ob wir es hier mit dem eigentlichen Tagebuche oder 
mit einer Abschrift desselben zu thun haben, so sind wir bei der 
Erörterung, ob hier von Potemkin oder von dem preussischen 
Könige die Rede ist, auf die Interpretation des Textes angewiesen. 
Wir gestehen, dass es nicht leicht ist, hier ins Klare zu kommen. 
Im Jahre 1790 war Potemkin im Süden als Feldherr thätig, während 
der König von Preussen in jener Zeit keinen Krieg zu fuhren hatte. 
Auch der Umstand, dass der Fürst von Ligne, wie wir aus vielen 
seiner Briefe wissen, gern und viel über Potemkin schrieb und den¬ 
selben als Sybariten tadelte, über denselben zu spotten liebte, lässt 
es wahrscheinlich erscheinen, dass hier von Potemkin die Rede 
ist, von dem Luxus, mit welchem Katharina’s ehemaliger Günstling 
sich auch in Kriegszeiten zu umgeben pflegte. Folgende Momente 
indessen lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass nicht Potemkin, 
sondern der König von Preussen gemeint ist. Zunächst ist es nicht 
wahrscheinlich, dass der Fürst von Ligne in einem Schreiben an die 
Kaiserin ihren Feldherrn hätte lächerlich machen wollen; zweitens 
ist es jener Notiz zufolge wahrscheinlicher, dass Katharina die 
Nachricht von den hundert Pferden u. s. w. dem Fürsten Ligne mit- 
getheilt habe und in einem solchen Falle ist nicht leicht anzunehmen, 
dass Katharina den Fürsten Potemkin zur Zielscheibe ihres Witzes 
gemacht habe; drittens kann ja die Kaiserin des Feldzuges erwähnt 
haben, den Friedrich Wilhelm II., über welchen sie sonst in dieser 
Zeit häufig spottete, ein paar Jahre zuvor in Holland mitgemacht 
hatte; endlich ist die unmittelbar darauf folgende Aeusserung, der 
Betreffende sei vierzig Jahr alt geworden *pour etre mene par un 
parvenu» viel eher auf Friedrich Wilhelm II., als auf Potemkin zu 
beziehen, weil der letztere damals (im Jahre 1790) bereits 54 Jahre, 
der erstere ungefähr zehn Jahre jünger war, und weil Potemkin 
selbst ein Parvenu war, während der König von Preussen sich damals 
in der That von Parvenu's leiten liess, so dass unter dem in Rede ste- 




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henden Parvenü Bischofswerder oder noch eher der ehemalige Pfarrer 
Möllner gemeint gewesen sein kann. 

Wir verweilten bei diesem Punkte, um dadurch anzudeuten, wie 
etwa in solchen zweifelhaften Fällen bei Verschiedenheit der Les¬ 
arten der Herausgeber nach der correkteren Lesart zu suchen habe, 
wie bei derartigen Gelegenheiten eine Textkritik, ein wenn auch 
kurzer, den Text begleitender Commentar unerlässlich sei und — 
wie von alledem sich in der von Hm. Barssukow veranstalteten Edi¬ 
tion nichts findet. 

Entweder der Inhalt des Tagebuches gilt für unbedeutend oder 
die darin enthaltenen Bemerkungen haben einen Werth. In dem letz, 
teren Falle ist Exactheit, Correktheit bei der Edition die erste For¬ 
derung. Wir müssen wissen, von wem in dem Tagebuche die Rede 
ist. Es ist -nicht gleichgültig, ob unterm 25. März 1788 die Lesart 
«Potatschkin», welche in den Editionen des Hm. Gennadi und 
Barssukow sich finden richtig ist oder ob die Vermuthung Hm. Po- 
lenow’s (s. «Russisches Archiv» 1867,8.930), es müsse hier«Potemkin» 
stehen, wie beiSswinjin auch in der That «Potemkin»’steht, Grund hat 
oder nicht. Es ist nicht gleichgültig, ob der Banquier, von welchem 
am 30. März 1788 die Rede ist, «Purton» heisst (Gennadi und 
Barssukow) oder «Thomton» (Sswinjin). Es ist nicht gleichgültig, 
ob am 28. November 1788 von dem Fürsten Prosorowskij die Rede 
ist (bei Sswinjin «K. II.», bei Gennadi «Khä3ä no3opoBcxaro» oder 
von dem Könige von Preussen, wie Hr. Barssukow vermuthet (K. np. 
durch Hrn. Barssukow ergänzt in «Kopojix npyccicaro»). Es ist 
nicht gleichgültig, ob am 29. December 1788 die Kaiserin gemeint 
ist («Ex Bejm^ecTBa» bei Gennadi) oder der Grossfürst Paul («Ero 
B-Ba» bei Sswinjin und Barssukow); ob am 7. Januar 1789 vom Grafen 
Miloradowitsch die Rede ist (Gennadi) oder vom Grafen Dmitrijew 
Mamonow (Sswinjin und Barssukow). Hätten die Herausgeber mehr 
Interesse flir die Details im Tagebuche und mehr Kenntniss von 
der Zeitgeschichte, so hätten sie u. A. auf folgende Verschiedenheit 
der Lesart aufmerksam gemacht. In der dritten Ausgabe notirt 
Chrapowitzkij am 12. September 1790, die Kaiserin habe ihm mit 
Entrüstung mitgetheilt, Gustaf III. habe die Absicht, mehrere 
Officiere, darunter Hastesko und Otter hinrichten zu lassen. In den 
beiden früheren Editionen sind gar keine Namen der Hinzurich¬ 
tenden genannt, sondern nur zwei Anfangsbuchstaben «H. E.», 
wobei es naheliegt in dem *E.» den Anfangsbuchstaben von «Jäger¬ 
horn »(Erepropm>) zu erblicken, oder auch von »Enehjelm», welcher 


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20 6 


übrigens im Russischen «3HeriejiMi>» geschrieben wird. Hastesko 
wurde in der That hingerichtet, Otter zum Tode verurtheilt, begna¬ 
digt und auf seinem Gute internirt, Enehjelm ebenfalls zum Tode 
verurtheilt, aber begnadigt und ins Gefängniss gesperrt. Jägerhorn 
konnte nicht bestraft werden, weil er nach Russland geflohen war. 
Diese Einzelnheiten haben für die Herausgeber freilich kein Inter¬ 
esse. Sie haben die Verschiedenheit der Lesarten nicht gemerkt, 
und auch in dem sonst von einer Menge biographischer Notizen 
wimmelnden alphabetischen Register, welches stellweise den Cha¬ 
rakter eines Commentar’s hat, ist gar nicht erwähnt, dass Hastesko 
und Otter auf der betreffenden (347) Seite Vorkommen. 

Wir wollen gerecht sein und es dankbar anerkennen, wenn offen¬ 
bar incorrekte Lesarten der zweiten Edition in manchen Fällen bei 
der dritten Edition vermieden und durch richtigere ersetzt werden. 
So z. B. ist am 9. December 1788 «KoMeAÜi* (bei Barssukow und 
Sswinjin) richtig als «Kommhccui* (Gennadi) falsch; am 29. Juni 1788 
«rpeÖHMXi»* (Barssukow und Sswinjin) richtig, «yneÖHMxi»» (bei 
Gennadi) falsch. In der zweiten Ausgabe sind am 7. Mai 1789 
dreissigSchiffe erwähnt, in der dritten steht das Richtige «dreizehn*. 
Das «He jierxo* der zweiten Ausgabe am 7. Mai 1793 ist offenbar 
nicht correkt; in der dritten steht richtig «HeJiOBKO*. Hierund 
da, wo eine fehlerhafte Interpunktion in der zweiten Ausgabe den 
Sinn entstellt oder wenigstens verdunkelt hatte, findet sich in der 
dritten eine correkte Interpunktion u. s. w.; aber wir glauben kaum, 
dass eine solche grössere Correktheit der dritten Edition eine Frucht 
sei der Vergleichung der Handschrift mit den früheren Ausgaben, 
ein Ergebniss der lobenswerthen Akribie, welche Hr. Polenow vor 
sieben Jahren bei dem Herunterreissen von Hrn. Gennadij Arbeit an 
den Tag legte, sondern einfach die Folge des glücklichen Zufalls, 
dass die Handschrift, welche sich unter den Papieren des Fürsten 
Wjasemskij fand, in Bezug auf vielen Stellen correkter ist, als die 
Handschriften, welche Hrn. Gennadijs Edition zu Grunde lagen. 

Wir müssen ebenso gerecht sein gegen Hrn. Gennadi und aner¬ 
kennen, dass seine Edition in Bezug auf manche Stellen correkter 
ist, als diejenige des Hrn. Barssukow. Wenn es z. B. unterm 
20. April 1788 heisst, es werde bald «CojnraHCKifl KapasaHi» ch xi'fe- 
6omi>» ankommen, (bei Hrn. Barssukow), so haben wir mehr Zu¬ 
trauen zu der Lesart bei Hrn. Gennadi «KojimracKift», weil uns ein 
Ort «Ssolpino* nicht bekannt ist, wohl aber ein Ort «Kolpino*. 
Am 5. September 1790 ereignet es sich, dass Chrapowitzkij im 



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207 


Gespräch mit der Kaiserin derselben bemerkt, Graf Saltikow warte 
im Nebenzimmer, worauf die Kaiserin, wie in der zweiten Edition 
bemerkt ist, plötzlich stille schwieg (cmojikhyjih), im Gespräch inne¬ 
hielt« In der dritten Edition steht «hmkim», was Hr. Barssukow 
durch Hinzufügung der Vokale ergänzt zu «HMOKHyjiH», als habe 
die Kaiserin bei der Meldung des Grafen Saltykow «geschnalzt». 
Es liegt auf der Hand, dass letzteres nicht so nahe lag als ersteres, 
und wir würden bis auf weiteres der Lesart «cMOJiiCHyjiH» den Vor¬ 
zug geben. 

So sind wir denn nicht in der Lage, die Edition des Hrn. Barssukow 
als eine vollständigere, correktere, als eine solche bezeichnen zu kön¬ 
nen, wie der Mitarbeiter des Hrn. Barssukow, Hr.Polenow, eine solche 
veranstaltet wissen wollte. Hr. Polenow hat wiederum Veranlassung, 
sein schmerzliches Bedauern darüber auszusprechen, dass man mit 
so werthvollen historischen Quellen so leichtsinnig umspringe, nur 
ist er leider diesmal selbst der Schuldige und müsste in dem Masse 
über sich selbst zu Gerichte sitzen, als Hr. Barssukow mit seiner 
Behauptung Recht hat, dass Hr. Polenow die Leitung der Arbeiten 
bei der Edition (pyxoBOAHTb H3AaHieMi>) übernommen habe. 

Aber Hr. Polenow hatte ja, wie wir uns erinneren, nicht bloss 
die ungenügende Herausgabe des Textes durch Hrn. Gennadi zu ta¬ 
deln, sondern auch den Commentar, welchen, nach der Ansicht des 
Hrn. Polenow, Hr. Gennadi unvollständig, incorrekt und ohne redak¬ 
tionellen Text angefertigt haben sollte. 

Sehen wir zu, ob Hr. Barssukow mit seinem Commentar, der 
denn doch wohl ebenfalls mit Hülfe des Hrn. Polenow zusammen¬ 
gestellt wurde, das Richtige getroffen und den Anforderungen, 
welche Hr. Polenow an solche Arbeiten stellt, entsprochen habe. 

Hr. Polenow bemerkt, historische, biographische und bibliogra¬ 
phische Notizen seien sehr nützlich, aber die Bemerkungen, welche 
Hr. Gennadi als Commentar dem Tagebuche Chrapowitzkij’s beige¬ 
fügt habe, beständen fast ausschliesslich in einer grossen Menge 
von Daten darüber, wann die in dem Tagebuche vorkommenden 
Personen geboren und gestorben seien und welchen Rang sie gehabt 
hätten. Solchen Commentar hält also Hr. Polenow für nicht aus¬ 
reichend, für nicht «derSache entsprechend» («HcnojmeHie He OTB'fc- 
naerh A'hJiy», s. «Russ. Archiv» 1867. S. 921). Am Schlüsse seiner 
Abhandlung fordert Hr. Polenow derl Herausgeber der zweiten 
Ausgabe auf, eine neue Edition zu veranstalten und bei dem Com¬ 
mentar für dieselbe sich die Art und Weise zum Muster zu wählen, 




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208 


in welcher der Akademiker Grot seine Edition der Werke Der- 
shawin's mit einem Commentar versehen habe. Dieser letztere Rath 
ist ganz vortrefflich und man hätte auch Hrn. Barssukow keinen 
besseren geben könnenf weil in der That aus den Arbeiten des 
Hrn. Grot sehr viel zu lernen ist. Um so auffallender ist es, dass 
Hr. Polenow, welcher doch die Arbeit des Hrn. Barssukow geleitet 
haben soll, wie es scheint, den vor sieben Jahren dem Hrn. Gennadi 
ertheilten Rath dem neuesten Herausgeber zu geben vergessen hat. 
Wenn Hr. Barssukow nach dem Muster der Arbeiten Grot’s sein 
«Erläuterndes Register* geschrieben hätte — wie ganz anders hätte 
dasselbe ausfallen müssen. 

Zunächst ist die Absicht der neuesten Herausgeber nicht deutlich 
zu erkennen. Was wollten sie mit dem « 06 *bHCHHTejibHMß yicaaa- 
Tejib* bezwecken? Es handelte sich um die Abfassung und Zusam¬ 
menstellung eines commentirenden Registers. Alphabetisch geord¬ 
net erscheinen hier Namen, welche im Tagebuche Vorkommen, mit 
einigen erläuternden Bemerkungen versehen. Die Herausgeber 
haben sich darauf beschränkt, nur die Namen von Personen, Orten 
oder Flüssen und Theaterstücken oder anderen literarischen Erzeug¬ 
nissen in das Register aufzunehmen. Alle anderen Gegenstände 
sind ausgeschlossen. Ausnahmsweise werden einzelne Völkerschaften, 
wie z. B. «Chinesen* mit dem Commentar «ein Volk* im Register 
erwähnt, während viele andere Völker, die im Tagebuche Vorkom¬ 
men, im Register fehlen. Von Volksschulen ist einmal die Rede 
und im Register ist denn auch der «uiko^m HapOAHbia* erwähnt; 
wenn aber im Tagebuche vom Sektenwesen die Rede ist, so suchen 
wir im Register «pacKOJTb* vergebens; einzelner öffentlicher An¬ 
stalten und Behörden, wie der Assignationsbank, des Synods, des 
Reichsraths ist im Register erwähnt, anderer nicht, wie z. B. des 
Theaters, der Namen einzelner Regimenter, der Bezeichnungen 
mancher Zweige des Finanzwesens. Es fehlte offenbar an leitenden 
Gesichtspunkten, nach denen das Register zusammengestellt wurde. 
Der Zufall entschied, ob etwas im Register erwähnt wurde oder 
nicht, oder ob der betreffende Gegenstand im Register bloss 
erwähnt oder auch mehr oder minder weitläufig erläutert werden 
sollte. Eine solche Ungleichartigkeit des Commentars ist sehr 
auffallend. Es ist z. B. nicht abzusehen, warum Voltaire im Register 
vorkommt und Shakespeare nicht, warum Voltaire ohne allen 
Commentar geblieben ist, während Grimm's Bedeutung mit 
einigen Reden erläutert wird. Es ist denn doch nur Zufall, dass 



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209 


«Hogarth» im Register vorkommt, der «Don Quixote» nicht, wäh¬ 
rend die Dichtung Cervantes’ Katharina in ebenderselben Weise in- 
teressirte, wie Moli&re’s Stück «les femmes savantes» oder^Richard- 
son’s «Clarissa», welche Dichtungen im Register Vorkommen. Was 
veranlasste Hrn. Barssukow, den Namen des schwedischen Officiers 
«Wachtmeister* mit einem Commentar zu versehen, und die Namen 
mehrerer anderer wichtigerer schwedischer Oßiciere, wie z. B. «Jäger- 
horn’s», «Hastfehr’s» u. A.ohne allen Commentar zu lassen? - Warum 
ist bei Gelegenheit «Boltin’s» eine mehrere Seiten lange Abhand¬ 
lung erforderlich gewesen, während der in ganz ähnlicher Weise 
bedeutende Historiker «Schtscherbatow» ganz kurz abgefertigt 
wird? — Bei Gelegenheit des Vorfalles mit «Walz» geht der Com¬ 
mentar so weit, dass mehrere Aktenstücke abgedruckt werden, 
während des Vorfalles mit «Radischtschew» ganz kurz erwähnt wird. 
Es ist eine Willkür, einzelne biographische Notizen zu sehr langen 
und mit einem umfassenden gelehrten Apparate versehenen Mono¬ 
graphien auszudehnen, wie dies z. B. mit «Kamenskij», «Mussin- 
Puschkin», «Soritsch», «Sanowitsch» u. A. vorkommt, während an¬ 
dere an Bedeutung sowohl in der Geschichte als auch im Tagebuche 
den Ebengenannten entsprechende Personen nur eben genannt 
sind, ohne allen Commentar. «Potemkin’s» ganze Biographie ist 
ausführlich erzählt. In der Bemerkung über «Rumjanzow* fehlt die 
Biographie völlig. Es ist sehr lobenswerth, wenn bei den Erläute¬ 
rungen in Betreff einzelner Personen bemerkt wird, in welchem Zu¬ 
sammenhänge ihre Namen im Tagebuche Vorkommen, wie dies z. B. 
bei «Besborodko», «Bruce», «Wjasemskij* geschieht. Warum 
ist aber in den meisten Fällen von einer solchen Art Commentar 
oder Register abgesehen, wie z. B. bei «Woronzow», «Nassau- 
Siegen», «Sprengtporten» u. s. w., bei denen nur die Seitenzahlen 
ohne alle Erläuterung bemerkt sind. Bald ist bei den Commentaren 
die betreffende historische Literatur citirt, bald nicht. So finden 
sich bei einem acht Seiten langen Commentar über den einen Grafen 
Mussin-Puschkin, von welchem im Tagebuch nur zweimal und in 
ganz untergeordneter Weise die Rede ist, über ein Dutzend litera¬ 
rischer Hinweise, während der andere Graf Mussin-Puschkin, der 
einige Dutzend Mal im Tagebuche vorkommt, als Befehlshaber der 
russischen Truppen in Finland eine sehr grosse, wenn auch keine 
sehr glückliche Rolle spielt, so gut wie ohne allen Commentar ge¬ 
blieben ist, als gebe es in Betreff seiner gar keine historische Lite¬ 
ratur. Bei «Brienne» ist Schlosser citirt, bei «Colonne», welcher 
sehr eigenthümlicher Weise als «Verwalter der Staatseinnahmen» 


Rom. Rem«. B4. VII. 


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«4 





210 


(— warum nicht auch der Staatsausgaben? —) bezeichnet ist, hat 
es unnöthig geschienen, sich auf Schlosser oder sonst eine derartige 
Autorität zu berufen. Dazwischen ist der Commentar ein ganz ein¬ 
seitiger und ganz willkürlich bei Einzelnheiten stehen bleibender, 
welche ausser allem Zusammenhänge mit dem Tagebuche stehen. 
So werden von «Kretschetnikow» ganz unnützerweise mehrere 
Anekdoten erzählt, so ist in dem Commentar zu «Dershawin» ganz 
ausschliesslich von dessen Gute Swanka die Rede, ohne dass dieses 
Gutes im Tagebuche erwähnt worden wäre. 

Ueberhaupt nimmt der Commentar so gut wie gar nicht Rück¬ 
sicht auf den Inhalt des Tagebuches, verdient also gar nicht den 
Namen eines solchen. Wir erfahren in den seltensten Fällen etwas 
über die Situation, in welcher sich die Person, derer im Tage¬ 
buche erwähnt ist, gerade damals befunden, dagegen allerlei Dinge, 
welche bei der Lectüre des Tagebuches gar keine oder nur unter¬ 
geordnetes Interesse haben oder auch sich selbst verstehen oder 
ganz bekannt sind. Was soll man vom Standpunkte Hrn. Polenow’s, 
welcher den Commentar des Hrn. Gennadi so streng tadelte, davon 
halten, dass uns von Hrn. Barssukow sehr genau mitgetheilt wird, 
wann Peter der Grosse geboren und gestorben, und dass Katharina I. 
seine Gemahlin gewesen sei u. dgl. m., während z. B. der Frieden 
von «Werelä», dessen doch (aufS. 343—345) sehr ausführlich im 
Tagebuche erwähnt ist, nur darum im «Erläuternden Verzeichniss» 
fehlt, weil zufällig der Name des Ortes «Werelä» im Tagebuche 
nicht vorkommt. Wenn von «Alcibiades» die Rede, so setzt Hr. Bar¬ 
ssukow diesen Gegenstand als bekannt voraus, bei dem Kaiser 
«Alexander I.» hält er es aber für nöthig hinzuzufügen, dass der¬ 
selbe 1777 geboren, am 11. März 1801 zur Regierung gekommen, 
am 15. September 1801 in der Uspensky-Kathedrale gekrönt und 
in Taganrog am 19. November 1825 gestorben sei. Dass «Abo» 
eine Stadt in Finland sei, wird ausdrücklich bemerkt, die Lage 
von Archangelsk dagegen wird als bekannt vorausgesetzt Von 
«Bender» wird vorausgesetzt, dass die Leser in der Lage sind, sich 
darüber belehren lassen zu müssen, dass dieser Ort eine Kreisstadt 
und eine Festung in Bessarabien sei; was «Baghtschissarai» sei, 
muss der Leser auch ohne Commentar wissen und daher fehlt jede 
Erläuterung. Bei «Walk» findet sich die gelehrte Notiz, dass diese 
Stadt 1343 gegründet sei, während bei allen anderen Städten, die er¬ 
wähnt sind, gar keine historischen Notizen Vorkommen. «Otscha- 
kow», die Festung, von welcher monatelang im Tagebuche fort¬ 
während die Rede ist, dessen Belagerung und Einnahme das wich- 


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211 


* tigste Ereigniss des türkischen Krieges war, ist im «erläuternden« 
Register nur mit den Worten «erläutert», dass es gegenwärtig eine 
ausseretatmässige Stadt des Odessaer Kreises sei, wie denn über¬ 
haupt bei so wichtigen, d. h. in dem Tagebuche eine so grosse 
Rolle spielenden Orten wie «Fredrikshamm», «Nystatt», «Ismail», 
«Kinburn», «Metschin» u. s. w. von einem Commentar völlig abge¬ 
sehen wurde, während zufälligerweise «Kijew» ganz angemessen, mit 
Rücksicht auf das Tagebuch mit einigen Bemerkungen aus den 
Briefen Katharina’s über ihren Aufenthalt daselbst versehen ist. 
Warum Cagliostro im Commentar vorkommt, Saint-Germain aber, 
der eine ganz analoge Bedeutung hat, nicht, ist nicht abzusehen. 
Dass Hästesko und Otter auf S. 347 Vorkommen, ist im Register 
vielleicht darum zu bemerken vergessen, weil ihre Namen diesmal 
im Tagebuche mit lateinischen Lettern gedruckt sind; aber der 
Zusammenhang, in welchem sie erwähnt sind, ist sehr wichtig. 

Statt den Text des Tagebuches zu «erläutern», giebt Hr. Bar- 
ssukow im Commentar dazwischen auch solche Details zum Besten, 
welche in direktem Widerspruche mit dem Tagebuche stehen. Wäh¬ 
rend z.B. imTagebuche von «Alexejew» mehrmals erwähnt ist, seine 
Ehrlichkeit sei stark zu bezweifeln, er sei bestechlich u. s. w., findet 
sich im Register gerade viel Rühmens von der Ehrlichkeit dieses Man¬ 
nes. Während Katharina II. sich sehr schroff über gewisse recht 
schlechte Eigenschaften des Metropoliten Platon lustig macht, wird 
der Letztere im Register als Geschichtsforscher geschildert. 

So erscheint denn der Commentar wie von Jemand verfasst, der 
das Tagebuch nie gelesen, geschweige denn dasselbe herausge¬ 
geben habe. Das «erläuternde Register» ist nur Register und nur 
ausnahmsweise erläuternd. Hr. Polenow lobt mit Recht die von 
Hm. Grot verfassten Commentare zu Dershawin’s Schriften, weil 
«dieselben ein lebendiges Bild jener Zeit enthalten, in deren Der- 
shawin schrieb». Im Gegensätze hierzu erfahren wir aus dem von 
Hm. Barssukow dem Tagebuche beigegebenen Commentar so gut 
wie gar nichts über die Ereignisse, deren im Tagebuche erwähnt 
ist. Kein Gegenstand ist im Tagebuche mit so grosser Ausführlich¬ 
keit behandelt, wie der Krieg mit Schweden 1788— 179 °* Hätte 
Hr. Barssukow sich nach Hm. Grot’s Beispiel richten wollen und 
können, so wäre seine erste Aufgabe gewesen, sich mit der Geschichte 
dieses Krieges bekannt zu machen, aber aus der Gleichgültigkeit, 
mit welcher Hr. Barssukow an den Hauptpersonen, die in diesen 
Ereignissen mitspielen, u. A. an den Mitgliedern der Conföderation 
von Anjala in seinem Commentar vorübergeht, lässt es wahrschein- 

14* 




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212 


lieh erscheinen, das9 die Hauptereignisse des Krieges ihm ganz un¬ 
bekannt sind. Eine mit Hm. Grot*s historischer Bildung auch nur 
entfernt zu vergleichende geht Hm. Barssukow ab. Er würde sonst 
wohl schwerlich in dem Commentar über «Lucchesini» Hrn. Kosto- 
marow als Autorität citiren oder bei Joh. Jak. Sievers ebenfalls sich 
auf Hrn. Kostomarow’s Urtheil berufen, statt das klassische Werk 
Blum’s anzuführen. Es ist denn doch der Unkenntniss der Ge¬ 
schichte der Beziehungen Russlands zu Schweden zuzuschreiben, 
wenn Hr. Barssukow «Sprengtporten» erst im Jahre 1788 in russi¬ 
sche Dienste treten lässt, während derselbe bereits im Herbst des 
Jahres 1786 in St. Petersburg erschien und russischer Oberst wurde. 
Von dem bairischen Erbfolgekriege scheint Hr. Barssukow nie ge¬ 
hört zu haben, da er in der Notiz über den Teschener Congress, 
den er fälschlicherweise in das Jahr 1778 setzt, während derselbe 
erst im Jahr 1779 abgeschlossen wurde, bemerkt, dieser Congress 
sei durch den Tod des Kurfürsten von Baiern veranlasst worden. 
Beschränkte sich nun auch der sogenannte «Kartoffelkrieg» wesent¬ 
lich auf strategische Bewegungen und unbedeutende Plänkeleien, so 
verflossen doch von dem Tode Maximilian Joseph ’s bis zum Frieden 
sechszehn Monate, und dieser Ereignisse hätte denn doch wenn 
auch mit zwei Worten erwähnt werden müssen. 

Recht unterhaltend ist folgende Notiz des Hrn. Barssukow. Im 
Tagebuche ist der Kriegsereignisse im Süden von Finland erwähnt 
(im Sommer 1788, s. S. 107) «es seien u. A. bei Likala und Walkes 
Brücken geschlagen». Im Register steht nun «Likala» ohne allen 
Commentar und von tWalkes» ist bemerkt, es sei eigentlich «Walk», 
«eine Stadt im Wenden’schen Kreise des Gouvernements Livland». 
Hätte der Herausgeber bei Abfassung der Notiz auch nur einen 
Blick in das Tagebuch geworfen, er hätte sich überzeugen müssen, 
dass gar kein Grund vorlag «Walkes» in «Walk» zu verwandeln, 
und dass es ganz unmöglich war, den Kriegsschauplatz plötzlich aus 
Finland nach Livland zu verlegen. 

Wäre ferner Hr. Barssukow mit den Ereignissen des türkischen 
Krieges (1787 ff.) auch nur einigermassen vertraut, so hätte er bei 
«Kinburn» eine etwas vernünftigere Notiz gemacht, als dass «Kin- 
burn 350 Werst nordwestlich von Ssimferopol liege». Die Entfer¬ 
nung von Ssimferopol, welches damals eine ganz unbedeutende 
oder vielmehr während des Krieges gar keine Rolle spielte, ist von 
gar keinem Interesse, auch ist denn nicht abzusehen, warum 
Hr. Barssukow nicht bemerkte, dass etwa Odessa südwestlich oder 
Balta nordwestlich von Kinburn liege u. dgl. In einer erläuternden 


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213 


Bemerkung über «Kinbum» hätte durchaus des blutigen Treffens 
erwähnt werden müssen, welches hier stattfand. Die Notiz, dass 
«Ssewastopol« <jetzt> (HMHi) eine Festung sei, ist ebenfalls auffallend: 
Ssewastopol ist viel eher in dem Jahre 1787, in welchem dieses Ortes 
erwähnt wird, eine Festung gewesen, als gegenwärtig. «Maria 
Theresia» als «Kaiserin des heiligen Römischen Reiches» zu bezeich¬ 
nen ist falsch: sie war nur die Gemahlin des Kaisers, aber eine 
eigentliche «Kaiserin des heiligen Römischen Reiches» hat es nie 
gegeben und konnte es nicht geben. Sehr originell ist der sehr la¬ 
konische Commentar «eine Jungfrau» (A’fcBima) für Fräulein von Voss, 
deren Verhältniss zum Könige Friedrich Wilhelm II. im Tagebuche 
wiederholt erwähnt wird. 

S. 347 ist im Tagebuch einer opera buffa erwähnt. Allerdings 
stand in den Handschriften «onepa Byoa». Aus der Notiz im Re¬ 
gister geht hervor, dass Hr. Barssukow annimmt, es habe eine Oper 
gegeben, deren Titel so geheissen habe, oder deren Componist ein 
«Hr. Buff» gewesen sei. 

S. 289 ist im Tagebuche eines Banquiers Ludwig erwähnt, welcher 
der Regierung einen Entwurf zur Regulirung schiffbarer Flüsse ein¬ 
gereicht hatte. Im Tagebuche ist nun offenbar ein Druckfehler, in¬ 
dem statt «Banquier», «Bankrott» gesagt ist. In der zweiten Aus. 
gäbe steht «Ludwig & Comp.» ohne das Wort Banquier oder 
Bankrott. Obgleich nun das letztere Wort hier keinen Sinn hat, 
wiederholt Hr. Barssukow im Commentar: «Ludwig, Bankrott, reicht 
einen Entwurf ein» u. s. w. Entweder ist das Gedankenlosigkeit 
oder Unkenntniss der Bedeutung des Wortes Bankrott. 

Von grosser Nachlässigkeit und Unbildung, sowie von totalem 
Mangel an redaktionellem Takt zeugt die unzählige, viel vorkom¬ 
mende incorrekte Schreibweise von Namen. So steht im Tage¬ 
buche ganz richtig «Tawasthus», im Commentar «TaBacnycTB»» 
im Text ganz richtig «Spielmann», im Commentar «Spilmann». Ist 
im Tagebuche die Schreibweise falsch, so bleibt sie im Commentar 
unberücksichtigt, was ein Versäumniss ist. So heisst es «Ke$a» 
statt «Kaffe», «AxTMeren>* statt «AKMeren>», «Serre-Capriob» statt 
«Serre-Capriola», «Likolo» statt «Likala» u. s. w. Inconsequent ist 
es, im Commentar bald «roxxaHAi»» (S. 469) bald «rorjiaHAi»* (S. 
506) zu schreiben; Baron Bühler wird nicht mit zwei A geschrieben, 
wie Hr. Barssukow es S. 471 thut, sondern mit einem . S. 276 darf 
es nicht «Gordt» heissen, sondern «Hordt», wie auf S. 186 der zwei¬ 
ten Ausgabe auch ganz correkt steht. S. 471 darf Halle im Ablativ 


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214 


nicht «rajurfc» heissen, weil das Wort im Russischen sich überhaupt 
nicht dekliniren lässt. Der Instrumentalis «EesöopoAKoft» (S. 529) 
ist ebenfalls nicht correkt. 

Endlich ist nur zu deutlich zu ersehen, dass Hrn. Barssukow die 
Kenntniss des Französischen völlig abgeht. In dem Tagebuche 
kommt eine sehr grosse Zahl (nahezu 300) französischer Phrasen vor. 
Davon sind nicht weniger als etwa 60 mit Fehlern abgedruckt 
Wenn man auch einwenden könnte, dass in jener Zeit, wo die Kaise¬ 
rin selbst in der französischen Orthographie sehr viele Fehler zu 
machen pflegte, auch Chrapowitzkij schwerlich correktes Franzö¬ 
sisch wird geschrieben haben, so kommen doch immerhin sehr viele 
Fehler unter allen Umständen nicht auf Rechnung des Geheimschrei¬ 
bers der Kaiserin, sondern durchaus auf Rechnnng des Herausge¬ 
bers, so z. B. S. 154 «surpendre» statt «suspendre», S. 191 «disent» 
statt «disait». S. 243 «C’est des grands enfants» statt «Ce sont des 
grands enfants», S. 533 «Montesquoi» statt «Montesquiou», S. 526 
«Mo» statt «Mr». Aehnliche Fehler im Lateinischen. S. 342: 
«Imperat non regis» statt «imperas» oder statt «regit» u. dgl. 

Wir stehen nicht an, zu behaupten, dass Hm. Gennadijs Edition 
diejenige des Hrn. Barssukow in vieler Hinsicht, u. A. in Bezug auf 
das Französische, an Correktheit übertrifft; ja uns will scheinen, 
dass der Commentar des Hrn. Gennadi sehr viel taktvoller und ange¬ 
messener redigirt ist, als jenes gegen 180 Seiten umfassende erläu¬ 
ternde Register des Hrn. Barssukow. 

Einen Vorzug der Edition des Letzteren müssen wir hervorheben. 
Es ist die dem Tagebuche vorausgeschickte kurze Lebensbeschrei¬ 
bung Chrapowitzkij’s, welcher auch ein Bildniss des Geheimschrei¬ 
bers in Holzschnitt beigegeben ist. Ein anderer Vorzug besteht 
darin, dass auf jeder Seite des Tagebuches oben Monat und Jahres¬ 
zahl bezeichnet stehen, was das Nachschlagen in demselben Maasse 
erleichtert, als dasselbe in den früheren Editionen, zumal bei Sswin- 
jin, mit grossem Zeitverluste verbunden ist. 

Als vor sieben Jahren Hr. Polenow die Edition des Hrn. Gennadi 
tadelte, machte er am Schlüsse seiner Abhandlung dem Herausgeber 
den Vorschlag, seine Fehler durch eine neue Edition gutzumachen. 
Wir sind leider nicht in der Lage, den neuesten Herausgebern einen 
ähnlichen Vorschlag zu machen. Wir wünschen, dass, falls eine 
vierte Edition veranstaltet werden sollte, diese Aufgabe besseren 
Kräften anvertraut werde, als denjenigen des Hrn. Barssukow und 
des Hrn. Polenow. A. BRÜCKNER. 


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Das rassische Geldwesen während der Finanzrer- 
waltnng des Grafen Cancrin (1823—1844). 

Eine finanzhistorische Studie 
von 

Dr. Alfred Schmidt 

(Schluss.) 

Dritter Abschnitt. 

Gesetze und Verordnungen das Geldwesen betreffend, welche von 1823-1844 

publicirt worden sind. 

Die Zusammenstellung ist auf Grundlage der «Vollständigen 
Sammlung aller Gesetze» (IlojiHoe coöpame saitoHOBi») geschehen. 

A. Die klingende Münze. 

1 8 2 4 . 

Nr. 30,042*. —Den 31. August. Senatsbefehl: Ueber die Mass- 
regeln gegen den Umlauf ausländischer Scheidemünze. < 

Seit 1813 existirte das Verbot des Umlaufs, doch war es bisher 
fast ohne Wirkung geblieben. Es sollte daher jetzt im Verlaufe von 
vier Monaten die Einwechselung des Billons nach einer, dem inneren 
Werthe desselben entsprechenden, festen Taxe an allen Kreisren¬ 
teien der Ostseeprovinzen gestattet werden. Nach Ablauf dieser 
Frist sollte aber der Umlauf nochmals gänzlich untersagt und poli¬ 
zeilich darüber gewacht werden, dass kein Billon mehr zu Zahlungen 
benutzt werde. 

Nr. 30,144. — Den 9. December. Allerhöchst bestätigter Be¬ 
schluss des Minister-Comite: Ueber die Umwechselung des Kupfer - 
geldes alten Gepräges gegen neues oder Assignaten. 

Um die geheime Ausfuhr des Kupfergeldes alten Gepräges zu 
unterdrücken, wurde die Einwechselung desselben während dreier 
Monate an allen Staatskassen angeordnet. Nach Ablauf dieser Frist 
sollte alles alte Kupfergeld, welches man im Betrage von über 2$ Rbl. 
bei einer Person anträfe, confiscirt werden. 

1 8 2 5 . 

Nr. 30,339. — Den 11. Mai. Senatsbefehl: Ueber das Verbot 
der Ausfuhr russischer Münze. 

4 Die Nummern des Gesetzes in der «Vollständigen Sammlung aller Gesetze». 


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216 


Dieses Verbot bestand wohl schon im Allgemeinen seit 1811; es 
erhielt jetzt nur noch die nähere Bestimmung, dass kein die Grenze 
Ueberschreitender mehr als 50 Rbl. an Silber und 10 Rbl. an Kupfer 
bei sich führen dürfe. 

Nr. 30,428. — Den 21. August. Senatsbefehl: Ueber die Ver¬ 
längerung des Einwechselungstermins (cf. Nr. 30,144) des Kupfer¬ 
geldes alten Gepräges bis zum Ende des Jahres, und über die An¬ 
nahme desselben bei allen Abgaben- und Steuerzahlungen. 

Für die entlegenen Provinzen war jener Termin von drei Monaten 
zu kurz, auch befürchtete der Finanzminister, dass die Bewohner 
derselben, die oft 500 Werst von einer Kreisrentei entfernt lebten 
und manchmal nur wenige Rubel Kupfergeld alten Gepräges besassen, 
leicht unnütze Verluste erleiden könnten. 

1 8 2 6 . 

Nr. 44. — Den 12. Januar. Senatsbefehl: Ueber die Erlaubnis, 
das Kupfergeld alten Gepräges auch noch im Jahre 1826 anzunehmen. 

Zur Erleichterung der Landbewohner wurde die Annahme noch 
bei Zahlung der Abgaben, beim Kaufe des Stempelpapiers, des 
Salzes und des Branntweins gestattet. In allen anderen Fällen sollte 
aber nach den Bestimmungen der Verordnung vom 21. August 
1825, Nr. 30,428, gehandelt werden. 

Nr. 636. — Den 27. October. Allerhöchst bestätigtes Gutachten 
des Reichsraths: Ueber die Verrechnung des Aufgeldes auf Silber 
zum Vortheile der Staatskasse bei allen Lieferungen und Akkorden. 

Der Reichsrath nahm das Projekt des Kaufmanns Subzaninow 
durch, welches die Vortheile betraf, die sich dje Staatskasse im 
Kommissariat- und Verproviantirungsamte verschaffen könnte, wenn 
sie Korn, Materialien und Arbeit in Silber bezahlte, den Silberrubel 
zu vier Rubeln, den Bancorubel zu einem Rubel acht Kopeken 
berechnend. 

Hierauf bezüglich entschied der Reichsrath: 1) Allen Chefs in den 
Gouvernements, wo das Agio 1 anzutreffen war, vorzuschreiben: alle 
Preise von Materialien, Arbeiten u. s. w. in den einzelnen Kreisen, 
Städten u. s. w. in Erfahrung zu bringen, aus diesen die Durch¬ 
schnittspreise zu berechnen und in Assignaten anzugeben, mit Ab¬ 
rechnung des Agio, d. h. ohne Agio. Diese Preise sollten monatlich 
dem Kriegsministerium und dem Ministerium des Innern zugestellt 
werden. 2) Um die Preise herabzudrücken, sollten alle Kommissio- 

1 Hierunter das Volks-Agio verstanden. 


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217 


näre verpflichtet werden, bei der Annahme von Arbeitern diesen 
zu erklären: dass die Bezahlung ohne Abzug des Agio in Assig¬ 
naten von $ und io Rubeln und in Kupfergeld erfolgen würde; 
3) bei Schliessung von Kontrakten über Lieferungen u. dgl. aber 
sollten in denselben die Preise in Assignaten nach Abzug des Agio, 
d. h. ohne Agio, angegeben werden. Dieselbe Regel sei 4) bei Füh¬ 
rung der Bücher, 5) bei den Quittungen, welche man von den Lie¬ 
feranten etc. erhielte, und 6) in den Abrechnungen, die zu leisten 
seien, zu beobachten. 7) Diese Bestimmungen sollten nicht nur für das 
Verproviantirungsamt und das Kommissariat gelten, sondern auch 
für alle Kronsämter, an denen Käufe und Lieferungen stattfänden. 
8) Alle Departements sollten darüber wachen, dass man dieser 
Verordnung nachkomme. Wenn auf diesem Gebiete eine Verun¬ 
treuung zum Nachtheil der Kasse aufgedeckt werden sollte, so 
würden sie mit der ganzen Strenge des Gesetzes dafür verantwort¬ 
lich gemacht werden. 9) Diese Verordnung hätte auch schon für 
alle Lieferungen u. s, w., weiche für das Jahr 1827 geschlossen 
würden, in Kraft zu treten. 

1 8 2 7 . 

Nr. 1528. — Den 11. Mai. Befehl an den Finanzminister: Uebfer 
die Erlaubniss, Zahlungen für Pässe und Stempelpapiere bei den 
Staatkassen in Silber nach Kurswerth zu machen. 

Um die Geldzahlungen zu erleichtern und das Kupfergeld im 
Umlauf zu erhalten, wird befohlen: die Zahlungen für Pässe, Seitens 
der Bürger und Bauern, in Silber nach dem Kurse von 370 Kop. 
für den Siiberrubel zu gestatten; desgleichen für Stempelpapier bis 
zu 5 Rbl. Assignaten. — Der Kurs konnte jährlich nach dem Bör¬ 
senkurse geregelt werden. 

Nr. 1630. — Den 20. December. Senatsbefehl: Ueber die Ver¬ 
schärfung der Aufsicht darüber, dass Silbermünzen in ihrem Metall- 
werthe nicht vermindert würden. 

Diese Verschlechterung wurde namentlich in den polnischen 
Grenzprovinzen betrieben, wo Münzen kursirten, welche man durch 
Abschleifung um 20 pCt. ihres wahren Werthes verringert hatte. 

1 8 2 8 . 

Nr. 1987.—Den 24. April. Senatsbefehl: Ueber die Prägung einer 
neuen Münze äus Urafschem Platina im Werthe von 3 Rbl. Silber. 

Durch Einführung dieser neuen Münze sollte dem Platina als 
edlem Metalle ein besserer Absatz verschafft werden. Es sollten 


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218 


Anfangs Münzen nur aus dem Platina der Kronsbergwerke geprägt 
werden; später wurde es aber auch Privatpersonen gestattet, Platina 
zur Umprägung in Münze gegen Schlagschatz in den Münzhof zu 
liefern. Das Werthverhältniss der Platina- zur Silbermünze sollte das 
von 5 : i sein; entsprechend dem durchschnittlichen Werthver¬ 
hältnisse jener beiden Metalle auf dem europäischen Markte. 

Die neue Platinamünze sollte an Grösse einem silbernen 25-Kope- 
kenstück gleichkommen, und im Verkehr nur nach vorhergehen¬ 
dem Uebereinkommen angenommen werden. Die Ausfuhr dieser, 
so zu sagen Hapdelsmünze und ihre Verwendung in der Industrie 
wurde nicht verboten. 

Nr. 2069. — Den 30. Mai. Senatsbefehl: Ueber die den Brannt¬ 
weinspächtern gewährte Erlaubniss, Getränke gegen grobe Silber¬ 
münze , nach dem im täglichen Verkehre existirenden Kurse 1 zu ver¬ 
kaufen. 

Für das kleine Silbergeld existirte bereits diese Bestimmung, doch 
glaubte man sie auch auf die grobe Münze ausdehnen zu können, da 
die Annahme des Silbergeldes auf freiem Uebereinkommen beruhte. 

1 8 2 9 . 

Nr. 2803. — Den 5. April. Allerhöchst bestätigtes Journal des 
Finanz-Comite: Ueber die Feststellung des Kurses für Silber bei der 
Annahme desselben an Kronskassen, (cf. Nr. 1528). 

Da der Börsenkurs für den Silberrubel von 370 Kop., wie er 1827 
stand, auf 367 gesunken war, und der Staat dadurch Verluste erlitt, 
so wurde der Annahmekurs nunmehr auf 365 normirt. 

Nr. 2995 und 3038. — Den 16. Juni und 26. Juli. Allerhöchst 
bestätigter Beschluss des Minister-Comite: Ueber die Annahme der 
neuen Platinamünze bei allen Zahlungen im Privatverkehr, wie 
an den Kronskassen, wo die Annahme des Goldes und Silbers ge¬ 
stattet ist, (cf. Nr. 1989). 

Nr. 3310. — Den 30. November. Senatsbefehl: Ueber die Prä¬ 
gung einer Platinamünze im Werthe von 6 Rbl. Silber. 

1 8 8 0 . 

Nr. 3624. — Den 25. April. Senatsbefehl: Ueber die Fest¬ 
setzung eines verschiedenen Kurses für die grobe und kleine 
Silbermünze beim Getränkeverkauf durch die Branntweinspächter. 


1 d. h. nach dem Volkskurse. 


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219 


Das Gesetz Nr. 2069 hatte zu dem Missverständnis Anlass ge¬ 
geben, als sollte das grobe Silbergeld zu gleichem Kurse mit dem 
kleinen Silbergelde angenommen werden, während es im Volks¬ 
verkehr zu verschiedenem Kurse Umlauf hatte; ersteres nämlich zu 
3 Rbl. 70 Kop., letzteres zu 4 Rbl. Assignaten der Silberrubel. Es 
wird daher in diesem Erlasse bestimmt: dass das Kleinsilbergeld 
nur zum Volkskurse, die grobe Silbermünze dagegen nach freiem 
Uebereinkommen anzunehmen sei. 

Nr. 3669 und 3747. — Den 19. April und 24. Juni. Senatsbefehl: 
Ueber die Annahme von Silber - und Kupfergeld bei den Zahlungen 
der Branntweinspächter während der Pachtperiode von 1831—1833 
und über die Annahme von Gold - und Silbermünze Seitens der Päch¬ 
ter von den Getränkekäufern. 

1) Von den Pächtern sollte X U ihrer Jahrespächt in Silber entge¬ 
gengenommen werden können, 2) V10 derselben in Kupfer; 3) wollten 
die Pächter den Betrag sub 1 statt in Silber auch in Kupfer zahlen, 
so wurde ihnen dieses Verlangen unter der Bedingung, dass sie es 
im Voraus für das ganze Jahr anmeldeten, gestattet. 4) Die Zah¬ 
lungen in Silber und Kupfer waren nicht obligatorisch, es konnte 
auch daher die ganze Summe nach wie vor in Assignaten entrichtet 
werden. 5) Der Kurs für die Annahme des Silbers wurde, ohne 
Unterschied für grobe und kleine Münze, auf 360 Kop. Assig. für den 
Silberrubel festgesetzt 6) Zu demselben Kurse mussten auch die Päch¬ 
ter das Silbergeld von den Getränkekäufern annehmen, 7) das Gold 
dagegen nach dem St. Petersburger Börsenkurse und die Assignaten 
ohne irgend welches Agio Rubel gegen Rubel. 

Diese Bestimmungen galten für die Pächter in den grossrussi¬ 
schen Provinzen und in Sibirien. Für die Pächter in den privile- 
girten Provinzen, in Odessa und im Lande der Kosaken blieb aber 
die frühere Kursbestimmung von 365 Kop. Assignaten, so wie 
auch die Erlaubniss, die grobe und kleine Silbermünze je nach dem 
Volkskurse derselben anzunehmen. 

Nr. 3909. — Den 12. September. Senatsbefehl: Ueber die Prä¬ 
gung einer Platinamünze im Werthe von 12 Rbl. Silber. 

Nr. 3974. — Den 4. October. Senatsbefehl: Ueber die Gestattung 
der freien Ausfuhr von GoldSilber- und Plaiinamünzen russischen 
Gepräges. 

Uebereinstimmend mit der Vorstellung des Finanzministers wurde 
zu Gunsten des vaterländischen Handels das Ausfuhr-Verbot aufge¬ 
hoben. 


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Die grösste Summe, die man ohne Anzeige ausführen konnte, 
war ioo Rbl. Für Summen von ioo—2000 Rbl. mussten mündliche, 
für Summen über 2000 Rbl. schriftliche Anzeigen an das Zollamt 
erfolgen. Geheime Aus- und Einfuhr blieb strengstens untersagt, 
desgleichen alle Ausfuhr von Kupfergeld. 

18 3 1 . 

Nr. 4241. — Den 5. Januar. Senatsbefehl: lieber die Annahme 
von Silber und Platina an den Kronskassen in jedem Betrage. 

Durch das Gesetz vom 11. November 1827, Nr. 1528, war es ge¬ 
stattet worden, Zahlungen anstatt in Assignaten in Silbermünze zu 
festgesetztem Kurse zu machen, doch nur in beschränktem Umfange; 
von nun an konnten sie aber in den angeführten Fällen zu jeder be¬ 
liebigen Höhe erfolgen. — Der Kurs für grobe und kleine Silber¬ 
münze wurde auf 360 Kop. Assig. für den Silberrubel normirt. 

Anmerkung. Von 1831 an wurde am Schlüsse eines jeden 
Jahres dieser Abgabenkurs für das folgende festgesetzt, er blieb 
bis zum Jahre 1839 unverändert. Seit 1819 existirte ein ähnlicher 
Kurs für Zollabgaben, der, schon damals auf 360 Kop. für den Silber¬ 
rubel festgesetzt, bis 1839 derselbe blieb. 

Nr. 4614. — Den 2. Juni. Allerhöchst bestätigter Beschluss des 
Minister-Comite: Ueber die Herabsetzung des Preises für Kupfer - 
geld alten Gepräges.. 

Der Preis wird auf 30 Rbl. fürs Pud normirt, um den Verkauf 
der alten Kupfermünze zu beschleunigen. 

1 8 3 2 . 

Nr. 5246. — Den 25. März. Befehl an den Finanzminister: Ueber 
die Erhebung der Abgaben für das Recht der Branntweinsbrennerei, 
den Obrock und die Kopfsteuer in den kleinrussischen Provinzen in 
Silbergeld , statt in Assignaten. 

Für die Jahre 1832 und 1833 wurde versuchsweise gestattet, neben 
den früheren Zahlungen in Assignaten und Kupfer, auch Zahlungen 
in Silber zu machen. Diese Massregel hielt der Finanzminister für 
nothwendig, um dem Volke die Abgabenzahlungen zu erleichtern 
und auch ein pünktlicheres Einlaufen derselben zu erreichen, wo¬ 
durch eine Verminderung der Rückstände erfolgen musste. 

Nr. 5406. — Den 7. Juni. Senatsbefehl: Ueber die Abänderung 
des alten Münzfusses für das Kupfergeld, 




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221 


Die Unbequemlichkeit der bis dahin in Cirkulation befindlichen 
Kupfermünze, (bloss Zwei-Kopekenstücke, rpornn) und die Nothwen- 
digkeit, den inneren Werth der Münze mit dem Marktpreise ihres Me- 
talles in Einklang zu bringen, erheischten folgende Bestimmungen: 
i) das neue Kupfergeld sollte zu 36 Rbl. aus einem Pud geprägt 
werden, 2) in folgenden 4 Gattungen: io-Kopekenstücke (rpn- 
bchhkh); 5 -Kopekenstücke (njrraitH); 2-Kopekenstücke (rpornn); 
und i-Kopekenstücke (KOirfeßKH). 3) Alle Münze alten wie neuen 
Gepräges musste überall zum Nennwerthe angenommen werden. 
4) Die Ausfuhr des neuen Kupfergeldes wurde unter denselben Be¬ 
dingungen, wie diejenige der Gold- und Silbermünze gestattet (cf. 
Nr 3974). 5) Die Ausfuhr und die Umschmelzung des alten Kupfer¬ 
geldes, zu 24 Rbl. aus dem Pud, über dessen Einziehung ein besonde¬ 
rer Erlass erscheinen sollte, blieb wie früher strengstens untersagt. 

Nr. 5462. —Den 25. Juni. Senatsbefehl: Ueber die Wechselord¬ 
nung. In S 71 wurde bestimmt: Jede Zahlung muss in derselben 
Münze gemacht werden, welche im Wechsel verzeichnet ist. Hier¬ 
bei versteht es sich aber von selbst: 1) dass bei internen Wechseln 
die Zahlung, anstatt in Gold und Silber, in Assignaten nach Kurs 
laut dem allgemeinen Gesetze nicht refusirt werden kann; 2) dass bei 
ausländischen Wechseln, wenn dieselben auf ausländische Münze 
lauten, die Zahlung in russischem Gelde nach Wechselkurs erfolgt; 
3) dass unter «Kurs» derjenige Kurs verstanden wird, welcher am 
Fälligkeitstermine des Wechsels am Orte der Zahlung an der Börse 
notirt ist. 


1 8 3 3 . 

Nr. 5939. —Den 27. Januar. Senatsbefehl: Ueber die Prägung 
einer neuen Silbermünze zu 8 /* und i 1 /* Rbl. 

Diese Prägung geschah zur Erleichterung der Handelsumsätze im 
Königreich Polen. Zu demselben Zwecke wurden bereits seit dem 
15. October 1832 (Nr. 5678) 15-Kopekenstücke geprägt. 

Nr. 6194. — Den 10. Mai. Befehl an den Finanzminister: Ueber 
die Annahme von Goldmünze an den Staatskassen bei Zahlungen 
von Abgaben und Steuern, und Nr. 6562, vom 8. November, über 
diese Annahme überhaupt bei allen Zahlungen. 

In Erwägung dessen, dass sich russische Goldmünzen in bedeuten¬ 
der Menge in Umlauf befanden, und dass ihre Annahme an den 
Kronskassen dem Volke eine grosse Erleichterung gewähren würde, 
wurde bestimmt: 1) In allen den Fällen, wo nach dem Gesetz Nr. 


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S 



222 


4241 die Zahlungen in Silber erlaubt seien, dieselben fortan auch in 
russischer Goldmünze zu gestatten, und 2) den Annahmekurs der 
Goldmünze für 1834 auf 375 Kop. Assig. für den Goldrubel festzu¬ 
setzen, nach dem Verhältnisse des Goldwerthes zum Silberwerthe. 
— Fortan wurde der Goldkurs zusammen mit dem Silberkurse am 
Schlüsse eines jeden Jahres für das folgende bestimmt. 

Nr. 6273. — Den 19. Juni. Senatsbefehl: Ueber den Preis und 
Werth der ausländischen Gold- und Silbermünzen. 

Es war zur Kenntniss des Finanzministers gelangt, dass sich der 
Umlauf ausländischer Gold- und Silbermünze in mehreren Gouverne¬ 
ments seit einiger Zeit bedeutend verstärkt habe, und dass diese Mün¬ 
zen an vielen Orten zu einem ihren inneren Werth bedeutend über¬ 
schreitenden Kurse angenommen würden. Um nun das Publikum und 
vor allen Dingen das einfache Volk vor den daraus entstehenden Ver¬ 
lusten zu schützen, wurde von Seiten der Regierung eine Tabelle 
publicirt, die den genauen Werth der kursirenden ausländischen 
Gold- und Silbermünzen angab: 1) nach ihrem Metallwerthe und 
2) nach dem Kurswerthe russischer Gold- und Silbermünze; und 
zwar: a) nach dem St. Petersburger Börsenkurse, b) nach dem Ab¬ 
gabenkurse des Silbergeldes und c) nach dem Volkskurse (npocTO- 
HapoAHtift Kypci>). 

1 8 3 4 . 

Nr. 7015. — Den 21. April. Allerhöchst bestätigter Beschluss 
des Minister-Comite: Ueber die Bestimmung, dass bei Zahlungen 
die Brüche, für welche keine Münze existirt, auch nicht in Rechnung 
kommen sollten. 

Da seit dem 1 Juni 1832 (Nr. 5406) keine 7 *- und V^-ICop.-Stücke 
jn Kupfer mehr geprägt wurden und Silbermünzen kleiner als in5-Ko- 
pekenstücken nicht existirten, so sollten 1) alle Brüche, die in Silber 
auszuzahlen waren, in Kupfer berechnet, und 2) alle Brüche bis zu 
einem Kopeken Kupfer überhaupt nicht gerechnet werden. \Venn 
also z. B. l lt Kopeken in Silber zu zahlen nachblieb, so hatte man, 
da er i*U Kop. in Kupfer gleich war, nur 1 Kop. Kupfer zu zahlen. 

Nr. 7032. — Den 1. Mai. Senatsbefehl: Ueber die Prägung einer 
neuen Goldmünze im Werthe von 3 Goldrubeln. Diese Münze sollte 
3 Rbl. Imperial oder russischer Ducaten heissen. 

Dieser Befehl erfolgte, um das Reichs-Münzsystem mit demjenigen 
des Königreichs Polen in bessere Uebereinstimmung zu bringen. Zu 
dem gleichen Zwecke sollte auch noch eine Silbermünze zu 30 Kop. 
geprägt werden (cf. auch. Nr. 5939). 


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223 


Nr. 7215. —Den 23. Juni. Allerhöchst bestätigtes Gutachten 
des Reichsraths: Ueber die Herabsetzung des Annahmekurses 
für Goldmünzen an den Kronskassen von 375 auf 365 Kop. Assig. 
für den Goldrubel (cf. Nr. 6194). 

Nr. 7218. — Den 23. Juni. Senatsbefehl: dass Zahlungen in aus¬ 
ländischer Münze nur nach beiderseitigem, freiwilligem Ueberein- 
kommen der Kontrahenten gemacht werden könnten. 

Es waren nämlich, hauptsächlich in Moskau, viele unvollwichtige 
Ducaten betrügerischerWeise in Umlauf gesetzt worden, welche dem 
gemeinen Volke, namentlich den Arbeitern, bei Zahlung als voll¬ 
wichtig gegeben wurden. Die Arbeiter nahmen sie auch theils aus 
Unwissenheit, theils aus Noth im Werthe der vollwichtigen an. Um 
diesem Verluste der Arbeiter vorzubeugen, wurde daher bestimmt: 
1) dass die Strafen für Münzverschlechterung von Neuem einzu¬ 
schärfen seien; 2) dass Niemand gezwungen sei, ausländische Münze 
anzunehmen, und 3) dass alle Fabrikherren u. s. w. verpflichtet 
werden sollten, die Löhne u. s. w. nur in russischer klingender Münze 
oder Assignaten auszuzahlen, es sei denn, dass die Arbeiter u. s. w. 
sich speciell vollwichtige ausländische Münzen ausbedungen hätten; 
4) im Falle von Klagen wegen Uebertretung dieser Bestimmungen 
sollte sofort gerichtlich gegen die Uebertreter eingeschritten und ge¬ 
gen dieselben wie gegen Zahlungsunfähige verfahren werden, denn: 
«die Weigerung, in der durch das Gesetz legalisirten Münze oder 
Assignaten zu zahlen, ist im Wesentlichen nichts Anderes, als eine 
Weigerung, eine eingegangene Verpflichtung zu erfüllen». 

Nr. 7221. — Den 25. Juni. Senatsbefehl: Ueber die zeitweilige 
Annahme ausländischer Münze an den Kreisrenteien. 

Dieses sollte geschehen, um die ausländische Münze schneller aus 
dem Verkehre zu ziehen. Sie wurde im Betrage von Vs der Zah¬ 
lung, nach einem festgesetzten, dem inneren Werthe der Münze ent¬ 
sprechenden Kurse bei folgenden Zahlungen angenommen: für die 
Kopfsteuer, für die Berechtigung des Branntweinbrennens, für den 
Obrok und für die Erhaltung der Wege- und Wassercommunicatio- 
nen. Die Annahme wurde versuchsweise auf ein Jahr, vom 1. Octo- 
ber 1834 bis zum 1. October 1835, anbefohlen (cf. Nr. 30,042, 1824). 

Nr. 7248 u. 7260. — Den 3. und 6. Juli. Senatsbefehl: Ueber 
die Annahme von Gold- t Silber -, Plalina - und Kupfermünzen an den 
Kronskassen in den Zahlungen der Branntweinspächter während der 
Pachtzeit von 1835 bis 1839. 


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,224 


Es sollten: i) nicht mehr als io pCt. der Jahreszahlung in Kupfer 
gezahlt werden können, 2) in Silber oder Platina 20 pCt., aber auf 
Wunsch der Pächter auch noch jene 10 pCt., anstatt in Kupfer, 3) 
in russischer Goldmünze durften die Pächter in jedem Betrage zahlen, 
doch wurde diese Münzgattung nur nach Gewicht angenommen, 
ebenso wie in den privilegirten Provinzen das Silber. 4) Der An¬ 
nahmekurs war der Abgabenkurs, nach welchem auch die Pächter 
verpflichtet waren, die Münze von den Getränkekäufern entgegen 
zu nehmen. 5) Diese Massregeln sollten die Pächter nicht zu Zah¬ 
lungen in klingender Münze zwingen; es stand ihnen nach wie vor 
frei, die ganze Zahlung nur in Assignaten oder in Reichsschatzbille- 
ten (ÖHJieTM TocyA. Ka3HaHeflCTBa) zu entrichten. 

Nr. 7442. — Den 8. October. Senatsbefehl: Ueber die Abschlies¬ 
sung von Geldverbindlichkeiten, sowohl zwischen Privaten allein, als 
auch zwischen Privaten und der Krone, auf Assignaten, Kupfer, 
Gold oder Silber nach dem Nennwerthe dieser Münzen. 

«In Folge der zu Uns gelangten Klagen über die Mannigfaltigkeit 
und die übermässige Steigerung des Agio bei Zahlung der Geldver¬ 
bindlichkeiten, welche auf «Münzkurs* (no Kypcy Ha MOHeiy) lau¬ 
ten, hielten Wir es für nothwendig, diese Angelegenheit mit allen 
ihren Einzelnheiten dem St. Petersburger Commerzrath zur Durch¬ 
sicht zu übergeben, und sie darauf in einem besonderen Comite, 
welches aus Mitgliedern des Reichsraths gebildet war, mit der allge¬ 
meinen Grundlage Unseres Münzsystems vergleichen zu lassen. Aus 
den Uns in Folge dessen zugegangenen Berichten geht hervor: 
1) Dass im Manifest vom 20. Juni 1810 bestimmt ist: «alle gesetz¬ 
lichen Papiere, Kaufbriefe, Wechsel, Kontrakte und Abmachungen 
auf russische Münze auszustellen»; 2) dass alle internen Verbindlich¬ 
keiten auf Assignaten, Kupfer-, Silber- und Goldmünze russischen 
Gepräges nach ihrem Nennwerthe lauten müssen; 3) dass sich da¬ 
gegen beim Eingehen von Verbindlichkeiten auf Assignaten der 
Usus eingeschlichen hat, besondere Bedingungen über Zahlung 
nach «Münzkurs» zu stipuliren, worunter man das Agio 1 versteht, wie 
es sich am Zahlungstermin gestaltet. Auf solche Weise werden die 
Preise aller Dinge, ausser den ihnen eigentümlichen und im Handel 
notwendigen Veränderungen, noch anderen zufälligen, mannigfal¬ 
tigen Veränderungen unterworfen, deren Grund das Agio ist. Die 
Folge davon ist Unbestimmtheit und Verwirrung im Betrage der 
Zahlungen, verwickelte Rechnungen, Erschwerung in der Ab- 

Volks-Agio. 





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rechriung, und, was das Wichtigste ist, gewinnsüchtige und unge¬ 
rechte Wechselgeschäfte, zumal an Orten, wo das Agio nicht durch 
den Börsenkurs regulirt wird, sondern durch die willkürliche Hand¬ 
lungsweise einiger weniger sich mit dem Wechselgewerbe befassen¬ 
der Personen. 

Um nun diesen Missständen abzuhelfen, bestimmen Wir: 

i) Dass alle inländischen Geldverbindlichkeiten, sowohl zwischen 
Privatleuten, wie zwischen diesen und der Krone nicht anders als, 
gemäss dem Wortlaut des Gesetzes, auf russische Münze lauten dür¬ 
fen: auf Assignaten, Kupfer-, Gold- oder Silbermünze, je nach ihrem 
Nennwerthe. Es dürfen dabei absolut keine Abmachungen Vorkom¬ 
men Überzahlung nach e Münzkurs». Verbindlichkeiten mit einer der¬ 
artigen Abmachung werden für nichtig erklärt und sind nirgendsklag¬ 
bar. 2) Diese Bestimmung bezieht sich nur auf schriftliche Verbind¬ 
lichkeiten; Kauf und Verkauf bei contanter Zahlung bleiben vollkom¬ 
men frei, und sind nur abhängig von dem freiwilligen Uebereinkommen 
und der mündlichen Abmachung zwischen Käufer und Verkäufer. 
Für die Ablöhnung von Arbeitern aber, so wie für alle, wenn 
auch mündlichen Abmachungen mit denselben gelten die Bestim¬ 
mungen des S 1 in ihrer ganzen Tragweite. Der Lohn muss den Ar¬ 
beitern genau in der Münze ausgezahlt werden, die bei ihrer An¬ 
nahme ausgemacht worden, nicht aber nach dem Münzkurse, wie er 
sich am Tage der Ablöhnung gestaltet, d. h. ohne irgendwelche 
Agioverrechnung. Im Falle von Klagen gegen Uebertretung dieser 
Bestimmungen soll die Ortsobrigkeit sofort den Benachtheiligten 
den schleunigsten gesetzlichen Schutz gewähren. 3) Diese Verord¬ 
nung tritt mit dem Tage ihrer Publikation in Kraft. Alle Verbind¬ 
lichkeiten, die bis zu diesem Termin geschlossen worden sind, und 
welche jene erwähnten Bedingungen enthalten, bleiben jedoch in 
Kraft, da sie nach beiderseitigem freiwilligem Uebereinkommen zu 
Stande gekommen sind». 


1 8 3 6 . 

Nr. 9106. — Den 27. April. Senatsbefehl: Ueber den Preis der 
sich in-Russland im Umlaufe befindenden ausländischen Gold - und 
Silbermünzen , cf. Nr. 6273. 

Der Werth war nach dem Abgabenkurse derselbe geblieben, nur 
fielen alle Brüche ab. Nach dem Börsenkurse war der Werth für die 
Goldmünze jetzt etwas niedriger (etwa um 4 Kop.), da derselbe für 
den Silberrubel von 360 auf 358 Kop. Assign. herabgegangen war. 

Rum. Berne Bd. VII. 15 


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Nr. 9368. — Den 7. Juli. Allerhöchst bestätigter Beschluss des 
Minister-Comite: Ueber die freie Aus- und Einfuhr des Kupfergeldes 
letzten Gepräges (36 Rbl. aus dem Pud). 

Die Ausfuhr des Kupfergeldes alten Gepräges blieb verboten. 

1 8 3 8 . 

Nr. 11,343. — Den 17. Juni. Senatsbefehl: Ueber die Annahme 
von Gold-, Silber -, Platina- und Kupfermünze von den Branntweins¬ 
pächtern für die Pachtzeit von 1839—1843. 

Es waren dieselben Bestimmungen wie für die vorhergehende Pe¬ 
riode (cf. Nr. 7248), sie wichen nur darin von jenen ab, dass jetzt in 
Silber 30 pCt. und in den grossrussischen Provinzen die Hälfte dieser 
Summe auch in ausländischer Gold- und Silbermünze nach Gewicht 
gezahlt werden konnte. 

1 8 3 9 . 

Nr. 12,603. — Den 28. Februar. Allerhöchst bestätigter Beschluss 
des Minister-Comite: Ueber die Annahme von klingender Münze in 
jedem Betrage bei der Abgabenzahlung für die Verpflegung der 
Truppen. 

Nr. 12,497. —Den i.Juli: Manifest: * Ueber die Organisation des 
Geldsystems ». 

«Verschiedene Veränderungen in Unserem Geldsysteme, hervor¬ 
gerufen durch die Zeit und die Macht der Verhältnisse, haben nicht 
nur zur Folge gehabt, dass den Reichs-Assignaten, ihrer ursprüng¬ 
lichen Bestimmung zuwider, der Vorzug vor dem Silber, der funda¬ 
mentalen Münze Unseres Reiches, eingeräumt worden ist, sondern 
auch, dass durch eben diesen Umstand mannigfaltige, fast an jedem 
Orte von einander abweichende, Agio entstanden sind. 

Ueberzeugt von der Nothwendigkeit, diesen Schwankungen, welche 
die Einheit und die Ordnung Unseres Geldsystems stören und ver¬ 
schiedene Verluste und Erschwerungen für alle Stände des Reiches 
nach sich ziehen, ohne allen Verzug ein Ende zu machen, haben 
Wir es, in steter Fürsorge um das Wohlergehen Unserer getreuen 
Unterthanen, für gut befunden, entschiedene Massregeln zu ergreifen, 
um jene Schäden zu unterdrücken und einer Wiederkehr derselben 
in Zukunft vorzubeugen. 

In Folge dessen verordnen Wir: 

1) Die Restitution der im Manifest vom 20. Juni 1810 (II. C. safto* 
hob> Nr. 24,264) enthaltenen Vorschrift: die Silber-Münze russi- 


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sehen Gepräges wird von nun an und in Zukunft zur Reichs-Haupt¬ 
zahlmünze, und der Silber-Rubel jetziger Prägung, mit seinen be¬ 
stehenden Theilungen, zum unveränderlichen Haupt-Preismass (zur 
Münzeinheit) alles im Reiche in Umlauf befindlichen Geldes bestimmt; 
dem entsprechend sollen auch alle Abgaben und Steuern, sowie 
alle Zahlungen und etatsmässigen Ausgaben seiner Zeit auf Silber 
umgerechnet werden. 

2. Bei einer solchen Festsetzung des Silbers als Hauptzahlmünze 
verbleiben die Reichs-Assignaten, entsprechend ihrer ursprünglichen 
Bedeutung, als Hülfswerthzeichen, mit einem ein für alle Mal be¬ 
ständigen und unveränderlichen Kurse derselben auf Silber, indem 
der Rubel Silber in grober wie in kleiner Münze zu 3 Rbl. 50 Kop. 
Assignaten gerechnet wird. 

3. Es wird dem Willen der Zahlenden anheimgestellt, nach die¬ 
sem beständigen und unveränderlichen Kurse folgende Zahlungen in 
Silbermünze oder Assignaten zu leisten: a) alle Kronsabgaben und 
Steuern, alle Landes-, Gemeinde- und andere Abgaben, kurz alle 
von der Krone festgesetzten und ihr zukommenden Zahlungen; 
b) alle Zahlungen nach besonderen Taxen, wie z. B. die Getränke¬ 
pacht, Postgelder, Chausseegelder, Zahlungen für Salz, Stempel¬ 
papier, Pässe u. dgl. mehr; c) alle Zahlungen, die in den Reichs- 
Creditanstalten, im Collegium der allgemeinen Fürsorge und in 
privaten, von der Regierung bestätigten, Banken zu erfolgen haben. 

4. In gleicher Weise werden alle Zahlungen von Seiten der Krone, 
die auf Assignaten berechnet sind, nach demselben beständigen 
Kurse in Silber oder Assignaten ausgeführt werden. 

5. Alle angeführten Zahlungen müssen, vom Tage der Publi¬ 
kation dieses Manifestes an, nach dem festgesetzten Kurse erfolgen. 
Der Abgaben-und Zollkurs bleibt jedoch bis zum 1. Januar 1840 
unverändert zu 360 Kop. bestehen. 

6. Alle Rechnungen, Kontrakte, kurz alle Abmachungen müssen 
auf Silbermünze lauten. 

Bei der grossen Ausdehnung des Reiches kann jedoch diese 
Vorschrift nicht plötzlich im ganzen Reiche in Wirkung treten, 
daher wird sie erst vom 1. Januar 1840 an in ihrer ganzen Kraft 
verbindlich, und von diesem Termine an dürfen weder Gerichte 
noch Makler und Notare irgendwelche Abmachungen, auf Assig¬ 
naten lautend, zur Einklage oder Bescheinigung entgegen nehmen. 
Die Zahlungen der Verbindlichkeiten, Kontrakte u. s. w. können 
jedoch ohne Unterschied in Silber oder Assignaten nach dem im 

* 5 * 


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funkt 2 festgesetzten Kurse berichtigt werden, und Niemandem 
steht das Recht zu, die Annahme der einen oder anderen Art Geldes 
nach diesem Kurse zu verweigern. 

7. Die Höhe der Darlehen aus den Creditanstalten wird in Silber 
bestimmt ... 

8. Um dem freien Eintausch alle Wege zu eröffnen, wird den 
Kreisrenteien anbefohlen, nach Massgabe ihres Kassenbestandes As¬ 
signaten gegen Silber und umgekehrt Silber gegen Assignaten 
nach demselben festgesetzten Kurse einzuwechseln; einem Jeden, 
der die Einwechselung begehrt, bis zum Betrage von 100 Rbl. Silber. 

9. Ferner wird es strengstens verboten, den Assignaten irgend 
einen anderen Kurs als den festgesetzen beizulegen, ein Agio auf 
Silber und Assignaten zu erheben und bei neuen Abmachungen von 
der sogenannten Rechnung «auf Münze »(cnerb Ha MOHeTy) Gebrauch 
zu machen. Der Wechselkurs an den Börsen, so wie überhaupt alle 
Notirungen in den Preiscouranten u. s. w. sind von nun an stets in 
Silber zu verzeichnen, und für Assignaten darf an den Börsen über¬ 
haupt kein Kurs mehr notirt werden. 

10. Goldmünze wird an allen Kronskassen und Creditanstalten mit 
einem Zuschlag von 3 pCt. zu ihrem Nominalwerthe entgegenge¬ 
nommen und ausgegeben, d. h. der Imperial wird zu 10 Rbl. 30 Kop. 
und der Halbimperial zu 5 Rbl. 15 Kop. gerechnet. 

11. An allen Kassen wird jegliche russische Münze alten wie 
neuen Gepräges angenommen; mit Ausnahme beschnittener, durch¬ 
stochener und angefeilter Münzen. 

12. Für die augenblicklich in Umlauf befindliche Kupfermünze 
gelten bis zu ihrer Umprägung auf Silber folgende Bestimmungen: 
a) Es sollen 3 ] /2 Kop. Kupfer gleich 1 Kop. Silber gerechnet 
werden, b) Die Kronskassen sind verpflichtet, das Kupfergeld nach 
wie vor bei allen Zahlungen in jedem Betrage entgegen zu nehmen, 
wenn darüber keine speciellen Bestimmungen vorhanden sind; die 
Creditanstalten dürfen Kupfergeld aber nur in Beträgen bis zu 10 
Kop. Silber annehmen. Privaten ist die Annahme freiwilligem Ueber- 
einkommen überlassen.» 

Nr. 12,498. — Den 1. Juli. Senatsbefehl: Ueber die Einrichtung 
einer Depositenkasse für Silbermünze. 

«In Folge einer Vorlage des Finanzministers verordnen Wir: Zur 
Vermehrung der cirkulationsfähigeren Geldzeichen bei der Reichs- 
Commerzbank vom i.Januaf 1840 an eine besondere Depositen¬ 
kasse für Silbermünze auf folgender Grundlage einzurichten: 


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229 


1. In dieser Kasse sollen Einlagen in Silber-Münze russischen Ge¬ 
präges zur Aufbewahrung angenommen werden. 

2. Diese Einlagen sollen unangetastet und getrennt von dem Ka¬ 
pitale der Commerzbank, unter Verantwortung derselben, aufbe¬ 
wahrt werden, unter Aufsicht zweier besonderer Direktoren stehen, 
die aus den Mitgliedern des Aufsichtsrathes der Reichs-Creditanstal- 
ten gewählt werden, und dürfen zu Nichts Anderem verwandt wer¬ 
den als bloss zum Eintausch der Depositenbillete. 

3. Gegen die Einlagen werden Depositenbillete im Werthe von 
3, 5, 10 und 25, später aber auch von 1, 50 und 100 Rbl. Silber 
ausgegeben. 

4. (Ueber ihre Verfertigung). 

5. Den Depositenbilleten wird ein Umlauf al pari mit der Silber¬ 
münze ohne alles Agio im ganzen Reiche beigelegt. Sie müssen bei 
allen inländischen Zahlungen, sowohl bei denen, die zwischen Priva¬ 
ten und der Krone und den Creditanstalten, als auch bei denen, die 
zwischen Privaten allein stattfinden, angenommen werden. 

6. Bei der Präsentirung der Depositenbillete an der Commerzbank 
werden dieselben sofort, ohne den geringsten Aufenthalt oder die 
geringste Provision, gegen eine dem Nennwerthe der Billete ent¬ 
sprechende Summe Silbergeldes eingelöst. 

7. (Ueber den Eintausch alter Billete gegen neue). 

8—11. (Organisation der Depositenkasse). 

12. Um die Thätigkeit der Depositenkasse zu beaufsichtigen, 
wird ausser der internen Kontrole der Commerzbank noch eine 
höhere von Seiten des Aufsichtsraths der Creditanstalten ange¬ 
ordnet. Dieser Aufsichtsrath hat, um die Unversehrtheit der auf¬ 
bewahrten Einlagen zu überwachen, alljährlich aus seiner Mitte 
je einen Deputirten des Adels und der Kaufmannschaft zu wählen, 
die bei den monatlichen Revisionen der vorhandenen Summen und 
der Umsätze zugegen sein sollen und auch ausserordentliche Revi¬ 
sionen veranstalten können. 

Nr. 12,536.—Den 14. Juli. Senatsbefehl: Ueber die Tabelle der 
ausländischen Münzen . 

Diese Tabelle wurde jetzt, auf Silber umgerechnet, publicirt. 

Nr. 12,560. — Den 27. Juli. Allerhöchst bestätigter Beschluss des 
Minister-Comite: Ueber die Massregeln zur Erzielung einer einheit¬ 
lichen Ausführung des Manifestes vom 1. Juli über das Geldsystem. 

a) Alle gewöhnlichen Taxen fiir Lebensmittel-, Markt-, Durch¬ 
schnitts- und ähnliche andere Preise sind überall gleich in Silber zu 


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230 


notiren. b) In Buden, auf Märkten und überall wo ein öffentlicher Ver¬ 
kauf stattfindet, müssen alle Preise nach dem fixirten Kurse von 350 
Kop. berechnet werden; ausgenommen sind nur die Fälle, wo laut 
dem Manifest der Abgabenkurs von 360 Kop. bis zum 1. Januar 1840 
in Kraft zu bleiben hat; sonst darf bei strengster Verantwortlich- 
, keit nirgends ein anderer Kurs oder irgendwelches Agio zuge¬ 
lassen werden, c) Ausländische Gold- und Silbermünze, die sich in 
einzelnen Gegenden in Umlauf befindet, darf keinen anderen Kurs 
haben, als den in den Tabellen vom 10. October 1838 (Nr. 11,839) 
und 14. Juli 1839 (Nr. 12,536) verzeichneten. 

Nr. 12,867.—Den 9. November. Senatsbefehl: Ueber die Um¬ 
rechnung verschiedener Abgaben und Steuern auf Silber . 

In Uebereinstimmung mit dem Manifeste vom 1. Juli ist die Um¬ 
rechnung aller Staats-Ausgaben und -Einnahmen, und überhaupt 
aller von der Regierung festgesetzten Zahlungen auf Silber für gut 
befunden worden. 

Anmerkung. Diese Umrechnungen wurden allmählich ausgefiihrt; 
sie erstreckten sich bis in das Jahr 1843 hinein. Die wichtigsten und 
bei weitem die meisten wurden jedoch im Jahre 1839 erledigt 

1 8 4 0 . 

Nr. 13,114. — Den 26. Januar. Senatsbefehl: Ueber die gleich- 
werthige Annahme der Münze alten und neuen Gepräges. 

Wiederholung des Punktes 11 aus dem Manifest vom 1. Juli 1839, 
weil man im täglichen Verkehr das kleine Silbergeld alten Gepräges 
nicht gleichwerthig mit dem neuen annehmen wollte. 

Nr. 13,757. — Den 6. September. Senatsbefehl: Ueber die neue 
Kupfermünze mit Berechnung auf Silber. 

Aus einem Pud Kupfer sollte Kupfermünze für 16 Rbl. Silber ge¬ 
prägt werden, in 3-, 2-, 1-, V 2 * und '/vKopekenstücken Silber. 

1. Solange aber der Verkehr noch nicht hinlänglich für seinen gan¬ 
zen Bedarf an Kupfermünze, mit Kupfer neuen Gepräges versorgt 
wäre, sollte das Kupfergeld alten Gepräges zu 36 und 24 Rbl. Ass. 
aus dem Pud in Umlauf bleiben, und zwar zu dem im Manifeste vom 
1. Juli 1839 (Nr. 12,497, Punkt 12) festgesetzten Kurse. 2. Der 
Finanzminister sollte dafür Sorge tragen, dass im Verhältniss der 
Ausgabe des neuen Kupfergeldes das alte aus dem Verkehr ge¬ 
zogen werde. Ueber die endgültige Sistirung der Umlaufsfähigkeit 
des Kupfergeldes alten Gepräges sollten seiner Zeit besondere Vor¬ 
schriften erlassen werden. 3. Die Ausfuhr des neuen Kupfergeldes 
wurde gestattet. 


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231 


18 4 1 . 

Nr. 14,266. — Den 10. Februar. Allerhöchst bestätigtes Gut¬ 
achten des Reichsraths: Ueber die Annahme von Gold- und Silber¬ 
barren in die Depositenkasse. 

Diese Verordnung erfolgte, um den Goldumlauf zu beschleunigen. 
Silberbarren niedriger als von der 84. Probe und unter 40 Pfund, 
und Goldbarren niedriger als von der 72. Probe und unter 5 Pfund 
wurden nicht angenommen. 

Nr. 14,521. — Den 5. Mai. Allerhöchst bestätigte Vorlage des 
Finanzministers: Ueber die* Einstellung des Prägens der 3- und 
iVs-Rbl., 75- und 15-Kop. Münzen mit polnischer Aufschrift. 

1 8 4 2 . 

Nr. 15,734. —Den 10. Juni. Senatsbefehl: Ueber die Zueignung 
eines stehenden Nennwerthes der Kupfermünze alten Gepräges im 
Verhältnis zum Silber. 

Indem wir es für das Volk nützlich erachten, dass sich im Verkehre 
nur eine auf Silber berechnete Kupfermünze befindet, und um zugleich 
das auf Grundlage des Manifestes vom 1. Juli 1839 (Nr. 12,497) ein¬ 
geführte Geldsystem erfolgreich zu.vervollständigen, befehlen Wir: 
1) dem auf Assignaten berechneten Kupfergelde alten Gepräges, bis 
zu seiner vollständigen Einziehung aus dem Verkehre und seiner Um¬ 
prägung in neue Münze auf Silber, einen auf Silber lautenden Nenn¬ 
werth beizulegen; auf Grundlage dessen soll das io-Kopekenstück 
gleich 3 Kop. Silber gerechnet werden, das 5-Kopekenstück gleich 
1 V*, das 2-Kopekenstück gleich V2 und das 1-Kopekenstück gleich 
V4 Kopeken Silber; 2) einzig und allein nach diesem Werthverhält¬ 
nisse soll vom 1. Januar 1843 an das Kupfergeld alten Gepräges 
überall angenommen werden. 

B. Die Assignaten. 

1 8 3 9 . 

Nr. 12,497. — Den 1. Juli. Manifest: Ueber die Organisation des 
Geldsystems, cf. dies Gesetz p. 84. ff. im Punkte 2, 3 und 9, die 
sich auf die Assignaten beziehen. 

1 8 4 3 . 

Nr. j 6,903- — Den 1. Juni. Manifest: Ueber die Einwechselung 
der Assignaten und der übrigen Vertreter des Geldes gegen Credit- 
billete. 


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* 3 * 


«Die Nothwendigkeit den Schwankungen, welche die Einheit und 
Ordnung unseres Geldsystems stören, ein Ende zu machen, hat Uns 
zu der Publikation des Manifestes vom I. Juli 1839 (Nr. 12,497) ver¬ 
anlasst. Kraft desselben ist die Silber-Münze russischen Geprä¬ 
ges, wie es auch früher der Fall war, als Hauptzahlmünze des Reiches 
wiederhergestellt, für die Assignaten aber, als blosse Hülfswerth- 
zeichen, ein beständiger Kurs in Silber festgesetzt worden. 

Um jedoch eine vollkommene Uebereinstimmung des Papiergeld¬ 
systems mit der Münze und eine Gleichförmigkeit zwischen den Ver¬ 
tretern des Geldes zu erreichen, haben Wir schon damals die Noth- 
wendigkeit erkannt, die Assignaten gegen andere Werthzeichen ein¬ 
zutauschen, die jene Münze vertreten sollen, welche als Grundmünze 
des Reiches anerkannt worden ist. 

Mit dieser Absicht und um die Volksgewohnheiten nicht plötzlich 
zu erschüttern, wurden Anfangs verschiedene zeitweilige Massregeln 
getroffen. In Uebereinstimmung mit dem Manifest sind nach seiner 
Publikation alle Krons- und Privatzahlungen und -Rechnungen auf 
Silber umgeändert, erst Depositen- und dann Creditbillete emittirt 
und auch auf Silber lautende Kupfermünze geprägt worden. 

Jetzt halten Wir den Zeitpunkt für geeignet, die Assignaten und 
andere Vertreter des Geldes durch ein Werthzeichen zu ersetzen. 
Der Eintausch wird allmählich, ohne Anstrengung und Verwirrung 
im Verkehre zu veranstalten, vor sich gehen. Für den Eintausch 
bestimmen Wir die Creditbillete , welche, dem Volke schon bekannt, 
in ihrem Werthe gedeckt sind und überall einen freien Umlauf al 
pari mit dem Silber haben. 

Zu diesem Zwecke verordnen Wir auf Grundlage der auch im 
Reichsrath bestätigten Vorlage des Finanzministers Folgendes: 

1. Die in Umlauf befindlichen Reichs-Assignaten im Betrage 
von 595,776,310 Rbl., welche nach dem festgesetzten Kurse 
170,221,808 Rbl. 85 5 /7 Kop. Slb. ausmachen, sollen nach und nach 
durch Creditbillete ersetzt werden, denen noch der Name «Reichs- 
Creditbillete» gegeben wird, damit ihre Benennung ihrer jetzigen 
Bedeutung mehr entspreche. 

2. Die Summe der zur Einwechselung der Assignaten zu emitti- 
renden Reichs-Creditbillete wird dem Betrage der ersteren entspre¬ 
chend in runder Zahl auf 170,221,800 Rbl. festgesetzt. 

3. Von den 30 Mill. Creditbilleten, die durch das Manifest vom 
1. Juli 1841 (Nr. 14,700) für die Depositenkassen und die Leih¬ 
banken bestimmt wurden, verbleiben 10 Mill. dem Umlaufskapital 


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*33 

dieser Anstalten; 20 Mill. dagegen werden für das Reservekapital 
ausgeschieden. Die Ausgabe dieser 20 Mill. im ganzen oder theil- 
weisen Betrage nach Beendigung des Eintausches der Assignaten 
behalten Wir Unserem eigenen besonderen Ermessen vor. 

4. Die Reichs-Creditbillete, die zur Einwechselung der Assig¬ 
naten emittirt werden, sind in ihrem Werthe durch das ganze Ver¬ 
mögen des Staates und die jeder Zeit auf Grundlage der Punkte 
7, 11 und 13 dieses Manifestes zu erfolgende Einwechselung gegen 
klingende Münze sichergestellt. 

5. (Gründung einer besonderen Expedition der Reichs-Credit¬ 
billete}. 

6. Die Reichs-Creditbillete werden ausser in Appoints von 50 Rbl, 
wie sie bereits in Umlauf sind, auch noch in Appoints von 25, 10, 
5, 3 und 1 Rbl. emittirt, zur grösseren Bequemlichkeit für die im 
Alltagsleben vorkommenden Zahlungen. Sollte sich ein Bedarf an 
Creditbilleten in Appoints von 100 Rbl. heraussteilen, so können 
auch solche in Zukunft emittirt werden. 

7. Zur Sicherstellung des ununterbrochenen Eintausches der Cre- 
ditbillete gegen klingende Münze wird bei der Expedition der 
Billete ein beständiger Fond, in Gold- und Silbermünze beste¬ 
hend, gegründet. Dieser Fond muss wenigstens den sechsten Theil 
der zur Einwechselung von Assignaten emittirten Creditbillete 
ausmachen. 

8. Der ursprüngliche Fond zur Sicherstellung des Eintausches 
der gegen Assignaten zu emittirenden Creditbillete in runder Summe 
von nicht weniger als 28 Vs Mill. Rbl., wird aus 14*/* Mill. Rbl* 
in Gold- und Silbermünze gebildet, die bei der Eröffnung der Ex¬ 
pedition daselbst aus den Reichs-Reservekapitalen und aus dem Be¬ 
trage an klingender Münze deponirt werden, welcher dem Fond für 
die im Reichsschatzamt befindlichen und fernerhin dort fiir mannig¬ 
faltige Zahlungen einlaufenden Depositenbillete zu überweisen ist. 

9. Um eine vollkommene Einheit unter den Vertretern des Geldes 
zu erreichen, werden auch die Depositenbillete allmählich aus dem 
Verkehr gezogen werden. Zu diesem Zwecke wird: a) die Annahme 
von Silbergeld und Barren in die Depositenkasse mit Eröffnung 
der Expedition der Creditbillete sistirt; aber die ununterbrochene 
Einwechselung von präsentirten Depositenbilleten bleibt an dieser 
Kasse wie zuvor fortbestehen. b) Für die in das Reichsschatzamt 
und in die Creditanstalten einlaufenden Depositenbillete, so wie für 
die klingende Münze, welche zur Herstellung des Einwechselungs- 


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*34 


fond nach Punkt 8 der Expedition übergeben wird, werden Credit- 
billete in demselben Betrage zurückgegeben, c) Alle in die Deposi¬ 
tenkasse durch Einlösung zurückkehrenden Depositenbillete werden 
nach vorangegangener Revision vernichtet, d) In der Folge wird die 
Depositenkasse durch einen besonderen Erlass aufgehoben und 
gleichzeitig sollen Massregeln ergriffen werden, um die Einlösung 
der noch vorhandenen Depositenbillete zu beendigen und dem Um¬ 
lauf derselben als Geldzeichen ein Ziel zu setzen. 

10. Nach Massgabe der, möglicher Weise nothwendig werdenden, 
verstärkten Einlösung der Creditbillete muss das Reichsschatzamt 
den Fond nach Punkt 7 ergänzen. 

11. Die Einlösung der Creditbillete gegen klingende Münze findet 
statt: in St. Petersburg an der Einwechselungskasse der Expedition 
der Creditbillete für jeden Betrag; und in Moskau an der dortigen 
Abtheilung derselben Kasse, doch nur bis zu einem Betrage von 
3000 Rbl. an eine und dieselbe Person. 

12. Nach der Gründung von Einwechselungskassen in St. Peters¬ 
burg und Moskau und der gleichzeitigen Aufhebung solcher Kassen 
an der Leihbank und der Depositenkasse werden die Bank und 
diese Kassen verpflichtet, sich an der Bildung des Einwechslungsfond 
bei der Expedition der Creditbillete zu betheiligen, indem sie dem¬ 
selben die Summe der ihnen zugewiesenen Creditbillete übersenden. 

13. Zur Erleichterung der Einlösung der Creditbillete sind die 
Kreisrenteien verpflichtet, dieselben bis zum Betrage von 100 Rbl 
jeder Person gegen klingende Münze einzutauschen. 

14. Die Ausgabe der Reichscreditbillete beginnt am 1. Novem¬ 
ber. Sie geschieht allmählich und den Umständen entsprechend 
durch Ausgabe von Creditbilleten an Stelle von Assignaten bei den, 
aus dem Reichsschatzamte oder den Creditanstalten zu erfolgenden 
Zahlungen. 

15. Gleichzeitig beginnt auch die Thätigkeit der Einlösungs¬ 
kassen durch Einlösung von Creditbilleten gegen klingende Münze 
und umgekehrt von klingender Münze gegen Creditbillete in den 
durch dieses Manifest bestimmten Grenzen. 

Dagegen wird über die Einwechselung von durch Privatpersonen 
präsentirten Assignaten gegen Creditbillete seiner Zeit ein beson¬ 
derer Erlass publicirt werden. 

16. Alle bei Kronskassen gegen Creditbillete einlaufenden Assig¬ 
naten sind an die Expedition der Reichscreditbillete zum Zweck 
ihrer Revision und Vernichtung einzusenden. 


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2 35 


17. Auf dass mit dem Aufhören der Annahme von Einlagen in 
die Depositenkasse diejenigen Personen, welche der Bequemlichkeit 
wegen cirkulationsfähigere Geldzeichen gegen klingende Münze oder 
Barren verlangen, dieses Vortheils nicht verlustig gehen, wird den 
Einwechselüngskasseh mit Beginn ihrer Thätigkeit, d. h. vom 1. No¬ 
vember, die Annahme derartiger Einlagen anbefohlen, und gegen 
dieselben Creditbillete nach den für die Depositenkasse bestehenden 
Regeln verabfolgt. Um den Depositären noch grössere Bequem¬ 
lichkeit zu gewähren, wird, ausser der Annahme von Silbermünze 
und von Gold- nnd Silberbarren, auch noch die Annahme russischer 
Goldmünze gestattet. Die Einlagen, welche von der Krone und Priva¬ 
ten gemacht werden, sollen, nachdem gegen dieselben Creditbillete 
verabfolgt sind, in ihrem ganzen Betrage dem Fond dieser Billete 
zugezählt und zu keinem anderen Zwecke, als bloss zur Einwech¬ 
selung der Billete benutzt werden. 

18. Die Expedition der Creditbillete steht sammt ihrer Filiale in 
Moskau auf Grund des Punktes 7 des Manifestes vom 1. Juli 1841 
unter Kontrole des Conseils der Creditanstalten. Dieses Conseil wählt 
ausserdem jährlich aus seiner Mitte je einen Deputirten des Adels und 
der Kaufmannschaft, damit dieselben bei den monatlichen Revisionen 
der in der Expedition vorhandenen Summen zugegen seien. 

19. Bei den Revisionen der jährlichen Rechenschaftsberichte der 
Expedition, welche nach den für alle Creditanstalten geltenden Re¬ 
geln zu geschehen haben, soll das Conseil jener Anstalten besonders 
aufmerksam darüberwachen, dass die für den Umlauf der Creditbillete 
festgesetzten Grundregeln auch auf das Genaueste erfüllt werden, 
namentlich: dass die Summe der zur Einwechselung von Assig¬ 
naten ausgegebenen Creditbillete auch genau der Summe der ein¬ 
getauschten Assignaten entspricht; dass der Einwechselungsfond 
den sechsten Theil der Creditbillete ausmacht, die auf Grund der 
Punkte 7 und 8 dieses Manifestes zur Einwechselung der Assignaten 
uud Depositenbillete ausgegeben sind, und endlich, dass die Credit¬ 
billete, welche gegen die in der Expedition gemachten Einlagen 
und die dorthin übergebenen Depositenbillete ausgegeben worden 
sind, durch einen ihrem vollem Betrage entsprechenden Fond ge¬ 
deckt sind. 


C. Die Bankbillete. 

18 3 1 . 

Nr. 4704.—Den 15. Juli. Manifest: Ueber die zeitweilige Ausgabe 
von Reichsschatzbilleten im Betrage von 30 Mill. Rbl. Banco. 


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23 6 


«Die ausserordentlichen, durch die gegenwärtigen Umstände nöthig 
werdenden Ausgaben verlangen die Herbeischaffung von Mitteln, um 
die Finanzumsätze zu erleichtern. 

In Berücksichtigung dieses und in Uebeyeinstimmung mit der 
auch vom Reichsrathe begutachteten Voclage^des Finanzministers, 
halten Wir es für geboten eine zeitweilige Ausgabe von Reichs- 
schatzbilleten im Betrage von 30 Mill. Rbl. Assignaten mit 4 pCt. 
jährlicher Zinsen zu gestatten. 

Die Ausgabe soll nach Bedarf in drei Serien erfolgen. Die erste 
Ausgabe von 10 Mill. soll gegenwärtig geschehen, für die Aus¬ 
gabe der beiden anderen Serien muss aber jedes Mal eine besondere 
kaiserliche Entscheidung eingeholt werden. 

1. Jedes Billet lautet auf 250 Rbl. Assignaten, trägt jährlich 
4 pCt. Zinsen, welche zur grosseren Bequemlichkeit bei Berechnun¬ 
gen zu 90 Kop. monatlich fürs Billet gezahlt werden, was für das 
Jahre 10 Rbl. 80 Kop. oder 4,32 pCt. ausmacht. 

2. (Anfertigung und Ausgabe der Billete). 

3. (Eintheilung derselben in 3 Serien zu je 10 Mill. Rbl.). 

4. Diese Billete werden von der Krone bei allen Zahlungen ange¬ 
nommen und ausgegeben, ausser bei denen an den Creditanstalten, 
wo nur klingende Münze und Assignaten angenommen werden. 

5. Die Tilgung dieser Billete hat im Verlauf von 4 Jahren zu erfol¬ 
gen, der Art dass, nach Verlauf des ersten Jahres, die Staatskasse in 
den drei übrigen Jahren jährlich ein Drittel der ausgegebenen Billete 
zur Vernichtung präsentirt, ohne Rücksicht auf die Serie, welcher 
die Billete angehören. Ist bei der Staatskasse eine nicht genügende 
Anzahl Billete in Zahlung eingelaufen, so muss sie sich den zur Ver¬ 
nichtung noch fehlenden Betrag durch weitere Einlösung von Bille- 
ten verschaffen. 

6. Die Regierung reservirt sich jedoch das Recht, auch vor Ablauf 
der angegebenen Frist diese Billete durch Einlösung gegen Baargeld 
von 250 Rbl. nebst dem Betrage der Zinsen aus dem Verkehre zu 
ziehen. 

7. (Ueber die Vernichtung der Billete). 

8. 9. und 10. Ueber die Zinsen. Diese werden nie für das laufende 
Jahr, sondern bloss für das abgelaufene ausgezahlt. Die Verzinsung 
beginnt mit dem 1. Juli. 

11. Die Billete werden nur in den Fällen bei den Kronskassen 
angenommen, wenn die zu zahlende Summe nicht weniger als das 


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Billet nebst den aufgelaufenen Zinsen beträgt, damit die Kassen 
jeglicher verwickelten Berechnung überhoben seien». 

Nr. 4747.—Den 7. August. Befehl an den Finanzminister: Ueber 
die Ausgabe der 2. Serie. 

Die Verzinsung wird, wie bei der 1. Serie, vom 1. Juli an gerechnet. 

Nr. 4795. — Den 11. September. Befehl an den Finanzminister: 
Ueber die Ausgabe der 3. Serie. 

Die Verzinsungauch vom 1. Juli an gerechnet. 

1 8 3 4 . 

Nr. 6706. — Den 9. Januar. Manifest: Ueber die neue Ausgabe 
von Reichsschatzbilleten im Betrage von 40 Mill. Rbl. Assignaten. 

«Bei Unserer fortwährenden Fürsorge um Unsere augenblicklich 
von Missernten heimgesuchten Provinzen hören Wir nicht auf, alle 
nur möglichen Mittel darauf zu verwenden, um ihre gegenwärtige 
Lage zu erleichtern und ihre Existenz zu sichern. Aber Steuer¬ 
nachlässe und grosse Geldhilfsleistungen, so wie die Vertheuerung 
verschiedener Kronsbedürfnisse, fordern eine Verstärkung der Staats¬ 
mittel, daher ist für den Moment die Emission von 2 Serien (IV. und 
V.) für 20 Mill. nothwendig». 

Die Bestimmungen sind ganz dieselben wie bei der Emission vom 
Jahre 1831, cf. Nr. 4704. Die Verzinsung zählt vom 1. Februar. 

Nr. 6960 und 7275. — Den 6. April. Befehl an den Finanzminister: 
Ueber die Ausgabe der VI. und am 13. Juni der VII. Serie. 

Die Verzinsung wird auch bei diesen beiden Serien vom 1. Fe 
bruar an berechnet. 


1 8 3 5 . 

Nr. 7887.—Den 21. Februar. Senatsbefehl: Ueber den Eintausch 
der als Kaution deponirten Reichsschatzbillete gegen Billete der 
Leihbank. 

Nr. 8109.—Den 2. Mai. Senatsbefehl: Ueber den Eintausch der 
Reichsschatzbillete der drei ersten Serien gegen Assignaten, da ihre 
Umlaufszeit laut Manifest vom 13. Juli 1831(^.4704) am i.Juli 
1835 ablaufen sollte. 

1 8 3 9 . 

Nr. 12,185. — Den 29. März. Senatsbefehl: Ueber die Emission 
drei neuer Serien Reichsschatzbillete. 


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238 


Die Umlaufszeit der 1834 emittirten Serien (IV.—VH.) lief am 
1. Februar 1840 ab, die Tilgung der ganzenSumme von4oMill. konnte 
aber in Folge verschiedener nicht von der Regierung abhängenden 
Umstände nicht stattfinden. Wegen ihrer besonderen Brauchbarkeit 
zumal für den Verkehr mit entlegeneren Theilen des Reiches, war 
nämlich die Zahl der in die Kronskassen eingehenden Biilete in den 
letzten Jahren eine ganz unbedeutende gewesen. Daher hatten in 
den Kronskassen nicht mehr als 10 Mill. Rbl. angesammelt wer¬ 
den können, von denen bereits 8,100,000 Rbl. vernichtet worden 
waren, der Rest aber noch vernichtet werden sollte. 

Diese neuen 3 Serien (VIII. IX. X.) wurden zur Einwechselung 
der 30 Millionen übriggebliebener Biilete der letzten 4 Serien be¬ 
stimmt. Es stand jedoch jedem Inhaber früherer Biilete frei, diese 
gegen Baargeld statt gegen neue eingelöst zu erhalten. Die Ein¬ 
wechselung erfolgte nur an der Hauptstaatskasse. Im Uebrigen 
galten dieselben Bestimmungen wie bei der Emission von 1831, Nr. 
4704, nur liefen die Zinsen vom 1. Februar 1840 und die Tilgung 
war dieses Mal in 6 Jahren auszuführen. 

1 8 4 0 . 

Nr. 13,383. — Den 19. April. Senatsbefehl: Ueber die neuen 
Serien der Reichsschatzbillete. 

«Um die cirkulationsfähigen Geldzeichen zu vermehren, und die 
Umsätze der Reichskasse zu verstärken, haben Wir es für gut be¬ 
funden, eine Emission von 4 neuenSerien der Reichsschatzbillete an¬ 
zubefehlen. Die Ausgabe hat nach Massgabe des wirklichen Be¬ 
dürfnisses zu geschehen; jede Serie im Betrage von 3 Mill. Rbl. Silb. 
Die 3 ersten Serien, die jetzt ausgegeben werden, tragen vom 1. Mai 
1840 an Zinsen». 

Die Bestimmungen blieben dieselben, wie bei den früheren Emis¬ 
sionen, nur lautete das einzelne Billet jetzt auf 50 Rbl. Silber und 
trug monatlich 18 Kop. Zinsen. 

Nr. 14,045. — Den 13. December. Befehl an den Finanzminister: 
Ueber die Emission der vierten neuen Serie. 

18 4 1 . 

Nr. 14,700. — Den 1. Juli. Manifest: Ueber die Emission von 
Creditbilleten im Betrage von 30 Mill. Rbl. Silber. 

«Zur Erleichterung der Umsätze der Reichs-Creditanstalten und 
zur gleichzeitigen Vermehrung der cirkulationsfahigeren Geldzeichen 


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239 


halten Wir es für geboten, eine neue Art der letzteren, die in ihrem 
vollen Werthe gedeckt seien, zu gründen, und erlassen in Ueberein- 
stimmung mit dem Gutachten des Reichsraths Nachstehendes: 

1. Sechs Wochen nach der Publikation dieses Manifestes werden 
die Lombarde in St Petersburg und Moskau und die Reichsleihbank 
dazu berechtigt, Darlehn inCreditbilleten, zu SoRbl.Silb. das Billet, 
gegen Verpfändung von unbeweglichem Eigenthum zu gewähren. 

2. Es werden 30 Mill. Rbl. Silb. zur Emission bestimmt. Von 
dieser Summe erhält der Lombard in Moskau 15 Mill., der in St. Pe¬ 
tersburg 8 Mill. und die Leihbank 7 Millionen. 

3. Die Creditbillete werden durch das ganze Vermögen der Reichs- 
Creditanstalten und ausserdem durch die jeder Zeit zu erfolgende, 
ununterbrochene Einlösung derselben gegen klingende Münze nach 
dem Punkt 5 dieses Manifestes in ihrem Werthe garantirt. 

4. Die Creditbillete erhalten al pari mit der Silbermünze Umlauf 
im ganzen Reiche. 

5. Die Einlösung der Creditbillete gegen klingende Münze oder 
Assignaten geschieht nach Wunsch an den beiden Lombarden und 
der Leihbank auf jede beliebige Summe und ohne Rücksicht auf die 
Ausgabestelle des Billets. Die Lombarde und die Leihbank müssen, 
um eine ununterbrochene Einlösung zu sichern, bei jeder Ausgabe 
von Billeten, gleichviel in welcher Summe, nicht weniger als den 
sechsten Theil der ausgegebenen Billete in klingender Münze in 
einer zu diesem Zwecke besonders errichteten Kasse deponiren. 

6. Auch in den Kreisrenteien können die Billete gegen klingende 
Münze eingelöst werden, aber nicht in höherem Betrage als für 
100 Rbl. durch eine Person. 

7. (Ueber die Controle.) 

8. (Ueber den Eintausch alter Billete.) 

9. (Verschickung mit der Post.) 

10. Die Aus- und Einfuhr der Creditbillete ist verboten. 

11. (Ueber die Bestrafung der Nachahmung dieser Billete.) 



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Ein Besuch auf Hochland, 


Wer die Zarenstadt an der Newa von der Seeseite her erreicht, 
wird auf seiner Fahrt, etwa eine halbe Tagereise bevor der Dampfer 
zur Rhede Kronstadts gelangt, eine Felseninsel erblickt haben, 
deren nicht unansehnliche Grösse ihn veranlasst haben mag, nach 
deren Namen zu fragen. Als solcher wird ihm Hochland ange¬ 
geben, und beiläufig dürfte er wohl auch erfahren, dass am 17. Au¬ 
gust 1788 dort eine Seeschlacht zwischen Schweden und Russen 
stattgefunden, deren Ausgang jedoch unentschieden geblieben. Im 
Uebrigen wird man die Insel, obschon sie mit Leuchtthürmen ver¬ 
sehen, für die Schifffahrt als höchst gefährlich bezeichnen; nebenher 
wird wohl auch erwähnt werden, dass die hinter jenen unnahbaren 
Gestaden wohnhafte Bevölkerung einen wesentlichen Erwerb im 
Schmuggel und im Handel mit gestrandeten Gütern finde. 

Mit diesen Einzelheiten begnügt sich die. Mehrzahl Derer, die 
Hochland nur dem Namen nach kennen. Gleichwohl hat die Insel 
eine durch ihre Eigenthümlichkeit höchst anziehende Natur, und 
trägt eine in ebenso eigenthümlichen Verhältnissen lebende Bevöl¬ 
kerung, der man im Ganzen weder Tüchtigkeit noch Redlichkeit 
absprechen darf, wovon man wohl hinlänglich überzeugt wird, wenn 
man Land und Leute aus eigenem Augenschein kennen gelernt *. 

Wer dies unternehmen will, begebe sich von Fredrikshamn aus 
auf eines der hochländischen Fahrzeuge, die man dort fast beständig 
am Ufer antrifft. Die Fahrt geht unmittelbar südwärts, wo man nach 
einigen Stunden Segelns, drei in Nebel gehüllte Spitzen am Hori¬ 
zont gewahrt. Mit abnehmender Entfernung heben sie sich immer 
höher aus den Wogen, und wenn der Dunstkreis plötzlich gewichen, 
unterscheidet man drei hohe Berge. Näher hinzu gelangt, findet 

1 Hochland gehört zum Wiborg’schen Gouvernement. Seine Bewohner stammen 
von Einwanderern ab, welche vor mehreren Jahrhunderten aus einem Sprengel an der 
Küste bei Fredrikshamn auf die Felseninsel hinauszogen. Für ihre gerichtlichen Ange¬ 
legenheiten sind die Hochländer an die nächsten Kreisbezirke des finländisthen Fest¬ 
landes gewiesen. 


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24t 


man die drei Gipfel durch einen niedrigen Landstrich vereinigt, und 
nun hat man das langgestreckte, bergige Hochland vor sich. Beim 
Einlauf in die Bucht, welche die See an der Nordseite der Insel 
bildet, eröffnet sich eine wahrhaft entzückende Aussicht. Im Hinter¬ 
gründe die granitgrauen, hohen Berge, denen zu Füssen ein Gürtel 
von dunklem, melancholischem Nadelgehölz sich ausbreitet, und 
zwischen diesem und dem klaren Spiegel des Meerbusens liegt eine 
Fläche gelblich-weissen Ufersandes. Es tagt: das Feuer in den drei 
hochgelegenen Leuchtthürmen erlischt, während die Sonne mit 
ihren ersten Strahlen die Reize der fesselnden Landschaft noch an¬ 
ziehender macht. Diese noch besser zu gemessen, begiebt man sich, 
nachdem man aus dem Boot gestiegen, auf den hohen Pohjaskorkia 
(wörtlich Nordhöhe). Ueberall sieht man Granithöhen und Nadel¬ 
holz mit einander abwechseln. Auch an den Höhenabhängen wachsen 
mässig weit von einander Kiefern und Tannen; nur hier und da 
schimmert die weissstammige Birke, und tiefer in den Klüften zittert 
das Laub der Espe. Wild durch einander geworfene Felsblöcke er¬ 
scheinen bisweilen wie im Hinabrollen nach den häufig sumpfigen 
Thalniederungen begriffen, wo ein Zwergwald von Nadelhölzern 
grünt. Stattliche Kiefern erhoben sich einst auf dem Boden Hoch¬ 
lands, doch erlagen die Riesen einem heftigen Sturme im Jahre 1824. 
Zwischen den Höhen eingekeilt, leuchten einige grüne Flächen 
hervor, — das sind die Wiesen Hochlands. Gedüngt und zweimal 
im Sommer abgemäht, geben diese Felder einen nur ungenügenden 
Ertrag an Futter, obwohl jeder Hausstand nur eine Kuh oder 
höchstens deren zwei zu ernähren hat. Vergeblich späht das Auge 
nach einem wogenden Getreidefeld; von beackertem Land gewährt 
es nur hier und da zwischen den Dörfern Strecken mit Kartoffel¬ 
saaten, die aus dem dürren Sande einige Nahrung zu ziehen suchen. 

Vier Stunden braucht ein kräftiger Mann, um die Insel in ihrer 
ganzen Länge von blos elf Werst zu durchschreiten. Keinen ge¬ 
bahnten Weg giebt es da, nur einen schlichten Fusssteig, bei den 
Bergkämmen bloss an den durch Tritte abgenutzten Flechten 
kenntlich. Die steilen Abhänge entlang von Stein zu Stein hüpfend, 
kommt man später durch sumpfiges Waldgebiet oder geht es über 
Flächen mit losem gelben Sand, der den Schritt nicht weniger 
hemmt als das klappernde Geröll, das man auch in reichlich langen 
Strecken zu durchwandern hat. Schweift auch der Blick von diesen 
grauen und düstern Einöden bisweilen zu kleinen lieblichen Binnen¬ 
seen, deren Wogen die lothrecht emporragenden Felsufer umspielen 

Ross. Revue, Bd. VII. 


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und auf deren blauen Fläche den Kranz der Tannen am Strande 
spiegelt, so zeigt doch dies Alles mehr als hinlänglich, das Frucht¬ 
barkeit dem Boden Hochlands nicht zu Theil geworden. 

Und dennoch ist es bewohnt, und Hunderte kräftiger Füsse wan¬ 
dern tagtäglich auf all den ungebahnten Pfaden. An der Ostküste 
der Insel liegen zwei Dörfer, zusammen mit der dicht dabei gele¬ 
genen Insel Tytärsaari (Tochterinsel) an tausend Einwohner zählend. 
Einige Steinwürfe seitwärts von dem Dorfe, das seine sechzig Holz- 
gebäude längs dem Ufer der Bucht ausbreitet, bei der wir gelandet 
erhebt sich die Kirche Hochlands, einfach aus Holz gezimmert, 
aber schmuck und freundlich, und dicht daneben das Pfarrhaus, 
bei dessen Fenster der aus dem Tannendickicht hervorrauschende 
. Bach seinen Weg über die Sandfläche ins Meer hinaus sucht. 

Wie ist der Unterhalt einer eigenen Pfarre möglich, und wie kön¬ 
nen, so fragt man sich weiter, so viele Menschen ihr Auskommen 
auf der kleinen öden Insel finden, da sie sich überall als eine un¬ 
fruchtbare Klippe ausweist, der man höchstens festen Boden zum 
Anbau und zum Wohnen abgewinnen kann. Eben nur dies verlangt 
der Hochländer von seiner Heimath. Sein Ackerfeld ist das offene 
Meer, der Pflug dazu seine schnellsegelnde Jale , und der Schuppen 
am Strande das Gelass für seine Jahresernte. 

Ausschliesslich auf die See angewiesen, findet sie der Bewohner 
Hochlands in der nächsten Nähe nicht sonderlich ergiebig. Mit 
einem bedeutenden Aufwand an Kräften und beharrlicher Arbeit 
zwingt er ihr kaum mehr, als Heringe ab, denn an den kahlen Ufern 
dieser Insel kommen die sonst in der Ostsee und dem finnischen 
Meerbusen reichlich vorhandenen übrigen Fische nicht vor. Dem 
Hochländer müssen die Heringe zu Korn verhelfen, durch sie ver¬ 
schafft er sich Kleidung und besoldet er seine Geistlichen und den 
Schullehrer für seine Kinder. 

Von höchster Bedeutung ist deshalb für den Bewohner Hochlands 
die Zeit des Heringsfanges. Während dem dazu verwendeten Früh¬ 
sommer gestaltet sich sein Leben auch ganz abweichend von dem 
übrigen Theil des Jahres. Häufig beginnt dieser Fang schon im 
Laufe des Mai. Nachmittags um 4 Uhr begiebt sich beinahe die 
ganze Einwohnerschaft in Ruderbooten a uf einen der am weitesten 
ins Meer hineinragenden Uferspitzen der Insel, wo gelagert und der 
Einbruch der Nacht abgewartet wird. Die Frauen hüllen sich in 


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Pelze und Decken, als Kopfkissen kleine Fässer mit Dünnbier 1 be¬ 
nutzend, und entfalten sofort das dort allgemeine, bewunderns- 
werthe und für jene Verhältnisse überaus wohlthuende Talent, 
überall und zu jeder beliebigen Zeit ungehindert einschlafen zu 
können. Um ein Feuer, das bei eintretendem Dunkel angezündet 
worden und dessen flammender Schein das abendliche Bild be¬ 
leuchtet, lagern die Männer im traulichen Geplauder, an dem auch 
der brodelnde Kessel mit den siedenden Kartoffeln sich betheiligt. 
Während dieDämmerung allmählich zugenommen und die wärmende 
Gluth mit hellerer Flamme leuchtet, zeigt sich auf der ruhigen See¬ 
fläche ein eigenthümliches Gekräusel. Es ist ein Heringszug, der 
gegen die Landspitze herangeschwommen kommt. Auf einen Ruf 
entfaltet sich das regste Leben auf der Klippe. Aus den bisher 
regungslosen Hüllen blicken die sonnengebräunten Gesichter der 
Frauen und Mädchen hervor; die Männer legen ihre Pfeifen fort, 
und in wenigen Augenblicken steht Alles bei den Netzen. Fiel der 
erste Wurf glücklich aus, so folgt ihm ein zweiter und dritter; 
andernfalls wird wiederum einige Stunden gewartet, um danach das 
Glück aufs Neue zu versuchen. So vergeht die Nacht. Gegen den 
Morgen geht es heimwärts: die Einen mit frohem Muth und vollem 
Boot, die Anderen ohne Beute, doch mit der Hoffnung auf besseren 
Erfolg beim nächsten Mal. Um die Nordspitze der Insel rudernd, 
erreichen die Fischer alsbald ihr Dorf. Bei jedem Hause befindet 
sich am Ufer eine besondere Vorrichtung, deren Zweck jetzt beim 
Landen der Fischerboote erklärlich wird. Nach dem Wasser zu 
neigen zwei parallele Balken, mit dem einen Ende an den Boden 
befestigt und durch mehrere Querstangen von gleicher Länge mit 
einander verbunden. Auf dieser abschüssigen, gleichsam aus hinab¬ 
rollenden Balken und Klötzen gebildeten Brücke werden sämmt- 
liche Fahrzeuge, sogar die Jale, aus dem Wasser gezogen; denn 
nur auf dem festen Ufer sind die Fahrzeuge vor der heftigen Bran¬ 
dung geschützt. 

Nachdem die Boote mit ihrem silberglänzenden Inhalt durch 
einige kräftige Griffe ans Land befördert worden, beginnt längs dem 
ganzen Dorfstrande ein emsiger Reinigungsprocess, wobei nicht nur 
die Erwachsenen ihren Arbeitstribut zu entrichten haben, sondern 


1 Ein dem russischen Kwas nicht unähnliches Getränk, am nächsten vielleicht dem 
Gebräu an Geschmack und Farbe gleichkommend, welches den Bewohnern und 
Besuchern Thüringens als Lichtenhainer begannt bt. 

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auch die Jüngeren, bis zu acht Jahren herab, ihre kleine Finger 
gewöhnen müssen, auf die dem Fischer eigenthümliche Weise den 
Heringen die unedleren Theile geschickt zu entreissen. Mit dieser 
Verrichtung, an die das Einsalzen und Einlegen der Heringe in 
Fässchen unmittelbar sich anschliesst, wird bis zur Mittagsstunde 
fortgefahren, dann wird gespeist und geruht, bis es zum Nachmittag 
wieder an die Netze geht, um den Fang an geeigneter Stelle fort¬ 
zusetzen. Für die so Tag um Tag sich häufende Arbeit genügt es 
bisweilen nicht an den eigenen einheimischen Leuten. Eine Menge 
Esten kommen daher zur Fangzeit nach Hochland, gegen einen 
gewissen Beuteantheil an der nöthigen Arbeit der Fischer sich 
betheiligend. 

Ist der Sommer unter solchen Beschäftigungen bis zur Hälfte vor¬ 
gerückt und die Zahl der gefüllten Heringsfässer Woche um Woche 
gewachsen, so werden die Jalen segelfertig gemacht, getheert und 
ins Wasser geschoben. Aus den Schuppen werden die Herings¬ 
fässer hervorgerollt und zugleich mit dem Reiseproviant an Bord 
geschafft. Nun geht es hinüber nach Estland, wo der Hering 
gegen Korn eingetauscht werden soll. Nach zurückgelegter Fahrt 
über das Meer, die durchschnittlich gegen 8—io Stunden Segelns 
währen kann, werden an der flachen, sandigen Küste Estlands die 
ZeltQ aufgeschlagen. Aus den umliegenden Gegenden eilen die 
Leute herbei, und bald ist der Platz in einen förmlichen Jahrmarkt 
verwandelt. Die hier verbrachte kurze Zeit des Sommers gilt 
dem Hochländer für die angenehmste, und ungern verzichtet jeder 
auf die Mitfahrt, den die Umstände zum Verweilen daheim nöthigen, 
wo ihm auch der Fischfang kaum genug für den täglichen Bedarf 
einträgt. Mit Ungeduld sehnt er die Heimkehr der Abgereisten 
herbei, und wenn die anberaumte Frist herannaht, wird täglich die 
Höhe Purjekallio (wörtlich Segelberg) besucht und der südliche 
Horizont fleissig mit dem Fernrohre durchspäht. Kommen die Er¬ 
warteten in Sicht, so eilt man ins Dorf, um die freudige Kunde von 
Haus zu Haus mit Blitzesschnelle zu verbreiten. Endlich sind die 
weissen Segel der Jalen am Einlauf zur Bucht zu sehen und bald ist 
in jeder Hütte ein Fest gerichtet. Von dem Mitgebrachten werden 
zunächst einige Flaschen «Kümmel* entkorkt, dann altbackne rus¬ 
sische Weizenbrote aufgestellt und hart gesottene Eier als beson¬ 
derer Leckerbissen unter den beim Gelage Anwesenden vertheilt. 
Während man sich hieran gütlich thut, giebt es auch die Hülle und 
Fülle zu fragen und zu erzählen. Freudestrahlend gedenken die 


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Jüngeren der Wonnezeit, und wie wohl sie sichs haben sein lassen 
jenseits des Meeres, wo es täglich frisches Fleisch gab, ein auf 
Hochland höchstens einmal im Monat vorkommender Genuss, und 
an Eiern ein beständiger Ueberfluss, dass solche beim Theekochen 
m «Samowar» und im Kessel, wo die Grütze siedete, immer mit 
gekocht werden konnten. Die Aelteren besprechen sich ihrerseits 
über den Ausgang des Tausches, über die Schicksale der estni¬ 
schen Freunde u. dgl. Den Sinn voll angenehmer Erinnerungen 
geht man der bevorstehenden Arbeitszeit entgegen. 

Zunächst wird das mitgebrachte Korn auf ausgebreiteten Segeln 
am Strande getrocknet, dann nach Högfors am Kymmenefall 1 zum 
Vermahlen befördert. Die Daheimbleibenden besorgen indess die 
Math auf den kleinen Wiesen. Für das Heu giebt es hier keine 
Scheunen, es wird zusammengescharrt und durch Weidenruthen zu 
Garben gestaut, auf Stangen in die Häuser getragen, nicht selten auf 
den unwegsamsten Pfaden. Daran aber wird der Hochländer früh¬ 
zeitig gewöhnt: schon das zehnjährige Kind sieht man so mit einer 
seinen Kräften angepassten Bürde dahinschreiten. Doch reicht Hoch¬ 
lands eigener Heuvorrath keineswegs für den heimischen Viehstand 
aus, der Bedarf verlangt noch einigen Zuschuss, den man, nach der 
Heimkehr von der Mühle, aus Fredrikshamn anzuschaffen pflegt. 
Bei der nämlichen Gelegenheit wird an den Sägewerken von Kotka 
Halt gemacht, um die Jale, gegen den geringen Preis von 12 bis 
2oFmk. (4—6 Rbl. Silber), mit Sägeabfällen und Bretterstümpfen zu 
Brennholz anfüllen zu lassen. Seinen eigenen Wald hat der Hoch¬ 
länder noch nicht plündern gelernt. 

Wenn die Erntezeit dem Landmann die angestrengteste Som¬ 
merarbeit bringt, rüstet der Hochländer seine Jale aufs Neue und 
begiebt sich wieder hinaus auf sein geliebtes Meer. Längs der insel¬ 
reichen Küste Finlands, häufig bis nach Helsingfors und Reval, 
dehnt er seine Frachtfahrten aus, in solchem freien Leben einen 
Reiz findend, der ihm über alles Behagen des Festlandsbewohners 
geht, da er dessen beschwerlichere Arbeit nicht zu leisten ver¬ 
möchte. Gegen Ende des Sommers kehren die Jalen von den 
Frachtfahrten heim, denn ini September beginnt die Zeit des herbst¬ 
lichen Heringsfanges, der alsdann nicht an der heimatlichen Küste, 
sondern an einigen gepachteten Felsklippen, in der Nähe vom 
finnischen Festlande stattfindet. Im October ist dieser Fang beendet, 
worauf die zweite Reise nach Estland vorgenommen wird. 

1 Gegen 20 Werst westlich von Fredrickshamn gelegen. 


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Von dort zurückgekehrt, gehen die Jalen nicht mehr in die See, 
deren freie Wogen der scharfe Winter bändigt, seine harte, schwere 
Eisdecke über sie ausbreitend. Aber auch dann bleibt der Hoch¬ 
länder nicht beim warmen Ofen hocken; auch dann noch ist er 
bemüht, dem Meere seine Schätze abzutrotzen. Er versieht sein 
Boot mit Schlittenpchienen, nimmt gehörigen Speisevorrath mit und 
begiebt sich auf den Seehundsfang. Mitten auf der gefrorenen See 
verbringt er an 6 bis 8 Wochen in einem kleinem offenen Boot, den 
Stürmen und der Kälte ausgesetzt; und doch ist er froh, wenn er 
für seine Mühe 10 bis 12 erlegte Seehunde als Ersatz heimbringen 
kann. Bei dieser Jagd sind ihm die Thiere von besonderem Nutzen, 
deren Hochland in gehöriger Menge besitzt, — die hinter jedem 
Zaun, vor jedem Hofthor oder Verschlag mit gefletschten Zähnen 
alle Vorübergehenden stets laut anbellenden Hunde. Hinter den Eis¬ 
stücken erspäht der Hund ein Junges, dass er seinem Herrn bringt. 
Dieser befestigt das Thierchen an die Klaue eines eisernen Doppel¬ 
hakens, an den ein langes Seil gebunden ist, und setzt es an den 
Rand einer im Eise ausgehauenen Oeffnung. In ihrer Angst um das 
Junge kommt die Seehündin bald herbei und sucht das Thierchen 
zu sich ins Wasser hinabzuschieben; dabei aber geräth sie selbst in 
die andere Klaue, womit das Eisen versehen ist- Sofort bringt der 
Hochländer die Gefangenen in seine Gewalt. 

Einen weitaus ergiebigeren Ertrag, als aus dem beschwerlichen, 
mit eben so vielen Gefahren wie Entbehrungen verknüpften See¬ 
hundsfang, bezieht der Hochländer durch das Lootsenwesen. Hierbei 
ist fast jeder Mann dort einen Theil seines Lebens beschäftigt 
gewesen. Nach Kotka, Fredrikshamn, Wiborg, ja sogar bis nach 
Kronstadt lootst er die fremden Schiffe, und legt dann in einem 
kleinen Boot, auch die 100 Werst aus dem letztgenannten Kriegs¬ 
hafen, allein den Heimweg gefahrlos zurück. An der Nordspitze 
der Insel, wo ein gefährliches Riff sich in die See erstreckt, ist von 
der russischen Marine eine Rettungsstation angelegt, an welcher 
zwölf von Hochlands seetüchtigsten Männern angestellt sind. Bei 
ertönendem Nothsignal eilen sieben Mann, korkumgürtet, in rothen 
Hemden und mit blanken Hüten, ans luftgefüllte Boot, das alsbald 
über die rasenden Wogenkämme hinweggleitet. Wenn auch nicht 
unter eigener Flagge thätig, hat der Hochländer doch selbst dem 
Fremdling in den Gefahren beizustehen, die diesen an den Ufern 
seiner Heimatinsel treffen können. 

Vermittelst seiner rastlosen Thätigkeit bringt es der Hochländer 


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zu einem Einkommen, das ihm das Behagen einer angenehmen 
Häuslichkeit ermöglicht. Sein Haus baut er sich mit auffälliger 
Raumverschwendung. Durch die Hausthür betritt man eine grosse 
Vorstube, ihr zur Rechten sind einige kleinere Zimmer mit beson¬ 
derem Ausgang, und einen solchen hat auch die Küche, die fast fn 
keinem hochländischen Hausstande fehlt. Die allgemein herrschende 
Sauberkeit und Reinlichkeit erhöht nicht wenig den anmuthenden 
Eindruck, den man von der ganzen Behausung empfängt. Zwar 
giebt es keine Tapeten, aber statt dessen sind die Bretterwände sorg¬ 
fältig gescheuert. Häufig leuchtet dem Eintretenden auch sein 
eigen Bild entgegen, denn der Hochländer hat grosse Vorliebe für 
Spiegel, womit bei Hochzeitsfesten ganze Wände bekleidet zu sein 
pflegen. Vielfach wird ihm dies Hausgeräth durch Schiflbrüche 
zugeführt. Als Wirth ist der Hochländer gastfrei und freigebig, 
obschon hieran sich die Forderung knüpft, seinerseits eben so reich¬ 
lich bewirthet zu werden, wenn er zu Gast kommt. Der Besuchende 
erhält seinen Platz an dem mit einem säubern Tuch bedeckten Tische 
in der Wohnstube, wo der Hausherr die Unterhaltung pflegt, bis 
die Tochter oder Hausfrau mit den dampfenden Kaffetassen er¬ 
scheint, denen jedoch kein Gebäck beigegeben, da nur bei ganz 
besondern Festtagen die an Bastschnüren gereihten Kringel zum 
Vorschein kommen, wie solche an den finländischen Jahrmärkten 
feilgeboten werden. Auf den Kaffe folgen einige Gläser Portwein, 
Kirschwein oderauch einfach «das reine Korn», mit einigen Tropfen 
«Rigaer Balsam» hübsch bunt gefärbt. Den Zuspruch dieser Waaren 
beim Gaste zu fördern, hat der Hochländer eine reiche Auswahl von 
Benennungen 1 für die verschiedenen zu trinkenden Gläser, von 
denen das erste' dem Willkommen gilt, die folgenden, reichlich 
wiederholt, dem Behagen im Hause, das man ohne Abschiedstrunk 
selbstverständlich nicht verlassen darf. — Wer Gelegenheit hat, an 
den Mahlzeiten des Hochländers sich zu betheiligen, wird bei dessen 
Speisekarte die Verlegenheit der Wahl nicht zu erleiden haben. 
Alltäglich, zu fast jeder Mahlzeit giebt es Hering, wobei nur die 
Art der Zubereitung wechselt, und darin allerdings entfaltet der 
hochländische Hausstand eine gewisse Geschicklichkeit. Bisweilen 
wird dies Einerlei durch scharfgesalzenes Fleisch unterbrochen* 
und wenn Milch gereicht wird, bekommt man sie meist nur in 
Glässern knapp zugemessen, höchst selten dagegen in der so 


* In finnischer Sprache der einzigen auf Hochland gebräuchlichen. 


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schmackhaften Form als Setzmilch. Zum Abend giebt es gewöhnlich 
Thee, der direkt aus Russland bezogen worden. Reichhaltiger fallt 
die Tafel aus an grossen Festtagen oder bei den Gelegenheiten, wo 
Angehörige und Nachbarschaft zur Theilnahme an gemeinsamer 
Arbeit, wie solche namentlich beim Anfertigen der Aussteuer oder 
auch sonst vorkommt, hinzugezogen werden. An Sonntagsnach¬ 
mittagen finden häufig in dem geräumigen Vorplatz eines grösseren 
Hauses Tanzvergnügen statt, die jedoch, wie es wohl geschah, 
ganz ausgesetzt werden müssen, wenn die Quinte auf der einzigen 
Geige gesprungen und der Schaden mehrere Wochen hindurch ohne 
Abhülfe bleibt. Alsdann greift man wohl zu den auch sonst an 
schönen Abenden im Freien gebräuchlichen Fangspielen, von denen 
man sich nicht abhalten lässt, sogar dann nicht, wenn der Wind 
sich schärfer erhebt und mit den aus der Brandung empor¬ 
spritzenden Tropfen die erhitzte Wange kühlt. Auffallender Weise 
ertönt nie Gesang von den Bergen Hochlands; es ist, als ob er 
durch das dort unablässige Hundegebell und das rollende Getöse 
der Wogen, das schon bei der Wiege jedes hochländischen Kindes 
ertönt, nicht zur Entfaltung gelangen könne. 

Am Dorfstrande, wo die Jugend ihre Spielplätze hat, pflegen die 
Männer Hochlands an milden Sommerabenden sich zu versammeln 
rauchend und plaudernd, die Hände auf dem Rücken, lehnen sie an 
die Thüren der Häuser oder Gelasse, die Blicke der See zuge¬ 
wandt. Man sieht es diesen Gestalten an, dass ihr mit vielfachen 
Gefahren und Entbehrungen verbundenes Leben sie zu kräftigen 
und besonnenen Männern geschult. Doch auf der See allein, zumal 
wenn es gilt Fassung und Gevvandheit den gereizten Elementen 
gegenüber zu bewahren, lernt man die Stärke ihrer Arme und die 
Besonnenheit in ihrem Wesen erst recht schätzen. Keinen grossem 
Unterschied giebt es, als den Hochländer schwerfälligen Schrittes 
auf dem Festlande einherkommen und behend wie ein Eichhörnchen 
an dem Tauwerk seiner Jale umherklettern zu sehen. Rühmlich ist 
auch die Bereitwilligkeit, womit die Leute dort einander helfen, 
obschon es um die nachbarliche Eintracht nicht immer zum Besten 
steht. Durch das Schicksal gänzlich auf einander hingewiesen, ver¬ 
mögen auch sie, wie gar oft die am nächsten zusammen Gehörenden, 
nicht die Zwietracht von sich fern zu halten. Gerichtlicher Beistand 
wird angerufen, um sich von dem Schimpf zu entledigen, den man 
durch ein Schmähwort eines Gefährten erlitten zu haben glaubt; 
und den Nachbarn, der es sich beikommen Hess, einen fremden 


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Hofraum zu überschreiten, ist man fähig, vor dem Richter zu 
belangen. 

Zweier Dinge wegen aber steht der Hochländer in bösem Ruf: 
wegen des Schmuggels und des Beuterechts, das er an gestran¬ 
deten Fahrzeugen üben soll. Beiden Vorwürfen giebt sein Ver¬ 
halten einige Stütze, doch wäre es ungerecht, desshalb ein völliges 
Verdammungsurtheil über ihn zu sprechen. 

Die Schmuggelthätigkeit des Hochländers gehört eigentlich einer 
reichlich längst vergangenen Zeit an, wo er in diesem Geschäfts¬ 
zweige keineswegs der vielseitigsten Concurenz ermangelte. In 
dunkeln stürmischen Herbstnächten, wo die Zollwächter gern Schutz 
in einem Hafen suchten, wurde manches Fässchen Branntwein zu den 
estnischen Freunden hinübergeschafft. Auf etwaige Anfrage hin, 
wurde die Ladung einfach für Ballast erklärt. Der an den näm¬ 
lichen Gestaden herrschende hohe Zoll für Salz hat diesem wich¬ 
tigen Nahrungsartikel manche auf Schleichwegen beförderte Ladung 
von Hochland aus zugeführt. Das Abenteuerliche solcher Fahrten 
dürfte, zusammen mit den geschäftlichen Vortheilen, nicht wenig 
zum Betrieb dieser Unternehmungen beigetragen haben, die mit 
zunehmender Wachsamkeit seitens der Zollbedienung den eigen- 
thümlichsten Aufwand an Verschlagenheit und Erfindungsgabe 
veranlassten. So sollen bisweilen, nachdem man die estnische Küste 
erreicht, die wohlverschlossenen Salzfässer in die Tiefe am Ufer 
versenkt worden sein, um später bei günstiger Gelegenheit hervor¬ 
geholt und in sicheres Verwahr gebracht zu werden. Auch diese 
List wurde von den spähenden Wächtern entdeckt, und noch lange 
behielten die Hochländer einen Grimm gegen den Gefährten, der 
durch seine Achtlosigkeit den Argwohn und die Strenge der Zoll¬ 
wächter verschärft hatte. Hat man, so wie der Hochländer, von 
Kindheit an die Fahrten dbr Grossväter und Väter mitgemacht und 
sich' an den, wenn auch noch so geringfügigen, Schleichhandel¬ 
geschäften irgend betheiligen müssen, so wird man in solchem Thun 
schwerlich Anderes, als die Ausübung eines Rechtes erblicken, 
dessen man sich ohne Scheu und Bedenken bedienen darf. Um den 
Schmuggel als ungebührlich und unehrenhaft zu betrachten, ist ein 
Bildungsstandpunkt oder doch eine Gediegenheit sittlicher Ueber- 
zeugung erforderlich, wie sie sich wohl in gegenwärtiger Zeit noch 
nicht allgemein bei den Volksschichten vorfinden dürfte, zu welchen 
die Bewohner Hochlands ihrer Kulturbeschaffenheit nach gehören. 
Uebrigens steht das Vorwalten des fraglichen Missstandes bekanntlich 


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in genauester Beziehung zu gewissen staatsökonomischen Verhält¬ 
nissen, mit deren naturgemäss erforderlichen Regelung es von selbst 
verschwindet. 

Ebenso wird der Hochländer beschuldigt, die bei seiner Insel vor¬ 
kommenden Schiffbrüche erbarmungslos zu seinem Vortheil auszu¬ 
beuten. Geglaubt wird nämlich, dass wenn die rasenden Herbst¬ 
stürme seinem heimatlichen Ufer die Trümmer eines gestrandeten 
Schiffes zuführen, pflege er'wie ein Raubvogel hinaus zu eilen, um 
sich Alles anzueignen, was er von dem durch Sturm und Wogen 
schwer heimgesuchten Fahrzeug nur irgend erbeuten könne. Aller¬ 
dings bringt das Heranschwimmen einer losgelösten Schiffsplanke 
dem Bewohner Hochlands eine Aufforderung, seine Jale rasch zu 
besteigen, und kühn gleitet er damit über die schäumenden Wellen 
hinweg zur Stelle, wo Noth und Gefahr obwalten. Ein Anlass mit, 
sein Leben so aufs Spiel zu setzen, giebt ihm wohl die Aussicht, 
Einiges von den durch die empörten Fluten umhergeworfenen Ge¬ 
genständen lieber für sein Haus zu bergen, als es, an dem harten 
Felsufer zerschellt, verloren gehen zu lassen. Gleichzeitig aber 
gehorcht er auch einem edleren Gefühl, das er hinlänglich dann wie 
sonst häufig genug bewährt, in der dem Schiffbrüchigen geleisteten 
Hülfe. Der Besatzung manches verunglückten Schiffes hat sein 
Haus die gastlichste Freistatt geboten, wie es auch andererseits, 
obschon in Folge der dem hochländischen Seemann eigentüm¬ 
lichen Gewandtheit weniger oft, vorgekommen, dass die Gefahr 
diejenigen mit zum Opfer nahm, welche von Hochland herbei¬ 
geeilt waren, den in Seenoth befindlichen Fremden Beistand zu 
leisten. Manche zu diesem Zweck hinausgeeilte Jalc wurde nach 
vorübergegangenem Sturm leer umliertreibend gefunden, zum deut¬ 
lichen Zeichen, ein wie gefährliches Grab derer lauert, die sich auf 
die den Hochländern so sehr verdachten «Kaperfahrten» begeben. 

Gewähr für dauernden Erwerb bieten aber weder Schmuggel noch 
Ausübung des Strandrechts. Soweit derlei irgend vorgekommen, 
kann es lediglich nur als Ausnahme gelten,, und darf bei einer rich¬ 
tigen Beurtheilung der Hochländer eben so in Betracht genommen 
werden, wie etwa die als zu hoch verschrienen Preise, womit 
Besucher der Insel ihren Bedarf an Lebensunterhalt und Obdach 
dort zu vergüten haben. Die höchst unzureichenden Hülfsquellen der 
Insel selbst erklären zur Genüge diese angebliche Uebertheuerung, die 
auch keineswegs aus einer Neigung, den Fremden zu prellen, ent¬ 
springt, da eine solche Verdienstweise einen so regen Fremdenver- 


* 


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kehr voraussetzt, wie er auf Hochland niemals eintreten kann. Durch¬ 
gängig sichere und geregelte Existenz hat Arbeit zu ihrer nothwen- 
digen Voraussetzung, und gerade dieser Forderung genügt der 
Hochländer so vielfach und unverdrossen, dass ihm die ehrenhafte 
Anerkennung gebührt für die redliche und mannhafte Weise, wie 
er bei einer kargen Natur, mitten in sturmbewegter See um sein 
Dasein kämpft. RICHARD SlEVERS. 


Der asiatische Handel Russlands im Jahre 1873. 

Von 

Fr. Matthäi. 

Die letzte Ausgabe der officiellen russischen Handelstabellen be¬ 
handelt zum ersten Male den asiatischen Handel Russlands ganz in 
derselben Weise wie den Handel Russlands über die europäische 
Grenze, und gestattet daher auch eine eingehendere und verglei¬ 
chende Beurtheilung der das östliche Handelsgebiet Russlands be¬ 
herrschenden und berührenden Verhältnisse. 

Vom Jahre 1867 an, in welchem die orenburgische und westsibi¬ 
rische Zolllinie aufgehoben und daher der Handel nicht nur mit 
W T estsibirien, sondern auch mit Buchara, der Kirgisensteppe und 
später mit Taschkent in den inneren Handel Russlands einbezogen 
wurde, gestaltete sich der Entwickelungsgang des russisch-asiati¬ 
schen Handels in allgemeinen Umrissen wie folgt: 

Waaren-Ausfuhr Waaren-Einfuhr 

aus Russland nach Asien: aus Asien nach Russland: 


im Jahre 

Rbl. 

Zunahme od. Abnahme im 
Vergleiche 10m Vorjahre 

Rbl. 

Zunahme od. Abnahme im 
Vergleiche mm Vorjahre 

1867. 

. 8,005,152 

— 

15 , 584,431 

— 

1868 . 

. 8,909,843 

+ 11 pCt. 

16,498,329 

4 “ 5*8 pCt. 

1869 . 

• 7 , 934,376 

-11 » 

17 , 863,776 

+ 8 » 

1870 . 

• 8 , 379.234 

+ 5,6 » 

20,510,011 

+14,8 » 

1871 . 

. 8,904,026 

+ 6 » 

15.929,946 

-22,3 » 

1872. 

• 9 , 331,700 

+ 5 • 

19,235,261 

+ 20,7 » 

1873 • • 9,757.056 
Im Vergleiche z.J. 1867 

+ 4,5 * 

+ 21,8 » 

20 , 957,923 

+ 9 » 

+27,6 » 


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252 


Gold und Silber in Geld und Barren wurden 


im Jahre 

aus Russland nach Asien 
ausgeführt: 

aus Asien nach Russland 
eingeführt: 

1867. 

. . 2,096,263 Rbl. 

290,588 Rbl. 

1868. 

• • 2,363,094 » 

441,226 » 

■1869 . 

• • 1 . 523,917 » 

3 r 4 , 7°7 » 

1870 . 

. . 1,002,148 » 

410,581 » 

i—• 

00 

*-* 

. . 1 , 339,156 » 

252,557 » 

1872. 

. . 2,163,205 » 

69,855 . 

1873 • 

. . 1,508,970 » 

653,825 » 


Im Ganzen hat demnach, mit nur einzelnen und kurzen Unterbre¬ 
chungen, der russisch-asiatische Handel bis zum Jahre 1873 e * ne nor ' 
male und steigende Entwickelung aufZuweisen, und steht es zu erwar¬ 
ten, dass mit der Befestigung des russischen Einflusses in Central- 
Asien auch der russische Handel in dem letztgenannten Länderge¬ 
biete immer mehr zur Geltung gelangen werde. Unter den Zollge¬ 
bieten, welche für den russisch-asiatischen Handel von Bedeutung 
sind, nehmen die des Kaukasus und das von Kjachta den ersten 
Platz ein. Das Astrachan’sche Zollamt ist von geringerer Bedeutung. 
Es wurden 1873 Waaren nach Asien ausgeführt: 

über die kaukasische Grenze für 5,238,485 Rbl. 

» Kjachta.» 3,561,182 » 

* Astrachan.» 957*389 » 

Es wurden im gleichen Jahre aus Asien eingeführt: 
über die Zollämter des kaukasischen Gebietes. . für 7,826,790 Rbl. 

» das Zollamt von Kjachta. * 11*567,795 * 

» » » * Astrachan. » 1,562,112 * 

und über die Handelsplätze am Flusse Amur . . » 1,226 » 

Ausfuhr aus Russland Uber die asiatische Grenze. 

1. Lebensmittel für 904,923 Rbl.; darunter: Getreide für 725,283 
Rbl. (vorzugsweise Mais — für 592,458 Rbl.), Vieh für 78,335 Rbl., 
Thee für 22,6ioRbl., Zucker für 13,994Rbl., Tabak für 12,259Rbl. 
und Fleisch für 10,386 Rbl. 

2. Rohstoffe und Halbfabrikate für 4,234,511 Rbl.; darunter als 
Hauptposten: Rohseide für 1,821,<>74 Rbl., rohe Schafwolle für 
748,047 Rbl., Leder für 609,456 Rbl. (Häute für 305,589 Rbl., Juch¬ 
ten für 235,936 Rbl. und bearbeitetes Leder für 67,931 Rbl.), Höl¬ 
zer (Palm- und Nussholz) für 324,345 Rbl., unbearbeitete Metalle für 
286,163 Rbl. (Eisen für 214,361 Rbl. und Kupfer für 50,515 Rbl.), 


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*53 


Rohbaumwolle für 160,946 Rbl., Holzmaterial für 64,622 Rbl. und 
Farbewaaren für 64,343 Rbl. 

3. Fabrikate und Erzeugnisse der Industrie und der Gewerbe für 
3,713,740 Rbl.; darunter als Hauptposten: Tuch für 1,546,106 Rbl., 
Baumwollenwaaren für 1,075,605 Rbl., VVollenwaaren(ausserTuch)für 
457,504 Rbl., Metallwaaren für 217,384 Rbl., Lein- und Hanfwaaren 
für 108,577 Rbl., Glas- und Porzellangeschirre für 105,793 Rbl., Pa¬ 
pier für 72,910 Rbl., Seidenstoffe für 69,625 Rbl. und Stearinlichte 
für 68,542 Rbl. 

4. Verschiedene Waaren für 892,136 Rbl.; darunter: Pelzwerk für 
775,169 Rbl., Pferde für 67,205 Rbl., Kurzwaaren für 19,807 Rbl. 

5. Apothekerwaaren für 11,746 Rbl. 

Die Ausfuhr nach Asien des Jahres 1873 war im Vergleiche zu 
der des Jahres 1872 um 4,5 pCt. gestiegen. Erhöht hatte sich die 
Ausfuhr nachstehender Artikel: Wollenwaaren incl.Tuch (+ 422,631 
Rbl.), Baumwollenwaaren (+ 214,992 Rbl.), Leder (-f 110,128 Rbl.), 
unbearbeitete Metalle (+ 108,482 Rbl.), Lein- und Hanfwaaren 
(+ 55»°54 Rbl.), Metallwaaren (+ 69,138 Rbl.), Pelzwerk (+ 262,155 
RbL), Zucker (-f- 1,320 Rbl.), Holzwaaren (+ 41,167 Rbl.), Apothe- 
kerwaaren (4- 8,226 Rbl.). 

Gesunken dagegen war die Ausfuhr von Rohbaumwolle (—464,027 
Rbl.), von Schafwolle (— 59,819 Rbl.), von Zucker (— 99,120 Rbl.), 
von Getreide (— 301,989 Rbl.), von Vieh (— 2,004 Rbl.), von Farbe¬ 
waaren (— 14,722 Rbl.). 

Einfuhr nach Russland Uber die asiatische Grenze. 

1. Zollfreieingefiihrte Waaren für 1,534,510 Rbl. (um 434,150 Rbl. 
weniger als 1872). Die Haupteinfuhr dieser Kategorie bildeten nach¬ 
stehende Waaren: Rohbaumwolle 135,967 Pud für 605,352 Rbl., 
Hausthiere verschiedener Art, Pferde etc. für 308,030 Rbl., Getreide 
631*613 Pud für 236,546 Rbl., rohe und gesalzene Häute 55,083 
Pud für 150,894 Rbl. 

2. Lebensmittel für 13,541,601 Rbl. (für 3,362,457 Rbl. mehr als 
1872); darunter: Thee 693,698 Pud für 10,821,302 Rbl., Früchte 
und Gemüse für 1,135,910 Rbl., Kolonialwaaren für 403,566 Rbl. 
(darunter Raffinadezucker für 363,124 Rbl.), Reis für 342,016 Rbl., 
Fische für 294,774 Rbl., Tabak 30,366 Pud für 272,422 Rbl. und 
Getränke für 136,543 Rbl. 


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3. Rohstoffe und Halbfabrikate für 1,299,650 Rbl. (um 197,494 
Rbl. weniger als 1872); darunter: bearbeitetes Leder für 117,858 
Rbl., Pelzwerk für 203,122 Rbl., Rohseide für 224,838 Rbl., Schaf¬ 
wolle für 34,211 Rbl., Baumwollengarn für 49,971 Rbl., unbearbei¬ 
tete Metall^ für 135,667 Rbl., Farbewaaren für 303,008 Rbl., Che¬ 
mikalien für 27,304 Rbl. und Olivenöl für 46,589 Rbl. 

4. Erzeugnisse der Fabrikindustrie und der Gewerbe für 4,582,162 
Rbl. (um 1,007,774 Rbl. weniger als 1872); darunter als Hauptposten: 
Fayance- und Porzellanwaaren für 22 047 Rbl., Glaswaaren incl. 
Spiegel für 61,711 Rbl., Metallwaaren für 154,448 Rbl., Maschinen- 
und Apparate für 88,101 Rbl., Tischler- und Drechslerarbeiten für 
55,310 Rbl., Papierwaaren für 33,908 Rbl., Lederwaaren für 73,100 
Rbl., Lein- und Hanfwaaren für 50,338 Rbl., Seidenstoffe für 260,393 
Rbl., Wollenstoffe für 357,977 Rbl., Baumwollenwaaren für 2,137,165 
Rbl., verschiedene asiatische Gewebe für 948,793 Rbl., Zündhölz¬ 
chen für 31,722 Rbl. 

Im Vergleiche zum Jahre 1872 war 1873 die Einfuhr gestiege?i: 
von Thee um 3,291,901 Rbl., von Früchten um 62,405 Rbl., von 
Vieh um 55,788 Rbl., von Fischen um 51,379 Rbl., von Farbewaaren 
um 36,815 Rbl. und von Metallwaaren um 24,662 Rbl. 

Dagegen war im genannten Jahre die Einfuhr gesunken: von Baum¬ 
wollenwaaren um 1,576,467 Rbl., von roher Baumwolle um 454,160 
Rbl., von Leder und Lederwaaren (incl. Häuten) um 263,428 Rbl., 
von Wollenstoften um 300,763 Rbl., von Zucker um 161,079 Rbl., 
von Seidenstoffen um 137,223 Rbl., von Tabak um 133,427 Rbl., 
von Baumwollengarn um 44,762 Rbl., von Getreide um 30,033 Rbl, 
von Pelzwerk um 10,962 Rbl., von Wolle uni 8,035 Rbl., von Roh¬ 
seide um 1,955 Rbl. 

Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, dass die nicht unan¬ 
sehnliche Steigerung des asiatischen Importhandels hauptsächlich 
auf Rechnung der vermehrten Thee-Einfuhr zu setzen ist. Dagegen 
hatte der Import von für die russische Industrie sehr wichtigen Hülfs- 
stoffen und anderen asiatischen Fabrikaten, wie z. B. von Baum¬ 
wolle und Baumwollenfabrikaten, von Rohleder etc. sehr erheblich 
nachgelassen. 

Durch die aus Asien nach Russland importirten Waaren erzielte 
die russische Regierung eine Zolleinnahme von 3,403,589Rbl., ausser 
ioo,504Rbl., welche durch einen Zuschlag von 5 pCt. zum Zoll für die 
über Kjachta eingeführten chinesischen Waaren eingekommen sind. 


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Russlands Handelsverkehr mit den einzelnen Staaten Asiens. 

I. Die asiatische Türkei. 

+ od. — im Vergleiche zu 1872 


Rbl. Rbl. pCt. 

Ausfuhr aus Russland.für 2,520,982 — 1,031,163 = 29 

Einfuhr aus der asiatis. Türkei. » 5,062,637 — 1,212,748 = 19 

Mehr Einfuhr als Ausfuhr ... für 2,541,655 Rbl. 

oder ca. 100,8 pCt. 1872: 79 pCt. 


Die Hauptausfuhrposten aus Russland nach der asiatischen Türkei 
bildeten auch* im Jahre 1873: Getreide für 570,454 Rbl. (— 19,684 
Rbl.), darunter 100,593TschetwertMais für 505,283Rbl., 2372Stück 
Ochsen und Kühe für 23,701 Rbl. und 10,024 Stück Kleinvieh für 
35,610 Rbl. (— 6,043 Rbl.), 14,939 Pud Rohseide für 935,464 Rbl. 
(4- 27,812 Rbl.), 11,491 Pud Schafwolle für 140,677 Rbl. (+ 25,810 
Rbl.), 24,009 Pud (— 57,174), Rohbaumwolle für 142,757 Rbl. 
(— 481,322 Rbl.), 42,852 Stück Rohhäute für 226,977 Rbl. (J- 31,751 
Rbl.), Nuss- und Palmholz für 121,472 Rbl., Farbewaaren für 26,123 
Rbl. (+ 1,265 Rbl.), Holzmaterial für 60,419 Rbl., Wollenwaaren für 
62,558 Rbl. (+42,546 Rbl.) und Pferde 1,901 Stück für 60,905 Rbl. 

Die Haupienifuhrartikel aus der asiatischen Türkei nach Russland 
bildeten: Getreide 432,314 Pud für 143,638 Rbl. (—28,504 Rbl.), 
Vieh für 134,933 Rbl. (—22,093 Rbl.), Raffinadezucker 25,932 Pud 
(—20,961) für 223,689 Rbl. (— 174,325 Rbl.), Tabak 28,932 Pud 
(— 16,531) für 260,971 Rbl., Thee 5,835 Pud (—2,893) für 196,428 
Rbl., div. Weine für 73,590 Rbl., Leder für 30,655 Rbl., Pelzwerk 
für 17,181 Rbl., Lein- und Hanfgarn für 19,002 Rbl., Schienen für 
52,438 Rbl., Farbewaaren für 45,733 Rbl. (— 29,088 Rbl.), Chemi¬ 
kalien für 27,265 Rbl., Olivenöl für 43,341 Rbl., Fensterglas für 
40,433 Rbl., Arbeiten aus Schmiedeeisen für 48,045 Rbl, Eisen¬ 
draht für 69,566 Rbl., Lokomobilen und Dampfmaschinen für 73,000 
Rbl., Schuhwerk für 51,110 Rbl., Stoffe, Tücher und Bänder aus 
Seide für 64,666 Rbl. (— 32,770 Rbl.), Wollenfabrikate verschiede¬ 
ner Art für 236,162 Rbl. (— 265,322 Rbl.), Baumwollenwaaren für 
2,086,458 Rbl. (—516,794 Rbl.), Zündhölzer für 31,722 Rbl. und 
Südfrüchte für 75,048 Rbl. (— 27,940 Rbl.). 

Im Allgemeinen zeigt der Handel zwischen Russland und der asia¬ 
tischen Türkei im Jahre 1873 eine nicht unerhebliche Abnahme, in¬ 
dem der Gesammthandel dem Werthe nach um 2,243,911 Rbl. oder 
um nahe an 30 pCt. gesunken ist, ohne dass sich eine specielle Ur¬ 
sache nachweisen lässt. 


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256 


2. Persien. 

-f- oder — im Vergleiche zu 1872 

Ausfuhr aus Russland für 1,819,516 Rbl. + i26,i37Rbl. od. 7 pCt. 
Einfuhr aus Persien » 4,293,908 » —631,065 » » 12,8/ 

Mehr Einfuhr als Ausfuhr 2,473,392 Rbl 3,231,594 Rbl. 

oder 135,9 pCt. 1872: 190 pCt. 

Die Hauptausfuhrartikel aus Russland nach Persien waren 1873 : 
Getreide 18,920 Pud für 43,250 Rbl. (—376,202 Rbl.), Rohbaum¬ 
wolle 3,568 Pud für 18,189 Rbl., Häute 2,905 Stück für 15,234 Rbl., 
Farbewaaren 6,347 Pud für 38,220 Rbl. (— 13,151 Rbl.), unbearbei¬ 
tete Metalle 101,040 Pud (+66,125 Pud) für 279,820 Rbl., Nafta 
32,203 Pud füri2,32oRbl„ Schreibpapier 22,735 Ries für 72,910 Rbl., 
Holzwaaren für 19,368 Rbl., Baumwollenwaaren für 388,735 Rbl. 
(+ 54,558 Rbl.), Lein- und Hanfwaaren für 27,553 Rbl., Seidenstoffe 
für 69,525 Rbl. (— 12,953 Rbl.), Wollenstoffe für 303,160 Rbl. 
(+ 97,171 Rbl.), Metallwaaren für 168,761 Rbl. (+ 97,119 Rbl.), Por¬ 
zellan- und Glaswaaren für 105,664 Rbl., Stearinlichte 6,584 Pud für 
68,542 Rbl. und Pelzwerk für 16,640 Rbl. (—49.205 Rbl.). Eine 
Ausfuhr russischer Tuche nach Persien, die in früheren Jahren von 
Bedeutung war, hat auch im Jahre 1873 nicht mehr stattgefunden. 

Die Haupteinfuhrartikel aus Persien nach Russland bildeten: Ge¬ 
treide 199,289 Pud für 92,836 Rbl., Baumwolle 134,787 Pud 
(— 78,297 Pud) für 593,928 Rbl., Hausthiere für 59,073 Rbl., Reis 
445,123 Pud für 336,836 Rbl, Früchte und Gemüse verschiedener 
Art 608,502 Pud für 1,034,943 Rbl. (+ 73,299 Rbl.), Fische 775,732 
Pud für 270,619 Rbl. (+ 53,438 Rbl.), Tischlerholz für 40,049 Rbl., 
Leder für 86,945 Rbl., Pelzwerk 9,228 Pud für 140,525 Rbl. 
— 52,287 Rbl.), Rohseide für 86,472 Rbl. (—38,819 Rbl.), Farbe¬ 
waaren 64,020 Pud für 257,275 Rbl. (+ 66,067 Rbl.), Seidenstoffe für 
195,068 Rbl. (— 103,217 Rbl.), Wollenwaaren für 93,421 Rbl. (—44,22 7 
Rbl.) und Baumwollenwaaren für 753,197 Rbl. (— 84,451 Rbl.). 

3. Chiwa. 

Der Handel Russlands mit Chiwa beschränkte sich im Jahre 1873 
nur auf einen, wenn auch im Vergleiche zum Vorjahre etwas gestei¬ 
gerten, im Allgemeinen aber doch sehr geringen Importhandel. Im 
Jahre 1872 hatte Russland nach Chiwa wenigstens noch für 4,286 
Rbl. Waaren abgestzt, während es aus letztgenanntem Staate für 
16,555 Rbl. Waare einführte. I m Jahre 1873 bezog Russland nur 
aus Chiwa Waaren im Werthe von 17,896 Rbl. Dieselben bestan¬ 
den in 605 Pud Baumwolle für 3,025 Rbl., in 34 Pud Rohhäuten für 


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92 Rbl., in 86 Pud Rohseide für 6,795 Rbl., in 37 Pud Schafwolle für 
222 Rbl., in Wollenstoffen für 1,874 Rbl. und in fertigen Kleidungs¬ 
stücken fiir 6,556 Rbl. Aus diesen Angaben ist zu ersehen, dass 
trotz der späteren politischen Erfolge Russlands dieses letztere noch 
voraussichtlich bedeutende Anstrengungen machen muss, um hin¬ 
sichtlich seines Handels mit Chiwa zu nur einigermassen nennens- 
werthen Resultaten zu gelangen. Gegenwärtig allerdings sind die 
Chancen für Russland weit günstiger, und sind es vornehmlich die 
commerciellen Erfahrungen des Jahres 1873, welche Russland ver¬ 
anlasst haben mögen, auch in Berücksichtigung seiner materiellen 
Interessen Ordnung in seine Beziehungen zu Chiwa zu bringen. 

4. China. 

-f- — ■ Teigkicb am Jahn 1812 

Ausfuhrnach China für 3,561,182 Rbl. + 735,951 Rbl. = 26 pCt. 
Einfuhr aus China > 11,569,021 » + 3,554,016 » =44 » 

Mehr Einfuhr aus China;8,007,839 Rbl. 5,189,774 Rbl. 

als Ausfuhr dorthin | oder 225 pCt. 1872: 184 pCt. 

Die Hauptausfuhrartikel Russlands nach China bestanden in nach¬ 
stehenden Waaren: Schweine 1,110 Stück für 14,407 Rbl., Weizen 
2,363 Tschetw. für 23,915 Rbl., Thee 1,523 Pud für 15,110 Rbl. (? d. 
Verf.), bearbeitetes Leder und Juchten 67,078 Stück für 302,048 Rbl. 
(+9,758 Rbl.), Hörner 91,188 Stück für 71,010 Rbl., Baumwollen- 
waaren für 684,396 Rbl. (+ 161,286 Rbl.), Leinenwaaren für 59,127 
RbL, Tuch 514,005 Arschin (-f 23,663 Arschin) fiir 1,546,066 Rbl., Me- 
tallwaaren fiir 39,727 Rbl., Pelzwerk fiir 747,992 Rbl.(+ 300,823Rbl.). 

Der Haupteinfuhrartikel aus China besteht selbstverständlich in 
Thee, dessen Import nach Russland sich im Jahre 1873 auf 687,719 
Pud im Werthe von 10,917,582 Rbl. gehoben hatte, demnach gegen 
das Vorjahr, das ebenfalls bereits schon eine bedeutend stärkere 
Thee-Einfuhr aufzuweisen hatte, um 190,434 Pud oder dem Werthe 
nach um 3,651,678 Rbl. Der eingeführte Thee bestand in 9,605 
Pud Blüthenthee, grünen und gelben Thee für 309,951 Rbl., in 
271,129 Pud schwarzen Thee für 5,721,051 Rbl. und in 406,985 Pud 
Ziegelthee für 4,586,580 Rbl. Ausser diesem Thee wurden noch 
folgende Artikel in einem etwas grösseren Verhältnisse aus China 
nach Russland eingeführt: Häute 40,865 Pud für 122,596 Rbl., 
Haüsthiere für 114,024 Rbl., Zucker 12,930 Pud für 135,662 Rbl., 
Rohseide für 126,558 Rbl., Drechslerarbeiten für 15,410 Rbl., Wol- 
lenwaaren für 23,851 Rbl., Baumwollenwaaren fiir 306,966 Rbl. 
(+ 34,234 Rbl.) und kleine Galanteriewaaren 970 Pud für 44,107 Rbl. 

Bus. Birw. Bd. YlL .. 


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258 



Nach europäischen Staaten wurden über die asiatische Grenze 
Russlands exportirt: nach England Waaren für 280,248 Rbl. und 
nach Frankreich für 1,575,128 Rbl. Die Ersteren bestanden in Nuss¬ 
und Palmholz 1 (für 202,873 Rbl.), in Mais für 70,675 Rbl. und inWol- 
lenwaaren für 6,700 Rbl.; die Letzteren in Fleischwaaren für 7,880 
Rbl., in Mais für 16,500 Rbl., in 10,756 Stück unbearbeitetem Leder 
für 63,378 Rbl., in 20,020 Pud Rohseide für 880,150 Rbl. und in 
61,889 Pud Schafwolle für 607,220 Rbl. 

Dagegen importirten nach Russland über die asiatische Grenze: 
Preussen Waaren im Werthe von 12,723 Rbl. (Uhren für 10,905 Rbl., 
Goldwaaren und Kleider), Frankreich für 400 Rbl. und Oesterreich 
für 1,338 Rbl. (wissenschaftliche Gegenstände). 

Die für die Ausfuhr und Einfuhr aus Asien bedeutendsten Zoll¬ 
ämter habe ich bereits im 4. Hefte des III. Jahrganges der «Russi¬ 
schen Revue» Seite 378 angeführt. 

In den Zollämtern auf der asiatischen Grenze wurden im Jahre 1873 
für 24,789 Rbl. Waaren confiscirt , darunter Baumwollenstoffe für 
14,763 Rbl. und Zucker für 1,038 Rbl. 

Transitgüter wurden durch das kaukasische Gebiet 1873 geführt: 

a) von Europa nach Persien für 2,643,164 Rbl. (4- 665,298 Rbl. oder 
+ 33 pCt. gegen 1872), und zwar vorzugsweise Zucker für 1,286,608 
Rbl., Manufakturwaaren für 1,225,975 Rbl. undThee für 28,288 Rbl. ; 

b) asiatische Waaren nach Europa für 522,673 Rbl. ( - 17,198 Rbl.), 
darunter Seide für 423,765 Rbl.,Seidencocons für 22,053 Rbl.,Seiden¬ 
raupeneier für 21,700 Rbl. und Manufakturwaaren für 20,053 Rbl. 

Handelsschiffe liefen in die russisch-asiatischen Grenzhäfen im 
Jahre 1873 ein: 1,767 Schiffe (—144 Schiffe) von 89,702 Lasten 
(—7,270 Lasten), und von dort aus 1,662 Schiffe (—241 Schiffe) von 
83,924 Lasten (—9,711 Lasten). 

Von den mit Ballast eingelau- Von den mit Waaren eingelau- 


fenen Schiffe waren 

Lasten 

fenen Schiffen 

waren 


Lasten 

russische .... 

160 von 11,255 

russische . . . 

. 672 von 56,161 

englische .... 

18 

» 4.773 

englische . . . 

4 

» 

970 

deutsche .... 

3 

» 610 

deutsche . . . 

1 

» 

414 

österreichische . 

12 

* 3.244 

österreichische 

• 3 

» 

383 

griechische . . . 

4 

» 76 5 

griechische . . 

1 

• 

125 

türkische .... 

372 

» 5.920 

türkische . . . 

• 436 


4,412 

persische .... 

16 

> 122 

persische . . . 

• 65 

» 

548 


"'v 


1 Unter der Bezeichnung Palmholz ist dickes Buchsbaumholz, wie solches im Kau- 
sus gewonnen wird, zu verstehen, Anm. d. Verf. 


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259 


Von den hier aufgezählten eingelaufenen Schiffen kamen 


aus russischen Häfen . 

. . . 37 mit Ballast und 35 mit Waaren 

» holländischen * . 

... I » 

» » — . 

» französischen » . 

... I * 

» » 3 * 

* türkischen » . 

. . . 490 » 

» »621 » 

» persischen » . 

... 56 » 

• » 5 2 3 • 

Von den 1,662 ausgelaufenen Schiffen gingen 

304 mit Ballast und 165 mit Waaren 

in russische Häfen 

— » > • 

26 » » 

» englische » 

— » * » 

3 » 

> französische » 

1 » » » 

— » . 

» griechische » 

250 * » » 

560 * » 

• türkische » 

66 » » « 

* 

* 

00 

0 * 

» persische » 


In die Häfen des Schwarzen Meeres liefen ein 512 Schiffe von 
23,827 Lasten mit Ballast und 626 Schiffe von 29,700 Lasten mit 
Waaren, in die des Kaspischen Meeres 73 Schiffe von 2,862 Lasten 
mit Ballast und 556 Schiffe von 33,313 Lasten mit Waaren. Obgleich 
die Gesammtzahl der ein- und ausgelaufenen Schiffe sich im Ver¬ 
gleiche zum Jahre 1872 verringert hatte, so hatte sich doch die 
Zahl der mit Waaren eingelaufenen um 11 vermehrt, auch hatte 
sich im Verhältnisse zur Schiffszahl der Lastengehalt der Schiffe 
gehoben. 

Was schliesslich den Personenverkehr über die russisch-asiatische 
Grenze anbelangt, so trafen Überdieselbe in Russland ein 31,136 
Personen und reisten aus Russland 25,104 Personen, so dass mehr 
zu- als ausgereist waren 6,032 Personen. Unter den Angereisten 
befanden sich 18,163 Perser, 4,711 Russen, 7,448 Türken, 480 
Preussen, 118 Griechen, 60 Franzosen, 50 Engländer, 34 Italiener, 

20 Oesterreicher, 20 Bucharen, 8 Chiwesen, 7 Belgier, 5 Schweizer, 

4 Dänen, 4 Amerikaner, 3 Moldauer, 1 Turkmene; unter den Abge¬ 
reisten 11,596 Perser, 9,310 Russen, 3,415 Türken, 586 Griechen, 

76 Preussen, 45 Franzosen, 21 Oesterreicher, 19 Engländer, 18 Ita¬ 
liener, 7 Schweizer, 3 Amerikaner, 3 Moldauer, 2 Belgier, 2 Chiwe¬ 
sen und 1 Buchare. Es reisten daher weniger über die asiatische 
Grenze ab, als zugereist waren: 6,567 Perser, 4,033 Türken, 404 
Preussen, 31 Engländer, 19 Bucharen, 16 Italiener, 15 Franzosen, 

6 Chiwesen, 5 Belgier, 4 Dänen, 1 Amerikaner und 1 Turkmene. 

Dagegen waren mehr aus- als zugereist*. 4,599 Russen, 468 Grie¬ 
chen, 2 Schweizer und 1 Oesterreicher. 

/ 


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i 6 o 


Kleine Mitthel hingen. 


(Ueber die Wirksamkeit der städtischen Communal- 
Banken im Jahre 1874 ] .) Am i. Januar 1874 befanden sich im 
russischen Reiche überhaupt 251 städtische Communal-Banken, zu 
denen im Laufe des Jahres 1874 noch 16 neue hinzutraten, so dass 
am 1. Januar 1875 im Ganzen 267 Communal-Banken in Thätigkeit 
waren. Von diesen hatten 210 Banken ihre Berichte für das abgelau¬ 
fene Jahr (1874) eingesandt. 

Der Umsatz dieser Banken betrug im Ganzen 582,820,730 Rbl., 
von welchen umsetzten die Bank in: 

Charkow .... 99,990,000 Rbl. I Ssaratow .... 11,507,000 Rbl. 

Skopin.35,360,000 * Tambow .... 11,085,000 » 

Pensa.18,172,000 * ' Ssuschkin’sche in 

Woronesh . . . 17,253,000 * 1 Tula.11,002,000 * 

Jelez.15,406,000 * Nishnij Nowgorod 10,898,000 > 

93 Banken erzielten einen Umsatz von 1,000,000 — 10,000,000 Rbl. 
60 • * » * » 500,000— 1,000,000 * 

39 * » » * > 100,000 — 500,000 » 

9 » * * » * weniger als 100,000 * 

Das Grundkapital belief sich im Ganzen auf 14,344,622 Rbl. 2 und 
zwar haben: 2 Banken ein Grundkapital von über 500,000Rbl. 8 


34 

45 

42 

87 


100,000—500,000 
50,000—100,000 
25,000— 50,000 
10,000— 25,000 


Einlagen wurden gemacht für die Summe von 54,333,538Rbl. 4 , von 


denen in: 2 Banken 


über 3,000,000Rbl. 5 einge 


ragen wurden, 


11 

» 

* 1,000,000 » 

IO 

* 

von 500,000—1,000,000 * 

80 

* 

* 100,000— 500,000 * 

46 

* 

* 50,000— 100,000 » 

27 

* 

* 25,000— 50,000 * 

22 

* 

* 10,000— 25,000 » 

6 

* 

weniger als 10,000 • 

6 

* 

gar nichts 


* Nach den im «üpaB. B-kcni.» publicirten officiellen Mittheilungen. Wir verweisen 
zugleich auf den im St. Petersburger Kalender für 1872 und in den daraus abgedruck¬ 
ten «Statist, u. and. wissensch. Mittheilungen aus Russland*, V Jahrgang, veröffent¬ 
lichten Artikel von P. Schwanebach: Russische Banken und Creditanstalten. D. Red. 

* Ausserdem besitzen diese Banken noch einen Reservefond von 2,481,022 Rbl. 

3 Charkow 860,000 und Skopin 757,500 Rbl. 

* Hierzu kommen noch die zum 1. Januar 1874 verbliebenen 53,970,248 Rbl., so 
dass die Totalsumme der Einlagen 108,303,786 Rbl. betrug. 

4 Charkow 6,720,000, Skopin 3,243,000 Rbl. Mit den Resten des vorigen Jahres 
betrugen die Einlagen am I. Januar 1875 in der Bank von Charkow 8,894,000, in 
• l '1^^8,528,000 Rbl. 

A - 


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Disconiirt wurden Wechsel im Ganzen für 160,5 22,405 Rbl., und zwar 
machten das grösste Discontogeschäft die Banken von Skopin für 
9,841,000 Rbl. und von Charkow für 9,514,000 Rbl. Dann kommen: 


Jelez.mit 4,583,000 Rbl. 

Irkutsk ... » 4,197,000 

Tambow . . » 3,847,000 

Nishnij-Nowgorod 3,571,000 
Ssuschkin'sche 

in Tula . . • 3 > 553 >°°o 

Orel. » 3,314,000 

29 Banken discontirten 
34 * 

99 » 

13 » 

17 » » 

3 » » 


Ssaratow . . . mit 3,151,000 Rbl 
Pensa .... * 2,784,000 » 

Kaluga. ... » 2,448,000 » 

Twer. » 2,387,000 » 

Rybinsk ... » 2,085,000 » 

Jelisawetgrad * 2,060,000 » 
Rostow a. Don » 2,005,000 » 

.... über 1,000,000 Rbl. 
von 500,000—1,000,000 * 

» 100,000— 500,000 » 

» 50,000— 100,000 * 

» 10,000— 50,000 » 

» weniger als 10,000 » 


Die Darlehn gegen Werthpapiere, Werthsachen (Mobilien) und 
Immobilien erreichten im Ganzen die Höhe von 39,946,917 Rbl., und 
zwar verabfolgten Darlehn die Bank von: 

Charkow.8,601,000 Rbl. Ssumy.1,648,000 Rbl. 

Woronesh.1,981,000 * Jelisawetgrad . . 1,136,000 » 

Pensa.1,877,000 » 

11 Banken verabfolgten . 500,000—1,000,000 Rbl. 


SO 

» 

» 

. 100,000— 

500,000 

» 

43 

» 

» 

. 50,000— 

100,000 

» 

43 

» 

» 

. 25,000— 

50,000 

» 

23 

» 

» 

. 10,000— 

25,000 

» 

3 i 

» 

» 

weniger als 

10,000 

» 

4 

» 

» 

gar nichts. 




Die Rein-Einnahmen dieser Banken betrugen im Ganzen 10,693,225 
Rbl., und zwar erzielten die grössten Rein-Einnahmen: 

Charkow eine Einnahme von 968,000 Rbl., 

Skopin » » » 787,000 » ferner: 


Woronesh .... 

321,000 Rbl. Jelisawetgrad . . . 

147,000 Rbl 

Irkutsk. 

305,000 

> 1 Ssamara. 

i4i,ooo 

» 

Jelez. 

303,000 

» i Stawropol. 

142,000 

» 

Rjasan. 

252,000 

» ! Alexandrin'sche in 



Tambow. 

237,000 

» : Tula. 

141,000 


Pensa. 

202,000 

» Rostow am Don . . 

139,000 

» 

Ssaratow. 

192,000 

» Twer. 

122,000 

» 

Jarosslaw. 

189,000 

» Bjelgorod. 

119,000 

» 

Orel. 

185,000 

» Rybinsk. 

116,000 

» 

Ssuschkin'sche i.Tula 182,000 

» ! Jekaterinenburg . . 

115,000 

» 

Kaluga. 

181,000 

» Koslow. 

107,000 

» 

Nishnij-Nowgorod 

175,000 

» ; Wladikawkas . . . 

103,000 

> 


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262 


25 Sanken hatten eine Rein-Einnahme von. . 50,000—100,000 Rbl. 

41 » * » » » . . 25,000— 50,000 » 

74 » » » » » . . 10,000— 25,000 » 

43 » » » » » weniger als 10,000 » 

2» »» » »»»i ,000 1 » 

Die Reingewinne dieser Banken wurden verwandt: a) zur Zahlung 
der Zinsen für die effectuirten Einzahlungen, b) zur Bestreitung der 
Verwaltungsunkosten, c) zur Vergrösserung sowohl des Grund¬ 
ais auch des Reserve-Kapitals, und endlich d) zu wohlthätigen und 
städtischen Zwecken. In sämmtlichen Banken betrugen die: 

zu zahlenden Zinsen.6,824,401 Rbl. (ca.6pCt.) 

Verwaltungsunkosten. 754,196 » 

dem Grundkapital wurden zugeschrieben 1,541,230 > 

» Reservekapital » » 329,453 » 

zu wohlthätigen und städtischen Zwecken 

wurden verausgabt.1,243,945 > 

* Im Ganzen 10,693,225 Rbl. 

Für den letzteren Zweck hatten verwandt: 

1 Bank (Skopin).135,000 Rbl. 

1 » (Ssamara). 51,000 » 

3 Banken (Jelez, Rjasan u. Tambow) zwischen 30,000—50,000 » 


10 > (Woronesh, Irkutsk, Kaluga, Kolomna, Kremen tschug, 

Nishnij-Nowgorod, Rostow am Don, Ssaratow, 
Tomsk und Jarosslaw Beträge von 20,000—30,000 » 

14 * » » 10,000—20,000 » 

36 » » » 5,600—10,000 » 

95 » » » 1,000— 5,000 » 

25 » » »weniger als 1,000 » 

25 * ... gar nichts. 


Ein Vergleich mit Berichten für die Jahre 1866 bis 1873 incl. er- 
giebt, dass sämmtliche Operationen der Banken von Jahr zu Jahr 
einen immer grösseren Umfang nehmen. Besonders ist dieses aus 
den Berichten derjenigen Banken zu ersehen, die einen grösseren 
Wirkungskreis haben, wie z. B. bei den Banken von Charkow, Sko- 
pin, Pensa, Woronesh, Jelez, Ssaratow, Tambow, der Ssuschkin’schen 
Bank in Tula und der Bank zu Nishnij-Nowgorod. 

Im Jahre 1866 stand die Bank von Kasan an der Spitze sämmt- 
licher Banken mit einem Umsätze von 6 Millionen Rbl.; im Jahre 
1867 war sie aber schon von der Bank von Skopin überflügelt, welche 
einen Umsatz von über 7 Millionen Rbl. erzielte. — Im Jahre 1868 
hatte die Bank von Skopin schon einen Umsatz von 13V2 Millionen, 
die von Charkow über 12 Millionen, Kasan und Ssaratow über 6 Mill. 

1869 hatte Skopin.über 26,500,000 Rbl. 

Charkow.13,000,000 * 

Ssaratow, Kasan, Bogorodsk und Orel 6,000,000 » 

4 Die von Belebejew (Gouv. Ufa) und Tschembary (Gouv. Pensa), wobei übrigens 
zu bemerken, dass erstere am 4. December und letztere am 23. October vorigen Jahres 
erst eröffnet wurden. 


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1870: Skopin.über 27,000,000 Rbl. 

Charkow. > 20,000,000 » 

und 9 Banken.'. . » 6,000,000 » 

1871: Skopin. » 32,500,000 » 

Charkow. > 30,500,000 » 

und 10 Banken. » 6,000,000 » 

1872: Skopin.35,000,000 » 

Charkow.56,500,000 » 

und 14 Banken.über 6,000,000 » 

1873: trat an die Spitze Charkow mit.93,500,000 » 

Skopin hatte.40,000,000 » 

und 16 Banken.über 6,000,000 » 

1874: Charkow % . 99,990,000 » 

Skopin.35,360,000 » 

und 18 Banken.über 6,000,000 » 


In ähnlicher Progression stiegen im Laufe dieser Jahre auch die 
Einlagen ; 

1866 hatte Kasan die grösste Summe von Einlagen aufzuweisen, 

und zwar.. . . 750,000 Rbl. 

1867: Kasan. 1,940,000 » 

Skopin. 1,442,000 > 

Ssaratow. 885,000 * 

Orel. 859,000 » 

Rjasan. 754,000 » 

1868: 2 Banken (Skopin und Charkow) . . über 2,000,000 » 

1 Bank (Tula). » 1,000,000 » 

5 Banken.zwischen 500,000—1,000,000 » 

1869: I Bank (Skopin).über 2,000,000 » 

I » (Charkow). » 1,000,000 * 

9 Banken.zwischen 500,000—1,000,000 * 

1870: 1 Bank (Skopin).über 2,000,000 > 

4 Banken (Woronesh, Pensa, Ssara¬ 

tow und Charkow .... > 1,000,000 » 

9 » .zwischen 500,000—1,000,000 » 

1871: 1 Bank (Skopin).über 2,000,000 » 

3 Banken (Woronesh, Charkow und 

Ssuschkin’sche in Tula) . » 1,000,000 » 

13 » .zwischen 500,000—1,000,000 » 

1872: 1 Bank (Charkow).über 4,000,000 » 

1 » (Skopin). » 3,000,000 » 

2 Banken (Woronesh und Tambow) » 1,000,000 » 

20 » .zwischen 500,000—1,000,000 » 

1873: 1 Bank (Charkow).über 6,000,000 » 

1 » (Skopin). » 3,000,000 » 

5 Banken (Woronesh, Jelez, Irkutsk, 

Nishnij-Nowgorod u. Rjasan) » 1,000,000 > 

17 * .zwischen 500,000—1,000,000 » 


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18742 1 Bank (Charkow).über 6,000,000 RbL 

1 » (Skopin). » 3,000,000 » 

11 Banken. » 1,000,000 » 

10 » .zwischen 500,000—1,000,000 » 

Das Disconto-Geschäft nahm im Laufe dieser Jahre einen ähnlichen 
Aufschwung. Es discontirten: 

1866 die Bank von Kasan.über 2,000,000 Rbl. 

» » Orel. » 1,000,000 » 

» » Skopin. 984,000 • 

7 Banken zwischen .... 300,000—600,000 ■ 

1867: Kasan und Skopin jede . . . über 2,000,000 » 

Orel., . . . . ■ 1,000,000 » 

7 Banken von.300,000—600,000 » 

1868: Kasan und Skopin jede . . . über 2,500,000 » 

6 Banken. » 1,000,000 * 

33 » .von 200,000—800,000 » 

1869: Skopin . . ,. 4,500,000 » 

4 Banken.über 2,000,000 » 

9 » . » 1,000,000 » 

51 » zwischen . . . 200,000—900,000 » 

1870: Skopin .über 5,600,000 » 

2 Banken (Kasan u. Charkow) * 3,000,000 * 

4 3 . • 2,000,000 » 

11 » • 1,000,000 » 

67 » zwischen . . . 200,000—900,000 * 

1871: Skopin.über 6,500,000 • 

2 Banken (Kasanu.Charkow) » 3,000,000 » 

5 » . » 2,000,000 * 

12 • * 1,000,000 » 

62 » .von 200,000—900,000 » 

1872: Charkow.über 8,500,000 » 

Skopin. » 7,000,000 » 

2 Banken (Kasan u. Ssaratow) » 3,000,000 » 

7 3 . 3 2,000,000 » 

20 » » 1,000,000 » 

85 » ...... von 200,000—900,000 • 

1873: Charkow.beinahe 9,500,000 » 

Skopin.über 8,000,000 » 

8 Banken (Woronesh, Kasan, Jelez, 

Tambow, Irkutsk, Ssaratow, 

Pensa und Orel.über 3,000,000 » 

4 Banken.• 2,000,000 » 

21 • » 1,000,000 > 

99 » .von 200,000—1,000,000 » 

1874: Charkow und Skopin jede . . über 9,500,000 » 

2 Banken (Jelez und Irkutsk) » 4,000,000 • 

11 » * 2,000,000 * 

29 * » 1,000,000 * 

34 » . , . . • von 500,000—1,000,000 » 


'x 


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In Betreff der Darlehn sind die Banken von Pensa und Jelisawet- 
grad diejenigen, bei denen im Jahre 1866 die grössten Darlehn gemacht 
wurden und betrug die Summe derselben nicht voll 400,000 Rbl. 

Es verabfolgten dann Darlehn: 

1867: die Bank von Ssaratow.für 7i8,oooRbl. 

» » Pensa. * 616,000 

■ » Jelisawetgrad. * 551,000 

• » Skopin und Charkow jede » 508,000 

3 Banken (Charkow, Tulau.Ssaratow) jede über 1,000,000 


1868: 

1869: 


1870 


1871: 


1872 


1873: 


1874 


13 

5 

15 

5 


20 

4 

26 


» .zwischen 200,000—900,000 

» (Pensa, Rybinsk, Ssaratow, Tula und 

Charkow.über 1,000,000 

» .zwischen 200,000 —700,000 

* (Woronesh, Pensa, Ssaratow, Char¬ 

kow und Alexandrin’sche Bank 
in Tula). . . . ,.über 1,000,000 

* .zwischen 200,000—1,000,000 

» (Woronesh, Pensa, Ssaratow und 

Charkow).über 1,000,000 

» .zwischen 200,000—1,000,000 

I Bank (Charkow).über 2,500,000 

4 Banken (Woronesh, Pensa, Ssaratow und 

Alexandrin’sche in Tula . über 1,000,000 

30 » zwischen 200,000—1,000,000 

1 Bank (Charkow).7,7 50,000 

4 Banken (Woronesh, Kasan, Pensa und 

Ssaratow).über 1,000,000 

30 » zwischen 200,000—1,000,000 

1 Bank (Charkow).über 8,500,000 

4 Banken (Pensa, Woronesh, Ssumy uud Jeli¬ 
sawetgrad .über 1,000,000 

11 » zwischen 500,000—1,000,000 

Nach den Versatz-Objekten geordnet, wurden versetzt: 

1. Werthpapiere : 


Rbl. 

1869: in i5iBankenfür 12,120,000 
1870: »179 » ■ 15,079,000 
1871:» 176 » » 16,139,000 

2. Waaren 

Rbl. 

414,000 


Rbl. 


1872: ini92Bankenfiir 19,923,000 
1873: » 203 * > 25,066,000 
1874: » 206 * » 27,525,000 


1869: in 151 Banken für 


1870: 

1871: 


l 79 

176 


375,000 

574,000 


1872: ini92ßankenfür 
1873: * 203 
1874: * 206 * * 


Rbl. 

475,000 

749,000 

816,000 


3. Werthsachen und nicht dem Verderben ausgeseLte Gegenstände: 


1869: in iSiBankenfür 
1870: »179 • » 

1871: • 176 > * 


Rbl. 

355,000 

385,000 

482,000 


Rbl. 

1872: in i92Bankenfür 722,000 
1873: * 203 » » 764,000 

1874: * 206 » » 709,000 


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*66 


4. Gebäude: 

Rbl. Rbl. 

1869:in iSiBankenfür 2,804,000 1872:in I92ßankenfiir 4,828,000 
1870: » 179 * » 3,090,000 1873: » 203 » * 5,826,000 

1871: » 176 » » 3,629,000 1874: » 206 * » 7,227,000 

5. Ländereien , im Weichbilde der Städte gelegen , in welchen sich die 

Banken befinden : 

Rbl. Rbl. 

1869: in i5iBankenfiir 288,000 1872: in I92ßankenfür 104,000 
1870: » 179 » > 78,000 1873: » 203 » » 393,ooo 

1871: » 176 » » 86,000 1874: * 206 » » 130,000 

6 . Ländereien in den Kreisen jener Gouvernements gelegen , in welchen 

' sich die Banken befinden . 

Rbl. Rbl. 

1869: in iSiBankenfür 2,177,000 1872 : in I92ßankenfür 2,338,000 
1870: >179 » * 2,742,000 1873: * 203 • * 2,484,000 

1871: * 176 » » 2,589,000 1874: » 206 » » 3,537>°oo 

Hinsichtlich der Summen, welche von den erwähnten Banken zu 
Communal * und wohlthätigen Zwecken verwandt wurden, ergiebt sich 
Folgendes: 

1866 hatte nur die Bank von Kasan zu diesem Zwecke 19,000 Rbl. 
verausgabt, von welchen 6000 Rbl. zur Erhaltung des Hospi¬ 
tals für Arbeiter und 10,000 zur Errichtung einer Commerz¬ 
schule beigetragen wurden. 

1867 hatten schon 3 Banken (Skopin, Ssaratow und Rjasan), jede 
19,000 Rbl., zu ähnlichen Zwecken beigesteuert, und 4 Ban¬ 
ken je 10,000 Rbl. ausgegeben. 

1868 hat die Bank von Skopin allein zum Besten der Stadt über 
65,000 Rbl. verausgabt. 

4 Banken (Kasan, Rjasan, Ssaratow 


und Tula).20,000—30,000 Rbl. 

9 Banken.10,000—20,000 » 

15 » .bis 10,000 » 

1869: die Bank von Skopin.125,000 » 

3 Banken (Krementschug, Rjasan und 

Ssaratow).20,000—30,000 * 

14 Banken.10,000—20,000 » 

87 » .- . . 1,000—10,000 » 

1870: 1 Bank (Skopin). 54,000 » 

6 Banken (Bjelgorod, Kasan, Irkutsk, 

Rjasan, Ssamara und Ssaratow . 30,000—50,000 * 

1 Bank (Jelisawetgrad).20,000 » 

12 Banken.10,000—20,000 » 

104 » . 1,000—10,000 » 

1871: 1 Bank (Skopin).58,000 » 

2 Banken (Rjasan und Ssamara) . . . 30,000—50,000 » 


6 » (Berdjansk, Woronesh, Irkutsk, 

Rostow a. Don, Ssaratow, Stawropol 20,000— 30,000 » 

















1871: 13 Banken.10,000—20,000 

105 » . 1,000—10,000 

1872: 1 Bank (Skopin).68,000 


2 Banken (Ssamara und Stawropol) . 30,000—50,000 
10 ■ (Woronesh, Jelez, Irkutsk, 

Kamyschin, Kaluga, Nishnij-Nowgo- 
rod, Rostow am Don, Rjasan, Ssara- 


tow und Tambow.20,000—30,000 

17 Banken .10,000—20,000 

120 * . 1,000—10,000 

1873: I Bank (Skopin).72,000 

1 * (Charkow) .52,000 


3 Banken (Jelez, Kaluga, Ssamara) . . 30,000—50,000 
8 » (Bogorodsk, Bjelgorod, Jeli- 

sawetgrad, Irkutsk, Rostow am Don, 


Ssaratow, Rjasan und Tambow . . 20,000—30,000 

16 Banken. .'.10,000—20,000 

126 * . 1,000—10,000 

1874: 1 Bank (Skopin).,.135,000 

1 » (Ssamara). 51,000 

3 Banken (Jelez, Kaluga, Ssamara) . . 30,000—50,000 

10 » .20,000—30,000 

14 » .10,000—20,000 

36 * 5,000—10,000 

95 » . 1,000— 5000 


Rbl. 


> 


(Haushalt der Stadt St. Petersburg für das Jahr 1874. *) 
Einnahmen. 

A. Gewöhnliche : Rbl. Kop. 

1) Von städtischen Besitzungen und Pachtungen . 476,847 26V2 

2) Immobilien-Steuer..'. . . 1,506,389 61 

3) Abgaben der Gewerbetreibenden. 670,582 83 

(Handelsscheine, Scheine d. Droschkenkutscher, Fuhrleute etc.) 

4) Handelssteuer.,.*. 695,779 84 V* 

(Von Hötels, Restaurants, Verkaufsläden [146,020 Rbl. 50 
Kop], Badstuben etc.) 

5) Indirekte Steuern. 482,357 65 

(Steuer von dem angeführten Getreide; für das Stempeln 
der Maasse u. Gewichte; Brückenzoll von den die Brücken 
passirenden Schiffen; Abgaben von den Dampfböten und 
Transportschiffen [Lichterfahrzeuge]; Abgaben bei der 
Ausfertigung notarieller Dokumente [306,605 Rbl. 9*/* 

Kop.]; für das Einschreiben der Pässe etc.) 


1 Nach dem Jahresbericht der Stadtverwaltung. 


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Rbl. Kop. 

6) Hülfs-Einnahmen.*. 63,439 i8 3 /4 

(Von verschiedenen Behörden fUr den Unterhalt derStrassen- 
laternen bei den Gebäuden, die diesen Behörden gehören. 

Von der Reichsrentei für den Unterhalt des Alexander- 


Parks etc.) 

7) Zufällige Einnahmen. 133,113 42V4 

(Strafgelder; für ausgestellte Bauscheine etc.) 

8) Zurückerstattete Summen. 36,058 07 


(Von den Hausbesitzern fiir Strassenpflaster, welches für 
Rechnung derselben ausgefiihrt war; Rückzahlungen der 
Ochta’sehen Gemeinde ä conto der von ihr gemachten 
Anleihe.) 

Summa der gewöhnlichen Einnahmen 4,064,567 88 


B. Aussergew'öhnliche Einnahmen 


106,080 50*/* 


1) 


2) 

3) 


C. Einnahmen aus den städtischen Kapitalien: 
Aus dem Kapital, welches sich 
aus dem Verkauf städtischer Rbl. Kop. 
Baustellen gebildet hat . . x . 120,295 03 

Aus den Fonds der Troitzki- 
schen Getreide-Magazine . . 200,545 08 


Aus dem städtischen Reserve¬ 
kapital 1 .. 461,655 09V4 


782,495 20 l /4 


Summa sämmtlicher Einnahmen . . . 4,953,143R.59K. 


Ausgaben: Rbl. Kop. 

1) Für Schuldentilgung. 24,264 94 

(Die Stadt schuldet dem Comite der Allgemeinen Fürsorge 
400,000 Rbl,) 

2) Unterhalt der städtischen Verwaltung. 57°>553 30*/» 

3) » der Polizeiverwaltung. 52,974 9 1 

4) » der Adress-Expedition. 19,862 36 

5) * der St. Petersburger Stadthauptmann¬ 
schaft und der Polizei . 984,315 0872 

6) Unterhalt der Feuerwehr . . .. 175,182 62V1 

7) » der Gensdarmerie-Division. 117,415 64V2 

8) » der Friedens- und anderer Gerichte . 243,901 • 58 

9) » des städtischen Gefängnisses .... 72,072 44 

10) » des Hauses für zahlungsunfähige 

Schuldner.- I 5 i 737 53 


1 In Folge einer Allerhöchsten Verordnung vom 9. December 1821 ist aus den un- 
verausgabt gebliebenen jährlichen städtischen Einnahmen ein besonderer Reservefond 
gebildet worden, und kann dieser nur zu gemeinnützlichen Zwecken verwandt werden 
Am 1. Januar 1874 betrug dieses Kapital... . 1,449,972 Rbl. 6o*/< Kop. 

Im Laufe des Jahres kamen hinzu. 25,27 0 » 74V» • 

1,475,243 Rbl. 34 3 /i Kop. 

wurden verausgabt *.. 461,655 » 09*/* » 

Blieb zum 1. Januar 1875.1,013,588 Rbl. 25*/» Kop. 


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269 


11) Für Pensionen und einmalige Unterstützungen Rbl. Kop. 

der städtischen Beamten. 9,693 95 

12) Für verschiedene Bauten.1,204,790 50 

13) » Beleuchtung der Stadt. 381,587 05 

14) Unterhalt der dem Militärressort übergebenen 

Kasernen. 40,915 67 

15) Unterhalt der Kasernen und anderer Gebäude 

in der St. Petersburger Festung. 18,694 33 

16) Unterhalt der Kommandantur und der Haupt¬ 

wachen . 19,912 56 

17) Quartiergelder und Einquartierungsgelder • . . 85,796 66 

18) Unterhalt der Erziehungsanstalten. 54,614 27 

19) » wohlthätiger Anstalten . . .. 279,105 50 

20) Unterstützungen anderer Ressorts. 41,241 27 

21) Ausgaben zu Zwecken der Gouvernements- 

Landschaft . 69,768 — 

22) Zufällige Ausgaben. 108,845 23 

(Unter diesen 50,000 Rbl. für die Nothleidenden im Gou¬ 
vernement Ssamara.) 

23) Ausgaben, die erstattet werden müssen .... 1,200 — 

24) Extraordinäre Ausgaben. 320,840 II 

(Errichtung des Admiralitätsquais, des Preobrashenskischen 
Kirchhofes etc.) 


Summa sämmtlicher Ausgaben 4,9i8,285R.52K. 


(Ueber Flachs- und Hanfproduktion in Russland) ! . Im 
17. Jahrhundert war Archangel die einzige Hafenstadt Russ¬ 
lands, die einen direkten Export-Handel, und zwar fast ausschliess¬ 
lich mit England, betrieb. Im Jahre 1665 wurden von hier aus für 
600,000 Rbl. Hanf, Flachs, Flachsgespinnste, Seile und Talg ausge¬ 
führt. Pskow und Nowgorod, die zu jener Zeit ebenfalls einen 
grossen Handelsverkehr besassen, konnten ihre Waaren nur über 
Narwa— welches damals zu Schweden gehörte — ausführen. 

Nach der Gründung von St. Petersburg erliess Peter der Grosse 
im Jahre 1713 einen Befehl, dem zufolge sämmtliche Hauptausfuhr¬ 
artikel als: Flachs, Hanf und Talg nur aus dem St. Petersburger 
Hafen verschifft werden durften. Von den übrigen zur Ausfuhr 
bestimmten Artikeln konnte nur ein Drittel aus Archangel, der Rest 
aber musste aus St. Petersburg exportirt werden. Zugleich wurde 
sowohl der Ein- als Ausfuhrzoll für den Hafen von Archangel be¬ 
deutend erhöht, für den Hafen von St. Petersburg aber bedeutend 
ermässigt. 

In Folge dieser Massregel veränderte sich die Richtung der 
damaligen Handelswege vollständig, d. h. sie wurden vom Weissen 

1 Nach Mittheilungen desHrn v.Klopstahi in dem Jahresberichte der St. Petersburger 
Stadtverwaltung pro 1874 ( Orten» Ct. IleTepÖ. ropOACKoi ynpaubi). 


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270 


zum Baltischen Meere gelenkt, und in St Petersburg centralisirte 
sich fast der ganze derzeitige auswärtige Handel Russlands, denn 
Riga führte damals nur Waaren aus, die aus Polen und Lithauen 
kamen; Reval und Pernau handelten nur mit örtlichen Produkten 
oder mit solchen, die aus Pskow und Ssmolensk zugeführt wurden. 

Auf diese Weise wurde St. Petersburg der Hauptstapelplatz für 
den zur Ausfuhr bestimmten Flachs und Hanf und behauptete diese 
Stellung bis auf die jüngste Zeit, wo das von Jahr zu Jahr wach¬ 
sende Eisenbahnnetz diesem Handel wiederum eine andere Rich¬ 
tung gab. 

Die Region, welche den in den Handel kommenden Flachs 
liefert, umfasst folgende Gouvernements — im Nordosten: Wologda, 
Wjatka, Kostroma, Jarosslaw und Wladimir; im Westen*. Livland, 
Kurland, Pskow und theilweise Witebsk, Wilna, Grodno, Minsk, 
Mohilew, Ssmolensk, Twer und Nowgorod. 

Die Region des Hanfbaues bilden die Gouvernements Central- 
Russlands: Orel, Kursk, Tschernigow, theilweise Ssmolensk, Kaluga 
und Tula. 

Lein- und Hanf ‘Samen; zum Zweck der Oelgewinnung, wird in 
den südlichen, am Schwarzen und Asow’schen Meere gelegenen 
Gouvernements gezogen. Indess ist es sehr schwer, eine genaue 
Grenze zwischen diesen Regionen zu ziehen, denn es kommen Ge¬ 
genden vor, wo sowohl Flachs als auch Hanf zu gleicher Zeit für 
den Handel angebaut wurden. 

Aus den nordöstlichen Gouvernements kommt nur ein kleiner 
Theil des dort angebauten Flachses in den Handel, der grösste Theil 
desselben wird in den örtlichen Fabriken und von der Hausindustrie 
verarbeitet, und nur der Ueberschuss wird in die Häfen desWeissen 
und Baltischen Meeres ausgeführt. Das Letztere ist der Fall im Gou¬ 
vernement Wologda, das seinen Flachs zu Wasser auf der nördlichen 
Dwina nach Archangel sendet; dann in den südöstlichen Theilen des 
Gouvernements Wjatka, so wie in Theilen von Kasan und Nishnij- 
Nowgorod, von wo der Flachs auf der Kama und Wolga nach 
Rybinsk geht. 

Die Gouvernements Jarosslaw, Wladimir und Kostroma hingegen 
versenden fast gar keinen Flachs, sondern verspinnen ihn auf den 
örtlichen Fabriken. Besonders zeichnet sich in dieser Hinsicht das 
Gouvernement Jarosslaw aus. Das Kirchdorf Welikoje ist der Central¬ 
markt für den Flachshandel dieses Gouvernements, und* es werden 
hier jährlich an 50,000 Pud Flachs verkauft, der grösstentheils zur 
Anfertigung des im Handel unter dem Namen «Jarosslaw'sche Lein¬ 
wand« bekannten vorzüglichen Leinen verarbeitet wird. Ein nur sehr 
geringer Theil des hier producirten Flachses geht über Wologda 
nach Archangel und die^Wolga entlang nach St. Petersburg. 

Aus dem Gouvernement Wladimir, wo die Stadt Melenki und das 
Kirchdort Fominki (Kreis Gorochowetz) die Hauptmärkte für Flachs 
sind, werden jährlich an 500,000 Pud in die Hafenstädte des Balti¬ 
schen Meeres versandt. 


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/ 


271 


Im Gouvernement Kostroma sind die Märkte von Kostroma, Ne- 
rechta, Kineschma und Plessy die Centralstellen für den Absatz 
des Flachses. 

Im Ganzen kommen aus den nordöstlichen Gouvernements in 
den Handel: an Flachs und Flachsheede über i x k Millionen Pud, 
an Flachssamen gegen i Million Pud, zusammen für den Betrag von 
über 4 Millionen Rbl. 

In den westlichen flachsbauenden Gouvernements befinden sich 
fast gar keine Spinnereien, daher denn auch der dort gezogene 
Flachs fast ausschliesslich ausgeführt wird. 

Im Gouvernement Pskow sind die Hauptmärkte für Flachs: 
Pskow, Ostrow, Opotschka, Holm, die Dörfer Ssolzy und Petschory, 
aus denen jährlich 1,700, OCX) Pud für gegen 7 Millionen Rbl. Flachs 
theils nach St. Petersburg, Narwa, Reval, Riga, Pernau, theils direkt 
in das Ausland ausgeführt wird. 

Der nordwestliche Theil des Gouvernements Ssmolensk und das 
ganze Gouvernement Twer setzen den Flachs in St. Petersburg ab. 
In ersterem liefert die Stadt Gshatsk gegen 450,000 Pud verschie¬ 
dener Flachs-und Hanfprodukte. In letzterem liefern Koljasin—50,000, 
Twer—130,000, Subzow—300,000, Rshew — 600,000 Pud. Alle 
diese Märkte entsenden ihren Flachs nach St. Petersburg ent¬ 
weder direkt zu Wasser, oder übergeben ihn in Twer der Nikolai- 
Eisenbahn. 

Das Gouvernement Nowgorod liefert nach St. Petersburg jährlich 
gegen 150,000 Pud Flachs. 

Nach dem zu urtheilen, was aus sämmtlichen Häfen des baltischen 
Meeres verschifft wird, kann man annehmen, dass aus den west¬ 
lichen Gouvernements zwischen 18 bis 20 Millionen Pud Flachs für 
den Betrag von gegen 35 Millionen Rbl. in den Handel kommen. 

Was den Hanfbau anbelangt, so wird dieser am stärksten in den 
Gouvernements Central-Russlands betrieben. Der Absatz findet eben¬ 
falls nach St. Petersburg und Riga statt, und nur ein sehr geringer 
Theil wird in den Gouvernements Twer, Jarosslaw, Nishnij-Nowgo- 
rod, Rjasan zu Segeltuch, Stricken und Tauen verarbeitet. Die grös¬ 
sten Hanfmärkte befinden sich im Gouvernement Orel, und zwar in 
den Städten: Orel, Mzensk, Bolchow, Brjansk, Trubtschewsk. Auf 
dem Pokrow'schen Jahrmarkt beim Kloster Ssewsk, unweit Brjansk, 
versammeln sich nicht nur sämmtliche Hanfhändler der Umgegend, 
sondern er wird auch von den Agenten der Hafenstädte besucht. 
Vor Eröffnung der Eisenbahnen wurden allein in der Stadt Orel über 
I Million Pud Hanf zu Wasser verladen. Aber nach Eröffnung der 
Eisenbahnen nimmt die Versendung zu Wasser von Jahr zu Jahr 
immer mehr ab und steigt in demselben Maasse die Beförderung 
per Bahn. 

Im Gouvernement Kursk sind die Märkte für Hanf in: Dmitrijew, 
L’gow, Rylsk und Kursk. Alle diese liefern indess nicht mehr als 
400,000 Pud. jährlich. 


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Im Gouvernement Tula centralisirt sich der Hanfhandel in Bjelew, 
wo gegen 420,000 Pud verladen werden. 

Im Gouvernement Rjasan sind: Ssaposhkow, Skopin, Bochulow, 
Bortz; in Kaluga — Ssuchinitschi, Meschtschowsk und Mossalsk; 
in Twer — Subzow, Rshew; in Ssmolensk — Rosslawl, Bjeloe und 
Porjetschie; in Mohilew — Kopys, Bychow, Sklow und Mohilew; in 
Tschernigow — Klimowitschi, Potschet und Pogar — die wichtigsten 
Märkte für den Handel mit Hanf. 

Im Ganzen kommen aus diesen Gouvernements gegen 4,800,000 
Pud Hanf und Hanfwerg in den Handel. Von diesen wurden circa 
1,400,000 Pud per Nikolai-Bahn, der Rest aber zu Wasser verladen. 
Seit Eröffnung aber der Orel-Witebsk-Riga-Bahn wird ein grosser 


Theil auf diesem Wege versandt. 


Was die Preise für Flachs und 
Hanf anbelangt, so schwanken 
dieselben sehr, je nach den Häfen, 
Jahren und der Qualität. 

Für Flachs waren die Preise 
von den 30-er bis Ende der 40-er 
Jahre stets im Fallen, so in St. Pe¬ 
tersburg von 33 Rbl. 35 Kop. bis 
30 Rbl. 50 Kop., in Riga von 30 
Rbl. 33 Kop. bis 27 Rbl. 43 Kop. 
Von den 50-er Jahren an fingen 
sie wieder an zu steigen, und be¬ 
sonders stark war diese Steigerung 
in den letzten Jahren. Zu bemer¬ 
ken ist hierbei, dass dieses Stei¬ 
gen in Archangel und Riga stär¬ 
ker war als in St. Petersburg. 

In Betreff der Preise für Hanf 
ist ein solches periodisches Fallen 
nicht beobachtet worden. Im Ge- 
gentheil waren die Preise stets im 
Steigen begriffen. So kostete 1832 
—1841 in St. Peterburg und Riga 
ein Berkowetz (=: 10 Pud) Hanf 
22—23 Rbl., 1862—64 schon 31 — 
33 Rbl. und 1864—74 stieg er auf 
35—40 Rbl. 


In den Jahren 1674—1856 
waren die Preise die folgen¬ 
den: 



für 1 Berkowetz (= 10 Pud) 


Flachs 

Rbl. Banco 

Hanf 

Rbl. Banco 

1674 

7 

»*/»- 3 

1710 

II —-20 

9 

1724 

io—15 

9 

1731 

IO — I5 

9 

1754 

IO—I5 

9 

1760 

18 

12 'li 

1766 

21 — 22 

15 15V* 

1774 

21V*—28 

l 2 '/>-I 5 

1795 

56-58 

42 -43 

1803 

72 

43 

1814 

172 

97 

1820 

155 

90 

1 1824 

, * 5 ° 

81 1 /* 

*833 

120 

Rbl. Silber 

65 

Rbl. Silber 

1842 

30 

25 

1845 

32 

21 

1848 

25 

24 

1851 

33 

24 

1856 

29 

27 


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«73 


Von 1857 bis 1873 kosteten in 


im Jahre 

St. Petersburg 

Rig* 

Vrrhan 

gel 


St. 

Petersburg 


Riga 

ein Berkowetz Flaehs 

ein Berkowetz Hanf 

1. Sorte 

2. Sorte 

3. Sorte 

Ohne Angabe 
der Sorten 

1. Sorte 

2. Sorte 

3. Sorte 

DhoeAngabe 
d ft Sorten 

R. 

K. 

K.| 

K. 

R_| 

K. 


K. 

R .| 

K. 


K. 

R. I 

K. 

R. 

K, 

JLl 

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— 

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— 


In dieser Tabelle sind übrigens nicht alle Schwankungen der Preise 
angegeben, so z. B. waren in der Jahren 1866 bis 1873 die niedrig¬ 
sten Preise der niedrigsten Sorte von Flachs und Hanf folgende: 

fUr Flachs filr Hanf 

In St. Petersburg von 38 bis 67 Rbl. von 25 bis 45 Rbl. 

» Riga. » 29 » 90 » » 30 bis 47 » 

Es ist mithin hinsichtlich der Preise für diese Artikel stets die 
Qualität, und besonders beim Flachs, zu berücksichtigen. 

Baas. Rme. Bd. VIL x g 


/ 


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274 


Im auswärtigen Handel des Russischen Reiches nehmen Flachs 
und Hanf die zweite Stelle ein, und ist die Entwickelung dieser Aus¬ 
fuhr aus folgender Tabelle zu ersehen, in der nur die Jahre des 
Krimkrieges ausgelassen sind. 


1717—17x9 

89,108 

613,437 

1726 

299,424 

1,206,932 

1749 

$01,643 

1,318,928 

Im Durchschnitt 



1758—1760 

547.831 

1,936,043 

1778—1780 

899,205 

2,741,637 

1790—1792 

1,115,686 

3,102,211 

1800—1804 

1.353.150 

3,170,325 

1805—1809 

1,836,410 

3,491,834 

1814—1816 

1,207,909 

2,654,995 

1817—1821 

1.382,531 

2,552,030 

1822—1826 

1,8x2,624 

2,803,989 

1827—1831 

2,308,676 

2,353,460 

1832—1836 

2,150,530 

2,865,048 

1837—1841 

2 , 735 ,HO 

3,035.632 

1842—1846 

3,120,555 

2,649,097 

1847—1853 

3,728,885 

2,884,965 

1857—1861 

3,839,676 

3,079,905 

1862—1866 

4,784,604 

3,169,169 

1867—1868 

4,956,967 

2,891,394 

1869 

5,974,024 

3,129,154 

1870 

10,381,449 

3,285,123 

1871 

6 , 455 , 474 * 

2,857,928 1 

1872 

7,238,837 

3,790,080 

1873 

9,041,480 

3,776,270 


1 Matthäi , der au sw. Handel Russlands («Russ. Revue», 1873, Bd. III., p. 32) be¬ 
ziffert nach den officiellen Handelstabellen den Export von Flachs im Jahre 1871 : auf 
9,015,049 Pud und von Hanf auf 3,651,924 Pud; es müssen also diese beiden in vor¬ 
liegendem Artikel aufgeführten differirenden Zahlen auf einem Irrthum beruhen. D. R. 


Hanf 

Pud 


F 1 a c h 8 

Pud 


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Literaturbericht. 


3 aM«Hamx Ha Cjiobo o nojiicy Hropeirfe. Runs* IlatJia Tlcmpoeuxa BnaeMcrcato. 
Bemerkungen rum Igorlied vom Fürsten Paul Petrowitsch fVjasemskjj. St. Petersburg 
1875, XLVI + 517 + 105. 8 f . 

Dieses reichhaltige Werk, die Umarbeitung und Erweiterung 
eines zuerst im Moskau'sehen Journale «BpeMeHHHKi» 06m. HCTopia 
h ApeBHocTefl» 1851 erschienenen Aufsatzes, bietet vielmehr, als 
der bescheidene Titel Bemerkungen verspricht. Der Leser findet 
darin nicht nur einen sprachlichen und sachlichen Commentar über 
das merkwürdige epische Gedicht aus dem XII. Jahrhundert (die 
russische Chronik vom Jahr 1185 berichtet über den im Liede besun¬ 
genen Heereszug), sondern auch viele andere umfassende Unter¬ 
suchungen, wie z. B. über den Zustand der Literatur und Gelehr¬ 
samkeit zu jener Epoche in Europa überhaupt und besonders in 
Russland, namentlich über die damalige Bekanntschaft mit der klas¬ 
sischen Literatur; über den Zusammenhang der altklassischen und 
mittelalterlichen Literatur mit der altorientalischen; über die Ver¬ 
breitung mythologischer Begriffe und ganzer Sagen vermittelst ge¬ 
heimer Sekten und geheimer Wissenschaften verschiedener asiati¬ 
scher und europäischer Völker; über die wichtige Rolle, welche 
Südrussland von jeher bei diesem internationalen Ideenaustausch ge¬ 
spielt hat; über die Warägerfrage; über die Existenz von Schulen 
in Altrussland u. s. w., u. s. w. Gestützt auf sehr ausgedehnte Bele¬ 
senheit und Erudition, spricht der Verfasser über alle diese und 
noch viele andere Fragen ganz selbstständig und originell. Durch das 
ganze Werk weht ein frischer Hauch von ungekünsteltem Enthusias¬ 
mus und jugendlicher Begeisterung für das Vaterland, für seine 
Vergangenheit und Gegenwart und für die literarischen Denkmäler 
des russischen Volkes. Ein Eingehen in die Einzelnheiten des 
reichen Inhalts dieses Werkes kann nicht die Aufgabe dieser biblio¬ 
graphischen Notiz sein; doch als Beweis für die Aufmerksamkeit, 
mit welcher wir das Buch gelesen, mögen hier einige Punkte kurz 
berührt werden. 

Zur Bestätigung der Ansicht des Fürsten Wjasemskij über Ver¬ 
breitung und weiteste Ausdehnung ein und derselben Elemente in 
verschiedenen gnostischen, kabbalistischen und sonstigen Schriften 
und geheimen Gesellschaften — könnten wir mehrere Beweise und 
Beispiele anführen; wir beschränken uns aber auf ein Beispiel, und 

i8 # 


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276 


zwar das Allerneueste: Im April dieses Jahres theilte der bekannte 
französische Akademiker Haureau dem Institut eine Abhandlung 
mit über die mittelalterlichen Erzählungen von Visionen. Bei dieser 
Gelegenheit machte ein anderes Mitglied des Instituts, Joseph Deren- 
bourg , die Bemerkung, dass fast alle von Haureau angeführten 
Anekdoten sich in den kabbalistischen Schriften wiederholen *. Die 
Identificirung indessen der Form des Namens Achilles in der von 
Miklosich herausgegebenen slavischen Sage über den Trojanischen 
Krieg (AuHJieemb = Acileesch) mit dem Olam acilluth (die unmit¬ 
telbar von Gott emanirte Welt) der Kabbalisten (Register p. 36 f.) — 
ist aus sprachlichen und sachlichen Gründen unzulässig. 

Die (p. 110) angeführte Polemik zwischen Pogodin und Chwolson 
über die Ludsana [cd ist arabischer Artikel) ist jetzt ganz gegenstands¬ 
los, denn es ist auf Grund einer in Paris und London befindlichen arabi¬ 
schen Handschrift nachgewiesen worden, dass die richtige Lesart 
jenes Namens Kujebana (= Kiewer) ist *. Uebrigens haben die 
Hm. Akademiker Dom und Brosset schon in einer Sitzung der phi¬ 
lologischen Gesellschaft im April 1869 die Deutung Chwolson’s 
abgewiesen ®. 

Sehr interessant ist der Nachweis (p. 224—237) des Zusammen¬ 
hanges zwischen dem Igorliede und der Alexandersage und die scharf¬ 
sinnige Erklärung der räthselhaften Kapuaü (Karnaj) und äjiä (jlia) 
durch den arabischen (und überhaupt mohammedanischen) Beinamen 
Alexanders desGrossen Dsul-Kamajn (der Zweihörnige), wie er schon 
in der achtzehnten Sure (Kapitel) des Korans benannt wird. Dieser 
Beiname ist dem Mohammed wohl aus Daniel (Kap. VIII) mitgetheilt 
worden, wo von dem zweigehömten Widder (baal ha-Keranajim) die 
Rede ist, und welche Prophetie schon sehr früh auf das macedoni- 
sche Reich bezogen wurde. Die Vorstellung von den Jadschudsch 
und Madschudsch hat schon Geiger von der jüdischen im Talmud ab¬ 
geleitet 4 . Ob aber nicht noch eine alte himjarische (südarabische) 
Sage in die mohammedanische mit eingeflochten ist — darüber 
wurde vor 20 Jahren in Deutschland sehr ausführlich verhandelt 5 . 
Vor zehn Jahren suchte Referent nachzuweisen, dass der Talmud 
Nachrichten hat über Alexanders Zug nach dem Kaukasus 6 . 


4 Acadlmie des Inscriptions et Beiles Lettres. Comptes rendus des slances de 
l’annäe 1875. quatri&me serie, T. III, Paris 1875. P* 94 : *M. Haureau lit un 
memoire sur les Ruits (T apparitions da ns les sertnons du moyen äge. Apr&s cette lec- 
tnre M. Derenbourg fait remarquer que presque toutes les anecdotes dont il vient d’ltre 
qnestion se retrouvent dans les 6crits cabalistiques«. 

* )Kypt<ajrw Muh. Hap. ripoca., April 1872, p. 227—233; vgl. ^Russische Revue* 
Band II, p. 295. IV, 470. 

* Myp* «furb Muh. Hap. Ilpoca., August 1869, p. 352. 

4 A. Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? Eine von der 
Kgl. Preuss. Rheinischen Universität gekrönte Preisschrift. Bonn 1833, p. 74. 

6 Zeitschrift der deut. morgenländ. Gesellschaft, B. VÜI - IX, 1854—1855. 

? Cfopmun» craTeft no esp. ucropin ■ airrepaTypt, caaaaiai 06% Aaexc. Maxe*. 




*77 


Zur Identification der Sagen über die Centauren und den Kitowras 
(KuTOBpacb, Reg. p. 46) bemerken wir, dass Kuhn auch die indi¬ 
schen Gandharven mit den Centauren vergleicht l , was jedoch neuer¬ 
dings aus lautlichen Gründen als unzulässig erklärt worden ist 2 . Eine 
Schrift vom Prof. Wesselofsky über die Sagen vom König Salomon 
und dem Kitowras ist uns bloss dem Titel nach bekannt 

Zu der Nachricht des Cinnamus 8 über die persischen Lehren bei 
den Chalisiern (p. 232) ist zu bemerken, dass die Sache noch auf 
sehr schwachen Füssen steht, denn an einer anderen Stelle heisst es 
bei demselben Schriftsteller, dass die Chal\s\er mosaische Gesetze beob¬ 
achten (Mojoaixot? SietdYovxai vojxoic) 4 , so dass es sehr möglich ist, 
dass an der zuerst angeführten Stelle 'Eßpatot statt üspaoti zu lesen 
ist. Schlözer’s Vermuthung, dass der griechische Schriftsteller den 
Mohammedanismus, von welchem er keinen klaren Begriff gehabt 
habe, meine 6 — ist für einen byzantinischen Notarius aus dem XII. 
Jahrhundert (Cinnamus schrieb um 1180) ganz unwahrscheinlich. 
Hr. P. Lerch glaubt, dass der Name Chalisier aus Charismür ent¬ 
standen ist. Allenfalls ist an der Identität des Erstem mit der alt¬ 
russischen Benennung des Kaspischen Meeres Xeajuicctcoe MOpe 
(Chwalisskoje more) nicht zu zweifeln, wie unter Andern auch Bie- 
lowski angenommen hat®. 

Was die sogenannte chaldäische Sibylle , die angebliche Tochter des 
Berosus , anbetrifft (p. 309, 391—392), so glauben wir, dass ihr Ur¬ 
sprung und Verhältniss zum armenischen Geschichtsschreiber Moses 
von Chorene und zu anderen Autoren unlängst in den Abhandlun¬ 
gen der orientalischen Abtheilung der russisch-archäologischen 
Gesellschaft vollkommen und genügend aufgeklärt worden sind 7 , wo 
auch nachgewiesen ist, dass die Identificirung des Zerwan mit Kronos 
theils aus philologischen, theils aus geographischen Zusammenstel¬ 
lungen entnommen ist 8 . 

Der Nachweis, den der Verfasser geliefert, dass die Slaven im Mit¬ 
telalter ihre Genealogie von den Dardaniern ableiteten, erklärt uns 
den räthselhaften Umstand, dass der Pseudo-Josephus (aus dem X. 
Jahrhh.) die Slaven von den Dodanim abstammen lässt 9 . 

Aber genug mit diesen Einzelnheiten! Wir wollen nur noch be¬ 
merken, dass es im Allgemeinen dem Fürsten Wjasemskij besser als 


* Zeitschrift fUr vergl. Sprachkunde, Band I, p. 513 ff. 

* A. Fick, Die Spracheinheit der Indogermanen, 1873, P- 1 S3 i vgl. Preller, Griechi¬ 
sche Mythologie, 3 Aufl. von Plew, Band II, Berlin 1875, p. 16. 

8 Ioanni Cinnami Historiarum libri III, ed. Bonn, p 257. 

1 Cinnamus ibid. p. 107; sollte er Ueberbleibsel der Chazaren im Sinne haben? 

3 Schlözer, Sammlungen zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen, Göttingen 
«79Si P- «86- 

• Aug. Bielowski, Monumenta Historiae Polonica, T. I, Leopoli 1864, p. 578. 

7 TpyAM boctohh aro OTA-fcJieHia Hiniep. Pye. Apxeoa. 06m., Band XVI, St. Peters¬ 
burg 1872, p. 357-37°* 

8 TpyAM daselbst, p. 353, 466—467. 

• Vgl. TpyAM boct. oTA'h/i'b, Band XVII, 1874, p. 302—303. 




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278 


allen seinen Vorgängern 1 gelungen ist, das Igorlied als einen Ring 
in der grossen Kette der Weltliteratur einzureihen, und als den 
grossen epischen Dichtungen der altklassischen und mittelalterlichen 
Nationen ebenbürtig hinzustellen. Man kann in dieser und jener 
Frage anderer Meinung sein als der geehrte Verfasser; man mag 
diese oder jene seiner historischen und philologischen Conjecturen 
nicht annehmen — aber man muss ihm Gerechtigkeit widerfahren 
lassen, dass er überall eine ungewöhnlich reiche Belesenheit in der 
einschlagenden gelehrten Literatur entfaltet, überall geistreich und 
anregend ist, so dass für jeden Gelehrten und jeden Gebildeten über¬ 
haupt die Lektüre des Werkes sehr empfehlenswerth sein wird. Für 
Lehrer der russischen Literatur dürfte die grosse Menge von Paral¬ 
lelen zum Igorliede aus occidentalischen und orientalischen Quellen 
besonders nützlich und angenehm sein. — Dem Werke sind bei¬ 
gegeben: 1) Die Apotheose Homer’s nach einer neapolitanischen 
Vase. 2) Die Abbildung einer Scene aus der russischen Sage von 
dem Zarensohn Iwan (Cica3Ka 061, HßaH'h IlapeBHH'fe). 3) Geogra¬ 
phische Karte des arabischen Schriftstellers Idrici . 4) Geographi¬ 

sche Karte des persischen Astronomen Tuci. 5) Plan einer tatari¬ 
schen Manoeuvre auf ihren Raubzügen in Südrussland (nach Beau¬ 
plan. 6 ) Ein Theil der catalanischen Weltkarte (Mapa mondi, vom 
Jahre 1375). 7) Ein alterthümliches Werkzeug zum Fischfang. 8) 

Facsimile von zwei Blättchen aus der erwähnten Sage von dem Za¬ 
rensohn Iwan. Ein sehr ausführliches Register von Hrn. Barssukow 
(Mitgliede der Archäographischen Kommission), wo der Autor noch 
manche interessante Nachträge zufügen konnte, macht die Benutzung 
des Werkes sehr bequem. A. H. 


Revue Russischer Zeitschriften 


Journal für Civil- und Criminal-Recht (Journal grashdanskawo i ugo- 
lownawo PräWa — )KypHajn> rpa>K«aaHCKaro h yroJiOBHaro npaßa) 
V. Jahrgang. 1875. Heft 4. Juli-August. Inhalt: 

Gesetze und Verordnungen der Regierung. — Bemerkungen Über Fragen, die aus 
einer Konvenüon, bei Uebergabe zur Aufbewahrung, entstehen. Von P. Markow. — 
Die Kassationspraxis in Kriminalprocess Fragen für das Jahr 1872. Von K ’. Arsenjrw. 
— Ueber Feuerversicherungs-Uebereinkunft. Von A. Brandt . — Das Volksgericht 
und das Völkerrecht. (Anlässlich der Frage über die Reorganisation des Bezirksge¬ 
richts.) Von J . Orschansky. — Ueber die Anwendung des Artikels 818 des Krimi¬ 
nalgesetzbuches. Von A. von Baison. — Ueber die russische Advokatur. «Die So¬ 
phisten des XIX. Jahrhunderts» von Eugen Markow. «Bemerkungen über die russi¬ 
sche Advokatur» von K. K. Arssenjew. Von S. Platonow . 


1 Auch fine deutsche Uebersetzung führt Fürst Wjasemskij an; sie erschien unter dem 
Titel: Das Lied vom Heereszuge Igor’s, übersetzt von Pastor Sederholm, Moskau 1825. 



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279 


Der «europäische Bote» (B'fccTHHKt Eßponbi — Westnik Jewropy). 

X. Jahrgang. 1875. August. Inhalt: 

Der Emigrant. Satyrischer Roman von Jan Lam. Schluss. Von E. L. — England 
und seine Ansicht über Russland im XVI. Jahrhundert. Nach neuen Aktenstücken. 
I.—X. Von J. W . Tolstoy. — Pierre Josef Proudhon. Correspondence de P. J. 
Proudhon. Zweiter Artikel. VIII“XIV. Von D—jew. — Amerikanische Pioniere. 
TII. Von A . Kurbsky . — Paolo und Franceska. Aus Dante. Von A. Orlow. — 
Deutschland am Vorabend der Revolution. Historische Studien. XVI. Der Fürsten¬ 
bund und die deutsche Politik Russlands. XVII. Napoleon I. und die Februar-Revolu¬ 
tion. XVni. Sadowa und Sedan. Von A. S. Traczewsky. — Das Gribojedow’sche 
Moskau in Briefen der M. A. Wolkow an die W. J. L&nskaja. Schluss. Die Jahre 
1817 und 1818. Von M. P. Sswistunow. — Die Neu-Celtische und Provenzal’sche 
Bewegung in Frankreich. I—IV. Von M. P. Dragomarow . — Chronik: Unser Argo¬ 
naut. Anlässlich der neuen Artikel und der neuen Ideen des Hrn Ljubimow im «Pye- 
emift BtCTHark». Von IV. N. — Rundschau im Inlande. — Correspondenz aus Ber¬ 
lin: die Finanzielle Schwierigkeit und die Opposition. Die Wahlen in Baiern. Von K. — 
Correspondenz aus London: Die Arbeiterklasse und die englische Gesetzgebung. Von 
R . — Pariser Briefe: V. Die Ueberschwemmuog. I—VI. — Nachrichten. — Biblio¬ 
graphische Blätter. 

«Militär-Archiv» (Wojennij Ssbornik —BoeHnuft CöopHHin».) — 

Achtzehnter Jahrgang. 1875. Nr. 8. August. Inhalt: 

Ueber die Begebenheiten auf dem rechten Flügel der alliirten Hauptarmee in der 
Epoche vom 25. —30. August 1813. (Aus den Memoiren des Prinzen Eugen von Wür- 
temberg, Commandeur des 2. preussischen Corps.) — Ueber die Art und Weise der 
Verwaltung der Truppen im Kriege und während der Schlacht. Von N. Wolsky. — 
Ueber militärische Aufnahmen. Von N. D. Artamonow . — Die Junkerschulen im Jahre 
1874. 2 - Artikel. Von * **. — Erwiderung auf die Bemerkung des Doctor Seland. 
Von N. Archiptrw . — Ueber den Dienst der Donischen Kosaken. (Aus den Memoiren 
des General-Adjutanten J. J. Krasnow.) Von Al. J . Krasnow . — Tag und Nacht in 
Ssewastopol. Scenen aus dem Sch lachten leben. (Aus den Memoiren eines Artilleristen.) 
Von P. Babcntsckikow. — Bibliographie. — Militärische Umschau in Russland. — 
Militärische Umschau im Auslande. 


«Das alte Russland» (Russkaja Starina — PyccKan C/rapHHa). — 

Herausgegeben und redigirt von M. J. Ssemcwskij. Sechster Jahrgang. Heft VIII. 
August 1875. Inhalt: 

Archimandrit Foti, Prior des Nowgorod 1 sehen Klosters, 1792—1838. Biographischer 
Abriss. Kap. VI—X. (Schluss.) Von E. P. Kamowitsch. — Tagebuch W. K. Küchel¬ 
becker 1 s, 1831 —1832. Von J . IV. Kossow. — Das St. Petersburger Findelhaus unter 
der Verwaltung von J. J. Betzky. Eine historische Untersuchung von A. P. Pjatkowsky . 
Kap. VI. — Memoiren von Iwan Stepanowitsch Shirkowitsch, 1795—1848. Kap. IX 
—XI. Von S. D . Karpow . — Alexander Nikolajewitsch Serow, 1820 — 1871. Abriss 
seines Lebens und seine Briefe. Von W. IV. Stassow. — Feldmarschall Paskewitsch 
während der Zeit des Krimkrieges, 1854 — 1855. Historischer Abriss. Aus dem Deut¬ 
schen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von N. K. Schilder . — Die Explo¬ 
sion des Pawlow’schen Forts in Ssewastopol am 29. August 1855. Von P. IV. Alabin. 
— Das Denkmal Alexander’s I. im Dorfe Ponisow, 1816. Von P. Ssuchodolsky. — 
Bibliographische Mittheilungen über neue russische Bücher (auf dem Umschläge). 




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28b 


Russische Bibliographie. 


Martinow, N. und J. Victorowsky. Militärgerichtsordnung. Erläutert 
und vervollständigt von N. Martinow. Warschau. 8°. VIII + 421 + 
II S. (MaprWHOB'b, H. n BüKTOpOBCKlif, H. BoeHHocy4eÖHbitt ycraBi». 
Ci> pa3i>acH. h 4on. H34. H. MapTbiHOBa. Bapmaßa. 8 4 VIII + 
421+II CTp.) 

Ff ti sch enko, A. P. Eine Reise nach Turkestan. II. Band. 6. Lfg. 
Zoogeögraphische Untersuchung. III. Theil. 1. Heft. St. Petersburg. 
8*. IV + 66 S. und 13 Bogen Abbildungen ((DeAHBHKO. A fl. IlyTe- 
mecTßie bt» TypxecTain». Bbin. 6. T. II. 3ooreorpa<t>nqeciciji iiacjrfc- 
40BaHi5i. H. III. PaKoo6pa3HMH (Crustacea). 06pa6oTajn> B. yjibH- 
hhht». TeTp. t. Cn6. 4 4. IV + 66 CTp. h 13 ji. puc.). 

Regel» A. Descriptiones plantarum novarum et minus cognitarum. 
Fasciculus III. (Cn6. 8 4. 17 CTp.) 

Ssolowjew. S. Die Geschichte Russlands von der ältesten Zeit. 
Band XVIII. Die Geschichte Russlands während der Reorganisa¬ 
tions-Epoche. VI. Bd. 2. Aufl. Moskau. 8°. 385 S. (ConoBbee'b, C. 
HcTopia Poccin Cb ApeBH'fcfluiHX'b BpeMem>. T. XVIII. McTopia 
Poccin bt> suoxy npeo6pa30BaHia. T. VI. H34. 2. Mocxßa. 8 4. 
385 CTp.). 

Basili, K. Syrien und Palästina unter türkischer Herrschaft, in histo¬ 
rischer und politischer Beziehung. 2 Bände. 2. Aufl. St. Petersburg. 
8°. XXIV + 408 und 346 + II S. Mit einer Karte. (Ba3NüiN K. Cnpia 

H IlaJieCTHHa HOÄT> TypeUKHMT> DpaBHTeJIbCTBOMT» BT> HCTOpHHe- 

ckomi» h no4HTmiecKOMT> OTHomeHiHx*b. 2 t. H34. 2. Cn 6 . 8 4. 
XXIV + 408 h 346 4- II CTp. h 1 xapTa). 

Ssmimow, S. Die Amu-Darja Expedition in der Arlo-Kaspi- 
gegend. Botanische Untersuchung. St. Petersburg. 8°. 30 S. (Cmtp- 
MOB*, C. M. AMy-4apbHHCKaa 9Kcne4HuiH bt> Apajio-KacniöcKOMT> 
icpai?. BoTaHHqecxix H3CJrfe40BaHiH. Cn6. 8 4. 30 erp ). 

Liwanow, Th. W. Reiseführer durch die Krim, nebst einer histori¬ 
schen Beschreibung der dortigen Merkwürdigkeiten. Moskau 8°. 
66 + 6 4- 59 + 4 + 127 + 39 + 6 + 95 + 11 + 25 + 39 S. (Jim- 
HOB* 0. B. IIyTeB04HTe4b no KpuMy ct» hctophhcckhmt» onnca- 
HieMi> 40CT0npHM'feHaTejibH0CTeft KpuMa. Mocscßa. 8 4. 66 + 6 + 
59 + 4+127 + 39 + 6 + 95 + 11 +25 + 39 CTp.). 

Materialien zu einer Beschreibung des Ssaratowschen Gouverne- 
nements. Herausg. vom dortigen statistischen Comite, unter der 
Redaction von N. Woskoboinikow. 1. Lfg. Saratow. 4 0 . 70 + 25 + 
17 S. (MaTepia-Hbi kt> onncaHiio CapaTOßcxofl ryöepHin. H34. ryö. 
CTaT. k— Ta, no 4 *B pe 4 . H. BocKoöoftHHKOBa. Bbin. I. CapaTOBi. 
4 4 . 70 + 25 + 17 CTp.). 


I 



Herausgeber und verantwortlicher Redacteur Carl Röttgrr. 
4o3BOJieHo ueHaypoio. C.-rieTep6ypre», 15-ro CenT«6p* 1875 roja. 


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Otto Anton Pleyer, 

der erste förmlich accreditirte österreichische Diplomat am russischen Hofe. 

1692—1719. 

Vorbemerkung. Einleitung. Pleyer’s Ankunft und erster Aufenthalt in Moskau. 
Pleyer als geheimer österreichischer Agent. Pleyer als Sekretär. Pleyer als Bericht¬ 
erstatter. Pleyer als Resident. Schluss. 

Professor Ernst Herrmann bemerkt in dem Vorwort zu der von 
ihm herausgegebenen Relation Otto Pleyer’s vom Jahre 1710, dass 
«schon an und für sich der authentische Ausdruck einer nur elf Jahre 
vor dem Nystädter Frieden noch so dürftigen diplomatischen Ver¬ 
bindung zwischen Oesterreich undRussland wohl beachtet zu werden 
verdient* l . Es dürfte somit nach den Worten dieses um die Ge¬ 
schichte Russlands hochverdienten Historikers als eine lockende 
Aufgabe erscheinen, den ersten Fäden der festgeregelten diploma¬ 
tischen Verbindung der beiden grossen Ostmächte nachzugehen. 
Um so lockender wird die Aufgabe, als die geschichtlichen Zeug¬ 
nisse über diesen Gegenstand es erlauben, jene Fäden bis in ihre 
ersten Anfänge zurück zu verfolgen, und sie in den Lebensschick¬ 
salen einer Persönlichkeit zu innerer Zusammengehörigkeit zu ver^ 
binden. 

An Otto Anton Pleyer’s Erscheinen in Russland knüpfen sich die 
ersten dürftigen Versuche einer ständigen Vertretung Oesterreichs 
bei diesem Nachbarstaat, entwickeln sich während seines mehr als 
fünfundzwanzigjährigen Aufenhaltes daselbst zu festgeregelten 
Formen und brechen mit seiner Abberufung auf Jahre gewaltsam 
wieder ab. 

Erweckt Pleyer schon als der erste förmlich accreditirte öster¬ 
reichische Gesandte am russischen Hof unser Interesse, so bean¬ 
sprucht er es wohl in weit höherem Grade als Verfasser zahlreicher 
diplomatischer Relationen. Der von Herrmann edirte Bericht 
Pleyer’s vom Jahre 1710 reiht sich in eine Fülle geschicht¬ 
lichen Stoffes ein, welchen wir der Feder dieses Geschäftsmannes 
verdanken. 


1 Dr.E. Herrmann, Zeitgenössische Berichte zur Geschichte Russlands, Leipzig 1872. 
Buss. Berne. Bd. VII. fo 


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282 


Als N. Ustrjatow , der bekannte Verfasser der Geschichte der 
Regierung Peter’s des Grossen, das geheime Staatsarchiv zu Wien 
durchsah, zogen diese Papiere seine besondere Aufmerksamkeit auf 
sich; von allen Pleyer’schen Berichten hat er nach seiner Mitthei¬ 
lung Auszüge gemacht und die wichtigsten derselben — nicht 
weniger als 180 auf 760 Seiten in Folio 2 — sich wörtlich aus¬ 
schreiben lassen. Aus diesem umfangreichen historischen Material 
sind (in den Beilagen zu dem oben erwähnten Werke) jedoch nur 
61 Relationen vollständig publicirt. Sie sind sämmtlich dem ge¬ 
heimen Staatsarchiv zu Wien entnommen* und stammen aus den 
Jahren 1696—1706. Mit diesem Jahre hört das eigentliche Werk 
Ustrjalow's auf, indem der sechste Band die von dem Hauptwerke 
völlig unabhängige Biographie des Kronprinzen Alexey enthält, 
diesem Bande sind daher bis auf zwei vollständig mitgetheilte Rela¬ 
tionen Pleyer’s nur Bruchstücke, welche sich auf Alexey beziehen, 
beigefügt. 

Der bei weitem grösste Theil der Pleyer’schen Berichte harrt mit 
dem durch den Tod des Verfassers unterbrochenen Hauptwerke 
somit noch der Veröffentlichung. 

Was den positiven historischen Inhalt dieser Berichte betrifft, so 
kann sich der vorliegende Aufsatz mit einer detaillirten Unter¬ 
suchung über die Glaubwürdigkeit derselben nicht befassen. Die 
Darstellung des Lebens Otto Anton Pleyer’s will zunächst einen 
Beitrag zur Geschichte der diplomatischen Verbindung der beiden 
grossen Ostmächte geben und nur insofern auch zur Kritik seiner 
Relationen dienen, als die Feststellung der äusseren Lebensum¬ 
stände des Verfassers wesentlich die Beantwortung der Frage in 
sich schliesst, in wie weit er gut unterrichtet sein konnte. Eine ein¬ 
gehende Zergliederung der Dokumente nach ihrem Werthe für die 
Zeitgeschichte erscheint jetzt schon darum unthunlich, weil, w^ 
schon bemerkt, der grössere und vermuthlich werthvollere Theil 
desselben sich noch der Untersuchung entzieht. Zur Charakte¬ 
ristik der Pleyer’schen Berichte im Allgemeinen sei es mir gestattet, 
auf das Urtheil des Mannes zu verweisen, der neuerdings am Sorg¬ 
fältigsten die Geschichte Peter’s des Grossen behandelt und am 
Vollständigsten die in Rede stehenden Schriftstücke als historische 
Quelle zu Rathe gezogen hat. «Es ist leicht», sagt N. Ustrjalow in 
der seinem Werke vorausgeschickten Besprechung der Quellen, sich 

1 H, ycmpxAoes, Hcropi* napCTBOBaH» Ilerpa Bejuivaro 1858— 1859, I, Ein¬ 
leitung, p. 84. 


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283 


vorzustellen, wie werthvoll bei ihrer zeitgenössischen Frische, bei 
der Sorgsamkeit und Gewissenhaftigkeit des Beobachters diese 
Nachrichten sind # *. 

Nachdem sich zuerst N. Ustrjalow eingehender mit der Person und 
den Berichten Otto Anton Pleyer’s beschäftigt, machte Dr. M. Pos¬ 
selt in seinem 1866 erschienenen Werke über Franz Lefort auf ihn 
aufmerksam und theilte genauere Angaben über seine Ankunft und 
ersten Aufenthalt in Moskau mit. Die Nachrichten, welche E. Herr¬ 
mann in seiner oben erwähnten Schrift hauptsächlich nach Mitthei¬ 
lungen von Noordens über das Leben Otto Pleyer’s giebt, sind un¬ 
vollständig und grossentheils irrig; neuerdings hat dann Professor 
A. Brückner in seiner Kritik der Relationen Vockerodt’s und Pleyer’s 
einen kurzen Lebensabriss dieses ersten förmlich accreditirten öster¬ 
reichischen Diplomaten am russischen Hof geliefert 4 ». 

Das von Pleyer hier entworfene Bild weiter auszuführen, will der 
vorliegende Artikel versuchen, doch muss auch hier auf eine voll¬ 
ständig zusammenhängende Darstellung verzichtet werden, weil nur 
das bereits gedruckte Material benutzt werden konnte und die 
Lückenhaftigkeit desselben eine gleichmässige Behandlung des 
Stoffes nicht ermöglichte. 


Einleitung. 

y Die officiellen Verhandlungen mit fremden Mächten waren bis 
gegen das Ende der Regierung des Zaren Alexey ausschliesslich 
durch ausserordentliche Gesandte geführt worden. Den ersten Ver¬ 
such einer ständigen Vertretung in Russland machte Schweden, 
welches bereits in den Jahren 1631—1645 einen Residenten in Mos¬ 
kau hielt \ Erst viel später stellten sich aus anderen Ländern stän¬ 
dige Vertreter ein, zunächst noch ohne einen officiellen Charakter 
unter dem Namen von Kommissären oder Agenten. Die rasch stei¬ 
gende Bedeutung, welche man dem internationalen Verkehr in 
Russland beimass, war auch auf die Stellung dieser Agenten von 
wesentlichem Einfluss: als Minister-Residenten oder einfach als 
Residenten werden sie von ihren Regierungen förmlich accreditirt. 


* ibid. 

1 A. BptncHep-b, KpimwecKiji H ÖMÖ^iorpa^Bwecii* sairfeTicu (yKypxsun» Mmhh- 
crepCTBÄ HapoAwaro IlpocrfemeHia 1873, p. 218) und »Zur Geschichte Peter’s des 
Grossen« («Russ. Revue», Band II. 1875, P* *56). 

1 C. CoJOBbem», Hcropii Poechi IX, 182 und 268. 

19* 


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284 


1672 begegnen wir dem ersten dänischen, 1678 dem ersten nieder¬ 
ländischen Residenten 9 . 

Doch auch diese officielle Vertretung ging weniger aus politi- 
_ sehen als aus merkantilen Bedürfnissen hervor; dem politischen 
Treiben, der grossen politischen Strömung, welche damals den euro¬ 
päischen Westen durchzog, blieb Russland nach wie vor fremd. 

Eine Aenderung trat erst nach dem Tode des Zaren Feodor 
Alexejewitsch ein. Weitere internationale Aussichten eröffnen sich, 
gleiche Ziele und Bestrebungen vereinigen Russland mit abendlän¬ 
dischen Staaten und bahnen eine stetige Verbindung des Ostens mit 
dem Westen an: das Jahr 1684 bezeichnet die ersten Anfänge 
der russischen Allianz mit Polen und dem deutschen Kaiserreich. 

Fassen wir das Verhältniss zu letzterer Macht näher ins Auge, 
so lässt sich nicht verkennen, dass dieses Mal ein Bündniss mit 
Russland dauernde, greifbare Interessen für Oesterreich in sich 
schloss. Der fortdauernde Kampf mit dem noch nicht entnervten 
Osmanenthum nöthigte den deutschen Kaiser um so mehr sich nach 
weiterer Hülfe gegen diesen furchtbaren Feind umzusehen, als das 
Reich gleichzeitig im Westen den schmählichsten Uebergriffen aus¬ 
gesetzt war. Ein Angriff im Rücken der Türkei musste der erwünsch¬ 
teste Ableiter der drohenden Gefahr sein, und nur von Russland 
konnte Oesterreich solche Hülfe erwarten. 

Mit dem politischen Interesse verband sich das religiöse. Oester¬ 
reich, die Vormauer gegen den herandrängenden Islam, war zu¬ 
gleich der Vorkämpfer des Jesuitismus. Noch lebte in jener Zeit 
glühender Hass gegen den Katholicismus im russischen Volke fort; 
der Zar Michael verbot, auch nur katholische Söldner zu werben, 
und erst sein Nachfolger gestattete Bekennem dieses Glaubens den 
Aufenthalt in Russland. Die Duldung ihrer Religion war an das 
Verbot, einen Priester zu halten, geknüpft. 

Russland zum Abschluss eines Offensiv-Bündnisses gegen die 
Türkei zu bewegen und die freie Ausübung des katholischen Kultus 
zu erwirken, war die Aufgabe, mit welcher Kaiser Leopold die 
Grossgesandten Johann von Zierowskij und Sebastian von Blutnberg 
im Anfang des Jahres 1684 betraute. Sollte aber ein Bündniss zu 
Stande kommen, so musste allem zuvor zwischen dem treuen 
Alliirten Oesterreichs, dem Königreich Polen, und Russland eine 
offene Verständigung erzielt, der zwischen beiden Mächten beste- 


* M. Posselt, Franz Lefort, I, 187—190. 


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285 


hende Waffenstillstand in einen festen Frieden umgewandelt werden. 
Trotz aller darauf bezüglichen Bemühungen ist dieses den öster¬ 
reichischen Gesandten nicht gelungen, und damit musste, so wenig 
man es im Uebrigen an freundschaftlichen Versicherungen, fehlen 
liess, selbstverständlich auch der Abschluss einer russisch-öster¬ 
reichischen Allianz aufgegeben werden 8 . Glücklicher waren die 
Gesandten in Bezug ihrer zweiten Aufgabe, indem auf ihr Ansuchen 
die russische Regierung zwei katholischen Priestern den dauernden 
Aufenthalt in Moskau gestattete 4 . 

Wie viel Oesterreich an einem Bunde mit Russland lag, beweist 
der Umstand, dass bereits am Anfänge des folgenden Jahres der 
erste Stallmeister der früheren Gesandtschaft, Johann Ignatius Kurz, 
als Courier nach Moskau geschickt wurde, um nochmals — freilich 
wiederum vergeblich — die Vermittelung des Kaisers Polen gegen¬ 
über anzubieten 6 . 

Nach langen Verhandlungen war endlich im April 1686 der ewige 
Friede mit Polen feierlich beschworen, und damit zugleich auch die 
Garantie für das Zustandekommen des seit zwei Jahren geplanten 
Bündnisses gegeben. Die Anerkennung des Besitzes von Ssmo- 
lensk und Kijew war der Preis, um welchen Russland jetzt zur Krieg¬ 
führung gegen die Türkei bestimmt wurde. Noch in demselben Jahre 
ging eine russische Gesandtschaft über Warschau nach Wien, um 
mit Polen und Oesterreich die gewünschte Allianz nun thatsächlich 
abzuschliessen. 

Damit waren die Interessen Russlands in das Netz europäischer Ver¬ 
wickelungen mit hineingezogen und in stetiger Wirkung und Gegen¬ 
wirkung verflechten sich seine Beziehungen mit dem Westen. 

Aber für die Festigung des Bundes wäre als nothwendigster Kitt 
vor allem Erfolg im Kriege erforderlich gewesen, und dieser blieb 
aus. Die beiden russischen Unternehmungen gegen die Krim in den 
Jahren 1687 und 1689 scheiterten völlig, und auch Oesterreich erlitt 
nach dem glänzenden Feldzuge von 1688 auf 1689 schwere Ver¬ 
luste. Diese Vorgänge erweckten unter den Alliirten bald gegen¬ 
seitiges Missvergnügen. Russland namentlich glaubte sich, als es 
von Friedensverhandlungen zwischen Oesterreich und der Pforte 
hörte, zurückgesetzt, und war wohl nicht ohne Grund von der 
Uneigennützigkeit der österreichischen Freundschaft nur sehr wenig 
überzeugt. 

* n&MjrTHHKit AHiuiOMaTHMecKHx-b cHomeHitt. VII, I—3. — 1 ibid 551. — * Ilav. 
VI, 896-899. 


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y 



286 


Es galt, das erschütterte Vertrauen auf politischem Gebiete in 
Russland wiederherzustellen, es galt aber auch den inzwischen 
empfindlich getroffenen Katholicismus wieder aufzurichten. 

Von der russischerseits abgegebenen Erklärung, katholische 
Priester in Moskau dulden zu wollen, hatte der Kaiser unverzüglich 
Gebrauch gemacht, und zwei Jesuiten mit dem vorerwähnten Johann 
Kurz dorthin gesandt. Durch das Geld und die Fürsprache des Habs¬ 
burgers unterstützt, traten sie mit ihren Bekehrungsbestrebungen 
immer dreister hervor und zogen dadurch bald die allgemeine Auf¬ 
merksamkeit wie den allgemeinen Unwillen auf sich. Vor Allem 
wurde die russische Geistlichkeit durch das Treiben der Jesuiten er¬ 
bittert, und sie setzt im Octoberi689 bei den Zaren in der That den 
Befehl zu ihrer Ausweisung, welche freilich mit Rücksicht auf den 
Kaiser in schonendster Form erfolgte, durch 6 . Keinen Augenblick 
gab jedoch die katholische Gemeinde, an deren Spitze der einfluss¬ 
reiche General Patrick Gordon stand, die Hoffnung auf, wiederum 
Priester ins Land zu'ziehen. Bereits im Januar 1690 reichen alle an¬ 
geseheneren Katholiken in Moskau eine Schrift mit der Bitte, katho¬ 
lische Geistliche berufen zu dürfen, an die Zaren ein 1 ; hülfesuchend 
wenden sie sich gleichzeitig nach Wien und hier war man ent¬ 
schlossen, sich mit allem Ernst ihrer anzunehmen. 

In der zu den angegebenen Zwecken abgeordneten Gesandtschaft 
begegnen wir zum ersten Male dem Namen Otto Anton PleyeSs, und 
aus diesem Grunde scheint es geboten, etwas genauer auf sie ein¬ 
zugehen. 

Im April des Jahres 1691 traf der kaiserlich-ungarische Kammer¬ 
rath als österreichischer Internuntius in Moskau ein. 8 Deutlich wurde 
ihm schon beim Empfang das gegen seine Regierung eingewurzelte 
Misstrauen zu fühlen gegeben. Indem er die Erfolglosigkeit der kai¬ 
serlichen Waffen im verwichenen Jahre durch die ungünstigen äusse¬ 
ren Umstände entschuldigte, jeden Gedanken an einen Separatfrie¬ 
den aufs Entschiedenste in Abrede stellte, von den umfassendsten Rü¬ 
stungen zum bevorstehenden Feldzuge meldete, suchte er die Zaren 
von der Freundschaft und Bundestreue seines Herrschers zu überzeu¬ 
gen. Aber man traute seinen Worten ebenso wenig, wie den schrift¬ 
lichen Verheissungen des Kaisers selbst, und behandelte den Internun¬ 
tius nach wie vor mit der grössten Geringschätzung. Abgesehen von 
den mannigfachenFormverletzungen und persönlichen Kränkungen (so 


• rian. vn., 572—S74. — 1 ibid. 946. — # ibid. 888 und 689—691. 




287 


sah Kurz sich genöthigt, die ihm zu seinem Unterhalt angewiesene 
Summe von 70 Rbl. wöchentlich als beleidigend zurückzuweisen, da 
er doch früher in geringerem Range mehr erhalten hätte 9 ) wurde er 
über einen Monat hinaus gar nicht einmal zu Verhandlungen vorge¬ 
lassen. Man kam den ganzen Sommer über keinen Schritt vorwärts. 
Da trat plötzlich ein Umschwung ein. 

Am 19./8. August 1691 hatte der Markgraf von Baden in der gros¬ 
sen Entscheidungsschlacht auf den Ebenen von Szalankemen den 
glänzendsten Sieg errungen, und durch diesen Schlag das weit über¬ 
legene türkische Heer fast völlig aufgelöst. Die gewisse Nachricht 
von diesem überraschenden Erfolge beseitigte alle Zweifel an öster¬ 
reichische Doppelzüngigkeit und liess den Werth der österreichi¬ 
schen Freundschaft auch am russischen Hofe in ganz anderem Licht 
erscheinen. 

Je zurückhaltender man sich bisher gegen Kurz verhalten, um so 
bereitwilliger kam man jetzt allen seinen Forderungen entgegen. 

Was die vom Kaiser gewünschte Mitwirkung der russischen Zaren 
am Kriege gegen die Türken anlangte, so konnte der österreichische 
Gesandte freilich keine zeitlich festbestimmte Zusage erhalten; im 
Uebrigen aber erklärten die Zaren, treu an der Freundschaft mit 
Leopold festhalten und nach Kräften rüsten zu wollen. 10 Zugleich 
Hessen sie es an den freundschaftlichsten Beweisen im Einzelnen nicht 
fehlen. Vor Allem aber kam diese günstige Stimmung den Katholi¬ 
ken zu gut. 

Kurz war, wie oben bemerkt, auch die nachdrückUche Unter¬ 
stützung des Katholicismus zur Aufgabe gemacht worden. 

Nach der für ihn so glücklichen Wendung fiel es nicht schwer, 
auch in dieser Beziehung bedeutende Zugeständnisse zu erlangen. 
Anfangs zwar wollte man nur einen Priester — nur ja keinen Ordens¬ 
geistlichen, geschweige denn einen Jesuiten — zulassen, doch er¬ 
reichte Kurz, nachdem er nicht ohne Mühe die Bedenken der russi¬ 
schen Regierung beseitigt, dass dem Weltgeistlichen zur Unter¬ 
stützung ein zweiter Priester sich in Moskau aufhalten dürfte, und 
dass es dem in seinem Gefolge befindlichen Dominikaner gestattet 
würde, einstweilen daselbst zu bleiben. Freilich war an diese Erlaub¬ 
nis die Warnung geknüpft, dass, wenn auch nur ein Jesuit unter 
dem Priesterrock ins Land käme, alle katholischen Geistlichen sofort 
ausgewiesen werden würden. 


• ibid. p. 778. — 40 ibid. 895—900. 


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288 


So konnte der Internuntius zufrieden auf seine diplomatischen 
Erfolge zurückblicken. Reich beschenkt kehrte die Gesandtschaft 
am 22. September 1691 heim u . «Die Neuigkeit,», schrieb der hol¬ 
ländische Resident van Keller, «von dem durch die Armeen der 
Christenheit über die Türken errungenen Siege kam für diesen Ge¬ 
sandten zu sehr gelegener Zeit, denn sie hat nicht wenig dazu bei¬ 
getragen, ihm vor seiner Abreise eine günstige Antwort zu ver¬ 
schaffen, so dass der genannte Herr, mit Geld überhäuft und einer 
glänzenden Bewirthung sich erfreuend, mit seiner Mission sehr be¬ 
friedigt zurückkehren konnte»'. 

Unmittelbar an diese Gesandtschaft knüpft sich PleyeSs dauernder 
Aufenthalt in Russland. 

Pleyeris Ankunft und erster Aufenthalt in Moskau. 

Ueber Otto Anton Pleyeris Herkunft und Familienbeziehungen 
sind wir nur sehr dürftig unterrichtet. Früh ist wohl der Vater 
gestorben, da die Mutter mit dem mehrerwähnten Joh. Ignatius Kurz 
eine zweite Ehe einging. Pleyer selbst nennt sich öfter den Stiefsohn 
des Hrn. Kurtius und wird auch in den russischen Berichten bei 
seinem ersten Auftreten in Moskau als solcher bezeichnet. Der 
kaiserlich-ungarische Kammerrath Kurz war, wie wir gesehen haben, 
von seiner Regierung vielfach zu diplomatischen Diensten verwandt 
worden; er hat auch seinen Stiefsohn in das diplomatische Leben, 
den späteren Beruf, eingeführt. Als ein nicht ganz untergeord¬ 
netes Glied der letzten österreichischen Gesandtschaft begleitete 
Pleyer seinen Stiefvater und brachte mit ihm ein halbes Jahr in 
Russland zu. 

Seinem späteren Wirken muss dieser erste Aufenthalt am zarischen 
Hof ausserordentlich förderlich gewesen sein. 

An der Hand seines Stiefvaters lernte er schon damals die lei¬ 
tenden Persönlichkeiten, die Gebräuche und Sitten, die Natur des 
Landes kennen, in welchem er fünfundzwanzig Jahre fast ununter¬ 
brochen gelebt und gewirkt hat. Die vielen kleinen Hindernisse, 
welche Kurz Anfangs zu überwinden hatte, Zwistigkeiten in Betreff 
des Ceremonials, Schwierigkeiten im Verkehr, waren schon be¬ 
sonders geeignet, Pleyer einen tieferen Blick in die eigenthüm- 
lichen Verhältnisse des Zarenhofes zu gestatten. Dann ist er wohl 


44 Kurz erhält 400 Rbl. IlaM. VIL, 890 und 922. 


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289 


auch bei den meisten Verhandlungen persönlich zugegen ge¬ 
wesen, da er nächst Kurz die angesehendste Persönlichkeit in der 
Gesandtschaft war n . 

Die mannigfach sich berührenden Beziehungen zwischen dem 
alten Kaiserstaat und der jung emporstrebenden Zarenmacht, vor 
Allem jenes, schon früher hervorgehobene Doppelinteresse Oester¬ 
reichs in Russland — die Stellung zur Türkei und der Schutz der 
Katholiken — wiesen die habsburgische Regierung darauf hin, einen 
festeren, stetigeren Zusammenhang mit dem Hofe ihres grossen 
östlichen Nachbars zu suchen, sie erkannte die Nothwendigkeit, 
auf eine dauernde Verbindung hinarbeiten zu müssen, und in dieser 
Erkenntniss konnte sie die jüngste Gesandtschaft nur bestärken. 
Kurz selbst wohl dürfte ihr zugeredet haben, den Schritt zu thun 
welcher hernach zur Errichtung einer ständigen Vertretung am rus¬ 
sischen Hofe führte. 

Der Kaiser hatte, wie Adam Stille, der von der russischen Regie¬ 
rung erkaufte österreichische Dolmetscher, aus Wien meldete, un¬ 
mittelbar nach Empfang des Gesandtschaftsberichts Johann Kurz 
befohlen, seinen Sohn Pleyer auf eine neue Fahrt nach Moskau vor¬ 
zubereiten. Dort sollte dieser sich mehrere Jahre aufhalten, um 
nach gründlicher Erlernung der russischen Sprache als kaiserlicher 
Dolmetscher dienen zu können i8 . 

In der That verhielt es sich also und noch im Herbst des Jahres 
1692 sehen wir Pleyer auf dem Wege nach dem Zarenhof. 

Ueber seine Reise und Ankunft daselbst sind wir auf das Genaueste 
aus russischen Akten unterrichtet. 

Es dürfte hier der Ort sein, zuvor in der Kürze auf ein Moment 
aufmerksam zu machen, welches mit dem Aufenthalt Pleyer’s in 
Russland aufs Engste verbunden erscheint: Unmittelbar an sein 
Eintreffen knüpft sich die Wiederbelebung des Katholicismus, mit 
ihm dringen wiederum die Jesuiten in das Land, in Folge seiner 
Abberufung in die Heimat erfolgt auch ihre Ausweisung. 

Die von Kurz ausgewirkte zarische Erlaubniss, dass es zwei öster¬ 
reichischen Priestern nicht verwehrt sein sollte, in Moskau ihr Amt 
zu versehen, hatte in der kaiserlichen Hofburg die grösste Freude 
erregt. Höchst störend war jedoch die Klausel, dass unter keinen 

11 In der Liste des Gesandtschaftspersonals steht Pleyer als »Aamieftepi»» obenan. 
(IlaM. VII, 641); er erhält auch abgesehen von Kurz das grösste Gastgeschenk, d. h. 
60 Rbl. Sein Name wird sehr verschieden geschrieben; häufig heisst er Bleyer. 

f * na«, vu, 965. 


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390 


Umständen Jesuiten dazu bestimmt werden dürften. Die streng 
jesuitische Partei, welche durch den Pater Wolf den alternden 
Kaiser Leopold beherrschte, war nicht gewillt, auf das weite Mis¬ 
sionsgebiet zu verzichten oder es auch nur einem anderen Orden zu 
überlassen. Nie um Mittel verlegen, waren auch jetzt die Jesuiten 
entschlossen, trotz der zarischen Drohung zwei Glieder ihres Ordens 
nach Russland zu entsenden. 

Pleyer wird der Auftrag zu Theil, die verbotene Waare nach 
Moskau zu geleiten und der Kaiser selbst giebt zu diesem frommen 
Schmuggel seinen Namen her, indem er in seinem Brief an die 
Zaren die beiden Jesuiten als Weltpriester bezeichnet, welche ge¬ 
mäss der früheren Vereinbarung den augenblicklich in Moskau wei¬ 
lenden Dominikaner ablösen würden u . 

Im September 1692 machte sich Pleyer mit seinen geistlichen 
Genossen auf die Reise nach der russischen Residenz. 

Das damals in Russland geltende strenge Kontrolsystem verlangte 
von jedem Ankömmling ein genaues Protokoll über Herkunft, Beruf, 
Zweck der Reise etc. Pleyer selbst wurden, nachdem er sich durch 
das Schreiben des Kaisers an die Zaren legitimirt hatte, keine wei¬ 
teren Hindernisse in den Weg gelegt, um so entschiedener aber 
verweigerte der zarische Statthalter Golowin die Weiterbeförderung 
der beiden Priester. Auf Pleyer’s Versicherung, dass die Sendung 
zweier Geistlichen schon in der früheren Gesandtschaft ausdrücklich 
gestattet wäre und dass er sich laut kaiserlichen Befehls von seinen 
Gefährten nicht trennen dürfte, stellte Golowin ihm frei, entweder 
ohne sie zu fahren, oder aber mit ihnen auf den näheren Bescheid 
seiner Regierung zu warten. Natürlich wählte er das Letztere. 

Die Lage war bedenklich genug, denn entlarvte man die angeb¬ 
lichen Weltpriester, so konnte auch Pleyer sicher sein, zurückge¬ 
schickt zu werden. Um die in Moskau weilenden Freunde von der 
drohenden Gefahr zu benachrichtigen und sie zur Verwendung bei 
Hofe anzuspornen, schickte Pleyer mit dem Courier des Statthalters 
zwei Briefe nach Moskau, vor Allem an das einflussreiche Haupt der 
dortigen Katholiken, den General Gordon, und wohl dessen Für¬ 
sprache war es zu danken, dass bereits nach zwei Wochen die zari¬ 
sche Erlaubniss mit dem Befehl zur unverzüglichen Weiterbeför¬ 
derung der ganzen Gesellschaft eintraf. Sofort brach Pleyer auf 
und langte am 17. November 1692 in der Residenz an l5 . Er und 

iA ibid 966. Für das Folgende cf. na*. VII, 955—958. — IS Gordon's Tagebuch, 
n, 388. 


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291 


seine Begleitung — im Ganzen sind es acht Personen — wurden im 
grossen Gesandtschaftshof, wo auf Allerhöchsten Befehl eine be¬ 
sondere Wohnung für sie hergerichtet war, pläcirt. Einige Tage 
darauf wurde er dann vor das Gesandtschaftsministerium berufen, 
um hier seine Vollmachten und Botschaften abzuliefern. Anfangs 
widerstrebte er, sich in Abwesenheit der Zaren seines Auftrages 
zu entledigen, (er habe Befehl, nur «vor den hocherlauchten Augen* 
das Schreiben seines Herrschers zu übergeben), ging indessen den¬ 
noch darauf ein, weil er die Angelegenheit nicht aufhalten wollte, 
zumal ihm für die nächsten Tage eine Audienz bei den Zaren ver¬ 
sprochen wurde 16 . 

Kaiser Leopold empfiehlt in seinem Brief angelegentlichst die 
beiden Priester und seinen getreuen Unterthan Otto Pleyer, 
welcher, um in Zukunft die Fortführung der guten Beziehungen zwi¬ 
schen den beiden Höfen zu erleichtern, sich in Moskau zum Dol¬ 
metscher ausbilden werde, und hierauf hin erhält Pleyer die Frei¬ 
heit, zu gehen oder zu bleiben, wo es ihm beliebt; — hinzugefügt 
ist die naive Weisung, er möge in der Vorstadt zurückgezogen leben, 
«auf ungehörigen Plätzen sich nicht herumtreiben* 17 . Nicht er¬ 
sichtlich ist, ob ihm später die versprochene Audienz bei den Zaren 
zu Theil geworden ist. 

Hiermit war Pleyeris öffentliche Rolle ausgespielt. War er bis 
dahin gewissermassen als Vertreter seines Kaisers angesehen und 
auch vollständig danach behandelt worden, ja hatte er sogar den 
Anspruch auf eine persönliche Audienz bei den Zaren erheben 
können, so trat er jetzt, nachdem er sich seiner Beglaubigungs¬ 
schreiben entledigt hatte, völlig vom öffentlichen Schauplatz ab. 

# Für die russische Regierung war er officiell nur ein gewöhnlicher 
Privatmann. 

Dank seinem früheren Aufenthalt, Dank den Beziehungen seines 
Stiefvaters Kurz und denen seiner Regierung wurde es Pleyer 
wesentlich erleichtert, sich in den neuen Verhältnissen zurecht 
zu finden. 

Oesterreich hatte bereits damals am russischen Hofe ergebene 
Anhänger in sämmtlichen dort wohnenden Katholiken. In dem römi¬ 
schen Kaiser verehrten diese den Schutz- und Schirmherrn ihres 
Glaubens, an ihn direkt wandten sie sich mit ihrem allerunterthänig- 
sten Dank, sie beteten für den glücklichen Fortgang der kaiserlichen 


,# IlaM. VII, 970-972. — 17 ibid 971. 


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/ 



292 


Waffen, sie traten auch fiir die Verfechtung der politischen Inter¬ 
essen Oesterreichs ein. «Wier zweifeln nicht», schrieb im December 
1692 der Schotte Gordon an seinen Freund Kurz, «dass Ew. Hoch¬ 
wohlgeboren uns die fernere Gnade Sr. Römisch-kaiserlichen Ma¬ 
jestät verschaffen werden, wodurch die Ehre Gottes, die Ehre und 
Ausbreitung der katholischen Religion und das Seelenheil der Katho¬ 
liken befördert wird, welches alles durch die Gnade Sr. Römisch- 
Kaiserl. Majestät hier gegründet und befestigt wird» ,8 ; 1694 
spricht derselbe von den «feindlichen Anfällen, die wir bisher durch 
göttlichen Beistand und die Klugheit unseres durchlauchtigsten Mo¬ 
narchen glücklich und muthig entfernt und vereitelt haben» 19 . Der 
15. November, der Namenstag des Kaisers, wird alljährlich in der 
deutschen Sloboda feierlich begangen, seit dem Jahre 1691 findet 
an diesem Tage regelmässig Gottesdienst statt, man trinkt auf des 
römischen Kaisers Gesundheit 20 . Höchst charakteristisch ist es, 
dass Gordon bei seiner Firmelung den Namen des Kaisers — Leo¬ 
pold annimmt, während sein Sohn Theodor — nach dem römischen 
König — den Namen Joseph erhält 2I . 

Der erfolgreichste Vermittler zwischen dieser fernen, österreichisch 
gesinnten Genossenschaft und dem Kaiserhof war Pleyer’s Stief¬ 
vater, Johann Ignatius Kurz, Erbherr auf Dernberg 28 , gewesen. 
Mit den hervorragendsten Katholiken in Moskau war er in nahe per¬ 
sönliche Beziehungen getreten. So namentlich eben mit Gordon. 
Häufig hat er in dessen Hause verkehrt, er war der Gevatter von 
Gordon’s Sohn Peter 28 und mit Vergnügen erinnerte sich später der 
General seines «gefälligen und Jedermann höchst angenehmen Um¬ 
gangs». Nach der Trennung wurde zwischen Beiden eine eifrige 
Korrespondenz unterhalten, die politischen und besonders die reli¬ 
giösen Fragen werden hier besprochen, schätzenswerthe Mitthei¬ 
lungen über private Verhältnisse, die für uns von besonderem Inter¬ 
esse sind, weil hier häufig auch Pleyer’s gedacht wird, werden aus¬ 
getauscht 24 . Auch mit anderen Persönlichkeiten, wie mit dem pol¬ 
nischen Residenten Downant und dem Generalmajor Menezes, dessen 
Sohn er 1691 zur Erziehung nach Deutschland mitnahm, war Kurz 
befreundet. Mit Gordon sahen auch die übrigen Katholiken'in ihm 
den wärmsten Förderer ihrer Wünsche an der kaiserlichen Hofburg. 


18 Gordon III, 328. — 48 ibid. 352. — 80 ibid. m, 80. — 81 ibid. 203. — 88 ibid. 
III. 346. — 88 ibid. 306. — 84 5 Briefe Gordon’s an Kurz aus den Jahren 1692 — 1694 
sind in den Beilagen zu seinem Tagebuche gedruckt. 


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293 


Es war natürlich, dass auch Pleyer sich dieser österreichisch-katholi¬ 
schen Partei anschloss, dass er bei ihr Rath und Unterstützung 
suchte und fand. Besonders scheint sich Gordon, der ihn unmit¬ 
telbar nach seiner Ankunft besuchte und ihm nach seiner Entlassung 
aus dem Gesandtschaftshof auch eine Wohnung besorgte, seiner ange¬ 
nommen zu haben. «Ich werde», schrieb Gordon am 13. December 
1692 in Betreff Pleyer’s dessen Stiefvater, «ihm nicht ermangeln 
auf alle Art, so viel ich nur kann, zu dienen». 

Pleyer, der einstweilen von dem polnischen Residenten Georg 
Downant aufgenommen war, dachte ernstlich daran, hier seinen 
dauernden Aufenthalt zu nehmen, und gab es erst auf Gordon’s drin¬ 
gendes Abrathen auf 25 . Möglicherweise hat er sich schon jetzt bei 
dem Generalmajor Menezes, dem nächst Gordon angesehensten Ka¬ 
tholiken, eingemiethet; jedenfalls aber hat er — von wann an, muss 
dahingestellt bleiben — bis zum December 1694 dort gewohnt 26 . 
Das Haus, schreibt Gordon im December 1692 an Kurz, sei zwar 
theuer, aber sein Stiefsohn habe dort Gelegenheit, «die Sprache und 
Sitten dieser Nation besser zu lernen als an irgendeinem anderen 
Ort». Und darauf vor allem Anderen musste es Pleyer ankommen. 
Still und zurückgezogen lebt er seinen Wissenschaften, die Erlernung 
der slavonischen und russischen Sprache bildet selbstverständlich 
seine wichtigste Aufgabe, «er arbeitet beständig und kommt immer 
weiter 27 . 

Obgleich Pleyer sich eng seinen Glaubensgenossen anschloss, so 
war er doch nicht gewillt, in allen Dingen ihrer Meinung beizupflich¬ 
ten, am wenigstens, sich von den Jesuiten beherrschen zu lassen. 
Noch war seit seiner Ankunft kein volles Jahr verflossen und schon 
sehen wir ihn in einem heftigen Zwist mit den katholischen Priestern 
und dem polnischen Residenten 27 . Was der Grund zu dem erbit¬ 
terten Streit, den Gordon vergeblich beizulegen suchte, war, erfah¬ 
ren wir nicht, nur soviel erhellt, dass er von beiden Parteien mit gros¬ 
ser Leidenschaftlichkeit geführt wurde. Eine der jesuitischen An¬ 
schuldigungen scheint Pleyer’s Umgang betroffen zu haben, doch sah 
auch Gordon, der sich übrigens für keine der streitenden Parteien 
offen entschied, hierin nichts Tadelnswürdiges. Um so bestimmter 
scheint sich Kurz auf die Seite seines Stiefsohnes gestellt zu haben, 
wenigstens erachtete es Gordon für nöthig, ihm gegenüber sein Be¬ 
dauern darüber auszusprechen, dass die Priester ihn durch den Streit 


** Gord., HI, 326. — 16 ibid. 354—355. — 17 ibid. 346. 


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294 


mit Pleyer beleidigt hätten 28 . Für uns hat diese ganze Angelegen¬ 
heit nur als ein erwünschter Beitrag zur Charakteristik Pleyer’s Bedeu¬ 
tung: mitten in jenen neuen Verhältnissen wahrt er mannhaft seine 
Selbstständigkeit gegen einflussreiche, vielvermögende Anfeinder. 

Fragen wir nun, welche Stellung nimmt Pleyer ein, was soll er 
eigentlich in der zarischen Residenz, so läge die Vermuthung nahe, 
dass seine wirkliche Aufgabe nicht in der von ihm sowohl wie von 
seinem Kaiser angegebenen Ausbildung zum Dolmetscher zu suchen 
sei, dass er diese Bestimmung nur als Deckmantel für weitere Ziele 
und Bestrebungen benutzt habe. 

In Folge der engen Verbindung Pleyer’s mit dem Jesuitismus hält 
Posselt es für nicht unwahrscheinlich, «dass er zum «Jesuiten-Orden 
gehörte und sein Aufenthalt zu Moskau einen anderen, als den ange¬ 
gebenen Zweck hatte» 29 , doch weisst kein Umstand, keine Notiz in 
Pleyer's späteren Berichten darauf hin, dass er sich zum Jesuiten-Or- 
den gezählt hätte, während gerade die eben erwähnte Differenz mit 
den Paters zeigt, wie wenig er innerlich mit denselben überein¬ 
stimmte. 

Entschieden zu verwerfen ist die Mittheilung von Noordens, Pleyer 
sei «als angesehener Geschäftsmann» in Moskau ansässig gewesen 30 . 
Er befand sich förmlich in österreichischem Staatsdienst, der öster¬ 
reichischen Regierung allein gehörte seine Arbeit, von ihr allein 
empfing er auch die zu seinem Unterhalt jiothwendigen Mittel. 

Die ihm zuertheilte Aufgabe bestand Anfangs in nichts Anderem, 
als ausschliesslich in der Erlernung der russischen und slavonischen 
Sprache, in der Vorbereitung zum Dolmetscher. Dafür spricht unter 
Anderem auch der Umstand, dass zunächst ein, wenn auch längerer 
so doch nur zeitweiliger Aufenthalt Pleyer’s in Moskau in Aussicht 
genommen war, dass man, wie es scheint, schon im Sommer 1694 
an seine Rückberufung gedacht hat 31 . Dann aber traten Verhält¬ 
nisse ein, die das fernere Verbleiben Pleyer’s am russischen Hofe 
wünschenswerth machten, die zur wesentlichen Aenderung seiner 
Stellung führten. 


M ibid. 352. — ,# Franz Lefort, 228, Anmerk. — 90 E. Herrmann a. a. O., Vor¬ 
wort VII. Am 21. Dec. 1694 bittet er, «dass ihm sein Jahrgeld vermehrt werde, weil 
er von dem bisherigen nicht anständig leben und mit den Wissenschaften sich ruhig be¬ 
schäftigen kann» (Gord HI, 355). Diese und ähnliche Bemerkungen schliessen doch 
wohl die Annahme, Pleyer sei je Geschäftsmann gewesen, aus. — 11 ibid. 353. 


Ä 



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Pleyer als geheimer tfsterreichischer Agent. 

Der Internuntius Kurz war mit dem Versprechen baldigen aktiven 
Eingreifens gegen die Türken aus Moskau entlassen und noch immer 
war dieses Versprechen unerfüllt geblieben. Der vorwärtsstrebende 
junge Zar Peter wünschte energischen Krieg, hatte aber bisher davon 
abstehen müssen, theils wegen der Untauglichkeit des russischen 
Heeres, theils, weil die streng nationale, altrussische Partei diesen 
seinen Absichten aus allen Kräften entgegen arbeitete. Erst im Laufe 
des Jahres 1694 gewannen die Kriegspläne festere Gestalt und noch 
im December desselben Jahres konnte Gordon seinem Freunde in 
Wien die zuversichtliche Hoffnung mittheilen, dass im kommenden 
Sommer nun auch russischerseits etwas zum Besten der Christenheit 
unternommen werden würde* 2 . — Es musste der österreichischen 
Regierung daran liegen, durch regelmässige Berichte über den Ernst 
und die Tragweite der russischen Rüstungen und — wenn es zur 
Aktion käm£ — über den Verlauf derselben orientirt zu werden. 

Als Pleyer im Jahre 1694 um Verlängerung seines Aufenthaltes 
und Vermehrung seines Gehalts nachsuchte, beschloss man in Wien, 
«ihn in Moskau subsistiren zu lassen und der Moskowitischen Armee 
zu folgen, um Alles zu berichten, was sowohl bei der Armee als 
sonsten in Moskau fürgeht» 3S . Hierin lag fortan seine eigentliche 
Aufgabe, über die wir um so weniger im Zweifel bleiben, als er 
selbst sich wiederholt klar und deutlich darüber äussert. So z. B. 
reiste er im Jahre 1694 mit Peter nach Archangel, «umb bcti 3 a rifc{|en 
*off afljeit in geljeimb et©a§ ju consideriren" 84 und will auch ferner 
„gatij genau observiren, ©a§ fiefc no<$ ©eiter ereignen ©irb uttb baboit in 
aflet eljl 3 UIeruntert^önig(l benad&rid&tigen" 35 . 

Aus dem Angeführten ist ersichtlich, dass Pleyer in keiner formel¬ 
len Beziehung zum russischen Hofe stand, sondern von seiner Re¬ 
gierung nur als geheimer Agent benutzt wurde. Vorherrschend sollte 
er — wie aus seinen Berichten hervorgeht — den militärischen Ope¬ 
rationen, den inneren und äusseren politischen Verhältnissen seine 
Aufmerksamkeit zu wenden. Trotz dieses äusserlich rein privaten 
Charakters ist er aber von der russischen Regierung vermuthlich doch 
immer als eine halbofficielfe Persönlichkeit angesehen worden — 
wenigstens erscheint es überaus schwierig, seine stetige, nahe Ver¬ 
bindung mit den höchsten Kreisen anders zu erklären. 

M Gordon 1 II, 355. — M Posselt H, 228. — ai yerp. II, 568. — M ibid. 582, 


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296 


Der Zar Peter erlaubte ihm «ad latus» zu sein 88 , und wir sehen 
ihn daher bei allen grösseren Unternehmungen persönlich gegen¬ 
wärtig. Nicht wenig mag ihm auch nach dieser Seite hin die Für¬ 
sprache Gordon’s, Menezes und anderer angesehener Katholiken 
förderlich gewesen sein, und dann mochte seine ganze Vergan¬ 
genheit, die Art, wie er mit dem Hofe von Moskau in Berührung 
gekommen war, dabei mitspielen: bereits im Jahre 1691 erschien 
er als kein ganz untergeordnetes Glied einer österreichischen Ge¬ 
sandtschaft, wurde dann, ofFiciell beglaubigt, als Träger kaiser¬ 
licher Briefe an die Zaren geschickt und als zukünftiger öster¬ 
reichisch-russischer Diplomat der russischen Regierung gewisser- 
massen vorgestellt. Bei den freundschaftlichen Beziehungen der 
beiden Mächte lässt es sich in der That wohl verstehen, dass er hier 
eben anders als ein gewöhnlicher Privatmann angesehen worden ist. 

Dieser Umstand ist von wesentlicher Bedeutung für den Werth 
seiner Berichte, er setzte ihn in die Lage, zunächst aus der eigenen 
Beobachtung über viele wichtige Unternehmungen genaue, reichhal¬ 
tige Nachrichten zu schöpfen. 

Ueber die erste Zeit seines Aufenthalts in Moskau als österreichi¬ 
scher Agent, wie wir ihn^wohl nennen dürfen, können wir nur wenig 
entnehmen, da er aus Furcht vor Entdeckung seiner geheimen Kor¬ 
respondenz seine Berichte bis zum Jahre 1697 an seinen Stiefvater 
Kurzadressirte 37 und diese, wie es scheint, leider verloren gegangen 
sind. Seine erste gedruckt vorliegende Relation ist vom 4. Januar 
1696 datirt und enthält die sehr ausführliche Beschreibung des ersten 
Asow’schen Feldzuges 38 ; er selbst spricht später von diesem Schrift¬ 
stück als von seinem «compendiosen Diarium», welches er durch 
einen nach Hamburg reisenden Kaufmann dem Kaiser überschickt 
habe. 

Um den Hof im Auge zu behalten, war er im Sommer 1694 mit 
dem Zaren nach Archangel gereist und ist dort auch auf der See mit 
ihm umhergesegelt. Auch den koshuchow’.«?chen Manövern, von 
denen es meint, dass sie, „obgleich bic SRuffen e§ wenig bermerfeten, bie 
33orboten ber jefc gef dienen unb fünfftigen gelbjügen" wären, hat er im 
Herbst desselben Jahres beigewohnt. 

Vor Asow ist Pleyer während der ganzen Dauer der Belagerung, 
d. h. vom Juli bis zum October 1695, zugegen gewesen und hat nun 
hier alle wichtigeren militärischen Ereignisse Tag für Tag in seinem 
Diarium aufgezeichnet. 

*• Posselt II, 226. — iT ycTp. III, 632. — 88 ibid. II, 568—582. 


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597 


Nachdem Peter den General Gordon bereits im März 1^95 nach 
Tambow vorausgeschickt hatte, machte er selbst sich mit einem 
Theile des Heeres im April auf den Weg, fuhr zu Schiff bis Zarizyn 
und marschirte von dort mit den unter dem Oberbefehle der Gene¬ 
rale Lefort und Golowin vereinigten Truppen nach Panschin am 
Don. Erst bei Tscherkask vereinigte sich diese grosse Armee mit 
der dritten, von Gordon befehligten. Pley er hat, wie aus mehr¬ 
fachen gelegentlichen Bemerkungen hervorgeht, den Weg bis 
Tscherkask mit dem Zaren zurückgelegt l9 . Besonders anschaulich 
schildert er den mühseligen Marsch von Zarizyn bis Panschin. Von 
Tscherkask an aber tritt der General Gordon mit seiner Division in 
dem Diarium ganz in den Vordergrund, Pleyer hat sich seit dieser 
Zeit unzweifelhaft an Gordon’s Seite befunden 40 . Letzteres ist von 
Interesse in Ansehung des Werthes der Pleyer’schen Aufzeichnung 
für die Geschichte des Asow’schen Feldzuges, dieses ersten kriege¬ 
rischen Unternehmens des jungen Zaren. 

Pleyer hat wesentlich aus denselben Gesichtspunkten, mit der¬ 
selben Parteifärbung geschrieben wie Patrick Gordon, dessen Tage¬ 
buch bekanntlich die Hauptquelle für dieses Ereigniss bildet, und 
wenngleich Ersterer sich weit weniger einseitig zeigt als Letzterer, 
auch Mittheilungen über die anderen Heerkörper, den Zaren u. s. w. 
macht, so bildet sein Diarium doch nur eine — freilich nicht werth¬ 
lose — Ergänzung des Gordon’schen Tagebuches 4l . Nächst der 
eigenen Anschauung verdankt er wohl seine Kenntnisse zumeist 
eben diesem seinem militärischen Gönner, was einerseits die Zuver¬ 
lässigkeit seines Berichts erhöht, andererseits aber den Werth dessel¬ 
ben wegen der Uebereinstimmung mit dem Tagebuch des Generals 
herabdrückt; eine Beurtheilung des Feldzuges von anderen Gesichts- 


99 S. z. B. p. 569. Peter, berichtet Pleyer, sei bis Zarizyn gefahren, „aflwo mir bit 
gbrige oon allen flattern nerföictte Vtannföaft gefunben* etc. 

40 Dieses erhellt aus mehrfachen Bemerkungen, so z. B. „ben 6**“ JJuli fatlt an bie 
pbrige unter fcerrn (Beneralleforte unb art^emon TOtjajlomfr fte&enbe armee" (p. 
572\ am 5. August „fölageten (die Feinde) bie unfrtgen (d. h. die Soldaten Gor- 
don’s) mit grof&en Serluft wiber fturttcftb nach biefen bie anbern generale wiberumb 
anfangeten ju ftürmen* (p. 576) etc. 

41 lieber Lefort urtheilt PI. ungünstig; nach Posselt (II, 237) hat Ersterer vor der 
Campagne an ihn geschrieben. A. Theiner hat in seinen «Monuments historiques etc.» 
p. 358 den Auszug aus einem Briefe Lefort’s »scritta al signor Beyer» herausgegeben. 
Zu -Beyer» fügt nun Posselt in Klammern hinzu: «unstreitig Pleyer». Dieser kann 
jedoch unmöglich gemeint sein. Der Brief ist ausserdem der Nunciatura di Polonia 
entnommen und Theiner spricht in der Inhaltsangabe von dem •general Beyer». 

Rum. Revue. Bd. TU. 


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298 


punkten aus wird um so mehr vermisst, als wir diesen beiden 
Quellen keine dritte entgegenzusetzen haben. Die Absendung der 
Relation verzögerte sich, weil Pleyer durch eine lebensgefährliche 
Krankheit einen Monat lang in Tscherkask zurückgehalten wurde. 

. Als Peter im folgenden Jahre abermals vor Asow zog, folgte Pleyer 
wiederum dem Heere, ohne dass wir von den geringsten Schwierig¬ 
keiten hören, die ihm in den Weg gelegt worden wären, und blieb 
daselbst bis zur glücklichen Eroberung der Festung 42 . Die Nach¬ 
richt von dem Fall Asow’s erhielt durch ihn die österreichiche Re¬ 
gierung früher, als selbst der in Wien befindliche russische Gesandte 
Nefimonow, welchem der Kommissär Hase am 9. September 1696 
zu dessen nicht geringem Erstaunen mittheiltf, dass von Pleyer 
ein genauer Bericht über die Einnahme Asow's eingelaufen wäre 4S . 

Inzwischen hatten sich nämlich wieder intimere Beziehungen 
zwischen den beiden Höfen angesponnen. Der feste Entschluss zu 
nachhaltiger Kriegsführung bestimmte einerseits den Zaren, sich 
von Neuem der österreichischen Bundeshülfe zu versichern, und trieb 
andererseits auch Oesterreich, dessen Waffen in den Jahren 1695 
und 1696 keineswegs glücklich gewesen waren, zum näheren An¬ 
schluss an seinen Bundesgenossen. Für den Zaren kam es ausser¬ 
dem noch besonders darauf an, dass er zu den weiteren militärischen 
Operationen hinreichend mit tüchtigen Ingenieuren, deren Mangel 
im verflossenen Feldzug ausserordentlich empfindlich hervor ge¬ 
treten war, versehen wäre, und diesen Freundschaftsdienst erwartete 
er von Kaiser Leopold. 

Im December 1695 wurde daher der Sekretär Nefimonow nach 
Wien gesandt, um — wie die geheime Instruktion vorschrieb — den 
österreichischen Hof zu europäischer Kriegführung anzutreiben und 
die Bundesverträge auf der alten Basis, doch auf möglichst kurze 
Zeit, zu erneuern 44 . Zwar wurde der Wunsch des Zaren in Betreff 
der Ingenieure, welche am 9. Juli 1696—wenige Tage vor dem 
Fall der Festung — in Asow eintrafen 45 , bald erfüllt, doch zogen 
sich Anfangs die Verhandlungen langsam hin und scheinen erst 
rascheren Fortgang genommen zu haben, als durch Pleyer die Nach¬ 
richt von der Eroberung Asow's eingelaufen war. Mit der ge¬ 
wünschten Erneuerung des Bundesvertrages auf drei Jahre kehrte 
Nefimonow im April 1697 heim 4 \ 


41 ycrp in, 632. 

45 Gordon, m, 51. 





43 rian. vin, 256—257. — 44 itam. vn, 1008 1009. — 

44 riaM. vn, 1279. 


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299 


Aehalich wie im Jahre 1691 die russische Regierung durch die 
Kunde vom Siege bei Szalankemen zum freundschaftlichsten Entge¬ 
genkommen gegenüber der österreichischen bewogen wurde, so hatte 
jetzt der Erfolg der russischen Waffen den Wiener Hof dem Mos- 
kau’schen genähert. Der unzweideutigste Ausdruck für das lebhafte 
Streben nach einer intimeren Verbindung mit dem Eroberer von 
Asow liegt unstreitig darin, dass gerade jetzt in dem österreichischen 
Hofkreise die Errichtung einer ständigen Residentschaft in Moskau 
ins Auge gefasst und ernstlich in Betracht gezogen worden ist. — 
Im December 1696 wurde Nefimonow mitgetheilt, dass der Kaiser 
gesonnen sei, nach Abschluss des Bündnisses gemäss der Sitte aller 
christlichen verbündeten Herrscher einen Residenten nach Moskau zu 
schicken, damit dieser sich während der ganzen Dauer der Allianz 
daselbst aufhalte. Auch die Person filr diesen neuen Posten war be¬ 
reits damals ausersehen, es war, nach der Mittheilung des russischen 
Gesandten, Christoph Ignatius von Guarient, der Sekretair der frühe¬ 
ren Zierowskischen Gesandtschaft. 47 . 

Guarient traf im April des Jahres 1698 in Moskau ein, um in der 
That in Russland zu bleiben , den russischen Heeren zu folgen und 
überhaupt das Interesse seiner Regierung beim verbündeten Hof 
während der Dauerndes Krieges zu wahren 48 . Seine Bestimmung aber 
wurde schon dadurch hinfällig, dass der Zar Peter, welcher sich zur 
Zeit der Ankunft der österreichischen Gesandtschaft noch im Auslande 
befand, für das laufende Jahr gar keinen Feldzug gegen die Türkei 
beabsichtigte, dass es sonach gar keine Heere gab, denen er hätte 
folgen können. 

Als Guarient dem zarischen Winke, sich reisefertig zu machen, 
nicht Folge leistete, weil sein Kaiser ihm einen dauernden Aufenthalt 
geboten hätte, wurde ihm im September nochmals mitgetheilt, dass 
alle Angelegenheiten bereits vollständig erledigt seien, dass sein ferne¬ 
rer Verbleib ganz nutzlos wäre und dass er sich daher zur Abreise 
rüsten möge. Deutlich genug war damit ausgesprochen, dass man 
russischerseits von einer österreichischen Residentschaft noch nichts 
wissen wollte, und trotz seines Widerstrebens musste Guarient sich 
jetzt zur Heimkehr entschlossen. Der erste Versuch einer ständigen 
Vertretung Oesterreichs in Russland war völlig gescheitert 48 . 

4T ibid. 1256—1257. — ibid. 480. — 4# Bemerkenswerth ist, dass Daisa, der 
päpstliche Nuntius in Polen, Guarient (unter dem «residente Cesareo» kann kaum ein 
Anderer gemeint sein) bereits als «kaiserlichen Residenten in Moskau» bezeichnet (A. 
Theiner a. a. O. p. 380). 


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3oo 


Pleyer ist, wie wir sehen, bei diesem ersten Versuch gar nicht be¬ 
rücksichtigt worden. Dass er bei der Besetzung der Residentschaft 
vorläufig ganz übergangen wurde, dürfte weniger daraus zu erklären 
sein, dass man in Wien mit seinen Berichten unzufrieden war, als 
vielmehr daraus, dass er überhaupt noch als politisch zu unerfahren 
für einen solchen Posten gelten musste. Verschiedene Umstände 
deuten darauf hin, dass er sehr jung nach Russland gekommen ist, 
und in der That wäre es auffallend gewesen, wenn die österreichische 
Regierung ihn schon damals (December 1696) zu ihrem Vertreter 
am Zarenhofe berufen hätte, ihn, der noch gar keinen officiellen 
Posten bekleidet, der vor erst vier Jahren den Auftrag erhalten hatte, 
sich zum Dolmetscher auszubilden, der jetzt nur als geheimer Agent 
fungirte. Wie gering sein Ansehen selbst im Jahre 1698 doch noch 
war, erhellt aus der unbedeutenden Rolle, die er bei der Gesandt¬ 
schaft Guarient’s spielt. Zwar verhandelte er mit den russischen Be¬ 
amten wegen des Logis und Unterhalts 60 , aber bei der feierlichen 
Audienz wird seiner gar nicht gedacht, die Credentialien lässt sich 
Guarient nicht von ihm, dem Dolmetscher von Beruf, sondern von 
seinem Sekretair und dem Pater Franz Löffler vortragen 61 . 

Erst ganz allmählich scheint sich Pleyer aus der Aufgabe des Kor¬ 
respondenten in die des Agenten hineinzuarbeiten; nach der Gua- 
rient’schen Sendung tritt er zunächst ganz in den Hintergrund, bis 
die erhöhte Bedeutnng der allgemeinen politischen Lage auch die 
Bedeutung seiner Stellung und Person emporhebt und ihn zum wirk¬ 
lichen Diplomaten heranreift. 

Schon durch das abwehrende Verhalten der russischen Regierung 
gegenüber der österreichischerseits geplanten Residentschaft locker¬ 
ten sich die freundschaftlichen Bande zwischen den beiden Reichen 
und wurden durch den Carlowitzer Frieden (1699) ganz gelöst. 
Oesterreich benutzte sein durch den glänzenden Sieg bei Zenta er¬ 
rungenes Uebergewicht, um für sich die günstigsten Bedingungen 
zu erwirken, ohne auch nur im Mindesten für die Interessen seiner 
Alliirten ernstlich einzutreten. Jede der verbündeten Mächte ver¬ 
handelte mit der Pforte abgesondert, der Zar Peter musste sich mit 
einem zweijährigen Waffenstillstand auf Grund des Status quo be¬ 
gnügen. Die österreichische Freundschaft hatte die Probe schlecht 
genug bestanden. 

Da trat das Ereigniss ein, welches die Blicke ganz Europa’s zu 
gespannter Aufmerksamkeit auf den Norden lenkte, welches die völ- 

50 riaM. ix, 709. — “ ycrp. m, 624. 



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lige Umgestaltung der europäischen Verhältnisse, die dauernde Er¬ 
hebung Russlands zur Grossmacht herbeiführte — der Ausbruch des 
nordischen Krieges. Von nun ab trat Russland immer mehr ins po¬ 
litische Getriebe, in Moskau wurde ein stetiger, lebendiger Gedanken¬ 
austausch mit den fremden Mächten unterhalten, nach allen Seiten 
entfaltete sich hier die grösste Rührigkeit auf diplomatischem Gebiete. 

Es ist nicht zu verkennen, dass diese Vorgänge auch auf die Stel¬ 
lung Otto Pleyeris, des officiell anonymen, in der That aber längst 
durchschauten österreichischen Agenten von bedeutendem Einfluss 
waren. Er selbst fühlt die Bedeutung seiner Lage, sucht seine Be¬ 
ziehungen zu erweitern, besonders am Hofe die Fäden seiner Ver¬ 
bindungen fortzuspinnen; in guten Bekannten und angesehenen 
Freunden findet er sichere Quellen für seine Angaben, immer häufi¬ 
ger gewahren wir in seinen Schriftstücken Berufungen auf fremde 
Mittheilung. So citirt er in Betreff der Zusammenkunft Peteris mit 
August dem Starken vor Riga im Jahre 1701 einen Vertrauten «so 
selbst mitgewesen» 5a , 1702 einen seiner guten Bekannten, welcher, 
vom Zaren nach Holland geschickt, seinen Brief zur Weiterbeförde¬ 
rung mitnahm 58 , ebendaselbst einen Anderen, der über geheime 
Verhandlungen mit dem polnischen Fürsten Massalskij und über 
Empörungsgelüste im Süden des Reiches gewisse Nachricht hat, im 
Februar 1703 schliesst er seiner Relation sogar „eine Copiam Bel) Don 
bem ©jörfföen Brief, fo Don $ier an bie respublic Don Sßoljlen $ent aBge* 
föicft toitb, toelge i<$ Don einem bertrauten gfreunbe in rufftfö Befommen unb 
jelbige Don toort ju toort in8teutf<$ bBerfefcet $üBe" 54 . Ueber die Um¬ 
triebe Peter Linksweileris, des Dolmetschers beim russischen Ge¬ 
sandten in Wien, erhält er im Februar 1702 Aufklärung vom jungen 
Grafen Scheremetjew 88 , und schon seit dem Jahre 1701 behauptet er, 
mit dem Premierminister Golowin in guter Bekanntschaft zu stehen 58 . 

Wir sehen, Pleyer hatte bereits bedeutende Verbindungen in Mos¬ 
kau. Freilich war er seines bisherigen wärmsten Fürsprechers, des 
Generals Patrick Gordon, der zum Leidwesen aller Katholiken im 
Herbst des Jahres 1699 gestorben war, beraubt. Schon aber konnte 
Pleyer dieses Berathers entbehren, bald sehen wir ihn heimisch in 
seinem Beruf, sicher in seiner Haltung, zum Theil schon jetzt in der 
Rolle des Vermittlers zwischen den beiden grossen Ostmächten. 

Dieses zeigt sich sowohl in seinen Beziehungen zu Privatpersonen 
wie zu den Botschaftern auswärtiger Mächte. 

ycrp. IV, 2 p. 555. - “ ibid 595. — M ibid. 605. - M ibid. 570. — 
*• ibid. 560. 


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302 


Der Obrist Kragge, welcher aus österreichischem Dienst in russi¬ 
schen übergetreten war und vergeblich um die Erlaubniss zur Rück¬ 
kehr nachgesucht hatte, wendet sich (Dec. 1699) an Pleyer mit der 
Bitte, er möge seinen «betrübten Zustand» dem Kaiser darlegen und 
von ihm seine Befreiung auswirken, sieht ihn also gewissermassen 
als Mittelsperson zwischen sich und seinem Kaiser an 57 . Ein ande¬ 
res bemerkenswerthes Beispiel bietet uns das Hülfegesuch eines un¬ 
glücklichen österreichischen Hafners, der aus Livland 1702 nach 
Moskau geschleppt war und hier, obgleich er nach seiner Behaup¬ 
tung nie Waffen geführt hatte, in harter Gefangenschaft gehalten 
wurde. Auf seine Klage begiebt Pleyer sich zum Feldmarschall 
Scheremetjew, um von ihm die Befreiung des Oesterreichers zu er¬ 
langen: „et rnÖdjte bodj", sucht er ihn zu überreden, „biefen.menfdjen 
aufs biefer mifetablen gefangenfdjaft, barinnen er faß $unger3 berge^en muß, 
entlaßen", zumal er nicht in den Waffen angetroffen und „&abfetli<$et, 
alfo eines freunbS Untertan fe$e". Pleyer’s Bemühungen sind erfolglos 
„unb", fügt er nicht ohne Ingrimm hinzu, „lüftet re<$t beb tenen Muffen 
ex inferno nulla redemptio" 58 . Dieser Vorfall zeigt, dass man Pleyer 
als geeignetsten Vertreter österreichischer Unterthanen in Moskau 
ansah, dass aber auch er selbst sich schon als solcher fühlte, indem 
er sich direkt mit dem Chef der livländisch-russischen Armee in Re¬ 
lation setzte. 

Mit einigen Vertretern fremder Mächte hat Pleyer, noch bevor er 
eine amtliche Stellung einnahm, auf recht vertrautem Fuss gestanden. 
So erzählt ihm der Sekretär des sächsischen Gesandten von dem 
Kampfe beim Uebergang der schwedischen Armee über die Düna 59 , 
der dänische Gesandte schüttet ihm in bitteren Klagen über die ihm 
am russischen Hofe widerfahrende Nichtachtung sein Herz aus 60 
(1701), besonders charakteristisch aber ist das von ihm dargelegte 
Verhältniss zu dem königlich-sächsischen Residenten, dem Grafen 
Königseck. Pleyer berichtet am 10. Mai 1703 von dessen Tode mit 
einem kurzen, flir jenen nicht gerade ehrenvollen Nachruf, in wel¬ 
chem er dem Grafen besonders Doppelzüngigkeit und Falschheit, 
unter der auch er zu leiden gehabt habe, zur Last legt: „bann na$* 
bem et", schreibt Pleyer, „mi<$ bot&ero bet bertrauli<$en (Korrespondenz 
}toif$en ißra unb ba* (des) $etm ©rafen Don ©ttattmann in SBatfdjau, 
au$ bet unberfälfc&ten gueten 3nteHlgettj mit mit in 2tnfel>en 
bet $o<$en Allianz jmif($en 6tut. f. unb f. Blatt. unb feinen 
ftbnig berfi<$ert, beffen beg ben $o$e8 intresse, et eine* g(ei$ be« 


47 V crp, III, 645. — M ycrp. IV, 2 p. 603. - M ibid. 566. - 60 ibid. 567. 



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303 


onbent gmau mit observiren toolle, Bat er mir-meine Brief BeftenS ju 

BefleOen offeriret" 01 . Nach Pleyer hat also der Graf Königseck, der 
officielle Vertreter der polnisch-sächsischen Regierung, zu ihm sich 
freundschaftlich gestellt, weil damals Sachsen und Oesterreich freund¬ 
schaftlich standen, d. h. er sieht in sich den Repräsentanten Sach¬ 
sens, in Pleyer gewissermassen den Oesterreichs. 

Vor Allem hat die russische Regierung selbst dem geheimen 
Beobachter eine Stellung eingeräumt, welche über die einer gewöhn¬ 
lichen Privatperson entschieden hinausging. So hat Pleyer im Au¬ 
gust 1700 der Abschiedsaudienz, die Peter dem dänischen Gesandten 
bewilligte, persönlich beigewohnt, ist somit zu einer Feierlichkeit von 
ganz officieller Bedeutung zugelassen worden — eine Bevorzugung, 
die uns um so mehr überraschen muss, als der Zar hier in seiner 
Gegenwart Dinge zur Sprache bringt, welche auch sonst für mass¬ 
gebende Kreise geheim blieben 0S . 

Dann aber hat der Premierminister Golowin Pleyer direkt als Ver¬ 
mittler zwischen der russischen und österreichischen Regierung be¬ 
nutzt, noch bevor er einen amtlichen Charakter erhalten hatte. Es 
geschah in einer Angelegenheit, welche, wie es scheint, in Moskau 
bedeutendes Aufsehen erregte. 

Korb, der Sekretär des Gesandten von Guarient, hatte nach seiner 
Rückkehr aus Russland das bekannte «Diarium itineris in Mosco- 
viam*, die Beschreibung seines Aufenthaltes daselbst, in Wien mit 
kaiserlicher Erlaubniss 08 drucken lassen. Diese Schrift, welche die 
russischen Zustände und die leitenden Persönlichkeiten nicht gerade 
im vortheilhaftesten Licht erscheinen liess, hatte Peter Linksweiler, 
der russische Dollmetscher und Agent in Wien, dem daselbst anwe¬ 
senden Gesandten Golizyn in die Hände gespielt und sofort berichtete 
nun dieser tiefgekränkt an seine Regierung (1701); eine ganz be¬ 
sondere Beleidigung seiner Regierung sah er ferner darin , dass ge¬ 
rade Guarient, den er zum Autor des Diariums, zum ärgsten Schmä¬ 
her Russlands stempelte, zu einer neuen Gesandtschaft nach Moskau 
in Aussicht genommen war, was man, wie er im April 1702 an den 
Kanzler Golowin schrieb, auf keinen Fall sich bieten lassen dürfe 04 . 
Mit Entrüstung vertheidigte sich Guarient nicht nur Golowin und 
dem Vicekanzler Schafirow gegenüber wider die leugnerische An- 
schwärzung, sondern wandte sich auch an den Zaren selbst mit der 
Versicherung, ihm wäre die ganze Affaire so nahe gegangen, dass 
er trotz seiner vollkommenen Unschuld an dem Aergerniss, welches 

61 ibid. 607. — •* ibid. 539. — 63 y<rrp, I, 63, Anm. 74. — 64 ibid. 328—329. 


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3<>4 


dasBuch seines Sekretärs hervorgerufen hätte, die ihm von Neuem an¬ 
getragene Würde eines Gesandten an den zarischen Hof ausgeschlagen 
habe 64 . In der That unterblieb die beabsichtigte Gesandtschaft. 

Pleyer hatte in dieser Zeit einen schweren Stand in Moskau. Ihm 
fiel die Aufgabe zu, nicht nur Guarient, der den Premierminister auf 
ihn als auf seinen Sachwalter verwiesen hatte 65 , sondern auch seine 
Regierung, der es nicht wtnig verdacht wurde, dass „man foI^eS bu<$ 
in ttnen offentli^ (atte lagen in $rudt auSge(en", zu vertheidigen. Der 
Stimmung des russischen Hofes gab der Kanzler Golowin nun Otto 
Pleyer gegenüber Ausdruck, er berief ihn bereits im Jahre 1701 66 zu 
sich und verlangte von ihm, dass er die ganze Angelegenheit seiner Re¬ 
gierung zur Kenntniss brächte und von ihr das unverzügliche Verbot 
des genannten Buches auswirkte. „Serotoegen", schrieb Pleyer mitBe- 
zug hierauf im Mai 1702, „mit ber bießge ^verniet JRinißer £err ©olotoin 
fdfoon ofterd gefaget, baf$ idfo es (inaufjfd&reiben mbd&te, foofern foM&eS bu$ unb 
barin befcbrtebene Statt beS (Sjaren, ber ^ßrinjef{innen unb ber SRinißern 
(eben unb ßten culpirung ni$t mit too((gefa(Ien unb guet(eißung beS fatrf. 
(offS gebrudet toere toorben, man fold^eS 33u<( au& ben 33u<$Iaben toeggenom- 
men au# ferneres na#jubruden unb ju berlaufen berbiet(en mbdjte" 67 . 
Pleyer’s Bemühungen, diesen unangenehmen Zwischenfall beizule¬ 
gen, scheiterten an den gehässigen Mittheilungen, welche von der 
russischen Gesandtschaft in Wien ausgingen und den alten Streit 
immer wieder von Neuem aufwärmten. „3Baß man", schrieb Pleyer, 
,afl(ier faß f#on bergeffen unb i$ bur# ade erßnnli#e guete explication 
mannen aus ben ßn rebe", das werde durch die Umtriebe und Ohren- 
bläsereien Peter Linksweiler’s immer wieder aufgeschürt. Ueber 
diesen lassen sich sowohl Guarient wie Pleyer in den heftigsten Aus¬ 
drücken aus. Letzterer namentlich weiss nicht oft genug „bon biefc 
lofe menf#", der das zarische Ministerium wider ihn anhetze, der „auf 
aufmidlung toiber baS (o(e tal)ferli#e SRinißerium" fortwährend herein¬ 
schreibe, zu berichten. 

Ob die durch Pleyer erfolgte russische Forderung ih Betreff des 
fcorb’schen Buches österreichischerseits erfüllt ist, muss dahingestellt 
bleiben. Einen Misston mehr in der Stimmung der beiden Mächte 
hinterliess die ganze Affairej „eS toill faß aD(ier ein SRi&trauen getreuer 
freunbbrüberli#er lieb 6mr. f. unb !. TOatt. gegen ben ßaren ba* aus ber- 
fpttret loerben", meldete Pleyer im Mai 1702 61 . 

#s y<rrp. IV, 2 pag. 210. — 66 Pleyer schreibt am 25. Mai 1702, „roeI$eS auf 

beS SRinißri befebl febon oergant) eneS 3 abt-berietet habe*. (ycTp. IV, 585). 

- 67 yexp. iv, 2,585. 



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305 


Ueberblicken wir nun das bisherige Leben und die Thätigkeit Otto 
Anton Pleyer’s, so dürfte aus dem Vorliegenden die obengeäusserte 
Ansicht gerechtfertigt erscheinen, dass der österreichische Agent, 
obgleich ihn die russische Regierung formell nur als Privatmann 
betrachten konnte, re vera immer als halbofficielle Persönlichkeit 
angesehen worden ist Ein gewöhnlicher Privatmann, an dem man 
kein anderes Verdienst erblickte als das, österreichischer Unterthan 
zu sein, hätte wohl schwerlich in so nahe Beziehungen zum Hof, ja 
zum Zaren selbst treten können, am allerwenigsten aber hätte man 
einen solchen zu diplomatischen Auseinandersetzungen mit einer 
auswärtigen Macht herangezogen. 

Gab einerseits der Ausbruch des nordischen Krieges Pleyer eine 
erhöhte Bedeutung, so erschwerte dieser Krieg andererseits wesent¬ 
lich die ihm zugewiesene Aufgabe. Die militärischen Vorgänge, 
über welche der österreichische Hof gewiss vor Allem orientirt sein 
wollte, waren in tiefstes Geheimniss gehüllt, aufs Strengste war es 
verboten, darüber aus dem Lager hinauszuberichten, Anfangs war 
es auch den fremden Ministern, wie viel mehr Pleyer, verwehrt, dem 
Zaren zum Heere zu folgen. Nur ungewisse Gerüchte drangen vom 
Kriegsschauplatz nach Moskau, man tappte hier, was die militäri¬ 
schen Ereignisse betraf, im vollständigsten Dunkel umher. 

In dieser allgemeinen Unsicherheit konnte auch der österreichi¬ 
sche Berichterstatter trotz seiner Bemühungen gar keine festen 
glaubwürdigen Erkundigungen einziehen, und häufig begegnen uns 
daher* in seinen Relationen Klagen gerade über diesen Uebelstand. 
*$Bö 9 bie Seitungen unb Gegebenheiten bot riga unb narwa betreffet", mel¬ 
dete er unter Anderem im September 1700, „»itb mönböröuf ge»i§cte 
unb nähere na$rh|t loben, aff) bon |ier fann gefdjrieben »erben, »eilen ba 
etwafe flueteS, man aO|ier ni$t genugfamb, ia »iber alle möglidjfeit gro| 
ma$et, bad fölimme aber auf alle »ei§ verborgen |altet* 68 . 

Mit dem Misserfolge der russischen Waffen wurde dieses Verheim¬ 
lichungssystem immer lästiger; man erfuhr nichts aus dem Lager in 
Moskau, aber auch nach aussen wurde die Verbindung gesperrt, 
aller Verkehr abgeschnitten. Fast ein ganzes Jahr lang war Pleyer 
ohne Nachrichten aus der Heimat geblieben, weder von seinen 
Eltern und Freunden noch sonst von Jemand aus Wien hatte er et¬ 
was erfahren — „mit einen »ort", schilderte er im Februar 1702 voll 
Verzweiflung diesen Zustand, # ,»it leben an$iet aniejo al 8 in bet »ilbeflen 
»fiftenetj, ba man bon nid)t 9 |öret, »a§ in ber »eit gef($ie|et, ban feine $ojt 
abgehet nodj anfommet". 

M yerp. IV, 2. 541. 


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Dabei befand sich Pleyer seit dem Ausbruch des grossen Krieges 
in der ärgsten pecuniären Bedrängniss: ihm war der volle Gehalt 
von zwei Jahren bis zum Februar 1702 ausgeblieben — sei es in 
Folge der Nachlässigkeit österreichischer Finanzverwaltung oder der 
erschwerten Verbindung. Dieses Factum bedarf keiner Illustration, 
leicht lässt sich ermessen, wie bitter er darunter gelitten hat, wie 
schwer es ihm geworden sein muss, in einem Lande, wo die Kredit¬ 
verhältnisse noch auf der niedrigsten Stufe der Entwickelung standen, 
auch nur seine Existenz zu fristen. „JBbrigenö", schrieb er am 19. 
Februar 1702 „fo fatjle i$ bor Slot, fatrf. unb fön. Statt, ©nabentgron ju 
btro füegen aderunt'rtljänigß treugegorfambfl bittenb unb flegenb, (Emt. fat)f. 
unb fön. Statt, »ollen allergnebigfl belieben einet goigloblidjen goffammer aOet> 
gnebigft anjubefeglen, mit meine fdgon j»et)iügrige berffoffenc unb artnotg aus» 
(lönbige ißenfion geteinjufdgiden, bann obmoglen f»r. fagf. unb fön. Statt. 
btr»idgen«8 3 agt ben 15 . Warft) burdg ein Decretum berfelben f$on aller¬ 
gnebigfl anbefogten gaben, mit meine rüdflönbige §u bejahen, fo gab idg bocg 
big biefe @tunb nidgt® erhalten, »oburcg idg in baS eugerte (Elenb unb notg 
aOgiet fdgon gerätsen bin, ban idg midg flünblidg mit neuen unb meuteren 
fcgulben beloben mug, baburdg aber nidgt »enig berginbert »erbe €»r. fagf. 
unb tön. Statt, bienft nadg nottutft ju betfegen, »eilen idg inbeffen fanm junt 
täglichen Unterhalt bie mittel ju »egen bringen tann" M . 

Und auch in Betreff seiner Hauptaufgabe, der regelmässigen und 
sicheren Beförderung seiner Korrespondenz, hatte Pleyer mit den 
grössten Schwierigkeiten zu kämpfen. Denn abgesehen davon, dass 
die Post höchst unregelmässig abging, mitunter ganz stockte, lebte 
er in der steten Furcht, dass seine Briefe erbrochen und unterschla¬ 
gen würden. Um sich vor dem Vorwurf der Nachlässigkeit sicher 
zu stellen, sehen wir ihn fortwährend auf diese Eventualität hinwei- 
sen: (Srot. Ä. unb ft. Wagt. »oglen nitgf etroa in ctmanglung einer listigen 
correspondenz ein bngnab auf midg »erfen, fonbern biefen irrasionablen 
gieggen lattbgebtaudg bet etbtedgmtg bet brief bor meine aHeruntertganigffe 
entfdgulbfgung alletgnabigp annemben" 70 . Die Schweden, welche Polen 
besetzt hatten, seien gar nicht, meint er später einmal, die Ursache 
der Unsicherheit des Briefverkehrs, diese sei vielmehr in den Russen 
selbst zu suchen, „»eilen bie bluffen fotooH biefer (d. h. der fremden 
Minister) alg anberer Privatpersonen brief aufgalten, erbredgen, gbetlefen, 
»egferfen, unb alfo gleidgfatnb baS comercium hum&nam ju fperten fdgei« 
nen, fi<$ aber bet) anbern göffen unb nationen auger allen credit feien" 71 . 


•• ibid. 574. - ,0 ycrp. ni, 638. - 11 yctp. iv, 2.655. 


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307 


Pleyer war ausserdem bis zum Jahre 1703 in der unangenehmen 
Lage, gar keine Schritte zur Sicherung seiner Korrespondenz thun 
zu können, er konnte sich mit seinen Beschwerden weder an die 
Minister noch an eine andere Autorität wenden, da er nach damali¬ 
gen Anschauungen zu seinem Briefverkehr gar nicht berechtigt war, 
denn nur officielle Personen durften Briefe ins Ausland beförden 
lassen. 

Er war gleichsam ein weit vorgeschobener Vorposten ohne Uni¬ 
form, aber auch ohne Gewehr; entdeckte man seine geheime Thä- 
tigkeit, so konnte er, wie er selbst auch andeutet, ebensowohl als 
Spion erschossen wie als unnützer Korrespondent nach Hause ge¬ 
schickt werden. Dass weder das Eine noch das Andere geschah, ver¬ 
dankte Pleyer eben nur dem Umstande, dass damals zwischen dem 
russischen und österreichischen Hof freundschaftliche Beziehungen 
walteten. Schon lange war er ja erkannt, man drückte aber ein Auge 
zu und liess ihn ungestört gewähren, 

Mit seiner Entdeckung wurde freilich seine ganze Sfellung total 
verändert. Konnte er durch geheime Beobachtung in der That oft 
unbefangener sich unterrichten, unbemerkter auch wichtigere Vor¬ 
gänge erkundschaften, so war von solchen Vortheilen doch schon 
lange nicht mehr die Rede. Aus dem geheimen Beobachter war ein 
geheim Beobachteter geworden. Er fühlte nur die Nachtheile einer 
officiellen Stellung, ohne irgend einen Vortheil seiner faktisch nicht 
officiellen zu geniessen. 

Aber auch der russischen Regierung musste es mit der Zeit unbe* 
haglich werden, den Kundschafter einer fremden Macht stetig zur 
Seite zu haben, einen Kundschafter, den sie für nichts verantwort¬ 
lich machen konnte, den die österreichische Politik, falls er sich 
irgendwie compromittirte, ohne weiteres desavouirt hätte; sie musste 
Klarheit haben, besonders in einer Zeit, wo der ganze europäische 
Norden von den schwankenden Geschicken eines furchtbaren Krie¬ 
ges in Spannung gehalten wurde. Von der russischen Regierung 
ging daher auch die Initiative aus, jener Zwitterstellung Pleyer's ein 
Ende zu machen. 


Pleyer als Sekretär. 

Im Juni des Jahres 1701 beschied der Premierminister Golowin den 
österreichischen Agenten zu sich, um ihm im Namen des Zaren mit- 
zutheilen, dass man, nachdem seine geheime Thätigkeit als Kor- 


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308 


respondent bekannt geworden sei, seinen ferneren Aufenthalt in 
Moskau in der bisherigen Stellung nicht länger dulden werde. Zwar 
habe man sonst nichts gegen die Fortführung einer Korrespondenz, 
„bennodj abet", fahrt Pleyer in seinem Bericht hierüber fort, „fo fege 
feiner ßgariftgen SRqeflätt SJefegl baß wofern i$ nocg länger gier DerMeiben 
tooDe, i<g mit einem Caractere, e£ möge au<g fein, wa$ e8 immer wolle, bon 
3 gro ßugf. unb Äönigl. SJtatt. berfegen teeren möcgte; — wofern ober @mt. 
f. unb {. SJtatt. mitg mit einem Caractere gu berfegn aflergnäbtgp ni<gt belie¬ 
ben tooQe, fomöcgte man mi<g auc^ nur teieber revociren* 7i . 

Die russische Regierung, welche sich vor erst drei Jahren Guarient 
gegenüber so entschieden gegen eine ständige Vertretung erklärt 
hatte, tbat jetzt selbst den ersten Schritt zu einer solchen, und dass 
Pleyer nicht mehr als gern auf dieses Ansinnen einging, ist sehr be¬ 
greiflich: aus jeder Zeile leuchtet hervor, dass es ihm weit mehr als 
der russischen Regierung um die Erfüllung des zarischen Verlangens 
zu thun war. Aufs Wärmste befördert er den Plan im weiteren Ver¬ 
lauf seines Berichts, nicht nur, damit er „mit gemiffen respect brt) benett 
frembben ministris erffeinen fönnte unb biefetben negotien genauer penetri- 
ren", oder weil er persönlich vor allen nachtheiligen Folgen dadurch 
geschützt werde, sondern auch, weil einerseits die ganze politische 
Constellation, der Krieg mit Schweden, das Schicksal Polens 71 , 
andererseits die Interessen des Katholicismus dringend einen ofificiel- 
len Repräsentanten erheischten, könnte doch gerade, was den letz¬ 
teren Punkt betrifft, Niemand irgendwie der Kirche oder den patri- 
bus missionariis zur Hand stehen. 

Bei diesem Befürworten scheint er freilich auch nicht wenig vom 
eigenen Ehrgeiz, von dem sicheren Bewustsein der von ihm geleiste¬ 
ten wichtigen Dienste, von der wohlverdienten Belohnung seiner 
bisherigen Mühen getragen zu sein. Manche schwere Reise habe 
er bereits gemacht, „burdj mßpenegen unb gig unb fttlte gu mager unb }U 
fanb burcg faß bie bornembfie örtger be$ rei<g$ in gemacg unb ungetnacg*, so 
viel als möglich habe er sich Kenntniss über Land und Leute ver¬ 
schafft und dieses Alles habe er Ä unermütgete8 Peiß" „gut Qbservirung 
geut ober morgen etwa P<g ereignenben gogeS Interesses" @r. Ä. unb St. TOa- 
jepät berritgtet". Der Kaiser möge ihm, ist seine inständige Bitte, 
Gnade widerfahren lassen, ihm einen wenn auch noch so geringen 
Charakter verleihen und „babur<g Don allen eitoa fonP entpegenben ungeil 
ober ftgimpf aDetgnäbigP befdgfltmen". 

Tf ycrp. IV, 2, 560. Die Relation ist datirt vom 24 Juni. — 79 Pleyer drückt sich 
hierüber sehr bezeichnend aus: „hingegen wegen bet Cron Voglen unb bevfelben 
abfegen bei iejigen Coojunctaren adgier autg einige gehanten f4weben 1 '. 


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3<>9 


DasVerlangendesrussischenZarenwie die Bitte des Agenten fanden 
Anfangs bei der österreichischen Regierung gar keine Zustimmung. 

Unruhig drängte Pleyer, indem er nochmals betonte, es wäre dem 
Zaren gar nicht nach dem Sinn, „büß cd mit großen c&ractere unb patt*» 
auffüßrung gtfdjeljete, fonbem berlongete bilhneßr, baß iemanb mir mit einem 
creditiv belferen toere, feinen offentli^en fiatt unb geprangt matytt, fonbem 
meßrer alß incognito ßiec lebete* 74 , vergebens machte er darauf auf¬ 
merksam, dass er „f(ßon no<$ jum Oftern bon bem SWinijho #ert ©olobin 
(wiewohl noch der Zeit sehr freundlich) ermaßnet" sei, dass man ihm 
die Korrespondenz ganz und gar verbieten und ihn einfach weg¬ 
schicken könnte 75 . 

Zwei volle Jahre hat man in Wien mit der Entscheidung der be- 
regten Frage gezögert, und auch da wurde dem Wunsche der russi¬ 
schen Regierung und dem Pleyer’s nur in bescheidenstem Umfange 
entsprochen. Im Juni 1703 erhielt der bisherige geheime Agent 
Otto Anton Pleyer den Charakter eines kaiserlich-österreichischen 
Sekretärs am russischen Hofe 75 . 

Fragen wir nach den Motiven für das jedenfalls nicht zufällige 
Zögern des Wiener Hofes, so dürfte die Antwort einerseits in Be¬ 
denken gegen die Person Pleyers, andererseits in den allgemeinen 
politischen Verhältnissen au suchen sein. 

Dass man in Wien etwas an ihm auszusetzen hätte, hat jedenfalls 
Pleyer selbst gefürchtet. Wiederholentlich verwahrt er sich gerade 
seit dieser Zeit gegen den Vorwurf einer Vernachlässigung seiner 
Pflichten, namentlich auch gegen etwaige Anfeindungen und Ver¬ 
leumdungen, die er in erster Linie dem mehrerwähnten Peter Links¬ 
weiler, der ihn überall anschwärze, überall ihm zu schaden suche, 
zuschreibt. Besonders ergrimmt ist er über denselben, wohl weil die¬ 
ser beim Kaiser um die Residentenstelle in Moskau angehalten 
hatte* 11 . Pleyer sieht in ihm seinen natürlichen Gegner und greift, um 
den Rivalen aus dem Felde zu schlagen, selbst zu der nicht gerade 
ritterlichen Waffe, ihn auch in seiner religiösen Ueberzeugung — frei¬ 
lich wohl mit gutem Grund — zu verdächtigen 17 . Ueberhaupt ver- 
räth die Art und Weise, in welcher sich Pleyer bei seiner Regie¬ 
rung bewirbt, einen Zug von etwas kleinlicher Selbstsucht, wenn 
auch seine Auslassungen über Linksweiler in sofern an Gehässigkeit 
verlieren, als dieser nach dem übereinstimmenden Urtheil Guarient’s, 
des Paters Wolf und namentlich auch Patkul’s in der That eine intri¬ 
gante, nichtsnutzige Person war. 

T4 ycrp. IV, 2, 570. — 7S ibid. 584. — Tf ibid. 610. — 77 xbid. 570. 


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3to 


War auch die Furcht Pley er*s, dassLinksweiler ihm vorgezogen wer¬ 
den könnte, völlig unbegründet — denn diesem war der Zutritt zum 
Hof verboten und schon im October 1701 sah sich daher der Fürst 
Golizyn genöthigt, von seiner Regierung einen anderen Dolmetscher 
auszubitten — so lässt sich sein Argwohn, dass man in Wien an sei¬ 
ner Person etwas auszusetzen fände, keineswegs mit gleicher Sicher¬ 
zurückweisen ; es hat vielmehr den Anschein, als wenn man hier in 
der That an seinen Fähigkeiten gezweifelt, ihm eine würdige Reprä¬ 
sentation nicht zugetraut hätte. Die im Jahre 1702 von Neuem in 
Aussicht genommene Sendung Guarient’s, zum Theil doch wohl auch 
Linksweiler’s Bewerbung um die Residentschaft in Moskau, endlich 
die überaus geringe Kompetenzeinräumung, welche schliesslich dem 
Sekretär gemacht wurde, sind Umstände, welche auf letztere An¬ 
nahme hindeuten dürften. Ob man speciell mit seinen Berichten un¬ 
zufrieden war, oder ob Gründe anderer Art ihn zunächst ungeeignet 
erscheinen liessen, kann natürlich nicht entschieden werden, um so 
weniger, als sich ja eine Unzufriedenheit seiner Regierung nur ver- 
muthen, nicht behaupten lässt. 

Die Bedenken der österreichischen Regierung bezogen sich aber 
höchst wahrscheinlich nicht allein auf die Besetzung, sondern vor¬ 
nehmlich auch auf die Creirung des neuop Postens, der Wiener Hof 
hat Anfangs eine nähere Verbindung mit dem Moskau'schen, die Er¬ 
richtung einer ständigen Vertretung daselbst überhaupt wohl gar 
nicht gewollt und der Grund fiir diese Abneigung ist ohne Frage in 
den politischen Constellationen zu suchen. Ein flüchtiger Blick ge» 
nügt, um die in den beiden ersten Jahren des nordischen Krieges 
erfolgte völlige Umgestaltung der politischen Situation zu erfassen. 

Dänemark war vom Schwedenkönig bewältigt, Sachsen bereits 
empfindlichst getroffen, Russland mit einem Schlage niedergewor¬ 
fen — vielleicht auf immer. Letzteres wurde nicht nur von Karl XD., 
sondern auch von den Alliirten Russlands geglaubt, hielt doch auch 
der kühn fortstrebende Zar betäubt inne und dachte doch auch er 
nach der Schlacht bei Narwa ernstlich an Frieden. Zum Vermittler 
zwischen ihm und seinem Sieger wurde der deutsche Kaiser auser¬ 
sehen und um diesen zu der ihm zugedachten Rolle zu vermögen, 
traf im Mai 1701 der Fürst Golizyn, auf dessen Ankunft man schon 
seit dem Februar durch Pleyer vorbereitet war, in Wien ein 18 . 


n Er sollte nach der geheimen Instruktion (YcTp. IV, 2. p. 19) incognito reisen, 
Keinem von seiner Mission etwas mittheilen, in Wien sich erst Aber die Situation 
prientiren und namentlich erforschen, wer der einflussreichste Mann wäre, um diesen 


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3*1 


Der russische Gesandte hatte der österreichischen Regierung 
gegenüber einen schweren Stand; man begegnete ihm mit der aus¬ 
gesprochensten Nichtachtung und gab ihm unverhohlen zu ver¬ 
stehen, dass auch hier das Zarenreich seit der Niederlage bei Narwa 
jede Bedeutung eingebüsst habe. Russland, klagte der Fürst, werde 
von Allen verachtet, den missgünstigsten Gerüchten wie z. B. einer 
furchtbaren Niederlage bei Pleskau, der Flucht des Zaren, der Wie¬ 
dereinsetzung Sophien’s etc. schenke man vollen Glauben, der 
Minister Kaunitz, von dem Alles abhinge, wolle mit ihm nicht einmal 
reden, man spöttle nur über die Russen 79 . 

Auch Pleyers Relationen aus dieser Zeit dürften nicht gerade dazu 
beigetragen haben, die Anschauungen über die Bedeutung Russlands 
in Wien umzustimmen. Zwar berichtete er fortwährend von eifrigen 
Rüstungen, kleinen Siegen in Livland u. dgl. m., aber dazwischen 
schoben sich doch häufig genug beunruhigende Mittheilungen über 
die innere Lage Russlands. Durch eine deutsche Leibwache, heisst 
es im Bericht vom 19. Februar 1702, wolle Peter sein „re 6 e 0 if$e 8 
Soll im 3<*um galten", die Unlust am Kriege sei allgemein, die Kosa¬ 
ken hätten sich wiederholt ,,toibettoertig" ctjciflt 80 . 

In diese Zeit nun fiel Pleyer’s Bitte um Verleihung eines Charak¬ 
ters. Man unterschätzte gerade damals aufs Irrthümlichste Russlands 
Bedeutung; mit dem halb barbarischen, verachteten Reich scheute 
man sich jetzt mehr als je in eine nähere, festgeregelte Verbindung 
zu treten, und darin liegt wohl das hauptsächlichste Motiv für die 
zögernde Zurückhaltung der österreichischen Regierung in Bezug 
auf das vom Kanzler Golowin gestellte Verlangen. 

Eine Aenderung in dem Verhältniss beider Höfe scheint erst 
durch die überraschenden Erfolge Karl’s XIL in Polen und durch die 
Sendung Patkul’s hervorgerufen worden zu sein. In Moskau sah man 
die Untauglichkeit des bisherigen Gesandten in Wien ein und schickte 
daher, jedoch ohne Golizyn abzuberufen, im September 1702 Patkul 
an den Kaiserhof, «dem Centrum aller europäischen Pläne und An¬ 
schläge», damit er hier ein festes Defensiv- und Offensiv-ßündniss 
gegen Schweden betreibe. Allein die auch hier herrschende Furcht 
vor Karl XIL und der grosse spanische Erbfolgekrieg, welcher zu 
weiteren Aktionen der österreichischen Regierung völlig die Hände 

dann zu gewinnen (ein schlagender Beweis Air die Unbehülflichkeit der russischen Poli¬ 
tik). Dem Kaiser sollte er eröffnen, dass der Zar ihn im Kriege gegen Frankreich unter¬ 
stützen werde, wenn nur zuvor der nordische Krieg beigelegt wäre. 

79 ycrp. IV, 2. 197—200. - ®° ibid. 572. 


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312 


fesselte, Hessen audi ihn nur verschlossene Thore finden; seinen 
Bemühungen, den Wiener Hof wenigstens zur geheimen Theilnahme 
zu bewegen, setzte man gleichfalls nur schöne Worte, keine binden¬ 
den Zusagen entgegen 81 . 

Die immer deutücher sich ausprägende Energie Peter's in der 
Fortführung des Krieges und das immer bedenklichere Vorrücken 
der Schweden nöthigten indessen doch Oesterreich, den Blick wie¬ 
derum aufmerksamer auf Karl's XII. gedemüthigten grossen Gegner 
zu richten, sich mit der russischen Politik wieder näher in Verbin¬ 
dung zu setzen. Patkul gegenüber liess man die bisherige Nichtach¬ 
tung ganz fallen, auch Golizyn’s Klagen über schlechte Behandlung 
verstummten allmählich, den russischen Premierminister Golowin 
suchte man durch Erhebung zum Grafen zu gewinnen 88 — einen 
weiteren Schritt zur Wiederanknüpfung freundschaftlicherer Bezie¬ 
hungen haben wir endlich in der Ernennung Pleyer's zum öster¬ 
reichischen Sekretär am russischen Hofe zu sehen. 

Diese erste ständige Vertretung Oesterreichs in Russland war frei¬ 
lich nur eine sehr nothdürftige und trug im Ganzen wohl nur in sehr 
geringem Masse zur Erleichterung des Verkehrs zwischen den bei¬ 
den Mächten bei. 

Welche Stellung Otto Pleyer als kaiserlicher Sekretär in Moskau 
einnahm, welche Kompetenzen ihm zustanden, welche Ansprüche er 
an die russische Regierung machen konnte, lässt sich nicht sicher 
feststellen. Später avancirte er allerdings wahrscheinlich direkt zum 
Residenten, jedenfalls aber hat er als Sekretär noch bedeutend unter 
den Residenten, ebenen fft rm BJinijhriS, to>el<$e mit ben creditivis berfe^en 
ttnb olfo bem Cjarm in ba* läget unb fiberalfyin folgen bBrffen", gestanden. 
Letzteres war Pleyer verwehrt. 

Nach Posselt überUeferten die Residenten in einer Audienz beim 
Zaren ihre Kreditive und konnten dann mit dem Vorstande der Ge- 
sandtschaftbeshörde officielle Geschäfte betreiben. Pleyer hat in An¬ 
lass seines neuen Titels weder eine Audienz erhalten, noch ist ihm 
ein Kreditiv, welches den Sekretär zu officieller Geschäftsführung 
ermächtigt hätte, ausgestellt worden. Er bekam in Bezug auf sein 
Sekretariat nur ein «an sich allein lautendes Rescript, nicht aber ein 
ordentliches Schreiben an Seine Czarische Majestät». Die Kopie die¬ 
ses kaiserlichen Rescripts lieferte er nach Vorweisung des Orginals 
an die Gesandtschaftsbehörde ab und reichte einige Monate darauf 

84 ibid. 258—266. — “ Am 14. Juli 1703 dankt Golowin dem Grafen Kaunitz, 
ibid. 282. 


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313 


nach dem wohlmeinenden Rath Golowin’s «pro meliori esse* von 
sich aus ein «memoriale* an den Zaren selbst ein. 

Die österreichische Regierung hatte also, wie wir sehen, mit der 
russischen direkt wegen dieser ersten ständigen diplomatischen Ver¬ 
tretung gar nicht verhandelt; einseitig hatte sie von sich aus den 
geheimen Agenten zum Sekretär ernannt, ihm allein überliess sie 
es, sich auf seinem neuen Posten Geltung zu verschaffen, und nur 
der an ihn ergangene Auftrag, förmlich dem Moskau’schen Hof seine 
Ernennung zur Kenntniss zu bringen, gab der ganzen Angele¬ 
genheit eine officielle Färbung. 

Hieraus lässt sich entnehmen, dass Pleyer’s Stellung keine sehr 
bedeutende sein konnte. Im Februar 1702 hatte er nochmals den 
Nutzen einer förmlichen Accreditirung betont, und nachdrücklich auf 
das Verlangen des Zaren hingewiesen, „böjj iemonb nur mit einem 
creditiv betfe&en feere, feinen öffentlichen Patt unb geprange ma<$ete, fonbern 
mehret als incognito f)\ex lebete, aud) etfea fd&ott on ben ©jarifd&en hoff feö6 
beffer befonnt unb moll gelitten feere, bamit ber ßjor feiner gefeobnljeit na<b 
mit i$mincognito rnöd&te umbge^en unb in fei$tigern fa$en negotiren 
fönnte, o$ne bajjiemanb bonbenen auÄlänbifc^en SDlinipern al^ier etfeaS 
bauon feufcten" 83 ; aber man hatte hierauf keine Rücksicht genommen, 
der hier hervorgehobene Hauptvortheil, die Möglichkeit mit dem 
Zaren geheim zu verhandeln, war jedenfalls ausgeschlossen. Weder 
mit Zusagen noch Anfragen konnte Pleyer amtlich allein von sich 
aus an die russische Regierung gehen, nur wenn er für den ein¬ 
zelnen Fall eine specialisirte Vollmacht erhielt, konnte er officiell 
mit voller Rechtsgültigkeit verhandeln und abschliessen. Seine haupt¬ 
sächlichste Aufgabe bestand vermuthlich nach wie vor darin, als 
politischer Korrespondent seine Regierung über die Vorgänge in 
Russland zu unterrichten, sie zu warnen, wenn eine Schädigung 
ihrer Interessen drohte, und nöthigenfalls in besonderen Vorkomm¬ 
nissen zwischen den beiden Höfen als Vermittler zu fungiren. 

Ob mit seiner Ernennung zum Sekretär eine Gehaltserhöhung 
verbunden war, erfahren wir nicht. 

Pleyer mag sich ziemlich sichere Hoffnungen auf einen höheren 
Charakter gemacht und trotz seines allerunterthänigsten Dankes eine 
gewisse Enttäuschung und Missstimmung empfunden haben. Denn 
noch vor Ablauf eines Jahres, am 28. Februar 1704, erklärte er, 
dass sein bisheriger Charakter wegen „erntangelnben creditiv uub autho- 


M ycTp. iv, 2. p. 569. 

Boa«. Ben». Bd. VII. 


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tu 


ritet" doch völlig unzulänglich wäre, man möge ihn daher „mit einem 
creditiv unb mehrerer authoritaet alletgnäbigft belferen" 84 . 

Als Grund für dieses Verlangen führte er namentlich die Umtriebe 
eines angeblichen französischen Agenten an, von dessen muthmass- 
lichen Plänen er schon seit dem März 1703 mit grosser Aufregung 
wiederholt berichtet hatte. Seine Besorgnisse wurden zwar durch 
die Abreise des Franzosen bald zerstreut, trotzdem aber, meinte er 
in seiner Relation vom Februar 1704, dürfe man sich der Furcht 
nicht entschlagen, dass der russische Hof sich doch noch durch 
französisches Gold verblenden lassen könnte, besonders weil der 
„auf ben $ö<$jten ©ipffl" gekommene Menschikow leicht zu erkaufen 
sei und sich schon so wie so gegen die österreichische Regierung 
„ungeneigt" verwenden lasse. „Sollen ber ganzen6(rijten$eit l)ö<bjt na<$* 
^eilige machinationen botjubauen", bemüht sich keiner der fremden 
Minister, ihm aber fehle die Macht dazu, wenn er nicht mit aus¬ 
reichender Autorität und einem Kreditiv versehen würde. „$ann 
fönn i<$", fährt er fort, „mi<$ fünftig bei) ben attyiefigen ©jarifd&ett SRini* 
fterio befto na$trücf(i$er insinuiren, mi<$ ben Goaren befto öffterS praesen- 

tiren-unb-benen nad&tljeiligen folgerungen befto e$r betbauen". 

Einen Anderen hereinzuschicken wäre misslich sowohl wegen der 
allgemeinen Unsicherheit, als auch wegen der grossen Reisekosten; 
man könnte es mit Wenigem abthun, wenn man seinen Gehalt 
erhöhen und ihm ein Kreditiv zusenden würde 8ß . 

Indessen hielt man auch dieses Wenige für überflüssig und Pleyer 
hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach bis zu seiner ersten Reise 
nach Wien im Jahre 1710 mit seiner bisherigen Stellung begnügen 
müssen. 

Obgleich der österreichische Sekretär sich in Folge seiner ge¬ 
ringen Befugnisse vielfach behindert fühlen musste, obgleich er 
s. z. B. daran schwer zu tragen hatte, dass ihm jetzt das verwehrt 
war, was allen übrigen Vertretern fremder Mächte, was früher ihm 
selbst als Privatmann gestattet war, nämlich dem Heere zu folgen, 
so wurde ihm doch auch seine Aufgabe wesentlich erleichtert. Denn 
abgesehen davon, dass er zu seiner Korrespondenz jetzt das volle 
Recht beanspruchen durfte, so war es schon an und für sich ein 
nicht zu unterschätzender Vortheil, direkt mit dem Zaren selbst 
und seinen Ministern verkehren zu können 86 . Uebrigens sah er 

84 ibid. 603. — 84 ibid. 623-624. — 86 Dass er Zutritt zum Zaren gehabt hat, 
geht aus der oben citirten Bemerkung, dass er mit erhöhter Autorität si$h desto 
Öffterd dem Zaren präsentiren könnte, hervor. 


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3*5 


schon im Jahre 1704 die ausdrückliche Erlaubniss Peter’s, sich ins 
Lager begeben zu dürfen, (von guten Freunden hatte er gehört, 
dass dieser gnädigst seiner gedacht habe), für vollständig ge¬ 
sichert an 87 . 

Seine Stellung als Sekretär dürfte überhaupt Bekanntschaften und 
nähere Verbindungen mit hochstehenden Persönlichkeiten gefördert 
haben. S. z. B. hatte er im August 1703 mit Patkul ein längeres 
Gespräch, mit dem Feldmarschall Ogilvy, dem er im Interesse des 
Kaisers im Lager behülflich sein zu können glaubt, korrespondirt er. 

Obgleich Pleyer nicht berechtigt war, von sich aus ofliciell For¬ 
derungen an die russische Regierung zu stellen, so gab doch der 
ihm ertheilte Charakter seinen Wünschen gewiss mehr Nachdruck 
als früher. Bezeichnend ist ein Vorfall, über welchen er am 8. No¬ 
vember 1704 berichtet: durch gute Freunde habe er vernommen, 
dass die in Russland weilenden französischen „baganten" auf ihren 
Zusammenkünften über alle Massen schimpflich von Oesterreich 
geredet hätten; „alfe ljab fährt er fort, „fold&eS nfl<$ bem Iager 
geidjriebm unb burd) guete Seut baljin gebracht, bafe eine specification oller 
allljift fi<b auföaltenben ftanjofen unb i^reS Aufenthalts urfa$ ju erforfdjen 
begehret toorben, ba eS »oll auf eine reformation börffte angefeljen fein, ju 
»eldher aübereit an einigen ber anfang ift gemalt »otben" 8B . Dieses Ein¬ 
greifen Pleyer’s spricht einerseits deutlich das Unzureichende seiner 
officiellen Stellung aus, da er sich an gute Freunde und nicht an das 
russische Ministerium (mit dem er wohl verkehren, von dem er 
aber nichts im Namen seiner Regierung fordern konnte) wandte, 
zeigt aber andererseits, wie weit bereits sein Einfluss reichte. 

Bis zum Jahre 1707 scheint Pleyer ununterbrochen in Moskau 
gelebt zu haben. Von der im Herbst des Jahres 1704 beabsichtigten 
Reise zum Heer stand er ab, weil der Zar selbst bald nach Moskau 
zurückkehren sollte und ausserdem auch der baldigen Ankunft des 
ausserordentlichen österreichischen Gesandten Fürsten Porcia entge¬ 
gengesehen wurde. Diese Sendung, welche auch Pleyer’s Anwe¬ 
senheit erfordert hätte, unterblieb jedoch, obgleich der Zar Peter 
sie schon seit dem Jahre 1703 mit grösster Spannung erwartete. 
Im folgenden Jahre (1705) mag Pleyer von seiner Reise zum Lager 
durch eine „Üöbtlidje Iranfljeit", welche ihn auch auf mehrere 
Wochen zur Einstellung seiner Korrespondenz nöthigte, abgehalten 
worden sein. 


97 ycrp. 637. — 99 ibid. 638. 


31 * 


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3i6 


Bis zu diesem Zeitpunkt war es möglich, dem Leben und der 
Wirksamkeit Otto Pleyer’s im Zusammenhänge zu folgen, und ver¬ 
missten wir auch manche schärfere Angabe, musste Manches nur 
Vermuthung bleiben, so gewährten doch seine eigenen Berichte die 
sichere Stütze, welche uns die wichtigsten Veränderungen in seiner 
äusseren Stellung, seine Entwickelung vom diplomatischen Schüler 
zum charakterisirten Staatsbeamten erkennen liess. Dieser Stütze 
müssen wir von nun an entbehren, auf Jahre fehlt uns jede Kunde 
von Pleyer, nur spärliche Streiflichter fallen ferner auf seine Person 
und gestatten uns vorübergehend einen flüchtigen Blick auf Einzeln- 
heiten aus seinem Leben — auf eine zusammenhängende Dar¬ 
stellung seiner weiteren Schicksale muss von hier ab verzichtet 
werden. 

Neben einigen Ereignissen des Jahres 1710, die der dankens- 
werthen Publikation E. Herrmann’s zu entnehmen sind, ist uns Nä¬ 
heres nur über den Ausgang der diplomatischen Thätigkeit Pleyer’s 
bekannt. Die Relation vom 24. December 1706 schliesst die fort¬ 
laufende Reihe der bei Ustrjalow veröffentlichten Berichte des 
österreichischen Sekretärs, sei es daher gestattet, hier auch diese 
Seite der Wirksamkeit Pleyer’s kurz ins Auge zu fassen. 

(Schluss folgt). 


Die Lederindustrie in Russland. 

Von 

Prof. M. Kittara. 


Ein Reich wie Russland, welches eine Bevölkerung von über 
85 Millionen Einwohner besitzt, muss selbstverständlich über einen 
grossen Viehstand verfügen, und in der That findet man in den statis¬ 
tischen Angaben aus dem Jahre 1871 folgende Zahlen verzeichnet: 


Pferde. 20,107,000 

Hornvieh. 28,545,000 

Schafe, einfache . . . 50,645,000 

» feinwollige . 14,103,000 

Ziegen. 1,330,000 

Schweine. 11,649,000 



126,379,000 


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317 


Wenn man die Bevölkerung Russlands auf 85,550,000 berechnet, 
so ergiebt sich für das Verhältniss des Viehstandes zur Bevölkerung 
folgender Procentsatz. Es kommen auf 100 Einwohner: 


Pferde.23,5 

Hornvieh :.33,3 

Schafe.7 5,7 

Ziegen. 1,5 

Schweine.13,6 


Nach den statistischen Daten aus den Jahren 1869 bis 1871 be¬ 
steht im Auslande auf 100 Personen der Bevölkerung folgender 
Procentsatz: 


Pferde . . . 

Oesterreich 

7 

Ungarn 

14 

Grossbrittanien 

8 

Preussen 

9 

Verein. Staat 

22 

Hornvieh . . 

36 

34 

30 

38 

26 

Schafe . . . 

24 

97 

IOI 

79 

73 

Schweine . . 

12 

28 

13 

17 

65 


Wie man sieht, nimmt Russland in Hinsicht der Pferde die erste 
Stelle ein, in Betreff der übrigen Hausthiere steht es nirgends an 
letzter Stelle. Wenn unser Hornvieh nicht die erste Stelle be¬ 
hauptet, so kommt es daher, weil Russland einerseits mit der furcht¬ 
baren Plage der Viehzucht — der Viehseuche zu kämpfen hat, 
andererseits aber, weil die Landwirthschaft bei dem grösseren Theil 
der Bevölkerung noch nicht die gebührende Entwickelung erhalten 
hat. In dieser Hinsicht bleibt von der Zukunft noch viel zu er¬ 
warten. 

Was die Schafzucht betrifft, so herrscht die Zucht der einfachen 
Schafe, namentlich der asiatischen Arten, vor. Die Technik ist in 
den letzten zwanzig Jahren in der Bearbeitung der Wolle dieser 
Schafe so weit fortgeschritten, dass Produkte, die früher weder im 
inneren noch im asiatischen Handel bekannt waren, geliefert werden, 
aber die Schafzucht der asiatischen Arten selbst hat die Kultur noch 
nicht berührt. 

Die oben angeführten Zahlen der Verhältnisse zwischen dem 
Viehstand und der Bevölkerung sind gleichmässig berechnet, ob¬ 
gleich die Vertheilung gar nicht gleichmässig ist und eben kein 
Land in diesem Falle so viele Abweichungen aufzuweisen hat, wie 
Russland. So ist die Pferdezucht besonders in Sibirien stark ent¬ 
wickelt, wo fast auf jeden Menschen ein Pferd kommt; dann kommen 
die östlichen und südöstlichen Gouvernements; die dritte Stelle be¬ 
haupten die centralen Gouvernements, wo zugleich auch das Fuhr- 


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3i8 


wesfcn sehr entwickelt ist; die an Pferden ärmsten Gouvernements 
sind die südlichen und südwestlichen, die Weichselländer (Königreich 
Polen), Finland und der Kaukasus. 

Wenn die südlichen und südwestlichen Gouvernements, so wie 
der Kaukasus, an Pferden arm sind, so nehmen sie die erste Stelle 
in Hinsicht des Hornviehs ein. Sibirien, an Pferden reich, ist auch 
an Hornvieh reich; dann folgen die baltischen Provinzen, Finland, 
die nordöstlichen Gouvernements, die Weichselländer und die nörd¬ 
lichen Gouvernements. Die centralen Gouvernements sind die 
ärmsten. 

Die feinwolligen Schafe, die 22 pCt. der Gesammtzahl bilden, 
sind namentlich in Neu-Russland concentrirt, d. h. in den Gouver¬ 
nements: Jekaterinosslaw, Taurien, Chersson und in Bessarabien; 
dann folgen die Weichselländer und darauf die kleinrussischen und 
südwestlichen Gouvernements. Die letzte Stelle nimmt der Land¬ 
strich der «schwarzen Erde» ein, d. h. die Gouvernements: Woro- 
nesh, Tambow, Ssaratow, Ssamara, und auf der andern Seite: 
Minsk, Grodno und Estland. 

Die einfachen Schafe sind auf die südöstlichen Gouvernements 
im Kaukasus und in Sibirien vertheilt. Sibirien bietet ein bemerkens- 
werthes Beispiel der Vereinigung des Reichthums an Pferden, Horn¬ 
vieh und einfachen Schafen, namentlich den Steppenarten, dar. 
Dann folgen in Hinsicht der einfachen Schafe Finland und darauf 
die centralen Gouvernements. Am wenigsten zählt man Schafe in 
den nordöstlichen, den nördlichen Gouvernements und in den 
Weichselländern. 

In den statistischen Daten des Jahres 1871 sind die Rennthiere, 
Hunde, Kameele nicht in Betracht gezogen, über welche der Leser 
in der Tabelle der Lederfabriken nähere Angaben finden wird. 

Diese kurzen Angaben über die russische Viehzucht erschienen 
nothwendig für die folgende Darstellung der Vertheilung der Leder¬ 
industrie. * 

Diese Lederindustrie gehört zu den ältesten und bedeutendsten 
Industriezweigen in Russland; sie bildet den Betriebsgegenstand 
nicht nur vieler grossen Fabriken, sondern ist auch ein Bestandtheii 
der Hausindustrie. 

Nach den Angaben der Haupt-Intendantur zählte man im Jahre 
1872 12,939 grosse und kleine Lederfabriken. Sie produciren 
10,264,218 Häute im Werthe von 47,535,723 Rbl. Diese Produk¬ 
tion ist im russischen Reich folgendermassen vertheilt; 


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Zahl der verar¬ 
beiteten Häute. 

Produktionswerth. 

Europäisches Russland . . 

... 7,922,817 

37 , 752,381 Rbl. 

Weichselländer. 

• • • 897.833 

3,651,040 » 

Finland. 

... 172,088 

631,271 » 

Kaukasus. 

. .. 199.115 

945777 * 

Sibirien. 

... 1,072,365 

4 , 555.754 » 


Hieraus folgt: 


1) Wenn der Viehstand in Russland 126,379,000 Köpfe beträgt, 
die Zahl der verarbeiteten Häute aber 10,264,218, so ist das jähr¬ 
liche Procent der zur Verarbeitung kommenden Häute gleich 8,12. 
In Wirklichkeit ist der Procentsatz aber grösser, da ein Theil der 
rohen Häute, besonders von Kälbern, ins Ausland geht. 

2) Der Durchschnittswerth einer jeden verarbeiteten Haut ist für 
ganz Russland gleich 4 Rbl. 63 Kop. 

In den verschiedenen Theilen des Reiches aber spricht sich dieser 
Werth in folgenden Zahlen aus: 


Europäisches Russland . . . 

. 4 

Rbl. 76 Kop. 

Weichselländer. 

• 4 

» 06 . 

Finland. 

• 3 

» 66 . 

Kaukasus. 

• 4 

» 74 » 

Sibirien.. 

• 4 

» 25 . 


Obgleich der Begriff des Durchschnittswerthes einer jeden bear¬ 
beiteten Haut ein sehr bedingter ist, da sowohl die Art der Viehzucht, 
als auch die Art des Handels mit Rohhäuten darauf von Einfluss ist, 
so können die angeführten Zahlen nichtsdestoweniger einen an¬ 
nähernden Werthmesser der Produktion abgeben. 

Auf den Lederfabriken Russlands werden verschiedene rohe Häute 
verarbeitet, welche wir in den erklärenden Tabellen zu folgenden 
Typen geordnet haben: I. Sohlleder, welches das Bin.dsohlleder, 
das Riemenleder u. s. w. in sich begreift; II. Juchtenleder, nament¬ 
lich von Kühen; III. Ochsen- und Kalbleder, das Rindleder einge¬ 
rechnet; IV. Rosshäute; V. Leder von Lämmern, Ziegen, so wie 
von Rennthieren, Seehunden, Kameelen, Schweinen, Hunden und 
anderen Thieren. 

Es ist nicht uninteressant die Summe dessen zu ziehen, was und 
wie viel in Russland und in einzelnen Theilen des Reiches verarbeitet 
wird; es ergeben sich folgende Zahlen: 


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320 


- 

Sobl- 

Leder. 

Juchten- 

Leder. 

Ochsen- u. 
Kalbleder. 

Ross- 

Leder. 

Ziegen- 

Leder. 

Lamm- 

Leder. 

Europ. Russland . - 
Weichselländer. . . 

Finland. 

Kaukasus. 

Sibirien . t . . T . . 

1,360,78a 

116,780 

*2,573 

76,747 

I 12.209 

2,719,07a 

117,682 

53,470 

*8,495 

437,676 

1,264,074 

4*5,438 

61,869 

*9,i55 

49,*3o 

580,339 

14,629 

500 

18,570 

351,375 

2,510 

1,700 

2,160 

*,737,175 

220,794 

32,476 

84,118 

252,620 



1,689,091 

! 3,446,395 

1,819,665 

614,038 

367,74s 

* 

N 

00 

W 


Wenn man das Sohlleder, Juchtenleder, sowie das Ochsen- und 
Kalbleder in eine Kategorie zusammenfasst, da sie alle aus Hornvieh¬ 
häuten verarbeitet werden, so erhält man 6,853,151 Häute, die aus 
28,545,000 Köpfen des gesammten in Russland existirenden Horn¬ 
viehs gewonnen werden, was 24,03 pCt. ausmacht Von 20,107,000 
Pferden werden zur Verarbeitung von Rosshäuten — 614,038 ver¬ 
wandt, was 3,05 pCt. bildet. Von 64,780,000 Schafen werden zur 
Bearbeitung von Schaffellen — 2,427,283 Stück benutzt, was 3,75 
pCt. ergiebt, und endlich dienen von 1,330,000 Ziegen — 367,743, 
= 27,65 pCt., zur Produktion des Ziegenleders. 


Sohlleder. 


Es wird vornehmlich als Sohle bei Fussbekleidungen gebraucht 
und aus Büffel-, Stier-, Ochsen- und grösseren Kuhhäuten fabricirt. 
Mit der Entwickelung der Mechanik in Russland hat man diese Sorten 
von Rohhäuten auch zur Verarbeitung des Leders für Maschinen¬ 
riemen zu benutzen angefangen. Das beste Rohmaterial liefern die 
tscherkassischen Häute (im Süden Russlands), dann die sibirischen. 
Es werden auch rohe, gesalzene Häute aus Süd-Amerika und Austra¬ 
lien eingeführt, aber nur in geringer Zahl, und daher nur den an den 
Häfen liegenden Lederfabriken zugänglich. 

Die Fabrikation des Sohlleders ist auf die verschiedenen Theile 
des europäischen Russland folgendermassen vertheilt: 


Es produciren: 
241,999 Häute 
70,839 • 

50 bis 60,000 » 

40 bis 50,000 » 

30 bis 40,000 » 

20 bis 30,000 * 


die Gouvernements: 

St. Petersburg, 

Perm, 

Moskau, Rjasan, Twer und Kursk, 
Jekaterinosslaw, Woronesh, Kaluga undKijew, 
Kasan, Tschernigow, Orel und Chersson, 
Jarosslaw, Wjatka, Ssaratow, Wolhynien und 
Orenburg, 


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321 


to bis 20,000 Häute Ssmolensk, Witebsk, Poltawa,Livland, Nishnij- 

Nowgorod, Wladimir, Podolien, Nowgorod 
und Pskow, 

5 bis 10,000 • Tambow, Ssamara, Wologda, Tula, Charkow, 

Pensa und Grodno. 

Ein jedes von den übrigen Gouvernements producirt weniger als 
5,000 Häute. 

Man theilt das Sohlleder nach der Fabrikation in zwei Gruppen: 
Stierleder, welches aus gröberen Stierhäuten fabricirt wird, und 
Bindsohlleder, welches aus weniger groben Stücken verarbeitet wird. 
Sie unterscheiden sich dadurch, dass in der ersten Gruppe das Haar 
von den rohen Fellen ohne Kalk und ausgelaugte Asche entfernt 
wird, während dies in der zweiten Gruppe gerade der Fall ist. 

Das Stierleder theilt man in folgende Sorten: Kornsohle, 
Sch weissgarsohle, Vitriolsohle, Wladimir'sche Sohle und Gras¬ 
nelkensohle. 

Die Komsokle bildet die älteste, einheimische Sorte, welche noch 
bis jetzt in Russland die vorherrschende ist. Das Unterscheidende 
der Fabrikation besteht darin, dass die rohen Häute, nachdem sie 
geweicht und von dünnen Häutchen, Fetttheilen. u. s. w. gereinigt 
worden sind, bei +15 0 R. der Wirkung einer Art Hefenteigs, 
d. h. einer Mischung alter Eichenlohe mit Roggenmehl ausgesetzt 
werden. Wenn sich die Haare ein wenig abzutheilen anfangen, wer¬ 
den sie mit einem stumpfen Schabeisen entfernt. 

Die gereinigte Haut wird dem Schwellen unterworfen, d. h. sie 
wird in Korn gelegt, in eine gut durchgekochte Brühe aus Roggen¬ 
mehl, wo sie, ungefähr zwei Mal des Tages umgelegt, bei 25 0 R. so 
lange verbleibt bis die Haut genügend aufgetrieben ist. Darauf 
kommt sie direkt in die Gerberei-Bottiche, wo sie mit Lohe, vor¬ 
nehmlich Eichenlohe, bestreut wird. 

Je nach der Grösse der Haut wird die Lohe von vier oder fünf 
Eichen dazu verwandt. 

Man unterscheidet zwei Sorten Kornsohlen: die im Winter und 
die im Sommer getrocknete Sohle. Die Letztere wird wegen ihrer 
klaren rothbraunen Farbe höher geschätzt. Die Fabrikation der 
Kornsohle hat sich bis jetzt in der früheren primitiven Weise erhal¬ 
ten und hat sich weder in der Art des Gerbens, noch in der Bear¬ 
beitung der Häute vervollkommnet. Daher ist das äussere Ansehen 
der Haut sehr unschön; sie ist unegal, zusammengezogen, von dun¬ 
kelbrauner, schmutziger Farbe, oft mit Schimmel bedeckt; die 


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$22 

linke, fleischige Seite ist nicht abgeschabt; nichtsdestoweniger wird 
diese Sohle in Folge der Anwendung von Korn bei der Verarbei¬ 
tung Kornsohle genannt und wird als Sohlleder sehr geschätzt, 
sogar anderen Sorten vorgezogen, namentlich wenn es inwendig 
eine gewisse Härtung besitzt, die ihm eine besondere Festigkeit ver¬ 
leiht. Besonders gut ist diese Sohle für steinige und bergige Ge¬ 
genden. 

Schweissgarsohle. Peter der Grosse fand die Lederfabrikation auf 
niedriger Stufe der Entwickelung vor und verschrieb aus dem Aus¬ 
lande deutsche Meister, schickte sie in das Innere und begründete 
in Moskau eine besondere Schule zum Unterricht in der Lederfa¬ 
brikation. Diese deutschen Lehrer führten nun die Fabrikation der 
Schweissgarsohle bei uns ein, welche dieselbe Bestimmung hat wie 
die Kornsohle. 

Das Wesentliche dieser Fabrikation besteht in Folgendem: die 
rohen oder aufgeweichten Häute werden von den Fetttheilen u. s.w. 
gereinigt und dann an einem feuchten Orte bei + 14—16 0 R. 
aufgestapelt, dabei wird die eine Hälfte der fleischigen Seite der 
Haut mit Salz bestreut und die andere Hälfte darüber gebreitet. 
Auf die zusammengelegte Haut wird eine zweite gelegt, dann eine 
dritte u. s. w. bis zu 1 7 * Arschin Höhe; daneben ein zweiter Hau¬ 
fen, dann ein dritter, und dabei Alles mit Matten bedeckt, damit es 
sich besser durchwärmt. Ein solcher aufgestapelter Haufen wird ein 
Mal am Tage umgelegt, damit die Erwärmung gleichmässig vor sich 
gehe. So liegen die Häute 9 bis 10 Tage, und wenn bei irgend einer 
von den Häuten die Haare locker zu werden anfangen, wird dieselbe 
herausgenommen und der weiteren Verarbeitung übergeben, d. h. 
dem Prozesse des Scheerens der Haare, des Spülens und dann des 
Schwellens in der Eichenlohe. Die Häute gehen durch 8 Bottiche 
mit Lohe hindurch, mit der ganz schwachen Eichenlohe anfangend 
und in die stärkeren übergehend. In jedem Bottich bleiben die Häute 
24 Stunden, darauf werden sie 10 Täge lang in dem 9. Bottich, in 
welchem frisches Wasser und ein wenig Lohe ist, gehalten, und 
werden von hier in die Gerb-Gruben versetzt; dazu giebt man die 
Lohe von drei oder vier Eichen, je nach der Grösse der Haut. Die ge¬ 
trocknete Schweissgarsohle kommt darauf direkt in den Handel. 
Viele Fabrikbesitzer haben bereits Bronce-Rollen zum Glätten und 
Planiren % der Häute eingeführt, und es giebt auch solche Fabriken, 
welche den Berendorf sehen Lederhammer besitzen. 


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3*3 


Auf der letzten Internationalen Ausstellung in London im Jahre 
1874, die speciell der Lederindustrie gewidmet war, trat als Reprä¬ 
sentant der russischen Schweissgarsohle die Firma Brussnitzin und 
Söhne (Fabrik in Petersburg — Tschekuschi Nr. 21 und 32) auf. 
Diese, im Jahre 1847 gegründete, Fabrik hat in technischer Einrich¬ 
tung viele der Veteranen übertroffen; sie besitzt 3 Dampfmaschinen 
von zusammen 40 Pferdekräften, ferner zwei BerendorPsche Le¬ 
derhämmer und fünf Bronce-Rollen zum Glätten der Häute; zwei 
Mühlen zum Zerreiben der Weidenrinde und einen Mühlstein für 
die Nüsse. Eine Brdval’sche Presse trocknet die Lohe, welche sodann 
als Brennmaterial zum Heizen verbraucht wird. Im Jahre 1874 hat 
diese Fabrik 120,000 Häute verarbeitet, die kleinen Stücke mit ein¬ 
gerechnet; sie verfügte über 200 Arbeiter, lieferte dem Kriegs¬ 
ministerium ca. 250,000 Paar Sohlen und machte einen jährlichen 
Umsatz von 900,000 Rbl. 

Die Vitriol-Sohle oder Spiritus-Sohle ist seit nicht mehr dann 20 
Jahren in Moskau eingeführt und unterscheidet sich in der BearbeL 
tung von der vorhergehenden nur dadurch, dass die Lohe, in welche 
die von den Haaren befreite Haut gesetzt wird, einen Züsatz von 
Vitriol-Oel erhält Spiritus-Sohle wurde sie nur im Anfänge ge¬ 
nannt, um das Geheimniss zu wahren. 

Der Gebrauch der Schwefelsäure ist auf der bekannten Thatsache 
der Mitwirkung der Säuren überhaupt .zu einer raschen Verbindung 
der Gerbsäure mit dem Faserstoff der Haut begründet, — und in der 
That lässt sich die Vitriol-Haut leichter gerben als die Schweissgar- 
Haut. Es ist nur schade, dass bei dieser für die Haut gefährlichen 
Bearbeitung die Schwefelsäure nicht durch die unschädlichere Salz¬ 
säure ersetzt wird, oder noch besser durch die Weinsteinsäure oder 
die Oxalsäure. 

Im äusseren Ansehen unterscheidet sich die Vitriol-Sohle ein 
wenig von der Schweissgarsohle; die Narbenseite ist nicht ein¬ 
farbig, sondern von den verschiedenfarbigen Abdrücken der groben 
Rinde gewöhnlich bunt. 

Die Wladimir'sche Sohle. Unter diesem populären Namen ist eine 
Sohle bekannt, welche von der Gesellschaft der Wladimir'schen 
Lederfabrik verfertigt wird, die der Art der Bearbeitung nach 
einzig in Russland dasteht und sowohl in Hinsicht ihrer Grösse, als 
auch in Hinsicht der Einrichtung sehr bemerkenswerth ist. Das 
Eigentümliche der Bearbeitung besteht in Folgendem: die Häute 
werden, um das Haar zu entfernen, nach dem System Delbut 


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3*4 


in sogenannten Schwitzkammern der Wirkung feuc fatwam ier Luft 
ausgesetzt, wo sie ausgehängt werden und bei einer Temperatur 
von + 20—26° R. 24 bis 36 Stunden verbleiben, bis die Fleisch¬ 
seite der Haut sich soweit durchwärmt hat, dass sich die Haare 
leicht ausziehen lassen. 

Das Schwellen der durchwaschenen Häute und die erste Beizung 
geschieht durch die Lohe, nach dem System Knoderer, in sich dre¬ 
henden Fässern, worauf die Häute, nachdem sie die Reihe der 
Fässer durchgemacht haben, mit faseriger Lohe bestreut werden. 
Man giebt dazu die Lohe von drei oder vier Eichen. Der letzte 
Prozess der Verarbeitung besteht entweder in dem Glätten durch 
Bronce-Rollen, wenn dieHäute fürs Kriegsministerium bestimmt sind, 
oder durch mechanische Hämmer für den Privatverkauf. Die Fabrik 
ist im Jahre 1861 gegründet, befindet sich in St. Petersburg (Wassili- 
Ostrow, Tschekuschi) und trägt den Namen Wladimir’sche Fabrik 
zu Ehren S. K. H. des Grossfürsten Wladimir Alexandrowitsch^ sie 
verfügt über eine Dampfmaschine von 23 Pferdekräften, hat 525 Bot¬ 
tiche für die Brühen und die Gerblohen; 64 sich drehende Fässer 
nach ddm System Knoderer (7 Fuss im Durchmesser, 8 Fuss lang); 
4 Dampfhämmer zur Verdichtung der Häute, die nach dem System 
Swidersky in Leipzig vervollkommnet sind, zwei Br^vaPsche Pressen 
zum Trocknen der Lohe für den Heizbedarf, zwei Mühlen nach dem 
System Norton und zwei nach dem System Thomson zum Zerreiben 
der Faserlohe; vier Trockenöfen nach dem System Krel und Ssobol- 
tschikow. Die Fabrik betheiligte sich an der Ausstellung in London 
im J. 1874 undproducirt nach den dem Ausstellungs-Komite mitge- 
theilten Angaben im Jahre 40,000 Sohlenhäute, 4000 Riemenhäute 
und 3000 Bindsohlhäute, im Ganzen für 1,200,000 Rbl. Man ge¬ 
braucht die lokale Weidenfaserlohe und verbraucht davon im Jahre 
gegen 400,000 Pud, durchschnittlich 2 Pud 6 Pfund auf die Haut; 
diese Oekonomie im Gerbstoff wird durch die Auslaugung und 
den regelrechten Gebrauch der Lohe erlangt. Die Rohhäute sind 
entweder tscherkassisch, oder aus Rio-Grande, Buenos-Ayres, oder 
Pemambuco. Die Waare kommt in ganzen Stücken und durchschnit¬ 
ten in den Handel; der äusseren Bearbeitung und den inneren Eigen¬ 
schaften nach entspricht dies Leder den ausländischen Fabrikaten. 

Die Fabrik liefert dem Kriegsministerium für die Armee schon 
seit 8 Jahren 400,000 Paar Sohlen jährlich. 

Grasnelkensohle . Die Grasnelke ist schon lange bekannt, 

wurde aber bis jetzt als ein zu starker und die Haut verzehrender 


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3 2 5 


Stoff für untauglich zum Gerben gehalten. In den letzten io Jahren 
hat sich die Meinung ein wenig geändert; man gebraucht jetzt 
die Grasnelke nicht nur in den Fabriken, welche in der Nähe der 
Orte, wo diese Wurzel, eine Pflanze aus dem Geschlecht der Sta- 
ticeen (Statia tatarica), zu Anden ist, gelegen sind, sondern trans- 
portirt dieselbe auch längs der Wolga stromaufwärts bis nach Kasan. 

Die Fabrikation unterscheidet sich von der Sch weissgarsohle nur 
durch die Benutzung eines anderen Gerbstoffes. Die Grasnelke, 
welche zuweilen über i Arschin Höhe erreicht, wird bei den Fabriken 
wie gewöhnliches Brennholz aufgestapelt, und braucht wegen der 
dicken Rinde nicht vor dem Regen geschützt zu werden. Je nach 
dem Bedarf wird sie auf besonderen Maschinen zerchnitten und 
dann der Lohe beigemischt. Die Gerbsäure der Grasnelke ist so 
stark, dass das Gerben der Häute in 36 Tagen vollendet werden 
kann. 

In der russischen Abtheilung der Londoner Internationalen Aus¬ 
stellung im Jahre 1874 befand sich eine mit der Grasnelke gegerbte, 
von Hrn. Iljin ausgestellte, Sohle. Die Fabrik des Hm. Iljin in 
Rostow am Don verfügt über eine Dampfmaschine von 6 Pferde¬ 
kräften und producirt jährlich gegen 27,000 Sohlenhäute. 

Bindsohlleder . Hierzu werden die weniger grossen Häute ver¬ 
wandt, da diese Bindsohlleder hauptsächlich zur Fabrikation der 
dünnen Damensohlen benutzt werden, wobei weder besondere 
Dicke noch Dauerhaftigkeit verlangt wird. Doch kommt es auch 
vor, dass zum Bindsohlleder die besten, grossen Häute ausge¬ 
wählt werden: das ist der Fall, wenn diese Häute zu Ma¬ 
schinenriemen verarbeitet werden. Umgekehrt werden zum Bind¬ 
sohlleder auch sehr kleine Kuhhäute benutzt, wenn dasselbe zum 
Material für kleine Gegenstände bestimmt ist, wie z. B. Patron¬ 
taschen, Riemen u. s. w. Der Unterschied dieses Leders vom 
Sohlleder besteht darin, dass die rohen oder trocken aufge¬ 
weichten Häute, nachdem sie natürlich gereinigt sind, der Ope¬ 
ration des Laugens unterworfen werden, d. h. entweder werden 
die Häute, wie in Kasan, in ein Gemisch von Kalkmilch mit Asche 
oder in ausgelaugte Asche enthaltende Bottiche gelegt, oder wie in 
St. Petersburg in reine Kalkmilch, wo sie bei beständigem Umlegen 
so lange bleiben bis die Haare sich frei abzutheilen beginnen. Darauf 
wird das Haar auf die gewöhnliche Weise abgepöhlt, die Haut vom 
Kalke gereinigt und mit faseriger Lohe bestreut; wenn das Leder 
als Sohlenersatz für leichte Fussbekleidung oder für kleine Gegen- 


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_326 _ 

stände bestimmt ist, so werden drei Eichen dazu gegeben und be¬ 
müht man sich auch die Häute im Froste zu trocknen. Die Fabrik¬ 
besitzer glauben, dass der Frost die Gerberei der Häute vollende, 
wahr ist jedoch, dass das Trocknen im Winter dem Leder eine hel¬ 
lere Farbe verleiht, die mehr gesucht und geschätzt ist, als dieje¬ 
nige des im Sommer getrockneten Leders, welches immer eine stark 
röthliche Farbe hat; ausserdem ist es nöthig beim Trocknen im 
Sommer für die Häute eine vierte Eiche zu verwenden, was direkt 
eine unnütze Ausgabe für die Fabrikbesitzer bildet. Das für leichte 
Fussbekleidung, Taschen u. s. w. bestimmte Bindsohlleder wird 
in leichter Weise mit einem Gemisch von Theer und Fischthran ein¬ 
geschmiert. Dieses, wie man hinzufügen muss, für die Fabrikanten 
sehr vortheilhafte Leder ist für den Verkäufer sehr unvortheilhaft, 
da man sich leicht in der Güte desselben trügen kann; nicht gut 
durchgegerbtes Leder ist nicht dauerhaft. 

Wenn das Bindsohlleder für Maschinenriemen u. s. w. bestimmt ist, 
wo die helle Farbe des Leders gar nicht von Nöthen, sondern die in 
Wahrheit gute Qualität eines vollkommen lohgaren Leders verlangt 
wird, so werden vier ganze und sogar fünf Eichen gegeben. Darauf 
wird die Haut gut verdichtet, stark mit Talg gesättigt, in Streifen ge¬ 
schnitten, und dann in dieser Form zur Verfertigung von Maschinen¬ 
riemen abgeben, die mit weissgarem Leder durchnäht, oft auch mit 
Kupfer vernietet werden. 

In der russischen Abtheilung der Londoner Ausstellung vom 
Jahre 1874 war das Bindsohlleder durch die Firma Brussnitzin und 
Söhne, von welcher wir schon gesprochen, und durch die Fabrik 
des Hrn. Behne in St. Petersburg (der auch Schweissgarsohlen aus¬ 
gestellt) repräsentirt. 

Das Bindsohlleder, die Streifen für die Riemen, so wie dieSchweiss- 
garsohle waren auf derselben Ausstellung noch von der Fabrik des 
Hrn. Hausch in St. Petersburg exponirt, dessen Leder im Handel 
eine sehr gute Reputation geniesst. Die Fabrik ist im Jahre 1862 
gegründet, sie producirt jährlich gegen35,000Häute im Betrage von 
517,000 Rbl. und besitzt 70 Arbeiter (nach den Angaben des Aus- 
stellungs-Komites). 

Nicht uninteressant sind die Zahlen der verarbeiteten Quantität der 
verschiedenen Sorten Sohlenleder; wir geben dieselben für das euro¬ 
päische Russland, wo sie ziemlich genau bestimmt sind. 

Im Jahre 1871 producirte man: 


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Kornsohlen.321,660 Häute 

Schweissgarsohlen. . 224,014 » 

Vitriol-Sohlen .... 60,158 » 

Wladimir'sche Sohlen 40,000 • 

Bindsohlen.628,065 » 

Der Durchschnittswerth des Sohlenleders ist in folgenden Zahlen 
ausgedrückt: 

im europäischen Russland 5—20 Rbl. pro Haut, 
in den Weichselländern . 7—30 » » » 

in Finland.40—75 Kop. pro Pfund, 

im Kaukasus. 5— 9 Rbl. pro Ochsenhaut, 

» .12—15 » pro Büffelhaut, 

in Sibirien. 5—14 » pro Haut. 

Es ist begreiflich, dass je grösser und schwerer die Haut ist, sie 
desto theurer wird, wesshalb man das Sohlleder in grosses Leder — 
von 40 und mehr Pfund 1 — in mittleres von 35, und in kleineres — 
von 31 Pfund eintheilt 

Meist wird es stückweise verkauft, indem man Grösse und Ge¬ 
wicht in Betracht zieht; an manchen Orten, wie z. B. in Finland 
wird es auch zerschnitten pfundweise verkauft. 

Weiches Jachten- (oder auch Jnften-) Leder. 

Wenn von dem Sohl- und Bindsohlleder Dicke, Dichtigkeit, 
Festigkeit, Schwere verlangt wird, so muss das weiche Leder ganz 
anderen Anforderungen entsprechen: es muss im Allgemeinen weich, 
dehnbar, leicht sein. Diesem Zwecke entsprechen die Häute jun¬ 
ger Kühe und Kälber verschiedenen Alters, die immer dünner, zarter 
und leichter sind, als die Häute alter Ochsen und Kühe der grösse¬ 
ren Arten. Unter gelten Häuten versteht man die Häute der Kühe, 
die schon gekalbt haben; hierher gehören auch die Häute jähriger 
Ochsen, welche zum Schlachten bestimmt sind; die jüngeren Kühe 
und Ochsen aber, die das Alter der Kälber schon überschritten haben, 
geben das sogenannte Rindleder, welches bei der Fabrikation des 
weichen Leders den gelten Häuten beigefügt wird. Das aus dem 
aufgezahlten Rohmaterial verarbeitete Leder, das Ochsen- und Kalb- 

1 Im Handel wird ausser dem Gewichte noch die Länge des Rückgrats in Be¬ 
tracht gezogen, wobei eine grosse Haut nicht weniger als 2 1 /* 2 */* Arschin, eine 

mittlere z'U-z'tt Arschin und eine' kleine 2 —2 1 /* Arschin lang ist. 


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328 


leder ausgeschlossen, ist bei uns und im Auslande unter dem tatari¬ 
schen Namen des gelten Juchtenleders (zum Unterschied von dem 
Ross-Juchtenleder) bekannt. Der seit alter Zeit bestehende Ruf dieses 
Leders im Auslande, welches schon im XVI. Jahrhundert in einer 
Quantität von 100,000 Pud ausgeführt wurde (nach dem Zeugniss 
von Kilburder) hängt nicht nur von der hohen Qualität der Haut 
ab, sondern vom Geruch des Birkentheers und Fischthrans, wo¬ 
mit das Juchtenleder getränkt wird. 

Für das beste gelte Rohmaterial hält man das sibirische, Perm’sche, 
Wjatka’sche und Kasan’sche. In den centralen, aber noch mehr in 
den südlichen und Steppen-Gouvernements ist es besonders reich an 
Blattern, hervorgebracht durch den Stich der Bremse (Oestrus bori), 
welche ihre Eier in den Rücken der Thiere legt, aus welchen sich 
die Raupen entwickeln und die dicke Haut durchfressen. 

Die Vertheilung der Produktion im europäischen Russland zeigt 
folgende Tabelle: 

Quantität der Häute: Gouvernements: 

von 200 bis 300,000 Häuten Wjatka, Kasan, Perm und Twer, 

• 100 » 200,000 » Orel, Moskau, Woronesh, Nishnij- 

Nowgorod, Ofenburg und Ssaratow, 

» 50 » 100,000 » Kursk, Witebsk, Ufa, St Petersburg, 

Ssmolensk und Kostroma, 

» 25 » 50,000 » Kaluga,Tschernigow,Wladimir,Char¬ 

kow, Rjasan, Pskow, Tula, Wolhy¬ 
nien, Poltawa, Ssamara, Ssimbirsk 
und Jarosslaw, 

» 10 > 25,000 • Kijew, Tambow, Wologda, Livland, 

Minsk und Podolien. 

Ein jedes von den übrigen Gouvernements producirt weniger als 
10,000 Häute Juchten. 

Bei den Juchten wie beim Sohlleder unterscheidet man mehrere 
Sorten, doch ist die Fabrikation bei allen dieselbe und der Unter¬ 
schied besteht nur in der letzten Bearbeitung. Das Charakteristi¬ 
sche der Fabrikation besteht in Folgendem: die rohen oder aufge¬ 
weichten Häute kommen entweder in einfache Kalklauge oder in 
Aschenlauge, und bleiben in dem Bottich mit der Lauge so lange 
bis die Haare sich leicht zu lösen anfangen. Darauf werden die 
Haare auf gewöhnliche Weise entfernt und die Häute dann oft wie¬ 
der in die Bottiche zum Schwellen geworfen; dann werden die Häute 
entweder in Messendem Wasser gespült oder in stehendem ge- 



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stampft — in Trommeln, Stampfen — und dann zertheilt, d. h, die 
Fleischseite wird gereinigt, geglättet und die Narbenseite mit einem 
Quaderstein gewalkt, indem die Häute dazwischen immer mit 
den Füssen oder der Stampfe gestampft, in den Trommeln ge¬ 
spült werden u. s. f., um die Asche und den Kalk nach Möglich¬ 
keit zu entfernen. Durch diese Sorgfältigkeit in der Fabrikation 
unterscheidet sich dieses Leder von dem Bindsohlleder, wo sich 
der ganze Prozess oft nur auf das Reinigen der Fleischseite und 
die Spülung beschränkt. Eine folgende Operation hat dann den 
Zweck, den Kalk endgültig fortzuschaffen und die Haut zum erfolg¬ 
reichen Gerben vorzubereiten; sie besteht darin, dass in einem 
sogenannten Mehlbrei-Bottich bei + 20 0 R. ein Brei aus Hafer¬ 
mehl und warmem Wasser bereitet wird, in welchen die Häute 
auf 6 bis 7 Stunden hineingelassen werden, wobei sie beständig um¬ 
gelegt werden; hier entwickelt sich die Gährung und die Essigsäure 
sondert die letzten Kalktheile ab. Dies ist die älteste und allgemein 
gebräuchlichste Art, doch giebt es auch Fabriken, welche auf andere 
Weise den Kalk herausziehen und die Häute weichen, indem sie 
Hundekoth oder Taubenmist (faule Brunnen) anwenden. 

Das Gerben der Juchtenhäute beginnt niemals gleich mit dem Be¬ 
streuen der faserigen Lohe. Diesem Prozess geht die Bearbeitung 
mit schwacher Eichenlohe vorher, die gewöhnlich in den freien Loh- 
Bottichen vorgenommen wird; in den, in ihrer Einrichtung vervoll- 
kommneten Fabriken, deren es bei uns nicht viele giebt, sind Appa¬ 
rate mit sich drehenden Rührschaufeln eingeführt, mit welchen nicht 
nur das vorläufige Gerben ausgeführt wird, sondern auch der ganze 
später in das Bestreuen mit faseriger Lohe übergehende Gerbpro¬ 
zess. Die Methode, die Häute mit Schwefelsäure zü behandeln, die 
beim Sohlleder gebräuchlich, ist leider an einigen Orten auch 
in die Juchtenfabrikation eingedrungen, und hat in der Regel so 
schlechte Folgen, dass im Juchtenleder beim Liegen jede Verbin¬ 
dung zwischen den einzelnen Fasern aufhört und es seine Festigkeit 
verliert. Die gegerbte Haut wird, nachdem sie gewaschen ist, als 
weisses, rothes und schwarzes Juchtenleder sortirt. 

Weisse Juchten. Hierzu werden die besten Häute mit möglichst we¬ 
nigen Fehlern an Fleisch- und Narbenseite (d. h. mit der kleinsten 
Zahl von Blattern, Einschnitten u. s. w.) ausgewählt; sowohl aus 
dem Grunde, weil durch das Fehlen der Farbe alle Fehler der Nar¬ 
benseite sichtbarer sind, als auch daher, weil dies Leder hauptsäch- 

Rntf. Berne. Bd. VU. 22 




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_ 33 ° _ 

lieh zur Fussbekleidung der Armee verwandt wird, wo solche Fehler 
bei der Entgegennahme des Leders nur mit grossen Einschränkungen 
zugelassen werden. Die Bearbeitung des weissen Juchtenleders nach 
dem Gerbprozess besteht darin, dass die Fleischseite der Häute mit 
Birkentheer und Seehundsthran eingeschmiert wird und darauf die 
Häute getrocknet werden. 

Das rothe Juchtenleder wird auf dieselbe Weise bearbeitet} es wird 
jedoch, nachdem es trocken geworden ist, mit einer Auflösung von 
Quassia bestrichen und an der Narbenseite mit rothem Sandelholz 
gefärbt. 

Bei dem schwarzen Juchtenleder werden nach dem Gerbprozess 
die gewaschenen, aber noch nicht getrockneten und mit fettigen 
Substanzen bestrichenen Häute an der Narbenseite mit einer Auflö¬ 
sung von Quassia, dann mit einer fast kochenden Auflösung blauen 
Sandelholzes und darauf, zur Festigung der Farbe, mit einer Auflö¬ 
sung von Eisenvitriol übergossen. Doch vermeiden viele Fabriken 
diese gefährliche Festigung und gebrauchen einen Aufguss von 
Kwas mit gerostetem Eisen, d. h. essigsaures Eisenoxyd. Die ge¬ 
färbten Häute werden auf der Fleischseite sogleich nach der Fär¬ 
bung mit einem Gemisch von Birkentheer und Seehundsthran be¬ 
strichen, im Verhältniss von l /a Pfunde des einen und des anderen pro 
Haut; wenn jedoch das sogenannte Theerleder verfertigt wird, dann 
mit einem Gemisch von je i Pfund Theer und Thran. Die bestriche¬ 
nen Häute werden dann getrocknet. 

Die letzte Bearbeitung der eben aufgezählten Juchten-Sorten ist fast 
überall dieselbe und enthält eine lange Reihe von Manipulationen, 
welche nur in Einzelnheiten von einander abweichen, und namentlich 
nur in der letzten Form, die vom Handel und zum Theil von lokalen 
Gebräuchen bedingt wird. Das Ziel dieser Manipulationen ist, das 
Leder weich und egal zu machen, und kann auf folgende Vorgänge 
zurückgeführt werden: Nachdem die Häute getrocknet sind, werden 
sie mit Wasser benetzt, damit sie weicher und zur Bearbeitung 
geeigneter werden, und dann auf einer stumpfen Reckbank gewalkt. 
Das ist die erste Manipulation der Erweichung, darauf werden die 
Häute mit einem Hobel behobelt, wobei die unnütze Dicke der 
Haut abgenommen wird, und dann auf einer scharfen Reckbank 
gewalkt. Diese zwei Operationen wechseln wiederholt mit einan¬ 
der ab, bis die Haut sich egalisirt und so weich wird, dass man ihr 
die letzte gewünschte Form geben kann, was durch walzen mit- 


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33* 


telst Krispelholz erreicht wird, durch das Glätten der Narben¬ 
seite mit Glas, Stein oder Eisen, wobei die Narbenseite je nach 
Wunsch grob oder fein chagrinartig erscheint, oder erbsenartig, oder 
gekerbt mit sich deutlich kreuzenden Linien, oder mehr oder weni¬ 
ger glatt und glänzend. Nach Beendigung der Schlussoperation 
werden die Häute gewöhnlich leicht mit Seehundsthran oder Talg 
eingeschmiert, mit Ausnahme des Sattelleders. Das schwarze Theer- 
leder wird an der Narbenseite stark mit einem Gemisch von Theer 
und Fett eingeschmiert. 

Ueberhaupt muss man beachten, dass die Häute, welche stück¬ 
weise in den Handel gebracht werden, nur mässig mit Fett gesättigt 
und gut gehobelt werden; wenn sie jedoch nach Gewicht vericauft 
werden, so werden sie zur Vergrösserung desselben stark mit Fett 
getränkt und wenig gehobelt. 

Die weissen Juchten sind, wie oben erwähnt, hauptsächlich für die 
Fussbekleidung der Armee bestimmt; an der Narbenseite glatt wird 
diese Sorte in den sibirischen und uralischen Fabriken bearbeitet; 
fein chagrinirt in den Gouvernements Kasan, Wjatka, Perm; grob 
chagrinirt im centralen Russland. Ausserdem werden die weissen Juch¬ 
ten zu Patrontaschen verwandt, zu lackirten Helmen, zu verschieden 
geformten Riemen für die Armee, zu den Satteldecken bei der Kaval¬ 
lerie, zum Pferdegeschirr, zu Koffern und zu vielen anderen Zwecken; 
sie werden auch von den Lackfabriken zur Herstellung einer Reihe 
verschiedenartiger lackirter Leder (für die Equipagen) gekauft; die 
dünne, abgetheilte, gewöhnlich gefärbte Schicht wird aber von den 
Buchbindern benutzt, ferner als Hut- und Mützenfutter u. s. f., und 
sogar als leichte Fussbekleidung. 

Das rothe Juchtenleder, gewöhnlich chagrinirt, wird meist zu ver¬ 
schiedenen Zwecken nach Asien verschickt, zu Kavallerie-Riemen 
verwandt, in bedeutender Menge ins westliche Europa ausgeführt, 
wo verschiedene kleine Gegenstände daraus verfertigt werden, durch 
welche namentlich Wien berühmt ist. Der eigenthümliche Geruch 
des Juchtenleders stammt aus derMischungvonBirkentheerund Fisch- 
thran, womit, wie oben erwähnt, dasselbe eingeschmiert wird. 

Die schwarzen Juchten werden entweder geglättet und dann 
für Pferdegeschirre, Koffer, für Equipagen u. s. w. verwandt, 
oder mit grob chagrinirter Narbenseite herstellt, und dienen dann 
zu denselben Zwecken, mehr aber noch der niederen männlichen 
und weiblichen Bevölkerung zur Fussbekleidung, oder sie gehen mit 

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sich kreuzenden parallelen Linien auf der Narbenseite wesentlich in 
den asiatischen Handel. 

Auf der Londoner Internationalen Ausstellung des Jahres 1874 
nahmen mehrere Repräsentanten der verschiedenen Sorten Juchten¬ 
leders Theil; der erste Platz gebührt unstreitig der Firma S. E. Ale- 
xandrow und J. J. Alafusow in Kasan. Die Gründung der Fabrik 
ist im Anfang dieses Jahrhunderts vor sich gegangen; sie gehörte 
damals P. J. Kotelow, der Saffianleder aus Ziegenhäuten verarbei- 
beitete, für welches einst der Kjachta’sche Thee in so bedeutendem 
Grade eingetauscht wurde. Im Jahre 1840, als der Handel mit China 
zu sinken anfing, begann die Fabrik die Produktion von Juchten und 
Sohlen. Im Jahre 1858 ging sie in die Hände einer Aktiengesell¬ 
schaft, unter der Firma «Gesellschaft der Kasan’sehen Lederfabriken» 
über, im Jahre 1861 aber erwarb sie Alafusow, der Repräsentant 
der jetzigen Firma. Im Verlauf dieser langen Zeit hat sich die Fabrik 
immer mehr und mehr ausgebreitet, und ist von ihrem jetzigen Be¬ 
sitzer zu bedeutender Grösse und zu bemerkenswerther technischer 
Vollkommenheit hinaufgehoben worden. Sie verfügt über Dampf¬ 
maschinen von 45 Pferdekräften, wird mit Dampf gehetzt, besitzt 
eine Gasanstalt und ein ganzes Netz von Wasser zuführendenRöhren, 
485 Bottiche zum Laugen und Gerben und 60 Färbefässer mit sich 
drehenden Mechanismen, 12 zum Spülen bestimmte mechanische 
Trommeln. Sie besitzt die neuesten Maschinen zum Recken, Ho¬ 
beln und hydraulische Pressen. Zum Zerreiben der faserigen Lohe 
und der Steinnelke existiren Schneide- und Stampfmaschinen, 
ferner Apparate zum Färben und zur Zubereitung der Fette zum 
Schmieren, Dampftrockenböden und eine, mechanische Woll- 
wäsche. 

Wir glauben behaupten zu können, dass das Etablissement von 
Alafusow seiner Einrichtung nach, in Hinsicht der Bearbeitung des 
Juchtenleders, eine Konkurrenz mit ähnlichen Fabriken Europa’s 
ehrenvoll bestehen kann; es giebt keine Vervollkommnung in mecha¬ 
nischer Hinsicht, welche auf dieser Fabrik nicht angewandt wurde, 
welche an der Grenzscheide zwischen Europa und Asien steht, 
wohin sogar der einfache Transport der Maschinen mit so grossen 
Schwierigkeiten und so enormen Geldunkosten verbunden ist. Bestän¬ 
dige Arbeiter hat die Fabrik gegen 400 Mann, temporäre gegen 150. 

Dip Fabrik verarbeitet nach den Angaben des Londoner Ausstel- 
lungs-Komites für das Jahr 1873 gegen 150,000 Juchtenhäute, gegen 

’S 

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333 


30,000 Häute verschiedener geringer Sorten und gegen 5,000 Soh¬ 
lenhäute, im Ganzen 185,000 Häute. Das Rohmaterial wird auf den 
lokalen Märkten und in den benachbarten Gouvernements gekauft 
und auf Flössen auf der Wolga aus den Gouvernements Ssaratow, 
Astrachan und aus dem Kaukasus herbeigeschafft. Frische Roh¬ 
häute und gefrorene gelangen nur in geringer Zahl, nicht mehr als 
'/io der ganzen Menge, auf die Fabrik, die übrigen werden ge¬ 
trocknet und gesalzen gekauft. Jährlich werden 180,000 bis 220,000 
Stück Weiden- und Eichenlohe und andere verschiedene Sorten 
verbraucht; 5000 bis 8000 Pud Grasnelken und gegen 4000 Pud 
Sandbeere. Die Grasnelke und die Sandbeere werden zum Ver¬ 
stärken der Lohe gebraucht. Die Juchtenhäute werden 4—5 Monate 
gegerbt, das Bindsohlleder 5—7 Monate, das Sohlleder 10—14 
Monate. Niederlagen besitzt die Fabrik ausser in Kasan noch in 
St. Petersburg, Moskau, Rostow am Don, in Odessa und im Kau¬ 
kasus. Das rothe Juchtenleder geht über St. Petersburg nach Deutsch¬ 
land, Oesterreich und Italien, über Asow in die Türkei, Aegypten 
und Persien. Der jährliche Produktionswerth beträgt 1,350,000 Rbl. 
Bei der Fabrik existiren Wohnungen für die Arbeiter, gemeinsamer 
Mittagstisch und eine Schule. 

Auf derselben Internationalen Ausstellung im Jahre 1874 hatte 
das rothe Juchtenleder noch einen anderen Repräsentanten, den älte¬ 
sten Producenten, Hrn. Ssawin, dessen Fabrik sich in der Stadt 
Ostaschkow im Twerschen Gouvernement befindet. Aus den Mitthei¬ 
lungen des Ausstejlungs-Komites erfahren wir, dass diese Fabrik 
im Jahre 1750, also vor 125 Jahren gegründet ist, sie verarbeitet 
jährlich gegen 200,000 Häute. Sie verfügt über Dampfmaschinen 
von 120 Pferdekräften, 100 Bottiche zum Laugen, 15 Trommeln zum 
Waschen und 400 Bottiche zum Gerben, eine Maschine zum Zer¬ 
reiben der Rinde und hydraulische Pressen zum Trocknen der Lohe 
zum Zweck der Heizung. Gerbmaterial verbraucht sie jährlich 
gegen 250,000 Pud. Arbeiter besitzt sie 700, sowie* ein Hospital und 
eine Schule. 

Die Vertheilung der verschiedenen Juchtensorten im europäischen 
Russland ergiebt sich aus folgender Tabelle: 

Juchten, weisse . . . 922,284 Häute 

» schwarze . . 1,457,959 9 

» rothe . n . . 229,455 » 

» gelte. * 

» lackirte . . . 27,000 » 


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334 


Die folgende Tabelle enthält die Produktionsthätigkeit in den ein- 
zelnen Gouvernements: 

Quantität: Gouvernements: 

280,000 Häute Juchten Wjatka, 


250,000 » 

150 bis 200,000 » 

100 » 150,000 » 

50 » 100,000 » 

25 » 50,000 » 

10 » 25,000 » 


Kasan und Perm, 

Twer und Orel, 

Nishnij-Nowgorod, Orenburg, Ssara- 
tow und Woronesh, 

Witebsk, Kostroma, Kursk, Moskau, 
Pensa, St. Petersburg und Ufa, 
Wladimir, Wolhynien, Kaluga, Pol- 
tawa, Pskow, Rjasan, Ssimbirsk, Tula, 
Charkow, Tschernigow und Jarosslaw, 
Wologda, Kijew, Livland, Podolien, 
Ssamara und Tambow. 


Ein jedes von den übrigen Gouvernements producirt weniger als 
10,000 Häute jährlich. 


Den Preis des Juchtenleders zeigt folgende Uebersicht: 

im europäischen Russland von 4 bis 12 Rbl. pro Haut, 
in den Weichselländern . » 5 » 12 » » • 


in Finland. » 30 bis 75 Kop. pro Pfund, 

im Kaukasus. » 4 » 11 Rbl. pro Haut, 

in Sibirien. » 4*7» » » 


Wie man sieht, ist der Unterschied zwischen dem niedrigsten und 
höchsten Preise für ein und denselben Landstrich ziemlich be¬ 
deutend; das hängt wesentlich von der Qualität und der Färbung ab. 

Der Preis einer jeden Juchtensorte richtet sich nach Grösse und 
Gewicht. Beispielsweise waren für weisse Juchten in St Petersburg 
die Preise in der letzten Zeit folgende: das dreihäutige Juchtenleder, 
d. h. 3 Häute auf 1 Pud, kostet 28 Rbl. pro Pud, oder 8 Rbl 
83®/4 Kop. pro Haut; die Länge des Rückgrats beträgt hierbei 
2*/i — 3 Arschin. Das mittlere vierhäutige Juchtenleder, 4 Häute 
auf 1 Pud, kostet 26 Rbl. (6 Rbl. 9V2 Kop. pro Haut); das Mass 
beträgt 2 l l %— 2 1 /* Arschin. Feines Juchtenleder, fünfhäutig (5 
Häute auf 1 Pud), kostet auch 26 Rbl. pro Pud (5 Rbl. 20 Kop. 







335 


Ochsen- nnd Kalbleder. 

Unter Ochsen- oder Jährlingsleder versteht man das Leder 
einjähriger Kälber, unter Kalbleder aber das Leder junger Kälber. 
Die Produktionsart ist dieselbe wie beim Juchtenleder, nur dass in 
den Gerbbottich statt 70—80 Juchtenhäute, 100— 200 Kalbhäute 
gelegt werden, selbstverständlich geht auch der Gerbprozess rascher 
vor sich. Es wird, wie beim Juchtenleder, weisses, schwarzes und, wenn 
auch selten, rothes Jährlings- und Kalbleder verarbeitet Die Narben¬ 
seite ist gewöhnlich nach der Verarbeitung glatt, zuweilen aber auch 
chagrinirt und lackirt. 

Es wurden 246,346 Jährlingshäute und 1,055,068 Kalbhäute pro- 
ducirt. 

Die einzelnen Gouvernements verarbeiten: 

Quantität: Gouvernements: 

330,000 Häute St Petersburg, 

160,000 » Moskau, 

50 bis 100,000 » Witebsk, Kasan, Nishnij-Nowgorod und Twer, 

25 « 50,000 » Orel, Perm, Ssimbirsk, Ssmolensk, Wjatka, 

Kostroma und Tula, 

10 • 25,000 » Wladimir, Kaluga, Kijew, Kursk, Nowgorod, 

Pskow, Tambow, Tschernigow und Estland, 
5 9 10,000 » Ssaratow, Rjasan, Podolien, Wologda, Woro- 

nesh, Grodno und Kurland. 

Ein jedes von den übrigen Gouvernements producirt weniger als 
5,000 Häute jährlich. 

Der Preis des Jährlings- und Kalbleders ist: 

Jährlingsleder Kalbleder 

Rbl. Kop. Rbl. Rbl. Kop. Rbl. K. 
im europäischen Russland von — 90 bis 6 von — 40 bis 3 — 
in den Weichselländem . • 2 40 > 5 • — 75 » 3 — 


in Finland. »-» — » — 50» 3 — 

im Kaukasus. » 2 — »4 9 — 80» 225 

in Sibirien. » 3 — » 4 » 1 — » 350 


Als Beispiel für das Jährlingsleder führen wir folgende Preise im 
Gouvernement Ssmolensk an: bei derselben Grösse der Haut kostet 
rothes Jährlingsleder 2 Rbl. 80 Kop., weisses 1 Rbl. 85 Kop., 
schwarzes 1 Rbl., Seitenfutter in Stiefeln (die schlechteste Sorte) 
90 Kopeken. 


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33 $ 


Bossleder» 

Die Häute grosser Hengste werden als Sohlleder (Rosssohle) 
verarbeitet, bei welchen die hinteren Schenkeltheile sehr dicht und 
fest erscheinen, so dass sie der Bestimmung deß Sohlleders voll¬ 
kommen entsprechen. Die Häute der weniger starken Pferde liefern 
die sogenannten schwarzen und weissen Rossjuchten (im Königreich 
Polen Hamburger Juchtenleder genannt), welches in der Anwendung 
mit dem gelten Juchtenleder konkurrirt, jedoch immer weniger hoch 
geschätzt wird (bis zu i Rbl. pro Haut). Die rohe Rosshaut wird 
auch zu Bindsohlleder und in der Weissgerberei verwandt. Die 
Haut der Füllen giebt auch eine Art Jährlings- und Kalbleder ab. Die 
Fabrikation des Rossleders ist dieselbe wie die der vorgenannten 
Sorten von Hornvieh. 

Die Produktion vertheilt sich im europäischen Russland folgender- 
massen; 

80 bis 90,000 Häute Woronesh, Nishnij-Nowgorod und Twer, 

50,000 » Orel, 

25 » 50,000 » Kursk nnd Ssaratow, 

10 * 25,000 • Witebsk, Wjatka, Jekaterinosslaw, Orenburg, 

Perm, Ssmolensk, Ufa, Charkow und Tscher- 
nigow. 

5 » 10,000 » Kasan, Kijew, Kostroma, Moskau, Poltawa, 

Tambow und Jarosslaw. 

Ein jedes von den übrigen Gouvernements pfoducirt weniger als 
5,000 Häute jährlich. 

Preis des Rossleders: 



Füllenleder 

Juchtenleder 

Rosssohlleder 


Rbl. Rbl. 

Rbl. Kop. 

Rbl. Rbl. Rbl. 

im europ. Russland 

von 1 bis 3 

von 3 —bis 

6 von 6 bis 8 

in den Weichselländ. 

— 

* 3 50 * 

II — 

in Finland. 

— 

* 5 — * 

6 — 

in Sibirien. 

— 

» 2 50» 

5 — 


Bock- und Hammelleder. 

Bock- (und Ziegen-) Häute, so wie Hammel- (und Schaf-) Häute 
dienen als Rohmaterial für die verschiedensten Lederfabrikate. Der 
Praxis folgend theilen wir sie in folgende Sorten: 1. Saffian aus 
Ziegenhäuten für Kjachta, 2. gewöhnliches Saffianleder, 3. ge- 






337 


gerbtes Schafleder. Rohe Lammhäute werden auch zu Hand¬ 
schuhleder, zu Sämischleder und Schafleder verarbeitet, doch 
fehlen uns leider darüber genauere Mittheilungen. 

i) Saffian aus Ziegenleder für Kjachta. Dieses einst «ausländi¬ 
sches* genannte Leder wurde in grosser Menge gleich dem Miseritz- 
kischen Tuch gegen Thee in Kjachta eingetauscht. Aber seit die 
Chinesen das russische Silber und Gold kennen gelernt haben und 
der Thee in grosser Menge zur See nach Russland importirt wird, 
ist die Fabrikation dieses Leders bedeutend gefallen. Die Nachfrage 
nach dem glatten Ziegensaffian hat sich im Innern Russlands, wo er 
zur Fussbekleidung verwandt wird, in bedeutenderem Grade erhalten. 

Da die Ziegenhäute, namentlich der grösseren Böcke und Ziegen, 
sehr stark sind, so werden sie der stärksten Lauge unterworfen, um 
die Haare zu entfernen; dazu nimmt man die beste Sorte ausgelaug¬ 
ter Ulmen- und Espenasche, übergiesst sie mit heissem Wasser, 
fügt dann verhältnissmässig wenig frisch gelöschten Kalk hinzu, und 
mit dieser Lauge werden die Felle übergossen, nachdem sie im Bot¬ 
tich mit der Fleischseite nach oben sorgfältig ausgebreitet worden 
sind. Nach einigen Tagen beginnen die Haare abzufallen und dann 
folgen die gewöhnlichen Operationen, das Abpöhlen der Haare, die 
Beschneidung der fleischigen Theile, u. s. w. Dies Alles wird im 
Wechsel mit sorgfältigem Spülen und Stampfen der Häute ausge¬ 
führt. Nach dem Spülen kommt das Schwellen der Häute, welches 
in einer warmen Auflösung von Hundekoth vor sich geht und grös¬ 
sere Aufmerksamkeit fordert, sowohl in der Bereitung der Auflösung, 
in der keine Stücke enthalten sein müssen, als auch in dessen Be¬ 
nutzung. Die geschwollene Haut erhält eine bemerkenswerthe Zart¬ 
heit, Dehnbarkeit, und dann wird sie im Wasser von gewöhnlicher 
Temperatur abgekühlt, von wo sie dann in Wasser mit thauendem 
Eis umgelegt wird. Damit wird das Schwellen des Ziegenhäute be¬ 
schlossen. 

Das Gerben der Häute geht auf folgende Art vor sich: eine jede 
Haut, mit der Narbenseite nach aussen, wird in der Form eines 
Sackes zusammengenäht; durch eine frei gelassene Oefinung wird 
der Gerbstoff in denselben hineingeschüttet, zur Hälfte aus Sandbee¬ 
ren und feinster Weidenlohe bestehend, darauf wird Eichenlohbrühe 
hineingegossen, die Oeffnung zugebunden und die Häute in grosse 
mit demselben Gerbstoff gefüllte Gefässe gelegt (wobei oft noch Eis 
zugelegt wird). Die in die Säcke gefüllte Lohbrühe sickert durch 
die dicke Haut hindurch; die Säcke müssen mehrere Mal von Neuem 


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ii » 



gefüllt (iö bis 20 Mal) und, je nach Bedarf, auch Gerbstoff beigefügt 
werden. Die Felle werden sehr rasch gegerbt und in einigen Tagen 
der ganze Prozess zu Ende geführt, worauf die Säcke wieder aufge¬ 
trennt werden und der Gerbstoff abgespült wird. 

Die gegerbten Häute werden mit einem Aufguss von rothem San¬ 
delholz, eine jede Haut einzeln, gefärbt; die Haut wird mit der Nar¬ 
benseite nach oben gelegt] und zu einer Rolle zusammengedreht, 
dann wird in den Trog der Aufguss von Sandelholz hineingegossen 
+45 bis6o°R., so dass daran gewöhnte Hände es kaum aushalten kön¬ 
nen. Die Haut wird in der Färbe auseinander und zusammengedreht; 
diese Operation nimmt man drei Mal vor, und giesst beim letz¬ 
ten Mal Eisenvitriol zu. Die gefärbten Häute werden getrocknet 
und zur letzten Bearbeitung übergeben, d. h. sie werden geknetet, 
geglättet und ihnen die letzte Form gegeben, d. h. entweder die 
kreuzweise Reifung des Maroquins für die Chinesen, oder die glatte, 
glänzende Oberfläche, wie man dieselbe in Russland hochschätzt. 

Der Ziegensaffian wird an der Narbenseite mit Leinöl bestrichen, 
an der Fleischseite aber mit Kreide belegt. 

2) Gewöhnliches Saffianleder wird grösstentheils aus Hammel- und 
Schafhäuten, vornehmlich von Merino-Schafen, gearbeitet. Das 
Charakteristische der Fabrikation besteht darin, dass von den auf¬ 
geweichten Häuten die Haare durch Erhitzen in Badstuben entfernt 
werden, wo, wie in den Schwitzkammern der Wladimir’schen Fabrik, 
die Fleischseite sich so weit lockert, dass die Haare frei abgehen; 
dann werden sie auf gewöhnliche Weise abgepöhlt. Auf einigen Fa¬ 
briken wird das Haar, um es besser zu erhalten, durch Bestreichen 
mit Schwefel-Arsen an der Fleischseite entfernt. Für die niedrigeren 
Sorten des Saffianleders, welche keine helle Färbung verlangen, 
wird das Haar durch die Wirkung des Kalkes entfernt, entweder 
durch Kalk allein, oder mit Asche, ganz so wie beim Kalb- und 
Juchtenleder. Das Saffianleder wird in Buchen geschwellt und zu¬ 
erst durch Begiessen, dann durch Beschütten, wie weiches Leder 
gegerbt; darauf wird es gefärbt und an der Narbenseite bearbeitet. 

Die Fabrikation der farbigen Saffiane kann bei uns nicht mit 
Deutschland und Frankreich wegen des Mangels an Kenntnissen 
in der Färbekunst konkurriren; nichtsdestoweniger bestehen viele 
Fabriken, und unter ihnen sehr bedeutende. Als Repräsentant dieses 
Zweiges gilt bei uns die Fabrik A. Bachruschin, welche über Dampf¬ 
maschinen von 14 Pferdekräften, Maschinen zum Zerreiben der 
Rinde, zum Zersägen der Häute, über Wasserpumpen und Maschi- 



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339 


nen für die Wäsche der Wolle etc. verfügt. Diese Fabrik bietet ein 
interessantes Beispiel der Verbindung von Leder- und Tuchfabrika¬ 
tion: in dem einen Flügel des Gebäudes sind in der unteren Etage 
die Maschinen zur Verarbeitung des Leders, in der oberen Etage die 
Webstühle und Spinnstuben zur Herstellung des Tuchs. Der Preis 
des Letzteren ist I Rbl. 50 Kop. bis 2 Rbl. 50 Kop, pro Arschin 
und wird von den Käufern sehr geschätzt, weil die Rohhäute beim 
Entfernen der Haare nicht mit Kalk bearbeitet werden, der das 
Haar stark verdirbt. Die Fabrik liefert auch Sohl- und Juchtenleder. 

3) Schafleder aus Häuten von Merino- und gewöhnlichen Scha¬ 
fen wird eben so bearbeitet wie das feine gelte Leder, d. h. die Felle 
werden mit Kalk gelaugt, wodurch das abgepöhlte Haar aber seine 
Güte verliert. In dem Dorfe Klintzy, im Ssurash’schen Kreis des Gou¬ 
vernements Tschernigow, werden jährlich über 350,000 Häute von 
Merino-Schafen verarbeitet; die Wolle kommt dann auf die Tuch¬ 
fabriken in Klintzy, deren Tuch, wenn auch nicht immer so doch 
sehr oft, durch den Einfluss des Kalkes während des Laugens der 
Häute sich durch seine schlechte Qualität auszeichnet. 

4) Hammelleder , aus Hammelfellen ohne Entfernung der Haare 
bearbeitet, wird zu Pelzen, Fellmützen, Fellkragen u. s. w. benutzt. 
Man theilt es nach der Gattung der Schafe, sowie nach der Art der 
Bearbeitung in verschiedene Sorten; die billigste ist das unge- 
gerbte Leder in saurer Verarbeitung; höher steht das Hammelleder, 
welches mit Eichensaft bestrichen wird, und noch höher das ge¬ 
gerbte (lohgare) Hammelleder, welches in den Bottichen verarbeitet 
worden ist; besonders guten Ruf haben unsere Lammfelle und die 
Romanow’schen Schafpelze. 

Die Vertheilung aller aufgezählten Arten zusammengenommen 
ergiebt sich im europäischen Russland aus folgender Tabelle: 


Quantität der Häute: 

Gouvernements: 

1,062,600 Häute 

Moskau, 

388,460 » 

Tschernigow, 

264,105 » 

Kasan, 

147,300 » 

Nishnij-Nowgorod, 

25 bis 50,000 » 

Wjatka, Orel und St. Petersburg, 

20 » 25,000 * 

Kijew und Kursk, 

10 » 20,000 > 

Tambow, 

5 » 10,000 * 

Wolhynien, Kurland, Podolien, Pskow 


und Ssaratow, 


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340 


rbis 5,000 Häute Wilna, Witebsk, Kowno, Kostroma, 
Orenburg, Perm, Ssimbirsk, Twer, 
Chersson und Jarosslaw. 

Die übrigen Gouvernements produciren weniger als 5000 Häute. 
Die Preise sind: 


im eorop.Russland 
in d. Weichselländ. 

in Fiiil and. 

im Kaukasus . . . 
n Sibirien. 


Ziegenleder 


Saffianleder 


Hammelleder 


Schafleder 


,R. 

K. 

R. 

K.R. 

K. 

R. K. R. K. 

R. 

K.jB. K. 

R. K. 

I 

20 bis 

3 

- 

— 

80 bis 

I 50 — 40 bis 

1 

—,— 60 bis 

1 — 

I 

20 • 

2 

- 

1 

50 » 

2 —' — 30 » 

1 

-- 40 . 

— 90 

I 

— » 

1 

50 

— 

50 » 

- 75 —50 • 

— 

75 ,— 50 * 

- 75 

— 

75 • 

2 

50 

— 

70 » 

1 50'- 40 » 

— 

60!— 60 . 

1 10 

I 

— » 

3 

— 

— 

— 

- 1 - 70 » 

1 

7 °j- 

— 


Ungegerbtes Leder. 

Das Handschuh- und feine Sämisch-Leder, welches in Russland 
verarbeitet wird, erreicht nicht jene Höhe der Entwickelung, auf wel¬ 
cher es sich bei Vervollkommnung in technischer Einrichtung befin¬ 
den könnte; die Hauptmenge des zu Handschuhen verwandten Le¬ 
ders wird aus dem Auslande importirt, wohin umgekehrt unser Roh¬ 
material ausgeführt wird. 

Das Sämisch-Leder, welches zu Militär-Handschuhen, Bandagen, 
Matratzen etc. verwandt wird, ist aus Elen- und Rennthierhäuten 
verarbeitet und von sehr guter Qualität. 


Weissgares Leder. 

Weissgares Komleder , das älteste und verbreitetste in Russland, 
unterscheidet sich dadurch in der Fabrikation, dass die rohen Häute 
der Wirkung einer warmen Brühe aus Roggenmehl und Salz so lange 
unterworfen werden, bis das Haar sich zu lösen anfangt; dann wird 
dieses Haar abgepöhlt und die von den Haaren gereinigte (gelte, Ross¬ 
oder andere) Haut auf ungefähr zwei Wochen wieder der Wirkung 
derselben Brühe unterworfen, indem Quassia beigefügt wird; darauf 
werden die Häute getrocknet, mit Hülfe des flüssigen Komsaftes 
(aus derselben Brühe) angefeuchtet, mit einem Gemisch von See¬ 
hunds- oder Fischthran mit Theer, zuweilen mit Fastenöl, be¬ 
strichen und endlich getrocknet. 

Nach dieser Operation wird die Haut entweder zwischen zwei 
vertikalen Messern gehobelt, wodurch sie als ganzes weissgares 
Rindleder in den Handel kommt, oder sie wird in Riemen zer- 


V 


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34i 


schnitten, und dann ein jeder Riemen mit einem scharfen Messer 
an der Fleisch- sowie an der Narbenseite behobelt. Es ist begreiflich, 
dass das Leder in dieser Form höher geschätzt wird. 

Ueberhaupt wird das weissgare Kornleder, obgleich es sehr ver¬ 
breitet ist, der Güte nach als gewöhnliches L„eder geschätzt. 

Deutsches weissgares Leder , seit Peter dem Grossen bei uns einge¬ 
führt, unterscheidet sich von Ersterem dadurch, dass die rohen 
Häute, um die Haare zu entfernen, mit Kalk bearbeitet, nach dem 
Abpöhlen der Haare mit Quassia getränkt und getrocknet, dann 
feucht gemacht, mit Fischthran und Talg bestrichen und darauf, 
wie oben erwähnt, behobelt oder in Riemen zerschnitten werden. 
Diese Sorte des weissgaren Leders ist dem äusseren Ansehen nach 
schwer vom Kornleder zu unterscheiden, wird aber von den Kennern 
weniger geschätzt. 

Geschabtes weissgares Leder wird, was Dauerhaftigkeit betrifft, für 
die beste Sorte gehalten; unterscheidetsichin derFabrikation dadurch, 
dass die rohen, frischen oder gut aufgeweichten Häute garnicht 
weiter verarbeitet werden, sondern die Haare mit Hülfe besonderer 
stumpfer Schabeisen gleich abgepöhltr werden. Die weitere Bear¬ 
beitung ist dieselbe wie früher. Sie werden mit einem Gemisch von 
*/a Pfund Seehundsfett und i Pfund geschmolzenen Fleischfettes 
bestrichen. 

Kalmückisches weissgares Leder gilt in Russland als das vorzüg¬ 
lichste, besonders für Riemen und übertrifft alle anderen Sorten 
(Weissgarleders) an Festigkeit. 

Das Eigenthümliche der Fabrikation besteht darin, dass man die 
Haut ohne jede vorläufige Bearbeitung mit den Haaren in Riemen 
schneidet, und darauf mit einem scharfen Messer die Haare von der 
Narbenseite abschabt, ebenso die Fleischseite. Darauf werden die 
zerschnittenen Riemen stark mit reinem Talg oder mit Beifügung 
vonFischthran gesättigt, drei und mehr Riemen zusammen gedreht, an 
einem Haken aufgehängt und unten mit Lasten beschwert. Die 
Riemen dehnen sich aus, drehen sich mehr zusammen oder drehen 
sich los, je nach der Schwere der Last, d. h. sie federn sich, wie der 
technische Ausdruck lautet, wenn nöthig, wird die Fettsättigung 
wiederholt. Aus den breiten Riemen werden dann schmale von 
bemerkenswerther Festigkeit verfertigt. Diese Art weissgaren Leders 
ist die theuerste und geachtetste in Russland; daraus werden die 
kleinen Riemchen verarbeitet, durch welche sich das Pferdegeschirr 
der eigenen Eskorte Sr. Majestät des Kaisers ausgezeichnet. 


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342 


Alle diese Sorten weissgaren, in Russland verfertigten Leders, 
waren auf der Internationalen Londoner Ausstellung des Jahres 1874 
von dem bedeutensten Fabrikanten dieses Leders G. P. Kurikow in 
St. Petersburg exponirt. Die Fabrik des Hm. Kurikow producirt 
nicht nur v/eissgares ^eder, sondern auch Bindsohlleder, Kalb- 
und Sämisch-Leder; aus den Lederüberresten wird Leim verarbei¬ 
tet. Bei der Fabrik existiren grosse Werkstätten für Sattel- und 
Pferdegeschirrbearbeitung, so wie tür Ammunitions-Gegenstände und 
Gegenstände für Hospitäler. Der Jahresumsatz der Fabrik erreicht ge¬ 
gen 900,000 Rbl. Bei der Fabrik bestehen Tischler- und Drechsler¬ 
werkstätten, eine Giesserei, eine Schmiede und eine Schlosser- 
Werkstatt; auf derselben sind gegen 700 Arbeiter beschäftigt. 


Uebersicht der Lederfabrikation in Russland nach den GouVernements. 

Nach den Daten der Haupt-Intendantur aus dem Jahre 1871 zusammengestellt. 


Gouvernements 

U ß 

• 3.8 

1-s 

N £ 

Zahl der 
verarbeite¬ 
ten Häute 

Produk¬ 
tionswerth 
in Rubeln 

Gouvernements 

Zahl der 
Fabriken ^ 

1 

Zahl der 
verarbeite¬ 
ten Häute 

Produk¬ 
tionswerth 
in Rubeln 

Europäisches 




Mohilew . . . 

20 

12,672 

54,920 

Russland . 




Moskau. . . . 

45 

1,438,010 

3,396,795 

Archangel . . 

75 

15.776 

81,674 

Nishnij-Now- 




Astrachan . . 

12 

7.480 

42,501 

gorod . . . 

*47. 

447,520 

981,960 

Bessarabien . 

7 

2,000 

14,050 

Nowgorod . . 

60 

35,824 

* 7*,733 

Wilna .... 

28 

11,158 

70,704 

Olonez .... 

163 

13,622 

57,*86 

Witebsk . . . 

75 

193,516 

839,029 

Orenburg. . . 

20 

141,800 

1,170,500 

Wladimir. . . 

28 

69,750 

446,140 

Orel. 

96 

3*5,610 

1,947,101 

Wologda. . . 

17 

35,250 

240,800 

Pensa. 

69 

23,444 

526,092 

Wolhynien . . 

162 

91,149 

548,564 

Perm. 

353 

355,208 

*,865,390 

Woronesh . . 

7457 

259,189 

*,514,5*3 

St. Petersburg 

IO7 

648,461 

4,475,027 

Wjatka. . . . 

201 

409,343 

1,980,736 

Podolien . . . 

**5 

43.522 

253 , 9*5 

Grodno. . . . 

65 

19,556 

94,754 

Poltawa. . . . 

405 

53,450 

448,375 

Jekaterinoslaw 

14 

57,000 

661,500 

Pskow .... 

39 

74,005 

385,780 

Kasan .... 

89 

644,945 

2,464,965 

Rjasan .... 

30 

110,680 

855,2öS 

Kaluga .... 

50 

121,505 

967,342 

Ssamara . . . 

5 » 

38,046 

204,63a 

Kowno .... 

31 

8,197 

39,490 

Ssaratow . . . 

280 

176,387 

870,605 

Kijew‘ t . .... 

56 117,010 

866,490 

Ssimbirsk. . . 

126 

37,3*7 

201,12: 

Kostroma . . 

26 

*32,325 

716,905 

Ssmolensk . . 

36 

130,800 

580,51c 

Kurland . . . 

IO 

18,200 

1 55.525 

Taurien. . . . 

2 

! 5,000 

45 , 6 o< 

Kursk .... 

643! 218,203 

1,677,013 

Twer . 

90 

425.59° 

1,9414.2! 

Livland .... 

5 

1 33.450 

• 138,036 

Tambow . . . 

56 

63,405 

237,2a 

Minsk. 

12 

i 

, 4,»85 

*4,525 

Tula. 

16 

60,125 

409,951 


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343 



h c 
•8 8 

Zahl der 

Produk- 


ij a 

-S 2 

Zahl der 

Produlc- 

Gouvernements 

2'S 

verarbeite- 

tionswerlh 

Gouvernements 


verarbeite- 

tionswerth 


•s-g 

Nä 

ten Häute 

in Rubeln 


c* ^ 

ten Häute 

in Rubeln 

fa. 

21 

86,740 

561,740 

St. Michel . . 

28 

25,635 

99,586 


larkow . . . 

254 

65.332 

499,734 

Nyland.... 

34 

35,628 

142,422 

icrsson. . . 

12 

46,500 

486,350 

Tawastehus . 

18 

12,165 

67,010 

schernigow. 

240 

510,82 51,077,628 

Uleaborg. . . 

9 

3*,* 5 <> 

95,685 

rosslaw. . . 

20 

82,350 

5 >o, 93 » 





»tland. . . . 

Weichsel - 

8 

22,810 

59 , 7*8 

Kaukasus . 

Baku. 

56 

15.003 

44,32* 

länder . 








Daghestan . . 

3 

9,050 

8,550 

r arschau . . 

71 

563.895 

2,528,091 

Jelissawetpol. 

38 

44,925 

96,021 

alisch. . . . 

7 2 

76,031 

378,757 

Kuban-Gebiet 

30 

28,300 

198,100 

jeletz.... 

21 

10,620 

59,>30 

Stawropol . . 

19 

27,900 

254,450 

Dmsha . . . 
iublin.... 

39 

52 

17.093 

16,990 

* 19,253 

118,470 

Terek-Gebiet 
Tiflis. 

6 

10 

10,450 

44,600 

85,3*0 

172,700 



otrkow. . . 

120 

128,759 

160,435 

Eriwan .... 

60 

19,067 

85,825 

otzk .... 

40 

*1,358 

50,500 

Sibirien . 




adom.... 

3 « 

56,240 

292,507 




suwalki. . . 

32 

8,580 

57.614 

Akmollinsk- 




edletz . . . 

57 

27,537 

165,188 

Gebiet. . . 

20 

62,900 

406,980 

rfossfürsten- 
tum Finland. 




Jenisseisk. . . 
Baikal-Gebiet 
Irkutsk .... 

II 

I 

II 

* 3,779 

13.300 

42,800 

44,190 

70,750 

194,092 

bo . . ' . . 
f asa. 

11 

22 

7,760 

23,901 

82,570 

110,273 

Ssemipala- 

tinsk-Gebiet 

II 

65,860 

395,050 


fiborg. . . . 

5 

6,189 

30.045 

Tobolsk . . . 

153 

1,136,096 

3, *52,433 

uopio. . . . 

8 

29,720 

73,680 

Tomsk .... 

! 5 

I 69,930 

292,259 


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Ueber Handel und industrielle Thätigkeit 
der Stadt Kasan. 

Eine statistische Skizze 
von 

I. T. Ssolowjew l . 


Detailhandel. — Engros-Handel. — Handel der Kleinkrämer. — Fabriken und 
Werkstätten. — Handwerke. — Gesammt-Resultat. 

I. Der Detailhandel. 

Dieser centralisirt sich auf: i) dem Heumarkte, 2) dem Trödel¬ 
märkte, 3) dem Fisch- und Fleischmarkte, und 4) auf dem Markte 


an der Mündung der Kasanka in die Wolga. 

1. Der Heumarkt. 

Hier werden täglich verkauft: für Rubel 

Heu. 40—50 

Pferde, Kühe, Schafe, 10—15 Stück.300—700 

Gebackenes Brod, Mehl, Hafer etc. 50— 70 

Holzgeschirr aus den Läden und direkt vom Producenten 300—400 

Steingutwaaren. 3— 5 

Verschiedene Früchte.-. 8— 15 

Thee, Zucker, Tabak u. dgl. aus den Krambuden. 30—40 

Pferdegeschirre und Lederwaaren. 15— 24 

Die Einnahmen der Branntweinschenken, Wirthshäuser 
und Einfahrten, die sich auf dem Markte befinden, 
betragen. 75—120 


Bei diesem Handel sind ca. 100 Personen betheiligt, was also bei 
einem Umsatz von 800—1400 Rbl. auf jede 8—14 Rbl., oder durch¬ 
schnittlich 11 Rbl. ergeben würde. Veranschlagt man den Reinge¬ 
winn mit 30 pCt. (was auch in Wirklichkeit anzunehmen ist), so 
würde im Durchschnitt der tägliche Gewinn eines jeden Händlers 
3 Rbl. 33 Kop. betragen. 

Nach den •Haubcru H. I\ O.» 


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$45 


2. Der Trödelmarkt. 

Der tägliche Umsatz beträgt: für Rubel 

Verkäufer von gebackenem Brod (12 Personen). 60— 80 

Kwas 1 und Kisslij-Schtschi* (8 Personen). 15— 20 

Verkauf von Speisen (15 Personen, meistens Frauen). . . 42— 60 

Verkauf von billigen Galanteriewaaren (Tataren und Rus¬ 
sen, im Ganzen an 10 Verkaufstischen). 45—70 

Verkauf alter Bücher. 15— 20 

» alter Kleider etc. 25— 40 

In 3 Buchhandlungen. 15— 18 

• 4 Geschirrbuden. 28— 70 

» 2 Buden mit alten Möbeln. 8— 14 

» I Papierbude. 15— 25 

» IO Buden mit alten, aber noch tragbaren, Kleidern. . . 120—160 
» 5 Buden mit Mützen und in 4 mit Schuhwerk. 95 —150 


Demnach beträgt der tägliche Umsatz des Trödelmarktes 480 bis 
700 Rbl. Dieser Umsatz auf die mittlere Durchschnittszahl von 120 
Händler vertheilt, würde einen Umsatz von 4 Rbl. bis 5 Rbl. 85 Kop. 
oder im Mittel von 4 Rbl. 92 Kop. ergeben, von dem der Reinge¬ 
winn, ebenfalls mit 30 pCt. angenommen, auf jeden Händler pro Tag 
1 Rbl. 47 Kop. ausmachen würde. 

Der tägliche Durchschnittsgewinn auf dem Trödelmärkte ist also 
für einen Händler um 1 Rbl. 86 Kop. geringer als der auf dem Heu¬ 
markte. ' 

3. Der Fleisch- und Fischmarkt. 

Ueber den Gang und den Umfang dieses Zweiges werden die 
nachstehenden Ziffern, obgleich sie nur annähernd in runden Zahlen 
gegeben sind, genügend orientiren können; sie sind hier für den 
täglichen Umsatz gegeben. 

In den Fleischbuden fehlt es nie an Käufern, so dass, wie die Ver¬ 
käufer selbst eingestehen, kein Tag vergeht, an welchem nicht 10, 
15 bis 20 Rbl. einkommen. Es giebt sogar Zeiten, die sich jährlich 
wiederholen, wie z. B. vor den grossen Feiertagen, als Weihnachten, 
Ostern, oder vor dem Beginn der grossen Fasten, wo die tägliche 
Einnahme 60—70 Rbl. beträgt. Man kann daher, ohne einen Feh¬ 
ler zu begehen, die mittlere Tageseinnahme jeder Fleischbude mit 


23 


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' billige Nationalgetränke. 
Bus. Berns. Bd. VII. 













346 


20 Rbl. beziffern, was bei den vorhandenen 25 Buden eine tägliche 
Einnahme von 500 Rbl ausmachen würde. 

Von den 50—60 Gemüsehändlern nimmt jeder ca. 2—3 Rbl. ein, 
was auf die Durchschnittszahl von 55 Gemüsehändler ca. 110—165 
Rbl. ergeben würde. 

Mit dem Verkaufe von Wassermelonen und Aepfeln befassen sich 
ungefähr 20 Personen, die einen Umsatz von 2, 3 bis 4 Rbl. machen. 
Die Durchschnittseinnahme mit 3 Rbl. berechnet, ergiebt eine Ein¬ 
nahme von 60 Rbl. 

Die tägliche Durchschnittseinnahme der 30 Mehl - und Getreide - 
handlungen kann wenigstens mit 200 Rbl. veranschlagt werden. 

Die 30 Verkäufer von Speisen für die niederen Volksklassen, von 
Milch, Schmand und Eiern setzen 68—80, ja selbst 100 Rbl. um, 
so dass die tägliche Durchschnittseinnahme mit 80 Rbl. angenommen 
werden kann. 

Wachs und Wachslichter werden für 5 — 8 Rbl. in jeder der 3 Bu¬ 
den verkauft, also zusammen für 15—24 Rbl., für Thee, Zucker, Ta¬ 
bak, Seife und verschiedene Beleuchtungsgegenstände werden in 5 
Buden für 50—100 Rbl. abgesetzt. 

Wein, Branntwein und Uquere werden in den 2 Läden und 2 Nie¬ 
derlagen für 50—120 Rbl. und ausserdem in den 6 Trinkhäusern für 
30 Rbl. verkauft, sowie in den Bierhallen für 8—20 Rbl. Bier und 
Meth verschenkt, so dass im Ganzen eine Durchschnittseinnahme 
von 130 Rbl. erzielt wird. 

An Holzgeschirr wird für 8—10 Rbl.; 

an Zündhölzchen und verschiedenen Kleinigkeiten (durch 10 Tata¬ 
ren) ungefähr für i 1 /*—2 Rbl., zusammen also 15—20 Rbl.; 

Heu, Theer, Kreide, sowie Hafer in den 4 in der Georgienstrasse 
gelegenen Einfahrten zusammen für 30 —40 Rbl. verkauft. 

2 Handlungen von Eier und Schmandbutter setzen für 7—12 Rbl. 
Waare ab. 

12 Verkäufer von frischem Kohl und Sauerkohl erzielen einen Ab¬ 
satz von 30—40 Rbl. 

3—4 Verkäufer von billigen Musikinstrumenten und verschiedenen 
Kleinigkeiten zusammen ungefähr 7— 10 Rbl. 

Die Einnahme der Fischhändler beläuft sich auf wenigstens 300 
Rbl. täglich. 

Im Ganzen kann man annehmen, dass der tägliche Umsatz sich auf 
ca. 1600 Rbl. beläuft. Da sich nun aber auf diesem Markte unge¬ 
fähr 250 Verkäufer befinden, so würde ein Jeder ungefähr 6 Rbl. 50 


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347 


Kop. einnehmen, was einen Reinertrag, — k 30 pCt. gerechnet —, 
von 1 Rbl. 95 Kop. ergeben würde. 

Der Reingewinn dieser Händler wäre mithin um 1 Rbl. 38 Kop. 
geringer als der des Heumarktes. 

Der tägliche Umsatz dieser beiden Märkte aber verhält sich um¬ 
gekehrt: auf dem Heumarkte beträgt er 1100 Rbl., auf dem Fisch- 
und Fleischmarkte aber 1600 Rbl. 

4. Der Handel an der Mündung der Kasanka. 

Der Verkehr beschränkt sich hier auf Wirthshäuser, Schenken, 
Garküchen, Barbierstuben und Buden mit verschiedenen Kleinigkeiten. 

Es befinden sich hier ungefähr 15 Wirthshäuser , von denen jedes 
täglich gegen 10 Rbl. einnimmt, was in den 5 Navigationsmonaten, 
während welchen die Landungsstelle sich hier befindet, 1500 Rbl. 
pro Wirthshaus ausmachen würde. 

Die Schenken , gegen 30 an der Zahl, sind beständig stark besucht 
und haben daher eine den Wirthshäusern gleiche Einnahme, d. h. 
ebenfalls 1500 Rbl. pro Schenke für die ganze Navigationszeit. 

Was die Garküchen anbelangt, so sind es unsaubere, feuchte Lo¬ 
kalitäten, in denen die Arbeiter nicht nur speisen, sondern auch ihr 
Nachtlager nehmen. Die Speisen, die hier verabfolgt werden, sind: 
eine schlechte Kohlsuppe mit frischem oder gesalzenem Fleische, 
das in beiden Fällen gewöhnlich schlecht ist; alsdann Buchweizen- 
Grütze mit ranziger Butter oder Oel (letzteres während der Fasten), 
oder die Arbeiter begnügen sich mit Kwas, zu dem sie weisses oder 
schwarzes Brod geniessen. 

Solcher Garküchen sind an der Mündung gegen 10, von denen 
jede 4—5 Rbl. täglich einnimmt, im Ganzen also 40—50 Rbl. 

Barbierstuben giebt es hier gegen 8, mit einer Tageseinnahme von 
je 1—1 l /i Rbl., im Ganzen also 8—12 Rbl. 

Buden mit verschiedenen Waaren , als: Zitz, Wollenzeuge, Thee, 
Zucker, Tabak etc. giebt es gegen 50. Diese nehmen täglich 3—5 
Rbl. ein, im Durchschnitt also 4, und im Ganzen 200 Rbl. 

Ausserdem werden an der Mündung noch Citronen, Wassermelo¬ 
nen, Aepfel, Grünigkeiten, Fleischpasteten (Piroggen), Milch, Eier 
etc. von ca. 80 Händlern feilgeboten, und haben diese eine Gesammt- 
einnahme von 80—160 Rbl. täglich. 

Es ist anzunehmen, dass auf dem Markte an der Mündung der 
tägliche Umsatz sich auf ca. 1100 Rbl. beläuft, was auf 190 hier 

23* 

/ 


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handeltreibende Personen vertheilt, eine Einnahme von ca. 5 Rbl. 90 
Kop. & Person ausmachen würde. Rechnet man auch hier den 
Reingewinn mit 30 pCt., so würde das ä Person 1 Rbl. 77 Kop. 
ergeben. 

II. Der Engroe-Handel. 

Es werden im Durchschnitt jährlich verkauft: 

Pud Für Rubel 

Verschiedenes Getreide . . ,.28,0c»,000 15,000,000 

Thee aus Kjachta und Kanton. 110,000 3,500,000 

Ziegel-Thee. 97,500 150,000 

Zucker. 300,000 2,400,000 

Salz.2,000,000 1,000,000 

Baumwollen-, Wollen- u. Seidenzeuge, Tuch 65,000 3,000,000 

Rauchwaaren. — 600,000 

Galanterie-, Gold- und Silberwaaren. — 800,000 

Tabak und Cigarren. 10,000 300,000 

Gewöhnlicher Blatter-Tabak.. 150,000 400,000 

Droguen. 175,000 2,000,000 

Eingemachte Früchte und Konditorwaaren . 310,000 1,120,000 

Spiritus. — 320,000 

Glas- und Glaswaaren. — 247,000 

Fische (aus Astrachan). 500,000 700,000 

Butter. 52,000 378,000 

Lein-, Hanf-, Raps- und Sonnenblumen-Oel 70,000 506,000 

Kristallsachen aus der Fabrik von Lawin . . — 25,000 

Rohhäute. 342,000 1,208,000 

Gusseiserne Waaren. 238,000 857,000 

Gefrorenes Fleisch. 27,000 128,000 

Pech und Theer. 203,000 126,000 

Schreibpapier. 10,000 I 3 , 5 °° 

Kameel-Wolle. 30,000 150,000 

Kirgische Schafwolle und Pferdehaare . . . 53,000 440,000 

Russische gewaschene Schafwolle. 10,000 62,000 

Schaffelle ca. 1,000,000 Stück. — 600,000 

Frisches Fleisch. 30,000 160,000 

Brennholz gegen 70,000 Kubik-Faden ... — 520,000 

Holzwaaren. — 180,000 

Geschmolzener Schaf- und Rindertalg. . . . 102,000 501,000 

Pottasche. 103,000 180,000 


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340 



Pud 

Für Rubel 

Wachs. 

30,500 

720,000 

Kerosin. 

. . . 31,000 

135.000 

Honig. 

. . . 45,000 

248,000 

Flachs, Hanf- und Filzwaaren.. 

... — 

87,500 


An dem Engros-Handel betheiligen sich an 50 Kaufleute erster 
und 1200 Kaufleute zweiter Gilde, im Ganzen also 1250, die einen 
Gesammtumsatz von ca. 53,516,000 Rbl. haben. 


dl. Der Handel der Kleinkrämer (MeJio'iHfaui aaBHi) und Straesenverkauf. 

Kleinkrätner befinden sich in Kasan an 200, von denen Jeder einen 
Jahresumsatz von 600—1200 Rbl. macht. Strassenverkäufer: solche, 
die an einem Tisch oder grösseren Brett (JIoTorb) verkaufen, an 300, 
mit einem Umsatz von 250—300 Rbl. jährlich pro Person, und end¬ 
lich gegen 2800 Personen, die kleine Galanteriewaaren, Seife, Nüsse, 
Aepfel, Weintrauben etc. feilbieten, mit einem Jahresumsatz von 180 
bis 280 Rbl. pro Person. 

Der jährliche Gesammtumsatz dieser 3,300 Krämer beläuft sich 
von ca. 700,000—1,000,000 oder imMittel jährlich auf ca. 876,000 Rbl. 

IV. Fabriken und Werkstätten. 


Jährliche Produktion 
Pud fUr Rubel 


Die Stearinfabrik von Krestownikow lieferte: 

Stearin und Margarin. 

Seife. 

Olein. 

Glycerin. 

Die Albumin-Fabrik hat bis zum Jahre 1873 
producirt: 

Albumin. 

Eierseife. 

5 Seifensiedereien. 

setzen ihre Produkte (Eier-, weisse und 
andere Sorten Seife) theils am Platze, 
theils in Nishnij-Nowgorod ab. 

5 Talglicht-Giessereien. 

gegen 35,000 Pud werden nach St. Pe¬ 
tersburg versandt, der Rest in Kasan 
und auf den Jahrmärkten verkauft. 


172,000 

160,000 

18,000 

15,000 


1,400,000) 
750,000) 
25,000 


60,000 


2,400,000 


100,000 

100,000 


360,000 


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350 


5 Talgsiedereien. 

wird Alles am Platze verkauft. 

11 Saffian-Gerbereien, die an 700,000 Stück 
(oder 56,000 Pud) Felle bearbeiten, liefern 

Leder zu Schuhwerk. 

Die rohen Fälle werden auf den Jahr¬ 
märkten von Bugulma, Menselinsk u. A. 
angekauft. 

22 Ledergerbereien bearbeiten an 300,000 
Felle (225,000 Pud) und liefern Leder. . . 
Das Leder wird in Moskau, Nishnij-Now- 
gorod und in Süd-Russland abgesetzt. 

8 Schaffellgerbereien, wo an 110,000 Felle 
bearbeitet werden, liefern an Leder .... 
Die rohen Felle werden au9 Ssemipala- 
tinsk, Petropawlowsk, Orenburg und 
Troitzk bezogen. 

11 Kürschner bearbeiten an 10,000 Pud roher 

Felle und liefern Rauchwaaren für. 

Die rohen Felle werden aus Irbit, Men¬ 
selinsk, Ssimbirsk, Wjatka, Orenburg, 
Troitzk, Petropawlowsk und Astrachan 
bezogen. Abgesetzt wird die fertige 
Waare nach Nishnij-Nowgorod, Moskau, 
in die südwestlichen Gouvernements 
und nach Leipzig. Für die Bearbeitung 
der Felle erhalten die Arbeiter an Lohn 
ca. 30,000 Rbl. 

Die Flachsspinnerei von Alafusow, Alexan- 
drow & Co. arbeitete im Jahre 1870 mit 
5,900 Spindeln und 650 Arbeitern. Sie 

liefert Waare für. 

An Flachs bezieht sie gegen 70,000 Pud 
aus den Gouv. Kasan, Wjatka und Perm. 

10 Leimsiedereien liefern Leim. 

Der Absatz findet grösstentheils nach 
Nishnij-Nowgorod statt. 

2 Tuchfabriken liefern Soldatentuch. 


Jährliche 

Pud 

40,000 


25,000 


97.500 


10,000 


10,000 

4.500 


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Google 


Produk tion 
ftlr Rubel 
200,000 

1,050,000 

1 , 200,000 

120,000 

225,000 


345.000 

70,000 

66,000 









Jährliche 

Pud 

3 Zitzfabriken, in der Stadt gelegen,. 8,500 

In der nächsten Umgebung der Stadt befin- 
den sich noch einige Zitzfabriken, deren 
Besitzer in der Stadt selbst wohnen. Diese 

Fabriken liefern. 30,000 

Abgesetzt wird die Waare theils nach 
Moskau, theils nach Sibirien. 

2 Fabriken von Baum wollen watte liefern. . . 5,000 

Sie beziehen die Baumwolle aus Oren- 
burg und Petropawlowsk. 

1 Reepschlägerei, die an getheertenund unge- 
theerten Tauen und Stricken liefert .... 3,000 

Den erforderlichen Hanf liefert das Gou¬ 
vernement Kasan. Die fertige Waare 
geht nach Nishnij, Rybinsk u. Ssaratow. 

1 Matten-Fabrik. Das Rohmaterial bezieht 
sie zu Wasser aus den oberen Wolga-Ge¬ 
genden und zu Lande aus den Gouverne¬ 
ments Wjatka, Ufa, Orenburg und Kasan. 


Sie producirt: 

Doppelmatten.Stück 100,000 

Einfache Matten. » 1,700,000 

Kleine Säcke. » 1,000,000 

Getreide- und Mehl-Säcke.... » 300,000 

Säcke geringerer Qualität.... » 50,000 

Borkstücke. » 50,000 

Baststricke. » 1,200,000 

Basteln.Paar 40,000 


SämmtlicheProdukte werden theilweise am 
Platze, theilweise inSsaratow, inNishnij, 
Astrachan und Rybinsk abgesetzt. 


10 Graupenmühlen liefern Graupen. 160,000 

2 Makaroni-Fabriken. 6,500 

2 Malzdarren. 50,000 

4 Bier- und Meth-Brauereien.Eimer 50,000 

31 Branntwein-Niederlagen setzen ab 40-grä- 
digen Branntwein.Eimer 450,000 


Der 80-grädige Spiritus wird meistens 


Produktion 
für Rubel 
250,000 


300,000 


50,000 


37.ooo 


30,000 

238,000 

60,000 

75,000 

19,000 

15,000 

18,000 

4,000 


200,000 

20,000 

37i5°o 

150,000 

1,500,000 


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352 


Jährliche Produktion 
Pud fUr Rubel 

aus Wjatka und Kasan bezogen; der 
Absatz findet am Platze selbst und in 
den unteren Wolga-Gegenden statt. 

4 Mineralwasser-Anstalten. — 60,000 

Absatz am Platze und auf den Wolga- 
Dampfern. 

5 Wachslicht-Giessereien. 10,000 300,000 

12 Ziegeleien.Stück 15,000,000 150,000 

1 Eisengiesserei und mechanische Fabrik n 

Ssweschnikow. — 100,000 

10 Wagen-Fabriken. — 100,000 

Die Mühlen von Kasan liefern an 640,000 Säcke 

des besten Griesmehls.3,200,000 4,500,000 

Der Absatz findet statt: theils am Platze, 
theils nach St. Petersburg, Moskau, Perm, 

Wjatka, Ustjug-Welikij und Archangel. 

Ausser diesen Fabriken befinden sich noch in 
Kasan verschiedene kleine Fabriken, mit 

einer Produktion von. 

Die Gesammtzahl aller Fabriken beläuft sich 


sammteinnahme (mit Ausschluss 
15,085,000 Rbl. beläuft. 


— 40,750 

auf 100, deren Ge- 
der Albumin-Fabrik) sich auf 


Die mittlere Jahreszahl der Arbeiter, die auf diesen Fabriken be¬ 


schäftigt sind, ist bei der 


Tuchfabrikation.600 

Talgsiedereien. 25 

Talglichtgiessereien. 90 

Seifensiedereien. 40 

Stearinlichtgiessereien. ... 250 

Gerbereien. 90 

Nankingfabriken. 38 

Wagenfabriken. 40 

Ziegelarbeiter.190 

Glockengiesserei. 5 

Gusseisenfabrik. 15 

Chemischen Fabrik . ... 20 

Kalbleder-Gerbereien .... 10 

Flachsspinnerei.650 


Schaffell-Gerbereien. 5 

Mattenfabrik. 50 

Wattefabrikation. 53 

Makaronifabrik. IO 

Malzdarre. 15 

Leimsiedereien. 30 

Saffian-Gerberei.275 

Bier- und Meth-Brauereien . 25 

Branntwein-Niederlagen. . . 25 

Filzfabrikation. 30 

Wachsbleichen. 35 

Stärkemehlfabrikation.... 4 

Stellmacher. 15 



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353 


Die Gesammtzahl der Arbeiter beläuft sich auf 2,635. Der Lohn, 
den Jeder von ihnen bezieht, beträgt von 70—200 Rbl. jährlich. 

V. Die Handwerke. 

Es sind folgende Handwerke vertreten: 

Anzahl der Mittlere Zahl der 



Handwerker 

Jahreseinnahme 

Rubel. 

Bäcker. 

. . IOO 

200 — 300 

Brodbäcker (xjrfcÖHHKT») . . . 

.. 82 

320 — 400 

Fleischer. 

. . 20 

450 — 500 

Konditoren. 

. . 24 

800 —1000 

Kuchenbäcker. 

.. 10 

150 — 200 

Sbitenverkäufer 1 . 

. . 25 

bis 120 

Schneider. 

. . 400 

120 — 25O 

Schuster. 

• • 350 

140 — 280 

Frauen-Schuster. 

. . 160 

150 — 280 

Modistinnen. 

. . 50 

50 — IOO 

Rauchwaarenarbeiter. 

. . 120 

300 — 500 

Kürschner. 

. . 300 

220 — 360 

Fassbinder. 

. . 50 

150 — 200 

Glaser. 

.. 70 

120 — 180 

Pferdegeschirr-Arbeiter . . . 

.. 50 

250 — 300 

Blechschläger. 

.. 80 

250 — 350 

Tischler. 

.. 200 

8 

1 

O 

ir» 

Saffianstrümpfe-Arbeiter (für 

die 


Tataren). 

• • 35 

200 — 3OO 

Handschuharbeiter. 

• • 15 

250 — 300 

Ofensetzer. 

. . 100 

120 — 25O 

Zuschneider. 

. . 10 

180—200—300 

Schornsteinfeger. 

8 

80 — 120 

Strassenpflasterer. 

. . 20 

ISO — 200 

Maler. 

. . 15 

350 — 500 

Heiligenbilder-Maler. 

• • «5 

320 — 480 

Graveure . 

. . 20 

250 — 35 ° 

Optiker. 

. . 20 

400 — 500 

Lampenfabrikanten. 

• • '5 

450 — 600 


4 Sbiten (C6htcht>) ein Aufguss auf Salbei mit Zusatz von Lorbeerblättern etc., mit 
Syrup verslisst ist es ein beliebtes Volks-Getränk, bei dem es den Thee ersetzt. 


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354 


Anzahl der Mittlere Zahl der 
Handwerker Jahreseinnahme 


Rubel. 

Steinhauer. 120 400 — 500 

Anstreicher. 40 350 — 400 

Dachdecker. 40 350 — 500 

Zimmerleute. 320 400 — 600 

Stuckaturarbeiter.. 120 250 — 320 

Schlosser. 56 300 — 500 

Drechsler. 10 350 — 450 

Barbiere. — 150 — 250 

Zinnarbeiter. 70 180 — 300 

Rossärzte. 54 140 — 250 

Instrumentenmacher. 42 800 —1000 

Schmiede. . . 1. 180 180 — 200 

Holzsäger. 100 250 — 350 

Silberarbeiter. 40 300 — 400 

Mit dem Umnähen alter Kleider 
Beschäftigte, zum Verkauf 
auf dem Trödelmärkte. ... 15 3SO — 500 


Im Ganzen beschäftigten sich mit verschiedenen Handwerken 
3,706 Personen, die zusammen eine Einnahme von ca. 1,123,700 bis 
1,323,200 Rbl. oder im Mittel 1,223,450 Rbl. haben. 


VI. Gesammt-Resultat. 

Aus den angeführten Daten ergeben sich folgende Resultate: 
a) Für den Detailhandel. 



Jihiiieber 

Dmiati 

AnaU 4tt 
Binfler 

Der RfiMrtisg 
i 30 pCt. toi 
BM. gerechnet. 

DnkMbilli- 
Btiipräi 
eiiei fiidlen. 

1. Auf dem Heumarkte .... 

401,500 

IOO 

120,450 

1204 

2 . » » Trödelmärkte . . . 

215,350 

120 

66,605 

538 

3. » » Fisch- und Fleisch¬ 





markte. 

593,125 

25O 

177,937 

712 

4. An der Mündung. 

168,750 

190 

50,625 

216 



660 




Hieraus wäre zu ersehen, dass wenngleich der Reingewinn im 
Ganzen für die Händler auf dem Fisch- und Fleischmarkte auch 
grösser ist als für die auf dem Heumarkte, jeder einzelne der Er- 


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355 


steren einen geringeren Ertrag erzielt als einer der Letzteren, indem 
hier nur ioo, dort aber 250 Handeltreibende an dem allgemeinen 
Reinerträge participiren. Somit nimmt in Hinsicht der Rentabilität 
des Handels die erste Stelle der Heumarkt, die zweite der Fisch- und 
Fleischmarkt, die dritte der Trödelmarkt und die letzte der Handel 
an der Mündung ein. 

Selbstverständlich sind die hier angeführten Zahlen nur annähernd 
richtig, doch geben sie jedenfalls ein richtiges Bild davon, wie sich 
der Handel an diesen einzelnen Stellen zu einander verhält. 

b) Der Engros-Handel. 

Die Einnahme sämmtlicher 1250 Engrosissten beträgt 53,516,000 
Rbl., von denen also auf Jeden durchschnittlich 42,813 Rbl. fallen. 

c) Die Kleinkrämer und Strassenverkäufer 

erzielen eine Gesammteinnahme von 699,000 bis 1,054,000 Rbl., die 
sich auf 3,300 Personen vertheilt. 

d) Die Fabriken 

haben eine Gesammteinnahme von 15,085,000 Rbl., was für jeden 
der 100 Fabrikanten eine Durchschnittseinnahuie von 150,850 Rbl. 
repräsentiren würde. 

e) Der Umsatz der Handwerker 
beläuft sich auf durchschnittlich 1,223,450 Rbl. 

Die Anzahl aller Personen, die sich mit Handel, Industrie und Ge¬ 
werbe beschäftigen, und die Einnahmen, die sie jährlich erzielen, be- 


Ziffern sich demnach: 

Anzahl 

Durchschnittliche 

Jahreseinnahme 

1) Detailhandel. 

. 660 

1,378,725 

2) Engros-Handel. . . . 


53,516,000 

3) Fabriken.. 


15,085,000 

4) Handwerker. 

.3706 

1,223,450 

5) Kleinkrämer und Strassenverkäufer 3300 

876,500 


In Summa 9016 

72,079,675 


Rechnen wir für jede dieser 9,016 Personen einen Familienstand 
von 5 Personen, so ergiebt sich, dass 45,080 Personen, also fast die 
Hälfte der Bewohner von Kasan (die Gesammtbevölkerung beträgt 
93,000) von Handel, Industrie und Gewerbe lebt — ohne die Arbei- 


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/ 







356 


ter mitzurechnen, welche in den Fabriken und Werkstätten beschäf¬ 
tigt sind. 

Wenn auch die aufgeführten Zahlen nicht absolut genau sind, so 
sind sie doch mit Gewissenhaftigkeit aus erster Hand gesammelt und 
werden nicht weit von der Wirklichkeit entfernt sein. 


Kleine Mittheilungen. 


(Uebersicht der Ergebnisse der letzten Volkszählung 
in Kijew am 2 . Mai 1874 ). Ein Referat in den «Nachrichten 
der Kaiserlichen Geographischen Gesellschaft» giebt darüber fol¬ 
gende Mittheilungen: 

Die Zahl sämmtlicher Gebäude, sowohl Wohngebäude als anderer 
Gebäude, beträgt in der Stadt und in den Vorstädten 19,867; eigent¬ 
liche Wohngebäude giebt es in der Stadt und in den Vorstädten 
10,669. Den ersten Platz, was den Anbau der Höfe betrifft, nimmt 
der Schloss-Stadttheil ein, in welchem durchschnittlich 4,79 Gebäude 
überhaupt und 2,91 Wohngebäude auf jeden Hof kommen; in den 
Vorstädten nimmt der Stadttheil Ssolomenka in Hinsicht des An¬ 
baues der Höfe den ersten Platz ein, in welchem auf jeden Hof 
3,46 Gebäude und 1,49 Wohnhäuser kommen. 

Das vorherrschende Material, aus welchem die Häuser gebaut 
sind, ist Holz. Hölzerne Häuser bilden 64,68 pCt., gemischte, d. h. 
aus Holz und Stein, 14,75 pCt., steinerne 12 pCt. und Lehmhütten 
8,57 pCt. 

In der Stadt sind nur in 1,764 Höfen die Gebäude versichert, in 
den Vorstädten in 402; im Ganzen auf 22,908,925 Rbl. Es ergiebt 
sich, dass sehr viele Gebäude nicht verassekurirt sind, in der Stadt 
mehr als */«, in den Vorstädten weniger als *k der ganzen Zahl 
der Höfe. 

In der Stadt liegen nur 490 Höfe (9,11 pCt.) in durchweg gepfla¬ 
sterten Strassen, 1,256 Höfe (23,3 pCt.) an nur in der Mitte ge¬ 
pflasterten, die übrigen aber (67,62 pCt.) an gänzlich ungepfla- 
sterten Strassen. Ueberhaupt kann man sagen, dass mehr als */3 
sämmtlicher Höfe in Kijew an ungepflasterten Strassen liegen, und 
nur l /n an durchweg gepflasterten. 

Was die Wohnungen betrifft, so zählt man derselben in der Stadt 
und in den Vorstädten 21,203 62,297 Zimmern. Auf jeden Hof 

in der Stadt kommen 3,53 Wohnungen, in den Vorstädten aber 
2,23. Bewohner hat jeder Hof in der Stadt 19,96 pCt., in den Vor¬ 
städten 10,46 pCt. Die Durchschnittswohnung in der Stadt enthält 


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357 


3,15 Zimmer, in den Vorstädten aber 2,05. Aus der Gesammtzahl 
der Wohnungen haben 46,73 pCt. auf die Strasse oder in Gärten 
hinausgehende Fenster, 39,19 pCt. aber in den Hof, 14,08 pCt. 
endlich haben Fenster, die in geschlossene Räume (Korridore, Galle- 
rien) hinausgehen, also sowohl Luft als Licht entbehren. 

Interessant sind die Daten in Betreff der Zahl der Oefen: man 
zählte in der Stadt und in den Vorstädten 44,156 Oefen, was durch¬ 
schnittlich etwas über zwei Oefen für jedes Quartier ergiebt und 
ungefähr zwei Oefen für drei Zimmer. 

Diese Zahl der Oefen macht es möglich, den Bedarf an Heiz¬ 
material in Kijew annähernd zu bestimmen. Wenn man als Basis 
der Rechnung die Norm bestimmt, welche vom Gesetz für den 
Verbrauch des Holzbedarfes in der Armee festgesetzt ist, so ergiebt 
es sich, dass der Bedarf an Brennmaterial in den fünf Wintermonaten 
durch 58,875 Kubikfaden Brennholz gedeckt werden kann, in den 
übrigen sieben Sommermonaten, nach derselben Norm, 14,817 Kubik¬ 
faden für die Bereitung der Nahrung erforderlich sein werden. 
Folglich ist der jährliche Bedarf an Holz gleich 73,691 Kubikfaden. 
Wenn man den Durchschnittspreis des Holmes im Jahre 1874 auf 

15 Rbl. 50 Kop. pro Kubikfaden festsetzt, so ist jene Quantität der 
Bevölkerung von Kijew 1,142,210 Rbl. zu stehen gekommen. Um 
diesem jährlichen Bedarf an Brennholz entsprechen zu können, muss 
man jährlich gegen 2,400 Dessjatinen guten Waldes aushauen; um 
demselben aber in 40 Jahren genügen zu können, müsste man offen¬ 
bar nicht weniger als 96,000 Dessjatinen oder 923 Quadratwerst 
eines mit Wald bedeckten Landstriches aushauen. 

Die jährliche Durchschnittszahlung für die Wohnung, bestehend 
aus 4,82 Zimmern, ist 410 Rbl., der durchschnittliche Preis für das 
Zimmer 85 Rbl.; in den Vorstädten kostet die jährliche Miethe einer 
Wohnung aus 2,63 Zimmern 104 Rbl. 38 Kop., des Zimmers aber 
39 Rbl. 35 Kop. Monatswohnungen aus 2,12 Zimmern in der Stadt 
kosten 7 Rbl. 80 Kop., ein Zimmer aber 3 Rbl. 78 Kop.; in den 
Vorstädten kommt eine solche Wohnung aus 1,54 Zimmern 3 Rbl. 
37 Kop. zu stehen. * 

Vom grossem Interesse sind die Angaben in Betreff des jähr¬ 
lichen Preises einer Wohnung für einen Menschen in den verschie¬ 
denen Theilen der Stadt. Wenn man die Zahl der Zimmer in den 
Wohnungen, die am Tage der Zählung bewohnt waren, in Betracht 
zieht, ferner die Zahl der Einwohner beiderlei Geschlechts (mit 
Ausnahme der gratis Wohnenden) und den jährlichen Ertrag einer 
jeden Wohnung, so ergiebt es sich, dass eine Wohnung jedem Woh¬ 
nenden zu stehen kommt: im Schloss-Stadttheil — 71 Rbl., im Alt- 
kijew’schen Stadttheil — 59 Rbl. 22 Kop., im Podol’schen — 37 Rbl. 
31 Kop., im Lybed’schen — 28 Rbl. 95 Kop., im Lukjanow'schen 
Quartal — 14 Rbl. 29 Kop., im Flachen Stadttheil — 14 Rbl. 

16 Kop., im Petscherkischen— 13 Rbl. 80 Rop., im Kurenew*- 
schen — 6 Rbl. 72 Kop. Der jährliche Durchschnittspreis in der 
Stadt beträgt— 22 Rbl. 17 Kop., in den Vorstädten aber 12 Rbl.8oKop. 


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35» 


Was die Zahl der Einwohner betrifft, so zählt man derer inKijew und 
seinen Vorstädten 127,251; in der Stadt allein, ohne Vorstädte, 
116,774, so dass die Bevölkerung in der Stadt 91,77 pCt. oder 
9,177 auf 10,000 Einwohner ausmacht, die Bevölkerung der Vor¬ 
stadt aber 8,23 pCt. oder 823 auf 10,000 Einwohner. 

In Hinsicht des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern in Kijew 
und in seinen Vorstädten finden wir ein bedeutendes Uebergewicht 
auf der Seite der männlichen Bevölkerung; 71,848 männlichen 
Geschlechts und 45,503 weiblichen Geschlechts, d. h. die Männer 
bilden 56,47 pCt., die Frauen aber 43,53 pCt., so dass das Ueber¬ 
gewicht der männlichen Bevölkerung über die weibliche 16,471 be¬ 
trägt, d. h. fast 13 pCt. der Gesammtbevölkerung oder auf 100 
Frauen 130 Männer K 

In dieser Hinsicht stimmen die Daten aus Kijew in bemerkens- 
werther Weise mit denen aus St. Petersburg überein, wo nach der 
Zählung vom 10. December 1869 die männliche Bevölkerung 
56,56 pCt. bildet, die weibliche aber 43,44 pCt. der Gesammtbevöl¬ 
kerung. Das Uebergewicht der Männer über die Frauen ist nament¬ 
lich im Petscherskischen Stadttheil gross, wo auf 100 Frauen 297 
Männer kommen, d. h. wo die Männer 74,84 pCt. und die Frauen 
25,16 pCt. bilden. 

Es ist begreiflich, dass dies bedeutende Uebergewicht der Männer 
über die Frauen hier durch folgende Ursachen bedingt wird: 
a) durch die Concentrirung des Heeres in diesem Theile der Stadt, 
und b) dadurch, dass sich hier das Kloster befindet. Wenn man 
sich diesen Umstand entfernt denkt, so würde das Verhältnis auf 
die für Kijew allgemeine Norm herabsinken. 

Wenn man das Verhältnis der beiden Geschlechter in den verschie¬ 
denen Lebensaltern inBetracht zieht, so ergiebtsich,dass indem Alter 
der vollen Geschlechtsreife — von 20 bis 35 Jahren — dies Ver¬ 
hältnis am meisten unproportionirt ist; so kommen in dem Alter von 
20 bi 25 Jahren auf 100 Frauen fast 200 Männer; im Alter von 
25 bi 30 Jahren auf 100 Frauen — 164 Männer; von 30 bi 35 
Jahren auf 100 Frauen fast 155 Männer, und nur im ersten Lebens¬ 
alter von 1 bis 5 Jahren überwiegt die weibliche Bevölkerung die 
männliche. 

Nach den Ständen vertheilt sich die Bevölkerung folgender- 
massen: erbliche und persönliche Edelleute — 19^693, Welt¬ 
geistliche — 2,883, Mönche — 623, erbliche und persönliche Ehren¬ 
bürger — 1,420, Kaufleute — 4,362, Kleinbürger — 41421, 
Bauern — 22,342, Soldaten, Unterofllciere und deren Fami¬ 
lien — 29,451, Ausländer — 2,449, verschiedene Klassen — 2,607. 

Die erste Stelle nehmen also die Kleinbürger ein, welche fast Vt der 


1 Wir geben die Zahlen, wie wir dieselben im Original vorgefunden haben, obgleich 
sich in denselben offenbar Druckfehler eingeschlichen haben, denn 71,848 Einwohner 
männlichen Geschlechts und 45,503 Einwohner weiblichen Geschlechts ergeben eine 
Gesammtrahl von 117,351 Einwohner und nicht 127,251; ebenso beträgt das Ueber¬ 
gewicht der männlichen Bevölkerung über die weibliche nicht 16,471, sondern 26,345. 


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359 


ganzen Bevölkerung ausmachen; dann folgen die Soldaten mit ihren 
Familien — gegen und dann die Bauern — gegen l /e; überhaupt 
bilden die niederen Stände 8 /* der ganzen Bevölkerung (74 pCt.). 
Wenn man das Verhältniss der verschiedenen Stände in Betracht 
zieht, so ergiebt sich, dass eine Person geistlichen Standes auf 36,29 
Personen der Bevölkerung, 1 Edelmann auf 6,46 Personen, 1 Kauf¬ 
mann auf 29,17 Personen kommt; wenn man jedoch die Geistlichkeit, 
Edel- und Kaufleute zusammenfasst, so kommt 1 Person aus diesen 
Ständen auf 4,62 der Gesammtbevölkerung. Was den Geburtsort 
betrifft, so findet man im Ganzen mehr nicht in Kijew geborene, 
als in Kijew geborene Einwohner ; das Minimum beträgt 53,48 pCt. 
bei den persönlichen Ehrenbürgern, und das Maximum 97 pCt. bei 
der Geistlichkeit. Eine ziemlich beträchtliche Zahl in Kijew geborener 
Einwohner finden wir unter den Kleinbürgern—43,14 pCt., unter 
den Kaufleuten und persönlichen Edelleuten — 28* /* pCt., unter 
den erblichen Ehrenbürgern über 36*/* pCt., unter den Soldaten und 
Unterofficieren über 21 pCt. und unter den erblichen Edelleuten 
über 22 pCt. 

In den Vorstädten finden wir verhältnissmässig mehr in Kijew 
geborene Einwohner, als in der Stadt: in der Stadt 27,93 pCt., in 
den Vorstädten 32,93 pCt., so dass die Vorstädte weit mehr die 
Kijcw'sche Bevölkerung repräsentiren als Kijew selbst. Das 
grösste Kontingent zu den nicht in Kijew geborenen Einwohnern 
stellen die südrussischen Gouvernements, welche 45,52 pCt. geben, 
und mit den eingeborenen Kijewern 73,85 pCt. ausmachen; ein 
bedeutendes Procent bilden auch die Ankömmlinge aus Grossruss¬ 
land (13,28 pCt.), und dann die Westrussen (8,27 pCt.). 

Unter der Zahl der Einwohner, welche das heiratsfähige Alter 
erreicht, finden wir fast 47,100 Verheirathete oder Verwittwete, so 
dass unter den Frauen */& unverheiratet bleibt, unter den Männern 
aber fast l k; dafür bilden aber die Wittwer 735 der ganzen Bevöl¬ 
kerung, die Wittwen aber l /n. 

Was die Sprache betrifft, so gebrauchen 8 /io der Bevölkerung die 
russische Sprache und deren Dialekte, l /io sprechen Hebräisch, 
1 /i5 Polnisch und l /so Deutsch. 

Der literärischen Sprache (?) bedienen sich 49,32 pCt, der klein¬ 
russischen 39,26 pCt., der grossrussischen 9,91 pCt. und der weiss¬ 
russischen 1,51 pCt. 

Zur griechisch-rechtgläubigen Kirche gehören 77,48 pCt., dann 
folgen die Juden— 10,85 pCt., ferner die Katholiken 8,18 pCt., 
die Protestanten 2,15 pCt.; die übrigen Bekenntnisse bilden ein 
ganz unbedeutendes Procent. 

Des Lesens und Schreibens Kundige bilden nur 37,50 pCt.; unter 
den Männern 45,23 pCt., unter den Frauen 27,50 pCt. Das grösste 
pCt. der des Lesens und Schreibens Kundigen finden wir in dem 
Alter von 7—14 Jahren — ein wenig schmeichelhaftes Resultat für 
die Einwohner Kijews. 

Wenn man die Konfessionstabellen und die Tabellen über die des 


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3 &> 


Lesens und Schreibens Kundigen mit einander vergleicht, so findet 
man die Protestanten an erster Stelle (über */*) als die Gebildetsten, 
denen folgen die Katholiken (etwas weniger als 8 /a), ferner die Juden 
( a /§), die Grieschisch-Rechtgläübigen (*//») und die Altgläubigen 
(etwas weniger als */*)• 

Höhere Bildung haben 6,13 pCt. der Bevölkerung erhalten, 
mittlere 20,84 pCt., niedere 18,91 pCt. und Primärunterricht 54, npCt. 
Einwohner, welche höhere und mittlere Bildung empfangen haben, 
giebt es im Ganzen 7,735, d. h. 6,11 pCt. 

Für die einzelnen Stände erhalten wir in dieser Hinsicht folgendes 
Procent: unter den privilegirten Ständen finden wir des Lesens und 
Schreibens Kundige 93,59 pCt. aus der Gesammtzahl der den 
Ständen Zugehörenden, unter den Kaufleuten 85,7 pCt., den Klein¬ 
bürgern 40,20 pCt., den Bauern 34,10 pCt., den Soldaten und 
Unterofficiren 46,70 pCt., den Ausländern 76,14 pCt., unter den 
Uebrigen 37,12 pCt. 

So sind also 60 pCt. der Kijew’schen Kleinbürger und fast 2 /a der 
Bauern des Lesens vollkommen unkundig. 


(Die Bevölkerung des Gouvernements Wladimir in 
den Jahren 1796 — 1874 .) In dem Protokoll der Jahresversamm¬ 
lung des Statistischen Komites des Wladimir'schen Gouvernements 
finden wir folgende Angaben über den Zuwachs der Bevölkerung 
des Gouvernements Wladimir: Die Bevölkerung betrug im Jahre 
1796 gegen 9131073 Einwohner, 

1819 » 1,000,9i4Einw., Zuwachs in 21 J. um 87,838 od. 0,4 pCt. 

1852 » 1,184,586 » » » 35 » » 183,672 » 0,5 » 

1859 » 1,222,599 » » » 7» » 38,013 » 0,4 » 

1868 » 1,239,166 » » » 9» » *6,567 * 0,1 * 

1874 » 1,260,620 » * » 6» » 21,454 * 0,3 »' 


Literaturbericht. 


Bemerkungen tu dem Referat von tV. K. über meine Abhandlung: «La distribution de 
la pression atmospherique dans la Russie d’Europe*. Von M. Rikatscheff\ 

Im ersten Hefte des laufenden Jahrgangs der «Russischen Re¬ 
vue*» ist ein Referat von W. K. über meine Abhandlung «La distri¬ 
bution de la pressisn atmospherique dans la Russie d’Europe» (Re¬ 
pertorium für Meteorologie von H. Wild. V. IV, Nr. 6) erschienen. 


1 Bd. VI. S. 102 —iiq, 


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Da das Referat einige Bemerkungen enthält, welche zu unrichtigen 
Vorstellungen Veranlassung geben könnten, so halte ich es für noth- 
wendig, Einiges auf dieselben zu erwidern und damit die fraglichen 
Punkte klar zu stellen. 

In der erwähnten Arbeit habe ich alle Barometerhöhen auf die 
der Breite von 45 0 entsprechende Schwere reducirt. Hr. W. K. be¬ 
merkt nun dazu: «Diese Reduktion ist streng wissenschaftlich; 
praktisch hat sie keine sehr grosse Bedeutung und ist als neue Fehler¬ 
quelle bedenklich». Es genügt nun meines Erachtens, einen Blick 
auf die Tabelle I meiner Abhandlung (S. 24) zu werfen, um zu er¬ 
kennen, dass diese Korrektion eine sehr bedeutende ist; während sie 
nämlich für Kem + 1,2 Mm. beträgt, ist sie für Lenkoran — 0,4 Mm.; 
die Korrektion variirt also auf dem von mir betrachteten Beobach¬ 
tungsgebiete um 1,6 Mm. Da aber die Differenz zwischen dem 
grössten und kleinsten Normaldruck im ganzen europäischen Russ¬ 
land nicht grösser ist als 7 Mm., so beträgt somit die Korrektion 
wegen der Schwere 23 pCt. des Maximalunterschiedes im Normal¬ 
druck auf der Karte der jährlichen Isobaren. Eine solche Grösse 
kann also jedenfalls nicht als praktisch mibedeutend bezeichnet wer¬ 
den, wie ich übrigens bereits auf S. 11 meiner Abhandlung ausdrück¬ 
lich hervorgöhoben habe. Dass aber diese Korrektion gar als neue 
Fehlerquelle bedenklich sein solle, kann Hrn. W.K. offenbar nicht Ernst 
gewesen sein. Bei einem solchen Raisonnement müsste man ja alle 
Werthe immer unkorrigirt lassen, und z. B. auch das Barometer nicht 
auf o° reduciren, da diese Reduktion jedenfalls verhältnissmässig viel 
grössere Fehlerquellen in sich schliesst, als die Schwere-Korrektion. 
Hr. W.K. hätte mit demselben Recht, wie bei der Schwere-Korrektion 
auch die Anbringung der Reduktion auf o° überhaupt als überflüssig 
bezeichnen können, da die Barometer durchweg in Wohnzimmern 
beobachtet werden, wo die Mittel-Temperaturen vom Norden bis 
zum Süden kaum um mehr als io° differiren, was für die Barometer¬ 
stände nur eine Differenz von 1,2 Mm. in den Reduktionsgrössen 
auf o° bedingt 1 . 


1 Während Hr. W. K. es hier für überflüssig findet, eine ganz sichere Korrektion, die 
zwischen — 0,4 Mm. bis -f- 1,2 Mm. variirt anzubringen, macht er 7 Zeilen früher die 
Bemerkung, dass «für die südlichsten Theile des Reiches, wo die tägliche Periode des 
Barometers stärker sein muss, eine solche Berücksichtigung (Zurückführung der Mittel 
verschiedener Stundenkombinationen auf wahre Mittel) wünschenswerth erscheine». Nun 
haben wir aber ftir das ganze südliche Russland keine einzige Station, für die man den 
täglichen Gang des Barometers kennt, ausser Tiflis im Kaukasus. Für die Kombination 
von 6h, 2h und 10h und von 7h, xh und 9h erhält man aber für Tiflis als grösste Korrek¬ 
tion für einige Wintermonate etwas über 0,1 Mm. Die grösste Korrektion, die man zu¬ 
folge der Bemerkung des Hm. W.K. anzubringen hätte, wäre somit o,2Mm.; wobei zu 
dem noch zu berücksichtigen ist, dass sie, weil nur aus den Beobachtungen des hoch 
gelegenen Tiflis abgeleitet, für alle tiefer gelegenen Stationen als unsicher betrachtet 
werden muss. Dagegen ist zu bemerken, dass jedenfalls die Schwere-Korrektion, nicht 
bloss als die grösste, sondern auch als weitaus die sicherste von allen, die maa gewöhn¬ 
lich bei der Reduktion des Barometers anbringt, anzusehen ist. 

Bum. Beroe. Bd. VII. * . 


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3Ö2 


Den Fehler ferner in der für die Konstruktion der Isobarenkarte 
benutzten Zahl des Barometerstandes in Upsala, auf welchen Hr. 
W. K. hinweist, habe ich schon in einer Anmerkung zu meiner Ab¬ 
handlung im «Repertorium» angegeben, und es sind nur einige Sepa¬ 
rat-Abdrücke meiner Abhandlung ohne diese Bemerkung vertheilt wor¬ 
den.— Hr.W.K. erklärt weiterhin die Uebereinstimmung der Barome¬ 
termittel von Nikolajew und Odessa als ein zufälliges Resultat der 
Verschiedenheit der Jahrgänge und der wahrscheinlich etwas zu hoch 
angenommenen Korrektion in den Jahren 1866—69, weil nämlich die 
absolute Richtigkeit der Resultate für Nikolajew vorausgesetzt , das zu 
Odessa in den letzten Jahren angewandte Barometer eine Korrektion 
von — 0,8 Mm. zu haben scheine. Hierauf habe ich zunächst zu be¬ 
merken, dass allerdings nicht bloss dieses, sondern alle in meiner 
Abhandlung enthaltenen Resultate bloss zufällige geworden wären, 
wenn ich meine Angaben überhaupt auf blossen Schein, auf Wahr¬ 
scheinlichkeiten und unbewiesene Voraussetzungen hätte stützen wol¬ 
len. Der wahre Sachverhalt aber ist der, dass nur für die Jahre 
1870—72 die Korrektion des Barometers in Odessa unbekannt war 
und daher von mir gleich Null angenommen worden ist; die ganze 
für diesen Ort in Rechnung gebrachte Periode umfasst aber 17 Jahre, 
von welchen also nur für 3 die Korrektion unbekannt war, während 
sie für die übrigen 14 Jahre vollkommen bekannt und angebracht 
war; wäre also auch in der That die Korrektion fiir jene 3 Jahre 
statt 0,0, wie ich angenommen habe, 0,8 Mm. gewesen, wie Hr, 
W. K. meint, so würde dies doch im Endresultat nur eine Aenderung 
von etwas über 0,1 Mm. bedingen, somit die Uebereinstimmung 
zwischen den zwei Stationen nicht erheblich beeinträchtigen. Eine 
Verschiedenheit der benutzten Jahrgänge kann aus demselben 
Grunde diese Uebereinstimmung auch nicht zufällig bedingt haben, 
davon 19 benutzten Jahrgängen in Nikolajew und den 17 in Odessa 
14 beiden gemeinschaftlich sind. 

Weiter macht der Referent die Bemerkung, dass ihm die für den 
normalen jährlichen Barometerstand angenommenen Werthe in Staw- 
ropol etc. zu niedrig gegriffen scheinen, und es kommt ihm nicht mo- 
tivirt vor, den hohen Luftdruck der transwolga’schen Steppen von 
jenen des Central-Kaukasus durch einen Streifen niedrigeren Druckes 
in Cis-Kaukasien zu trennen, da hierzu alle Daten fehlen. Hierauf 
haben wir vorerst zu erwidern, dass, wenn wir, wie es Hr. W. K. 
vorschlägt, einen höheren Werth für Cis-Kaukasien angenommen 
hätten, dann eben so gut ein anderer Referent hätte sagen können, 
es sei die Trennung des verhältnissmässig niedrigen Druckes in Niko¬ 
lajew, Odessa etc. von jenem in Lenkoran und Baku unmotivirt. 
Wir glauben aber, dass wir in diesem schwierigen Falle das Einzige 
gethan haben, was man rationell thun konnte. Da für Stawropol und 
seine Umgebungen unmittelbar kein bestimmter absoluter auf das 
Meeresniveau reducirter Werth des Barometerstandes anzugeben 
war, so suchten wir einen wahrscheinlichen Werth dafür aus den Da¬ 
ten der 4 nächsten absolut bestimmten Stationen zu ermitteln, von 


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3Ö3 


welchen Astrachan nach NO, Nikolajew-Odessa 1 nach NW, 
Tiflis und Lenkoran nach SW liegen; Redutkale haben wir dabei 
nicht berücksichtigt, obschon es nahe an Stawropol liegt, weil die 
Isobaren hier eine sehr deutliche lokale Anomalie zeigen (hätten wir 
auch diesen Punkt in Rechnung gezogen, so wäre übrigens der ge¬ 
fundene Barometerstand für Stawropol noch kleiner ausgefallen). Für 
den Mittelpunkt zwischen Nikolajew-Odessa und Astrachan bekom¬ 
men wir den Barometerstand 762A ^ 76 ^° =y62j2. Für den Mittel¬ 
punkt zwischen Lenkoran und Tiflis haben wir 763,05. Stawropol 
liegt aber sehr nahe auf der Linie, welche diese zwei Mittelpunkte 
verbindet, und so findet man durch leneare Interpolation für dasselbe 
den Werth: 762.8. — Immerhin bleibt dieser Werth und damit der 
betreffende Theil der Isoboren unsicher, was wir übrigens auch auf 
unserer Karte durch Punktiren desselben angedeutet haben. 

Am Ende seines Referats führt Hr. W. K. noch die Sätze auf, 
welche ich als Resultat meiner Arbeit am Schlüsse derselben zusam¬ 
mengestellt habe, und macht dann gegen Satz 3—5 Einwendungen, 
welche sich eigentlich genauer auf folgende Stelle meiner Abhand¬ 
lung beziehen. Auf S. 53 derselben sagte ich nämlich, dass man, 
wenn sogar die Spannkraft der Dämpfe von dem Barometerstand 
abgezogen, also nur der Druck der trockenen Luft betrachtet werde, 
immer noch das unerwartete Resultat finde, es entspreche der kal¬ 
ten Luft im Norden ein kleinerer Druck, als der warmen im Süden. 
Hr. W. K. bemerkt nun hierzu, dass man nach den Untersuchungen 
von Larnont und Hann beim Abzug der Spannkraft des Wasser¬ 
dampfes vom Barometerstand nach der Dalton’schen Annahme 
(einer unabhängigen Wasserdampf-Atmosphäre) das Gewicht dieser 
Wasserdämpfe 4 l /s Mal grösser setze, als es wirklich sei. «Wir kön¬ 
nen uns danach», fährt der Referent fort, «nicht wundern, wenn 
Hr. Rikatscheff findet, dass nach Substraktion der Wasser¬ 
dampfspannung vom Barometerstände die Differenz, also der soge¬ 
nannte Druck der trockenen Luft, nicht seiner Erwartung entspricht, 
wonach dieser Rest in einem umgekehrten Verhältnisse zur Höhe 
der Temperatur stehen müsste». Wir aber, und ich denke auch der 
Leser des Vorigen, müssen uns wundern, wie Hr. W. K. aus dem 
Obigen diesen Schluss hat ziehen können. Hätte ich nämlich, wie 
Hr. W. K. zufolge den Untersuchungen von Larnont und Hann es 
zu fordern scheint, nicht die ganze Wasserdampfspannung, sondern 
bloss 7 » derselben von den Barometerständen abgezogen, so würde 
ja offenbar der Druck der trockenen Luft im Norden gegenüber dem 
im Süden verhältnissmässig noch kleiner geworden sein, also noch 
weniger meiner Erwartung, dass er der Temperatur umgekehrt pro¬ 
portional sei, entsprochen haben. 


4 Nikolajew und Odessa liegen so nahe, dass wir immer den Mittelwerth aus den 
Barometerständen für beide Orte benutzt haben. 


24» 


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364 


Am Schlüsse bemerkt endlich noch Hr. W. K.: «In der Dar¬ 
stellung unseres Autors müssen wir indessen auch noch gegen 
eine Ausdrucksweise protestiren; welche derselbe allerdings mit vie¬ 
len Anderen, speciell auch mit Prof. Dave, gemein hat, welche aber 
zu schweren Missverständnissen Anlass geben kann* Er stellt näm¬ 
lich stets dem Druck der trockenen Luft die Elasticität der Wasser - 
dämpfe gegenüber. In beiden Fällen handelt es sich um einen Druck, 
welcher direkt erzeugt ist, nicht durch die Spannkraft der betreffen¬ 
den Gase, sondern durch deren Gewicht; die Spannkraft wächst nun 
zwar, bei gleichbleibender Temperatur, dem Druck proportional, in¬ 
dessen hängt sie auch von der Temperatur ab; der Druck der At¬ 
mosphäre steht aber in keiner direkten Abhängigkeit von deren Tem¬ 
peratur, sondern nur von dem Gewichte, resp. der Masse der Luft, 
und nach Dalton würde eben dieses selbe für die einzelnen Bestand¬ 
teile der Luft gelten». 

Hierzu haben wir zu bemerken, dass bekanntlich Druck, Spann¬ 
kraft, Elasticität, Expansivkraft der Gase nur verschiedene Bezeich¬ 
nungsweisen einer und derselben Eigenschaft derselben sind, und 
man daher streng genommen nicht sagen kann «der Druck wird 
durch die Spannkraft erzeugt», oder «die Spannkraft wächst mit dem 
Druck». Der Druck oder die Spannkraft eines permanenten Gases 
nimmt vielmehr nach dem Mariotte'schen Gesetze proportional mit 
seiner Dichtigkeit zu, und zwar gleichviel, ob die grössere Dichtig¬ 
keit durch Kompression des Gases in einem Cylinder, etwa vermit¬ 
telst eines herabgedrückten Kolbens oder in der freien Atmosphäre 
durch Kompression in Folge des Gewichts der darüber lastenden 
Luftschichten erzeugt wird. Die Zunahme des Druckes oder der 
Spannkraft eines Gases mit der Temperatur nach dem Gay Lüssac- 
schen Gesetz aber bezieht sich bekanntlich nur auf ein abgeschlosse¬ 
nes Gasvolumen und ebenso gilt auch nur für ein Solches, dass das 
Gewicht unabhängig ist von der Temperatur; in der freien Atmosphäre, 
wo eine ungehinderte Ausdehnung stattfinden kann, können daher 
selbstverständlich die letzteren Gesetze im Allgemeinen nicht in Be¬ 
tracht kommen. Diese Verhältnisse scheinen uns so einfach und 
klar, dass wir mit dem besten Willen nicht einsehen können, wie sie 
zu schweren Missverständnissen führen können. Wohl aber fürchten 
wir, dass die obige Darstellungsweise dieser Verhältnisse durch Hrn. 
W. K. geeignet sein dürfte, solche Missverständnisse bei Laien zu 
erzeugen, und glaubten daher ganz besonders für die Leser dieser 
Zeitschrift eine kurze Rektifikation auch dieses Punktes geboten. 

M. Rikatscheff. 


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Eapettcxax XpacrovaTÜi, ct» cfcun>iraxa Ha rpaMManucy TeaeHiyca ■ rjiaccapiem» eupef 
cxo-pyccnun», cocraaneHHaa npo*eccopon» JC. Koccoeunems. 

Hebräische Chrestomathie mit Verweisungen auf die Gesenras’schef (und Ewald’sche) 
Grammatik, nebst einem hebräisch-russischen Glossar, von Professor C. Kosso- 
wic %. St Petersburg 1875, XVI -|- 362. 8°. 

Im IV. Bande (S. 283—4) dieser Zeitschrift (Jahrg. 1874) wurde 
die russische Bearbeitung der hebräischen Grammatik von Gesenius- 
Rödiger kurz besprochen. Als nothwendige Ergänzung zu jener 
Grammatik ist jetzt vom Professor Kossowicz die unter obigem Titel 
angeführte Chrestomathie erschienen. Die Wahl der Texte der hei¬ 
ligen Schrift für das Lesebuch, welche Wahl theils nach den Chre¬ 
stomathien von Heiligstedt und Brückner, theils aber auch selbst¬ 
ständig stattgefunden hat, ist eine sehr gelungene. So eignet sich 
unter den neu hinzugekommenen Lesestücken z. B. das Gebet König 
Salomo's (I. Könige, Cap. VIII; Chrestom. p. 113—127), welches 
von einem solch erhabenen allgemein-menschlichen Standpunkte 
geschrieben ist, wie nur selten Aehnliches im Alten Testament vor¬ 
kommt, ganz vortrefflich zur Lectüre in den geistlichen Seminarien, 
für welche das Buch zunächst bestimmt ist. Die die Lesestücken 
begleitenden Anmerkungen sind sachgemäss und halten sich in der 
Mitte zwischen trockener grammatischer Analyse und weitschwei¬ 
figen homiletischen und theologischen Auslassungen. In dem Glossar 
verfolgt der Verf. dieselbe Methode, welche er hin und wieder auch 
in der Grammatik angewandt hat; er hebt nämlich sehr oft die 
Verwandtschaft der hebräischen (semitischen) und arischen (indo¬ 
germanischen), speciell noch der slavischen Wurzel hervor. Im 
Laufe des XVI.—XVIII. Jahrh. herrschte bei vielen Sprachgelehrten 
die irrige Meinung, als sei die hebräische Sprache die Urquelle 
aller Sprachen der Erde *. Natürlich musste auch das Slavische 
dasselbe Schicksaltheilen; so z. B. versuchte Frenzei im XVII. Jahrh. 
das Slavische vom Hebräischen abzuleiten 2 . Dasselbe that der 
bekannte russische Schriftsteller Tredjakowski im XVIII. Jahrh. 
Auch unser Jahrhundert hat zwei solcher Versuche aufzuweisen: 
vom Censor Wolf Tugendhold in Wilna 8 und von S. Rosenberg , der 
kürzlich diesen Gegenstand in einem hebräischen Werkchen be¬ 
rührte. Eine andere semitische Sprache, die chaldäische (aramäi¬ 
sche), wurde ganz mit der Slavischen identificirt, ebenso wie die 
Chaldäer selbst zu Slaven gemacht wurden, und zwar von keinem 
Anderen als dem berühmten Orientalisten und Professor zu Göttingen 


1 Theodor Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. München 1869. 
p. 229, 244, 290 f. 

* A. Frenzei, De originibus linguae Sorabicae ex Hebraea illustratae. Bautzen 1693, 4°, 

* Semitische Nachklänge in den slavischen Sprachen. Wilna 1848, 4*. 


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366 


Johann David Michaelis , gegen den sich Schtözer erhob in seiner 
Abhandlung über die Chaldäer (im VIII. Bande des «Repertoriums 
für biblische und morgenländische Literatur», von Eichhorn, 1781). 
Die Auseinandersetzung Michaelis’, wie er zu dem in seinem Spici - 
legium geographiae Hebraeorutn exterae ausgesprochenen Satze: « Die 
Sprache der Chaldäer war slavonisch und die Chaldäer waren 
Slaven» gekommen ist, dürfte interessant sein für den Zustand der 
Kenntniss des Slavischen in Europa in der zweiten Hälfte des XVTO. 
Jahrh.; wir führen sie daher an in extenso (mit Beibehaltung der Or¬ 
thographie) : 

«Ich fragte nehmlich andere Gelehrte», erzählt Michaelis f , 
«zu welcher Sprache ihnen die nomina propria Nebucadnezar, 
Schessbazar u. s. f. zu gehören schienen? Der erste Hr. Prof. 
Büttner, hielt es für Slavisch, und gab von Nebucadnezar aus 
dem Slavischen eine Derivation (ob richtig, oder unrichtig, darüber 
kann ich, weil ich kein Slavisch verstehe, nicht urtheilen). Ich fragte 
den Fürsten Czartorinsky [sic], der mir erlaubet, auch in gelehrten 
Sachen an ihn zu schreiben, und der sehr viel Einsichten hat: hier 
fragte ich ihn eigentlich als einen, dessen Muttersprache die Polni¬ 
sche, ein Dialect der Slavischen ist. Seine Antwort war viel zwei¬ 
felhafter, ob er gleich von Nebucadnezar sagte, es könnte aus dem 
Slavischen erklärt werden, nur stimmte seine Erklärung mit der 
vorigen nicht völlig überein. Dis Urtheil machte mich behutsamer, 
als ich vielleicht sonst gewesen seyn möchte: ich protestirte (S. 91 
und 94 des Spicilegit) ich erzähle blos was andere gesagt hätten, 
da ich selbst kein Slavisch verstände, nur müsste man, (S. 92) wenn 
man allenfalls die Sprache für Slavisch halte, bey der grossen Zu¬ 
sammenkunft mehrerer Sprachen auf einem dort bemerkten Asiati¬ 
schen Gebürge, Wörter, die aus fremden Sprachen wieder in das 
Slavische gekommen sein könnten, nicht ausschliessen. Die letzte 
hatte sonderlich seine Beziehung darauf, dass ich klar im Chaldäi- 
schen Daniels Wörter fand, die im Armenischen und Persischen Vor¬ 
kommen. Hiezu kam noch, dass gebohrne Ungarn, die damahls den 
Daniel bey mir hörten, die Wörter Sarblan und Hadabraja in der 
Ungrischen Sprache fanden, aber auch in der Slavonischen, und sie 
könnten nicht ausmachen, welche Sprache sie von der andern be¬ 
kommen hatte, denn beide Völker wohnen in Ungarn beysammen, 
und haben hiedurch viel Wörter von einander angenommen, und 
gemein. Auch auf diesen Umstand sähe ich, enthielt mich des ent¬ 
scheidenden Tons, und redete in dem mir so natürlichen zweifelnden, 
Auch den berühmten Weltumsegler und Kenner so vieler Länder, 
in denen Slavisch geredet wird, Hm. Förster, fragte ich: dieser 
war. ganz für die Slaven, und S. 95 — 103 liess ich seinen Brief ab- 
drucken. Gegen diese Meinung ist nun Hm. Schlözer’s Schrift 
haupsächlich gerichtet, und hier werde ich, nicht als Parthey, 


4 Orientalische und exegetische Bibliothek von Johann David Michaelis, XVII. 
Theil, Frankfurt am Main 1781, p. 71- 73, 83—86. 



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367 


sondern als Beystehender und* Zuschauer recensiren können: ur- 
theilen? das wäre mir wol wegen Unkunde der Slavischen Geschichte 
nicht möglich, denn auf die älteste Wohnung dieses Volks kommt 
hier alles an, ob es aus Asien, aus Gegenden am schwarzen Meer, 
nach Europa gezogen ist, oder zuerst und ursprünglich im östlichen 
Deutschland gewohnt, und sich von da aus in spätem Zeiten gegen 
Osten ausgebreitet hat. Aber nun kommt es auf die Gegend an, in 
denen die Chaldäer zuerst gewohnt haben, ehe sie in südlichere 
Länder ausbrachen» u. s. w, u. s.. w. 

«Die letzte Frage, die mich nun eigentlich nicht angehet, wirft 
Hr. Schlözer mit den Worten auf: ob Nebucadnezar ein Wende 
gewesen. Er ist sehr gegen den Satz, dass die Chaldäer ein Sla- 
visches Volk seyn, und ihre Spräche Slavisch. Die aus wenigen etwan 
auch in der Slavisöhen Sprache befindlichen Wörtern, oder nomtnibus 
propriis , genommenen Beweise, hält er nicht für hinlänglich, und so 
kamen sie mir auch vor, darum erzählte ich im Spicilegio was an¬ 
dere gesagt hatten, zweifelhaft. Die Wörter, deren Aehnlichkeit 
mir am stärksten auffiel, hatte die Slavonische Sprache mit der 
Ungrischen gemein, sie bewiesen also nichts mehr für die Slavische 
als für die Ungrische. Aber der Hauptgrund der Abneigung des 
Hrn. Prof. Schlözer gegen eine Slavische Sprache der Chaldäer, 
um dessen willen er gerade diese allein abweiset, ist historisch: er 
glaubt nicht, dass die Slaven aus Asien gekommen sind, wie manche 
annehmen, sondern sie sind ihm ein ächt-Europäisches Volk, dessen 
ältester Sitz Ost-Deutschland jenseits der Elbe war, von der Ostsee 
fast bis zum Adriatischen Meer: und von diesem haben sie sich 
nachher so weit gegen Osten ausgebreitet. Hier bin ich nun in der 
Slavischen Geschichte, die eine weitläufige Lecture erfordert, viel 
zu unbewandert, als dass ich urtheilen könnte, bis wir von Hrn. 
Schlözer eine Slavische Geschichte haben, von der wirklich etwas 
schon gedruckt ist*. 

«Das Golius und Pococke das, sonderlich bei Abulfaragio häufig 
vorkommende Siklab (d. i. Slaven) durch Chalybes übersetzen, wo¬ 
durch vielleicht einige bewogen seyn oder werden könnten, das 
Vaterland der Scythen am Osten des Schwarzen Meeres zu suchen, 
erinnert Hr. Schl., S. 37, 38, 60, erklärt es aber für einen Fehler, 
weil an allen den Stellen, die er in Abulfaragius nachgeschlagen 
habe, das Volk wahre Slaven, sonderlich Russen, oder doch 
Scythen bedeute. Allerdings ist es sehr zweifelhaft, ob Siklab je 
Chalybes bedeutete, und an den meisten Orten ist diese Ueber- 
setzung gewiss falsch; eben darum habe ich mich in meiner Ab¬ 
handlung von den Chaldäern nirgends darauf berufen: allein so 
ganz gewiss kann ich doch dem Worte die Bedeutung nicht ab- 
sprechen, bis wir den Arabischen Geuhari 1 haben. Aus dem nahm 
oder übersetzte Golius sein Wörterbuch ordentlich: wenn er nun 


4 Dschauhari, Verfasser eines geschätzten arabischen Lexicons unter dem Titel Sihah* 


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schreibt Siklab Chalybes, gens scythica; pec. septentrionalis. Slavi, 
Russi et similes (man merke also, er leugnet die übrigen Bedeu- 
tungen nicht), so fragt sich, hat er auch das erste, Chalybes, aus 
Geuhari? und was stand da im Arabischen?». 

«Aber die erinnert mich doch an einer Stelle Abulfaragii, die 
Hr. Prof. Schlözer übersehen zu haben scheint, und die man ge¬ 
rade zu für den Satz, die Chaldäer sind Slawen, anführen könnte. 
S. 67 schreibt er, zur Zeit Manassis hätten die Slawen über Palästina 
gehirr sehet l . Kann man hier an andere als Chaldäer denken? ist 
diese Stelle nicht entscheidend für den Satz, den Hr. Schl, be¬ 
streitet? -Meiner Meinung nach nicht; denn wenn auch hier 

von den Chaldäern die Rede ist, so nennet sie Abulfaragius nur 
darum Slaven, weil sie vom Norden, der zu seiner Zeit der Sitz der 
Slaven war, kamen, nicht weil er etwan aus Nachrichten wusste, 
sie seyn vom Slavischen Stamm. Ueberhaupt hört dieser grosse 
Mann, wie schon S. 80 gesagt ist, auf, zuverlässig zu seyn, wenn er 
von der Abstammung auswärtiger Völker redet, z. E. Ketura, 
Abrahams Frau, ntacht er zur Türkin, die Römer zu Aleman- 
niern u. s. f.» 

Abgesehen von all diesen halbwissenschaftlichen oder ganz un¬ 
wissenschaftlichen Arbeiten haben auch in neuerer Zeit mehrere 
Philologen von Fach der Frage über die Verwandtschaft der semi¬ 
tischen und arischen Sprachen ihre ernste Aufmerksamkeit ge¬ 
widmet. Wir nennen hier Julius Fürst, Franz Delitzsch , Lagarde, 
Olshausen, Ewald, Lepsius , Bunsen, Lassen , Max Müller, Ascoli, 
Rudolph von Raumer , Steinthal und Benfey, welche mehr oder 
weniger für die Verwandtschaft sind, Pott, Renan, Nöldeke,Schleicher 
und Fr. Müller, die gegen jene Verwandtschaft auftreten. Im Jahre 
1873 noch beschäftigten sich mit dieser Frage Grill 2 und weit ein¬ 
gehender und gründlicher Friedrich Delitzsch*, welche beide, insbe- 
sonders Letzterer, sich für die Verwandtschaft aussprechen. Speciell 
für das Slavische, soviel uns bekannt ist, sind in neuerer Zeit keine 
Vergleiche angestellt worden. Wie wichtig aber unter den euro¬ 
päischen Sprachen gerade das Slavische, namentlich dass Russische, 
in dieser Beziehung ist, zeigen die Worte eines bekannten Sprach¬ 
forschers: «Die Slaven stehen in ihrem wichtigsten Repräsentanten 
— den Russen — in einem der wesentlichsten Zweige oder vielmehr 
der Grundlage der Kulturentwickelung, in der Sprache — sogar fast 


1 Nicht ganz genau, im arabischen Texte heisst es: die Slaven herrschten bis tum 
Lande Palästina. 

* Ueber das Verhältnis der indogermanischen und der semitischen Sprachwurzeln 
in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft, Band XXVII. 1873, 
p. 425-460. 

9 Studien über indogermanisch-semitische Wurzelforschung. Leipzig 1873. Nach 
dem Fürsten Wjasemskij ( 3 airfe'iaHifl Ha Cüobo o nojixy Hroperfc, St Petersburg 1875, 
p. 352) soll sich jetzt der ru^sis^e Bischof Porphyrius ebenfalls mit dieser Frage be¬ 
schäftigen. 


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noch auf der Stufe desSanskrit» *. Es ist also höchst wünscheftswerth, 
dass ein gründlicher Kenner des Slavischen, weil selbst Slave, wie 
Prof. Kossowicz, diese Frage gründlich untersuche. Freilich konnte 
in dem Glossar zur Chrestomathie nur ein kleiner Theil dieser Ver¬ 
gleichungen nachgewiesen werden. Wollen wir hoffen, dass in 
der Bearbeitung eines grossen hebräisch-russischen Wörterbuches 
der Verf. diesem höchst interessanten Thema einen weit ausge¬ 
dehnteren Raum gönnen wird. Die russische geistliche Synode, in 
deren Auftrag Hr. Prof. Kossowicz die hebräische Grammatik und 
die Chrestomathie ausgearbeitet hat, würde sich durch den fernem 
Auftrag an denselben Gelehrten, auch ein Wörterbuch nach der¬ 
selben Methode auszuarbeiten, nicht nur um die vaterländische Lite¬ 
ratur, sondern auch um die allgemeine Sprachwissenschaft ein 
grosses Verdienst erwerben. A. H. 


Hosea et Joel Prophetae, ad fidem codicis Babylonici Petropolitani edidit Hermanns 
Strack . Petropoli MDCCCLXXV (Lipsiae, I. C. Hinrichs), photo-lithographirt 
in Querfolio. (Pieis8Mark). 

Der im vorigen Jahre verstorbene Karäer Abraham Firkawitsch 
fand im Jahre 1839 in Tschufut-Kale einen hebräischen Codex der 
letzten Propheten, der sogleich die besondere Aufmerksamkeit der 
Fachmänner auf sich lenkte, und ungeachtet der verschiedenen mehr 
oder minder ausführlichen Mittheilungen aus dem Texte* und über 
den wissenschaftlichen Werth des Codex 8 war das Interesse und die 
Wissbegier der Gelehrten eher gesteigert als zufriedengestellt. Der 
Codex ist wirklich der bedeutendste Fund, den man seit Jahrhunder¬ 
ten auf dem Gebiete der alttestamentlichen Textkritik und der he¬ 
bräischen Grammatik gemacht hat. Wir berühren hier die Haupt¬ 
punkte seiner Bedeutung. Aus der Masora (textkritischen Noten 
zum Alten Testament) wusste man, dass die Juden zwei verschiedene 
Redaktionen des Alten Testamentes einst hatten, von denen die Eine 
den Ostländern (Babyloniern), die Andere den Westländern (Palästi¬ 
nensern) gehörte; aber in der gelehrten Welt war bis jetzt bloss die 
letztere Redaktion, die palästinische, genau bekannt, denn alle Ma- 
nuscripte der Bibel, welche man in Europa besass, hatten nur die 
Lesearten der westländischen Redaktion. Der von Firkowitsch ge¬ 
fundene Codex stellte uns zum ersten Male einen biblischen Text 


1 Benfey, Orient und Occident, Band I, p. 4. 

* Die bedeutendste Mittheilung aus dem Texte war bis jetzt das lithographirte Facsi- 
mile vom Propheten Habakuk bei Pinner, Prospectus der der Odessaer Gesellschaft ge¬ 
hörenden Manuscripte, Odessa 1845, 4 0 . 

* Am Ausführlichsten von Pinsker, Einleitung in das babylonisch-hebräische Punk¬ 
tationssystem, Wien 1863, 8°. 


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3 70 


dar, welcher nach der ostländischen (babylonischen) Redaktion ge¬ 
schrieben ist: Grund genug, um hohes Interesse bei Theologen und 
Exegeten zu erregen! Auch die masoretischen (textkritischen) Be¬ 
merkungen am Rande dieses Codex bieten dem Specialisten sehr 
viel des Belehrenden und Interessanten. Die Fachgelehrten, welche 
sich speciell mit der hebräischen Grammatik befassen, wurden aber 
noch mehr überrascht, als in diesem Codex sich ihnen ein neues 
Punktations- und Accentationssystem des Hebräischen vorstellte, 
von dem sie bis dahin gar keine Ahnung hatten, indem das neue 
System von dem bisher bekannten schon äusserlich sich dadurch 
unterscheidet, dass die Vokalzeichen und die Accente über den Kon¬ 
sonanten statt unter denselben stehen. Zweimal streifte die euro¬ 
päische Gelehrsamkeit dem neuen Punktations- und Accentations¬ 
system hart vorbei, aber ohne es zu entdecken. Das erste Mal in 
dem Berichte des französischen Missionärs, des Paters Gaubil, über 
die chinesischen Juden in Kai-fung-fu, wo es heisst, dass der Pater 
bei jenen Juden ein Exemplar des Pentateuchs zu sehen bekam, das 
man ihm vorhin geheim gehalten hatte: unter den Buchstaben soll 
nichts gestanden haben, über ihnen aber Punkte und Accente, die 
der Pater sonst nie gesehen hatte 1 . Da die Sache bis dahin uner¬ 
hört und desshalb unglaublich war, so suchte Johann David Michae¬ 
lis die sonderbare Nachricht dahin zu erklären, dass Gaubil bloss die 
sogenannten Taggin (coronulae), welche die Juden über gewisse Buch¬ 
staben setzen, gesehen habe*. Derselben Meinung folgte auch 
Johann Gottfried'Eichhorn # . Die zweite Nachricht fand der bekannte 
italienische Bibelkritiker De-Rossi in einem Epigraph des Codex Nr. 
12 seiner Sammlung hebräischer Handschriften, welche in der latei¬ 
nischen Uebersetzung lautet: «Targum hoc cum punctis suis.de- 
scriptum est ex codice, qui allatus est e regione Babylonis, et puncta 
supeme habebat regionis Assyriacae. Mutavit autem illa R. Nathan 
fil. R. Machir .... correxitque illum et disposuit ad punctationem 
Tiberiensem» 4 . Aber, wie gesagt, es fehlte der Schlüssel zum Ver¬ 
ständnis solcher Nachrichten, und daher war der in der Krim ge¬ 
machte Fund eine wahre Entdeckung. Und da der neuentdeckte 
Codex fast auf jeder Seite wie für die Textkritik, so auch für die 
Grammatik des Belehrenden viel bietet 5 , so war natürlich mit Ex- 


* Lettres Idifiantes et curieuses 6crites des Missions Itrang&res par quelques Missio- 
naires de la Compagnie de J6sus. T. XXXI. Paris 1744, p- 357 * 

9 J. D. Michaelis, Orientalische und,exegetische Bibliothek, Theil IX. Frankfurt am 
Main 1775, p. 43. 

* Eichhorn, Einleitung in das Alte Testament. 4. Ausgabe. Band. U. Göttingen 
1823, pag. 580. 

* Mss. Codices Hebraici Biblioth. J. B. De-Rossi, vol. I, Parmae 1803, p. 8, coL 2. 
Das hebräische Original dieses Epigraphs ist von Luzzatto mitgetheilt worden in Polak’s 
Oesterscfu Wandclingen^ Amsterdam 1846, p. 24, und danach bei Pmsker , Einleitung 
p. 1 (wo fehlerhaft 42, statt 24). 

* Die neuentdeckte Punktation unterscheidet sich von der bisher bekannten nicht 
bloss durch die äussere Form, sondern auch durch die innere Structur, so s. B. fehlt da 
der Segol (E-Laut) u. dgl. 


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37i 


cerpten und Bruchstücken nichts geholfen, es musste der ganze Co¬ 
dex diplomatisch genau edirt werden. Daher wurde in gelehrten 
Kreisen freudig die Nachricht begrüsst, dass auf Vorstellung des 
Direktors der Kaiserlichen Oeffentlichen Bibliothek, Hm. J. Delja - 
nozu, und des Adjunkt-Direktors, Hrn. A. Bytschkow , Se. Kaiserliche 
Majestät eine genügende Summe für die facsimilirte Herstellung 
dieses Codex bewilligt hat. Diese Herstellung wurde anvertraut der 
Leitung des Hrn. Dr. Hermann Strack aus Berlin, eines Gelehrten, 
welcher sich durch seine Schrift Prolegotnena critica in Vetus Testa - 
tnentum Hebraicum (Lipsiae 1873) vortheilhaft bekannt gemacht. 
«Die gründliche Sachkenntnis (heisst es in den Theologischen Stu¬ 
dien und Kritiken von Riehm , Jahrg. 1874, p. 192) und gewissenhafte 
Genauigkeit, mit welcher in dieser Schrift ein umfassendes Material 
revidirt ist, lässt ihn (den Dr. Str.) als den rechten Mann erscheinen, 
um jene Schätze für die Wissenschaft zu heben» l . 

Die photo-lithographirte Ausgabe, von der nun ein Theil uns vor¬ 
liegt, und die in kurzer Frist, wie der Editor in einem Nachworte 
meldet, ganz erscheinen wird, erforderte zu der gründlichen Sach¬ 
kenntnis und der gewissenhaften Genauigkeit noch eine riesige Ge¬ 
duld und Ausdauer. Man bedenke, dass auf jedem der 224 Perga¬ 
mentblätter des Codex, abgesehen von den Buchstaben, mehrere 
Hunderte von Pünktchen und verschiedenartigsten Strichlein in den 
verschiedensten Stellungen zu einander und den Buchstaben sich be¬ 
finden j alle diese mussten genau untersucht werden, ob sie ursprüng¬ 
lich, wegkorrigirt oder hineinkorrigirt waren, in letztem Falle, ob 
von erster oder späterer Hand, und dann erst musste für die genaue 
Wiedergabe und deutliche Bezeichnung dieser Verhältnisse in der 
Photo-Lithographie gesorgt werden. Wir können nun versichern, 
dass dies Alles von Hrn. Dr. Strack aufs Glänzendste vollführt wor¬ 
den ist, so dass diese Ausgabe ebenso zur Ehre der sie veranlassen¬ 
den Behörde der Kaiserlichen Oeffentlichen Bibliothek, wie zu der 
des geehrten Editors selbst gereichen wird. 

Die Sonder-Abzüge der beiden genannten Propheten sind im In- . 
teresse der Gelehrten veranstaltet worden, denen die Anschaffung 
des ganzen splendid ausgestatteten Codex nicht gut möglich sein 
sollte. Der Editor hat daher im Nachworte eine kurze Auseinander¬ 
setzung des neuen Punktations- und Accentationssystems zur Orien- 
tirung beigegeben. A. J. 


1 Vgl. auch die Bemerkungen von A . Geiger in der Zeitschrift der deut. morgenl. 
Gesellschaft, Bd. XXVIII, 1874, p. 148 f., 487 f., 675 f. 


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372 


Revue Russischer Zeitschriften 


Journal des Ministeriums der Volksaufklärung. (Journal minister- 
stwa narodnawo prosweschtschenija — )KypHajn> MmmcTepcTBa 
HapOÄHarO IIpOCB'femeHiR). August 1875. Inhalt: 

Auszug aus dem allerunterthänigsten Bericht des Hr. Ministers der Volks-Aufklä¬ 
rung fiir das Jahr 1873. — Regierungsverordnungen. — Der Kampf zwischen den Ver¬ 
tretern der grossrussischen und der Ideinrussischen Richtung in Grossrussland am Ende 
des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts Von S. Ljubimow. — Der heilige Synod 
und seine Beziehungen zu den andern Reichsinstitutionen in der Zeit Peter’s I. Von 
N. Wostokow. — Die Sophienkasse in Nowgorod. Von E. Prileschajew. — Ueber 
eine slavische Handschrift in der öffentlichen Bibliothek zu Parma. Von Th. Buss- 
lajew. — Kritik und Bibliographie: Vollständiger Kurs der kaufmännischen Buchhal¬ 
tung von P. I. Reinbott. Angezeigt v. W. T-rg. — Theorie der Rechnungsführung 
beim Handel nach einem neuen System Von Th. Jeserskij . Angezeigt von demselben .— 
Bericht über die Kaiserliche öffentliche Bibliothek im Jahre 1873, erstattet vom Direk¬ 
tor /. Deljanow. — Index zum Marinejournal (Mopcroft CöopHuxi») von 1848 — 1872, 
von /. Petrow. — Eins unserer süddeutschen Gymnasien. Von Direktor K. v. Schmid .— 
Auszug aus dem Jahresbericht des Nikolai-Hauptobservatoriums. — Nachrichten Über 
die Thätigkeit und den Zustand unserer Lehranstalten: a) das historisch-philologische 
Institut — Rede beim Schlussakte des Kaiserlichen historisch-philologischen Instituts. 
Von A. Snamenskij . — Ueber die Reifeprüfungen im Jahre 1874. — Brief aas Paris. 
Von L-L-r. — Abtheilung für klassische Philologie: Zur Frage über die allmähliche 
Entwickelung der Wunschformen im Lateinischen. Von /. Zujetajew . — Bemerkung 
zu Caes. B. G. VIL Von /. Meier . — Kritische Bemerkung zu Cic. Tusc. 2. in. Von 
R. Voigt . — Ueber die Lektüre des Cornelius Nepos in der dritten Gymnasialklasse. 
Von /. Meier. — Bibliographie: Callimachea edidit Otto Schneider. Angezeigt von 
M. — Fasti Censorii quos composiut et commentariis instruxit Carolus de Boor. Ange¬ 
zeigt von M. 


-September 1875. Inhalt: 

Auszug aus dem allerunterthänigsten Bericht des Hr. Ministers der Volksaufklärung 
für das Jahr 1873. — Regierungsverordnungen. — Iwan Possoschkow. Von A. Bruck¬ 
ner . — Der Kampf zwischen den Vertretern der grossrussischen und der kleinrussischen 
Richtung in Grossrussland am Ende des 17. und am Anfänge des 18. Jahrhunderts. 
Von S. ljubimow. — Eins von unsern süddeutschen Gymnasien. Von Direktor K. v, 
Schmid. — Der erste Kongress der russischen Juristen in Moskau. — Nachrichten über 
die Thätigkeit und den Zustand unserer Lehranstalten: a) Universitäten; b) niedere 
Schulen. — Abtheilung fiir klassische Philologie: Zur Frage über die allmähliche Ent¬ 
wicklung der Wunschformen im Lateinischen. Von /. Zujetajew. - Ueber die Anwen¬ 
dung der Resultate der vergleichenden Sprachwissenschaft auf den Unterricht in der 
Grammatik der alten Sprachen. Von F. Gelbke . 


«Das alte Russland» (Russkaja Starina — Pycocaa OrapHHa). — 

Herausgegeben und redigirt von M. J. SsemewskiJ . Sechster Jahrgang. Heft IX. 
September 1875. Inhalt: 


M. J. Lermontow: i)Der Maskenball. Drama in fünf Acten, nach nicht veröffent¬ 
lichten Handschriften. Von P L Jcfrcmow . 2) Skizzen, Gedichte und Briefe Lermon- 
tow's aus den Jahren 1831 —1841. Von P . A . Jefremow. 3) Erinnerungen an Lermon¬ 
tow. Von y. y. Kostenetxky. 4) Bemerkungen zu den Portraits Lermontow’s. Von 
P.A. ye/remaw. — K. Th. Rylcjew: 1) Briefe seiner Eltern, 2) Denkschrift über seinen 
Dienst in den Jahren 1813 — 1821. Von P. A. yefremow. —Das Tagebuch W. K. 
Küchelbeckers, 1833—1834. Von y. IV. Kosow. — Die letzten Tage aus dem Leben 
A. L. Puschkin’s, 1837. Erzählung eines Augenzeugen. — Sendschreiben J. A. Odo- 
jewsky’s an seinen Vater. — N. W. Gogol und seine nicht veröffentlichten Briefe aus den 
Jahren 1835 — 1842. Von W. S. Schewyrew . Mit einem Vorworte und Anmerkungen 
von Professor O. Th. Müller. — Erinnerungen O. A. Pneclawskts : Die Censur in 



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373 


früherer Zeit Mein mühevolles Leben. Erzählungen des Akademikers Z. A. Sserja- 
kow. — W. N. Karasin, Gründer der Charkower Universität. 1803. — Blätter aus dem 
Notizbuche der «Russkaja Starina»: 1) Verfügung des Kaisers Alexander I. über den 
Obersten de Witte, 1808. 2) Ein Zug aus dem Leben des Metropoliten Gabriel. Von 
G. y, Kusminsky. 3) Der Metropolit Seraphim und der Fanatiker Ljams. 4) Der 
Archimandrit Foti und die Gräfin Orlow. Von y. y. Europäus. 5) Die Ermordung 
des Feldmarschall Grafen M. Th. Kamensky im Jahre 1811. Eine Zeitung aus der 
Hölle. Von JV. y. Lcstwiiin . — Bibliographische Mittheilungen über neue russische 
Bücher (auf dem Umschläge). 

Der «europäische Bote» (BtcTHHiT» Eßponu — Westnik Jewropy). 

X. Jahrgang. 1875. September. Inhalt: 

Ein Album. Gruppen und Portraits. III. Von W % Krestowsky. (Pseudonym).— Türke* 
stan und die Turkestaner. I. Von M. 7 'erent/ew . — Pierre Josef Proudhon. Correspon- 
dance de P. J. Proudhon. Dritter Artikel. Von D-jcw. — Die Neu-Celtische und Pro- 
venzalsche Bewegung in Frankreich. IV—VI. Schluss. Von M, P. Dragomanow ,— 
Die Cholera in Tambow im Jahre 1830. Nach Schilderungen von Augenzeugen. Von 
y. Jakunin. — Der Konservatismus bei den Römern. «Ueber den Konservatismus in 
der römischen Jurisprudenz*. Ein Versuch zur Geschichte des römischen Rechts. 
S. Muromzew. I— III. Von W . y. Herier . — Notizen eines Gemeinen im ersten Jahre 
der allgemeinen Wehrpflicht I -V. Von W. P. — ln Neapel. Reisenotizen. Von y. Z. 
Minqjew . — Chronik: Die Universitätsfrage in Deutschland. I—IV. Von M. S. — Tage¬ 
buch eines französischen einjährigen Freiwilligen. Von L. P. —Rundschau im Inlande.— 
Rundschau im Auslande. — Pariser Briefe: VI. Romane von Goncourt. — Biblio¬ 
graphische Blätter. 

«Militär-Archiv» (Wojennij Ssbomik. —BoeHHbiß C6opHmci>.) — 

Achtzehnter Jahrgang. 1875. Nr. 9. September. Inhalt: 

Drei Jahre aus der Kriegsgeschichte und der russischen Herrschaft im Kaukasus 
(1806, 1807, und 1808). Erster Artikel. Von N. Dubrowin . — Ueber die gegenwär¬ 
tige Bedeutung, Ausbildung und Verwendung der Kavallerie. Von Markow. — Die 
Verpflegung der Truppen in Kriegs- und Friedenszeiten bei der russischen und aus¬ 
ländischen Armee. Erster Artikel. Von M. Hasenkampf, — Ueber den detaillirten Ab¬ 
gang der Untermilitairs von den Kompagnien der Armee-Infanterie. Von A. y. — 
I) Ueber den Nutzen bei Einführung der auf mechanischem Wege angefertigten Huf¬ 
eisen in der Kavallerie und Artillerie. Von F . y. — Einige historische Bemerkungen 
über die frühere Militair-Organisation in Bosnien und der Herzogowina. Von A. 
Tschaikowsky . — Der Frühling von 1868 in Central-Asien. Erinnerungen eines Kosa- 
ken-Ofliziers. Von A. P. Ch-n. — Bibliographisches.— Militärische Umschau in Russ¬ 
land. — Militairische Umschau im Auslande. 

«Russisches Archiv» (Russkij Archiw — PyccKifl ApxHBt.) — 

herausgegeben von Peter Bartenjew. XIII. Jahrgang. 1875. 9. Heft. Inhalt: 

Moskau im Jahre 1812. Nach neuentdeckten Papieren IV. Von A, A. Popow. — 
Lebensbeschreibung des Fürsten A. D. Menschikow. Nach neu entdeckten Papieren. 
(Der schwedische Krieg. 1706- 1709). Von H. IV. yessipow. — Notizen über die 
Martinisten; vorgestellt der GrossfUrstin Katharina Pawlowna durch den Grafen Ro- 
stop sch in im Jahre 18II. — Ueber unsere Frage der Leibeigenschaft im achtzehnten 
Jahrhundert. (Als Antwort an H. Th. Karpow.) Von O . Th . Müller . — Die erste Aus¬ 
bildung Peter’sdes Grossen. Von A r . P. Asfrow. — Die Heldenthat des Bürgers Jeras- 
siroow. Von H. N. Alexandrow . — Der Urgrossvater Lermontow’s. Von G. P. Dani - 
lewsky. — Ergänzende Notizen über die ersten Schicksale Menschikows. «Ein Jeder hat 
sein eigenes Paradies». Ein altes Gedicht von S. A. Nejelow. Mitgetheilt von A. G.yer- 
moloiv. — Ein nichtveröffentlichles vierzeiliges Gedicht Puschkins. Mitgetheilt von 
A . P. Barsukow. — Systematisches Inhaltsverzeichnis des Graf Woronzow’schen 
Archivs. 


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374 


Rassische Bibliographie. 


Smiretschansky, K. Sammlung historisch-statistischer Aufsätze zur 
Kunde der Pskow’schen Eparchie. I. Historischer Abriss des IX.— 
XVII. Jahrhunderts. Herausgegeben vom Pskow’schen statistischen 
Komite. Pskow. 8°. II + 232 S. (CNMpewaHCKik, K cbmu ,. Hctophko- 
CTaTHCTH^lecKitt cöopHHKi> cB'kA'kHift o IIcKOBCKoft enapxin. I. Hc- 
TopHqecKift o^epKi». IX — XVII b. H3a. IIck. ryö. ctbt. k—T a. 
riCKOBT». 8 Ä. II + 232 CTp.). 

Qudim-Lewkowttsch, P. Historische Entwickelung der Kriegsmacht 
in Russland bis zum Jahre 1708. Kritische Beurtheilung der Cam¬ 
pagne von 1708. St. Petersburg. 8°. 196 S. und drei Karten. (ryAun* 
JldBMOBim, fl. HcTopnqecKoe pa 3 BHTie BoopyaceHHuxi» chat> bt» 
Poccin äo i7o8r. KpHTHHecKift paaöopt KaMnaHin 1708 r. Cn6. 
8 ä. 196 CTp. h 3 Kap tu). 

Schensehin, K. Die Kriegskunst Napoleon’s I. verglichen mit der 
Kriegskunst der Jetztzeit. St. Petersburg. 8°. XII + 257 S. mit 8 Ta¬ 
feln und 6 Plänen. (llleHimnrb, Kan. BoeHHoe H3KycTBo HauojieoHa I, 
bt> napajuiejib ci> coBpeMeHHUMi» ero cocTOXHieMi». Cn6. 8 a. XII 
+ 257 h 8 Taöji. h 6 njiaHOBT> h Kaprb). 

Murawjew, A. N. Briefe über den Muhammedanismus. Zweite ver¬ 
mehrte Auflage. Kasan. 12°. VI + 155 S. (MypaBbeBV A. H. üucbMa 
o MaroMeTaHCTB'fe. Ü 3 A. 2-e, Aon. Ka3aHb. 12 a. VI + 155 erp.) 

Sagorowsky, A. Historischer Abriss der Anleihe nach russischem 
Recht bis Ende des XIII. Jahrhunderts. Kijew. 4 0 . 78 S. (3aropoa- 
cKÜf. A* HcTopnnecKiä onepKb 3aftMa no pyccKony npaßy ao KOHua 
XIII ct. KieBb. 4 a. 78 CTp.). 

Stepanow. J. Versuch einer Theorie derjVersicherungs-Konvention. 
Kasan. 8°. XXII + 203 S. (CTenaHOBb, H. Onurb Teopift CTpaxo- 
Baro Aoroßopa. Ka3aHb. 8 a.) XXII -f 203 crp.). 

Pljuzinsky, A. Kursus der Fortifikation in Junkerschulen. St. Peters¬ 
burg 8°. XX + 244 S. mit einer Tabelle Zeichnungen. (flMIlNNCKH, A. 
Kypcb 4>OpTH<l>HKauiH K)HKepCKHXl> yHHAHm*b. Cn6. 8 a. XX + 244 
CTp. H I Jl. HepT.). 

Middendorff, A. Sibirische Reise. Band IV. Uebersicht der Natur 
Nord- und Ost-Sibiriens. Theil 2. Dritte Lieferung. Die Eingebore¬ 
nen Sibiriens. (Schluss des ganzen Werkes). St. Petersburg. 4 0 . VII 
und 1395 — 1615 S. mit 16 Karten. 

Schpilewsky, M. Das Polizeirecht, als selbstständiger Zweig der 
Rechtswissenschaft. Odessa. 8°. 196 S. (lUmtiieBCKil. Mmx. IIoau- 
ueftcKoe npaBO, Kaiti> caMocTOHTejibHaa oTpacju» npaBOB'hA'hHia. 
OAecca. 8 a. 196 CTp.). 

LjapWewsky, N. Geschichte des Notariats. I. Band. Moskau. 8°. 
X-f- 310 S. und eine Tabelle. (JlanNABBCHÜi, H. HcTopia HOTapiaTa. 
T. I. 8a. X 4 - 310 CTp. h 1. A.). 


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375 


Murawjew - Meschtschersky. Die gegenwärtige Praxis der russischen 
Landwirthschaft in ihrem ganzen Umfange und ihre Anwendung auf 
den Boden Russlands. Moskau. *4°. 516 + 120 + 14 7 S. (MypaBbOBO- 
MeuiepCKiff. CoBpeMeHHax apaKTsnca pyccxaro cejibcxaro xo 3 aftCTBa 
bo Bcfext ero BHAax-b h npHM'hHeüiax'b noiBaMi» Poccin. Ob 
pnc. MocKBa. 4 a, 516 + 120 + 147 crp.). 

Tumanow, H. Nachschlagebuch der Feldfortifikation und der Mili¬ 
tärkommunikation für Sapeur-Offiziere. St. Petersburg. 8°. VIII -i- 86 
+ 254 +211+ XVII S. und 30 Bog. Zeichnungen. (TytfaHOBb, T. kh. 
CnpaBOHHax KHHra no nojieBoft <i>opTH<j>HKai*iH h no soeHHbiMb co- 
o6n;eHixMi> äaa canepHbixb o<x>imepoBb. Cn6. 8 A VIII -f 86 + 254 
+ 211 + XVII crp. h 30 ji. nepT.). 

Tumasow, N. Kursus der Geschichte der alten Welt. (Osten). Kijew. 
8°. 484 + III S. (TyncoBb, H Kypcb HCTopin ApeBHaro Mipa. (Boc- 
toki>). Kießb. 8 a. 484 - 1 - III cTp.). 

Wocel, J. E Die älteste Schlachtgeschichte der Slaven im Allge¬ 
meinen und der Czechen ins Besondere. Uebersetzt aus dem Czechi- 
schen von N. Saderatzky. Kijew. 8°. 341 S* (BoueJlb, fl. E. ÄpeBirfcä- 
inaa öuTOBax HCTopia caaBXHb Booßme h nexoßb bt> ocoÖchhocth. 
IlepeB. ci» qeiucKaro H. 3 aAepai*icaro. Kießb. 8 a. 341 CTp.). 

Petrow, N Eine Beschreibung der Handschriften des kirchlich-ar¬ 
chäologischen Museums an der geistlichen Akademie in Kijew. I. 
Lieferung. Kijew. 8°. 280 + 2 S. (fleTpoBb, H. OnncaHie pyKonnceft 
uepxoBHo-apxeoJiorHHecKaro My 3 ea npn xieBcxoö AyxoHoft axaAeMiH. 
Bun. I. Kießb. 8 a. 280 f- 2 CTp.). 

Popow, A. Erster Nachtrag zur Beschreibung der Handschriften und 
des Kataloges geistlicher Schriften der Bibliothek A. J. Chludow’s. 
Moskau. 4 0 . 94 + 5 S. (flonoBb, AüApofl. IlepBoe npnöaBAeme kt> 
onncaHiio pyKonnceft h xaxajiory KHHrb uepxoBHOft neaaTH önöAio- 
TexH A. H. XjiyAOBa. MocKBa. 4 ä- 94 “h 5 CTp.). 

Tschuprow, A. Das Eisenbahnwesen. Seine ökonomischen Einzeln« 
heiten und seine Beziehungen zu den Interessen des Landes. Mos¬ 
kau. 8°. IV + 352 S. (Hynpoßb, A )Kejrfc3HOAopo»cHoe xo3aftcTBo. 
Ero 3 Kohom HHecKiH ocoöeHHocTH b ero OTHomeHia Kb HHTepecaMb 
CTpaHU. MocKBa. 8 a. IV + 352 crp.). 

Ssergejewsky, N. D. Ueber das Geschworenengericht. Jarosslaw. 8°. 
92 -f- 1 S. CeprteBCKiU, H. A- O cyA'fe npncaxcHbixb. -HpocjiaßAb. 
8 a. 92 + 1 CTp.). 

Regely E. Alliorum adhuc cognitorum monographia. St Petersburg. 
8°. 266 S. 

Rathlef, Georg. Das Verhältniss des livländischen Ordens zu den 
Landesbischöfen und zur Stadt Riga im dreizehnten und in der er¬ 
sten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts. Dorpat. 8°. I + 152 s. 

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Carl Röttger. 

AoaBOJieHO ueiwypoK). C.-rieTepÖyprb, 17-ro Oimräpx 1875 toar. 


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Im Verlage der Kaiserlichen Hofbuehhandlnng H. Scbmitzdorft 

(Carl Röttger), Newsky-Prospekt Nt 5, sind erschienen und sowohl 
von ihr direkt, als auch durch alle Buchhandlungen zu beziehen: 

DIE GEMÄLDESAMMLUNG 

in der 

K. EREMITAGE ZU 8T. PETERSBURG 

nebst Bemerkungen Ober 

andere dortige Kunstsammlungen 

von 

Dr. G. P. Waagen. 

2 . (unveränderte) Ausgabe. 8°. Preis 2 Rbl. 50 Kop. (2 Thlr. 7 1 /* Sgr.) 

Es ist dieses verdienstvolle Werk des berühmten Kunstgelehrten das einzige 
in deutscher Sprache, welches als zuverlässiger Führer sowohl durch die 
reichen Sammlungen aer Kaiserlichen Eremitage wie auch durch andere 
St. Petersburger Kunstsammlungen dienen kann. 


Bistram, Baron Nicolans. Die rechtliche Natur der Stadt - wpd 
Landgemeinde. Eine, von der Juristenfacultät der K. Universität 
Dorpat gekrönte Preisschrift, i Rbl. 20 Kop. (i Thlr.). 

Diese gründliche und bedeutende Arbeit behandelt in vergleichen¬ 
der Weise, — indem sie das Geschichtliche, Positive und Kritische 
mit einander verbindet — das Gemeindewesen in Frankreich, 
Deutschland, England und Russland. Nachdem erst im allgemeinen 
Theile der Schrift Begriff und Wesen der Gemeinde und die damit 
zusammenhängenden Fragen (Selbständigkeit der Gemeinde, Ge¬ 
meindeämter, Communalsteuer etc.) in den Bereich der Betrachtung 
gezogen sind, folgen im besondern Theile: Gemeindebezirk und 
Gemeindebürgerrecht — Vertretung und Behörden — Gemeinde- 
Gut und Haushalt — Kirche und Schule — Bauwesen — Gesundheits*, 
Handels- und Gewerbe-Polizei — Armenpolizei und Armenpflege 
— Rechtspflege (Friedensrichter und Geschworene) — etc. Einen 
besonderen Werth verleiht dem Buche die beständige eingehende 
Rücksichtnahme auf die einschlägigen russischen Verhältnisse. 


Geologische Karte 

des 

EUROPÄISCHEN RUSSLANDS 

von 

Gr. von Helmersen. 

Neue Auflage 
mit erläuterndem Texte. 

Preis 3 Rbl. 

Die Karte selbst ist in russischer Sprache, der erläuternde Text in rassi¬ 
scher und deutscher Sprache gedruckt. 


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Zar Geschichte der didaktischen Literatur in 
Bassland im achtzehnten Jahrhundert. 


Die Geschichte des Zeitalters Peter’s des Grossen stellt uns den 
Prozess der Europäisirung Russlands dar. Insofern der Schritt vom 
Orient zum Occident ein gewaltiger war, musste ein solcher Ueber- 
gangszustand längere Zeit in Anspruch nehmen. In der geistigen 
Atmosphäre begegnen verschiedene Strömungen einander: daher 
geht es nicht ohne gewaltsame Stürme ab. Die fortschrittlichen 
Tendenzen der Regierung werden meist von dem Volke entschieden 
abgelehnt. Nur ausnahmsweise sehen wir in den Massen eine ge« 
wisse Vorliebe für ausländische Kultur. Es macht dann einen um 
so eigenthümlicheren Eindruck, wenn wir wenige Jahre vor Peter 
dem Grossen einem Erlass der Regierung begegnen, in welchem die 
Unterthanen vor dem Tragen ausländischer Kleidungen, vor dem 
Nachahmen westeuropäischer Moden gewarnt werden K So be¬ 
gegnen wir der Alternative von Orient und Occident, vom Natio¬ 
nalen und Kosmopolitischen nicht bloss in den officiellen Kreisen, 
sondern auch im Publikum. Das Volk, um dessen Geschicke es 
sich handelte, hat lange Zeit hindurch sich weder für das Eine noch 
für das Andere entschieden und ist oft inconsequent gewesen. Es 
hat in kurzer Zeit eine grosse Zahl Fremdwörter in seine Sprache 
aufgenommen und doch wiederum oft genug die ausländische Bil¬ 
dung voll Verachtung von sich weisen wollen. Es hat gegen das 
Bartscheeren protestirt, da es doch das Tabakschnupfen annahm. 
Es hat in den durchgreifenden Reformen Peter’s einen Verrath an 
der Nation, in der Einführung der Staatsmaschinerie, welche im 
Westen üblich war, die Ankunft des Antichrist^ erkennen wollen, 
und ist doch andererseits den hochfliegenden Plänen Peter’s gefolgt, 
oder hat dieselben gar durch seine Gefügigkeit und Anstelligkeit 
gefördert. Wenn aber das russische Volk hie und da halb naiv, halb 


• s. d. Vollständige Gesetzsammlung, Nr. 607 im Jahre 1675. 
Rom. Berne Bd. VII. 


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378 


verrennt, sich den Einflüssen vom Westen hat entziehen wollen, so 
hatten doch letztere Macht genug, um alle Schranken des Vorur- 
theils und Aberglaubens zu durchbrechen. 

Eine solche Mischung entgegengesetzter Elemente tritt uns dann 
auch in der didaktischen Literatur in der ersten Hälfte des acht¬ 
zehnten Jahrhunderts entgegen. Wir beabsichtigen in der folgenden 
Abhandlung diese verschiedenartigen Strömungen an einzelnen 
Beispielen zu veranschaulichen. Es ist ein denkwürdiger Abschnitt 
in der Geschichte der Pädagogik, welchen wir damit berühren. An 
der Hand einiger didaktischer Schriften, welche zum Theil längst 
vergessen, zum Theil erst in neuester Zeit wieder entdeckt und 
veröffentlicht wurden, gedenken wir einen Einblick zu thun in die 
Geschichte der Ideen jener Zeit. 

Die pädagogische Literatur in Russland vor dem achtzehnten 
Jahrhundert hat nur wenige Erzeugnisse aufzuweisen. Dahin gehört 
u. A. jene um das Jahr 1125 verfasste «Ermahnung Wladimir Mono- 
mach's», in welcher der greise Fürst, der den Tod herannahen fühlt, 
seinen Kindern ein Bild seines Lebens und Strebens entwirft und 
ihnen gute Lehren giebt. Er empfiehlt ihnen Frömmigkeit, Mildthä- 
tigkeit, Bescheidenheit im Verkehr mit älteren Leuten, Wohlwollen 
im Verkehr mit Geringeren, Mässigung im Reden, Demuth und 
Ehrfurcht vor den Geistlichen. Er zeigt ihnen, wie vergänglich alles 
Irdische sei; er lehrt sie, wie sie sich in Kriegszeiten zu verhalten 
hätten: tapfer und unermüdlich; er rühmt die Gastfreundschaft, 
die Sorge für die Kranken und Schwachen. Den Ehemännern wird 
Liebe zu den Frauen empfohlen, doch so, dass die Frauen nicht die 
Herrschaft gewinnen über die Männer. 

So kurz diese Betrachtungen sind, so verschiedene Gebiete werden 
doch in denselben berührt. Da wird denn z. B. die Kenntniss fremder 
Sprachen gepriesen, oder die Bemerkung gemacht, dass der Nach¬ 
mittagsschlaf von Gott verordnet sei l . Ferner erzählt der Alte von 
den vielen Reisen, welche er in seinem Leben unternommen habe, 
und von den vielen Gefahren, denen er ausgesetzt gewesen sei *. 
Er zählt die Friedensschlüsse auf, welche er zu Stande gebracht, und 
die wilden Pferde, welche er eigenhändig gebändigt habe. Dann 
kommen Jagdgeschichten der abenteuerlichsten Art. Sehr lebendig 
ist die Schilderung, wie oft und gefährlich der Fürst von wilden 


1 Cn&Hbe een» Ott. Sora npacyacACHo noJiyAHe. 

* Eine ähnliche Statistik der Reisen liefette Karl V. in seinen Memoiren. 


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Thieren verwundet worden sei; nie habe er sich Ruhe gegönnt; in 
allen Handtirungen sei er selbst erfahren gewesen; dass er so viel 
habe leisten können, rechne er nicht sich zum Ruhme an, sondern 
erblicke darin den Segen Gottes, der ihn zu allerlei guten Werken 
tüchtig gemacht habe u. s. w. 

So der Inhalt derjenigen pädagogischen Schrift des Mittelalters, 
welche am bekanntesten ist, am meisten gelesen wurde. Es giebt 
dann noch einige andere Schriften ähnlichen Inhalts. Die geistliche 
Literatur ist reicher an derartigen Erzeugnissen, als die weltliche. 

Epochemachend in der Geschichte der weltlichen pädagogischen 
Literatur ist der «Domostroi», welcher im fünfzehnten oder sechs¬ 
zehnten Jahrhundert entstand und eine lange Zeit hindurch das wich¬ 
tigste Laienbrevier war. In einer besonderen Abhandlung haben wir 
auf den Inhalt und Charakter dieser Schrift hingewiesen 2 . Dieselbeist 
ein Erzeugniss der öffentlichen Moral jener Zeit: die religiösen Er¬ 
mahnungen oder eigentlich Verhaltungsregeln, die im Tone einer 
geschäftlichen Instruktion geschriebenen geistlichen Lehren, die 
Betonung des Aeusserlichen, Formellen, Konventionellen, der Mangel 
einer tieferen Moral, die mönchische, düstere Weltanschauung, un¬ 
zählige Vorurtheile — zeigen uns die intellectuellen und ethischen 
Bestrebungen und Bedürfnisse jener Zeit. Es fehlt nicht an Beweisen, 
dass die Anschauungen des «Domostroi» namentlich in den tieferen 
Schichten des Volks Wurzel gefasst hatten. Wir erblicken darin 
einen Spiegel der Zustände des XV. und XVI. Jahrhunderts. Die 
pädagogischen Grundsätze damals sind abstossend streng und 
unfreundlich. Nicht das Gefühl der Pflicht und der Selbstverant¬ 
wortung wird gelehrt, sondern nur unbedingter Gehorsam, sklavi¬ 
sche Unterwürfigkeit. Höhere, geistige Interessen fehlen. Eine harte 
Behandlung der Kinder, Körperstrafen u. dgl. sind das Arcanum 
aller Erziehungskunst. Heiterkeit, froher Lebensgenuss, Kunst und 
Poesie sind nirgends erwähnt und entsprechen auch nicht dem aske¬ 
tischen Geiste, in welchem einzelne Partien des Buches geschrieben 
sind. Von einer Strebsamkeit auf geistigem Gebiete, von Lern¬ 
begierde findet sich keine Spur. Wie auf dem Gebiete der Wirt¬ 
schaft, soweit dasselbe im «Domostroi» berührt wird, die Produk¬ 
tion so gut wie völlig mit Stillschweigen übergangen wird, wie alle 
darin erwähnten Erscheinungen mehr den Eindruck des Zuständ- 

1 Neuerdings wieder gedruckt ist die «lloyneme Bji&AHMipa Monouaxä* in Aristow*s 
€ Chrestomathie für Russ. Gesch.*. Warschau, 1870. S. 851—857. 

* «Russische Revue«, Bd. IV. S. I—29. 

25* 


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S*> 


liehen als des Werdenden haben, so fehlt denn auch der Begriff einer 
geistigen Entwicklung, Vervollkommnung. Der Orient ist genügsam, 
apathisch, unhistorisch. 

Es ist die Aufgabe der Regierung gewesen, mit diesen Zuständen 
und Anschauungen abzurechnen. Es galt durch Reformbestrebungen 
im Sinne der westeuropäischen Kultur aufzuräumen mit dem starren 
Formalismus, dem beschränkten Aberglauben, der Passivität und 
Trägheit auf allen Gebieten. Die Fürsten geben in ihrem Wesen, in 
ihrer Haltung und Handlungsweise ein Beispiel antidomostroischer 
Gesinnung. Demetrius (1605— 1606) spottet über die geistige Unbe- 
holfenheit seiner Bojaren, stellt ihnen die Nothwendigkeit vor, Stu¬ 
dien zu machen, Sprachen und Wissenschaften zu lernen, empfiehlt 
ihnen Reisen ins Ausland als Mittel solcher Ausbildung, wie er denn 
selbst durch geistige Regsamkeit, Wissensdurst, Vielseitigkeit aus¬ 
gezeichnet war. Selbst der Zar Alexei Michailowitsch (1645—1676) 
mit seiner Vorliebe für die im «Domostroi» verpönte Jagd mit abge 
richteten Vögeln und Hunden, mit seinen theatralischen und musi¬ 
kalischen Aufführungen, denen er gern beiwohnte, mit seinen per¬ 
sönlichen Beziehungen zu einzelnen, schon ganz unter westeuropäi¬ 
schen Einflüssen stehenden Männern (z. B. Matwejew) durchbricht 
die Anschauungen früherer Zeit, obgleich er im Wesentlichen als 
der Typus eines Fürsten von altem Schlage, als ein Vertreter des 
orientalischen ancien r£gime in Russland auftritt. Unvergleichlich 
rücksichtsloser bricht Peter der Grosse mit dem alten Wesen. Seine 
Rührigkeit und Vielgeschäftigkeit, seine Strebsamkeit und unver¬ 
wüstliche Arbeitskraft, sein vielseitiges Geschick für technische 
Handtirung, wie sein warmes Interesse für Fragen der Wissen¬ 
schaft , das Gefühl der Pflicht und Verantwortlichkeit, das ihn be¬ 
seelt, die ausgelassene Heiterkeit und Lebenslust, die stets sich er¬ 
neuende Spannkraft für allerlei Unternehmungen und Genüsse, die 
unerbittliche Strenge, mit welcher er seine Genossen, sein Volk in 
diesen Strudel völlig neuen Lebens mit fortriss: — dies Alles steht 
in direktem Widerspruch mit dem «Domostroi». 

Ein solcher Zuchtmeister, ein so gewaltiger Pädagog begann 
damit, Russland beim Westen in die Schule zu schicken. Man weiss, 
wie sauer es den Lernenden wurde, in dieser Richtung vorwärts zu 
gehen. Der Kampf des Alten mit dem Neuen entbrannte. Diese 
Alternative begegnet uns auf dem Gebiete der praktischen Politik, 
wie auf dem Gebiete der Literatur. 


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3 ** 


Es mag von Interesse sein, diese zwei verschiedenen Richtungen! 
auch auf dem Gebiete der pädagogischen Literatur zu verfolgen. 
Indem wir auf das Wesen und den Charakter, so wie auf den Inhalt 
einiger pädagogischer Werke aus dem Zeitalter Peter’s des Grossen 
eingehen, haben wir Gelegenheit wahrzunehmen, wie die Welt 
des «Domostroi» und die moderne europäische Kultur einander 
gegenüberstehen. 


Iwan Possochkow. 

IwanPossoschkow, ein Bauer und Techniker, verfasste am Anfang 
des achtzehnten Jahrhunderts mehrere zum Theil recht umfassende 
Schriften, in denen vorwiegend religiöse und nationalökonomische 
Fragen behandelt wurden. Ueber das Maass der Verbreitung dieser 
Schriften ist es sehr schwer sich eine Vorstellung zu machen. Von 
einigen derselben haben sich mehrere Abschriften erhalten. In Ge¬ 
schichtswerken wird erst während der zweiten Hälfte des acht¬ 
zehnten Jahrhunderts Possoschkow’s als eines beachtenswerten 
Schriftstellers erwähnt. Ein Paar kürzere Abhandlungen wurden in 
den Jahren 1793 und 1815 herausgegeben. Das Hauptwerk Possosch- 
kow's «Ueber Armuth und Reichthum» erschien im Drucke, von 
M. Pogodin herausgegeben, im Jahre 1842 K Es folgte sodann im 
Jahre 1863 die Edition einer recht umfangreichen Schrift über das 
Sektenwesen. Endlich erschien im Jahre 1873, von A. Popow entdeckt 
und herausgegeben, die «Väterliche Ermahnung an meinen Sohn», 
(Moskau 1873, XV und 246 Seiten) und diese letztere bietet für un¬ 
sere Zwecke ein hervorragendes Interesse. 

Der Herausgeber war so glücklich gewesen, diese Handschrift von 
einem Büchertrödler käuflich zu erwerben. Da der Name des Ver¬ 
fassers in derselben nirgends genannt war, musste die Autorschaft 
zunächst festgestellt werden. Folgende Gründe veranlassten Hm. Po¬ 
pow zu der Annahme, dass der Verfasser dieser Schrift kein An¬ 
derer sei, als Possoschkow. Es stellte sich eine Aehnlichkeit heraus 
zwischen der Handschrift in dem neuentdeckten Manuskript und den 
Handschriftproben, welche wir notorisch von der Hand Possosch- 


f In mehreren in der «Baltischen Monatsschrift» in dem Jahre 1863 erschienenen 
Abhandlungen habe ich das Leben und die Schriften Possoschkow’s zum Theil einge¬ 
hender behandelt. 


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kow*s besitzet*. Ein Zweites Argument war der Umstand, dass der 
unbekannte Verfasser seinen Sohn «Nikolai» nennt, während von 
PosSoschkow’s Sohne bekannt ist, dass er diesen Namen führte. 
Drittens ist in der «Väterlichen Ermahnung» wiederholt von einer 
anderen Schrift desselben Verfassers die Rede, in welcher wir jene 
gegen die Sektiker ^gerichtete Schrift erblicken müssen, und die 
Autorschaft Possoschkow’s bei dieser letzteren istkonstatirt. Viertens 
finden sich in dem notorisch von Possoschkow herrührenden Haupt¬ 
werk «Armuth und Reichthum» wiederholt Hinweise auf diese bis 
zur Edition des Hm. Popow völlig unbekannte Schrift «Väterliche 
Ermahnung», von welcher der Verfasser des Hauptwerkes bemerkt, 
er habe dieselbe für seinen Sohn verfasst und empfehle deren Ver¬ 
breitung zum Nutzen und Frommen der russischen Jugend. Diesen 
Argumenten des Hrn. Popow für den Beweis der Autorschaft 
Possochkow’s fügen wir noch hinzu, dass eine zum Theil wörtliche 
Uebereinstimmung zwischen einzelnen Stellen der «Väterlichen 
Ermahnung» und anderen Schriften Possoschkow's, eine Ueberein¬ 
stimmung der Druck- und Schreibweise auch an solchen Stellen, 
wo das Ausschreiben der Schriften Possoschkow’s etwa durch einen 
fremden Autor an und für sich nicht wahrscheinlich erscheint, 
jeden Zweifel daran beseitigt, dass Possoschkow der Verfasser der 
«Väterlichen Ermahnung» gewesen sein müsse. 

Hr. A. Popow setzt die Abfassung dieser Schrift in die Zeit vor 
dem Jahre 1706. Die Gründe, welche derselbe für diese Behauptung 
beibringt, sind keineswegs stichhaltig. Wir haben vielmehr Grund, 
die Abfassung der Schrift in die Jahre 1715—1719 zu setzen, und 
zwar sind es folgende Umstände, welche uns dazu veranlassen Der 
Sohn «Nikolai», für welchen Possoschkow die «Väterliche Ermah¬ 
nung» schrieb, war im Jahre 1725, wie aus einem Aktenstück her¬ 
vorgeht, noch minderjährig, konnte also frühestens im Jahre 1707 
geboren sein. In der Schrift ist der *Zarin Katharina Alexejewna» 
erwähnt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dieses Epitheton schon 
vor dem Feldzuge des Jahres 1711 gebraucht worden wäre, da erst 
in Folge der grossen Krisis am Pruth Katharina zu einer officiellen 
höheren Stellung gelangte. Ausserdem ist von den «Zarewitschs» 
die Rede (ohne dass ihre Namen genannt würden), für welche der 
Sohn beten solle. Nun gab es vor dem Jahre 1715 nur einen Zare¬ 
witsch, nämlich den Sohn Peter’s, Alexei. Im Jahre 1715 wurden 
sodann Peter’sSohn Peter geboren, welcher 1719 starb, und AlexePs 
Sohn Peter, welcher 1727 starb. Alexei selbst endete sein Leben 


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tjii. fis kann ?dso nur ln den Jahren 1715 bis 1719 von Zarewitsch* 
die Rede sein *. 

Possoschkow hat demnach sein Werk «Väterliche Ermahnung» 
einige Jahre früher verfasst, als seine inhaltreichste und anziehendste 
Schrift «Ueber Armuth und Reichthum», welche er in den Jahren 
1721—1724 kurz vor seinem im Jahre 1727 erfolgten Tode schrieb. 

Es liegt ausserhalb unserer Aufgabe, den Gesammtinhalt dieser 
«Väterlichen Ermahnung» oder dieses «Testamentes», wie man es 
richtiger übersetzen müsste, zu reproduciren. Der Charakter des 
Werkes ist ein vorherrschend geistlicher. Man wäre fast versucht, in 
dem Verfasser einen Kirchenfiirsten, Dorfgeistlichen oder gar einen 
Mönch vorauszusetzen, nicht aber einen Laien, dessen praktische 
Lebensstellung, Vorliebe für Technik und Wirthschaft, vielseitige 
Geschäftserfahrung noch mehr Beachtung verdienen, als die un¬ 
gewöhnliche Bibelfestigkeit oder die Kenntniss der Kirchenväter. 
Doch ist dies Betonen geistlicher, kirchlicher Momente, religiöser 
Stimmungen, dogmatischer Fragen zu wichtig und in die Augen 
fallend, zu charakteristisch flir den Mann, die Lebenskreise, aus 
denen er stammte, und seine ganze Lebensanschauung, als dass wir 
nicht auf diese Seite seiner schriftstellerischen Thätigkeit hinzu - 
weisen verpflichtet wären. 

Sein ganzes Leben hindurch hat Possoschkow den Angelegen¬ 
heiten der Kirche eine besondere Aufmerksamkeit zugewandt. In 
einem Schreiben an den stellvertretenden Verwalter des Patriarchen¬ 
amtes, Stephan Jaworski, hatte er schon in den ersten Jahren des 
Jahrhunderts auf den Mangel an Bildung bei den Geistlichen, auf die 
Stumpfheit und Unwissenheit in Betreff der Religion bei den Laien 
hingewiesen, und mancherlei Mittel zur Abstellung solcher Miss¬ 
stände beantragt 8 . In dem umfassendsten seiner Werke «der 
Spiegel» hatte er sodann (in den Jahren 1706—1709) ein streng¬ 
theologisches, dogmatisches, gegen die Ketzer (den Raskol) ge¬ 
richtetes Plaidoy er geliefert; in anderen kleineren Gutachten, welche 
wahrscheinlich ebenfalls an Stephan Jaworski gerichtet waren, und 
deren noch nicht herausgegebene Handschriften sich im Besitze der 


1 Ich habe diese Fragen von der Autorschaft Possoschkow 1 s und der Zeit der Ab¬ 
fassung der Schrift ganz eingehend in einer besonderen Abhandlung erörtert; s. «Pyc- 
exift BhcTHarb* 1874, Augustheft. 

1 Darüber Handschriften in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften zu 
St. Petersburg, sowie einzelne Abschnitte in dem ersten Bande der von M. Pogodin 
herausgegebenen Schriften Possoschkow’s. 


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3&4 

St- Petersburger Akademie der Wissenschaften befinden, eiferte er 
sehr gründlich gegen die Sektirer, schlug eine Reihe grassinqui¬ 
sitorischer Massregeln gegen dieselben vor und erörterte die Noth- 
wendigkeit der Gründung von geistlichen Schulen und Akademien, 
so wie der Verbreitung gemeinverständlicher, rechtgläubiger reli¬ 
giöser Schriften im Volke. In seinem letzten Werke *Ueber Armuth 
und Reichthum» widmete er den geistlichen Angelegenheiten ein 
ganzes Kapitel und wiederholt in demselben zum Theil die bereits 
früher gemachten Vorschläge. Bei allen derartigen Gelegenheiten 
giebt er eine grosse Zahl von Bibelstellen zum Besten, legt eine 
merkwürdige theologische Belesenheit an den Tag und wagt sich 
sogar auf das Gebiet philologischer Interpretation. 

Possoschkow gesteht in einer seiner Schriften, er sei in seiner 
Jugend ebenfalls ein Sektirer gewesen. Um so glühender ist sein 
Hass gegen seine ehemaligen Glaubensgenossen. Kein Scheltwort 
ist ihm zu stark, keine administrative Massregel zu grausam, wenn es 
gilt, mit dem«Raskol» aufzuräumen. In blindem Fanatismus schmäht 
er die «Gotteslästerer». Ebenso wuthschnaubend geisselt er die An¬ 
sichten und Sitten der Lutheraner. 

Schon der Titel des an den Sohn gerichteten Werkes und die 
einleitenden Worte charakterisiren den Geist der Schrift. Es heisst 
da: «Väterliches Testament an meinen Sohn mit einer durch gött¬ 
liche Schriftstellen bestätigten Sittenlehre. Im Namen des Vaters 
und des Sohnes und des heiligen Geistes, des allerhaltenden Gottes, 
der Alles geschaffen hat. Ich biete diesen meinen Nachlass meinem 
lieben Sohne dar. Ich bitte Dich, mein lieber Sohn, um Gottes 
Willen mit allen Deinen Kräften an deinem Schöpfer festzuhalten, 
seinen heiligen Geboten zu folgen und meine väterlichen Ermah¬ 
nungen nicht zu verwerfen*. 

Das Werk ist in mehrere Kapitel getheilt. Kap. i. Ueber das 
Jünglingsalter. Kap. 2. Ueber das eheliche Leben. Kap. 3. Ueber 
die Grundsätze des weltlichen Lebens. Kap. 4. Ueber das Gebet. 
Kap. 5. Ueber das bürgerliche Leben. Kap. 6. Ueber die Geschäfte 
der Beamten und Richter. Die ersten vier Kapitel, also über die 
Hälfte des Buches, haben einen durchaus geistlichen Charakter. In 
den zwei letzten werden die verschiedenen Berufsarten besprochen, 
der Beruf eines Landmanns, eines Sklaven, eines Handwerkers, 
eines Kaufmanns, eines Officiers, eines Bettlers, eines Schreibers, 
eines Beamten, eines Richters. 




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3*5 


Religion. 

An vielen Stellen wird die Rechtgläubigkeit gepriesen. An Schmä¬ 
hungen gegen Luther, welchem allerlei Laster und Unsauberkeiten 
angedichtet werden, ist kein Mangel. Die Reformation in Deutsch¬ 
land wird als ein Erzeugnis der Weltlust dargestellt: die Pro¬ 
testanten hätten gar keine Wunderthäter; es handle sich bei ihnen 
nur um Tanzen und Hüpfen ganze Nächte durch, um Musik und 
Trinkgelage und Kartenspiel. Wunderlicher Weise wird nicht bloss 
Luther als von der römischen Kirche, sondern Calvin als von der 
lutherischen Kirche abgefallen bezeichnet (S. 5). Beide werden 
«höllische Wölfe» genannt. Von Luther und dessen Anhängerinnen 
werden unglaublich schmutzige Dinge erzählt (S. 30, 31, 33). Sehr 
eifrig tadelt Possoschkow, dass Luther den Gebrauch des Fastens 
abgeschafft habe. Seine Anhänger werden desshalb mit den Mord¬ 
winen, d. h. mit den Heiden verglichen. Dieser «Hund», heisst es, 
habe Christum verrathen, alle Gebote der Apostel mit Füssen ge¬ 
treten ; alle Gebote Luther’s aber seien Gottes Gebot wider¬ 
sprechend. Luther, der «Allerweltsnarr» *, der Ketzer aller Ketzer 
oder der Erzketzer (<i>eTHJib <i>eTHJioBHHT>) habe nur darum Anhänger, 
weil die Menschen nicht vernünftig genug seien, seine Ketzerei als 
solche zu begreifen. Possoschkow meint, dass wenn die Lutheraner 
mit ihrer Behauptung, dass sie nach Gottes Wort lebten, Recht 
hätten, sie damit hätten anfangen müssen, Luther zu verbrennen, 
statt aus Fleischeslust seinen Lehren zu folgen und den breiten 
Weg zu wandeln, welcher zum Verderben führt (S. 48) 2 . 

So tolerant man in den meisten Fällen von Seiten der Regierung 
gegen Andersgläubige in Russland zu sein pflegte, so erbittert und 
leidenschaftlich treten oft die Vertreter der Staatskirche gegen Ka¬ 
tholiken und Protestanten auf. In der Regel war, schon wegen des 
Nationalhasses gegen die Polen und ferner in Folge der Gefahr, 
welche von Seiten der Jesuiten drohte, der Hass gegen die Katho¬ 
liken stärker als der Hass gegen die Lutheraner. Die Letzteren 
hatten in Moskau schon im siebenzehnten Jahrhundert Kirchen, 
während die Katholiken bei ihren Bestrebungen Kirchen zu bauen, 

1 S. 45 «»cecirfiTHbift Ayparb» vielleicht auch mit «der sehr weltlich gesinnte Narr» 
zu übersetzen. 

* Sehr ausführlich und an mehreren Stellen wohl acht- oder zehnmal wird Luthem 
und seinen Anhängern die Unterlassung gewisser Waschungen zum Vorwurf gemacht. 
Es ist ein echt orientalischer, alttestamentlicher Zug, dass auf das Formelle solcher 
Waschungen so viel Gewicht gelegt wird. 


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386 


auf grosse Schwierigkeiten stiessen. In einzelnen Fällen aber ver¬ 
folgte man die Protestanten, wenn sie den Verdacht erregt hatten, 
für ihren Glauben Propaganda machen zu wollen. Ueber die Ver¬ 
schiedenheit der Glaubensbekenntnisse herrschten übrigens dazwi¬ 
schen wohl sehr dunkle Begriffe, wie denn u. A. Marina Mnischek, 
die Gemahlin des Demetrius, in einem officiellen Schreiben eines 
Kirchenfursten als Lutheranerin bezeichnet wird. Zu Possoschkow’s 
Zeit wurde Petern nachgesagt, er habe die protestantische Partei 
«zu favorisiren gesucht», während die russischen Geistlichen den 
Protestantismus «von Herzen hassten» l , und allerdings Hess es 
u. A. der bereits oben erwähnte Chef der russischen Kirche, Stephan 
Jaworski, welcher manche geistliche Schriften veröffentlichte, nicht 
an einer Blumenlese von gegen Luther gerichteten Schimpfwörtern 
fehlen. In einer Predigt (v. J. 1698) nennt er Luther «ein vom hölli¬ 
schen Gift gesättigtes Gewürm», «einen dreifach verfluchten Ketzer», 
weil Luther die Ehe nicht für ein Sakrament halte, u. s. w. Ä . Wir 
wissen, das Possoschkow mit Stephan Jaworski in Verkehr stand 
oder wenigstens einige Schreiben an ihn richtete. Sie waren Gesin¬ 
nungsgenossen. 

Warnt Possoschkow seinen Sohn vor der Ketzerei der Luthe¬ 
raner, so schweigt er auffallenderweise in der «Väterlichen Er¬ 
mahnung» von den Gefahren, welche das russische Sektenwesen 
dem Sohne bieten mochte. Dagegen betont er sehr energisch die 
Verehrung, welche man der rechtgläubigen Geistlichkeit schulde. 
Schon in dem «Spiegel» hatte er von der grossen Macht gesprochen, 
welche dem geistlichen Stande von den Aposteln gegeben worden 
sei, so dass ohne die Vermittelung dieses Standes kein Heil möglich 
sei («Spiegel» S. 45). Daher ermahnt er denn seinen Sohn, die Geist¬ 
lichen, selbst bescheidene Dorfpopen, zu ehren. Dass dies nicht 
allgemein geschah, ist aus der Aeusserung zu ersehen, wie einer 
schlechten Sitte zufolge reiche Leute den Geistlichen eine weniger 
ehrenvolle Stelle bei Tische anzuweisen pflegen, als sie selbst ein¬ 
nehmen: dieses zeuge von grossem Unverstände, auch der ge¬ 
ringste Mönch sei als ein Apostel Christi, als ein Vater zu ehren, 
mit den besten Speisen zu bewirthen, wenn man Gottes Zorn ver- 


1 Vockerodt, in Hermann’s «Russland unter Peter dem Grossen». Leipiig 1872,8. 20. 
* Andere Epitheta sind: «nepaii* epeciapxo, öoroMepsiri* ÖJiiosHcpito, rayxii 
acnuAe» u. dgl. s.Pekarski »«aysa u jnrrepaTypa npu IleTpkBeJiMKOMT,». St Petersburg 
1862, II. S 4. 



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meiden wolle. Dem Sohne wird anempfohlen, wenn er in eine Ge¬ 
sellschaft komme und einen Geistlichen unten am Tische sitzen 
sehe, denselben mit einiger Demonstration auszuzeichnen, dessen 
Segen zu erflehen und einen noch bescheideneren Platz einzu¬ 
nehmen, als der Geistliche einnehme. Das respektvolle Benehmen 
soll sich auch auf betrunkene Geistliche erstrecken: die ihnen von 
Gott verliehene Gabe des heiligen Geistes habe keinen Antheil an 
dem Rausche, und nur in den allerseltensten Fällen gehe der Mönch 
dieser Gabe verlustig. Im Prinzip hält Possoschkow die Geistlichen 
so hoch, dass selbst an äusserem Ansehen Niemand vom Gefolge 
des Zaren sich mit ihnen vergleichen könne. Es scheint ihm nicht 
genug, wenn der Sohn seinen Beichtvater wie einen Vater ehre: er 
verlangt, der Sohn solle sich demselben gegenüber als ein Sklave, 
als der geringste aller Menschen fühlen (S. 66). Eine solche Auf¬ 
fassung ist eben bedingt durch die Ueberzeugung, dass Gott den 
Geistlichen die Schlüssel des Heils gegeben habe. Daher ist vor 
jeder Unternehmung, insbesondere aber vor jeder noch so kleinen 
Reise der Segen des Geistlichen einzuholen (S. 66). Sehr naiv be¬ 
merkt er S. 173, indem er dem Sohne räth, auch Bettlern, welche 
häufig eine religiöse Verehrung genossen, bei Tische die leckersten 
Bissen vorzusetzen, es seien ja die Bettler die Repräsentanten 
Gottes und es müsse ja Gott kränken, wenn er sähe, dass die Bettler 
schlecht behandelt würden, ebenso wie ein Sklavenbesitzer es nicht 
gleichmüthig ansehen könne, wenn seine Sklaven in seiner Gegen¬ 
wart leckerer speisten, als der Herr selbst 

% 

Man sieht, dass die religiösen AnschauungenPossoschkow’s durch¬ 
aus denen des «Domostroi» entsprechen. Es scheint ihm darauf 
anzukommen, der Vorsehung gegenüber aus Zweckmässigkeits¬ 
gründen den Standpunkt einer gewissen konventionellen Höflichkeit 
einzunehmen. Durch die Courtoisie gegen Geistliche und Bettler 
hofft er Vortheile zu erlangen, wie man wohl Hofbeamten schmei¬ 
chelt, um sich bei dem Fürsten in Gunst zu setzen. 

So ist es denn halb kindlich, halb kleinlich, dass Possoschkow 
seinen Sohn, falls derselbe beim Schreiben eine neue Feder pro- 
bircn wollte, davor warnt, irgendein geistliches Wort oder einen 
Spruch, wie z. B. «Gott segne mich» zu schreiben, weil solche Fetzen 
Papier nachher leicht mit Füssen getreten würden oder dgl.; man 
müsse vielbesser etwas ganz Unbedeutendes schreiben, z.B.«Versuch 
der Feder». Bemerkenswerth ist, dass das Schreiben eines geist« 


/ 


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3*8 


liehen Spruches beim Versuchen einer neu angespitzten Feder als 
eine weitverbreitete Unsitte bezeichnet wird (S. 214). 

So gut wie unmittelbar aus dem «Domostroi» entlehnt sind die 
Verhaltungsregeln für das Benehmen beim Gottesdienste. Ueber 
die Art und die Zahl der Verbeugungen verbreitet sich Possoschkow 
sehr ausführlich, ferner über das zeitige Abnehmen des Hutes, 
wenn man sich einer Kirche nähere, oder wenn das Sakrament 
getragen werde. Im letzteren Falle wird das Aussteigen aus dem 
Wagen anempfohlen und das Niederknien «im Schmutze» (rpaaHO 
nomioHBCb 40 seMjcii). Ganz genau ist die Zahl der Verbeugungen 
bemessen, welche man beim Vorübergehen an den verschiedenen 
Heiligenbildern zu machen und welche Worte man dabei zu sprechen 
habe (s. das Reglement S. 105). In der Kirche, heisst es weiter, 
solle man unbeweglich stehen, ohne sich einen besonderen Platz aus¬ 
zuwählen, an die Wand dürfe man sich nicht anlehnen, ebensowenig 
sich auf einen Stock stützen, wenn letzteres nicht durch Alter oder 
Krankheit geboten werde. Ueberhaupt gilt es für Sünde, einen Stock 
oder eine Waffe in die Kirche zu nehmen: alles Dieses müsse an der 
Thüre einem Diener zur Aufbewahrung gegeben werden. Ganz 
widerwärtig erscheint dem Verfasser die Sitte der «Deutschen», 
mit Hellebarden in der Kirche zu sein, dem Gottesdienste sitzend 
beizuwohnen und gar keine Verbeugungen zu machen. In der 
Kirche, heisst es ferner völlig übereinstimmend mit den Lehren des 
«Domostroi», dürfe man nicht unvorsichtig spucken, sich schnäuzen 
oder dgl. Sehr unerquicklich ist die detaillirte Ausführung dieser 
Vorschriften, die dem Possoschkow sehr wichtig erscheinen. 

In der Kirche, fährt Possoschkow fort, soll Jedermann bescheiden 
sein, Niemand stossen und drängen, beim Fortgehen sich nicht über 
die Menge erheben, weil vor Gott Arme und Reiche gleich seien. 
Ferner Soll man die Mädchen und Frauen in der Kirche nicht an- 
blicken, nicht auf ihre Schönheit achten: dadurch werde die Wir¬ 
kung aller Gebete zu nichte gemacht. Sehr genau sind die Vor¬ 
schriften, welche beim Stiften von Kerzen vor die Heiligenbilder zu 
beobachten sind. Possoschkow ist höchlichst entrüstet darüber, dass 
dem Bilde des Heilandes oft weniger Verehrung gespendet wird, 
als dem Bilde vieler Heiligen. In einer gewissen Abstufung soll 
durch die Zahl der Kerzen Christus etwas mehr ausgezeichnet 
werden, als die Mutter Gottes, diese etwas mehr, als die Bilder der 
Heiligen. Aehnliche Abstufung findet beim Küssen der Heiligen¬ 
bilder statt. Auf dem Bilde des Heilandes sollen die Füsse geküsst 


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werden, auf denjenigen der Heiligen die Hände. Man soll ferner 
keinen Unterschied machen zwischen alten und neuen» besser und 
schlechter gemalten Heiligenbildern: über den Werth des Bildes 
entscheide lediglich der Name des zu Verehrenden. Will man be¬ 
sonders prächtig mit Gold» Silber und Edelsteinen geschmückte 
Heiligenbilder mehr achten als einfache, oder von berühmten Mei¬ 
stern gemalte Bilder ganz 'besonders verehren, so erscheint dies 
schon als eine Art Götzendienst (S. uo—113). 

Es macht einen eigentümlichen Eindruck zu sehen, wie Possosch- 
kow seinen Sohn vermahnt, auch solche Heilige zu ehren, welche 
von Anderen vernachlässigt werden, als habe man gewissermassen 
ihnen gegenüber ein Unrecht gut zu machen. Wird dem Sohne ein 
Sohn geboren, so soll das Kind den Namen des Heiligen erhalten, 
welcher an jenem Tage gefeiert wird. Entsprechen nun jenem Tage 
die Namen mehrerer Heiligen, so soll der Sohn sein Kind nach 
demjenigen Heiligen benennen, dessen Name wegen des wunder¬ 
lichen Klanges weniger beliebt ist. Es sei, meint Possoschkow 
tadelnswerthe Nichtachtung der Heiligen: Ssosont, Dorimedont, 
Akila, Sseliwan, Ewlampij, Jermogen, Orest u. s. w., ihre Namen 
nur darum nicht zu brauchen, weil sie seltsam klingen. In einer 
solchen Rücksichtnahme auf derartig zurückgesetzte Heilige müssen 
wir nicht so sehr einen Ausdruck der Billigkeit oder Höflichkeit, 
als vielmehr das Gefühl erblicken, dass man in jener Zeit der Für¬ 
bitte der Heiligen zu eigenem Besten und Frommen zu bedürfen 
meinte. Alle äusseren kirchlichen Verrichtungen, wie Possosch¬ 
kow sie seinem Sohne vorschreibt, zeugen von einer gewissen Be- 
sorgniss, durch die Unterlassung derselben das Heil zu verscherzen. 
Man kann eben ohne die Hülfe der Heiligen, wie ohne die Hülfe der 
Geistlichen den Gefahren, welche der Teufel darbietet, nicht ent¬ 
gehen. Der Teufel, heisst es S. 67, ist so fein und durchdringlich 
von Beschaffenheit, dass er auch durch Eisen hindurchkriecht, in 
den Menschen kann er auch ohne alle Oeffnung gelangen. Wer nun 
seines Beichtvaters Gebote nicht befolgt, oder nicht zeitig seine 
Sünden bekennt, den überwindet der Teufel ohne Mühe. Hier er¬ 
zählt Possoschkow eine Geschichte, wie Jemand dem Rathe seines 
Beichtvaters entgegen ins Einsiedlerleben ging, aber eben weil der 
Segen des Geistlichen fehlte, schlug ihm sein Beginnen zum Unheil 
aus und er erlag den Angriffen des Teufels. Hierauf wird der Kampf 
des Geistlichen mit dem Teufel sehr körperlich und handgreiflich 
geschildert. Alle Ketzerei und alles Schisma, meint Possoschkow, 


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39* 


komme lediglich von der Nichtachtung der geistlichen Väter. Nie¬ 
mand soll sich auf die eigene Kraft verlassen: er wird in einem 
solchen Falle unfehlbar eine Beute des Teufels. Wer sterbend das 
Abendmahl empfangt, dessen Seele können «dieDämone im luftigen 
Fegefeuer» (AeMOHHHa B03AyuiHbixT> MUTapCTBaxi») nichts anhaben 
u. dgl. m. (S. 74). 

Dass der Begriff des Pharisäerthums nach modernem Sprach¬ 
gebrauch mit demjenigen der Scheinheiligkeit Zusammenfalle, weiss 
Possoschkow nicht. Ihm erscheint gerade die Haltung und Hand¬ 
lungsweise der Pharisäer nachahmungswerth. Luther's Eifer gegen 
die Werkheiligkeit gilt ihm als eine arge Ketzerei (S. 100). Gerade 
auf die guten Werke wird viel Gewicht gelegt. Daher die Ausführ¬ 
lichkeit, mit welcher von Kniebeugungen und Fasten geredet wird. 
Die Pharisäer fasteten zweimal wöchentlich, also soll auch Possosch- 
kow’s Sohn zweimal wöchentlich fasten. Mittwochs und Freitags 
soll er nicht einmal Fisch essen dürfen. Ja wo möglich soll er die 
Pharisäer im Fasten übertreffen. 


Possoschkow verlangt, der Sohn solle den zehnten Theil seiner 
Einnahme für geistliche Zwecke verwenden, d. h. an Kirchen 
und Klöster schenken oder Almosen spenden. Ja es sei sehr zweck¬ 
mässig, noch etwas mehr als 10 pCt., etwa 15 pCt oder dgl. zu 
opfern (S. 138), weil man auf diese Weise die Pharisäer an Werk¬ 
heiligkeit überbiete. Gleichviel ob die Einnahme gross oder klein 
sei: ein Zehntheil mindestens muss unter allen Umständen geopfert 
werden. Possoschkow selbst giebt zu, dass Viele, die in den Strassen 
betteln, zumal die Krüppel, sehr wohlhabend seien und zu Hause 
nicht bloss reichliche Vorräthe von Lebensmitteln, sondern auch 
Geld besässen (S. 140), aber dennoch empfiehlt er dem Sohne, 
Almosen zu geben und zwar blindlings, ohne Untersuchung des 
wirklichen oder angeblichen Nothstandes. So z. B. wird S. 174 
folgendes Verfahren als sehr zweckmässig empfohlen. Wenn man 
Morgens ausgeht, so muss man mit der Hand in die Börse fahren 
und die ersten drei Münzen, gleichviel ob sie gross oder klein sind, 
zu Almosen bestimmen. Diese muss man denjenigen Bettlern, 
welche man zuerst erblickt, geben. Dabei ist alle Wahl ausge¬ 
schlossen. Sind die ersten Bettler, denen man begegnet, auch 
gesund, kräftig und augenscheinlich weniger bedürftig, so muss 
man ihnen auch dann das Almosen geben, wenn man inzwischen 
etwas fernerstehend ganz gebrechliche, wirklich bedürftige Arme 



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erblickt hat. Aus dem Hause gehen und kein Almosen spenden, ist 
nicht rathsam. 

Es ist dies genau der,Standpunktes «Domostroi», in welchem 
so gut wie mit dürren Worten gesagt ist, dass Almosen an Arme 
und Gefangene als gutverzinsliche Kapitalanlage zu betrachten 
seien *. 

Possoschkow giebt seinem Sohne verschiedene Rathschläge in 
Betreff der Frömmigkeit, je nach der Lebensstellung, welche der¬ 
selbe einst einnehmen werde. Ist der Sohn ein Landmann, so soll 
er Sonntags auch dann nicht arbeiten, wenn man ihm hohen Lohn 
verspricht, sondern zur Kirche gehen. Giebt es indessen wirklich 
Arbeit, welche keinen Aufschub leidet, so mag man arbeiten, aber 
nicht um Geldlohn, sondern die Arbeit als einen Gottesdienst an- 
sehen* (S. 177 und 204). 

Der «Domostroi» hatte gegen mancherlei Zauberei geeifert, welche 
offenbar heidnischen Ursprungs war; ebenso warnt Possoschkow 
seinen Sohn, falls derselbe ein Bauer werde, davor, an Wahrsagerei 
zu glauben. Damit werde, heisst es (S. 205), der Erfolg aller guten 
Werke zu nichte gemacht, und solche böse Dinge könnten Einem 
leicht ewige Höllenstrafen zuziehen. Ebenso solle der Sohn, falls 
er ein Krieger werde, durchaus nur auf die Gnadenmittel der Kirche 
vertrauen und nicht auf allerlei ZaubermitteL Weil das Leben eines 
Kriegers stets in Gefahr sei, müsse derselbe stets zu sterben bereit 
sein. Am Schärfsten perhorrescirt Possoschkow die Sitte des Tra¬ 
gens von Amuleten. Werde ein Krieger, welcher ein Amulet trage, 
getödtet, so könne er geradezu als ein dem Teufel geweihter Schaf¬ 
bock angesehen werden: seine Seele ist unrettbar dem Verderben 
Preis gegeben. Ebenso eifert Possoschkow (S. 174) gegen die Un¬ 
sitte, in Krankheitsfällen die Hülfe von Zauberern in Anspruch zu 
nehmen, welche die Heilung nur mit Hülfe des Teufels bewerkstelli¬ 
gen. Verschlucke man die Arzenei, welche solche Heilkünstler ge¬ 
ben, so könne man damit auch den Teufel selbst verschluckt haben, 
womit denn entschieden sei, dass man um so sicherer selbst eine 
Speise des Teufels werde. 

So glaubt denn Possoschkow an allerlei Teufelsspuck und schlägt 
den Einfluss der bösen Mächte sehr hoch an. Ihm erscheint das 

f s. meine Abhandlung über den «Domostroi» in der <Russ. Revue«, Bd. IV. S. II. 

* Auch gegenwärtig ist es Sitte, an Feiertagen, wenn die Feldarbeit keinen Aufschub 
leidet, die Tagelöhner nicht mit Geld zu bezahlen, sondern mit Lebensmitteln, beson¬ 
ders aber mit Branntwein. 


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ganze Leben als ein fortgesetzter Kampf gegen die teuflischen Ge¬ 
walten. Der Gegensatz zwischen dem Heidnischen und Christlichen 
hatte seit der Einführung der von Byzanz überkommenen Lehre 
nicht aufgehört, und bis auf den heutigen Tag ist der Glaube an 
Heilung auf dem Wege der Besprechung, durch den Hokuspokus 
von Charlatans im Bauernstände sehr verbreitet. 

Was nun den Glauben an Amulete anbetrifft, welche man u. A. 
in Kriegszeiten zur Abwehr von Gefahren zu tragen pflegte, so war 
derselbe zu jener Zeit auch im Westen sehr verbreitet. In der Zeit 
des dreissigjährigen Krieges waren einzelne Soldaten mit Namen be¬ 
kannt, welche nach ihrer eigenen Behauptung und nach dem Glau¬ 
ben ihrer Kameraden «fest» oder «gefroren» waren. Es gab dar¬ 
über sogar Sagen in Menge. Bezauberte sollten die auf sie abge¬ 
feuerten Kugeln ruhig aus dem Busen gezogen haben. Man hielt sie 
aber für dem Teufel verfallen. Viele Soldaten trugen allerlei unter 
beinahe nicht zu erfüllenden Dingen angefertigte Gegenstände 
auf der Brust. Auch sicher treffende Kugeln und Schwerter mussten 
unter besonderen abergläubischen Erfordernissen gefertigt sein. Der 
Teufel und die Kirche spielten dabei ihre seltsam vermischten Rol¬ 
len: so musste man z. B. das Abendmahl unter Anrufung des Teu¬ 
fels nehmen u. dgl. Für verzaubert galten im dreissigjährigen Kriege 
Tilly’s und Wallenstein’s Leiber und Gustaf Adolfs Schwert *. Der 
Serbe Krishanitsch, welcher in seinen Schriften in vieler Beziehung 
die «Deutschen» tadelt, sagt ihnen nach, dass sie mehr als alle an¬ 
deren Völker Zauberei und allerlei Teufelsspuck trieben, erwähnt 
ebenfalls des Zauberschwertes, welches Gustav Adolf getragen haben 
solle, und bemerkt dazu, dass das Beispiel des schwedischen Königs 
zeige, wie dergleichen nie ein gutes Ende nehme *. Der ungewöhn¬ 
liche Erfolg eines Demetrius am Anfänge des siebenzehnten Jahr¬ 
hunderts, oder eines Stenka Rasin in der zweiten Hälfte desselben, 
wurde von dem grossen Haufen der Zauberei zugeschrieben. Eines 
der verbreitetsten Schimpfwörter, deren sich die Regierung Wassi- 
lij’s gegen Demetrius bediente, war «Hexenmeister» 8 . Von Stenka 
Rasin wurde erzählt, er habe die Kanonen von Zarizyn auf wunder¬ 
bare Weise zum Schweigen gebracht, er könne durch die Luft flie¬ 
gen u. s. w. 4 . Nur Wenige mochten an der Möglichkeit oder Wahr- 


1 Henneam-Rhyn, Kulturgeschichte. II 137. 

* Pycacoe rocyAapcTuo bt» noJtOBMHt XVII rbaa. II. 255. 

1 Petrejus, Historien und Bericht von dem Grossfiirstenthum Moskau. Leipsig 1620. 



S. 354—355- 

* Kostomarow, Stenka Rasin (russisch). S. 59 und 91. 




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scheinlichkeit solcher Wunder zweifeln; die Meisten aber hielten der¬ 
gleichen für eine arge Sünde. Schon der «Domostroi» hatte vor 
Wahrsagerinnen und Zauberern gewarnt: sie befanden sich, von dem 
Standpunkte dieser Schrift aus betrachtet, auf einer Stufe mit Gift¬ 
mischern 1 . 

Was nun die Krankheiten anbetrifft, so gelten sie nach der An¬ 
schauung des «Domostroi» als gleichbedeutend mit Strafen Gottes, 
und dagegen konnte also in erster Linie nur Reue und Busse heilend 
wirken. Der eDomostroi» warnt eben auch vor Zauber mittein, und 
empfiehlt Heilung durch Gebet, wunderthätige Bilder und geweihtes 
Wasser. Possoschkow theilt im Wesentlichen diese Ansichten, 
empfiehlt aber dabei seinem Sohne doch gegen Krankheit den Rath 
eines Arztes einzuholen. Für die Behauptung, dass die regelrechte 
Heilkunde von Gott eingesetzt sei, beruft sich Possoschkow auf Je¬ 
sus Sirach und bemerkt hierzu, dass man den Arzt gut bezahlen 
müsse. Sehr rationell räth er seinem Sohne, sogleich beim Beginn 
der Krankheit energisch einzugreifen und nicht eine Verschlimme¬ 
rung der Krankheit abzuwarten: ein kleines Feuer könne man im 
Keime ersticken, während eine grosse Anzahl von Menschen nicht 
mit einem grossen Brande fertig zu werden vermöchten. Ausser¬ 
dem wird eine zweckmässige Diät, Mässigkeit im Essen und Trinken 
als die oft wirksamste Heilmethode empfohlen. Aber auch die Er¬ 
haltung der Gesundheit, des Lebens erscheint dem Possoschkow als 
eine Art religiöser Pflicht. Das Leben ist eine fortgesetzte Arbeit 
zur Erlangung des Seelenheils, und da darf denn kein Augenblick 
ungenützt vergehen, ohne dass u. A. durch Gebete die Wahrschein¬ 
lichkeit, den Angriffen des Teufels zu entgehen, in etwas vermehrt 
würde. Das Kreuzschlagen hilft gegen den Teufel. Denkt man in 
entscheidenden Augenblicken an Gott, so erlangt man leichter Ver¬ 
gebung der Sünden. Es ist der Teufel, welcher in seinem Interesse 
unausgesetzt thätig und, auf alle schwachen Augenblicke lauernd, 
eine gewisse Zerstreutheit beim Gebete zu bewirken im Stande ist, 
und diese Zerstreutheit gefährdet die Wirksamkeit des Gebetes, 
stellt das Seelenheil in Frage (S. 95). Es handelt sich nicht darum, 
die Gebete herzuplappern, sondern im Geiste dabei zu sein, eine Be¬ 
hauptung, für deren Unterstützung dem Possoschkow* ein Citat aus 
Chrysostomos nöthig erscheint, sowie eine Anzahl von Bibelstellen 
hierbei angeführt werden. Auch auf die Zahl der Gebete kommt es 
an. Man muss dieselben oft wiederholen. Für alle verschiedene 

1 AoMoerpoft, S. 67 und 73. 

Bus. Bme. B4. VIJ. 2 6 


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Veranlassungen sind besondere Gebete vorgeschrieben, jedes Hei¬ 
ligenbild verlangt eine besondere Anrede. Es spielt auf diese Weise 
gerade beim Gebete eine gewisse Etikette eine grosse Rolle. Das 
savoir faire in geistlichen Angelegenheiten gilt für entscheidend Es 
handelt sich um eine gewisse Dressur in allen dahineinschlagenden 
Fragen. Der Formalismus beherrscht die ganze Auffassung von diesen 
Dingen. So geht Possoschkow’s Verehrung der Bücher, welcheer nur 
als geistliche Bücher auflasst, so weit, dass er dem Sohne verbietet, 
sich beim Lesen auf dieselben zu stützen, oder irgend «eine weltliche 
Sache* auf ein Buch zu legen oder zu stellen. Ein Buch müsse ebenso 
heilig gehalten werden, wie ein Heiligenbild. Trägt man ein Buch, 
so darf man es nicht in die Hosentasche, oder in eine niedriger 
gelegene Rocktasche legen, sondern in die Brusttasche u. s. w. 
Es erscheint dem Possoschkow als ein Gräuel, wenn Menschen so 
leichtfertig sind, etwa einen Leuchter, damit derselbe höher stehe, 
auf ein Buch zu stellen. Ein solcher Frevel scheint ihm nur dadurch 
möglich, dass die Menschen nicht ahnen, wie sie Gottes Namen da¬ 
durch vernichten. Es ist eine mechanische, kleinliche, naive Auf¬ 
fassung von den Beziehungen des Menschen zu Gott, wenn solche 
Vorschriften, wie z. B., dass man nicht bis in die unmittelbare Nähe 
der Kirche reiten oder fahren dürfe, sondern schon in einiger Entfer¬ 
nung absteigen müsse, gegeben werden; wenn der Rath ertheilt wird, 
in müssigen Augenblicken oder auf Reisen nicht unthätig zu sein, 
sondern Psalmen, Bibelsprüche, Gebete u. s. w. herzusagen (s. S. 
170 und 171). Possoschkow räth dem Sohne, derselbe solle mit 
seiner Gemahlin die ersten zwei Nächte nach der Hochzeit ausschliess¬ 
lich mit Gebeten verbringen. In der ersten Nacht handle es sich da¬ 
rum, die Dämonen zu verjagen, in der zweiten darum, den heiligen 
Patriarchen die Ehre zu geben, welche ihnen gebührt. So sind die 
Mittel beschaffen, welche jeder Ehe eine gesunde Nachkommen¬ 
schaft sichern. Durch ein würdiges Betragen, durch Gebete und 
Kniebeugungen der Ehegatten wird Gott veranlasst, dieselben vor 
allem Bösen zu bewahren (S. 27—30). 

Man weiss, wie manche Reformen Peter’s des Grossen als baare 
Ketzerei aufgefasst wurden. Das Bartscheeren galt als ein Verstoss 
gegen die Satzungen der Kirche, die Verlegung des Jahresanfangs 
von dem 1. September auf den 1. Januar wurde als eine «dem römi¬ 
schen Gotte Janus» dargebrachte Huldigung, mithin als ein Rückfall 
in das Heidenthum angesehen, Perückenstöcke, deren sich die russL 
gehen Beamten bedienten, galten als Götzen, welche die Regierung! 
üerehren hiess. 


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Possoschkow, obgleich in vielen anderen Stücken ganz unbedingt 
ein Anhänger Peter’s, war den Perücken nicht hold. In den anderen 
Schriften Possoschkow’s wird dieses Gegenstandes nie erwähnt, um 
so öfter kommt derselbe in der c Vermahnung an den Sohn» darauf 
zu sprechen, und zwar wiederum in Verbindung mit religiösen Lehren 
und kirchlichen Vorschriften. So scheint es ihm gleich sündlich, ob 
man in der Kirche mit einer Mütze, oder mit einem Hute, oder mit 
einer Perücke auf dem Kopfe versehen sei. Es scheint ihm entsetz¬ 
lich, dass sogar beim Anblick des Allerheiligsten die Perücke nicht 
abgelegt werde, während doch auch die Priester bei gewissen Mo¬ 
menten des Gottesdienstes ihr Haupt entblössten. Dadurch werde 
das Sakrament vernichtet. Eine Perücke, meint Possoschkow, sei 
schlimmer als einHut oder eine Mütze, weil die Letzteren aus Wolle 
oder Thierhaaren gemacht würden, während man sich bei der An¬ 
fertigung von Perücken der Haare von Menschen und zwar vorzugs¬ 
weise der Haare von todten Frauen, oder von Frauen von zweifel¬ 
haftem Rufe bediene. Den ausserhalb alles Christenthums stehen¬ 
den Lutheranern (S. 150) zieme es vielleicht Perücken zu tragen, 
nicht aber den Rechtgläubigen; daher räth Possoschkow seinem 
Sohne (S. 161), nie eine Perücke zu tragen, sondern sich mit dem 
eigenen Haupthaar zu schmücken. Ebensowenig, wie man an einem 
Fasttage ein Fleischgericht, welches die Form eines Fisches habe, 
essen dürfe, habe man ein Recht, eine Perücke nicht für etne ebenso 
den Vorschriften der Kirche widersprechende Sache zu halten, als 
eine sonstige Kopfbedeckung, wenn man dieselbe in der Kirche auf¬ 
behalten wollte (S. 166). Den Lutheranern freilich, fahrt Possosch¬ 
kow entrüstet fort, erscheine gar nichts als Sünde, weder Blut essen, 
noch am Charfreitag Hochzeit halten, noch nach dem Essen zum 
Abendmahl gehen, aber Luther sei ja auch nichts besser als Muha- 
med. Die Rechtgläubigen dagegen müssten alles Mögliche für Sünde 
halten, und seien sich sehr wohl bewusst, dass sie keinen Tag und 
keine Stunde ohne Sünde seien, dass sie unaufhörlich Busse thun 
müssten u. s. w. 

Eine sehr lebhafte Entrüstung Possoschkow's erregt die Lehre 
Kopernikus’, dass die Erde sammt ihren Planeten sich um die Sonne 
bewege. Gott habe, meint Possoschkow, die Erde als das Schwer¬ 
ste und die Sonne als das Leichteste geschaffen: schon daraus allein 
ersehe man, wie unsinnig die Behauptung sei, dass die Erde in vier¬ 
undzwanzig Stunden viele Millionen Werst um die Sonne sich be¬ 
wege. Durch solches faule Geschwätz, behauptet er, werde das 

*6* 


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Wort Gottes und die Schöpfung Gottes verunehrt: Moses habe Alles 
sehr deutlich erzählt, dass Gott erst am vierten Tage die Sonne, den 
Mond und die Sterne geschaffen habe, aber Kopernikus, der es Gott 
gleich thun wolle wolle das, was Gott dem Moses offenbart habe, 
vernichten. Für Alles dieses werden die Lutheraner verantwortlich 
gemacht, (s. S. 156 und 157). 

Possoschkow’s keineswegs freisinnige Ansichten in Bezug auf 
astronomische Fragen theilte derselbe mit vielen Zeitgenossen. Es 
galt bei Vielen für Ketzerei, sich mit derartigen Studien zu befassen. 
Als die Kinder des Zaren Alexei Michailowitsch in der Astronomie 
unterrichtet wurden, machte ein Geistlicher, Namens Lazarus, dem 
Zaren zum Vorwurf, dass derselbe «Philosophen bei sich halte, wel¬ 
che die Erscheinungen des Himmels und der Erde erläuterten und 
die Länge der Schweife der Sterne mit einer Elle messen wollten *. 
Kometen waren den Zeitgenossen Possoschkow's nicht so sehr Ge¬ 
genstand wissenschaftlicher Forschung, als ein Symptom drohenden 
Unheils zur Strafe für allerlei Sünden. 

Es ist sehr begreiflich, dass Possoschkow bei solcher Intoleranz 
gegen die Lutheraner, wie gegen Andersdenkende überhaupt, sehr 
energisch protestirt gegen die Sektirer in Russland. In mehreren an 
Stephan Jaworskij gerichteten Schreiben, welche zum Theil noch 
nicht herausgegeben sind, so wie in seinem Hauptwerke «Ueber 
Armuth und Reichthum» hat er das Sektenwesen einer gründlichen 
Besprechung unterzogen. Die Schrift «der Spiegel» ist ausschliess¬ 
lich diesem Gegenstände gewidmet. In der an den Sohn gerichteten 
«Ermahnung» wird die Frage vom Sektenwesen nur gelegentlich 
berührt, und zwar nicht in den Abschnitten, welche religiösen Fra¬ 
gen gewidmet sind, sondern in dem Abschnitt über die Laufbahn 
eines Beamten oder Richters, zu welcher der Sohn sich möglichen¬ 
falls entschliessen werde. 

Hier ist nun davon die Rede, wie man mit verschiedenen Verbre¬ 
chern zu verfahren habe. Es werden im Allgemeinen sehr strenge 
Massregeln empfohlen. Am wenigsten aber, meint Possoschkow, 
dürfe man die Ketzer schonen. Alle Gottesleugner müsse man so¬ 
gleich nach der Folter zum Galgen, oder zum Richtbeil, oder zum 
Scheiterhaufen führen, ohne ihnen etwa eine Frist zur Reue und Busse 
zu gestatten. Jeder Aufschub gefährde das Heil anderer Seelen, 

* Hier im Russischen ein Wortspiel: «Konepmiici» Bory cynepmiKi>». 

• s. Schtschapow’s Werk über das Sektenwesen, Pyccititt pacaojn. crapoodpaACTia, 
Kasan 1859. S. 94. 


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welche leicht verführt werden könnten, und dann habe der nachsich¬ 
tige Richter vor Gott für diese verlorenen Seelen zu verantworten. 
Die Raskolniks müssen scharf verhört werden, und wenn sie sich als 
gefährliche Dissidenten entpuppen, sind sie einer grausamen Folter 
zu unterwerfen, damit sie ihre Verführer angeben; sodann muss 
man nach zwei oder drei Tagen die Folter in noch stärkerem Masse 
wiederholen, sie sodann verbrennen, auch ihre Knochen in Staub 
verwandeln, und diesen Staub in tiefe Sümpfe werfen, damit eine 
Verehrung der Reliquien solcher angeblicher Märtyrer durch ihre 
Schüler unmöglich sei. Alle Diejenigen aber, welche für diese Ver¬ 
brecher Bürgschaft leisteten, müssen sehr streng bestraft werden. 
(S. 234 und 235). 

Wir sehen an solchen Proben der kirchlichen und religiösen An¬ 
sichten Possoschkow’s, wie dieselben in seiner Schrift «Testament 
des Vaters an den Sohn» zum Ausdruck gelangen, dass man damals 
noch mehr als heute unter dem Einflüsse mittelalterlicher Verfol¬ 
gungssucht, mittelalterlicher kirchlicher Tyrannei stand. Man em- 
fand nicht, dass die Vertheidigung des Christenthums in der Sicher¬ 
stellung des Wesens der Religion, und nicht in der Vertheidigung 
ihrer Aussenwerke bestehen müsse. Man war im Götzendienste 
des Dogmas befangen. Glauben und Aberglauben berühren 
einander. Göttliche Wunder und Zauberei erscheinen als gleich¬ 
artig. Dieselben Ansichten, welche Possoschkow entwickelte, 
finden sich in etwas früherer Zeit auch im Westen. Dem Glauben 
an Magie und Hexerei im Volke entsprechen als Rivalsystem die 
Begriffe der mittelalterlichen Theologie. Gegen die Wirkungen 
der Zauberei glaubte man mit den talismanischen Wirkungen des 
Weihwassers u. dgl. m. helfen zu können. Die Geistlichkeit ver¬ 
mehrte die Talismane ins Unendliche. Heilige erzeugten früher mit 
derselben Leichtigkeit Regen, wie später die Hexen. Heidnischer 
Glaube trat in die christlichen Dogmen über, und mit fast jedem 
Theile des römisch-katholischen Glaubens vermischen sich Spuren 
des Heidenthums. Der Glaube, dass das um den Hals gehängte 
Evangelium Johannis, ein Rosenkranz, eine Reliquie genüge, um 
die Anstrengungen der Bosheit des Teufels zu vernichten, ist im 
Wesentlichen nicht verschieden von den Amuleten, welche die 
Krieger zu tragen pflegten, um hieb- und stich- und schussfest zu 
werden. Thomas von Aquino sprach die Ueberzeugung aus, dass 
Krankheiten und Ungewitter nur vom Teufel herrührten. Noch 
Luther war der Ansicht, dass gewisse Insekten und Reptilien nicht 


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von Gott, sondern vom Teufel geschaffen seien. Noch in dem Zeit¬ 
alter Possoschkow’s sind in verschiedenen Ländern Hexen verbrannt 
worden. Wenn ein Mann, wie Bodinus, im Westen die Ueberzeugung 
hatte, dass die Hölle von 7,405,926 Teufeln bevölkert sei, so 
braucht man sich nicht zu wundern, wenn im «Domostroi» oder in 
Possoschkow’s Schriften so viel von Teufeln die Rede ist Eis war 
eine finstere Weltanschauung, welche uns in diesen Schriften ent¬ 
gegentritt. Der Mensch, von allen Seiten bedroht, kann seiner 
Existenz kaum einen Augenblick froh werden. Fast allen Menschen 
war ein unsägliches Leiden nach dem Tode in Aussicht gestellt. Die 
Phantasie beschäftigte sich vorzugsweise mit Bildern von den Qualen, 
welche die Verstorbenen im höllischen Feuer zu erdulden hätten. Die 
Kirche war eine einsame Arche auf einem grenzenlosen Meere des 
Verderbens. 

Possoschkow muss seine Schrift verfasst haben, als sein Sohn, 
Nikolai, noch ein Knabe war. Er liefert eine EIncyklopädie der 
Berufsarten in der Voraussetzung, dass der Sohn eine derselben 
wählen werde. Da muss es uns denn Wunder nehmen, dass wir 
unter den einzelnen Abschnitten dieser Partien des Buches, in 
welcher u. A. von den Pflichten des Landmanns, des Kaufmanns, 
des Handwerkers die Rede ist, einen Abschnitt über das Berufs¬ 
leben eines Geistlichen oder eines Mönchs vermissen. War auch 
Possoschkow selbst seiner Lebensstellung zufolge ein Laie und nicht 
ein Geistlicher, ein Kaufmann, Techniker, Gutsbesitzer, Lieferant 
der Krone, Finanzbeamter und nicht ein Mönch, so war denn doch 
seine Bildung eine vorwiegend geistliche. Andere als geistliche 
Bücher wird er schwerlich je gelesen haben. Einem solchen Vater 
musste es bei dem Gedanken an den künftigen Beruf des Sohnes 
wahrscheinlich, ja fast wünschenswerth erscheinen, dass der Sohn 
sich die geistliche Laufbahn wählen möge. Und das ist denn auch 
der Fall gewesen. 

In seinem letzten und bedeutendsten Werke, in der Schrift «über 
Armuth und Reichthum*, erwähnt Possoschkow mehrmals seines 
für den Sohn verfassten «Väterlichen Testaments». S. 18—20 
finden sich Ausführungen darüber, welche Rathschläge Possoschkow 
seinem Sohne gegeben habe für den Fall, dass er ein Geistlicher würde. 
Possoschkow schlägt in seiner Schrift «über Armuth und Reichthum» 
vor, das «Testament» drucken zu lassen, damit alle Diejenigen, 
welche sich dem geistlichen Stande widmen wollen, daraus ersehen 
können, wie ein Geistlicher sein Amt zu versehen habe, wie ein 


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Kirchenfurst seine Pflichten erfüllen, gegen die Sektirer Vorgehen 
müsse, wie die Examina der sich dem geistlichen Berufe Wid¬ 
menden einzurichten seien, u. s. w. 

In der von Hm. A. Popow herausgegebenen Schrift findet sich nun 
nichts dergleichen. Da jedoch nicht daran zu zweifeln ist, dass das 
•Testament» eben jenes Werk ist, dessen Possoschkow als seines 
eigenen in dem Buche «über Armuth und Reichthum» erwähnt, so 
muss jene Nichtübereinstimmung des von Possoschkow in Bezug auf 
das geistliche Berufsleben Angeführten mit dem Inhalte der vorlie¬ 
genden Edition durch die Annahme erklärt werden, dass in der 
Abschrift des «Testaments» jenes Kapitel über das Berufsleben des 
Geistlichen fehlte. Das Buch war, wie wir wissen, durch die Hände 
verschiedener Besitzer gegangen. Einer derselben mochte den 
Abschnitt über die Geistlichkeit weggeschnitten haben, wie denn 
u. A. an einer Stelle (S. 189) der Abschnitt über die Handwerke 
mitten in einem Satze abbricht, so dass die Schrift unvollständig 
erscheint, und an einer anderen Stelle (S. 176) beim Brochiren der 
Handschrift ebenfalls etwas weggeschnitten worden ist. 

So sind wir denn nicht im Besitz dieses Kapitels, können aber den 
Inhalt desselben als übereinstimmend mit den sonstigen Schriften 
Possoschkow’s in Bezug auf die Pflichten der Geistlichen voraus¬ 
setzen, und u. A. erfahren wir denn aus dem Kapitel über die Geist¬ 
lichkeit in dem Werke »über Armuth und Reichthum» sehr genau, 
was Possoschkow über diesen Punkt dachte. Wir wissen, dass er 
mit grosser Energie eine sittliche und intellektuelle Hebung des 
geistlichen Standes anstrebte, der Unwissenheit der Geistlichen die 
Schuld an den Miss^tänden in dem religiösen Leben des Volkes zu¬ 
schrieb, und auch in ökonomischer Beziehung die Geistlichen besser 
zu stellen empfahl. Sehr strenge Massregeln beantragte er in Betreff 
des Schulzwangs, der Examina und Disputationen. Ebenso scharf 
trat er gegen die Trunksucht der Geistlichen auf. Sie seien bisher 
nicht wahre Hirten gewesen: sie müssten sich auf ihre Pflichten be¬ 
sinnen, mehr Sorgfalt auf ihre Bildung sowohl, wie auf ihr äusseres 
Auftreten verwenden, in jeder Beziehung würdig und Achtung gebie¬ 
tend vor dem Volke erscheinen u. s. w. 

Pädagogik und Moral. 

Bei einer so vorwiegend theologischen Weltanschauung, wie die¬ 
selbe in Possoschkow repräsentirt ist, muss es als selbstverständlich 
gelten, wenn seine Ansichten über das Erziehungswesen durchzogen 


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sind von kirchlichen Grundsätzen, wenn er der Ueberzeugüng ist, dass 
alle Erziehung einen vorwiegend geistlichen Charakter haben müsse. 

Schon im zartesten Alter müssten die Gedanken des Kindes auf 
Gott hingelenkt, müsse die Furcht Gottes in dem Kinde entwickelt 
werden, meint Possoschkow. Höchst entrüstet erzählt er, wie 
sehr viele Eltern in Russland in der leichtsinnigsten Weise das 
Seelenheil ihrer Kinder aufs Spiel setzen, indem sie dieselben in 
einem Alter, wo sie noch nicht zu sprechen vermögen, allerlei 
Possen lehren. Der Vater lehre das Kind, wie es die Mutter schelten 
und auf die Wangen klopfen, die Mutter unterweise das Kind, wie 
es den Vater verspotten, am Barte zupfen, und in Gegenwart an¬ 
derer Menschen allerlei unziemliche Scherze treiben solle. Dass ein 
Vater, wenn sein Kind ihn am Barte fasst, sich darüber ergötzt, 
erscheint dem Possoschkow als Thorheit und Sünde. Ein so kurzes 
Vergnügen der Eltern verderbe die Seele der Kinder fUr alle Zeit. 
Dass alles Dieses möglich sei, dass die Kinder so früh schon Zoten 
reissen lernen u. dgl., schreibt Possoschkow dem schwachen Ein¬ 
flüsse der Geistlichkeit zu. Die ersten Eindrücke und Richtungen, 
meint Possoschkow, seien für ein Kind entscheidend. Wer so schlecht 
erzogen sei, endige oft am Galgen, oder in Trunksucht, oder komme 
sonst auf unheilvolle Weise um. Es sei besser, gar keine Kinder zu 
haben, als dieselben, wenn man sie hat, so unsinnig zu erziehen. Zu 
allererst müsse man einem Kinde von Gott reden, es vor Gottes 
Zorn warnen: Gott sehe Alles, wenn das Kind schimpfe, oder 
schlage, oder die Zunge zeige, und werde es zur Strafe todtschlagen. 
Von den Tataren will Possoschkow gehört haben, dass sie ihre 
Kinder schlagen, auch ohne dass sie etwas Schlechtes begangen 
hätten, nur damit die Kinder sich fürchten lernten. Vor allen 
Dingen müsste man, fährt Possoschkow fort, die Kinder in ihren 
religiösen Pflichten unterweisen, ihnen die Bilder der Heiligen 
zeigen. Je mehr ein Kind gestraft werde, ein desto besserer 
Mensch werde es. Die alten Heiligen hätten stets gerathen, die 
Kinder unbarmherzig zu prügeln. Niemand soll seinem Sohne freien 
Willen lassen, sondern man muss ihm «die Rippen brechen», so 
lange er jung ist. Spielt man mit einem Kinde, so verdirbt man es. 
Je ärger man es strafe, desto mehr Freude erlebe man hinterdrein an 
demselben. Possoschkow braucht den Ausdruck: «dem Sohne oft 
Wunden auferlegen». 

Für die Unerlässlichkeit solcher Misshandlungen der Kinder beruft 
sich Possoschkow auf Autoritäten wie Jesus Sirach und Salomo. Er 



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hätte sich mit noch mehr Recht auf den «Domostroi» berufen 
können, dessen Ansichten für Possoschkow massgebend waren *. 
Die Zahl der den Kindern ertheilten Stockschläge erscheint ihm 
als ein guter Massstab für die Liebe der Eltern zu den Kindern. 
Alle Heiterkeit soll, den Anschauungen des «Domostroi» und 
Possoschkow’s zufolge, aus dem Verkehr der Erwachsenen mit den 
Kindern verbannt sein. Die Grämlichkeit und Härte der pädagogi¬ 
schen Grundsätze jener Zeit haben für uns etwas Abstossendes. 
Ausdrücklich wird gesagt, man dürfe weder selbst mit dem Kinde 
spielen, noch dasselbe mit anderen Kindern spielen lassen. Für jedes 
unnütze Wort, das geredet werde, müsse beim jüngsten Gericht 
Rechenschaft gegeben werden. Aller Scherz und Witz gilt für 
Sünde. Auch in der Schule, heisst es weiter, dürfe dem Sohne 
nicht im Geringsten der freie Wille gestattet werden; auch da müsse 
er stets unter der Aufsicht eines Greises oder einer alten Frau sich 
befinden, welche ihn keinen Augenblick, weder am Tage noch in 
der Nacht aus den Augen lassen, damit er nicht durch schlechte 
Gesellschaft irgendwie verdorben werde (S. 54—55). 

So ist denn alle Erziehung nur mehr eine äusserliche Zucht. Es 
gilt nicht so sehr eine Gesinnung zu entwickeln, als vielmehr allen 
Willen zu brechen. Es handelt sich nicht so sehr darum, nach dem 
Guten zu streben, als gegen das Böse zu kämpfen. Der Grundzug 
der Anschauung ist auch hier wie in anderen Stücken der Pessimis¬ 
mus, ein Voraussetzen des Schlechten, Misstrauen. 

Eine solche Auffassung dürfte am ehesten durch die Rohheit und 
Unsittlichkeit jener Zeit zu erklären sein. Den Ausländern, welche 
in Russland reisten, fiel der Egoismus der Scherze an der Tafel, die 
Unsittlichkeit im Verkehr der Geschlechter unter einander, die Un¬ 
sauberkeit der Puppentheater auf, an denen sich nicht bloss Männer, 
sondern auch Frauen und Kinder ergötzten. Da musste man zu¬ 
nächst daran denken, durch eine Art klösterlicher Zucht, durch 
äusseren Zwang die heranwachsende Generation vor so verderblichen 
Einflüssen zu bewahren. In Betreff der Gefahren verschiedener Ver¬ 
führung ist Possoschkow ausserordentlich umständlich, und schildert 
sehr genau, in welcher Weise durch die strengste Aufsicht, durch 
Ermahnungen und Strafen man die den Zöglingen drohende Gefahr 


1 s. z. B. folgende Parallelstelle: «Domostroi* 48: pamd Boaaara*ni; Hakasya 
A*fcTii m» IOHOCTH noicoion» tu na erapocTb tboio». Possoschkow: «ysacTMTb cuny 
paHbi, Aa Ha nocjrfcAoirb bOdoeceJiaTcx o 


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eiiligermassen reduciren könne. Der Sodomiterei werden sehr aus¬ 
führliche Betrachtungen gewidmet, und wir können daraus auf die 
Verbreitung dieses Lasters schliessen (S. 8 u. io, 55.). Auch sollen 
Knaben und Mädchen nie mit einander spielen dürfen. Wenn der 
Sohn sich den Mädchen nähert, und mit ihnen heiter ist (ci> mojeo- 
AHijaMH öy^erb myTHTb), so soll man ihm «die Rippen brechen», 
damit er rein bleibe an Leib und Seele. 

Es werden ferner einige spartanische Grundsätze bei der Erziehung 
empfohlen. Aller äussere Schmuck, kostbare Kleider, verschiedene 
Zierrathen sollen den Kindern vorenthalten bleiben. Ebenso sollen 
alle Süssigkeiten verbannt sein. Die Kinder sollen an grobe Spei¬ 
sen (cypoßbje äah) gewöhnt werden, schon weil diese der Gesund¬ 
heit zuträglicher seien, als die Leckereien. Auch vor geistigen Ge¬ 
tränken soll man die Kinder bewahren, am meisten aber vor auslän¬ 
dischen Weinen, welche der Gesundheit besonders nachtheilig seien. 
(S. 57 u. 58). Bei diesen letzteren Rathschlägen sind übrigens nicht 
nur pädagogische Gesichtspunkte für Possoschkow massgebend ge¬ 
wesen, sondern noch mehr national-ökonomische, merkantilistische, 
deren Erörterung ausserhalb unserer gegenwärtigen Aufgabe liegt. 

Was nun die Unterrichtsgegenstände anbetrifft, welche Possosch¬ 
kow seinem Sohne empfiehlt, so erfahren wir auch aus diesem Stu¬ 
dienplan, dass die Ausbildung einen vorwiegend geistlichen Charak¬ 
ter haben müsste. Vor Allem wird das Studium der kirchenslavi- 
schen, griechischen und lateinischen, auch wohl der polnischen 
Sprache empfohlen. Der Zweck ist ausschliesslich die Lektüre geist¬ 
licher Bücher (S. 8). Ferner wird auf das Rechnenlernen «bis zur 
Division» Gewicht gelegt, sowie auf das Zeichnen. Bei dem letzteren 
Gegenstände verweilt Possoschkow ausführlicher, weil er selbst in 
technischen Fertigkeiten wohl bewandert war, die Messkunde be¬ 
herrschte, und mit allerlei Instrumenten wohl umzugehen verstand. 
Er meint, beim Zeichnen müssten den Lernenden die Proportionen 
anschaulich gemacht werden: Das nütze nachher bei den verschieden¬ 
sten Gelegenheiten. Täglich muss nach Possoschkow's Ansicht ein 
gewisses Pensum im Zeichnen und Lesen aufgegeben werden. Der 
Lernende dürfe nie müssig sein (S. 56). Sehr hübsch ist der S. 170 
ertheilte Rath: «Wenn Du ein Buch liesest, so lies nicht schnell, son¬ 
dern mit grossem Fleiss; halte stets Tinte und Papier bereit, und 
wenn Dir etwas gefällt, so schreibe es aus mit genauer Angabe des 
Buches, des Kapitels, der Zeile. Willst Du dann im Gespräche mit 
einem Anderen ein göttliches Wort anführen, so kannst Du ein sol- 


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ches Citat leicht in Deinem Papier finden, und behältst es besser in 
Deinem Gedächtniss: sq bringt denn ein solches Verfahren sowohl 
Dir als Anderen Nutzen». 

Man sieht, dass Possoschkow recht viel über pädagogische Fragen 
nachgedacht haben muss. In seinem Schreiben an Stephan Ja- 
worskij, welches sich handschriftlich in der Bibliothek der Akademie 
der Wissenschaften zu St. Petersburg befindet, spricht er ausführlich 
über die Ausbildung der Geistlichen, macht einige Bemerkungen 
über den Unterschied zwischen dem russischen und lateinischen Al¬ 
phabet, beantragt die Gründung von Akademien, sowie die Errich¬ 
tung zahlreicher Schulen in vielen Städten. Die Hauptlehrgegen¬ 
stände sollen Grammatik und Rhetorik sein. Ueber die Wahl der 
Lehrer finden sich manche gute Winke. Doch ist der ausschliess¬ 
liche Zweck aller Schule das Bedürfnis der Kirche. Von einer 
weltlichen Bildung, von einer speciellen Vorbildung für ein weltliches 
Berufsleben finden sich in seinen Ansichten über 'das Schulwesen 
nur wenige Spuren. Auch hier wie sonst erscheint die Religion nicht 
bloss als das Wichtigste, sondern als das allein Wichtige. 

Sehr eindringliche Lehren giebt der Vater seinem Sohne in Be¬ 
treff einer gewissen Mässigung beim Reden. Aller Schimpfreden 
soll er sich enthalten, demüthig und bescheiden im Benehmen mit 
Anderen sein (S. 15). Beim Reiten soll der Sohn Acht geben, dass 
Niemand von ihm beschädigt, in den Schmutz gedrängt, oder mit 
Koth bespritzt werde; ja selbst ein Huhn überreiten, ist Sünde, weil 
es von Gott geschaffen ist. Also auch hier wiederum ist das Motiv 
für eine solche Ermahnung nicht Mitleid als solches, sondern ein re¬ 
ligiöses Gefühl der Abhängigkeit von Gott. Auch werden für alle 
solche Verhaltungsregeln Bibelstellen in grosser Anzahl citirt. Weil 
Gott die Bäume wachsen lässt, soll der Sohn nicht leichtsinnig einen 
Baum abhauen. Bei diesen Lehren kommen dann allerdings zu den 
religiösen Motiven noch national-ökonomische hinzu. Die von Peter 
dem Grossen zum Zwecke des Forstschutzes erlassenen zahlreichen 
Verordnungen werden nicht ohne Wirkung auf Possoschkow geblie¬ 
ben sein. Daher verweilt er denn bei diesem Gegenstände etwas 
länger, indem er verlangt, der Sohn solle, wenn er nur wenig Holz 
brauche, den Stamm unversehrt lassen und sich an einigen Zweigen 
oder am Windbruch genügen lassen, kein Nutzholz oder Brennholz 
verwenden u. dgl. Allgemein human erscheint die Ermahnung, die 
Saatfelder Anderer zu schonen, nicht über gesäetes Gras zu reiten, 
überhaupt Niemandem wissentlich oder absichtlich einen Schaden 


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zuzufugen. Indessen vergisst er nicht zu bemerken, dass die Barm¬ 
herzigkeit Gott'wohlgefällig sei (S. 17—18). 

Beim Essen wird Mässigkeit empfohlen; allzufrüh am Tage eine 
Mahlzeit einzunehmen, gilt für der Gesundheit nachtheilig. Im Gegen¬ 
sätze zur makrobiotischen Wirkung des massigen Essens wird auf 
die Sterblichkeit unter den der Trunksucht Ergebenen hingewiesen. 
Um nicht als Leckermaul (cjiacTOJiK>6eui>) zu erscheinen, muss man 
in Gesellschaft nicht lange in der angebotenen Schüssel nach einem 
guten Stücke umhersuchen, sondern das erste beste Stück nehmen. 
Einem Gebote Jesus Sirach’s zufolge soll man mit dem Essen warten, 
bis der Wirth oder ein angesehener Gast zu schmausen angefangen 
hat. Es gilt auch hierbei, Gottes Gebote streng zu befolgen. Ob es 
sich nun um das Lieben der Feinde, um das Unterdrücken der Rach¬ 
sucht handelt, welche Tugenden S. 144 empfohlen werden, oder 
um nicht allzu spätes Aufstehen (S. 97), es wird nach Möglichkeit 
alles Dieses auf göttliche Vorschriften zurückgeführt. 

Wie im cDomostroi» das Ausüben mancher Tugend in gewissem 
Sinne Sache der Berechnung ist, so sucht auch Possoschkow seinen 
Sohn durch die Aussicht auf Lohn zum Guten zu bekehren. Indem 
er ihn ermahnt, nicht nach weltlichem Gut zu trachten, weil mässiges 
Vermögen der Seele heilsamer sei als grosser Reichthum, stellt er 
ihm doch in Aussicht, dass Gott, wenn der Sohn nur tugendhaft sei, 
auch für sein leibliches Leben Sorge tragen werde. Im Himmel aber, 
da werde, so meint Possoschkow, der Tugendhafte im Beisein aller 
Engel von Gott gelobt werden, und reicher und berühmter sein, als 
die irdischen Fürsten (S. 144). Indem er den Sohn ermahnt, niemals 
sich etwas Fremdes anzueignen, stets seine Schulden zu bezahlen, 
auch ohne gemahnt zu werden, alle Zahlungstermine einzuhalten 
u. s. w., bemerkt er, dass, wer so thue, von allen Leuten gelobt werde, 
und den Ruf eines rechtschaffenen Mannes geniesse. Indessen 
wird gleich darauf doch freundliches Grüssen, Leutseligkeit mit Nie¬ 
drigergestellten empfohlen, «nicht um gelobt zu werden, sondern 
weil man auch innerlich wahrhaft demüthig und bescheiden sein 
müsse». (S. 145). 

Eine eigentümliche Inkonsequenz fällt bei folgenden Lehren auf. 
S. 147 ff. ist in sehr würdiger Weise von der Liebe zur Wahrheit 
die Rede: man solle auch dann die Wahrheit, und nur diese reden, 
wenn dies Nachtheil bringe. Lieber sterben, als lügen, meint Po¬ 
ssoschkow. Wer für die Wahrheit stirbt, kann der Märtyrerkrone ge¬ 
wiss sein und ist glücklich zu preisen, während der Lügner unfehlbar 


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eine Beute des Teufels werden muss. Damit wollen nun die Aus¬ 
führungen auf S. 193 nicht stimmen, denn aus denselben geht her¬ 
vor, dass Soldaten als Kriegsgefangene ganz systematisch die Un¬ 
wahrheit reden müssen, Ueber die Stärke der Truppen, denen der 
Kriegsgefangene angehört, über die Vorräthe an Schiessbedarf und 
Lebensmitteln u. s. w. sollen unter Umständen durchaus lügenhafte 
Aussagen gemacht werden. Von den anderen Kriegern soll der Kriegs¬ 
gefangene sagen, sie seien alle in vielen Schlachten erprobt und alte, 
erfahrene Soldaten, von sich dagegen soll der Kriegsgefangene, auch 
wenn er im Dienste erfahren ist, sagen, er sei eben erst in das Heer 
eingetreten 1 u. dgl. m. Eine solche Moral ist nicht ekle ideale, doch 
dürften im Alten Testament Analogien für eine solche Auffassung 
anzutreffen sein. Die Laxheit einer solchen entspricht derselben 
kindlichen Naivetät oder Unreife, wie die Liebe zur Tugend mit der 
Aussicht auf Belohnung. Es ist eben nicht völlig reine selbstlose 
Menschenliebe, welche den Sohn Possoschkow’s veranlassen soll 
(S. 171), Jedem zu helfen, dessen Wagen im Schmutze steckt, Jedem 
auszuweichen, dem er auf einem schmalen Wege oder auf einer 
schmalen Brücke begegnet, Jedem beizuspringen, welcher von Räu¬ 
bern angefallen ist — alle diese Lehren schliessen mit der Phrase: 
«für eine solche Tugend wird Gott Dich in dieser und jener Welt er¬ 
heben und berühmt machen». 

Ehe und Berufsleben. 

Der «Domostroi» verbreitet sich sehr eingehend über die Stellung 
der Frau, über deren Pflichten und über die Pflichten des Mannes 
als Zuchtmeisters der Frau. Ohne auf diese Fragen so umständlich 
einzugehen, behandelt Possoschkow in seiner an den Sohn gerichte¬ 
ten Schrift die Ehe, namentlich die Eheschliessung in eigentüm¬ 
licher Weise. Er ertheilt zunächst seinem Sohne einige Rathschläge 
in Betreff der Wahl einer Gattin. Dies wird ebenfalls als eine reli¬ 
giöse Angelegenheit bezeichnet. Die Braut soll nicht von angesehe¬ 
nerem Geschlecht sein, als der Bräutigam; auch soll sie nicht reicher 
sein, weil sonst der Mann geringschätzig behandelt werden kann. 
Nicht der Mann soll durch die Frau Ehre geniessen, sondern umge¬ 
kehrt die Frau durch den Mann. Am Meisten hat man bei der Wahl 
der Braut zu achten auf Demuth, Verstand, und vor Allem auf Fröm¬ 
migkeit, da diese letztere, die Gottesfurcht, der Anfang aller Weis- 

1 n 9% CJiOBftxi. npasAu hi imjiui He ofosBAstt; ho cxuoiob rosopa am» aojtk 


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heit ist. Ueber die religiösen Pflichten der Ehegatten spricht dann 
Possoschkow ausführlicher. Auf Schönheit meint er, sei nicht so 
sehr zu achten, indessen komme es ja auch oft vor, dass körperliche 
Schönheit zugleich mit Seelenadel angetroffen werde, wofür denn 
mehrere Beispiele aus dem Alten Testamente angeführt werden. 
Wunderlich klingt die Mahnung, der Sohn solle doch nicht um zwei 
oder drei Jungfrauen zu gleicher Zeit sich bewerben, «denn sie ist ein 
Mensch wie Du, und nicht ein Pferd. Man kann, wenn man das Geld 
dazu hat, mehrere Pferde kaufen; wenn man aber an drei Jungfrauen 
zugleich Gefallen findet, dann kann man sie doch nicht alle nehmen». 
Es folgen sodann Winke, wie man gelegentlich die Braut zu Ge¬ 
sichte bekommt, ohne zunächst formell um ihre Hand angehalten 
zu haben. Sei das Wort einmal gegeben, so dürfe man nicht zurück. 
Vor aller Zauberei bei der Hochzeit wird dringend gewarnt, weil 
alles Teufelswerk Gottes Einfluss ausschliesse (S. 20—25). Ueber 
eine ehrsame und wohlanständige Hochzeitsfeierlichkeit spricht Po¬ 
ssoschkow sehr ausführlich, über die Auswahl der Gäste, welche 
man einladen müsse, über frühere bei Hochzeiten übliche heidnische 
Gebräuche, welche man vermeiden müsse. Die ersten Tage und 
Nächte der Ehe müssen unter Gebet und Beobachtungen allerlei 
religiöser Gebräuche verbracht werden. Viele der dahin gehörenden 
Rathschläge sind unmittelbar aus dem Alten Testament entlehnt; es 
sind orientalische Satzungen, welche einen ebenso hygienischen wie 
kirchlichen Charakter haben (s. S. 28—33), wobei wiederum den 
Lutheranern die ärgsten Dinge nachgesagt werden (s. S. 59 u. 60). 

Der Frau wird einiger Einfluss, einige geistige Bedeutung einge¬ 
räumt. S. 70 warnt Possoschkow seinen Sohn vor allzugrosser 
Eigenmächtigkeit bei Entschliessungen und räth ihm, ohne den 
Rath der Frau nichts zu unternehmen, da sie ihm von Gott nicht als 
Dienerin, sondern als Gehülfin durch Vermittelung der Kirche ge¬ 
geben sei. Wer die Frau nicht achtet, der achtet auch Gott nicht: 
ja die Frau sei keine einfache Gehülfin, sondern dem Manne gleich 
(He npocTyio noMomHmeio, ho üoaoöhok)). Dass indessen alles 
Dieses wiederum mehr religiöser Formalismus ist, als ein eigentliches 
Sittengesetz, erweisst sich aus folgender Bemerkung: auch wenn 
die Frau einfältig, geistig unvermögend (MajiOMbicJieHHa) ist, muss 
man, bloss um Gottes Gebot äusserlich Genüge zu leisten, ihren 
Rath hören. Gicbt sie dann einen unsinnigen Rath, so wird Gott, 
in Berücksichtigung der Folgsamkeit des Mannes, demselben die 
Fähigkeit geben, klar zu erkennen, was Noth thut. Verlässt sich 


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aber der Aiann zü sehr auf die eigene Kraft, so muss er unfehlbai* 
straucheln. 

Mehr hat Possoschkow im Grunde in Bezug auf das eheliche Leben, 
dem ein besonderer Abschnitt (S, 25—31) gewidmet ist, nicht zu 
sagen. Er bewegt sich zum Theil in Gemeinplätzen und citirt das 
Schriftwort: «Wo zwei oder drei versammelt sind* u. s. w. 

Es ist einigermassen auffallend, dass Possoschkow, welchem der 
«Domostroi» ohne Zweifel bekannt war, so gar nicht der Haushal¬ 
tung, der Pflichten des Hausherrn und der Hausfrau erwähnt. In 
dem Masse, als er sonst den ökonomischen Fragen eine besondere 
Aufmerksamkeit zuzuwenden pflegt, musste man erwarten, dass er 
die Führung des Haushalts, Küche und Keller besonders ausführlich 
besprechen werde. Doch findet sich in den Schriften Possoschkow’s 
so gut wie nichts über diesen Gegenstand. Im «Domostroi» sind 
diesen weltlichen Dingen neben den religiösen Fragen sehr umständ¬ 
liche Betrachtungen gewidmet. Possoschkow’s Schrift ist in noch 
eminenterem Masse religiös und kirchlich als der «Domostroi«. 

Indessen hat denn doch Possoschkow in dem letzten, sehr umfas¬ 
senden Theile seiner Schrift, dem «bürgerlichen Leben* eine Reihe 
von sehr instruktiven Betrachtungen gewidmet. Es wird darin 
das Verhalten des Sohnes in verschiedenen Berufsstellungen be¬ 
sprochen. 

Einleitungsweise ertheilt der Vater dem Sohne allerlei allgemeine 
Verhaltungsregeln, welche sich auf das Geschäftsleben beziehen. 
So heisst es z. B. S. 145: «Wenn Dir eine Angelegenheit des Zaren 
anvertraut ist, so kümmere Dich weiter gar nicht um dein Haus¬ 
wesen oder um sonst Etwas, sondern nur um das Dir aufgetragene 
Geschäft. Alle gemachten Auslagen schreibe pünktlich an, . . . 
es müssen stets zwei Bücher geführt werden, eines für das Notiren 
der Ausgaben und Einnahmen, und ein Anderes für alle Agenda» 
u. s. w. Diese Rathschläge werden später wiederholt, wobei die 
schlimmen Folgen des Nichteinschreibens sehr eingehend geschil¬ 
dert werden. Das Abfassen einer Tagesordnung, eines Verzeich¬ 
nisses der zu erledigenden Geschäfte ist ein Gedanke, welcher in 
Possoschkow den tüchtigen Geschäftsmann, den gewissenhaften 
Beamten erkennen lässt. Er will Klarheit in allen Geschäften, 
Pünktlichkeit und Zeitersparniss. Nicht Viele mochten in jener Zeit 
so von Pflichtgefühl beseelt sein, wie Possoschkow. 

Possoschkow hat die allerverschiedensten Lebensstellungen, in 
denen sein Sohn sich befinden werde, für möglich gehalten. Er selbst 


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Wfcr ein Sauer, hatte aber am wenigsten sich mit dem landwirt¬ 
schaftlichen Gewerbe beschäftigt. Er war wohlhabend und konnte 
es für wahrscheinlich halten, dass sein Sohn nicht leicht in eine ganz 
untergeordnete oder völlig abhängige Stellung gerathen werde. 
Dennoch spricht er recht ausführlich von der Möglichkeit des Ver- 
armens, und giebt für diesen Fall dem Sohne allerlei Rathschläge, 
wie er sich als Tagelöhner, oder als Sklave, oder als Bettler ver¬ 
halten solle. 

Ist der Sohn in der Lage, sich als Tagelöhner verdingen zu 
müssen, so solle er nicht verzweifeln, sondern auf Gott vertrauen, 
fleissig arbeiten, . pflichttreuer sein als sonst Tagelöhner zu sein 
pflegen, und dies Alles nicht um des zeitlichen, sondern um des 
ewigen Lohnes willen. An den Lastern, der Trunksucht, der Spiel- 
wuth seiner Genossen, der anderen Arbeiter, soll er keinen Theil 
haben, sondern die faulen Arbeiter zur Arbeit anhalten, ohne sie 
jedoch dem Herrn zu denunciren. An Festtagen soll sich der Tage¬ 
löhner in die Kirche begeben und noch mehr als an anderen Tagen 
sich eines tugendhaften Wandels befleissigen. 

Ist der Sohn nicht im Stande, sich mit seiner Hände Arbeit als 
Tagelöhner zu erhalten, so muss er sich in die Sklaverei verkaufen. 
Da ist dann Demuth die erste Pflicht. Ein Sklave muss seinen 
Herrn ehren, mit den anderen Sklaven in Frieden leben. Früherer 
besserer Tage, da er noch im Wohlstände war, darf er nicht ge¬ 
denken. Auch einem bösen Herrn, welcher die Tugend seines 
Sklaven nicht achtet, muss man gehorchen. Der nach Aegypten 
verkaufte Joseph wird als Muster eines Sklaven gepriesen. Keine 
Arbeit soll man als zu schwer zurückweisen; nur wenn der Herr von 
dem Sklaven unsittliche Handlungen verlangt, z. B. Raub oder 
Diebstahl, dann soll der Sklave den Gehorsam verweigern, aber mit 
milden Worten. Scheltworte und Schläge des Herrn, wenn derselbe 
auch ein Trunkenbold oder Wüstling ist, müssen geduldig hinge¬ 
nommen werden. Trotz Allem muss der Herr Anderen gegen¬ 
über gelobt werden. Hat man sich als Sklave für eine gewisse 
Zeit verdungen, so darf man den Dienst auch dann nicht vor dem 
Termin verlassen, wenn die Behandlung oder die Nahrung schlecht 
sind. Findet der Sklave etwas, das dem Herrn gehört, so soll er 
es nicht für sich behalten, sondern gewissenhaft abliefem. Für alle 
solche gute Handlungen wird Gottes Lohn nicht ausbleiben 
(s. S. 176—185) 


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Die Pflichten eines Bettlers bestehen lediglich in Gebet und 
Gottesdienst. Er soll nicht daran denken, Vermögen zu erwerben, 
oder eine noch so geringe Summe etwa für seine Bestattung zu er¬ 
sparen. So wird denn das Bettlerleben als ein Beruf aufgefasst. Die 
Almosen, welche ein Bettler erhält, werden als sine der Vorsehung 
gegenüber kontrahirte Schuld angesehen. Diese Schuld wird durch 
religiöse AJebungen ausgeglichen. Erhält der Bettler ein Stück 
Brod, so muss er drei Kniebeugungen oder Fussfalle machen; für 
jeden viertel Kopeken sechs Fussfalle, für einen halben Kopeken 
deren zwölf u. s. w. Geschieht es nicht, so wird in jener Welt an 
den Bettler ein Anspruch erhoben werden, dem er vielleicht nicht 
gerecht zu werden vermag. Ein Bettler darf keine Hütte haben; er 
darf anderen Bettlern keine lästige Konkurrenz machen, nicht mehr 
bitten, als er zum nothdürftigsten Lebensunterhalt bedarf; die 
Sorge für den anderen Tag muss ihm ganz fremd sein; mehr als ein 
Kleid darf er nicht besitzen, erhält er mehr Geld, als er im Au¬ 
genblicke braucht, so muss er den Ueberschuss fortgeben, oder 
Lichte in die Kirche stiften. Zu den Pflichten eines Bettlers gehört 
Gewissenhaftigkeit im Sprechen der vorgeschriebenen Gebete für die 
Mitglieder der zarischen Familie, im Beobachten aller kirchlichen 
Gebräuche u. s. w. 

Solche Anschauungen stehen im Widerspruche mit den in Betreff 
der Bettler herrschenden Einrichtungen und Ansichten in den mo¬ 
dernen Kulturstaaten. Possoschkow ist hier der Vertreter des 
Orients, wo es von Bettlern wimmelt, und wo der Bettler als solcher 
eine gewisse religiöse Bedeutung hat. In der Bezeichnung «yöorift» 
liegt der Beweis, dass dieses auch in Russland der Fall ist. Während 
allmählich in der Regierungszeit Peter’s gegen das Bettlerunwesen 
Massregeln ergriffen wurden, also eine moderne Auffassung Raum 
gewinnt, ist Possoschkow noch in dem Ideenkreis einer früheren 
Zeit befangen. 

Was nun die eigentlich geschäftlichen Rathschläge anbetrifft, so 
fallen dieselben in dem Abschnitt über das Leben des Landmannes 
am Dürftigsten aus. Der ehemalige Bauer Possoschkow hatte für die 
technische Seite der Landwirtschaft offenbar nur ein geringes In¬ 
teresse. Daher beschränkt er sich in diesem Kapitel auf Gemein¬ 
plätze und nichtssagende* Wiederholungen über die Bedeutung der 
Sonntagsfeier und andere religiöse Pflichten. Dass der Sohn, falls er 
Bauer werde, keinen Verkehr haben solle mit Räubern, ist eine 
Lehre, welche durch den Umstand erklärt wird, dass die Bauern sehr 

Kum. herao. Bd. >11. 27 




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4io 


häufig als Hehler mit den Strolchen und allerlei gefährlichem Gesin¬ 
del solidarisch waren, ein Umstand, den Possoschkow in seinem spä¬ 
teren Werke «über Armuth und Reichthum» einer eingehenden Er¬ 
örterung unterwirft. Die Frohnarbeit soll gewissenhaft ausgefiihrt 
werden; vom Nachbarn sollen weder Erbsen noch Rüben gestohlen 
werden; die Reisenden müssen gastfreundlich bewirthet werden, 
ohne dass ihnen dafür zu hohe Preise berechnet würden. Hat ein 
Bauer nichts an sonstigen Lebensmitteln, so mag er dem Wanderer 
einen Trunk «Kwass» anbieten, wofür Gott entgelten werde. Schliess¬ 
lich wird noch vor allerlei Zauberei und Wahrsagerei gewarnt, eine 
Mahnung, welche freilich für jeden Anderen ebensd gut passen 
würde, wie für einen Bauer. 

Possoschkow war selbst Techniker. Er lieferte Waffen für die 
Krone, fertigte Prägstöcke an, war beim Münzwesen beschäftigt, 
hatte eine Branntweinbrennerei u. s. w. Daher widmete er dem 
Handwerk und Fabrikwesen auch eine grössere Aufmerksamkeit. 
Dieses lag um so näher, als auch Peter der Grosse, merkantilistischen 
Grundsätzen folgend, eine Menge Verordnungen in Betreff der In¬ 
dustrie erliess. 

Indessen sind die Lehren, welche Possoschkow seinem Sohne für 
den Fall, dass derselbe ein Handwerk treiben werde, giebt, nicht so 
sehr technischer als ethischer Natur. Es wird vor Allem grosse Ge¬ 
wissenhaftigkeit bei der Wahl des Materials empfohlen, aus welchem 
die verschiedenen Industrie-Erzeugnisse angefertigt werden, sowie 
eine gewisse Sorgfalt bei der Ausführung von Bestellungen. Der 
Handwerker oder Fabrikant müsse mit seinem Zeichen auf der Waare 
für die Güte derselben verantworten. Sei dann die Waare schlecht, 
so setze man sich der gerichtlichen Verfolgung aus. Die Warnung 
vor dem Gebrauche fremder Stempel auf der eigenen Waare deutet 
vielleicht auf ein häufiges Vorkommen dieses Vergehens in damali¬ 
ger Zeit. Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit werden so dringend ein¬ 
geschärft, dass man vermuthen muss, Unpünktlichkeit und allerlei 
Betrug seien an der Tagesordnung gewesen. Der Sohn, bemerkt 
Possoschkow, solle doch nur ja die in Aussicht gestellten Termine 
bei Ausführung von Bestellungen einhalten, als Goldschmid keine 
anderen Metalle den edlen beimischen, alles «ohne Falsch» (6ea*b 
eajibmHBCTBa) machen. Besondere Sorgfalt müsse ein Waffen- 
schmid an wenden. Sei das Material, aus welchem eine Flinte ange¬ 
fertigt sei, schlecht, so könne das Gewehr springen und den Inhaber 
verletzen oder tödten, und in einem solchen Falle sei der gewissen- 



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4i l 


lose Waffenschmid als Mörder anzusehen. Für den Fall, dass der Sohn 
ein Maler werde, giebt Possoschkow allerlei Regeln zum Besten über 
die beim Anfertigen von Heiligenbildern zu beobachtenden Propor¬ 
tionen. Ueber diesen Punkt spricht er denn in ähnlichem Sinne in 
seinem späteren Werke «über Armuth und Reichthum». Es scheint 
ihm gottlos, dass die Heiligenbilder in so pfuscherhafter Weise, ohne 
alle Kenntniss der Verhältnisse des menschlichen Körpers, gemalt 
werden. Er beantragt die Zusammenstellung eines Lehrbuchs, nach 
welchem die Maler sich stets richten könnten. Es erinnern diese 
Bestrebungen an Albrecht Dürer's «Vier Bücher von der mensch¬ 
lichen Proportion» (1528). 

In dem Abschnitt über den Kaufmannsstand (S. 189—192) wird 
so gut wie ausschliesslich über die Tugend der Ehrlichkeit gespro¬ 
chen. Man müsse Wort halten, auch wenn es im Augenblick mit 
einem materiellen Verlust verbunden sei, man müsse ehrlich sein in 
Schütt-, Getreide- und Ellenmassen, alle Waare reichlich und ge¬ 
wissenhaft abliefem, ohne der schlechten Waare durch allerlei Künste 
ein vortheilhafteres Ansehen zu geben. Kleine Kinder, welche in 
den Kaufladen kommen, dürfe der Kaufmann nicht an Geld oder 
Waare betrügen. Alle diese Regeln werden in dem späteren Haupt¬ 
werk Possoschkow’s weiter ausgeführt. Sie mochten den damali¬ 
gen Verhältnissen entsprechen. Bezeichnend für den ethischen Ho¬ 
rizont Possoschkow’s ist es, dass erstens die Furcht vor Strafe, 
und zweitens die Aussicht auf Lohn den Handwerker und Kaufmann 
veranlassen müsse, ehrlich zu sein. «Lügst Du», heisst es, «so 
kommst Du in die Hölle» u. dgl., und dann wieder wird der Vortheil 
einer guten Reputation sehr genau geschildert. Ja selbst den ma¬ 
teriellen Vortheil, den man bei gewisserhafter Ehrlichkeit momentan 
einbüsse, ersetze Gott stets doppelt und dreifach. Das sind kauf¬ 
männische Gesichtspunkte, welche uns in ähnlicher Weise auch im 
«Domostroi» begegnen. 

Possoschkow war nie Militär gewesen, aber ein guter Schütze und 
ein tüchtiger Kenner guter Waffen. Er hatte eine Art Höllenma¬ 
schine oder Mitrailleuse erfunden, und ein Modell derselben für 
Peter den Grossen angefertigt; er hatte in einem Schreiben an den 
Bojaren Golowin bereits im Jahre 1701 sehr wesentliche Fragen des 
Militärbudgets und des Heerwesens eingehend erörtert; er hatte 
endlich oft genug die Rohheit der Soldateska empfunden, und von 
manchen Offizieren, welche er in seinem Hauptwerke namhaft macht, 
allerlei Misshandlungen erfahren. Ein Theil seines an Peter den 


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412 


Grossen gerichteten Memoire's «überArmuth und Reichthum» ist 
den das Heerwesen betreffenden Fragen gewidmet. Er musste es 
für möglich halten, dass sein Sohn die militärische Laufbahn ergrei¬ 
fen werde, und für einen solchen Fall stattet er ihn mit einigen guten 
Rathschlägen aus. Auch hier herrschen die allgemeinen Vorschrif¬ 
ten über Frömmigkeit, Demuth, Bescheidenheit vor. Ein verräthe- 
rischer Soldat, meint Possoschkow, sei ewigem Verderben geweiht, 
ein räuberischer Soldat, welcher die Civilbevölkerung kränke oder 
ausplündere, reize Gottes Zorn. Sehr hübsch ist die Ermahnung, 
dass bei Einquartirung der Soldat seinen Gastgeber möglichst milde 
und rücksichtsvoll behandeln solle. An dem Beispiel eines Soldaten, 
Namens Kulnow, welcher sich in den Tschigirinschen Feldzügen 
hervorgethan hatte, zeigt Possoschkow, wie ungewöhnliche Tapfer¬ 
keit im Felde sehr wohl vereinbar sei mit grosser Milde und Gemüths- 
Weichheit im Frieden. Gebet, Sittenreinheit, Liebe zur Wahrheit, 
strenge Beobachtung der Fasten stehen dem Krieger wohl an. Fer¬ 
ner muss der Soldat sein Gewehr gut behandeln, sauber halten, ge¬ 
wissenhaft sich üben im Schiessen, damit nicht unnützerweise Muni¬ 
tion verloren gehe. Diesen national-ökonomischen Gesichtspunkt 
betont Possoschkow auch sehr nachdrücklich in seinen anderen das 
Heerwesen betreffenden Schriften. Als Offizier soll der Sohn sich 
noch mehr wie in der Eigenschaft eines Soldaten davor hüten, die 
Nichtmilitärs zu kränken. In diesem Punkt soll ein Offizier gegen 
seine Untergebenen unerbittlich streng sein. Schütze man die Un- 
bewaffneten vor der Rohheit der Krieger, so könne man sicher auf 
Lohn von Gott rechnen. Ebenso erscheint es als vortheilhaft fin¬ 
den Offizier, wenn er die Kriegsbeute der Soldaten sich nicht ge¬ 
waltsam oder unrechtmässiger Weise aneignet, indem Gott es ihm 
in jener Welt hundertfältig vergelten werde. Auch denjenigen Ge¬ 
nossen, mit welchen man verfeindet sei, müsse man beispringen, 
wenn man sehe, dass sie in Gefahr seien, in Kriegsgefangenschaft zu 
gerathen, oder im Kampfe mit dem Feinde zu erliegen u. s. w. 
(S. 192—204). 

Am Ausführlichsten behandelt Possoschkow den Beruf eines 
Richters, Beamten oder Schreibers. Er hatte offenbar in seinem 
Leben vielfach Gelegenheit gehabt; die Unsittlichkeit der damaligen 
Bureaukratie, die Bestechlichkeit der Richter kennen zu lernen und 
den materiellen Schaden zu beurtheilen, welcher aus solchen Män¬ 
geln für das Publikum erwachsen musste. Um so eindringlicher 
schärft er seinem Sohne für den Fall, dass er eine Beamtenlaufbahn 


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Wahle, ein, er solle das Interesse des Volkes und Staates im Augd 
behalten, den Werth der Zeit schätzen, gewissenhaft seine Pflicht 
erfüllen, das richtige Mass Strenge und Milde kennen. 

Ein Schreiber muss früh in das Lokal der Behörde kommen und 
spät fortgehen, fleissig sein, nicht unnötigerweise seine Arbeit 
unterbrechen, gegen seine Vorgesetzten zuvorkommend sein. Sind 
Arbeiten bis zu einem gewissen Termin zu vollenden, so muss man 
die Zeit einhalten. Auf die Kollegen darf man sich nicht zu sehr 
verlassen, sondern ihnen ein Vorbild geben, wie sie pünktlich, 
nüchtern und sorgfältig arbeiten sollen. Sparsamkeit im Verbrauch 
von Papier wird schon aus merkantilistischen Gründen empfohlen, 
weil so viel Geld für Papier aus dem Lande gehe. 

Hat ein Beamter über einen Rechtsfall ein Gutachten abzugeben, 
so muss er alle Kraft aufbieten, die Sache nach allen Richtungen hin 
zu beleuchten, ganz objektiv verfahren, sich nicht bestechen lassen* 
Für letzteres Vergehen wird mit Höllenstrafen gedroht. Ein Richter 
sei in der glücklichen Lage, Gott zu gefallen, wenn er die Gekränkten 
schützt und gerecht urtheilt. Durch Gebet soll er sich täglich auf 
seine Berufsthätigkeit vorbereiten. Sehr genau schildert Possosch- 
kow, wie man Verhöre anzustellen, unter den streitenden Parteien 
in civilrechtlichen Fällen Vergleiche herbeizuführen suchen müsse. 
Nirgends, bemerkt er, werde so viel gelogen, wie bei Zeugenaus¬ 
sagen: daher müsse der Richter den Leuten ins Gewissen reden, 
manche Zeugen unter vier Augen verhören u. s. w. Ueber die An¬ 
wendung der Folter, die Brandmarkung und die Anwendung der 
Todesstrafe folgen sodann sehr lehrreiche Ausführungen, welche 
uns über die Rechtsanschauungen, sowie über die Kriminalstatistik 
jener Zeit zu unterrichten geeignet sind. Sehr hübsch sind die 
Bemerkungen, dass es einem Richter stets zur Ehre gereiche, wenn 
die Zahl der Prozesse abnehme, dass der schleppende Gang der 
Justiz den Volkswohlstand schädige, dass ein Vorgesetzter seine 
Untergebenen rücksichtsvoll behandeln, ihnen Zeit ersparen müsse, 
dass manche Angelegenheiten kollegialisch behandelt werden müssten 
u. s. w. (S. 208—246). 

Man sieht, dass diese letzten, die Beamtenlaufbahn betreffenden 
Abschnitte, welche umfangreicher sind als die vorhergehenden über 
die anderen Berufsarten, bei Weitem inhaltreicher und vielseitiger 
gehalten sind, als die sonstigen Partien des «Testaments». Sie haben 
einen weltlicheren Charakter, sie treten aus den dem «Domostroi» 
entsprechenden Anschauungen in das praktische Leben. Die tech- 


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tusche, rein geschäftliche Seite des Berufs wird mehr betont, als 
die religiöse. Es sind nicht so sehr mönchisch-asketische Gesichts¬ 
punkte die massgebenden, als fachmännische. Es weht in diesen 
Betrachtungen über die Pflichten eines Beamten oder Schreibers ein 
frischerer Luftzug, während in den übrigen Theilen der Schrift eine 
dumpfe Klosterluft herrscht. Wir haben Grund zu der Annahme, 
dass auch die Abschnitte über Industrie und Handel ausführlicher 
geschrieben wurden, als sich dieselben in der von Hrn. I^opow ent¬ 
deckten und herausgegebenen Handschrift darstellen. Zu einer 
solchen Annahme veranlasst uns erstens die Ausführlichkeit und 
grössere Vielseitigkeit, mit welcher Possoschkow dieselben Stoffe 
in anderen Schriften behandelt, und zweitens die unverhältniss- 
mässige Kjirze der Kapitel über den Beruf des Kaufmanns, des 
Handwerkers, des Soldaten u. s. w. im Vergleich mit der Länge 
der Abschnitte Uber die Beamtenlaufbahn (O npiuasHuxi, no- 

pjuucax-b). 

Dem sei, wie ihm wolle: im Wesentlichen sehen wir Possoschkow 
in seinen Ermahnungen an den Sohn in den Anschauungen einer 
früheren Zeit befangen. Er lehnt sich an die Lehren des «Domostroi» 
an. Wir erfahren aus dieser Schrift Possoschkow’s nicht, dass 
er ein gelehriger Schüler Peter's des Grossen war, dass er zu 
den Wenigen gehörte, welche die Intentionen des genialen Auto¬ 
kraten zu würdigen wussten und viele Reformen mitthätig unter¬ 
stützten. Während er in manchen anderen seiner Schriften, insbe¬ 
sondere in den meisten Kapiteln seiner Schrift «Ueber Armuth und 
Reichthum» für den Fortschritt eintritt, sehr einschneidende Re¬ 
formen befürwortet, und hier und da als sehr liberal und progressis- 
tisch erscheint, tritt er in seinem für den Sohn geschriebenen 
«Testament» als ein Vertreter des ancien regime auf, indem er hier 
nur ausnahmsweise und ganz flüchtig weltliche Stoffe behandelt, 
und vorwiegend geistliche, kirchliche Gesichtspunkte betont So 
macht denn dieses Werk einen durchaus unmodernen Eindruck. Es 
ist ein rückwärts gewandter Blick ins Mittelalter. Die darin, ent¬ 
haltene Pädagogik und Didaktik stellt sich als eine überlebte, ana¬ 
chronistische dar. A. Brückner. 

(Fortsetzung folgt)« 


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Otto Anton Pleyer, 

der erste fBnnlieh aecreditirte Österreichische Diplomat am russischen Hofe. 

1692 - 1719 . 


(Schluss). 

Pleyer als Berichterstatter. 

Das umfangreiche Material aus der Feder Pleyer's ist auf etwas 
mehr als 150 Seiten in Gross-Octav in den Beilagen zum 2. bis 4. 
BandeUstrjalow’s zusammenhängend niedergelegt; wie schon in der 
Vorrede bemerkt wurde, hat der Verfasser der Geschichte Peter’s 
des Grossen uns die wichtigeren Relationen, diese aber in extenso 
mit der OrthogVaphie Pleyer’s, publicirt. Dem zweiten Bande ist die 
ausführliche Beschreibung des ersten Asow’schen Feldzuges beige¬ 
fügt, der dritte Band enthält 4 Berichte aus dem Jahre 1697, und 
nach einer Lücke von zwei Jahren drei Berichte vom December 1699 
bis zum März 1700 (im letzten meldet Pleyer zuerst von dem bevor¬ 
stehenden Bruch mit Schweden), den bei Weitem grössten Theil fin¬ 
den wir im 2. Theil des 4. Bandes; es sind auf 120 Seiten nicht we¬ 
niger als fünfzig Dokumente, die ohne eine längere Unterbrechung 
den nordischen Krieg von seinem Ausbruch bis zum December 1706, 
wo er ja mit del- Bewältigung Sachsens in eine neue Phase trat, be¬ 
gleiten. An die 26 Relationen Pleyer’s als österreichischer Sekretär 
reiht sich noch seine Denkschrift aus dem Jahre 1710, die gewisser- 
massen den Schlussstein zu jenen bildet, die desshalb bei der Betracht 
tung Pleyer’s, als Verfassers dieser historischen Dokumente, mit zu 
Grunde gelegt sei. 

Bis zum Ausbruch des nordischen Krieges wusste man in Europa 
kaum viel mehr über Russland, als dass sich hier eine Umgestaltung 
der alten Verhältnisse vorzubereiten begann; nur dunkel ahnte man, 
dass die noch rohen Kräfte des weiten Reiches, geleitet von dem 
festen Willen eines hochbegabten Herrschers, entscheidend in die 
Geschicke eingreifen könnten; man suchte die bisher unbekannte 
Grösse, welche doch schon in Rechnung gebracht werden musste, 


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naher zu bestimmen, und zu dem Zweck ja war Pleyer von der Öster¬ 
reichischen Regierung in die ferne Zarenresidenz ausgesandt worden. 
Wie nun verhielt dieser sich zum Gegenstand seiner Beobachtung, 
zu Russland selbst? 

Zunächst mag es gestattet sein, zu bemerken, dass Pleyer sich 
äusserlich in seinem neuen Aufenthaltsort — abgesehen von zufälli¬ 
gen Unannehmlichkeiten — offenbar wohlgefühlt hat, (denn sonst 
hätte er sich wohl schwerlich um ein weiteres Verbleiben daselbst 
so eifrig bemüht) und andererseits scheint auch er vom russischen 
Hof nicht ungern gesehen zu sein. Nicht ohne Eitelkeit spricht er 
selbst im Februar 1702 von sich als von „ientöitb, bet fd&on an ben 
(Sjatifdfcen Ijoff tuafe bejfer belannt unb tuofl gelitten tuere" 59 , und ist hierauf 
auch nichts zu geben, so zeigen doch auch andere Umstände, dass 
er bei Hof nicht persona ingrata gewesen ist: das ganze Verhalten 
der russischen Regierung ihm gegenüber war, wie wir gesehen haben, 
durchaus entgegenkommend, der Kanzler Golowin unterstützte ihn 
mit seinem wohlmeinenden Rath, auch der Zar selbst Hess später 
gelegentlich durchblicken, dass ihm Pleyer’s Persönlichkeit in der in 
Rede stehenden Zeit ganz genehm gewesen sei 90 . 

Im Auslande waren damals die irrthümlichsten Ansichten über 
Russland verbreitet, die ungeheuerlichsten Erzählungen fanden gläu¬ 
bige Hörer, im Allgemeinen wurden die Russen als rohe Barbaren 
verabscheut, und dieses war auch in Wien lange die vorherrschende 
Stimmung. Der russische Gesandte Golizyn und Linksweiler haben, 
wie es scheint, in Pleyer den Urheber jener gehässigen Gerüchte, 
welche den Wiener Hof in seiner Geringschätzung Russlands be¬ 
stärkten, gesehen 91 , aber gewiss mit Unrecht — nie hat dieser geflis¬ 
sentlich ungünstige Nachrichten verbreitet, nie absichtlich die Miss¬ 
stimmung Russland gegenüber genährt. Von dem Vorwurf blinder 
Voreingenommenheit ist Pleyer vollkommen freizusprechen; beson¬ 
ders deutlich tritt das Streben nach möglichst objektiver Darstellung 
hervor, wenn wir seine Berichte mit den ebenfalls bei Ustrjalöw 
(Band III) gedruckten Relationen Guarient’s, aus denen unschwer 
parteiische Missgunst zu erkennen ist, vergleichen. Ebensowenig 
freilich lassen sich Sympathien für das russische Volk bei Pleyer 
entdecken, auch er hat als gebildeter Ausländer russischer Rohheit 
gegenüber das Gefühl * entschiedener Ueberlegenheit, und eine ge¬ 
wisse Vornehmheit fl , mitunter geradezu Geringschätzung der Russen 

#Ä yerp. iv, 2.569. — *° y C Tp. vi, 547. — Äl yerp. iv, 2.200. — •* s. z. b. 
Herrmann, p. 123, wo PI. über die Gespräche rassischer Offiziere spöttelt. 


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4i? 


spricht sich auch wohl aus; aber nie sucht er das Ungünstige mit 
Vorliebe hervor, nie tadelt er, um zu tadeln. Nur höchst selten fin¬ 
den vfjr in seinen Berichten härtere Ausdrücke wie oben (S. 306) in 
Betreff der Brieferbrechung, oder wie die Bemerkung: „uttb 
re$t ben Muffen ex inferno nulla redempüo". 

Allerdings hat auch er in den ersten kritischen Jahren des nordi¬ 
schen Krieges durch seine Berichte nicht gerade dazu beigetragen, 
das Ansehen Russlands in Oesterreich zu erhöhen, am wenigsten aber 
lag dieses in seiner Absicht, vielmehr trug die ganze Situation in der 
That durchaus den Charakter des Schwankenden an sich. Die krim- 
schen Tataren, schrieb er im December 1702, würden sich zu den 
rebellischen Kosaken schlagen, es würde „aller apparenz na<$ bie Sei« 
grobiföe $>orbe nid)t lang fid) fäumen", auch drohe ein Bruch mit der 
Pforte, was um so gefährlicher sei, als die Festungen Taganrog und 
Asow unzureichend besetzt wären, und die besten Truppen gegen 
die Schweden kämptten 9a . Auch vom Hauptheere theilte er öfters 
Beunruhigendes mit: stetige Widersetzlichkeiten hätte der Zar zu 
überwinden, immer drückender würden die Lasten, unter den ver¬ 
schiedensten Zeichen äussere sich die Unlust am Kriege 91 . Dagegen 
hebt aber Pleyer gebührend auch das Gute hervor, die eifrigen Rüs¬ 
tungen, die kleineren Siege, namentlich die entschlossene Haltung des 
Zaren selbst: öffentlich habe dieser sich dahin verschworen, „entroeber 
fein ganjen Sanb ju öerlie$ten ober er mujj ba8 ganje ^ngermarmfanb fambt 
Slarma unb Dfirpt miber^aben ober ®ott mu| tyn r^enber oon ber todt »eg« 
netnmen" 96 . Pleyer giebt, wie wir sehen, nicht nach einem bestimm¬ 
ten Gesichtspunkt eine einseitige Auslese von Thatsachen, sondern 
theilt eben unbefangen alle wichtigeren Vorgänge mit. 

Wahrte Pleyer in Bezug auf Russland im Allgemeinen die reser- 
virte Haltung des Beobachters, so that er es auch in Hinsicht auf die 
innerhalb des Reiches kämpfenden Richtungen. 

Eng hatte er sich von vornherein an die Katholiken in Moskau an¬ 
geschlossen und neigte, wie diese, offenbar zu der Reformpartei. Mit 
Nothwendigkeit waren ja alle Ausländer auf die Seite Peter’s hinge¬ 
wiesen, in ihm mussten sie den Hort ihrer religiösen Ueberzeugung, 
den Schirm ihrer persönlichen Sicherheit verehren; Gut und Leben 
schien durch den Hass der altrussischen Partei, durch die Erbitterung 
des gemeinen Volkes gefährdet. Mehrfach hatte Pleyer Veranlas¬ 
sung von der bedrohlichen Stimmung, die gegen die Ausländer 


93 ycTp IV, 2 , 595—597- — #< *bid 57*. — ,s ibid. 582 . 




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4t$ 


herrschte, zu berichten, so noch in seiner letzten Relation Vom 24. 
Dezember 1706: wegen des Friedens zu Altranstädt, schrieb er, sei 
Alles so bestürzt »unb bet gemeine SRann auf biefeeutf$en alfo erbittert, 
bafe man eine 9 tebe 0 ion fa(t tfig(i$ befolgtet, »eilen fle SSn§ öffentli^ Ser» 
rftt^er feigen, gewijs ift eS, ba| lein tinb in SRutter leib foQe gefront werben". 

War es selbstverständlich, dass Pleyer schon im Hinblick hierauf 
sich an die Partei des Zaren anlehnte, so lag eine weitere Nöthigung 
dazu in politischen Gründen; denn nur von dort her war kräftige 
Kriegführung gegen die Türken und später nachhaltiger Widerstand 
gegen das täglich steigende Uebergewicht Karl XU. zu erwarten. 
Beides lag im Interesse seiner Regierung. Besonders sind es daher 
auch die Verbesserungen Peter’s auf dem Gebiete des Heerwesens, 
welche Pleyer’s Lob hervorrufen®*; auch verkennt er die Schwierig* 
keiten nicht, welche jenerbei seiner Kriegführung zu überwinden hatte. 
Schon 1697 schrieb er in Bezug hierauf: „®u$ bemerkt rr (Peter) 
allgema$ bie faumfeligleit in Setfertigung ber friegSpreparatorien attyiet, 
inbente bie tufift&en beim nid^t einer ju finben, ber jum frieg fo er au<b no$ 
fo notljmenbig ober nujli^ier were ben geringen (uft bette fonbern fo e* an 
i^nen gelegen were, ber frieg nit&f aOein ni<!)t angefangen weniger fortgefejei 
werben fölte; allein ber ©jat felbet, gegen beffcen ßrengigleit bie berrn f<$on 
beginnen }u jittem ein freub in frieg fisten jeiget, ba$ero wir tyn auch erntet 
all man fonjt bet$offet, fefcen börffen"® 7 . 

Dennoch aber waren, wie es scheint, die Sympathien Pleyer’s für 
die petrinische Richtung nur mehr äusserlicher Natur, wir sehen ihn 
von einem tieferen Interesse für die Bestrebungen Peter’s erfüllt, seine 
Hinneigung zu ihm wurzelte eben wohl mehr in der Nothwendigkeit 
als in innerer Ueberzeugung, mit einem Wort — Pleyer blieb immer 
Oesterreicher, verfolgte in Moskau nur österreichische Interessen, 
beurtheilte, was man ihm ja keineswegs verdenken kann, die Vor* 
gänge in Russland ausschliesslich nach österreichischem Massstabe. 
Ueber die Reformen selbst spricht er sich daher nur selten aus j ist 
von Verbesserungen die Rede, so werden in der Regel neben dem 
Zaren Ausländer als Urheber derselben genannt ® 8 ; charakteristisch 
ist, dass er es Peter nicht wenig verargt, wenn dieser seine Unter* 
thanen den Ausländem gleichstellt: „SJnb betfpfltet man", schreibt er 
im December 1699, „olgema$ eine getingfööjung bet Sufclfinbet beb ben 


** Herrmann, im. — ** y«p. III, 637 . — ** S. z. B. auch a. a. O. Herrmann, 
133 . 



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ffjftrttt, htbeme et; fo falb eht ruf% t>on einem Ku|(flnbet etmafs gcfe$en unb 
fette« nad()affet, toan e« fäon ni<$t fo guet, bennodfr faget, jle$c ba, meine 
ruffcen Kimen biefe« eben fo guet" 

Den Fürsten Menschikow hasst Pleyer, weil dieser sich Oester¬ 
reich feindlich zeigt, gegen ihn — es ist einer der seltenen Fälle — 
erlaubt er sich wohl auch härtere Ausdrücke, spricht von dessen 
„giftigen einblofen" und beschuldigt ihn unmässigen Geizes. Bei der 
Beurtheilung der einflussreicheren Persönlichkeiten am russischen 
Hofe zieht er in seinem Bericht vom Juni 1710 ausschliesslich die 
beiden Fragen in Betracht, ob der Betreffende der kaiserlichen Par¬ 
tei oder ob er der katholischen Religion geneigt sei 100 ; beides fällt 
meist zusammen. 

"Die Berichte Pleyer’s tragen in jeder Hinsicht den Charakter ein¬ 
fachster, unbefangenster Wiedergabe des Beobachteten. Gewissen¬ 
haft berichtet er seiner Regierung, was er gerade in Erfahrung ge¬ 
bracht hat, seine eigene Ansicht über das gemeldete Ereigniss lässt 
er in der Regel nicht verlauten; höchst vereinzelt finden wir (mit 
Ausnahme seines Berichts vom Juni 1710) eine Beurtheilung hervor¬ 
ragender Persönlichkeiten, noch seltener Reflexionen — Pleyer 
bleibt im strengsten Sinne des Wortes Berichterstatter . 

Die Einfachheit der Darstellung lässt mitunter eine tiefere Auflas¬ 
sung vermissen, man fühlt doch wohl, dass er noch ausserhalb des 
Kreises der treibenden Kräfte am russischen Hofe stand, und dieses 
war unfraglich schon durch seine Stellung als bloss charakterisirter, 
nicht accreditirter Diplomat bedingt. 

Auch nach einer anderen Seite mussten daher seine Berichte an 
Werth verlieren, nämlich in Bezug auf die Kriegsgeschichte. Pleyer 
durfte Anfangs nicht den Heeren folgen (ob er es später gethan hat, 
wissen wir nicht), und war demnach bei seinen Mittheilungen über 
das Heer auf die unsicheren Gerüchte, die spärlich und entstellt nach 
Moskau gelangten, angewiesen. Ueber die Ereignisse auf dem 
Kriegsschauplätze bieten daher seine Relationen nur wenig, dagegen 
enthalten sie vielfach Belehrendes über die Stimmung, welche in Be¬ 
treff des Krieges in Moskau herrschte; sie zeigen, wie schon gele¬ 
gentlich bemerkt wurde, mit welcher Unlust sich das Volk am 
Kriege betheiligte, auf wie lockerem Boden der Reformbau Peter’s 
damals noch stand. 


99 ycxp. III, 643. — 100 Herrmann, 136 137, 


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Vor Allem aber wandte Pleyer den diplomatischen Vorgängen 
seine Aufmerksamkeit zu; mit grösster Gewissenhaftigkeit vermel¬ 
det er alle eintreffenden Gesandtschaften, auch über geheime Missio¬ 
nen weiss er öfters näher zu berichten, werthvolle Notizen bringt er 
über die Beziehungen Russlands zu fremden Mächten, namentlich 
zur Pforte, zu Polen-Sachsen, zum Königreich Preussen 101 . Berührt 
Pleyer auch hier nur mehr äusserlich die Thatsachen, so entschädigt 
dafür die grosse Gewissenhaftigkeit, mit der er alles Bemerkenswer¬ 
there aufzeichnet; alle seine Angaben tragen das Gepräge pflicht¬ 
schuldiger Treue, und es kann nur höchlichst bedauert werden, dass 
für die Publikation des grösseren und vermuthüch weit werthvolleren 
Theiles seiner Berichte zur Zeit noch gar keine Aussicht vorhan¬ 
den ist. 


Pleyer als Resident. 

Der Sieg Peter's des Grossen bei Poltawa hatte mit einem Schlage 
die politische Lage des ganzen europäischen Nordens umgestaltet. 
Als Herr über denselben trat an die Stelle des kleinen Schwedens 
ein kolossales Reich, ungemessen in seiner Ausdehnung, ungemessen 
in seinen Hülfsquellen, an die Stelle eines mit den europäischen Ge¬ 
schicken bereits vielfach verschlungenen Volkes ein von europäi¬ 
scher Geschichte, von europäischer Kultur fast gar nicht berührter 
Stamm, an die Stelle eines starrköpfigen, tollkühnen Abenteurers 
eine rücksichtslos durchgreifende, ihrer Ziele sich bewusste Herr¬ 
schernatur. Diese Veränderung wurde alsbald im Auslande ge¬ 
spürt; das Gefühl von Unsicherheit und ein ungewisses Misstrauen 
in die Pläne und Absichten des russischen Hofes scheint sich bei den 
meisten Nachbarstaaten festgesetzt zu haben. 

Die Bedeutung, welche Russland sich durch die Schlacht bei Pol¬ 
tawa in Europa errang, spiegelte sich bezeichnend auch in der Per¬ 
son seines Herrschers ab; die Ideen Peter’s, sein äusseres Verhalten 
zeigten von jetzt ab eine ganz andere Färbung 10 *, mit seinen gewal¬ 
tigen Erfolgen stiegen in gleichem Masse auch seine Hoffnungen — 
das Gewonnene sättigt den Ehrgeiz nicht, sondern reizt ihn nur 
noch mehr. 

Es war natürlich, dass auch die österreichische Politik verdoppelte 
Aufmerksamkeit den Vorgängen am russischen Hofe zu wandte. 

,w Für diese Verhältnisse ist Pleyer der hauptsächlichste Gewährsmann C. von Noor¬ 
den’s in seinem bekannten Werk «Europäische Geschichte im 18. Jahrhundert». 

,0 * Ein treffendes Bild dieser Umwandlung giebt Pleyer (Herrmann, 129). 


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421 


Da war es denn vor Allem nothwendig, ein treues Gesammtbild 
von dem Wesen und Charakter der russischen Regierung zu erhal¬ 
ten, um darin gewissermassen eine feste Operationsbasis für die zu 
beobachtende Taktik zu besitzen. Wem aber sollte die Aufgabe 
zufallen, dieses zu zeichnen? Es lag nahe genug, an Pleyer zu den¬ 
ken, der ja bereits über 15 Jahre mitten in jenem Leben zugebracht 
hatte. 

In der That wurde er nach Wien berufen, wo er wohl in den ersten 
Monaten des Jahres 1710 anlangte los , damit er hier «einem Hoch- 
löbl. Kays. Ministerio von der gegenwärtigen moskowitischen Re¬ 
gierungsbeschaffenheit einige Nachricht allerunterthänigst ertheilen 
sollte». Diesem Aufträge sich unterziehend, reichte er im Juni 1710 
eine längere Denkschrift ein, in welcher er die Landesverwaltung, 
die Polizei, das Staatsministerium etc. kurz charakterisirt; ausser¬ 
dem bespricht er eingehender die beiden Fragen, welche im Augen¬ 
blick besonders das österreichische Ministerium interessirten, näm¬ 
lich die Curialien und das «exercitium religionis catbolicae». Vor 
Allem kam der erste Punkt in Betracht, denn gerade damals, als 
Pleyer sich in Wien befand, verhandelte gleichzeitig in Moskau der 
österreichische Gesandte Graf von Weltzeck über die Installirung 
eines ständigen, förmlich accrediärten Vertreters am russischen 
Hofe 104 . Nicht wenig lag es der österreichischen Regierung daran, 
günstige Bedingungen in der beregten Frage zu erlangen; wie der 
deutsche Kaiser die höchste Würde der Christenheit beanspruchte, 
so sollte auch sein Vertreter vor denen der übrigen Herrscher durch 
ehrenvollere Formen, durch ein höheres Cermonial ausgezeichnet 
werden. Zu diesem Zweck müsse man, räth Pleyer, den Kanzler 
Golowkin und den Vizekanzler Schafirow zu gewinnen suchen, was 
am Besten durch Gnadenbezeugungen und einige Präsente, „fo tym 
ober in ber b($ften @e$eimb, um iljn für 9 teib unb 93etfolgung$unglücf ju 
6ttoo$ren, mflfjie brigebra<$t ©erben 1 ', zu erreichen wäre, und dazu wie¬ 
derum eigne er sich vor allen Anderen „©egen aHejett gehabten guien 
Access, SBelannifd&aft unb geflogener öfterer Sonberfation"; man möge ihn 


,w Pleyer ist jedenfalls erst im Jahre 1710 nach Wien aufgebrochen, da er bei der 
Audienz des englischen Gesandten Withwort, welche am 5. Februar 1710 stattfand 
(Cojiosberb, XVII, 60) zugegen war (Herrmann, 121). 

104 Herrmann, 139. Dass bereits Pleyer, wie Herrmann S. VH. mittheilt, in einer 
«bis zum Jahre 1710 ergebnisslos gebliebenen Verhandlung über die Opportunität, 
einen förmlich accreditirten österreichischen Gesandten nach Russland zu senden», ge¬ 
standen hat, habe ich nicht entdecken können. 


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/ 



422 


daher schleunig zurückexpediren, „e$e ber #ett @raf bon SBetyecf feilte 
üftegociation fo toeit gebracht hätte, bafj er eine enbli<$e tmb umüiberrufttdfre 
Stnttoort no<$ ni<$t erhalten haben möchte 105 ". 

Man könnte in der Sendung Weltzeck’s eine Zurücksetzung 
Pleyer’s, in seiner Selbstempfehlung, als der zur Uebergabe der Ge¬ 
schenke geeignetsten Person, Eitelkeit, in seiner Bitte um schleunige 
Rücksendung, Furcht vor dem Verlust seines bisherigen Postens er¬ 
blicken, doch nöthigt uns ein Umstand zu einer wesentlich anderen 
Beurtheilung: es unterliegt kaum einem Zweifel, dass Pleyer nicht 
mehr als Sekretär, sondern als Resident nach Russland zurückgekehrt 
ist, dass seine Berufung zu dieser Stellung bereits feststand, als er 
im Juni 1710 jene Denkschrift einreichte, dass somit die Verhandlun¬ 
gen, welche Weltzeck mit der russischen Regierung fiihrte, lediglich 
seine zukünftige Residentschaft betrafen. 

Spätestens seit dem Jahre 1711 wirkt Pleyer am russischen Hof 
als kaiserlicher Resident 108 . 

Ob er die Ankunft des Grafen Weltzeck abgewartet hat oder nicht, 
lässt sich nach den vorliegenden gedruckten Quellen nicht entschei¬ 
den, vermuthlich aber hat er sich, weil ja die Sache drängte, und ein 
ferneres Verbleiben in Wien völlig nutzlos gewesen wäre, noch im 
Jahre 1710 nach Russland aufgemacht. 

Die österreichische Regierung hatte, entsprechend der erhöhten 
Bedeutung, welche sie den Vorgängen in Russland von nun ab bei- 
mass, auch ihren bisherigen Vertreter mit höherer Würde, ausge¬ 
dehnteren Kompetenzen ausgestattet und ihn damit erst zum Ver- 


104 ibid. 139. 

404 Folgende Gründe sprechen fiir diese Annahme: 1711 wird ein kaiserlicher Resi¬ 
dent in Moskau erwähnt (Ssolowjew XVII, 99), 1713 ist Pleyer urkundlich in Moskau, 
1718 fungirt Pleyer als kaiserlicher Resident. Eine Hindeutung, dass Pleyer vor 1711 
Resident geworden, sehe ich schon in der Wendung, welcher Peter sich in seinem 
Briefe (vom 17. Juli 1718) an Karl VI. bedient: Pleyer habe sich immer feindselig ge¬ 
zeigt seit der Zeit, •als ihm schon jener Charakter eines Residenten verliehen war » 
(Ustrj. VI, 547). Die Allgemeinheit dieser Form könnte daraufhinweisen, dass Pleyer 
nicht von Karl VI., sondern von Joseph I., also vor dem Jahre 1711 zum Residenten 
ernannt ist Entscheidend ist ein Auspruch Pleyer’s selbst: die Uebergabe der Ge¬ 
schenke an Schafirow, sagt er in seiner Denkschrift (Herrmann, 139), könnte er am 
Unvermerktesten besorgen, „b q i<& in attbere« Caract er e lommenbe, für mich jelbjl 
feine ®unjl inüfünftig beffer au erwerben (gleich n>ie e* auch oon anberen ftiaifhrU 
au gefebehen pflegt) mitgebra^t hätte". Halten wir diese Notiz mit den Obigen zu¬ 
sammen, so kann unter dem andern Charakter füglich wohl nur der des Minister-Resi¬ 
denten gemeint sein. 


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4*3 


treter im vollen Sinne des Wortes erhoben, ihm konnte jetzt daher 
auch der wichtige Auftrag zu Theil werden, intimere Beziehungen 
zum russischen Hof anzubahnen, ein festes Schutz- und Trutzbünd- 
niss zwischen Oesterreich und Russland zu betreiben. 

Pleyer wurde russischerseits seine Aufgabe nicht leicht gemacht, 
in seiner neuen Stellung wurde er nichts weniger als zuvorkommend 
aufgenommen, namentlich hat ihn der Zar selbst mit ausgesuchter 
Geringschätzung behandelt Erst nach langem Umherlaufen erlangt 
Pleyer endlich die feierliche Audienz, in seiner Rede wird er durch 
den Befehl, er möge sich kürzer fassen, unterbrochen, ohne ein Wort 
zu erwidern, entfernt sich der Zar, das angebotene Bündniss wird 
ausgeschlagen ,07 . 

Wiederholt haben wir bereits die mannigfachsten Wandlungen in 
dem Verhältniss zwischen der österreichischen und russischen Re¬ 
gierung wahrgenommen, auch jetzt ist eine vollständige Verän¬ 
derung in den Beziehungen beider Höfe eingetreten: Oesterreich 
bedarf Russlands, der Kaiser wirbt um die Freundschaft des Zaren, 
der Zar weist den Kaiser zurück. Unwillkürlich drängt sich bei dem 
hier geschilderten Empfange des kaiserlichen Residenten in Moskau 
der Vergleich mit dem des zarischen Gesandten Golizyn 1701 in 
Wien auf; es mochten damals gerade zehn Jahre verflossen sein, 
wir sehen jetzt eine ganz ähnliche Scene sich abspielen, nur sind 
der Schauplatz und die Rollen gewechselt, in Moskau bemüht 
sich ein österreichischer Gesandte vergeblich um russische Freund¬ 
schaft 

Von den im Wiener Staatsarchiv befindlichen Schriften Pleyer’s 
aus den Jahren 1707 —1719 sind leider nur die den Kronprinzen 
Alexej betreffenden von Ustrjalow im sechsten Bande seiner Ge¬ 
schichte Peter’s veröffentlicht Das erste schriftliche Denkmal 
Pleyer*s, welches uns hier vorliegt, ist ein Theil seines Berichts vom 
10. Juni 1713. Es folgen noch mehrere kleine Bruchstücke, doch 
lässt sich aus dem hier niedergelegten Material wenig für die Person 
des Schreibers entnehmen, nur bei dem 1715 erfolgten Tode der 
Kronprinzessin Charlotte, der Schwester der Kaiserin Elisabeth, hat 
Pleyer eine gewisse Rolle gespielt l08 . 

Bis zum Jahre 1713 scheint sein Wohnort wieder Moskau ge¬ 
wesen zu sein; der letzte von hier datirte gedruckte Bericht ist der 

107 CojioBberk XVH, 99. — 108 Pleyer’s Antheil an diesem Ereigniss schildert das 
kürzlich erschienene Buch «Die Kronprinzessin Charlotte von Russland». Bonn 1875• 

/ 


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424 


vom 19. August 1713, alle späteren Relationen sind aus St. Peters¬ 
burg geschrieben ,09 . 

Die Persönlichkeit Pleyeris entzieht sich wegen der Lückenhaf¬ 
tigkeit der bisherigen Publikationen fast ganz unserer Beobachtung, 
bis sie uns im Jahre 1718 in scharfem, hellem Licht entgegentritt — 
als kaiserlicher Resident in St Petersburg steht «Pleyer mit im Vor¬ 
dergründe der österreichisch-russischen Verwickelungen, die hier zum 
ersten Male zu einem feindlichen Aneinanderstoss der beiden 
Mächte zu führen drohen. 


Immer mehr war das Einvernehmen zwischen Russland und 
Oesterreich erkaltet; dasSchalten und Walten desZaren in Deutsch¬ 
land, besonders die unbarmherzige Aussaugung Meklenburgs, hatte 
schon längst den Unwillen des deutschen Kaisers hervorgerufen 
und mit der Zeit immer mehr gesteigert. Russland wurde von 
Oesterreich gefürchtet, beneidet und, wenn es ging, geschädigt. 

Zum offenen Ausdruck gelangte die bisher versteckte feindliche 
Gesinnung durch die Betheiligung des österreichischen Hofes an 
der Flucht des Kronprinzen Alexej — gehässig mischte Karl VI. 
sich hiermit direkt in die inneren Angelegenheiten des russischen 
Zaren. 

Selbstverständlich hatte Pleyer als Repräsentant seiner Regierung 
hierbei eine hervorragendere Bedeutung. Gegen ihn richtete sich 
1718 der volle Groll des Zaren, der ihn der Mitwissenschaft an den 
verbrecherischen Plänen seines Sohnes, «des offenen Völker¬ 
rechtsbruches» beschuldigte, und seine unverzügliche Abberufung 
verlangte. 

Um Pleyeris Betheiligung an den vorliegenden Verwicklungen 
feststellen zu können, ist es erforderlich, zunächst das Verhältnis 
zwischen Oesterreich und Russland in der beregten Frage kurz ins 
Auge zu fassen. 

Im September des Jahres 1716 war der Kronprinz Alexej, statt 
sich dem Wunsche des Zaren gemäss nach Mecklenburg zum Heere 
zu begeben, nach Wien aufgebrochen, um sich auf immer der ver- 


,0# Golikow (Atom« IleTpa Be;iararo V, 406—409) und W. Coxc (Reise durch 
Polen, Russland etc, übersetzt von Pezzl I, 416) schreiben einen interessanten Brief 
vom Jahre 1715 irrthümlich dem kaiserlichen Gesandten zu. Der Brief ist vielmehr 
von einem Gesandten an das Staatsministerium seines Königs geschrieben (Büsching, 
Mag. IU , 185). 




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425 


hassten Aufsicht des Vaters zu entziehen; glücklich führte er sein 
Vorhaben aus, unerkannt, unverfolgt langte er im November in 
Wien an. All Dieses geschah, wie nach dem von Ustrjalow beige¬ 
brachten .reichen Material nicht zu bezweifeln ist, mit Wissen und 
Gutheissen seines Schwagers, Kaiser Karl VI. ll °; dieser liess auch 
den Prinzen, mit der Versicherung nachdrücklichen Schutzes gegen 
den Vater, unverzüglich im tiefsten Incognito auf die tyroler Berg¬ 
feste Ehrenberg geleiten. 

Rasch war die Flucht des Kronprinzen bekannt geworden, von 
der Hauptstadt aus theilte sich die Aufregung dem flachen Lande, 
dem Heere mit, überall regten sich Sympathien für Alexej, dem 
Zaren lag Alles daran, des Flüchtlings wieder habhaft zu werden. 
Für den Augenblick wusste Niemand, wohin er sich gewandt hätte. 
Bald aber scheint man doch auf die richtige Spur gekommen zu 
sein, im Februar 1717 erfuhr der russische Resident Wesselowskij 
(er befand sich seit 1715 beim Wiener Hof), dass der Prinz sich in 
kaiserlichen Landen befände, im April hat er auch den Aufent¬ 
haltsort, Ehrenberg, erkundschaftet; als Alexej im Mai 1717 im 
tiefsten Geheimniss weiter nach Neapel aufbricht, folgen ihm auf 
den Fersen die russischen Spürer nach. 

Den russischen Anfragen und Vorstellungen, Bitten und Forde¬ 
rungen gegenüber hatte bisher die österreichische Regierung sich 
den schlecht verhüllten Anschein gegeben, als wüsste sie vom Prinzen 
gar nichts; man liess den Residenten wohl auch ganz ohne Antwort, 
wich ihm unter den verschiedensten Vorwänden aus, die Briefe des 
Zaren blieben unberücksichtigt — jetzt aber war die ganze Ange¬ 
legenheit nicht mehr zu cachiren. Immer heftiger wurde das Drängen 
Peter’s, immer bestimmter seine Sprache, schon drohte er offen mit 
der Kriegserklärung.! 

Die österreichische Regierung sah sich zu einer offenen Entschei¬ 
dung genöthigt, sie hatte die Wahl zwischen der Auslieferung 
Alexej’s und einem Kriege mit Russland. Letztere Eventualität, 
welche ernstlich in Betracht gezogen wurde — man verhandelte be¬ 
reits mit England wegen eines Bündnisses gegen Russland — fand 
der Kaiser doch zu bedenklich, er beschloss einzulenken. Karl VI. 
erklärte, dass er den Prinzen zwar nie zur Rückkehr zwingen werde, 
wohl aber wolle er nach Kräften dahin wirken, dass dieser sich frei¬ 
willig dazu entschlösse. 

1,0 Alexej hatte Charlotte von Braunschweig-WolfenbÜttel, die Schwester der Kai¬ 
serin Elisabeth geheirathet. 

Ban. Beim«. B4. TH. 


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4*6 


Und dieses Versprechen war ehrlich gemeint; Oesterreich musste 
es in der That darum zu thun sein, sich des unbequemen Gastes auf 
eine schickliche Weise wieder zu entledigen, und daher unterstützte 
es aufs Eifrigste die Bemühungen der russischen Unterhändler 
Tolstoj und Rumjanzow, die sich im August 1717 mit der kaiser¬ 
lichen Erlaubniss nach Neapel begaben, um den Prinzen zur Rück¬ 
kehr zu bewegen. Der schwache Alexej, der sich jetzt auch von 
Oesterreich im Stich gelassen sah, konnte nicht lange widerstehen, 
er ergab sich in sein Schicksal und erklärte sich zur Rückkehr bereit; 
am 4. Oktober 1717 schrieb er aus Neapel seinem Vater den Unter¬ 
werfungsbrief. 

Durch dieUmstände genöthigt, hatte die österreichische Regierung 
endlich dem Wunsche des Zaren gewillfahrt, doch Hess sich auch 
jetzt noch das innere Widerstreben unschwer erkennen. Peter hin¬ 
gegen empfand lebhaft die hierbei ihm angethane Kränkung; er 
suchte nach Vergeltung und fand in dem ofticiellen Vertreter 
Oesterreichs, Otto Pleyer, das willkommene Objekt, an welchem er 
seinen Unwillen auslassen konnte. 

Am 18. März 1718 verlangte der russische Zar die augenblick¬ 
liche Abberufung des österreichischen Residenten, weil dieser in 
seinem Bericht vom n. Januar 1717 viele Lügen und Verleum¬ 
dungen ausgesprengt, und damit sein Einverständniss mit gewissen 
russischen Unterthanen offenbart hätte; trotz dieses Völkerrechts¬ 
bruches sei ihm kein Leid geschehen, vielmehr wolle er, der Zar, 
sich mit seiner unverzüglichen Entfernung begnügen, jedenfalls 
aber werde man mit ihm über keine Angelegenheit mehr ver¬ 
handeln M1 . 

Der von Peter I. erwähnte Brief, welcher für Pleyer so verhäng- 
nissvoll werden sollte, war vom Vicekanzler Schönborn dem Prinzen 
Alexej nach Ehrenberg übermittelt, von hier bei seiner Unter¬ 
werfung in russische Hände gefallen und wurde nun als eine Haupt- 
waflfe gegen Pleyer ausgenutzt. Sehen wir uns das vielerwähnte 
Schriftstück, um uns über die Schuld des Verfassers zu orientiren, 
etwas genauer an. Eine nicht zu verkennende Unruhe, berichtet 
Pleyer, sei durch das Verschwinden des Kronprinzen in St. Peters¬ 
burg hervorgerufen, „unterf<$ieMidje gro&e §ertn" hätten heimlich 
bereits zu ihm und anderen Fremden geschickt, und gefragt, ob sie 
in ihren Briefen keine Nachricht von ihm hätten, auch zwei seiner 



111 ycrp. VI, 489. 



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427 


Bedienten seien zu ihm gekommen j gerüchtweise erzählten die 
Einen, dass er von zarischer Mannschaft in ein Kloster gebracht 
wäre, die Anderen, dass er sich heimlich in österreichischen Landen 
aufhalte. In Mecklenburg hätte sich eine grosse Verschwörung 
gegen den Zaren gebildet, sei aber bereits entdeckt worden, auch 
im Lande sei man zu einem Aufstande sehr geneigt, die Unzufrie¬ 
denheit sei allgemein. Was Peter selbst betrifft, so sagt er von 
ihm nur, dass er Alexej zur Abdankung gezwungen haben soll, 
dass er nicht hatte leiden wollen, dass jener noch «Kronprinz» ge¬ 
nannt werde. 

Im Ganzen entsprechen diese Angaben der allgemein herrschenden 
Stimmung, namentlich sind auch die letzten über das Verhältnis 
vom Vater zum Sohn durchaus wahrheitsgemäss; ziehen wir noch 
den Umstand in Betracht, dass Pleyer Alles nur gerüchtweise, in 
sehr vorsichtigen Ausdrücken meldet, so kann fiiglich der Vorwurf 
Peter’s auf Verletzung des Völkerrechts kaum gerechtfertigt 
erscheinen. 

Nicht grundlos bezeigte daher auch der Prinz Eugen dem russi¬ 
schen Residenten in Wien seine Verwunderung darüber, dass der 
Zar sich desswegen so bitter über Pleyer beschwere, weil dieser nach 
dem Recht aller Residenten nur das, was er von anderen Leuten ge¬ 
hört, seinem Hof berichtet hätte. Wenn der Kaiser, erklärte ihm 
darauf hin Wesselowskij, Pleyer nicht abriefe, so werde sein 
Monarch selbst ihm den Weg nach Hause weisen, — eine Aeusse- 
rung, die der Prinz Eugen «mit nicht geringem Kopfschütteln» (<*>y*o- 
BanieMi») aufnahm 118 . 

Mit der definitiven Entscheidung konnte man vorläufig noch 
die russische Regierung hinhalten; was aber sollte ferner ge¬ 
schehen? 

In Betreff Pleyer’s wurde vom Kaiser im Anfang Mai 1718 eine 
Konferenz berufen; sie sprach ihn zunächst frei von aller Schuld, 
und erklärte in Folge dessen auch seine Abberufung nicht für ge¬ 
boten. Andererseits aber lag es auf der Hand, dass durch die Er¬ 
klärung des Zaren die Stellung Pleyer’s in St Petersburg unhaltbar, 
dass sein fernerer Aufenthalt am russischen Hofe völlig zwecklos 
wäre, und daher beschloss der Kaiser nach dem Gutachten der Kon¬ 
ferenz, jenem die Weisung zukommen zu lassen, dass er selbst 
«nach einigen Monaten» um seinen Abschied ansuchte, dem Zaren 


M ycTp. vi f 490. 


a$* 




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428 


erwiderte er kurz, dass er in der Relation seines Residenten nichts 
Kompromittirendes erblicke, da er ja nur nach dem Beispiel aller 
auswärtigen Vertreter seinem Hofe berichtet hätte 11S . 

Es macht einen eigenthümlichen Eindruck, dass die Persönlich¬ 
keit, um welche sich der ganze Streit drehte, zunächst gar nicht 
handelnd auftritt, dass sie vermuthlich erst nach Monaten von den 
über sie geführten Verhandlungen in Kenntniss gesetzt worden ist, 
dass sie wohl ebensowenig von dem ihr zur Last gelegten Vergehen 
eine Ahnung hatte. Ohne das Vorhergegangene wäre freilich der 
verhängnisvolle Brief vom n. Januar 1717 auch russischerseits nie 
als ein Bruch des Völkerrechts angesehen worden. 

Anfangs hat Peter, wie es scheint, Pleyer in dem Verdacht ge¬ 
habt, dass er als Mitbeteiligter die Fäden der Flucht Alexej’s anzu¬ 
spinnen geholfen, dass er — und darauf deutet der Zar offen in 
einem späteren Brief hin — mit einem Theil der in dem Prozess 
Verwickelten im Einverständnis gestanden habe. Der Kronprinz 
selbst wird in Betreff seiner Beziehungen zu jenem befragt, auf die¬ 
selbe Sache hin werden Al. Rikin, der Hauptbetheiligte bei der 
Flucht, und Abraham Lopuchin gefoltert; Ersterer sagt aus, dass er 
mit Pleyer weder korrespondirt noch gesprochen, Letzterer, dass er 
überhaupt keinen Umgang mit ihm gehabt habe, und in der That 
spricht nichts dafür, dass der kaiserliche Resident auch nur entfernt 
in die Pläne des Prinzen eingeweiht gewesen wäre. 

Am 20. Februar 1718 hatte Pleyer bei Peter dem Grossen eine 
Audienz, wohl die letzte, welche ihm überhaupt am russischen 
Hof bewilligt worden ist 114 . Die Missstimmung des Zaren mag er 
schon hier empfunden haben, aber erst am 30. Mai 1718 wird ihm 
vom Vicekanzler Schafirow officiell erklärt, dass er nicht mehr bei 
Hofe erscheinen dürfe> d. h. die russische Regierung erkannte ihn 
nicht mehr als Residenten an ll5 . 

Gleichzeitig erfolgten erneuete, heftige Beschwerden über ihn, 
schärfer wurde die Forderung seiner Abberufung wiederholt, neue 
Klagen gesellten sich zu den früheren: Allem, was Pleyer von den 
russischen Ministern erfahre, gebe, er eine falsche Auslegung, theile 
/diese sofort allen fremden Vertretern, besonders aber dem hanno¬ 
verschen und niederländischen mit, dazu stände er im heimlichen 
Einverständniss mit ungetreuen Unterthanen und bestärke diese 
durch falsche Vorspiegelungen sehr in ihrem bösen Vorhaben. 



ibid. 494 und 496. — 1,4 ibid. 215. 


_ ns 


ibid. 235. 


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429 


Mit diesem Briefe ordnete Peter zum Austrag der ganzen Ange¬ 
legenheit im Spätsommer 1718 den Baron Loewenwolde nach 
Wien ab 116 . 

Inzwischen waren von Pleyer selbst bedenkliche Nachrichten über 
die Situation in St. Petersburg eingelaufen, sie Hessen deutlich er¬ 
kennen, dass man hier eventuell auch zu rücksichtslosestem Vor¬ 
gehen gegen den kaiserlichen Vertreter entschlossen war, dass 
dessen Lage sich bedrohlich genug gestalten konnte. 

Allgemeinste Aufregung rief namentlich das gewaltsame Ver¬ 
fahren der russischen Regierung gegen den niederländischen Re¬ 
sidenten, Jacob de Bie, der mit Pleyer in besonders intimem Verkehr 
stand, hervor. In zwei Relationen vom 15. und 18. Juli 1718 machte 
Pleyer ausführlich hierüber Mittheilung ll1 . 

Am 13. Juli 1718 wurde de Bie zum Vicekanzler Schafirow be¬ 
rufen; während ihn hier der Kanzler Golowkin mit den heftigsten 
Vorwürfen wegen seines Berichtes über den Tod, oder wie dieser 
es dargestellt hatte, über den Mord des Kronprinzen überschüttet, 
wird seine Wohnung mit Soldaten besetzt, die Fächer werden auf¬ 
gerissen, alle Briefschaften und Schriften fortgenommen und in die 
zarische Kanzlei gebracht; de Bie selbst wird Arrest in seiner 
Wohnung auferlegt, jeder Umgang mit ihm verboten. Dieser Vor¬ 
gang erregte natürlich bei allen Repräsentanten auswärtiger Mächte 
die grösste Sensation, zumal Schafirow de Bie zu verstehen gegeben 
hatte, er könne froh sein, weriÄ der Zar ihm nicht den Kopf ab- 
schlagen lasse. Es half wenig, dass Schafirow Allen, bis auf Pleyer, 
die Gründe zu diesem Vorgehen anzeigte, dass er das Verfahren 
entschuldigte, rechtfertigte, dass er durch die ausdrückliche Erklä¬ 
rung, man werde das Völkerrecht heilig halten, die Stimmung zu 
beschwichtigen suchte. 

Nichtsdestoweniger versammeln sich am folgenden Tage alle Ge¬ 
sandten, um gemeinsam zu berathschlagen, wie sie sich diesem Ge¬ 
waltstreich gegenüber verhalten sollten. Freilich müssen sie bald 
gewahr werden, wie wenig sie von sich aus zur Wahrung ihrer Rechte 
thun könnten, sie beschliessen daher, weil hier der «puren Gewalt» 
gegenüber ein schriftlicher Protest wenig frommen würde, Mitthei¬ 
lung vom Geschehenen an ihre Höfe zu machen, und von dort die 
ferneren Verhaltungspläne zu erwarten. 

Pleyer speciell berührte der ganze Vorfall um so näher, als bei 
dieser Gelegenheit auch die schärfsten Aeusserungen über ihn gefallen 

lfi ibid. 546—549. — m ibid. 541—546. 


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A 



430 


waren; Golowkin hatte die falsche, feindliche Gesinnung, welche er 
de Bie vorhielt, in erster Linie auf den Einfluss Pleyer’s zurückge¬ 
führt; in heftigster Erbitterung hatte er sich über den intimen Ver¬ 
kehr des Niederländers mit jenem ausgelassen. «Euer Vertrauter*, 
rief der Kanzler de Bie zu, «das ist dieser verdammte Verleumder 
(cet infame calomniateur) Pleyer, der kaiserliche Resident, und glau¬ 
ben Sie, dass wir nicht wissen, welche Intimität zwischen Ihnen bei¬ 
den herrscht?» 118 Die hierin sich aussprechende Erbitterung zeigt 
klärlich, wessen Pleyer sich zu vergewärtigen hatte, wenn neue An¬ 
reizungen hinzukämen, und es war daher begreiflich, wenn in ihm 
Furcht vor einem ähnlichen Auftreten Raum gewann, wenn er schon 
Tags darauf gemeinsam mit dem gleichfalls in die Affaire verwickel¬ 
ten hannoverschen Residenten, dem bekannten Weber, alle seine 
Papiere verbrannte. 

Durch eine heimliche Gelegenheit konnte Pleyer seine Regierung 
von dem Gesehenen benachrichtigen und sich von ihr die Weisung 
zu den ferneren Massnahmen erbitten, zumal er gerade am ehesten 
sich eines ähnlichen «Despects» versehen dürfte: in der ersten Re¬ 
daktion eines Manifestes über den Tod des Kronprinzen wäre auch 
sein Name genannt, allerlei Korrespondenzen wolle man ihm jetzt 
noch andichten, überhaupt wäre die Lage bedenklich, auch die kürz¬ 
lich erfolgte Ermordung eines österreichischen Couriers käme ihm 
jetzt „suspect unb misterios öor, tociflcn toeber tnörbet no$ bad gerbigfte 
kopier gefunben toitb". 

Dieser Bericht traf etwa einen Monat vor der Sendung Loewen- 
wolde’s in Wien ein, und konnte schwerlich zu einer nachgiebigeren 
Stimmung beitragen. Deutlich spiegelte sich in den jetzt in Aussicht 
genommenen Massnahmen der gesteigerte Groll und Unwille gegen 
Russland ab. Es wurde beschlossen, für die in zarischen Manifesten 
enthaltenen lügnerischen Hinweise auf den Wiener Hof, für die 
grundlose Beleidigung des Residenten, für die wahrscheinlich höhe¬ 
ren Orts befohlene Ermordung des Couriers Boulange Genugthuung 
zu verlangen, jetzt aber Pleyer abzuberufen, ohne einen Anderen an 
dessen Stelle zu setzen, ihn jedoch für den unverschuldeten Verlust 
seines Postens schadlos zu halten. Den russischen Residenten Wes- 
selowskij, welchem, so lange er keine angemessene Genugthuung ge¬ 
boten hätte, der Zutritt zum Hof versagt wurde, betrachtete man ge- 
wissermassen als Geissei für Pleyer, ihn ersah man sich zum Objekt, 


1,8 ibid. 557. Relation de Bie's an seine Regierung. 


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43 1 


an welchem man für jeden jenem etwa zustossenden «affront» Ver¬ 
geltung üben kannte, er sollte zurückgehalten werden, bis Pleyer 
sich in voller Sicherheit befände 119 . 

Von der Vertheidigung war der österreichische Hof zum Angriff 
fortgeschritten, von seinem Standpunkt aus war er nicht mehr der 
Beleidiger, sondern der Beleidigte. Energisch hatte man sich seines 
Beamten an der fernen Zarenresidenz angenommen, sorglich waren 
alle Mittel zur Wahrung seiner Ehre und seiner persönlichen Sicher¬ 
heit in Betracht gezogen worden, es v*ar dafür gesorgt, dass kein 
Makel an seiner Amtsführung haften bleiben konnte, ehe man sich 
österreichischerseits zu einem Nachgeben entschloss. Dieses war 
jetzt freilich durch die in Aussicht genommene Abberufung Pleyer’s 
dokumentirt, und damit war auch der Ausgleich gegeben; es war 
aber ein Ausgleich, der auf beiden Seiten die tiefste Missstimmung 
hinterlassen musste. 

Als gegen Ende September der russiche Gesandte Baron Loewen- 
wolde, welcher nach einer späteren officiellen Nachricht nur Pleyer’s 
wegen geschickt wurde, mit einem Briefe Peter’s in Wien anlangte, 
wurde im Ganzen das obige Programm eingehalten 12 °. Im Uebrigen 
glaubte die von Neuem in dieser Sache zusammengetretetene Kon¬ 
ferenz nicht, dass es zwischen beiden Mächten bereits so weit gekom¬ 
men wäre, dass zur Wiederherstellung des gegenseitigen Einver¬ 
nehmens eine dritte Macht zur Vermittelung herangezogen werden 
müsste, obgleich jetzt jede Korrespondenz mit dem Zaren als aufge¬ 
hoben anzusehen sei — ein deutlicher Beweis, wie weit sich bereits 
die ganze Angelegenheit verschärft hatte. In seiner kurzen, ziem¬ 
lich schroff gehaltenen Antwort an Peter den Grossen verwahrt sich 
Karl VI. gegen die in den officiellen Manifesten gemachten Ausfälle 
auf die österreichische Regierung; in Betreff der anderen Punkte, 
namentlich in Betreff Pleyer’s, verweist er auf das dem russischen 
Gesandten mündlich Mitgetheilte 181 . 

Es ist das letzte Schriftstück, welches in dieser Affaire zwischen 
den beiden Höfen gewechselt worden ist, und nur wenige abgerissene 
Notizen gestatten uns einen Blick in die weiteren Schicksale Pleyer’s. 

Wahrscheinlich hat der kaiserliche Resident durch den zurückkeh¬ 
renden Baron Loewenwolde seine Abberufung erhalten, da er be¬ 
reits am 16./5. Januar 1719 aus Memel nach Wien schreibt 1 **. Jeden- 

41# ibid/567—568. — iwo H. Bacmeister, Beiträge zur Geschichte Peter’s des Gros¬ 
sen HI, 154. — 1,1 ibid. 569—570. — m ibid. 269, Anm, 19, CojQBbeß-b. XVII, 269, 


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432 


falls müssen wir annehmen, dass er aus St. Petersburg von Wien aus 
abberuf 'en, und nicht etwa so von der russischen, wie wenig später 
Wesselowskij von der österreichischen Regierung fortgeschickt ist. 
Hierauf weist schon die Resolution des Kaisers hin, aber auch son¬ 
stige Nachrichten über seine Rükkehr lassen eine andere Deutung 
kaum zu l23 . In einem von Peter dem Grossen selbst unterschriebenen 
und geränderten Entwurf zu einem Manifest, das den ganzen hier 
geschilderten Konflikt behandelt, heisst es, dass Pleyer, nachdem die 
russische Regierung bereits % «das Schreiben Sr. K. M. überdessen 
Zurückberufung empfangen hatte», «doch zur Besorgung seiner Ange¬ 
legenheiten noch viele Monate» in St. Petersburg geblieben; und dann 
«nach eigenem Gefallen, als er selbst wollte», zurückgereist wäre 124 . 

Um Pleyer jedweden Makel einer Amtsvernachlässigung zu 
nehmen, liess der Kaiser abermals eine Konferenz zusammentreten, 
damit sie über das Verhalten seines Residenten in Russland abur- 
theile. Diese spricht ihn am 21. März 1719 von allen gegen ihn er¬ 
hobenen Anschuldigungen frei, und bestimmt ihm den vollen Gehalt 
eines Residenten, bis er einen neuen Posten erhalte ,25 . So ver¬ 
wandelte sich für ihn die äusserlich wie eine Schmach aussehende 
Abberufung aus seinem bisherigen Wirkungskreise in eine Ehre, 
die den Gekränkten reichlich für das Vorgefallene entschädigen 
musste. 

Eine noch grössere Genugthuung aber ward ihm durch das Ver¬ 
fahren der österreichischen Regierung gegen Wesselowskij, den bis¬ 
herigen russischen Residenten in Wien. 

Kaum hatte man erfahren, das Pleyer sich in Sicherheit befände, 
so wurde am 4. Februar 1719 Wesselowskij folgender kaiserlicher 
Erlass mittgetheilt: Weil dem Residenten Pleyer der Zutritt zum 
Hof verwehrt worden, so gehe daraus hervor, dass man in St. Pe¬ 
tersburg einen kaiserlichen Vertreter nicht für nöthig erachte; dess- 
halb befände es auch der Kaiser für gut, ihn, Wesselowskij, vom 
Hofe zu entfernen; binnen acht Tagen möge er das österreichische 
Gebiet verlassen. Diese Weisung wurde in schärfster Form durch¬ 
geführt. Trotz seines Protestes musste Wesselowskij ohne Ab¬ 
schiedsaudienz und ohne das übliche Geschenk Oesterreich innerhalb 
der festgesetzten Frist verlassen ,26 . Gleichzeitig wurden auch 


123 cf. y<rrp. VI, 595 und A. TypreHbeBt, Historica Rossiae Monumenta II, 338, 
«II motivo etc.» — iM H. Bacmeister a. a. O. III, 154—155. — 1,8 ycTp. VI, 567. 
— 120 CojioBbesi» XVII, 272, TypreHbeBi», 338. 


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433 


die russischen Agenten Ress aus Breslau und Bushy aus Wien 
verwiesen ltl . 

Es war dieses eine Genugthuung für die Pleyer widerfahrene Be¬ 
leidigung, doch jedenfalls nicht ohne den starken Beigeschmack 
einer im Ganzen kleinlichen Rache. 

Auch Peter’s Antwort hierauf war ähnlicher Art, indem er die 
seit fast 30 Jahren in Russland geduldeten Jesuiten noch im April 
1719 aus seinem Reiche vertrieb. Mit Pleyer waren sie ins Land 
gekommen, mit ihm mussten sie es auch verlassen. Es geschah 
übrigens nicht, weil diese sich irgendwie vergangen hatten, vielmehr 
ist der Grund ihrer Ausweisung einzig und allein in dem eben ge¬ 
schilderten Konflikt zu sehen, es ist nur die Antwort auf die Ent¬ 
fernung Wesselowskij’s 128 . Auch Peter der Grosse selbst machte 
daraus kein Hehl. In dem schon erwähnten Entwurf eines Mani¬ 
festes spricht er unverhohlen die Motive aus: «Da nun aber-von 

Seiten S. K. M. sogar mit denen, die nur über Handlungsgeschäfte 
zu korrespondiren hatten, solchergestalt verfahren worden: so 
haben S. Tzarische M. vermöge des Wiedervergeltungs-Rechtes zu 
erklären befohlen, dass jene Jesuiten-Missionarien, als Korrespon¬ 
denten, mit ihren Bedienten unverzüglich aus allen Städten und 
Ländern Sr. Tz. M. verwiesen und über die Grenze gebracht werden 
sollen». Es gereicht Peter dem Grossen zur Ehre, dass er sein 
«Wiedervergeltungs-Recht* in mildester Form ausübte. Mit Ehre 
und Frieden, schrieb Gönner, der Official des Bisthums Livland, 
an den Bischof von Posen, seien die Jesuiten entlassen; ja der Pater 
Engel habe die ausgezeichnete Leutseligkeit des Zaren gerühmt, da 
dieser, nachdem bereits das Dekret ergangen, ihn noch freundlichst 
angeredet habe l28 . 


Wir haben Pleyer in seiner Thätigkeit als österreichischen Beamten 
in Russland kennen gelernt, wir haben seine Entwickelung vom na¬ 
menlosen, kaum geduldeten Agenten, von Stufe zu Stufe bis zum 
anerkannten kaiserlichen Residenten hinauf verfolgen können. Nur 
während seines Aufenthaltes in Russland haben wir ihn begleitet, 
mit dem Aufhören seiner dortigen Residentschaft verlassen uns auch 
die Nachrichten über ihn; was vorhergeht entzieht sich unserem 
Blick ebenso wie das, was darüber hinausgeht. 


1,7 Bacmeister II, 95. — IM A. Theiner a. a. O. 518. 




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434 


Leider genügt das vorhandene Material nicht, um ein einiger- 
massen deutliches Bild von dem Charakter der hier behandelten Per¬ 
sönlichkeit entwerfen zu können. Pleyer selbst enthält sich in 
seinen Berichten, wie schon früher hervorgehoben wurde, geflissent¬ 
lich eines eigenen Urtheils, giebt nur äusserst selten Angaben über 
seine eigene Person, und andere Quellen für seine Beurtheilung 
stehen uns kaum zu Gebote. 

Eine imponirende Erscheinung, ein Mann, der schon durch sein 
Auftreten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte, 
ist er jedenfalls wohl nicht gewesen, ebensowenig können wir ihm 
wirklich bestimmenden Einfluss auf den Gang der politischen Ereig¬ 
nisse am russischen Hof zuschreiben, dennoch aber wäre es unge¬ 
recht, ihn etwa desshalb für eine unbedeutende Persönlichkeit zu 
erklären. Dagegen spricht doch schon die Art und Weise, wie er 
sich Anfangs in den ungewohnten Verhältnissen am russischen Hof 
zurecht fand, dagegen spricht ferner das Verhalten seiner Regierung, 
seine Erhebung zum ebenso wichtigen als schwierigen Posten eines 
Minister-Residenten in Moskau, (was er doch schwerlich seiner Ge¬ 
schäftsroutine allein zu verdanken gehabt haben wird), das ener¬ 
gische Eintreten für ihn im letztgeschilderten Konflikt, welches, 
wenn auch in erster Linie der in ihm beleidigten kaiserlichen Ehre, so 
doch gewiss auch seiner Person gegolten hat, dagegen spricht end¬ 
lich auch die Beurtheilung, welche ihm von seinen Gegnern zu Theil 
wurde — eine unbedeutende Persönlichkeit hätte der russische 
Kanzler Golowkin gewiss nicht mit solcher Erbitterung als die Seele 
russenfeindlicher Tendenzen in St. Petersburg ansehen können. 

Und haftet ihm gewiss auch manches Kleinliche an, ist er von 
Eitelkeit und etwas Selbstgefälligkeit, vielleicht auch von einem 
gewissen Hang zu Intriguen nicht ganz frei zu sprechen, so können 
wir doch im Hinblick auf die Schwierigkeiten, mit denen er zu 
kämpfen batte, im Hinblick auf die strenge Gewissenhaftigkeit, welche 
uns überall in seinen Berichten entgegen tritt, auf die makellose 
Treue, mit der er auf seinem weit vorgeschobenen Posten bis zum 
letzten Augenblick ausharrt, ihm unsere Sympathie gewiss nicht 
ganz versagen. 

Dauerndes Interesse sichern seiner Person vor Allem aber schon 
seine zahlreichen Berichte, auf deren eingehende Besprechung wir 
verzichten mussten. 

Ob Pleyer in derselben Sphäre, in welcher er bisher gelebt, noch 
fortgewirkt hat, wissen wir nicht. Nur so viel erfahren wir, dass die 


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435 


russische Regierung, als sie im Jahre 1720 aufs Neue mit Oesterreich 
anknüpfte, und dieses zur Wiedererrichtung einer Residentschaft in 
St. Petersburg zu bewegen suchte, dem mit dieser Mission Beauf¬ 
tragten ausdrücklich einschärfte, einer Wiederernennung Pleyer’s 
den entschiedensten Widerspruch entgegenzusetzen. 

Die russischerseits wiederholten Versuche, eine ständige Ver¬ 
tretung Oesterreichs in Russland wieder einzurichten, blieben lange 
ohne Erfolg; erst ein Jahr vor dem Tode Peter’s des Grossen be¬ 
gegnen wir einem kaiserlichen Residenten in St. Petersburg. 

Die mühsam gesponnenen Fäden einer dauernden Verbindung 
Oesterreichs mit Russland, welche vor fast dreissig Jahren noth- 
dürftig angeknüpft worden waren, welche sich trotz der Schwan¬ 
kungen und dem Wechsel in den Beziehungen beider Höfe zu ein¬ 
ander immer mehr geordnet und schliesslich zu einer formell und 
materiell voll ausgebildeten ständigen Vertretung geführt hatten, 
sie waren gelöst oder vielmehr zerschnitten. 

In der Angelegenheit Pleyer’s gelangte man nicht zu einer Aus¬ 
söhnung, sondern nur zu einem gewaltsamen Abbruch. 

A. Hasselblatt. 


Der Güterverkehr auf den rassischen Eisenbahnen 
im Jahre 1873. 

Die rasche Ausdehnung des russischen Eisenbahnnetzes, welches 
seit 1869 die Ufer des Baltischen und des Schwarzen Meeres mit 
den produktiven Gouvernements Russlands verbindet, hat we¬ 
sentlich zur Hebung der Ausfuhr von Getreide, Flachs, Hanf, 
Flachs- und Hanfsaat — dieser Hauptartikel des russischen Export¬ 
handels — beigetragen. 

Die früheren Stapelplätze für diese Artikel, soweit sie jetzt nicht 
in das Eisenbahnnetz hineingezogen sind, verlieren zusehends ihre 
frühere Bedeutung; denn die ganze Handelsthätigkeit centralisirt 
sich jetzt immer mehr und mehr an den Knotenpunkten dieses 
Netzes. Hiermit hat sich auch zugleich die Art des Transports der 
Waaren verändert. Anstatt wie früher zu Wasser oder per Achse, 
werden die Güter jetzt per Bahn befördert. Nur die Wolga be¬ 
hauptet noch ihr altes Recht, indem sie, in einigen Fällen für den 


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436 


Transport nach St. Petersburg ein billigeres Kommunikations- 
mittel, als die Eisenbahnen sind, darbietet. 

Bei der Anlage des gegenwärtigen Eisenbahnnetzes sind fast nur 
die Interessen des auswärtigen Handels berücksichtigt worden. Alle 
Hauptlinien haben daher die Richtung von Süden und Süd-Ost nach 
Nord-West. So die Bahnen: St. Petersburg-Ssaratow, Riga-Za- 
rizyn, Libau-Asow, Königsberg-Odessa. Die Folgen einer solchen 
Anlage sind auch nicht ausgeblieben, und äussern sich in erster 
Reihe darin, dass der Güterverkehr auf diesen Bahnen ein so zu 
sagen einseitiger ist, und zwar von Süden und Süd-Ost nach Nord- 
West. Zurück müssen die Waggons grösstentheils leer gehen. Denn 
in jenen inneren Gouvernements des russischen Reiches, die fast 
ausschliesslich" vom Exporthandel leben, ist der Bedarf an ausländi¬ 
schen Produkten ein noch sehr geringer, zumal diese vier bis fünf 
Mal theurer als ähnliche Produkte inländischer Fabrikation sind; 
daher denn auch die eingeführten Waaren viel geringere Trans¬ 
portmittel beanspruchen. Dieses ungünstige Verhältniss wird noch 
dadurch gesteigert, dass die Güterbeförderung keine gleichmässige 
im Laufe des ganzen Jahres ist, sonderndass die grösste Frequenz 
auf die Wintermonate fällt. Der Zufluss an Gütern auf die Bahnen ist 
während dieser Zeit bisweilen so stark, dass ein Mangel an rol¬ 
lendem Material eintritt, und die Eisenbahnverwaltungen gezwungen 
sind, entweder gar keine Frachten anzunehmen, oder, in Erwartung 
benutzbarer Waggons, die Güter längere Zeit liegen zu Tassen. 

Für den auswärtigen Handel St. Petersburgs und die Häfen 
des Baltischen Meeres sind am wichtigsten die Linien St. Petersburg- 
Ssaratow und Riga-Zarizyn, über welche wir heute 1 einige Mitthei¬ 
lungen geben. 

Der Güterverkehr auf der Linie St. Petersburg-Ssaratow ist im 
Allgemeinen fast 2 l /a Mal grösser, als der Verkehr auf sämmtlichen 
Bahnen, die das europäische Russland durchschneiden. 

Diese Linie besteht aus folgenden Theilen: 

Güterverkehr 


Nikolai-Bahn . . . 
Moskau-Rjasan . . 
Rjasan-Koslow . . 
Koslow-Tambow . 
Tambow-Ssaratow 


1872 

76 Millionen Pud 
62 » » 

49 

13 * » 

16 » » 


«873 

101 Millionen Pud 
71 » » 

59 

19 » » 

26 » » 


216 Millionen Pud 276 Millionen Pud 


4 Nach dem )Kypif. Mäh. nyte* cootimem*. 



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437 


Die Linie Tambow-Ssaratow hat von allen übrigen die schwächste 
Frequenz, und zwar daher, weil sie fast gar keinen Transit hat; 
96 pCt. des sämmtlichen Güterverkehrs bezieht diese Bahn aus 
ihrem eigenen Rayon und übernimmt nur 4 pCt. von den anderen 
Bahnen. Sie ist daher so zu sagen der Nahrungsquell der anderen 
Bahnen, mit denen sie nur durch ihr westliches Ende verbunden ist, 
wo hingegen jene die Verbindungswege zwischen den Wolga-Ge¬ 
genden und den Centralhandelspunkten: St. Petersburg und Moskau 
bilden. 

Die Bahn Koslow-Tambow , die sich im Westen an die Bahn 
Tambow-Ssaratow anschliesst, lebt fast nur vom Transitverkehr. 
Fast alle auf dieser Bahn beförderten Güter empfängt sie von den 
Bahnen: Tambow-Ssaratow und Rjasan-Koslow; aus ihrem eigenen 
Bereiche erhält sie kaum 9 pCt. des sämmtlichen Güterverkehrs. 

Der Transit auf den übrigen Theilen der Linie St. Petersburg-Ssa- 
ratow beträgt: auf der Rjasan-Koslow- 70—73 pCt, Moskau-Rjasan- 
68—73 pCt, Nikolai-Bahn 47—52 pCt. sämmtlicher auf jeder dieser 
Bahnen beförderter Güter- 

Die Richtung , welche die Güter auf der Linie St. Petersburg- 
Ssaratow nehmen, ist fast ausschliesslich nach Nord-West, und be¬ 
sonders stark ist diese vertreten zwischen Tambow und Moskau, 
wo fast 84—89 pCt. sämmtlicher Güter nach Moskau dirigirt 
werden. Was die Nikolai-Bahn anbelangt, so war bis 1870 der 
Verkehr nach beiden Seiten ziemlich gleich, von da ab aber wurde 
die Richtung von Süden nach Westen die vorherrschendste. 

Die Güter, die auf der Linie St. Petersburg-Ssaratow in dieser 
Richtung befördert werden, bestehen fast ausschliesslich aus Nah¬ 
rungsmitteln und Erzeugnissen der Landwirtschaft. Die Güter hin¬ 
gegen, die in der entgegengesetzten Richtung gehen, sind Produkte 
der in- und ausländischen Industrie. 

Auf der Bahn Tambow-Ssaratow sind im Jahre 1873 im Ganzen 
18 Mill. Pud Getreide befördert worden, was 71 pCt. sämmtlicher 
Güter ausmacht. Dieses Getreide bezog die Bahn aus ihrem ei¬ 
genen Rayon, und lieferte es theils nach Moskau, theils vermittelst 
der Wolga und der Bahn Rybinsk-Bologoje nach St. Petersburg. 
Zwischen den Stationen Rtischtschewo und Saltikowo, im Kreise 
Sserdobsk (Gouv. Ssaratow), ist der Punkt, wo sich jene Getreide¬ 
frachten theilen: die einen Moskau, die anderen St. Petersburg Zu¬ 
strömen. Diese Getreidefrachten bestanden aus: Roggen gegen 
11 l /s, Roggenmehl 3, Hafer gegen 1 Vs, Buchweizengrütze 1 l /« Mill* 


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438 


Weizenmehl 400, gebeuteltes Mehl gegen 340, Hirse 240, Weizen 
200 Tausend Pud. Weizen und Roggen wurden fast gleichmässig 
auf der ganzen Bahnstrecke aufgenommen. Buchweizen hingegen 
kommt fast ausschliesslich nur vom rechten, so wie Hafer vom linken 
Ufer des Choper. 

Nach dem Getreide nehmen die Fische die erste Stelle unter den 
Frachten ein, von denen 1 x /t Mill. Pud befördert werden. Mit ge¬ 
ringer Ausnahme wird diese ganze Fracht der Bahn Koslow-Tambow 
zur Weiterbeförderung nach Moskau übergeben. 

Zwischen den Stationen Ssossnowka und Jekaterinowka empfangt 
die Bahn noch gegen 1 Va Mill. Pud Flachssaat zur Uebergabe nach 
Ssaratöw, von wo sie per Wolga nach St. Petersburg transportirt 
wird. Aus Ssaratöw nimmt die Bahn circa 1 */* Mill. Pud Holz zum 
eigenen Bedarf auf. 

Von den übrigen Frachten sind noch: Salz gegen 900, Tabak 
gegen 220 und Wassermelonen gegen ^Tausend Pud zu erwähnen. 
Die beiden letzten Frachten werden in ihrem ganzen Bestände den 
anderen Bahnen übergeben. Von Salz aber bleiben ca. 500,000 Pud 
im Bereiche der Bahnstrecke zurück. 

Der Betrag der Güter, welche dieser Bahn von anderen Bahnen als 
Rückfracht übergeben werden, erreicht kaum 1 Mill. Pud., und zwar 
erhält die Tambow-Ssaratow-Bahn von der Bahn Moskau-Tambow 
an Manufakturwaaren gegen 92,000 Pud, und ausserdem noch ver¬ 
schiedene Gewebe, Säcke, Matten. Von den Bahnen Kursk-Kijew, 
Koslow-Woronesh und Moskau-Kursk Zucker u. d. m. 

Die Bahn Koslow-Tambow ist, wie eben erwähnt, eine reineTransit- 
Bahn. Eigene Frachten liefert sie kaum 9 pCt., und zwar fast aus¬ 
schliesslich aus der Stadt Tambow. Die eigenen Frachten bestehen 
aus: Roggen, Roggenmehl, Grützen und Vieh. Von Letzterem 
wurden im Jahre 1870—545, 1871 über 8000, 1872 über 18,500 
und 1873 gegen 15,5000 Stück befördert. Von den Gütern, welche 
dieser Bahn aus nordwestlicher Richtung durch die Bahn Rjasan- 
Koslow zugeführt werden, gehen gegen 1 Mill. Pud Brenn- und Bau¬ 
holz und Kohlen, so wie auch ca. 127,000 Pud Weizen auf die Sta¬ 
tionen der Bahn Koslow-Tambow. 

Die Bahn Rjasan-Koslcw ist mit fünf anderen Bahnen verbunden, 
daher der Transitverkehr auch hier ein sehr lebhafter ist. An Gütern, 
die auf ihren eigenen Stationen angenommen wurden, expedirte 
diese Bahn in der Richtung von Rjasan gegen 13 Mill., in der 
Richtung von Koslow 3 Mill. Pud. Unter den nach Rjasan beför- 



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derten Gütern waren: Roggen über 2 Mill., Roggenmehl gegen 
3 Mill., Hafer gegen 3 Mill. Pud. Dieses Getreide wurde auf der 
ganzen Bahnstrecke zugeführt. Hingegen kommt der in derselben 
Richtung versandte Buchweizen, gegen 1 VsMill.Pud, ausschliesslich 
aus der Gegend zwischen Rjashsk und Koslow. Weizen wird wenig 
zugeführt —nur 206,000 Pud, und bleibt im Bereiche der Bahn. 

An Getreide überhaupt, sowohl eigenem als von anderen 
Bahnen übernommenem, werden im Ganzen über 38 Mill. Pud be¬ 
fördert, und von diesen gegen 35V2 Mill., d. h. 78pCt., der Moskau- 
Rjasan-Bahn zur Weiterbeförderung nach Moskau übergeben. Mehr 
als die Hälfte dieses Getreides ist Roggen, der von den Bahnen 
Rjasan-Koslow, Rjashsk-Morschansk, Rjashsk-Wjasma, Tambow- 
Koslow und Tambow-Ssaratow übergeben wird. Die beiden ersten 
liefern ihn gemahlen, die letzteren in Körnern. Der Hafer, der hier 
befördert wird, kommt aus den Gegenden zwischen Skopin und 
Morschansk, Koslow und Sserdobsk. Buchweizen — liefert die Orel- 
Grjasy-Bahn; Weizen — die Bahnen: Grjasy-Zarizyn, Koslow-Wo- 
ronesh-Rostow und theilweise Tambow-Ssaratow; Weizenmehl 
ausschliesslich Rjasan-Koslow; Hirse: Rjasan-Koslow, Grjasy-Za¬ 
rizyn und Koslow-Woronesh; Gerste: Tambow-Ssaratow; Flachs¬ 
saat und Leindotter (gegen 2V2 Mill. Pud): Rjasan-Koslow, Rjashsk- 
Morschansk, Grjasy-Zarizyn und Tambow-Ssaratow; von hier au^ 
wird auch Flachs und Vieh expedirt. Fische verschiedener Arten: 
Störe, Hausen, Sewrjuga, Sterlet, Heringe etc. kommen theils von 
der Wolga, theils vom Don über Woronesh-Rostow. 

Die Rückfrachten, in der Richtung nach Süd-Ost, betragen durch¬ 
schnittlich gegen 3 Mill. Pud, und bestehen aus: Bau- und Brenn¬ 
holz, Manufaktur- und Kolonialwaaren, Wein, Porzellan und Glas¬ 
sachen, Säcken, Matten etc. 

Die Bahn Moskau-Rjasan empfangt den grössten Theil ihrer 
Frachten von der Bahn Rjasan-Koslow (46 Vi Mill.); aus ihrem eigenen 
Bereiche erhält sie gegen 19 Mill. Pud. Alsdann werden ihr noch 
übergeben von der Nikolai-Bahn über 2 1 /* Mill., Moskau-Nischnij 
412,000 und Moskau-Brest 85,000 Pud. 

Rjasan liefert nach Moskau an Getreide gegen 40 l /t Mill., Fleisch 
und Talg 2 Mill., Holz 2 X \% Mill., Fische 750,000, Spiritus undBrannt- 
wein 1 l /* Mill. Pud und 124,000 Stück Vieh. Von diesen Frachten 
bleiben in Moskau: an Getreide 187* Mill., Fleisch und Talg über 
I 1 /* Mill., Holz 2V2 Mül. Pud. 


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440 


Aus Moskau nach Rjasan werden befördert: Baumwolle gegen 
i Va Mill., Manufakturwaaren gegen 2 Mill., Kolonialwaaren über 
I x !% Mill. Pud. 

Auf den Zwischenstationen werden noch: Steine, Kalk, Gyps, 
Getreide, Holz aufgenommen, die grösstentheils nach Moskau gehen. 

Die Lage der Nikolai-Bahn , als Verbindungsbahn zwischen den 
Haupthandelsplätzen des russischen Reiches: St. Petersburg und 
Moskau, ist ihrer Exploitation nach eine der ersten Bahnen Russlands. 

Die Güter, die aus St. Petersburg befördert werden, bestehen 
grösstentheils aus Produkten der inländischen, resp. St. Petersburger, 
und ausländischen Industrie, alsdann aus ausländischen Rohpro¬ 
dukten, als: Baumwolle, Pflanzen- und mineralische Oele, Thee, 
Tabak, Rohmetalle, Schienen, Maschinen, Instrumente etc. 

Nach St. Petersburg geht hauptsächlich Getreide, und zwar aus 
dem Süd-Osten, mittelst der Bahnen: Moskau-Rjasan und Rybinsk- 
Bologoje. 

Die Bahn Moskau-Rjasan übergab im Jahre 1873 der Nikolai- 
Bahn gegen 2I 1 /« Mill. Pud verschiedenes Getreide, darunter: 
Roggen und Roggenmehl ii 8 /4 Mill., Hafer über 3 1 /« Mill., Grütze 
über 1V* Mill., Flachssaat gegen 2V2 Mill. Pud, und diese Frachten 
wachsen von Jahr zu Jahr. 

Die Bahn Rybinsk-Bologoje bildet den kürzesten Weg für die aus 
den unteren Wolga-Gegenden kommenden Güter. Vor Eröffnung 
dieser Bahn wurden die Frachten, und besonders das Getreide, aus 
jenen Gegenden zu Wasser nach Rybinsk verschifft, von wo sie, in 
kleine Fahrzeuge umgeladen, das Marien-System entlang, ihren 
Weg nach St. Petersburg nahmen, wozu 1 bis 2 Monate gebraucht 
wurden. Bei dieser Dauer der Fahrt konnten in demselben Jahre nur 
die Frachten aus Rybinsk weiter befördert werden, die spätestens 
Ende August dort eintrafen. Alles, was später ankam, musste dort 
überwintern. Seit Eröffnung der Rybinsk-Bologoje-Bahn aber 
können alle Güter noch in demselben Jahre St. Petersburg er¬ 
reichen. Der stärkste Andrang von Gütern findet vom Mai bis Juli 
statt. Im Jahre 1873 übergab diese Bahn an die Nikolai-Bahn über 
20 Mill. Pud, von denen das Getreide allein über i6 l /a Mill. betrug, 
und zwar: Roggen 4 8 ,4 Mill., Weizen 4*/* Mill., Roggenmehl 
2 l /i Mill., Weizenmehl 1 Mill., Hafer 3V2 Mill. Pud. Alle diese Güter 
werden aus den unteren Wolga-Gegenden nach Rybinsk geliefert; 
hingegen kommen: Flachs, Gerste, Milch, Eier, Fleisch von den 
Zwischenstationen und besonders aus Bjeshezk. 


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441 


Die Moskau-Kursker Bahn übergab an die Nikolai-Bahn im Jahre 
1873 etwas über 4V2 Mill. Pud, darunter Getreide und Grützen 2M1II., 
Hanf gegen 1 l /* Mill., raffinirten und Sandzucker über 1 Mill. Pud. 
Letzteren Artikel lieferten die Bahnen Kursk*Kijew und Kijew-Brest. 

Von der Moskau-Nishnij-Bahn wurden ihr im Jahre 1873 gegen 
5 Mill. Pud übergeben, grösstentheils Rohmetalle, Salz, Fische, Ge¬ 
treide und Flachs. 

Die Verbindung der Nikolai-Bahn mit den übrigen Bahnen ist eine 
unbedeutende. 

Aus dem eigenen Rayon hat die Nikolai-Bahn in demselben Jahre 
48 l /i Mill. Pud erhalten, welche grösstentheils in Bauholz bestanden. 
An Getreide wurde sehr wenig geliefert, da die Gegend, welche die 
Bahn durchschneidet, eine ziemlich unfruchtbare ist. 

Im Ganzen wurden im Jahre 1873 auf der Nikolai-Bahn befördert 
101 Vß Mill. Pud, von denen: Getreide 4272, Holz 17 l /a, Roheisen 
und Schienen 4 1 /», Baumwolle i ! /2 Mill. Pud betrugen. 

Südlich von der Linie St. Petersburg-Ssaratow befindet sich eine 
weitere Linie, die eine, wenngleich auch nicht in dem Masse bedeu¬ 
tend wie die erstere, so doch eine sehr zu berücksichtigende Stellung 
zum auswärtigen Handel Russlands einnimmt. Es ist dies die Linie 
Riga-Zarizyn . 

Sie besteht aus folgenden Theilen: 

Güterverkehr. 


Grjasy-Zarizyn . . . 

Orel-Grjasy. 

Orel-Witebsk . . . . 
Dünaburg-Witebsk . 
Riga-Dünaburg . . . 


1872 

18,0 Millionen Pud 

I 7>3 

39 »° 

20,9 * » 

20,6 » » 


1873 

2 3,6 Millionen Pud 

24.4 » . 

53.4 * 

36.4 » 

30,8 


115,8 Millionen Pud 168,6 Millionen Pud 
Die Summe der Frachten, welche dieser Linie per Achse zuge¬ 
führt, oder von anderen — in dieser Gesammtlinie nicht enthaltenen 
— Bahnen übergeben wurden, betrug im Jahre 1872 nur 71V2 Mill., 
1873 dagegen 90^4 Mill. Pud, was also eine Steigerung von 60 pCt. 
ausmacht. 

Besonders lebhaft erwies sich der Verkehr am Anfangspunkt 
dieser Linie, d. h. bei Grjasy, wo mehrere Bahnen Zusammen¬ 
kommen, und am schwächsten am Endpunkte, d. h. auf der Riga- 
Dünaburg-Bahn. Die Ursache liegt darin, dass von 1873 an ein 
Theil der auf der Linie Riga-Zarizyn beförderten Güter bei Düna- 

Hum. h'evue. Bd. VII. 


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bürg, statt nach Riga zu gehen, auf der Bahn St. Petersburg- 
Warschau nach Wirballen und Königsberg dirigirt wurden. Die 
günstige Lage Königsbergs mit seinem, das ganze Jahr hindurch 
offenen, Hafen von Pillau macht diesen Platz zu einem gefährlichen 
Konkurrenten für Riga, wobei noch der Umstand hinzukommt, 
dass, da Königsberg nicht nur einen grossen Export, sondern auch 
einen wenn nicht noch grösseren Import hat, die Schiffsfrachten 
aus Königsberg bedeutend niedriger sind, als die von Riga aus, 
wohin viele Schiffe nur mit Ballast zu kommen genöthigt sind. 

Der eigentliche Charakter der Linie Grjasy-Zarizyn , d. h. der Zug 
nach Riga, hat sich erst nach ihrer vollständigen Eröffnung im Jahre 
1871 herausgestellt. Bis dahin gingen alle ihre Frachten nach Moskau. 

Es wurden im Jahre 1873 auf dieser Bahn über 8 Mill. Pud Getreide 
verfrachtet, von denen übrigens nur ein Theil für Riga bestimmt 
war, indem die Stationen östlich von Borissoglebsk ihr Getreide zur 
Wolga dirigirten, um es dann zu Wasser nach St. Petersburg zu 
versenden. Von jenen 8 Mill. Pud kommen daher in Grjasy nur 
5 */s Mill. an, und von diesen geht wiederum eine Hälfte über Orel 
nach Riga, und die andere über Koslow nach Moskau. 

Nächst dem Getreide ist das Salz die zweitwichtigste Fracht, sie 
beträgt 3 l /a Mill. Pud. Das Salz aus Zarizyn versorgt, mittelst ver¬ 
schiedener Bahnen, die Ortschaften, die zwischen Zarizyn bis Ssmo- 
lensk, Brest, Mzensk, Konotop und Alexejewka (an der Kursk- 
Charkow-Asow-Bahn) liegen. 

Dann folgen Fisch und Kaviar mit über 3 Mill. Pud. Diese 
Frachten gehen bis Ssmolensk, und von da auf die Moskau-Brest- 
Bahn über. Die Ortschaften hingegen, die westlich von Ssmolensk 
an der Riga-Zarizyn-Bahn liegen, werden mit Fischen (Heringe) von 
Riga aus versehen. 

An Holzmaterial gelangt von Zarizyn nach Grjasy 1 Mill. Pud 
und geht hier auf die Koslow-Woronesh-Bahn über. 

Die Hauptfrachten der Bahn Orel-Grjasy sind: Roggen 6 8 /« Mill., 
Hafer und Gerste über 2 1 /* Mill., verschiedene andere Getreide gegen 
4 Mill., Salz 272 Mill., Fische 1 l l* Mill., Holzmaterial gegen 
2 Mill. Pud. 

Von allen in Grjasy zusammenkommenden Bahnen sind die von 
Gijasy-Zarizyn und von Liwny diejenigen, welche die meisten Güter 
(zusammen 3 7 * Mill.) in nord-westlicher Richtung senden. 

An Retourfrachten giebt die Orel-Grjasy-Bahn ab: an die von 
Grjasy-Zarizyn — Eisen, Manufakturwaaren, Cement und Kalk, und 
an die von Liwny — Fische, Salz, Tabak und Manufakturwaaren. 


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443 


Mit der Bahn Koslow-Woronesh hat diese Bahn fast gar keine 
Verbindungen. 

Dass die Gegend um Ssaratow ebenfalls fast gar keine Handels¬ 
verbindungen mit Riga hat, soll nach der Meinung der Verwaltung 
der Tambow-Ssaratow-Bahn dem Umstande zuzuschreiben sein, dass 
die Bahnen, die hier in der Richtung nach Riga hin liegen, kein 
genügendes rollendes Material besitzen, denn sonst müsste zweifels¬ 
ohne der ganze Distrikt vonKoslow-Ssaratow in einem regen Verkehr 
mit Riga stehen, indem die Fracht für i Pud Roggen oder Hafer 
von hier nach Riga nur 27,45 Kop. kostet, wo hingegen nach 
St. Petersburg die Fracht 28,03 Kop. zu stehen kommt. Im Jahre 
1872 wurden derartige Verbindungen angeknüpft, mussten aber im 
folgenden Jahre fast ganz abgebrochen werden, weil die Güter, 
aus Mangel an rollendem Material, zu lange in Grjasy aufgehalten 
wurden. 

Die Station Jelez auf der Orel-Grjasy-Bahn bildet den Grenzpunkt, 
jenseits welchem die Frachten schon auf die Koslow-Woronesh- 
Bahn übergehen. 

Der Verkehr mit der Bahn Moskau-Kursk ist etwas lebhafter, als 
der mit Koslow-Woronesh. Die Hauptfrachten, welche sie von 
ersterer empfängt, sind: Zucker, Manufaktur- und Apotheker- 
waaren, auch Schienen nebst Zubehör. Sie übergiebt an Moskau- 
Kursk: Getreide nach Moskau und Fische aus Zarizyn nach Kursk. 

Die Güter, die per Orel-Grjasy und anderen mit dieser in Ver¬ 
bindung stehenden Bahnen in Orel ankommen, werden fast ohne 
Ausnahme der Bahn Orel-Witebsk übergeben, um nach Riga be¬ 
fördert zu werden. 

Die Bahn Orel- Witebsk ist die eigentliche Verbindungsbahn der 
baltischen Häfen mit den produktiven Gouvernements Russlands, 
und da sie ein Gebiet durchschneidet, in welchem die Industrie 
stark entwickelt ist, so hat sie auch viele eigene Frachten. 

Im Jahre 1873 wurden hier im Ganzen befördert: Getreide 23 MilL, 
Holzmaterial und Torf über 13 Mill., Hanf und Heede gegen 3 Mill., 
Eisen und Gusseisen — roh und bearbeitet — 2 Mill., Salz gegen 
1 Mill., Flachs- und Hanfsaat gegen 1 Mill. Pud. 

Von den anderen Bahnen, die mit dieser verbunden sind, ist der 
Verkehr mit Orel-Gijasy und Dünaburg-Witebsk am stärksten. Mit 
Moskau-Kursk und besonders mit Kijew-Brest findet hingegen fast 
gar kein Verkehr statt. 

29* 


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444 


Aus dem eigenen Rayon erhält Orel-Witebsk: Getreide an 17 */a 
Mill. Pud, von denen 12 Mill. bis Witebsk gelangen und 3 auf den 
Zwischenstationen abgeladen werden. Was an Hanf, Heede und 
Hanfsaat zur Verfrachtung kommt, geht in seinem ganzen Bestand 
nach den baltischen Häfen. Der hiesige Hanf stammt grösstentheils 
aus der Gegend zwischen den Stationen Karatschew und Rosslawl, 
in welcher fast gar kein Getreidebau stattfindet, so dass denn auch 
die Stationen jener Gegend mehr Getreide empfangen, als sie ab- 
liefem. 

Ferner wird an Holzmaterial verfrachtet gegen 11 Mill. Pud, 
welches aus den Gegenden zwischen Witebsk und Karatschew, 
Rosslawl und Brjansk geliefert wird. Das Holz geht hauptsächlich, 
ca. 8 Mill. Pud, nach Orel. 

Um den Güterverkehr nach den baltischen Häfen zu heben, hat 
die Bahn Orel-Witebsk seit 1873 die Methode, den Hanf in ge¬ 
presstem Zustande zu verladen, bei sich eingeführt, und da sie jetzt, 
in Folge dessen, ihre Waggons mit 600 Pud, anstatt wie früher mit 
nur 280 Pud Hanf belastet, so konnte sie auch den Tarif um 20 pCt. 
ermässigen. 

Die Bahn Dünaburg- Witebsk durchläuft eine Gegend, die weder 
fruchtbar noch industriell ist, daher sie auch nur zu Transitzwecken 
dient für die Güter, die, aus den östlichen Gouvernements kom¬ 
mend, für die baltischen Häfen bestimmt sind. Bei einer Länge 
von 243 Werst hatte sie 1873 aus ihrem eigenen Rayon nur 3 1 /* 
Mill. Pud Güter aufgenommen, die aus: Brenn- und Bauholz 875, 
Flachs 399, Flachssaat 380, Hafer 371, Gerste 293, Roggen 271 
Tausend Pud bestanden. Von allen diesen Frachten gelangen bis 
Dünaburg nur Flachs und Flachssaat, sowie ein geringer Theil des 
Hafers. Alle übrigen Frachten kommen nicht aus dem Bereich der 
Bahn, sondern werden nur, je nach den örtlichen Bedürfnissen, von 
einer Station zur anderen befördert. 

Im Jahre 1873 hat diese Bahn im Ganzen 3 y x /% Mill. Pud verfrach¬ 
tet, von denen 11V2 Mill. nach Riga und io 1 /« Mill. via St. Peters¬ 
burg-Warschauer Bahn in das Ausland gingen. Aus Riga selbst er¬ 
hielt diese Bahn nur 5V2 Mill. Pud. 

Die Riga-Dünaburger Bahn beschliesst die Linie Riga-Zarizyn. 
Auf diesem Wege erhält Riga sein Getreide, und zwar: Roggen 5 V« 
Mill., Hafer 5 Va Mill., Flachssaat2 Mill., Flachs über 1 ‘/«Mill. und Hanf 
iVtMill. Pud. Der Roggen, Hafer und Hanf kommt über Orel; 


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445 


Flachs und Flachssaat von Dünaburg-Witebsk und St. Petersburg- 
Warschau. 

Aus Riga verfrachtet die Bahn: Salz, Fische (Heringe), Schienen, 
Eisen in verschiedenen Formen und Steinkohlen. 

Einer der Hauptausfuhrartikel, mit dem Riga sonst die inneren 
Gouvernements versorgte, war das ausländische Salz. Gegenwärtig 
aber nimmt diese Ausfuhr, in Folge der Konkurrenz mit dem Salz 
von Zarizyn, von Jahr zu Jahr ab, und steigt die Verbreitung des 
Salzes von Zarizyn in demselben Masse von Jahr zu Jahr. Besonders 
in die Augen fallend ist diese Erscheinung auf den Stationen der 
Orel-Witebsker Bahn, wo an Salz abgeliefert wurden im Jahre 

1871 1872 1873 

aus Riga. . . . 470,000 Pud 392,000 Pud 185,000 Pud 
» Zarizyn . . 11,000 » 233,000 » 546,000 » 

Ferner kommen jetzt die Rigaer Heringe auch nicht weiter als 
bis in den Bereich der Orel-Witebsk-Bahn Ausländisches Eisen 
und Schienen gehen hingegen bis Zarizyn. 

Die Einfuhr von Steinkohlen über Riga vermindert sich ebenfalls: 

1871 wurden auf der Bahn Riga-Dünaburg verfrachtet über 3 Mill., 

1872 — 2‘/a Mill. und 1873 nur 185,200 Pud (? D. Red.). 


Notizen über ökonomische Verhältnisse im Gou¬ 
vernement Wjatka. 

Die vom statistischen Komite des Gouvernements Wjatka heraus¬ 
gegebene statistische Beschreibung jenes Gouvernements giebt nicht 
nur ein vollständiges Bild vom ökonomischen Leben dieses so um¬ 
fangreichen und von so verschiedenen Völkerschaften bewohnten 
Gouvernement, sondern erklärt zugleich manche Erscheinungen, 
die aus den Wechselwirkungen des landschaftlichen Selfgoverne- 
ment und jenen ökonomischen Verhältnissen entspringen, dass wir 
es uns nicht versagen mögen, im Anschluss an die im 2. Hefte des 
IV. Jahrganges dieser Zeitschrift (Bd. VI, S. 214 ff.) gegebenen «sta¬ 
tistischen Notizen über das Gouvernement Wjatka» noch einige 
Daten über diese ökonomischen Verhältnisse mitzutheilen. 


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_446_ 

Das Gouvernement Wjatka nimmt den Flächenraum von 134,537 
Quadratwerst ein, und hat eine Bevölkerung von 2,455,022 Seelen 
(1,176,524 männl. und 1,278,498 weibl). In Hinsicht der Dichtig¬ 
keit der Bevölkerung (18,2 per Quadratwerst) steht es demnach 
zwischen den Gouvernements Jekaterinosslaw und Esthland. Von 
dieser Gesammtbevölkerung zählen nur 70,452 zur städtischen und 
der Rest, 2,384,570, zur ländlichen Bevölkerung. 

Nach Nationalitäten gerechnet, besteht diese Bevölkerung aus: 
Russen 1,965,279, Wotjaken 264,425, Tscheremissen 104,891, Ta¬ 
taren 81,288, Teptjaren 8,736, Baschkiren 8,862, Permjaken 13,745, 
Bissermjanen 585, Ssyrjanen 331, Polen 769, Juden 829, Deutsche 
229, Engländer 6, Zigeuner 47. Den Hauptbestandtheil der Bevöl¬ 
kerung bilden demnach die Russen (85,6 pCt.), auf die anderen Völ¬ 
kerstämme kommen nur 14,4 pCt., und sind dieses grösstentheils 
Landbewohner, da in den verschiedenen Städten von diesen 14,4 
pCt. nur 2,718 Seelen beiderlei Geschlechts leben. 

Nach den Konfessionen geordnet zählt man: Angehörige der 
griechisch-orthodoxen Kirche 2,281,200, Eingläubige 5,371, Sek- 
tirer 54,060, Römisch-Katholische 780, Protestanten 224, zur angli¬ 
kanischen Kirche gehörend 6, Muhamedaner 94,819, Juden 814, 
Heiden 11,848. 

Von den Sektirern gehören 20,000 Seelen zu der Sekte, die eine 
Geistlichkeit haben, ferner gegen 34,500, welche keine Geistlichkeit 
anerkennen, und endlich circa 400 Molokaner. 

Nach den Ständen zerfällt die Bevölkerung in: Adlige, und zwar 
zum erblichen Adel Gehörende 1,036, zum persönlichen Adel Zäh¬ 
lende 4,271; Geistlichkeit mit ihren Familien, und zwar: ortho¬ 
doxe Welt-Geistlichkeit 13,771, Kloster-Geistlichkeit 644, Geist¬ 
lichkeit der Eingläubigen 35, anderer christlichen Konfessionen 5, 
nicht christlichen Glaubens 701 ; erbliche und persönliche Ehren¬ 
bürger 1,192; Kaufleute 5,238; Kleinbürger 40,524; Hand¬ 
werker 1,755; Bauern 2,227,544. Ausser diesen müssen noch 
hinzugezählt werden: Militär 3,495, Feuerwehrleute 181, auf 
unbestimmten Urlaub entlassene Untermilitärs 31,205, 
verabschiedete Untermilitärs mit ihren Frauen und Töchtern 
59,658, Soldaten-Söhne 7,967, Ausländer 120, zu keiner der 
angeführten Kategorien gehörende Personen 782. 

Die Hauptbeschäftigung der Einwohner des Gouvernement Wjatka 
ist der Ackerbau, dem 83 pCt. der Landbewohner obliegen. 

Von der Gesammtoberfläche des Gouvernements nehmen ein: 


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447 


Aecker und Hofländereien. . . . 5,005,825 Dessjatinen 

Wälder. 7,887,102 

Heuschläge.. 703487 

für den Bergbau verwandt. . . . 15,023 » 

Demnach betragen von der Gesammtoberfläche: 

Aecker und Hofländereien 35,5 pCt. 

Wälder. 57,3 » 

Heuschläge. 5 » 

Von dem gesammten Ackerlande sind im Besitz der Bauerge¬ 
meinden 4,800,823 Dessjatinen. 

Das gesammte urbare Land ist unter folgenden Besitzern vertheilt: 

Heuschläge Aecker Wälder Summa 


Zum Ressort der Reichs- Dessjatinen 


domänen gehörend . . . 

13.114 

18,657 

6,249,629 

6,281,400 

Zum Ressort der Appana- 





gen gehörend. 

19,606 

152,552 

111,062 

283,220 

Dem Artilleriewesen gehör. 

435 

496 

3 I 3 > 76 i 

314,692 

» Bergwesen gehörend . 

235 

339 

286,325 

286,899 

Verschied. Besitzern gehör. 

: 




a. städtische Ländereien 

6,866 

4,741 

6,911 

18,518 

b. private » 

30.151 

24,923 

250,438 

305,512 

c. den Bauemgemeinden632,02i 

4,800,823 

182,983 

5,615,827 

d. zu den Bergwerken 

1,059 

3,294 

485,993 

490,346 

Im Ganzen 703487 

5.005,825 

7,887,102 

13 , 596,414 


Das vorherrschende Wirthschaftsystem ist die Dreifelderwirth- 
schaft. Die Aecker werden mit dem gewöhnlichen Hakenpflug und 
der Egge bearbeitet, und nur an der Grenze der Gouvernements 
Kasan und Kostroma ist der unter dem Namen Kossulja bekannte 
verbesserte Hakenpflug gebräuchlich. Das in der Rige gedörrte 
Getreide wird mit dem gewöhnlichen Dreschflegel ausgedroschen. 
Gedüngt werden die Felder nur mit dem von den Hausthieren ge¬ 
wonnenen Dünger. 

Von den sämmtlichen, den Bauern zugehörenden, Aeckern waren 
im Jahre 1873 besäet gegen 55 pCt. Das zur Aussaat vorbereitete 
Brachfeld enthielt 1,265,265 Dessjatinen. Mithin betrug der Flächen¬ 
inhalt aller drei Felder, die zu dem jährlichen Turnus der Dreifelder- 
wirthschaft gehören 3,929,216 Dessjatinen, oder geg$n 81 pCt, 


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448 


sämmtlichen Ackerlandes 1 . Die fehlenden 19 pCt. blieben theils un¬ 
bestellt, theils waren sie zum Anbau von Küchengewächsen benutzt. 

Die den Bauerngemeinden gehörenden Heuschläge^ im Betrage von 
632,021 Dessjatinen, liefern unter günstigen Verhältnissen über 50 
Pud Heu gleich einem Brutto-Ertrage von 10 Rbl. per Dessjatine. 

. Der Arbeitslohn wird pro Tag berechnet und beträgt: zur Zeit der 
Aussaat und der Heuernte für einen Arbeiter 25—40 Kop., für eine 
Arbeiterin 20—30 Kop., für einen Arbeiter mit einem Pferde 50—70 
Kop., zur Ackerzeit 25—60 Kop. mit Kost. Uebrigens werden 
von den Bauern nur ausnahmsweise Tagelöhner gedungen. Das 
Bestellen der Felder und das Einernten verrichten sie gewöhnlich 
selbst, bisweilen aber auch mit Hilfe ihrer Nachbarn. 

Ausser Getreide wird noch Flachs und Hanf gebaut. Im Jahre 1873 
wurden im Ganzen auf 70,720 Dess. 450,400 Pud Flachs ausgesäet. 
Die Ernte betrug 917,400 Pud Flachs und 1,505,200 Pud Saat. Auf 
9,733 Dess. wurden im selben Jahre 73,860 Pud Hanf ausgesäet, der 
eine Ernte von 168,900 Pud Hanf und 228,400 Pud Saat ergab. 

Von dem geernteten Flachs sind ungefähr 600,000 Pud ver¬ 
sponnen, die ca. 76 Millionen Arschin Leinwand lieferten. Von 
diesen sind gegen 70 Millionen für den eigenen Bedarf verbraucht 
und gegen 6 Millionen in den Handel gekommen. Der Rest des 
Flachses (317,400 Pud) und die Heede werden für den Hafen von 
Archangel angekauft. Was die Flachssaat anbelangt, so wird un¬ 
gefähr 1 3 zur Aussaat einbehalten, Vs ausgeführt und */s kommt auf 
die Oelpressen, deren es im Gouvernement gegen 680 giebt 

Die Küchengärtnerei ist wenig entwickelt, und dienen die Erzeug¬ 
nisse derselben ausschliesslich nur für den örtlichen Bedarf. 

Der Gartenbau ist ebenfalls in Folge der ungünstigen klimatischen 
Verhältnisse unbedeutend. Dagegen ist aber das ganze Gouvernement 
reich an wildwachsenden Feld- und Waldbeeren. 

Die Bienenzucht wird nur in den Kreisen Ssarapul und Glasow 
betrieben. Der letztere Kreis setzt gegen 800 Pud Honig und eine 
bedeutende Quantität Wachs ab. 

Die Viehzucht bildet keinen besonderen Erwerbszweig. Bei dem 
herrschenden Mangel an Weiden liefert sie kaum den für die Aecker 
nöthigen Dünger. Im Jahre 1873 belief sich die Stückzahl des 
sämmtlichen Viehes im ganzen Gouvernement auf 3,570,000 Stück. 

4 Diese Zahlen erscheinen nicht ganz genau. Bei 55 pCt. der besäeten Aecker müsste 
der ganze Turnus aus 3 X 1,320,226 = 3,960,678 Dessj. bestehen, was 82,6 des ge- 
sammten Ackerlandes ergeben würde. D. Red. 



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Die industrielle Thätigkeit ist hier, und besonders in den Kreisen, 
in welchen, in Folge der Unfruchbarkeit des Bodens, die Land¬ 
bewohner ihre Existenz durch den Ackerbau allein nicht fristen 
können, ziemlich stark entwickelt, und zwar sind es wesentlich die 
Gewerbe, die eine Entfernung vom Hause bedingen (otxoäih npo- 
Mbicjibi). So beschäftigen sich z. B. die Bauern mit dem Fuhrwesen, 
oder verdingen sich als Kahnzieher, oder als Arbeiter auf den Gold¬ 
wäschereien in Sibirien, oder ziehen als Zimmerleute in den benach¬ 
barten Gouvernements und in Sibirien umher, wo fast alle Hand¬ 
werker, deren die Bauern für ihr Hauswesen bedürfen, als: Schneider, 
Gerber, Wollschläger, Filzarbeiter, Maurer, Maler, Glaser etc. — 
Bewohner des Gouvernement Wjatka sind. 

Die Jagd auf Thiere und Vögel ist in einigen Gegenden des 
Gouvernements auch keine geringe Erwerbsquelle. Man zählt an 
6000 Jäger — von denen 2500 sich mit der Vogeljagd beschäftigen. 
Gejagt werden am meisten: Hasen, Eichhörnchen, Wölfe, Bären 
und Füchse, seltener Iltisse, Hermeline, Vielfrass, Fischottern, 
Elenthiere und Luchse. Im Durchschnitt werden jährlich erlegt: 
Eichhörnchen ca. 130,000, Hasen ca. 30,000, Bären bis 300. 
Mit der Jagd auf Wölfe befassen sich nur wenige Jäger; es werden 
daher jährlich höchstens 500 Wölfe geschossen. Der Hermelin 
kommt im ganzen Gouvernement vor, mit Ausnahme nur des 
Kreises Wjatka; die jährliche Beute beträgt ungefähr 600 Stück. 
Füchse, unter denen bisweilen auch Schwarzfüchse angetroffen 
werden, und Iltisse sind zwar durch das ganze Gouvernement ver¬ 
breitet, doch werden jährlich nicht mehr als 200 Füchse und 300 
Iltisse gefangen. Die Zahl der Elenthiere nimmt mit der Lichtung 
der Wälder bedeutend ab, so dass jährlich höchstens 60 Stück er¬ 
legt werden. 

Die Vogeljagd beschränkt sich auf die Jagd auf Haselhühner 
gegen 100,000, Rebhühner gegen 50,000 und wilde Enten gegen 
10,000 Stück. 

Die Jagdzeit sowohl auf Thiere als Vögel währt vom Oktober bis 
Dezember, und bildet nur die Jagd auf Eichhörnchen und Ha¬ 
selhühner eine regelmässige Beschäftigung, wo hingegen die Jagd 
auf die anderen Thiere und Vögel mehr die Sache des Zufalls ist. 

Die Jagdbeute wird gewöhnlich in den Städten an die Händler 
und Aufkäufer abgesetzt. Es kosten: ein Eichhörnchen — 4 bis 
10 Kop.; ein Fuchsfell — 1 bis 5 Rbl., Iltisse bis 6 Rbl; ein Bären¬ 
fell von 1 Rbl. 50 Kop. bis 15 Rbl. Die Felle werden von den 
örtlichen Kürschnern, besonders im Kreise Sslobodsk, bearbeitet. 


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450 


Der Ertrag der Vogeljagd dient grösstentheils zur Befriedigung 
der lokalen Bedürfnisse, mit Ausnahme der Haselhühner, die nach den 
Residenzen versandt werden; der Preis eines Paars Haselhühner 
schwankt zwischen 8 — 30 — 40 Kop., je nach der Ausbeute. 

Die Jahreseinnahme eines Jägers beläuft sich auf ungefähr 30 Rbl. 

Zur Hebung dieser Erwerbsquelle, die in den letzten Jahren, in 
Folge der Vertheurung des Pulvers, gesunken war, sind von der 
Regierung bei den Städten Pulverkeller angelegt worden, wo das 
Pulver zu — im Vergleich zu den früheren Jahren — bedeutend er- 
mässigteren Preisen verkauft wird. Ausserdem hat die Gouverne¬ 
mentslandschaft eine Summe von 3,000 Rbl. angewiesen, aus der 
armen Jägern Vorschüsse zum Ankauf von Pulver gemacht werden. 
Endlich ist auch einigen Kreislandschaften der Verkauf des Pulvers 
gestattet worden. 

Die verschiedensten Arten der Hausindustrie sind besonders stark 
in den Kreisen Wjatka und Sslobodsk vertreten, wo man fast kein 
Dorf vorfindet, das nicht seine besondere Specialität darin besässe. 

• Am weitesten und stärksten ist die Leinweberei verbreitet. Es 
werden hier 17 bis 20 Millionen Arschin Leinwand, für den Betrag 
von 850,000 bis 1 Million Rbl., gewebt. Diese Leinwand wird theil- 
weise für die Bedürfnisse des Heeres verwandt, theilweise auf die 
Jahrmärkte von Nishnij-Nowgorod, Kasan und Sibirien versandt. 

An Holzwaaren (sogenannter meiraoö TOBapx) werden hier die 
verschiedensten Sachen: von Möbeln und Tarantassen 1 an bis her¬ 
unter zu den kleinen hölzernen Tabakspfeifen — von denen das 
Dutzend 1 Kop. kostet — angefertigt. Alle diese Gegenstände wer¬ 
den sowohl nach Nishnij-Nowgorod, als auch in die unteren Wolga- 
Gegenden und nach Sibirien abgesetzt. Die Grösse dieses Absatzes 
ist indess schwer zu bestimmen. 

An kleinen Zweigen der Hausindustrie sind noch zu erwähnen: 
Gerbereien, Anfertigung von Fischernetzen, Eisenwaaren (Sicheln), 
billigem Kupferzeug, Gurten und Lumpensammeln. Letzteres ist im 
ganzen Gouvernement stark vertreten, und es werden jährlich an 
60—70,000 Pud Lumpen an die Papierfabriken abgesetzt. Zuweilen 
betreibt ein ganzes Dorf nur ein Gewerbe, wie z. B. das Drechseln 
von Holzschaalen u. d. m. Im Ganzen kann man annehmen, dass 
sich mit allen diesen Gewerben gegen 216,000 Menschen beschäf¬ 
tigen, die eine Gesammteinnahme von gegen 3 Mill. Rbl. erzielen. 

1 Das bekannte russische Fuhrwerk auf 4 Rädern ohne Federn. 


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451 


Hiervon entfallen auf Gewerbe, die eine Entfernung vom Hause er¬ 
heischen 91,000 Personen, mit einer Einnahme von 1,650,000 Rbl., 
und auf häusliche Gewerbe an 125,000 Personen, mit einer Einnahme 
von 1,350,000 Rbl. Was die Arbeitszeit anbelangt, so halten diese 
ländlichen Handwerker die auf den Fabriken angenommene Arbeits¬ 
zeit ein. 

Trotz der billigen Preise der hier producirten Gegenstände und 
des, in Folge der schlechten Kommunikationsmittel, erschwerten Ab¬ 
satzes, ist die Landschaft dennoch zu der Ueberzeugung gelangt, 
dass die Gewerbe, die im Hause betrieben werden können, den 
Bauern einen grösseren Vortheil gewähren, als jene, die eine Ent¬ 
fernung vom Hause beanspruchen. Hierauf hin hat denn auch die 
Landschaft, besonders in jenen Kreisen, wo die letzteren vorherr¬ 
schend sind, Gewerbeschulen eingerichtet. Solcher Schulen existiren 
jetzt 10, in denen die Arbeiten der Tischler, Fassbinder, Radmacher, 
Schneider, Drechsler, Schlosser gelehrt werden. Auch eine Schuster¬ 
werkstatt für weibliche Arbeiterinnen ist errichtet. Für den Unter¬ 
halt dieser Gewerbeschulen hat die Landschaft im Jahre 1874 den 
Betrag von 2371 Rbl. 96 Kop. verausgabt. 

Ausser den angeführten Gewerben existiren noch einige beson¬ 
dere, die sonst in keinem anderen Gouvernement Vorkommen. 
Diese bestehen in der Anfertigung verschiedener Gegenstände aus 
einem hier vorkommenden Auswüchse der Birke (Kapa — russ. Kana 
genannt), dann die Verfertigung verschiedener Thiermodelle, Puppen 
und Spielsachen aus Thon und Gyps, und endlich die Verfertigung 
von Harmoniums. Ueber diese nur im Gouvernement Wjatka vor¬ 
kommenden Industriezweige sind schon in dem oben angeführten 
Artikel «Statistische Notizen über das Gouvernement Wjatka» 
(s. «Russ. Revue 1875. Bd. VI, p. 216) nähere Mittheilungen gegeben 
worden. Hier mag nur noch hinzugefügt werden, dass vom I. April 
1872 bis zum November 1874 im Ganzen 70 solcher Harmoniums für 
den Betrag von 4,117 Rbl. angefertigt wurden, von denen 61 Stück 
für 3,777 Rbl. 50 Kop. verkauft sind. 

Um den landwirthschaftlichen Kredit zu erleichtern, hat die Land¬ 
schaft für die Errichtung von Kreditanstalten, in Form von Leih- und 
Depositen-Kassen, Sorge getragen. Zur Bildung der Grundkapitalien 
solcher Gesellschaften hat sie im Jahre 1873 die Summe von 30,000 
Rbl. bestimmt, von denen jede sich bildende Kreditgesellschaft 
als Grundstock 3000 Rbl., mit der Verpflichtung einer jährlichen 
Amortisation, erhält. Gegenwärtig sind schon 8 solcher Gesell- 


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452 


schäften in Thätigkeit, von denen eine, die von Ischewsk, ohne jene 
Hilfe gebildet und eröffnet ist. Da diese Anstalten erst vor Kurzem 
ins Leben gerufen sind, so kann ein genaues Bild ihrer Thätigkeit 
und der Grösse ihres Umsatzes noch nicht gegeben werden. Es 
unterliegt indess keinem Zweifel, dass der in dieser Form gegebene 
Kredit einen vvohlthätigen Einfluss ausüben wird, da die Anleihen, 
die bei diesen Kreditanstalten gemacht worden sind, den Mitgliedern 
dieser Gesellschaften die Möglichkeit gaben, ihre Abgaben und 
Rückstände zur Zeit zu entrichten, und sie so vor dem sonst üblichen 
und so verderblichen Verkauf ihres Eigenthums schützte; und es 
erfreuen sich diese Kreditanstalten einer allgemeinen Theilnahme. 

Aus den Notizen über die öffentliche Verpflegung ist zu ersehen, 
dass die Gouvernementslandschaft am i. Januar 1874 zu diesem 
Zweck ein Kapital von 536,848 Rbl. besass. Im Laufe des Jahres 
wurden aus den Reserve-Getreide-Magazinen geliehen: an Winter¬ 
getreide 12,258 Tschetwert, an Sommergetreide 26,233 Tschetwert. 
Zum 1. Januar 1873 befanden sich in 910 Reserve-Getreide-Magazinen 
717,534 Tschetwert Getreide. Hiezu kamen noch an ausstehenden 
obligatorischen jährlichen Beiträgen und an nicht zurückerstattetem, 
in früheren Jahren geliehenem Getreide, 1,141,969 Tschetwert. Im 
Ganzen belief sich also der Getreidevorrath auf 1,859,503 Tschet¬ 
wert. Nach den gesetzlichen Vorschriften aber, d. h. im Verhält- 
niss zur Einwohnerzahl (Revisionsseelen), brauchte dieser Vorrath nur 
aus 1 >333>852 Tschetwert zu bestehen. In Folge eines Cirkular- 
schreibens des Ministers des Innern vom Jahre 1873 hat die Gou¬ 
vernementslandschaft in ihrer letzten Session die Frage der öffent¬ 
lichen Verpflegung in Berathung gezogen, und ist sie im Einver- 
ständniss mit den Kreislandschaften zu der Ansicht gelangt, dass es 
unbedingt nothwendig sei, die Getreide-Magazine mit einer Geld¬ 
steuer abzulösen und für den Fall der Noth Central-Magazine 
anzulegen. 

Was die Volksbildung anbelangt, so sind, abgesehen von den 
zum Ressort des Ministeriums der Volksaufklärung gehörenden Volks¬ 
schulen für den russischen Theil der Bevölkerung, noch 7 Schulen 
— unter denen eine weibliche — für die nicht russische Bevölkerung 
errichtet worden. In 2 dieser Schulen werden Kinder der Tsche- 
remissen und in 5 die der Wotjaken unterrichtet. Es befanden sich 
zum 1. Januar 1874 in diesen Schulen 256 Zöglinge b.G. Der Unterricht 
wird hier im ersten Jahre in den betreffenden Sprachen gegeben: 
bei denTscheremissen nach einem hiezu besonders herausgegebenen 


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453 


Alphabet, bei den Wotjaken wird der Lidsan (JIwÄ3aHT> — das Al¬ 
phabet der wotjakischen Sprache) gebraucht. Im zweiten Jahre aber 
findet der Unterricht schon in russischer Sprache statt. 

Ausser diesen 7 Regierungsschulen werden noch 12 ähnliche für 
Rechnung der Landschaft und der Missions-Gesellschaft (für die Ver¬ 
breitung der griechisch-orthodoxen Religion) unterhalten. Das Mis- 
sionskomite von Wjatka bestreitet die Unkosten von 10 dieser 
Schulen, die 260 Schüler aufzuweisen haben. In diesen Schulen wird 
ausser im Lesen, Schreiben und in Religion, noch in den Anfangs¬ 
gründen der Arithmetik, und in einigen auch im Kirchengesang 
Unterricht ertheilt. Im Allgemeinen lernen die Kinder dieser Schulen 
gern, auch steigt die Lust zum Lernen unter diesen Völkerschaften 
zusehends. 

Im Kreise Ssarapul hat die Landschaft noch zwei russisch-tata¬ 
rische Schulen errichtet. Die Lehrer sind hier Tataren, die ihren 
Kursus in einer russischen Schule beendigt, und ein besonderes 
Zeugniss, welches sie zu diesem Amte berechtigt, erhalten haben. 
In beiden Schulen befinden sich 51 Schüler. Das Lernen geht ziem¬ 
lich gut, und um den Schülern Lust zur Erlernung der russischen 
Sprache beizubringen, sind an diesen Schulen für den Religionsun¬ 
terricht die örtlichen Mulla’s angestellt. 


Der dritte internationale Orientalisten-Kongress 

wird vom 1. September 1876 in St. Petersburg t$gen. Auf dem 
zweiten, welcher im September vorigen Jahres in London sich ver¬ 
sammelte, wurden zu Mitgliedern des Organisations-Komites des be¬ 
vorstehenden Kongresses die daselbst anwesenden russischen Orien¬ 
talisten gewählt. 

Am 24. März dieses Jahres geruhten Seine Majestät der Kaiser, 
in Folge eines Ihm von dem Hrn. Minister der Volksaufklärung un¬ 
terbreiteten Berichts, Seine Allerhöchste Erlaubniss zur Einberufung 
des erwähnten Kongresses nach St. Petersburg zu ertheilen. Als 
Mitglieder des Organisations-Komites für denselben wurden von 
dem Hrn. Minister der Volksaufklärung die in London gewählten 
Mitglieder bestätigt, und zwar: 1. der Prof. ord. für das Katheder 


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454 


der Geschichte des Orients an der hiesigen Universität, Geheimrath 
W. W. Grigorjew\ 2. der Prof. ord. für das Katheder der armeni¬ 
schen Sprachen und Literatur an derselben Universität, Wirklicher 
Staatsrath K. P 1 Patkanow; 3. der Prof. ord. für das Katheder der 
hebräischen, syrischen und chaldäischen Sprache und Literatur an 
derselben Universität, Staatsrath D . A. Chwolson , und 4. der Beamte 
für besondere Aufträge beim Generalgouverneur von Turkestan, 
Hofrath A. L. Kuhn . Zu ihrem Präses erwählten die Mitglieder 
des Komites das älteste, Hrn. W . W. Grigorjew , welcher mit der 
Korrespondenz im Namen des Komites beauftragt wurde. 

Was die Thätigkeit des bevorstehenden Orientalisten-Kongresses 
betrifft, so wird, da er in Russland tagen soll, seine Aufmerksamkeit 
zunächst Russisch-Asien zugewendet sein, und zwar folgenden geo¬ 
graphischen Gebieten desselben: 

L Sibirien y dem westlichen sowohl als dem östlichen. 

II. Mittelasien in den russischen Grenzen (mit Einschluss der unab¬ 
hängigen Chanate des westlichen Turkestans). 

UI. Kaukasus . 

IV. Transkaukasien . 

Die anderen Theile des Orients werden nach folgenden Gruppen 
in Betracht kommen: 

V. Ost-Turkestan, Mongolei , China und Japan . 

VI. Indien , Persien und die Inseln des indochinesischen Archipels . 

VII. Türkei und Arabien. 

In jeder von diesen sieben Sektionen werden die Kartographie, Lin¬ 
guistik, Geschichte und Literatur berücksichtigt werden. 

Ausserdem werden »och besondere Sektionen: 

Vni. der Archäologie und Numismatik , so wie 
IX. den religiösen und philosophischen Lehren des Orients 
gewidmet sein. 

Ausser den Orientalisten von Fach hat das Organisations-Komite 
in seiner Bekanntmachung in Nr. 87 des «Regierungs-Anzeigers» 
dieses Jahres zur Theilnahme, sowohl an den Sitzungen des bevor¬ 
stehenden Kongresses, als auch an den vorbereitenden Arbeiten zu 
demselben, ausser den Orientalisten von Fach, alle Diejenigen auf¬ 
gefordert, welche sich mit dem Studium Asiens und der Verbreitung 
von Kenntniss über dasselbe in irgend welcher Hinsicht beschäftigt 
haben — Seeleute, welche die Ufer asiatischer Meere aufnahmen, 
Offiziere des Generalstabes, welche in dem einen oder anderen Theile 
des asiatischen Festlandes topographische Arbeiten leiteten, Beamte 


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des Civil- und Militärressorts, welche, während ihres Dienstes in 
Asien, ethnographische, statistische, geschichtliche und andere Daten 
zu sammeln Gelegenheit hatten; endlich alle Reisenden, welche 
jenen Welttheil besuchten, überhaupt alle Personen, welche durch 
den Schatz ihrer Kenntnisse und Erfahrungen die Zwecke des Kon¬ 
gresses fördern können. 

Das Organisations-Komite hat seine korrespondirenden Mitglieder 
sowohl in allen Hauptstädten Europa’s als in einigen Städten Britisch¬ 
indiens und des Inlandes, wie Moskau, Kasan, Tiflis, Warschau, Ir¬ 
kutsk und Taschkend, deren Aufgabe es zunächst ist, die Mass¬ 
nahmen des Komites bekannt zu machen und Mitgliedskarten zum 
Kongresse auszugeben. 

Von den uns bekannten Maassnahmen des Organisations-Komites 
des bevorstehenden Orientalisten-Kongresses verdienen zwei beson¬ 
dere Anerkennung, und deren wir hier erwähnen wollen. 

Die wissenschaftlichen Arbeiten, welche bei uns in Russland, um 
Licht über die Länder und Bewohner des Orients zu verbreiten, 
unternommen wurden und ausgefiihrt werden, sind selbst dem hei¬ 
mischen Publikum nicht hinlänglich bekannt; viel weniger noch 
kennt sie das westliche Europa. Desshalb hat, als es entschieden 
war, dass der dritte Orientalisten-Kongress in St. Petersburg Zusam¬ 
menkommen soll, das mit seiner Organisation betraute Komite 
diese Gelegenheit wahrgenommen, um kompetente Fachmänner im 
Reiche, welche auf dem einen oder anderen Gebiete der Kunde des 
Morgenlandes wissenschaftlich thätig sind, zu veranlassen, die Lei¬ 
stungen ihrer Vorgänger zu registriren. «Abgesehen von den Fragen, 
welche auf dem Kongresse zur Verhandlung kommen werden — 
heisst es in einer in Nr. 238 des «Regierungs-Anzeigers» veröffent¬ 
lichten Bekanntmachung des Organisations-Komites, — könnten die 
Orientalisten Russlands ihren gelehrten Kollegen, welche sie als 
Gäste hier empfangen werden, kein besseres Geschenk darbnngen, als 
indem sie ihnen einen Bericht darüber vorlegen, in wie weit unser 
Vaterland an den allgemeinen Bestrebungen der europäischen wissen¬ 
schaftlichen Welt, die Kenntniss des Orients sich anzueignen und 
seine Schicksale zu ergründen, sich betheiligt habe. Erweist sich dann, 
dass diese Betheiligung geringer ist, als wir voraussetzen können — 
so wird eine solche Erkenntniss uns als Sporn zu gesteigerter Thä- 
tigkeit in derGegenwart und Zukunft dienen, um auch in der Wissen¬ 
schaft jene Stellung einzunehmen, welche wir in den politischen An¬ 
gelegenheiten Asiens bereits erlangt haben. Sollte sich aber unsere 


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456 


Betheiligung an der wissenschaftlichen Erforschung Asiens bedeu¬ 
tender, als gewöhnlich angenommen wird, erweisen, — mit desto 
vollerem Selbstbewusstsein können wir dann vor den Richterstuhl 
unserer europäischenKollegen treten, und für desto nützlicher werden 
dieselben die Theilnahme am bevorstehenden Orientalisten-Kon- 
gresse erkennen. Auch war das Komite darüber nicht in Zweifel, 
dass eine solche Anschauung von denjenigen der Vaterlandsge¬ 
nossen getheilt werden würde, welche ihre wissenschaftliche Thä- 
tigkeit der Erforschung des Orients widmen, und dass unter ihnen 
nicht Wenige sich finden würden, welche an der Verwirklichung 
des von ihm gefassten Gedankens sich zu betheiligen bereit sind. 
Um aber in dieser Hinsicht Gewissheit sich zu verschaffen, und 
um zugleich eine Vertheilung der in Aussicht genommenen Arbeiten 
vornehmen zu können, hatte das Komite noch im Frühjahr dieses 
Jahres (am* 8./20. Mai) zu diesem Zwecke eine besondere Ver¬ 
sammlung derjenigen in St. Petersburg lebenden Männer berufen, 
welche durch ihre gründliche Kenntniss Asiens und ihre auf dasselbe 
bezüglichen Arbeiten bekannt sind. Gegen vierzig Vertreter der 
Wissenschaft des Orients in Russland sind dieser Einladung gefolgt, 
und haben, nachdem von dem Vorsitzenden der Zweck und das 
Wesen des geplanten Unternehmens auseinandergesetzt war, den 
Gedanken des Komites gut geheissen, wobei viele der Anwesenden 
ihre Bereitwilligkeit zur Uebernahme der Ausarbeitung einzelner 
historisch-bibliographischer Uebersichten des in Russland auf den ver¬ 
schiedenen Gebieten der Erforschung des Morgenlandes Geleisteten 
kundgaben» 

Wie in der angeführten Bekanntmachung des Organisations- 
Komites im «Regierungs-Anzeiger» mitgetheilt wird, sind es fol¬ 
gende Herren, welche bis jetzt historisch-bibliographische Ueber¬ 
sichten zu liefern übernommen haben: 

a) in Bezug auf Sibirien: 

Herr K. S. Staritskij —zusammen mit Hrn. F. F. Busse—eine 
Uebersicht der Kartographie der östlichen Ufer dieses Landes, vom 
Karischen Meere an bis zu den Grenzen der Mandschurei, so wie 
auch der Ufer der Insel Ssachalin und des Japanischen Archipels. 

Hr. M . J. Wenjukow — eine Uebersicht der Kartographie des 
Festlandes von Sibirien, vom Uralgebirge im Westen bis zum Japa¬ 
nischen Meere im Osten. 

Hr. P. A . von Helmersen — eine Uebersicht der Ethnographie 
der in Süd-Sibirien lebenden Völkerstämme. 




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457 


b) in Bezug auf Mittel-Asien innerhalb der russischen Grenzen: 

Baron A. W. von Kaulbars — eine Uebersicht der Kartographie 
dieses Gebietes. 

W. W. Grigorjew — eine Uebersicht der ethnographischen so 
wie auch der historisch-archäologischen Forschungen desselben 
Gebietes. 

c) in Bezug auf Transkaukasien: 

K. P. Patkanow —eine Uebersicht der ethnographischen Arbeiten 
über das russische Armenien, so wie der Linguistik und Literatur 
dieses Landes. 

A. A. Zagareli — dergleichen Uebersichten Grusien betreffend. 

In Bezug auf die übrigen Länder Asiens: 

P. A. von Helmersen —Uebersichten derKartographie und Ethno¬ 
graphie der Mongolei. 

Baron F. R . von Osten-Sacken — eine Uebersicht der von Russen 
ausgeführten geographischen, ethnographischen und anderen Ar¬ 
beiten (mit Ausschluss der linguistischen und literär-historischen), 
China betreffend. 

/. /. Sacharow — eine Uebersicht der linguistischen und literär- 
historischen Arbeiten, China und die Mandschurei betreffend. 

Ausserdem haben übernommen: 

P. Lerch — eine Uebersicht der in Russland ausgeführten irani¬ 
schen Studien. 

P. /. Ssawa'itow — eine Uebersicht der von Russen nach Palästina 
und den angrenzenden Ländern unternommenen Reisen, und 

Baron V. von Rosen — eine Uebersicht der in Russland beste¬ 
henden Sammlungen von orientalischen Handschriften, mit Notizen 
über die Geschichte dieser Sammlungen, so wie nebst einem Katalog 
der merkwürdigsten ihrer arabischen Handschriften. 

An die Mitarbeiter dieses literärischen Unternehmens ist, um eine 
gewisse Einheit in der Anlage der einzelnen Uebersichten zu wahren, 
eine vom Komite ausgearbeitete Instruktion vertheilt worden. 

Die zweite derMaassnahmen des Organisations-Komites, deren wir 
oben erwähnten, betrifft eine für die Zeit der Session des Kongresses 
beabsichtigte Ausstellung orientalischer Gegenstände,, welche in 
Folge eines von dem Hm. Minister der Volksaufklärung geäusserten 
Wunsches veranstaltet werden soll. Die Specialitäten, welche auf 
dieser Ausstellung vertreten sein werden, sind: Archäologie, Pa¬ 
läographie, Diplomatik, Ethnographie und Literatur. 

Bus. Bern*. Bd. VII. 7n 


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Das Organisations-Komite hat in Nr. 21 des «Regierungs-An- 
zeigers* für dieses Jahr in Bezug auf den Charakter dieser Ausstellung 
Folgendes bekannt gemacht: 

«Aus der Zahl der Gegenstände angedeuteter Art, welche in den 
öffentlichen Sammlungen Russlands aufbewahrt werden, beabsichtigt 
das Organisations-Komite des dritten Orientalisten-Kongresses, ohne 
die in den beiden Hauptstädten und bei den Universitäten beste¬ 
henden Sammlungen anzutasten, nur die merkwürdigsten aus den 
entlegenen Gebieten des Reiches, wie dem Kaukasus, Turkestan 
und Sibirien, zu vereinigen. Der Umfang der zu treffenden Wahl 
wird dem Ermessen der betreffenden örtlichen Autoritäten über¬ 
lassen. Doch rechnet das Organisations-Komite besonders auf die 
Theilnahme von Privatpersonen, welche grössere oderkleinere Samm¬ 
lungen von Gegenständen orientalischen Ursprungs besitzen. 

«Viele unserer Vaterlandsgenossen, heisst es in der angeführ¬ 
ten Bekanntmachung, haben Reisen in verschiedene Länder des 
Orients unternommen, Andere haben dort eine längere oder kür¬ 
zere Zeit in Dienstangelegenheiten verbracht, und fast Jeder von 
ihnen hat in die Heimath zum Andenken an die besuchten fernen 
Gegenden, wenn nicht bedeutende Sammlungen, so doch einige 
interessante Gegenstände mitgebracht. Nicht gering war auch die 
Ausbeute an ethnographischen und archäologischen Gegenständen, 
welche im russischen Asien, besonders im Kaukasus und in den in 
Central-Asien in jüngster Zeit erworbenen Gebieten, von wissbe¬ 
gierigen Civilbeamten und Militärpersonen, die dort leben oder ge¬ 
lebt haben, gesammelt worden sind. Die reichste Quelle morgen¬ 
ländischer Alterthümer bietet aber der Boden des europäischen 
Russlands. Bekanntlich sind in Folge von Handelsverbindungen, 
welche schon in sehr entlegener Vorzeit zwischen Asien und dem 
östlichen Europa bestanden, und besonders zur Zeit der Sassaniden, 
Umeijaden und zum Theil auch der Abbassiden sehr lebhaft waren, 
orientalische Münzen und Kunstgegenstände als Schätze im Boden des 
mittleren und nördlichen Russlands geborgen worden. Viele solcher 
Schätze sind bereits entdeckt und werden noch jährlich beim Pflügen 
der Felder, bei verschiedenen Erdarbeiten, besonders jetzt beim An¬ 
legen von Eisenbahnen an das Tageslicht gebracht. Ein nicht ge¬ 
ringer Theil derartiger Funde ist, Dank dem Interesse, welches Be¬ 
hörden und Privatpersonen bei solchen Gelegenheiten für die Wissen¬ 
schaft an den Tag gelegt haben, bereits in öffentlichen Samm¬ 
lungen zum Nutzen wissenschaftlicher Forschung niedergelegt wor- 


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459 


den; ein viel grösserer Theil der gemachten Funde ist, wie man 
leider annehmen muss, entweder von den unwissenden Findern ein¬ 
geschmolzen worden, oder in die Hände von privaten Sammlern 
gerathen, zuweilen aber auch in den Besitz von Leuten, welche alte 
Münzen und andere Alterthümer, ohne ihren wissenschaftlichen 
Werth zu kennen, nur als Kuriositäten aufbewahren. Viele dieser 
Personen leben entfernt von den Centren wissenschaftlicher Thä- 
tigkeit. und die von ihnen bewahrten Alterthümer bleiben der For¬ 
schung unzugänglich, während unter denselben sehr wichtige histo¬ 
rische Denkmäler und interessante Kunstgegenstände aus dem asia¬ 
tischen Alterthum und Mittelalter sich befinden können. Die Kennt¬ 
nisnahme der Specialisten von diesen Alterthümern würde denselben 
Gelegenheit zur Bereicherung der Wissenschaft, ihren Besitzern 
aber — Gelegenheit geben dieselben, wenn sie es wünschen sollten, 
vortheilhaft zu veräussem. Es steht zu erwarten, dass auf dem Kon¬ 
gresse, auf welchem Repräsentanten und Dilettanten aller Zweige der 
Kunde des Morgenlandes sich versammeln werden, jeder ausgestellte 
Gegenstand nicht allein seinem wissenschaftlichen Werthe nach 
richtig gewürdigt werden wird, sondern auch seinen Liebhaber finden 
dürfte. 

«Sollten alle erwähnten Kategorien von in Russland lebenden Be¬ 
sitzern orientalischer Alterthümer und Seltenheiten dieselben zu der 
geplanten Ausstellung schicken, so würde letztere gewiss eine sehr 
nützliche und bemerkenswerthe werden. Daher wendet sich das 
Komite im Interesse der Wissenschaft und in ihrem eigenen Inte¬ 
resse, an die Besitzer solcher Gegenstände, mit der ergebensten Bitte, 
seiner Aufforderung Folge leisten zu wollen. 

Die Gegenstände, welche auf der beabsichtigten Ausstellung will¬ 
kommen sein dürften, alle aufzuzählen, wäre wohl schwerlich 
möglich. Das Komite begnügt sich auf folgende Rubriken hin¬ 
zuweisen : 

1. Inschriften in den Sprachen des Orients auf Stein- oder Metall¬ 
platten. 

2. Handschriften und alte Dokumente in orientalischen Sprachen. 

3. Alte geographische Karten asiatischer Landgebiete. 

4. Albums von Porträts, Ansichten und andere Zeichnungen, 
welche auf Reisen im Orient zusammengestellt worden sind; 

5. Gegenstände, die bei Orientalen in der Gegenwart im Gebrauch 
sind, als Kleidungsstücke, Schmuckgegenstände, Hausgeräthe, 
Waffen, Handwerkzeuge, Geräthe des Landbaues, der Jagd und 

30 * 


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460 


des Fischfanges, Götzen, Bilder und andere Gegenstände des Kultus; 
Erzeugnisse der Kunst und der Industrie, u. s. w. 

6. Denkmäler des vergangenen öffentlichen und häuslichen Lebens 
morgenländischer Völker, welche aus dem Orient von Reisenden 
mitgebracht oder im Boden unseres Vaterlandes gefunden worden 
sind, vorzüglich solche, welche mit Inschriften und bildlichen Dar¬ 
stellungen versehen sind, wie Münzen, geschnittene Steine, Schüs¬ 
seln, Trinkgefässe, Metallspiegel, astronomische Instrumente u. dgl. 
Viele Zweige der orientalischen Numismatik, besonders der muham- 
medanischen, verdanken den hohen Grad ihrer wissenschaftlichen 
Bearbeitung namentlich den zahlreichen in Russland gemachten 
Münzfunden; doch auch in diesen Zweigen giebt es viele Lücken, 
und man darf wohl erwarten, dass solche Lücken zu nicht geringem 
Theile ausgefiillt werden würden, wenn alle die Personen, welche 
unbekannter Weise im Besitze solcher Münzen sind, dieselben auf 
die Ausstellung schicken wollten. 

«Sollten in Betreff der Einsendung zur Ausstellung der Originale 
von Inschriften und Münzen sich irgend welche Schwierigkeiten 
bieten, so wäre es erwünscht, von denselben Gypsabgüsse oder 
Bleiabdrücke (von den Münzen auch Papierabdrücke) zu erhalten, 
doch müssen letztere sorgfältig ausgeführt sein. 

«Die für die Ausstellung bestimmten Gegenstände bittet das 
Organisations-Komite nach St. Petersburg an die Adresse seines 
Präsidenten des Geheimen-Rathes, Wassili Wassiljewitsch Grigovjew 
(Wassili-Ostrow, Wolckowskoi pereulok, Haus Nr. 6, Wohnung 
Nr. 5), oder an die Adresse des dem Komite zur speciellen Leitung 
der Ausstellung beigeordneten Hofrathes Peter Iwanowitsch Lerch 
(Wassili-Ostrow, Grosse Perspektive Nr. 8, an der Ecke der dritten 
Linie, Wohnung Nr. 40) einsenden und zugleich einen der erwähnten 
Herren, mit genauer Angabe der eingesandten Gegenstände, dar¬ 
über in einem besonderen Briefe unterrichten zu wollen. 

«Die in der angegebenen Weise abgeschickten Sendungen werden 
nur im Beisein aller Mitglieder des Organisations-Komites eröffnet 
und die in denselben für die Ausstellung bestimmten Gegenstände 
in ein für diesen Zweck besonders eingeführtes Eingangsbuch unter 
besondern Nummern eingetragen, worauf der Einsender unverzüglich 
von dem Empfange benachrichtigt werden wird. 

«Vor Eröffnung des Kongresses wird ein Katalog der eingesandten 
Gegenstände, mit Angabe der Namen der Einsender, gedruckt 


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werden. Auf der Ausstellung werden die Gegenstände mit Eti- 
quetten, welche die Namen der Besitzer tragen, versehen sein; 
auch werden alle möglichen Maassnahmen für die Sicherheit der aus¬ 
gestellten Gegenstände getroffen werden. Nach der Schliessung des 
Kongresses werden alle zur Ausstellung gesandten Gegenstände 
den Besitzern in der Reihenfolge, in welcher sie eintrafen, zurück- 
geschickt werden. 

«Schliesslichbittet dasOrganisations-Komite die Personen, welche 
bereit sind, als Exponenten an der beabsichtigten Ausstellung sich 
zu betheiligen, durch den Umstand, dass nur ein für die Ausstellung 
geeigneter Gegenstand in ihrem Besitz sich befindet, sich von der Be¬ 
theiligung nicht abschrecken lassen zu wollen. Es kann leicht der 
Fall eintreten, dass eine einzige Inschrift, eine einzelne Münze, 
oder ein geschnittener Stein mehr wissenschaftliche Bedeutung hat, 
als manche ganze Sammlung ähnlicher Gegenstände». 


Kleine Mittheilnngen. 


(Di© Schulbildung und die Bevölkerung). Der «Bericht 
über die Thätigkeit des Ministeriums der Volksaufklärung» für das 
Jahr 1873 giebt unter der Rubrik «Elementarschulen» (im August¬ 
heft des Journals des Ministeriums) eine höchst interessante Tabelle 
über das Verhältnis der Zahl der Volksschulen und der Schüler in 
denselben zu der Bevölkerungszahl des Reiches. Unseres Wissens 
ist dies die erste officielle Arbeit, welche bei Allen, die mit der 
Schwierigkeit statistischer Arbeiten gerade auf diesem Gebiete auch 
nur einigermassen bekannt sind, um so grössere Anerkennung finden 
wird. 

«Die Gesammtzahl der im Ressort des Ministeriums der Volksauf¬ 
klärung stehenden Volksschulen», beginnt der Bericht über diesen 
Abschnitt, «betrug zufolge der von den Lehrbezirkskuratoren ein¬ 
gegangenen Data am Ende des Jahres 1873: 22,653 m it 933,900 
Schülern, wovon 740,866 Knaben und 185,034 Mädchen waren. In 
dieser Zahl sind auch die kirchlichen Parochial-, die lutherischen 
Landschulen in den baltischen Gouvernements und die 'Lese- und 
Schreibe-, sowie die Handwerkerschulen mit einbegriffen. Rechnet 
man dazu noch die 115 Sonntagsschulklassen mit 8565 Schülern und 
22 Schülerinnen, so beträgt die Gesammtzahl der Elementarvolks¬ 
schulen 22,768 mit 942,487 Schülern, wovon 757,431 Knaben und 


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462 


185,056 Mädchen», mit Ausnahme von Finland, dem Kaukasus und 
Centralasien. 

Die Bevölkerung des Reiches wird nun, die zuletzt genannten 
Länder ebenfalls abgerechnet, auf etwa 75 Millionen (37 Millionen 
männlichen und 38 Millionen weiblichen Geschlechts) angenommen; 
etwas zu hoch, wie ja auch die Addition auf der Tabelle eine etwas 
niedrigere Ziffer ergiebt, indessen macht dies für das Endresultat 
einen nicht bedeutenden Unterschied. Es kommt nämlich: 1 Schule 
auf 3294 Einwohner, I Schüler auf 48 männliche und 1 Schülerin auf 
205 weibliche Einwohner. 

Die Tabelle (in der wir nur einige wenige Druckfehler beriehtigt 
haben) ist folgende: (siehe S. 463). 

Auf diese Tabelle folgt nun eine zweite, welche die Frage beant¬ 
wortet: wie verhält sich der Schulbesuch? wie ist er zu dem, wie er 
sein soll? d. h. wie viele Kinder sollte man in der Schule erwarten 
und wie viele sind von diesen da? Erwarten sollte man alle Kinder 
von 7—14 Jahren. Diese, sagt der Bericht, machen nach der allge¬ 
meinen Annahme der Statistiker 10 pCt. der Bevölkerung aus. Wir 
schalten hier nur ein, dass sie in Preussen 1864 etwas mehr betru¬ 
gen, nämlich 14,7 pCt. (s. Dr. Engel, Beiträge zur Statistik des Un¬ 
terrichtswesen im preussischen Staate und seinen älteren Provinzen. 
Berlin. Verlag des königl. statistischen Bureaus. 1869. S. 14). Da 
demnach das Verhältniss der, wenn man hier so sagen will, schul¬ 
pflichtigen Jugend durch einfache Division mit 10 gewonnen wird, 
so geben wir von der zweiten Tabelle nur die Resultate mit Berech¬ 
nung einer weiteren Decimalstelle. Demnach besuchen nur 100 
Kinder die Volksschule, wo man der Bevölkerungszahl nach erwar¬ 
ten sollte im Lehrbezirk von: 


Dorpat. 189, und zwar 152 Knaben, 244 Mädchen, 

Warschau .... 349, » » 290 » 611 » 

St. Petersburg . 712, • » 433 » 1986 • 

Odessa. 813, » • 506 » 2325 t 

Wilna. 857, » » 479 » 5100 » 

Charkow. 902, » » 482 » 5117 » 

Kasan.1004, » »580 » 3334 » 

Kijew.1425, » » 787 » 6582 » 

Moskau.1 735 » * » 1035 » 4935 » 


Nur zur Vergleichung führen wir aus der oben genannten Quelle 
einige Data über das preussische Schulwesen von 1864 an. Bei einer 
Bevölkerung von 19,255,139 hattePreussen25,056Elementarschulen, 
also kam eine auf 768 Einwohner (S. 5). Das Verhältniss variirte natür¬ 
lich ebenso nach den verschiedenen Provinzen. Voran stand Pommern 
(1 auf 570 Einw.), sodann kam Hohenzollern (1 auf 589), Preussen (1 
auf 642), Posen (1 auf 701), Sachsen (1 auf 744), Rheinprovinz (1 auf 
826), Brandenburg (1 auf 863), Westphalen(i auf 879) undSchlesien 
(1 auf 899). Von den 3,457,241 schulpflichtigen Kindern besuchten 

(Fortsetzung auf Seite 464.) 


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463 


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464 


die Schule 3,026,743, d. h. also 90 pCt. (s. Engel S. 38 und 5), ein 
nicht ganz genügendes Resultat in einem Reiche, wo der Staat seit 
vielen Jahrzehnten den Schulzwang ausübt. Man spricht gerade ge¬ 
genwärtig viel von der Einführung desselben auch in Russland. 
Schwerlich ist die Massregel in nächster Zukunft ausführbar, denn 
es fehlt in erster Linie an Lehrkräften in quantitativer und qualitati¬ 
ver Beziehung. Auch darüber giebt sich das Ministerium der Volks¬ 
aufklärung keiner Täuschung hin. «Von 11,000 Schulen», sagt der 
Bericht, «in den Gouvernements des Moskauer, Charkower, Kasaner 
und Odessaer Lehrbezirks hatten im Jahre 1873 mehr als 500 gar 
keine Lehrer; mehr als 3000 waren genöthigt, sich mit Lehrern zu 
begnügen, die kaum lesen und schreiben konnten (MajrorpaMOTHue), 
die nur durch einen Zufall in die pädagogische Laufbahn verschla¬ 
gen wurden, und die man nur desshalb dulden muss, weil man Nie¬ 
mand hat, um sie zu ersetzen; auch von dem Rest der Lehrer kann 
nur der kleinere Theil in Bezug auf ihre Kenntniss und Befähigung, 
Schule zu halten, für genügend erklärt werden». In zweiter Linie 
aber fehlt das Geld. Dies lässt sich vielleicht schneller beschaffen. 
Die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, die auf die Volksschule 
zu verwendenden Mittel zu erhöhen, hat das Ministerium schon oft 
und auch in diesem Berichte wieder mit Entschiedenheit ausgespro¬ 
chen; sie scheint sich auch in den massgebenden Kreisen immer 
mehr zu verbreiten 1 . G. S. 


Literaturbericht. 


A, Harkavy und H. L . Strack , Catalog der hebräischen und samantanischen Handschrif¬ 
ten der Kaiserlichen Oeffentlichen Bibliothek in St. Petersburg. Band I, der he* 
bräischen Bibelhandschriften erster und zweiter Theil. St. Petersburg 1875. 
XXXin + 296. 8°. 

Im Jahre 1852, als die Kaiserl. Oeffentl. Bibliothek ihren ersten Ka¬ 
talog der orientalischen Handschriften herausgab, war diese Anstalt, 
in* Bezug auf hebräische Manuscripte, eine der ärmsten: sie besass 
nur sechs hebräische Handschriften, vier biblische, eine karäische 
und eine rabbinische, unter denen keine einzige wichtige sich befand *. 


1 Vgl. auch »Kuss. Revue» 1875, Bd. VI, p. 417 ff.: «Das russische Unterrichts¬ 
wesen in neuester Zeit von Dr. Strack •. 

* Catalogue des manuscrits et xylographes orientaux de la Bibliotheque Imperiale 
publique de St P&ersbourg (vom Akademiker B. Dorn) 1852. Die hebräischen Manu¬ 
scripte umfassen in diesem Katalog die NN. DCUI—DCVIII, p. 54 *— 54 $- Die 4 
biblischen bestehen aus einer ganzen Pentateuchrolle, einem Fragmente aus einer ande¬ 
ren, einer das Buch Esther enthaltenden Rolle, und einem kleinen Pergamentblättchen, 
welches die Juden fin die Thüre anschlagen (Mesusa). Von diesen Handschriften hat 
nur die erste, die wahrscheinlich am Ende des vorigen Jahrhunderts in Russland ge¬ 
schrieben, und welche Generalmajor N. F. Chitrow 1813 der Bibliothek geschenkt hat, 
wegen ihres ungewöhnlichen Formats einige Bedeutung: die Kolumnenhöhe dieser 



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Zehn Jahre darauf, im Jahre 1862, erscheint diese Bibliothek hinsicht¬ 
lich biblischer Handschriften als die grösste und bedeutenste in Eu¬ 
ropa, und nimmt zugleich eine der ersten Stellen ein unter den öffent¬ 
lichen Sammlungen hebräischer Handschriften überhaupt. Von sa- 
maritanischen Handschriften war in St. Petersburg beim Erscheinen 
des erwähnten Katalogs keine einzige vorhanden; seit dem Jahre 
1870 ist in dieser Beziehung die Kaiserl. Oeffentl. Bibliothek die 
reichste in Europa, wie bereits früher in einer kurzen Uebersicht in 
dieser Zeitschrift (Band IV, S. 74—80) dargethan worden ist Diese 
Veränderung zum Besseren hat man einzig und allein dem unermüd¬ 
lichen Sammelfleisse des im vorigen Jahre verstorbenen Karäers 
Abraham Firkowitsch zu verdanken, über dessen Thätigkeit wir 
nächstens in der €Russischen Revue » ausführlicher zu sprechen ge¬ 
denken. Vorläufig nur soviel, dass im Jahre 1839 die krim'schen Ka- 
räer dem Firkowitsch den Auftrag gaben, nach karäischen Alterthü- 
mem zu suchen, zu welchem Zwecke er mehrmals die Krim bereiste, 
auch Derbend und dessen Umgegend besuchte, überall an diesen 
Orten die karäischen und rabbinischen Genisoth (Dachstuben und 
Keller der Synagogen) durchstöberte, und alle alten Manuscripte 
und Fragmente mitnahm. Die Frucht seines mehljährigen Sammelns 
und Nachforschens sind auch die in dem jetzt erschienenen Katalog 
beschriebenen Bibelhandschriften, an welche sich ein mehrfaches 
wissenschaftliches Interesse knüpft: Erstens, wegen des hohen Alters 
mancher dieser Handschriften; Zweitens, wegen des eigenthümlichen 
Punktations- und Accentationssystems, das man in einigen dieser 
Manuscripte entdeckte 1 ; Drittens, bietet die Massora (Textkritische 
Noten zur Bibel) mancher der von Firkowitsch gefundenen Codices 
viel Neues und Belehrendes; Viertens, ist schon der Abstammungs¬ 
ort für manche dieser Handschriften von Bedeutung, — sie sind näm¬ 
lich in der Krim geschrieben, was für eine russische Bibliothek von 
besonderem Werthe ist u. s. w. 

Zu diesen wirklich werthvollen Eigenschaften des biblischen Thei- 
les der Firkowitsch’schen Kollektion kamen aber viele fingirte hinzu, 
und, wie nicht selten bei solchen Gegelegenheiten, machten Letztere 
am Meisten von sich reden. Man begnügte sich flir die Handschrif¬ 
ten nicht mit einem Alter, das ins zehnte christliche Jahrhundert 
hinaufreicht; man wollte sie, auf Grund unechter Beischriften (Epi¬ 
graphe), in die ersten Jahrhunderte des Christenthums und sogar in 
die vorchristliche Zeit hinaufschrauben; man meinte in verschiede¬ 
nen Pentateuchrollen und Bibelcodices historische Nachrichten über 
die zehn Stämme Israel's (die assyrischen Exulanten), über die Scy- 
then, über die älteste Geschichte der Krim, über die biblische Chro¬ 
nologie, und Gott weis was noch zu finden. Als die Verfasser des 
Katalogs von der Regierung den Auftrag zu seiner Herausgabe be- 

Rolle beträgt 5*/4 Cm. und die Kolumnenbreite 4 Cm., somit ist sie, dem Formate 
nach, die kleinste biblische Handschrift der Bibliothek. 

4 VergL «Russ. Revue» Bd. VII S. 369—371 die Anzeige des von Hm. Dr. Strack 
herausgegebenen Codex Babylonicus . 


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4 66 


kamen, hielten sie es daher für eine gebotene Pflicht, das wirklich 
Werthvolle und wissenschaftlich Bedeutende in den Handschriften 
hervorzuheben, aber zugleich auch alles Illusorische, alles Apokry- 
phische, das man denselben Manuscripten aneignen wollte, zu zer¬ 
stören und für die Wissenschaft unschädlich zu machen. Als einem 
der Verfasser kommt es dem Unterzeichneten natürlich nicht zu, dar¬ 
über zu urtheilen, in wiefern diese doppelte Aufgabe in dem vorlie¬ 
genden Kataloge gelöst ist; es mögen daher einige Hauptdata aus 
dem Kataloge und der Einleitung zu demselben folgen. 

Der biblische Theil der Firkowitsch’schen Kollektion besteht aus 
zwei Hauptabtheilungen: die von dem Eigenthümer direkt nach St. 
Petersburg gebrachten und die zuerst in Odessa bei der dortigen 
Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer deponirten Handschrif¬ 
ten. Erstere im Katalpg — leider nicht durchgängig — mit F be¬ 
zeichnet, zerfallen wiederum in Pentateuchrollen (47), bloss den 
hebräischen Text enthaltende Codices (76), und solche, die entwe¬ 
der den hebräischen Text mit Uebersetzung, oder eine Uebersetzung 
allein enthalten (24). Im zweiten Theile kommen sub lit. ^4 35 Pen¬ 
tateuchrollen und sub lit. B 20 Codices. Im Ganzen also 202 Hand¬ 
schriften, 82 Rollen und 120 Codices K 

Die Rollen mit echten Epigraphen stammen aus der Krim und ge¬ 
hören zumeist dem XIV. Jahrhundert n. Chr. an. Interessant ist zu 
erfahren, dass in Solchat oder Eski-Krim (Alt-Krim), der Residenz¬ 
stadt des damaligen krim’schen Chanats, eine jüdische Gemeinde 
sich «die Chasarische» zu nennen pflegt, ob nach dem alten, längst 
verschwundenen Chasarenreiche in der Krim, oder nach den genue¬ 
sischen Kolonien, der italienischen Gazaria , ist unbekannt; doch 
spricht mancher partiarchalische Sittenzug eher zu Gunsten der 
ersten Annnhme. So heisst es in einer Beischrift am Schluss einer 
Pentateuchrolle (A 2, Katalog p. 184): c Ausserdem (dem Buche der 
Thora) weihte diese Gemeinde, die Gemeinde der Chasaren, einen 
grossen Kessel, damit man darin koche an Hochzeiten, Beschnei¬ 
dungsfesten und Feiertagen. Heilig ist er dem Gotte Israels. Nicht 
werde er verkauft und nicht gekauft. Gesegnet sei, wer ihn behütet, 
verflucht, wer ihn stiehlt oder verkauft, verflucht wer ihn kauft! In 
diesen Segnungen seien eingeschlossen alle Israeliten, welche das 
Buch der Thora und diesen Kessel geweiht haben. Sie mögen 
eingeschrieben werden in das Buch des Lebens u. s. w.». Schwerlich 
kam so was bei europäischen Juden vor. Uebrigens zeigt schon die 
innere Einrichtung jener Rollen, dass sie von orientalischen Juden, 
rabbinischen oder karäischen, geschrieben waren, worauf auch der 
Schriftcharakter und die Existenz von Epigraphen in den Rollen 
hinweisen. 

Noch wichtiger sind die in Buchform geschriebenen Bibelhand¬ 
schriften. Was ihr Alter anbetrifft, so erfahren wir aus eigenhän¬ 
digen Epigraphen der Schreiber der Codices (Autoepigraphe), dass 

* Von dieser Zahl sind jedoch 3 Stück abzuziehen (Rolle A4, Codd. F 108, 137), 
welche der Bibliothek entwendet wurden. 




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467 


letztere in den Jahren 916, 1009, 1132, (1140?) 1419 n. Chr. ge¬ 
schrieben sind. Andere Epigraphe aus den Jahren 956, 1134, 1321, 
1329» 1332, 1 337» I 3S°» I35i> 1363» 1376, 1378, 1380, 1388 u. s. w. 
berichten, dass in diesen Jahren die betreffenden Codices verkauft, 
geschenkt, geweiht u. dgl. wurden. Für Bücherpreise in der Krim 
im XIV. Jahrhundert bieten manche Epigraphe interessante Data, 
so erfahren wirz. B., dass im Jahre 1376 für eine Pergamentbibel in 
Solchat 750 Silberlinge «krims’chen Gepräges \ reines Silber, ohne 
Beimischung» gezahlt wurde (B6); im Jahre 1321 wurde ein Prophe¬ 
tencodex für 450 krim’sche Silberlinge verkauft (B 12), welcher acht 
Jahre später für 280, und noch 50 Jahre später für 120 Silberlinge 
gekauft wurde, wahrscheinlich, weil indessen europäische, besonders 
italienische und griechische, Schreiber den einheimischen stark Kon¬ 
kurrenz machten und die Preise herabsetzten. Für Massora sind die 
Codices F54. 80. 83. 88. 107. 123. B3. 19a wichtig. Die babyloni¬ 
sche Punktation haben die Codd. B3. F132. 133. 139. In mehreren 
Handschriften mit der gewöhnlichen Punktation weicht die Aus¬ 
sprache der Vokale von der allgemein üblichen ab 2 . Interessante“ 
Lesarten bieten auch nicht wenige Handschriften. Die von mir ge¬ 
meinsam mit Hm. Dr. Strack gemachten Kollationen sind im Kata¬ 
log gegeben (nur die Kollation des Propheten Joel musste wegen 
Mangels an Raum wegbleiben). Vieles im Codex B 19a hat Hr. Dr. 
Strack noch ausserdem für die Editionen von Baer und Delitzsch 
verglichen. Es versteht sich von selbst, dass die Regeln, nach denen 
die Pentateuchrollen geschrieben sind, von uns genau untersucht 
und im Katalog angegeben sind, was bisher in hebräischen Katalo¬ 
gen nicht beachtet wurde. 

Bei der Besprechung der Echtheit vieler Beischriften, in denen 
die Rede ist: von Städten, welche unserer Ueberzeugung nach 
zu jener Zeit gar nicht existirten, oder noch nicht die gege¬ 
bene Namensform trugen, oder noch keine jüdischen Gemeinden 
hatten (wie z. B. Solchat, Tschufut-Kale, Herat, Schirvan, 
Schitim, Kafa u. s. w.), ferner von dem Chasarenbekehrer 
Sangari , von chasarisch-tatarischen Fürsten, von krim'schen Go¬ 
then 8 , von jerusalemischen Missionären u. dgl., wo Ausdrücke und 

4 Bekanntlich prägten die krim'schen Chane seit den achtziger Jahren des XIII. Jahr¬ 
hunderts ihr eigenes Geld. 

* Ueber eine ähnliche Erscheinung in den in Tschufut-Kale befindlichen Manuscrip- 
ten vgl. meinen Bericht an den Hrn. Minister der Volksaufklärung über jene Kollektion 
(XCypH. Muh. HapoA. IIpocB. März 1875, p- 31). 

3 Das betreffende Epigraph über die Gothen befindet sich in der Pentateuchrolle Fs 
und lautet: «Da sprach Josua: Gepriesen sei Gott, der denjenigen hilft (von Wider¬ 
sachern), die auf seine Rechte trauen. Geschrieben werde auch diese Rettung im Buche 
der Thora Gottes zum Andenken fUr ein späteres Geschlecht, dass der Herr in unsem 
Tagen eine denkwürdige Wunderthat gethan hat. Wer kann aussprechen Alles, was uns 
begegnete, seitdem wir, vor jetzt 1500 Jahren, in die Verbannung geriethen? Wir ka¬ 
men in die Hände der Feueranbeter, wir kamen in die Hände der Wasseranbeter, und 
sie beraubten uns, verzehrten uns, vergossen unser Blut, führten hinweg unsere heiligen 
Bücher und spotteten über sie. Und dieser letzte unserer Feinde, der Fürst Gatham 
(die Gothen) mit seinem Heerlager — ein nicht zahlreiches Volk und ihr Name war 


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4 » 


Redewendungen der späteren rabbinischen* und karäischen Juden Vor¬ 
kommen, oder wo das specifisch Karäische tendentiös und mit 
besonderer Emphase betont wird — in allen solchen Fällen, welche 
weitläufige Nachweisungen aus der Geschichte und Geographie, wie 
aus der rabbinischen und karäischen Literatur verlangen, musste im 
Katalog, um nicht die vorgestreckte Grenze zu überschreiten, 
äusserst gedrängt gesprochen werden. Sollte diese Kürze manche 
Zweifel an die Beweiskraft der dort angeführten Gründe noch zurück- 
lassen, so hofft der Unterzeichnete, dass die von ihm schon im vo¬ 
rigen Winter abgefasste und nächstens zu veröffentlichende Schrift— 
in welcher dieselben Gegenstände ausführlich und von allen Seiten 
untersucht werden 1 — das in dieser Beziehung im Katalog Ver¬ 
säumte nachholen wird. Zugleich werden im Anhang zu jener 
Schrift auch manche interessante Schriftstücke im Original mitge- 
theilt werden, welche die im Katalog abgedruckten Epigraphe viel¬ 
fach erläutern und illustriren. 

Was die babylonische Punktation betrifft, so bereitet mein ge¬ 
lehrter Freund Hr. Dr. Strack eine sehr ausführliche, den Gegen¬ 
stand erschöpfende Einleitung zu seiner Ausgabe des Codex Baby- 
lonicus Petropolitanus, welche nächstens erscheint, vor. 

Ich hätte wohl über den Inhalt der Katalogs noch Einiges sagen 
mögen, aber ich fürchte schon jetzt die Grenzen einer Selbstanzeige 
überschritten zu haben 2 . Der zweite Band dieses Katalogs, die Be¬ 
schreibung der samaritanischen Pentateuchhandschriften (in russi¬ 
scher Sprache) enthaltend, wird binnen kurzer Frist veröffentlicht. 
_ A. Harkavy. 

Tetraxen (Tetraxiten), erschwerten noch unsere Verbannung. Sie sprachen in ihrem 
Uebermuth: Wohlan! lasset uns sie (die Juden) ausrotten aus den Völkern! Aber der 
Herr war mit uns, und sandte uns Retter von den Söhnen Kedars (der Chasaren), und 
den Fürsten Mibsam an ihrer Spitze. Die retteten uns dies heilige Buch aus ihrer Hand 
(der Gothen) und eroberten ihre Feste Dory (jetzt Mangup) in diesem Jahre, d. i. im 
Jahre 1501 unserer Verbannung (aus Samarien), 4565 nach der Schöpfung der Welt 
(= 805 n. Chr.), im Jahre der Rettung. Gepriesen sei der Herr! Er sende eilig unse¬ 
ren Propheten Elias, bald in unseren Tagen! Amen!» Hr. Chwolson hält dies Schrift¬ 
stück fUr echt und gründet darauf chronologische Berechnungen (Achtzehn hebräische 
Grabschriften aus der Krim, p. 71). Dagegen konnte sich Hr. Akademiker Kunik, 
dem ich im vorigen Jahre die russische Uebersetzung dieses Epigraphs mittheilte, nicht 
entschlossen, in seiner Abhandlung über die krim’schen Gothen davon Gebrauch zu 
machen. Vgl. noch die von Munx hervorgehobenen Bedenken in den Comptes rendus 
de TAkademie des Inscriptions et Belles-Lettres, I. VIII, Paris 1864, p. 343; Journal 
Asiatique, Mai-Juin 1865, p. 547; Tpy/tu nepaaro Apxeojioranecxaro CvfcaAa, Mocna 
1871, p.CXL; Bypawon», O utcTonoAoaceHÜi ApeBHaro ropo/ia KapuHirreea, Oaecca 

1874, P. VL 

1 Dies Werk ist betitelt: «Die von A. Firkowitsch in der Krim aufgefundenen alt¬ 
jüdischen Denkmäler» und behandelt im ersten Theile die Epigraphe und im zweiten 
die Grabinschriften. 

* Nur zwei Einzelbemerkungen mögen hier Platz finden: die p. XIII der Einleitung 
von Tischendorf erwähnten samaritanischen Pentateuche sind im samaritanischen Kata¬ 
log p. 67—80 unter Nr. 14, 15 der zweiten Abtheilung beschrieben; die Auflösung der 
Abbreviatur auf p. 295 (im Nachtrag zu p. 108) ist mir jetzt wahrscheinlicher uncim 
temiroth Israel (der biblische Sänger Israels, d. h. König David) zu sein, nach Q, Sa- 
muelis 23, I. 



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Rente Rassischer Zeitschriften 


Der «europäische Bote» (B-fecTHtncb Eßponu — Westnik Jewropy). 

X. Jahrgang. 1875. Oktober. Inhalt: 

Germime Lacerteux. Roman von E. undj. de Goncourt. Von A . E . — Turkestan 
und die Turkestaner. II. Von M. 7 erentjew. — Pierre Josef Proudhon. Correspon- 
dance de P. J. Proudhon. Vierter Artikel. Von D—jew. — «Der Drache». Poetische 
Erzählung aus dem zwölften Jahrhundert. Vom Grafen A. N. Tolstoi . — Die Bevölke¬ 
rung St Petersburgs in ökonomischer und socialer Hinsicht. Von J. E . Jamon . — 
Die vergleichende Geschichte der russischen Literatur. Von A. Pypin . — Die Reise 
nach den renovirten kaukasischen Bädern. Reisebemerkungen. Von Iwanow . — Abriss 
des Chanats Chokand. Von N. D. Petrowskij . — Pädagogische Fragen. «Wo nistete 
sich unser Uebel ein*? Von W. J. Stajunin . — Chronik: Die Kirchengeschichte als 
Lehrgegenstand der Universität Von A. S . Lebedew . — Rundschau im Inlande. — 
Die einhunderterste Antwort auf die Frage: «Was ist die Polizei? Das Polizeirecht 
als selbstständiger Zweig der Rechtswissenschaft M. Spielewsky. Von J. K—n .— 
Korrespondenz aus Berlin. — Pariser Briefe. Die englische Uebersetzung des Lerroon- 
tow'schen «Dämon». Von A . N. — Nachrichten. Bibliographische Blätter. 

«Das alte Russland» (Russkaja Starina — PyccKaa GrapHHa). — 

Herausgegeben und redigirt von M. J. SsemnuskiJ. Sechster Jahrgang. Heft X. 
Oktober 1875. Inhalt: 

Der Hetmann «Kalniscbewsky. 1691—1803. Von P. S. Jeftmenko . — Das St Pe¬ 
tersburger Erziehungshaus unter der Verwaltung J. J. Betzky’s. Von A. H. Pjat - 
kowsky. — Die Kaiserin Katharina II. Ihre eigenhändig geschriebenen Befehle, Briefe 
und Notizen 1770—179*. — Die russische Censur während der Regierung des Kaisers 
Paul. 1797—1799. Von G. K. Repinsky . — W. N. Karasin. Gründer der Charkower 
Universität. Schluss. — M. L. Magnitzky. Ein neuer Beitrag zu seiner Charakteris¬ 
tik 1829—1834. Von T—w. — Alexander Nikolajewitsch Serow. Materialien zu seiner 
Biographie. Von IV, IV. Stassow. — M. I. Glinka und A. S. Dargomyschky. Von 
P. A. Stepanow, — Mein mühevolles Leben. Erzählungen des Akademikers Z. A.Sser- 
jaJkow, Schluss. — Karl Andrqewitsch Schilder auf der Donau im Jahre 1854. Von 
N. K. Schilder, — Auf der Weichsel und der Donau, in Odessa und Sewastopel. 
1853-1855. Bemerkungen eines Artilleristen. — Der Sturm auf den Malakow am 27. 
und 28. August 1855. Von O, J. Konstantinow. — Blätter aus dem Notizbuche der 
»Russkaja Starina». — Die fUnfundvierzigjährige artistische ThätigkeitO. A.Petrow*s. — 
Bibliographische Mittheilungen über russische Bücher (auf dem Umschläge). 

«Russisches Archiv» (Russkij Archiw — Pyccxift ApxHBi».) — 

herausgegeben von Peter Bartenjcw. XIII. Jahrgang. 1875. I0< Heft. Inhalt: 

Moskau im Jahre 1812. Nach neuentdeckten Papieren. Von A. A, Popow, — Le¬ 
bensbeschreibung des Fürsten A. D. Menschikow. Nach neuentdeckten Papieren. (Die 
Einnahme Wyborgs. 1709 -1710.) Von H, IV. Jessipow. — Die erste Ausbildung 
Peter’s des Grossen. Von N. P. Astrow. — Erinnerungen Karoline Pawlow’s. — Meine 
Bekanntschaft mit Magnitzky. Erinnerung von P. T. Morosow. — Anlässlich des 
Testamentes der AnnaMons: Die Bittschrift v. Müller’s. Mit einem Vorwort von 
H. N. Alexandrow. — Drei Schreiben der Kaiserin Katharina II. an den Fürsten Po- 
temkin. AlterthÜmliche Scherze: Eine Bittschrift an die Himmelskanzlei. 

Journal für Civil- und Criminal-Recht (Journal grashdanskawo i ugo- 
lownawo Prawa — ÄypHajrb rpaacAaHcxaro h yro^OBHaro npaßa). 
V. Jahrgang. 1875. Heft 4. September-Oktober. Inhalt: 

Gesetze und Verordnungen der Regierung. — Das Volksgericht und das Völkerrecht. 
(Anlässlich der Frage über die Reorganisation des Bezirksgerichts.) Von J. Or- 
schansky. — Welcher Gerichtsbarkeit unterliegen die in $ 994 Theil II des Strafge* 


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4/0 


setzbuches vorgesehenen Fälle. Von A. von Raison, — Die Gerichtsreform im König¬ 
reich Polen. Von P . Jurenjew. — Ueber die russische Advokatur. «Die Sophisten 
des XIX. Jahrhunderts», von Eugen Markow, und «Bemerkungen über die russische 
Advokatur», von K. K. Arssenjew. Von S. Platonow . — Die Kassationspraxis in 
Civilprozessfragen für das Jahr 1872. Von J. Orschansky . — Bibliographie. 

»Militär-Archiv» (Wojennij Ssbomik. —BoeHHWft C6opHH«>.) — 

Achtzehnter Jahrgang. 1875. Nr. 10. Oktober. Inhalt: 

Drei Jahre aus der Kriegsgeschichte und der russischen Herrschaft im Kaukasus. 
(1806, 1807 und 1808). Dritter Artikel. Von N. Dubrowin . — Die gegenwärtige 
Ausbildung und Erziehung der Truppen. Erster Artikel. Von W, Potto . — Ueber den 
Rekognoscirungsdienst der Kavallerie. Von L. Drake . — Die Schlacht bei Gravelotte- 
St Privat am 18. August 1870. Erster Artikel. — Die Verpflegung der Truppen in 
Kriegs- und Friedenszeiten bei der russischen und ausländischen Armee. Schluss. Von 
M. Hasenkampf, — Die Kirgisenpferde und ihre Tauglichkeit für die Kavallerie und 
Artillerie. Von A . Harder, — Erinnerungen eines Kaukasiers. Erster Artikel. Von 
S, Smolensky, — Bibliographie. — Militärische Umschau in Russland. — Militäri¬ 
sche Umschau im Auslande. 


Russische Bibliographie. • 


Wychowsky, W. Sammlung von Briefen des Hrn. Kremier über 
die Judenfrage. St. Petersburg 8°. 35 S. (BuxobchM, Bü. Pa3Öopb 
nncbua r. KpeMbe no eGpeflocouy Bonpocy. Cn 6 . 8 ä. 35 CTp.). 

Die Judenfrage vom allgemeinen menschlichen Standpunkte be¬ 
trachtet. Odessa. 8®. II -f 50 S. (EßpeflcKilt Bonpoci» ci» oöme’iejio- 
B^VeCKOlt TO«IKH Sp^HÜl. 8 4. II -f- 50 CTp.). 

Islavine, W. Apercu sur l’etat de l’industrie de la houille et du fer 
dans le bassin du Donnetz. Cn6. 8 J\. 118 CTp, h i icapTa. 

Tolstoi, J. Die ersten 40 Jahre der Verbindung Russlands mit 
England (1553—1593. St. Petersburg. 8°. 50 S. (TOJKTOH, lOpil. 
063opi nepBbtxb copoxa irfen cnomeHift itexcjiy Poccie» h Ah- 
rjiieio (1553 — 1593 )- Cn6. 8 a. 50 CTp). 

Baranow, P. Verzeichniss Allerhöchster Verordnungen und Be¬ 
fehle aus dem 18. Jahrhundert, die im Archiv des St. Petersburger Se¬ 
nats aufbewahrt werden. II. Band. 1725—1740. St.Petersb.4 # . XIV +- 
1002 S. und 3 Portraits. (EapanOBb, n, Onncb Bbico'taftmuMb yxa- 
3aMi> h noBejrhBixu'b, xpaHJtmHMCH bt> c.-neTepöyprcKOMT, ceHaTC- 

komt, apxHB'fe, 3 a XVIII B"feKT>. T. II. 172 5— 1740. Cn6. 4 A. XIV -J- 
1002 CTp. H 3 nopTp.). 

Gerichtsverordnungen. Zehnte, durch Erklärungen vermehrte Aus¬ 
gabe. St. Petersb. 8°. 96 + 412 + 373 + 88 -f 574 S. (Cy.ae6m.te 
ycTaBU. Ct> pa3b«cH. Hsa. 10-e, aon. Cn6. 8 a. 96 -f- 412 + 373 + 
88 -t- 574 CTp. 

Die Herzegowina, in historischer, geographischer und oekonomi- 
scher Beziehung. St. Petersb. 8°. 60 S. mit einer Karte. (Tepuero- 

V 


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47 1 


BHHa, Bb HCTOpH^eCKOMt, reOrpa<t>HTCCKOMb H BKOHOMH'ieCKOMb ot- 
HOmeniaxb. Cn6. 8 ä. 6o crp. h i KapTa. 

Semenow, P.P. u. Andrejewsky, J.E. Statistische Nachrichten über die 
Gesellschaft der allgemeinen Fürsorge zu St. Petersburg. St.Petersb. 
I. Theil 4° XV + 182 S. (CeaeHOBb, fl. fl. h ÄHApeeBCHifl, M. E. GraTH- 
cTHHecKia cB'fcA'feHi h no oömecTBeHHOMy npH3p f feHiK)C.-IIeTep6ypra. 
H. 1. 4 a. XV -f- 182 CTp.). 

Rechenschaftsbericht der Centralcommission für die allgemeine 
Abschätzung des unbeweglichen Eigenthums inSt.Petersb. für das Jahr 
1874. St.Petersb. in Folio. XVI + 201 S. (OraeTb ijeirrpajibHoft 
KOMMHcin no oömefl nepeou'feHK'b HeaBuxcHMbixb HMymecTBb Bb 
C.-IIeTepöyprt, 1874. Cn6. 2 *. XVI 4- 201 CTp.). 

Abriss der ökonomischen Lage der Bauern in den Gouvernements 
des Königreichs Polen im Jahre 1873. Radom. 2 4 -34 S. mit 100 
Karten. (O^epice sKOHOMnqecKaro nojioHceHia KpecrbÄHb Bb ryöep- 
KiHXb IJapcTBa ÜOAbCKaro Bb 1873 r. 2 4 * 34 crp. TexcTa h ioo ji . 
xapTb. 

WeasSly, Th. Materialien zur Geschichte der russischen Flotte. V* 
Band. St. Petersb. IV + 884 S. (BeceJiaro, 0. MaTepiajiH aah HCTOpia 
pyccaaro «t>AOTa. H. V. Cn6. IV -f 884 CTp.). 

Ssuchomlinow, M. J. Geschichte der russischen Akademie. 2. Liefe¬ 
rung. St. Petersb. 8°. 584 S. (CyxOMMHOBl, M. H. Hcropia poccificaofl 
aKaAeMtfl. Bun. II. Cn6. 8 a. 584 CTp.). 

Asarewttscb, D. Die Patrizier und Plebejer in Rom. Histor. jurid. 
Untersuchung. II. Band. St. Petersb. 8°. 175 + 21 S. (AaapeMPTfc, A M * 
IlaTpHujH 0 mieSen BtPHM'fc. HcTopnico-iopHA. H3CA*EAOBaHie. T. II. 
Cn6. 8 a. 175 + 21 CTp.). 

Ljubimow, N. Die Universitätsfrage. Moskau. 8°. 180 + 103 -f- 16S. 
(Antimoffb, H. V HHBepcHTeTCKifi Bonpoct. MocKBa. 8 a. 1804-103 

+ 16 CTp.). 

Kassowsky, A. W, Der Gang der meteorologischen Elemente in 
Kiew. 8°. 64 S. mit 2 Karten. (KaccOBCdiB, A. B. Xoat> MeTeopoAO- 
rHHeCKHXt SAeMeHTOBT» BT> KieB'fe. 8 A. 64 CTp, 0 2 A. TabA.). 

Wenjukow, M. Kurzer Abriss der englischen Besitzungen in Asien. 
St. Petersb. 8°. 24- 174 S. mit 1 Karte. (BeHiOKOBV M. KpaTicift owpKb 
aHrJiiftcKHXb BJiaA'hHift Bb A 3 in. Cn 6 . 8 4. 2 4- 174 CTp. h i KapT. 

Die Fabrikstatistik der Stadt Odessa. 4 0 . 52 S. (OaöpHTOaa CTaTH- 
CTHKa ropoAa OAeccw. 4 ä. 52 CTp.). 

Pogosski, A. Der vaterländische Krieg von 1812. St. Petersb. 8°. 
86 S. (norocüiff, A. Oxe^ecTBeHHa« BOflHa 1812 r. 8 ä. 86 crp.). 


Berlehtlfuii f. 

Auf Seite 298, Zeile 13 von unten, muss es heissen: zu energischer Kriegführung — 
statt zu europäischer Kriegführung. 


Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Carl Röttger. 
üoaaoJieHo ueHsypoio. C.-rieTep6ypro», 15-ro Hoa6p* 1875 r °Ä a . 




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Im Verlage der Kaiserlichen Hofbnchhandlnng H. Schmitsdorfl 

(Carl Röttger), Newsky-Prospekt As 5, sind erschienen and sowohl 

von ihr direkt, als auch durch alle Buchhandlungen zu beziehen: 

REDEN 

GEHALTEN 

IN WISSENSCHAFTUCHEN VERSAMMLUNGEN 

UND 

KLEINERE AUFSÄTZE VERMISCHTEN INHALTS 

von 

Dr. Karl Ernst v< Baer, 

Ehrenmitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St ffcjpidbuig. 

Erster Band: Beden. Mit dem Bildniss des Verfassers in Stahlsich. 
1 Rbl. 80 Kop. (1 Thlr. 15 Sgr.) 

Zweiter Band. I. Hälfte. Unter dem Titel: Studien atL8 dem Ge¬ 
biete der Naturwissenschaften. Inhalt: I. Ueber den Ein¬ 
fluss der äussern Natur auf die socialen Verhältnisse der einzelnen 
Völker und die Geschichte der Menschen überhaupt II. Ueber den 
Zweck in den Vorgängen der Natur. Erste Hälfte. Ueber Zweckmässig¬ 
keit und Zielstrebigkeit überhaupt. III. Ueber Flüsse und deren Wir¬ 
kungen. 1 Rbl. 80 Kop. (1 Thlr. 10 Sgr.) 

Dritter Band. Unter dem Titel: Historisohe Fragen mit Hülfe 
der Naturwissenschaften beantwortet. Inhalt: Was ist 
von den Nachrichten der Griechen über den Schwanengesaug za hal¬ 
ten? II. Wo ist der Schauplatz der Fahrten des Odysseus za finden? 
III. Handelsweg, der im 5 . Jahrhundert v. Ohr. durch einen grossen 
Theil des jetzt rassischen Gebietes ging. IV. Wo ist das Salomonische 
Ophir zu suchen. 8 Rbl. 75 Kop. (8 Thlr.) 

PF" Dm zweiten Bandes zweite Hälfte befindet sieb Im 

Druck und wird ver Uelhnaehten eraelielneii. 


RUSSISCHE 

WECHSELORDNUNG 

NACH DER AUSGABE DES SSWOD SAKONOW 

VOM JAHRE 1867 

NEBST DEREN ERGÄNZUNGEN. 

Preis 25 Kop. (7 1 /* Sgr.) 


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Das physikalische Central-Obserratoriiim 
in St. Petersburg 

und die neuere Entwiokelung der Meteorologie in Rueeltnd. 

Von 

H. Wild. 

Das physikalische Central-Observatorium ist im Jahre 1849 *uf 
Betrieb des Akademikers Kupfer, Dank der wirksamen Unter¬ 
stützung des ebenso einsichtsvollen als thatkräftigen Finanzministers 
Grafen Cancrin , und des für die Wissenschaft stets opferbereiten 
Chef des Bergkorps, Generals Tschewkm , begründet worden. Nach 
den Statuten war der Zweck des neueiv Instituts: • physikalische Beob¬ 
achtungen und Versucht im Grossen amustellen und Russland in 
physikalischer Hinsicht su erforschen », und als Theil der letzten Auf¬ 
gabe wurde ihm auch die Leitung und Publikation der meteorologi¬ 
schen und magTtetischen Beobachtungen in Russland übertragen. So 
sollte also das physikalische Central-Observatorium, seiner ursprüng¬ 
lichen Bestimmung gemäss, nicht bloss eine Centralanstalt des 
russischen Reiches für Meteorologie und Erdmagnetismus sein, wie 
sie auch in anderen Ländern bestehen, und wie man häufig auch von 
ihm geglaubt hat, sondern, wie dies übrigens schon sein Name be¬ 
sagt, zugleich ein Haupt-Observatorium für physikalische Unter¬ 
suchungen im engeren Sinne des Wortes, besonders solcher in grossem 
Massstabe, für welche gewöhnliche physikalische Kabinete nicht genü¬ 
gende Mittel darbieten. Dieser grosse und schöne Gedanke war eines 
so universellen erfinderischen Geistes, wie KupffeVs, durchaus würdig; 
auch hat dieser Gelehrte als erster Direktor der neuen Anstalt stets 
diese zweierlei Hauptaufgaben derselben gepflegt, und in seinen 
jährlichen Rechenschaftsberichten an den Finanzminister, unter 
welchen das Observatorium als Chef des Korps der Bergingenieure 
zuerst gestellt war, immer zwei Theile unterschieden, von welchen 
der entere die physikalischen Untersuchungen im Central-Obser¬ 
vatorium und der zweite die meteorologischen und magnetischen 

tat Jtera*. M. VU ,. 


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474 


Beobachtungen betraf, welche im meteorologisch-magnetischen Ob¬ 
servatorium für St. Petersburg beim Berginstitute, und in den übrigen 
meteorologisch-magnetischen Observatorien und meteorologischen 
Stationen des Reiches angestellt wurden. Den ersteren Leistungen des 
Observatoriums unter Kupffer’s Direktion verdankt die Wissenschaft 
in grossartigem Massstabe angelegte, höchst werthvolle Unter¬ 
suchungen über die EfatUdtät der Metalle, welche Kupfer mit der 
Begründung des Observatoriums begann, und bis zu seinem Tode 
im Jahre 1865 fortsetzte. Leider verhinderte ihn dieser nicht bloss 
ad dem Vollständigen Abschluss der Untersuchungen, sondern 
sogar an der Publikation eines Theils seiner bereits ausgeführten 
Versuche und der dabei erzielten Resultate, indem von den 3 Bänden» 
in welchen er die Letzteren zu veröffentlichen gedachte, bis zu seinem 
Tode nur einer unter dem Titel: «Recherches experimentales sur 
reiasticite des mötaux, faites ä l'observatoire physique central de 
Russie par A. Th. Kupffer et imprimees par ordre de l’Administration 
desMines. Tomei. St. Pötersbourg 1860» erschien. Wir müssen dies 
um so mehr bedauern, weil wohl noch keine Untersuchung über 
die Elastidtät mit einem gleich reichen und mannigfachen Material, 
und nach den verschiedensten Richtungen hin angestellt worden ist, 
und weil aus der Nichtvollendung dieser Arbeit nicht bloss der 
Wissenschaft, sondern auch speciell unserem Lande mit seiner stets 
zunehmenden Metallindustrie ein grosser Verlust erwachsen ist. 

Die Arbeitsresultate aber des Observatoriums als Centralanstalt 
des Reiches für Meteorologie und Erdmagnetismus unter Kupfftr's 
Direktion sind hauptsächlich in den mit dem Beobachtangsjahr 1847 
beginnenden und bis 1864 reichenden «Annales de l’Observatoire phy¬ 
sique central», und den vom Jahre 1850 an sie begleitenden «Cor- 
respondances meteorologiques» niedergelegt Die Ersteren enthalten 
die ausführlichen stündlichen meteorologischen und magnetischen 
Beobachtungen der Observatorien in St. Petersburg, Jekaterinen- 
burg, Barnaul, Nertschinsk, Sitka, Peking, Tiflis (von letzterem nur 
meteorologische Beobachtungen) und in den Supplementen meteoro¬ 
logische Beobachtungsreihen von verschiedenen anderen Punkten 
im Reiche in extenso abgedrnckt, die Letzteren geben in viertel¬ 
jährlicher Zusammenstellung die wesentlichsten täglichen meteorolo¬ 
gischen Mittdwerthe von einer variirenden Zahl Beobachtungs¬ 
stationen in Russland (anfänglich Uber 40, zuletzt nur 20). Das ist 
eine Fülle en detail publicirten, und daher Jedermann leicht zugäng¬ 
lichen meteorologischen und magnetischen Beobachtungsmaterials, 


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475 


wie es kein anderes Land besitzt; für die Wissenschaft ist dasselbe 
von hohem Werthe, würde aber noch viel werthvoller, ja unschätzbar 
sein, wenn es ebenso zuverlässig als umfangreich wäre. Und damit 
kommen wir auf den wunden Fleck der ersten Organisation des 
Observatoriums zu sprechen. 

Auch eineiti Laien auf diesen Gebieten des Wissens muss es un¬ 
mittelbar einleuchten, dass das physikalische Central-Observatorium 
zur befriedigenden Erfüllung dieser beiden Hauptaufgaben nicht 
bloss über reiche Mittel, sondern auch über ein zahlreiches wissen¬ 
schaftliches Personal hätte müssen verfügen können. Das gesammte 
etatmässige Personal des Observatoriums bestand indessen nur aus 
dem Direktor, einem Smotritel (Hausaufseher und Buchführer), zwei 
älteren und drei jüngeren Beobachtern. Diese äusserst gering besolde¬ 
ten Beobachterposten waren stets nur mit Leuten von ganz elemen¬ 
taren Kenntnissen besetzt, und es reducirte sich somit das etatmässige 
wissenschaftliche Personal des Observatoriums faktisch auf den Di¬ 
rektor. Für einen einzelnen, selbst noch so ausgezeichneten Mann 
war aber offenbar die Gesammtaufgabe zu gewaltig. Wie wäre es 
auch in der That, selbst wenn wir nur die Funktionen des Observa¬ 
toriums als Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus 
ins Auge fassen, möglich, dass eine wissenschaftliche Person mit 6 
ganz untergeordneten Hilfsarbeitern in einem Reiche, fünf Mal so 
gross als das gesammte übrige Europa, denjenigen Geschäften und 
Arbeiten mit Erfolg hätte vorstehen können, zu deren entsprechen¬ 
der Bewältigung in Summa ungefähr 20 ähnliche, weit reicher mit 
Mitteln ausgestattete und über ein viel grösseres wissenschaftliches 
Personal verfügende Institute im übrigen Europa kaum ausreichend 
sind. Dass bei einer solchenOrganisation das neue Institut überhaupt 
leistungsfähig wurde, ist jedenfalls nur dem ausserordentlichen Ge¬ 
schicke und der Staunen erregenden Arbeitskraft Kup ff er’s, sowie 
dem Umstande zu verdanken, dass ihm wohl mannigfach Unterstüt¬ 
zung von Seite der Bergoffiziere zu Theil wurde, und es ihm möglich 
war, zeitweise aus ausserordentlichen Mitteln noch besondere wissen¬ 
schaftliche Hilfsarbeiter zu acquiriren. Nun erfordern aber gerade 
die meteorologischen und erdmagnetischen Beobachtungen und Un¬ 
tersuchungen ihrer Natur nach eine kontinuirliche Ueberwachung 
und Verfolgung, welche daher ein flottantes Personal nicht befriedi¬ 
gend auszuführen vermag. So musste sich der Direktor bald vor die 
Alternative gestellt sehen, entweder die eine oder andere Hauptauf¬ 
gabe der Anstalt in den Hintergrund treten zu lassen, und dass er 

3 1 * 


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476 


sich dabei für die ihm persönlich interessantere der physikalischen 
Experimentaluntersuchungen im engeren Sinne des Wortes entschied, 
dürfte ihm kaum verargt werden. Und dies weist auf die zweite Ge¬ 
fahr hin, welche bei ungenügender Ausstattung mit personellen und 
finanziellen Kräften die erste Organisation des Observatoriums in 
sich schliesst. Mit Rücksicht auf die Doppelaufgabe des neuen 
Instituts kann jedenfalls nur ein eigentlicher Physiker zum Direktor 
desselben ernannt werden, und da nun physikalische Untersuchungen 
im engeren Sinne des Wortes, wenn auch noch so gross angelegt, 
stets rascher zu Resultaten fuhren, und damit unmittelbarer eine ge¬ 
wisse Genugthuung gewähren, als meteorologische und erdmagneti 
sehe Studien, welche das Experiment fast ganz ausschliessen, und 
desshalb meistentheils auf eine lange Zeit die Geduld des Forschers 
in Anspruch nehmen, so ist zu erwarten, dass der Physiker, wenn er 
sich in die Unmöglichkeit versetzt sieht, Beidem zu genügen, die 
erstere Arbeit vorziehen wird. Und doch wäre es für die Wissen¬ 
schaft im Allgemeinen erspriesslicher, wenn in einem solchen Falle 
der Meteorologie und dem Erdmagnetismus der Vorzug gegeben 
würde, da ja physikalische Untersuchungen überall gemacht werden 
können, während eben die physikalischen Verhältnisse von Russland 
nur von seiner bezüglichen Centralanstalt mit Erfolg erforscht wer¬ 
den können. So hat denn der schöne Gedanke, die zum Theil trocke¬ 
nen, langwierigen, und daher leicht erschlaffenden Arbeiten der me¬ 
teorologischen Centralanstalt durch die Verbindung, mit physikali¬ 
schen Untersuchungen im engeren Sinne des Wortes zu beleben, 
bei ungenügender Ausstattung des Instituts nach und nach trotz aller 
Anstrengung seines Vorstandes unabweislich dahin geführt, dass zu 
Anfang der sechsziger Jahre das physikalische Central-Observatoriura 
eigentlich nur dem Namen nach noch eine Centralanstalt für die 
physikalische Erforschung Russlands war, und damit auch überhaupt 
der Zustand der meteorologischen und magnetischen Beobachtungen 
im Reiche ein höchst trauriger geworden war. Seit 20 Jahren waren 
weder die meteorologisch-magnetischen Observatorien beim Berg¬ 
wesen, noch die anderen Observatorien und Stationen einer Inspektion 
unterworfen worden,^die eingesandten Beobachtungen wurden, ohne 
irgendwie kontrollirt zu werden, einfach in den Annalen abgedruckt 
mit einer Menge von Druckfehlern, welche nie'.korrigirt wurden; von 
der Beschaffenheit, Aufstellung und den Korrektionen der auf den 
Stationen benutzten Instrumente war so gut als Nichts bekannt; ab¬ 
solute magnetische Messungen, ohne welche auch die Variations- 


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4 77 


Beobachtungen nur einen sehr beschränkten Werth besitzen, wären 
seit Jahren auf den meisten Observatorien und vor Allem im Central- 
Observatorium fast gar nicht mehr gemacht worden; die Zahl der me¬ 
teorologischen Stationen war von 40 bis 50 allmählich auf deren 20 
heruntergesunken, obschon Freunde der Meteorologie einzeln und 
durch Gesellschaften sich wiederholt um Neubegründung solcher 
verwendet hatten. Unter solchen Umständen kann man es doch 
wohl nicht als Uebertreibung bezeichnen, wenn man zu Anfang der 
sechsziger Jahre immer dringender eine Reorganisation des meteo-, 
rologischen Beobachtungssystems verlangte, welche dann auch im 
Jahre 1864 in Verbindung mit dem physikalischen CentrabObserva- 
torium von den Ministerien des Unterrichts und der Marine ins 
Werk gesetzt wurde. 

Durch Begründung von ungefähr 40 neuen Stationen sollte zu¬ 
nächst im europäischen Russland das meteorologische Beobachtungs¬ 
netz vervollständigt, und damit zugleich ein System telegraphischer 
Witterungsberichte eingerichtet werden. Leider wurde die Ausfüh¬ 
rung dieser Massregeln und der zugleich beabsichtigten Reorgani¬ 
sation des Central-Observatoriums durch das plötzliche Hinscheiden 
Kupffer’s im Mai 1865 suspendirt. 

Im gleichen Jahre fand dann auch die Ueberführung des physi¬ 
kalischen Central-Observatoriums vom Bergwesen des Finanzminis¬ 
teriums zur Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 
und damit zum Unterrichtsministerium Statt. Dass darauf die Aka¬ 
demie der Wissenschaften als Direktor desselben einen der ersten 
lebenden Meteorologen, Professor Kämtz aus Dorpat, berief be¬ 
weist, wie sehr auch diese Körperschaft vor Allem auf die Entwicke¬ 
lung der Thätigkeit des Instituts als meteorologisch-magnetische 
Centralanstalt Gewicht legte. Kämtz scheint in der That grosse 
Pläne für die Reorganisation der meteorologischen Beobachtungen 
gefasst zu haben, allein ehe nur bestimmte bezügliche Projekte aus¬ 
gearbeitet, geschweige denn zur Ausführung gebracht waren, wurde 
er nach kaum zweijähriger Wirksamkeit am Observatorium demselben 
im December 1867 ebenso unerwartet als rasch durch den Tod ent¬ 
rissen. Es war Herrn Kämtz nur noch vergönnt gewesen, die Creirung 
der Stelle eines wissenschaftlichen Gehilfen beim Observatorium zu 
erzielen, dagegen hatte jede Thätigkeit des Observatoriums als me¬ 
teorologisch-magnetische Centralanstalt in Gewärtigung der pro- 
jektirten Reformen ganz geruht. Nach den Annalen für 1864 war 
Nichts mehr publicirt worden, und der Verkehr mit den wenigen 


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478 


Stationen beschränkte sich auf das Einsenden von Beobachtungen 
Seitens der Letzteren. 

In welchem Zustande ich nach einer solchen Reihe unglücklicher 
Ereignisse beim Antritt der Direktion des physikalischen Central- 
Observatoriums im September 1868 dasselbe und das von ihm ab¬ 
hängige meteorologische Beobachtungssystem vorfand, habe ich 
nicht nöthig, dem denkenden Leser zu schildern. Dass mir die Reor¬ 
ganisation der Anstalt unter diesen Umständen überhaupt möglich 
war, verdanke ich nur der wirksamen Unterstützung, welche mir 
von vielen Seiten in meinen bezüglichen Bemühungen zu Theil ge¬ 
worden ist. Vor Allem hat die Akademie der Wissenschaften in ihrer 
Gesammtheit und ganz besonders ihr Präsident, Admiral Graf 
von Lütke und ihr beständiger Sekretär C. v. Wesselowsky Alles auf- 
geboten, um die Entwickelung unseres Institutes zu fördern, und 
ihre Autorität hat denn auch die Regierung vermocht, hiefür neue 
Opfer zu bringen. Nicht geringere Opfer an Zeit und Mühe haben 
aber aus Liebe zur Wissenschaft über ihre pflichtmässigen Lei¬ 
stungen hinaus die Angestellten des Observatoriums, sowie eine 
grössere Zahl von Freunden der Meteorologie in allen Theilen des 
Reiches durch unentgeltliche Uebernahme von Stationsbeobach¬ 
tungen gebracht. 

Wenn die Akademie der Wissenschaften sich bei dieser Reform 
nicht zu einem hastigen und unbesonnene^ Vorgehen verleiten liess, 
sondern dieselbe in einer, der obersten wissenschaftlichen Behörde 
Russlands durchaus würdigen Weise, in ruhiger Ueberlegung und 
mit gründlicher Prüfung aller Umstände einleitete, so wird ihr das 
Publikum nur Dank dafür wissen, da auf diese Weise allein nach¬ 
haltige Erfolge zu erzielen waren. Sie beauftragte demgemäss eine 
aus den Akademikern: Jacobi, Helmersen, Wesselowsky, Struve, 
Schrenck und mir bestehende Kommission mit der Ausarbeitung 
von Projekten zur Reorganisation des meteorologischen Beobach¬ 
tungssystems in Russland und zur Reform des physikalischen 
Central-Observatoriums, welche Kommission der Akademie am 
20. Mai 1869 über die Erstere einen detaillirten Bericht erstattete, 
und am 5. Mai 1870 derselben ein motivirtes Projekt neuer Statuten 
und eines neuen Etats des physikalischen Central-Observatoriums 
vorstellte. Die Letzteren wurden von dem Hm. Unterrichtsminister 
dem Reichsrathe vorgestellt, bei der Berathung im Schoosse des¬ 
selben freilich nicht unerheblich modificirt, und in dieser Form am 
4. Mai 1871 Allerhöchst bestätigt. Demzufolge sind vom Jahre 1872 


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4M 


an nicht bloss die materiellen Hilfsmittel unserer Anstalt bedeutend 
vergrössert, sondern auch das unmittelbar vorher bloss aus dem 
Direktor, seinem Gehülfen, zwei Beobachtern und einem Intendanten 
(Smotritel) (5 Personen) bestehende etatmässige Personal desselben 
um zwei ältere Beobachter, zwei Rechner, einen Schriftführer und 
einen Mechaniker (6 Personen) vermehrt worden. 

Der Kommissionsbericbt mit den Reorganisationsvorschlägen für 
das meteorologische Beobachtungssystem wurde in dem «Bulletin» 
und in den «Sapiski» der Akademie veröffentlicht, und ausserdem in 
einer grossen Zahl von Separatabdrücken überall hin vertheilt l . 
Derselbe betont zunächst die Nothwendigkeit einer einheitlichen 
Instruktion für alle meteorologischen Stationen, gleichartiger oder 
wenigstens sorgfältig verificirter Instrumente auf denselben, und 
häufigerer Inspektion der Stationen. Behufs rascherer Ausbreitung 
der Stationen, besserer und leichterer Ueberwachung der Letzteren 
und Anstellung vollständigerer meteorologischer und erdmagne¬ 
tischer Beobachtungen in verschiedenen Landestheilen wird die 
Errichtung einer Zahl physikalischer Observatorien nach dem Muster 
desjenigen in Tiflis als Cenlralstellen für kleinere Beobachtungs¬ 
bezirke vorgeschlagen. Die Sammlung, Kontrolle und der Druck 
der Beobachtungen in den Annalen des physikalischen Central- 
Observatoriums wird des Näheren besprochen, auf die Nothwendig¬ 
keit der weiteren Bearbeitung des Beobacbtungsmaterials auch 
durch die Centralanstalt hingewiesen und als Centralorgan für die 

1 Ich hebe dies hier ausdrücklich hervor, weil Hr. A. IVojeikow in einem Aufsatze 
*ü 6 er die Meteorologie in Russland », den er im Jahresbericht der * Smiths onian Insti¬ 
tution» für 1872 veröffentlichte, und der in einer auszugsweisen Uebersetzung auch in 
dieser Revue (IV. Jahrgang 8. Heft S. 165) erschienen ist, neben vielen anderen Unge¬ 
nauigkeiten in der Darstellung der neueren Entwickelung der Meteorologie in Russland 
irrthümlicher Weise auch voraussetzt, es sei von Seite der Akademie und des Central- 
Observatoriums Nichts geschehen, um das Publikum mit den Prinzipien und der Wich¬ 
tigkeit der meteorologischen Beobachtungen bekannt zu machen. Wenn Hr. Wojeikow 
weiter sagt: «Dieses ist in einem solchen Grade wahr, dass nur sehr Wenige, sogar in 
St Petersburg, eine Idee von der Existenz eines physikalischen Cental-Observatoriums 
haben», so können wir darauf nur bemerken, dass wir ihm mindestens etwas mehr Pa¬ 
triotismus zugetraut hätten. Was für ein eigentümliches Licht müsste nämlich in der 
That diese Aeusserung, wenn sie wahr wäre, auf die Hauptstadt seines Vaterlandes wer¬ 
fen, in denen bedeutenderen Journalen seit Jahren täglich über einer besonderen Spalte 
gross gedruckt zu lepen ist: «Meteorologische Mittheilungen vom physikalischen Central- 
Observatorium in St Petersburg». Ich konstatire hier mit Vergnügen, dass es glück¬ 
licher Weise mit den Bewohnern St. Petersburgs nicht so schlimm bestellt ist, was am 
Besten aus dem zahlreichen Besuch hervorgeht, den das Central-Observatorium durch¬ 
weg an den, zur Besichtigung desselben festgesetzten, Wochentagen erhält 




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Publikation dieser Bearbeitungen das von der Akademie kurz vorher 
auf meinen Antrag neu begründete, * Repertorium für Meteorologie» 
bezeichnet. In einem besonderen Paragraphen des Berichts wird 
endlich mit grosser Ausführlichkeit die Nothwendigkeit und Nütz¬ 
lichkeit der Einführung telegraphischer Witterungsberichte und darauf 
sich stützender Sturmwarnungen in Russland erörtert 

Was ist nun, kann man mit Recht fragen, in den 6 1 /* seither ver¬ 
flossenen Jahren zur Ausführung dieser Projekte Seitens des physi¬ 
kalischen Central-Observatoriums geschehen, und ist dadurch die an¬ 
gestrebte Verbesserung in unserem meteorologischen Beobachtungs¬ 
system erzielt worden? Alle Details hierüber sind in den von mir 
der Akademie abgestatteten Jahresberichten des Observatoriums für 
die Jahre 1869, 1870, 1871, 1872, 1873 und 1874, von denen der 
Letztere soeben erschienen ist, niedergelegt. Man wird, glaube ich, 
beim Durchgehen derselben finden, dass zwar allerdings nicht ein so 
grossartiges Beobachtungssystem geschaffen worden ist, wie es seit 
1872 beim Kriegsdepartement der Vereinigten Staaten von Nord- 
Amerika besteht, dass aber doch Dank einer nicht übereilten, son¬ 
dern allmählich und allseitig fortschreitenden Entwickelung auch bei 
uns für die meteorologischen Forschungen ein fester Bau auf sicherer 
Grundlage entstanden ist, der sich, obschon mit verhältnissmässig 
geringeren Mitteln ausgestattet, doch in Betreff seiner Leistungen 
für die Wissenschaft dreist neben die besten Schwesteranstalten 
Europa’s stellen darf. 

Zum Beweise dessen werde ich hier an der Hand jener Jahres¬ 
berichte nur ganz kurz resumiren, was zur Realisirung der Kommis¬ 
sionsvorschläge geschehen ist. 

Zunächst habe ich eine Instruktion für meteorologische Stationen 
entworfen, welche nach Billigung durch die erwähnte Kommission 
mit zeitgemässen Ergänzungen im neuen Repertorium für Meteoro¬ 
logie pubücirt, und bereits in mehr als 600 Separatabdrucken auf 
Kosten der Akademie der Wissenschaften vom physikalischen 
Central-Observatorium überall hin vertheilt worden ist, so dass dem¬ 
nächst eine neue Auflage derselben erscheinen wird. 

Das physikalische Central-Observatorium, im Jahre 1868 aller Nor¬ 
malmaasse und Normalinstrumente, wie Komparatoren, Normalbaro¬ 
meter, Normalthermometer, Normalanemometer etc., ganz baar, hat 
sich seither mit diesen Fundamentalrequisiten aller exacter For¬ 
schung in jeder Richtung und in vorzüglicher Qualität versehen, so 
dass es mit Hilfe einer Reihe ebenfalls neu beschaffter Hilfsappa- 


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rate im Stande ist, jederzeit authentische Verifikationen aller meteo¬ 
rologischen und magnetischen Instrumente auszuiühren. Auch zur 
Verbesserung der Letzteren, ihrer Vervollständigung etc. sind 
grosse und erfolgreiche Untersuchungen im Observatorium an¬ 
gestellt worden, deren Resultate in dem erwähnten Repertorium für 
Meteorologie zum Theil bereits publicirt sind. 

Für Observatorien und meteorologische Stationen im Reiche und 
wissenschaftliche Reisende hat das physikalische Central-Observa- 
torium von Anfang 1869 bis Ende 1874 besorgt und nach seinen 
Normalen verificirt: 

425 Quecksilber-Thermometer, 316 kleine Regenmesser (für die 

77 Weingeist-Minima-Thermom., Regenbeobachtungen der geo- 

78 Thermographen, graphischen Gesellschaft), 

126 Haarhygrometer, 11 Evaporometer, 

101 Quecksilberbarometer, 31 Sonnenuhren, 

58 Aneroidbarometer, 10 complete Apparate für abso- 

18 Thermobarometer, lute magnetische Messungen, 

142 Windfahnen, 4 complete Serien selbstregis- 

24 Anemometer, trirende meteorolgische In- 

136 grosse Regenmesser, strumente. 

Seit dem Jahre 1869 sind ferner auf Veranlassung des physikali¬ 
schen Central-Observatoriums, zum Theil auf seine Kosten, zum Theil 
mit Hilfe besonderer hierfür gewährter Mittel, eine Reihe von In¬ 
spektionsreisen, grösstentheils von seinen Beamten gemacht und 
dabei 68 meteorologische Stationen und Observatorien besucht, auch 
theilweise neu eingerichtet worden, darunter sämmtliche seit über 
20 Jahren nicht mehr inspicirte Observatorien des Bergwesens, das 
ferne Nertschinsk nicht ausgeschlossen. Hierin sind die Inspektionen 
der 18 Stationen der kaukasischen Statthalterschaft durch Hm. Di¬ 
rektor Moritz von Tiflis aus, sowie diejenigen von 5 Stationen in 
China durch Hm. Direktor' Fritsche von Peking aus, endlich die der 
Küstenstationen am Schwarzen Meer durch Hm. Marinelieutenant 
Baron Wränge/ von Nikolajew aus, nicht inbegriffen. 

Während ferner die Zahl der meteorologischen Stationen, welche 
dem physikalischen Central-Observatorium regelmässig ihre Beobach¬ 
tungen zum Druck einsandten, im Jahre 1864 bloss 20 und im Jahre 
1868. auch nur 30 betrug, ist dieselbe nach dem letzten Jahres- * 
berichte bis Ende 1874 auf 108 gestiegen, und hat sich in diesem 
Jahre noch um 16 vermehrt. Die räumliche Vertheilung dieser 124 
Stationen ist nickt eine ganz zufällige. Ohne hier und da sich darbi^- 


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tende Gelegenheiten zur Errichtung von Stationen in den entfern* 
teren Theilen des Reiches unbenutzt zu lassen, haben wir doch un* 
*ere Anstrengungen zur Begründung neuer Stationen vor Allein aus 
darauf gerichtet, den europäischen Theil des Reiches mit einem für 
die Verfolgung der allgemeinen Witterungserscheinungen hinlänglich 
dichten Stationsnetz zu bedecken, und dasselbe von da aus dann all* 
mählich nach Asien hinein auszudehnen. Dank dieses konsequent ver¬ 
folgten und bei der dünnen Bevölkerung und den grossen Kommu¬ 
nikationsschwierigkeiten selbst in vielen Theilen des europäischen 
Russlands nicht eben leicht zu realisirenden Planes sind wir jetzt 
doch bereits dahin gelangt, die wesentlichsten Lücken des Stations¬ 
netzes im europäischen Theil des Reiches, in Westsibirien und in 
Turkestan ausgefüllt zu sehen, so dass wir voo jetzt an unsere wei¬ 
teren bezüglichen Anstrengungen fast ganz auf Mittel- undOstsibirien 
konzentriren können. 

Durch Vertheilung geprüfter Instrumente, durch die Inspektions¬ 
reisen, sowie endlich durch eine emsig unterhaltene Korrespondenz 
mit den Stationen, entweder direkt oder für einen Theil derselben 
durch die Centralstellen in Tiflis, Peking und Nikolajew sind wir 
aber auch für beinahe alle von diesen 124 Stationen von dem Zu¬ 
stand derselben, der Beschaffenheit, Aufstellung und den Korrek¬ 
tionen ihrer Instrumente genau unterrichtet, wovon wir jeweilen in 
den Einleitungen der Publikationen der Beobachtungen Rechen¬ 
schaft geben. Ebendaselbst wird auch jeweilen alles Nähere über 
die Kontrolle der eingesandten Beobachtung selbst und ihrer Be¬ 
rechnungen Seitens der Centralanstalt mitgetheilt. So dürfen wir 
sagen, dass die Annalen des physikalischen Central-Observatoriums 
zur Zeit nur ein genau kontrollirtes Beobachtungsmaterial enthalten, 
über dessen grösseren oder geringeren Werth für die einzelnen Sta¬ 
tionen sich jeder Forscher aus den Daten der Einleitung selbst ein 
Urtheil bilden kann. 

Trotz der Grösse des Reiches und der oft sehr verspäteten An¬ 
kunft der Beobachtungen aus den entfernten Theilen desselben ist 
es uns möglich geworden, die Kontrolle, Berechnung und den Druck 
der Beobachtungen so sehr zu beschleunigen, dass die Annalen eines 
Jakres jetzt regelmässig zu Ende des folgenden vollendet sind und 
versandt werden können. Ausserdem ist bis Ende des letzten Jahres 
auch der Druck und die Herausgabe aller noch rückständigen 
Annalen von 1865 an nebenher erfolgt, so dass in den 6 Jahren bis 


v 


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4*S 


Ende 1874 im Ganzen 9 Bände der Annalen des Observatoriums von 
mir herausgegeben worden sind. 

Diese Annalen, in russischer und deutscher (früher französischer) 
Sprache publicirt, werden in einer Auflage von 400 Exemplare« 
nicht bloss an wissenschaftliche Anstalten, Gesellschaften und ein¬ 
zelne Fachgelehrte im In- und Auslande versandt, sondern auch, wie 
alle übrigen Publikationen des Observatoriums sämmtlicken Beob¬ 
achtern gratis zugestellt *. Ich brauche kaum hinzuzufiigen, dass 
dies geeignet ist, den Letzteren eine unmittelbare Genugthuung zu 
gewähren, und sie so zu neuen Anstrengungen anzuspornen. 

Leider hat trotz aller bezüglichen Bemühungen der Akademie 
der Wissenschaften die angestrebte Begründung untergeordneter 
Centralstellen fiir kleinere und namentlich entferntere Beobachtungs¬ 
bezirke mit der Ausbreitung unseres Stationsnetzes nicht Schritt 
gehalten. Zu der bereits seit längerer Zeit bestehenden Central¬ 
stelle in Tiflis ist nur eine solche für einige benachbarte chinesische 
Stationen in Peking, und eine weitere ln Nikolajew für die Küsten¬ 
stationen des Schwarzen Meeres bis dahin binzugekommen. Zur 
Zeit fällt daher fast die ganze Last der Ueberwachung der Stationen 
noch auf die Centralanstalt in St. Petersburg. 

Das physikalische Central-Observatorium glaubte sich aber nicht 
mit der blossen Ansammlung neuen Beobachtungsmaterials für 
künftige Forschungen begnügen zu dürfen, sondern hielt es für ge¬ 
boten, die seit dem Erscheinen des ausgezeichneten Werkes des 
Akademikers Wesselowsky « Ueberdas Klima von Russland » (1857), 
und des Kämtz' sehen Repertoriums für Meteorologie (1862) fast 
ganz suspendirte Bearbeitung des älteren Beobachtungsmaterials, sei 
es zur weiteren Erforschung des Klimas von Russland, sei es zur 
Förderung der Meteorologie als solcher wieder aufzunehmen. So 
sind auf Anregung, oder mit Unterstützung des Observatoriums eine 
Reihe von Abhandlungen meteorologischen Inhalts grossentheils 
von Angestellten desselben entstanden, welche von mir der Kaiser¬ 
lichen Akademie der Wissenschaften vorgestellt, und darauf hin in 
das von ihr herausgegebene und von mir redigirte neue Repertorium 


4 Dieter Thatsache gegenüber, die Hm. Wojeikow bekannt war, encheint es höchst 
eigentümlich, wenn derselbe an der oben dtirtenStelle seines Aufsatzes fortführt: «Bei 
dieser Sachlage sind weit weniger Beobachter zu der Arbeit willig, welche durch Regie¬ 
rangsvorschriften gefordert wird, und für welche sie nicht bezahlt werden, weil sie dabei 
keine bestimmte Kenntniss davon haben, was mit ihrer Arbeit geschieht\ wenn sie nach 
St. Petersburg abgesandt ist ». 


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für Meteorologie aufgenommen wurden. Von diesem Repertorium, 
das ebenfalls zur Aufmunterung an alle Stationsbeobaehter vertheilt 
wird, ist soeben der 4. Band erschienen. Wir geben am Schlüsse 
dieses Aufsatzes ein Verzeichniss der in diesen Bänden erschienenen 
Abhandlungen l . 

Die telegraphischen Witterungsberichte , welche sich gemäss der 
nicht vollendeten Organisation von 1865 her noch im Jahre 1868 
auf 9 inländische und 2 ausländische Orte beschränkten, und keinerlei 
Verwerthung erfuhren, habe ich gemäss den Vorschlägen der aka¬ 
demischen Kommission sofort auszudehnen und behufs nützlicher 
Verwendung besser zu organisiren gesucht. So sehr wir hierbei auf 
der einen Seite, nämlich von den Direktionen der russischen und aus¬ 
ländischen Telegraphen, durch das Zugeständnis unentgeltlicher und 
prompter Uebermittelung der Depeschen, und von den Hm. Stations¬ 
beobachtern durch unentgeltliche Uebernahme der betreffenden 
Depeschenaufgabe unterstützt wurden, so ist doch andererseits die 
Entwickelung unseres Systems telegraphischer Witterungsnach¬ 
richten dadurch sehr aufgehalten worden, dass bei der Genehmigung 
des neuen Etats des Observatoriums — wahrscheinlich in Folge von 
Missverständnissen — höheren Orts gerade der hierfür bestimmte 
Posten ganz gestrichen wurde. Ich glaubte indessen, von der Wich¬ 
tigkeit der Sache nicht bloss ihrer unmittelbaren praktischen An¬ 
wendung zu Sturmwarnungen halber, sondern auch aus rein wissen¬ 
schaftlichen Gründen überzeugt, hierdurch mich nicht abschrecken 
lassen zu dürfen, und die Fortsetzung unserer bezüglichen Bemü¬ 
hungen hatte denn auch zur Folge, dass vom Jahre 1872 an das hy¬ 
drographische Departement der Marine* dessen damaliger Direktor 
Victt&mvrdX Selenoi sich stets lebhaft für die Meteorologie interessirt 
hat, uns von Seite des Marineministeriums eine bezügliche Unter¬ 
stützung durch Zukommandirung eines Marineoffiziers — Baron von 
Maydell — für diese Arbeiten und Gewährung einigerGeldmittel ver¬ 
schaffte. In Folge hiervon war das physikalische Central-Observato- 
rium in den Stand gesetzt, von 1872 an, auf Grundlage der bereits 
vorher ausgedehnten und definitiv organisirten Witterungsdepeschen 
vom In- und Auslande her, täglich ein die wichtigsten Witterungs¬ 
elemente von 5 5 Orten umfassendes, autographirtes, meteorologisches 

4 Wir können hier noch mittheilen, dass dem Observatorium kürzlich durch die gü¬ 
tige Vermittlung des Hrn. Ministers der Reichsdoraänen, P. von Walujew , eine namhafte 
Summe für eine neue Bearbeitung und Herausgabe der Mitteltemperaturen Russlands 
überwiesen worden ist. 


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485 


Bulletin herauszugeben, und zum Studium der allgemeinen Witte¬ 
rungserscheinungen, insbesondere aber der Stürme, synoptische 
Karten für Europa und Asien (letzterer Theil freilichnoch sehr unvoll¬ 
kommen) zu entwerfen. Diese Bulletins werden in einer Auflage 
von 8o Exemplaren an die mitwirkenden Stationen, an die Schwester¬ 
anstalten des Auslandes, und einige Behörden und Gelehrte vertheilt, 
und sind auch ausserdem täglich in den namhaftesten Zeitungen St. Pe¬ 
tersburgs abgedruckt worden. Leider waren aber Personal und Mittel 
dieses Theils unserer Anstalt immer noch viel zu gering, um einen re¬ 
gelmässigen Dienst einzurichten, wie ihn die Ertheilung von Sturm¬ 
warnungen erfordert hätte, und überdies erschien es zur erfolgreichen 
Ausführung der Letzteren nothwendig, vorher den besonderen Ver¬ 
lauf der Stürme in Russland zu studiren. Erst eine namhafte Ver- 
grösserung der uns für diesen Zweck vom hydrographischen Depar¬ 
tement der Marine gewährten Unterstützung setzte uns endlich im 
Frühjahr 1874 in den Stand, die für die Ertheilung von Sturm¬ 
warnungen nöthige Organisation zu treffen. Unsere bezüglichen 
Anerbietungen wurden von den Hafenbehörden in St Petersburg, 
Kronstadt, Reval, Riga, Windau und Helsingfors mit dem grössten 
Eifer aufgenommen, und die nöthigen Vorkehrungen zur Hissung 
der Sturmsignale nach unserer Anleitung überall getroffen, und in 
den Zeitungen, sowie durch öffentliche Anschläge in den Hafenorten 
die Bedeutung der Signale erklärt. So konnten am 10./22. Oktober 
1874 die telegraphischen Warnungen Seitens der Centralanstalt be¬ 
ginnen, und wir dürfen sagen, dass dieselben bei uns bis dahin von 
einem entsprechenden Erfolg wie anderwärts begleitet gewesen sind, 
und man allseitig ihren Nutzen anerkannt hat. Unser meteorologisches 
Bulletin aber, das zugleich eine beschleunigte Publikation eines 
Theils der Beobachtungen im Reiche repräsentirt, umfasst gegen¬ 
wärtig die telegraphischen Witterungsberichte von 24 ausländischen 
und 45 inländischen Stationen l . Trotz alle Dem leistet meines 


1 Diese praktischen Anwendungen der Meteorologie, wie Hr. Wojeikow das System 
der Witterungstelegramme und die Sturmwarnungen nennt, waren also bereits im De¬ 
zember 1872, als derselbe St. Petersburg verliess, vollständig vorbereitet, ja grössten- 
theils schon im Gange. Es muss daher mehr als auffallen, wenn Hr. Wojeikow an 
einer Stelle des erwähnten Aufsatzes (S. 172 der «Russ. Revue», Bd. VH.) sagt: «Die 
Hauptursache, warum das meteorologische Beobachtungssystem Russlands, so vortreff¬ 
lich es in manchen Beziehungen ist, nicht wie gewünscht, vervollständigt werden kann 
(!), ist die, dass die Meteorologie in Russland noch keine Anwendung auf das praktische 
Leben gefunden, und dass das Observatorium noch nicht dafür gesorgt hat, das Publi¬ 
kum eingehend mit deren Prinzipien und deren Wichtigkeit bekannt zu machen», und 


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Erachtens die mit der Herausgabe des meteorologischen Bulletins 
und der Ertheilung von Sturmwarnungen beschäftigte Abtheilung 
des physikalischen Central-Observatoriums nicht Das, was das Publi¬ 
kum von derselben, nach dem Beispiele anderer Länder, erwarten 
dürfte; der Grund davon ist einfach der, dass man leider in St. Pe¬ 
tersburg mit einem Aufwand von ungefähr 3000 Rbl. nicht dasselbe 
leisten kann, wofür man in London oder Paris mindestens das 6fache 
von Seiten des Staates aufwendet, in den Vereinigten Staaten von 
Nordamerika aber gar das ioofache ausgiebt. 

Ausser diesen verschiedenen Aufgaben als meteorologische Central¬ 
anstalt des Reiches fiel aber dem physikalischen Central-Observa¬ 
torium noch die sehr gewichtige zu, ein meteorologisch-magnetisches 
Observatorium für St. Petersburg zu sein, in welchem, ähnlich wie 
früher, meteorologische und magnetische Beobachtungen in viel voll¬ 
ständigerer (continuirlicherer) und viel umfassenderer Weise, als auf 
gewöhnlichen Stationen sollten angestellt werden. Hierauf haben 
wir ebenfalls bei der Reorganisation Bedacht genommen; statt aber 
wie früher hierzu eine grössere Zahl von Beobachtern zu verwenden, 
wurden selbstregistrirende Apparate eingerichtet, welche zum Theil 
continuirüch, zum Theil in sehr kurzen Zeitintervallen (alle 10 Mi¬ 
nuten) die wesentlichsten meteorologischen und magnetischen Ele¬ 
mente aufzeichnen, und zugleich einen höheren Grad der Zuverlässig¬ 
keit darbieten. So besitzt das Observatorium zur Zeit bereits nahezu 
5-jährige, für alle stündlichen Werthe vollständig bearbeitete Auf¬ 
zeichnungen des Drucks, der Temperatur und Feuchtigkeit der Luft, 
der Windrichtung und Windgeschwindigkeit, und 4-jährige, ebenso 
vollständig bearbeitete photographische Aufzeichnungen aller Ele¬ 
mente des Erdmagnetismus, welche jeweilen in besonderen Anhän¬ 
gen zu den ^nnalen publicirt worden sind. Wir dürfen sagen, dass 
gegenwärtig keine andere Anstalt gleich vollständige und sichere, bear¬ 
beitete und pubHarte Beobachtungen graphischer Instrumente aufzuwei¬ 
sen hat. Erwähnung verdienen daneben auch noch die ebenfalls regel¬ 
mässig, aber direkt angestellten Beobachtungen über Regenmengen 
in verschiedenen Höhen, Verdunstung, Erd- und Wassertemperatu¬ 
ren etc. 


wenn er darnach, auf den beiden folgenden Seiten, der amerikanischen Welt als die sei* 
sttgea, stitn Theil fast wörtlich, diejenigen Ideen zur Einrichtung von Witterungstelegram¬ 
men und Sturmwarnungen in Russland vorffchrt, welche bereits m dem erwähnten Be¬ 
richt der akademischen Kommission von 1869 enthalten sind, und ihm von dort her 
bekannt waren. 




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4*7 


Wir sehen, dass die genannten Leistungen der Anstalt sci t d h rtt r 
Reorganisation sich alle nur auf die eine Hauptaufgabe derselben, 
nämlich die physikalische Erforschung Russlands beziehen. Die an¬ 
dere Hauptaufgabe, die physikalischen Untersuchungen im engeren 
Sinne des Wortes, welche die neuen Statuten nicht beseitigt haben, 
habe ich aus den oben schon angegebenen Gründen vor der Hand 
etwas zurücktreten lassen, ohne, soweit es die Mittel des Observa¬ 
toriums gestatteten, sie ganz zu vernachlässigen. Wenn wir selbst 
eine Reihe von Studien über meteorologische und magnetische In- 
* strumente und Beobachtungsmethoden nicht hierhin rechnen wollen, 
so gehören doch wenigstens metrologische (Mass- und Gewichts-) und 
optische Arbeiten des Direktors ganz allein in dieses Gebiet; für an¬ 
dere rein physikalische Untersuchungen sind wenigstens die Funda¬ 
mente gelegt. 

Und so wollen wir es nun dem Leser überlassen, zu beurtheilen, ob 
nnd inwiefern das physikalische Central-Observatorium seit seiner 
Reorganisation unter der Aegide der Akademie der Wissenschaften 
seine Aufgaben erfüllt, resp. sich ihnen gewachsen gezeigt hat, und 
nur vor einem allfälligen Vorwurfe möchten wir uns noch wahren, 
dem nämlich, unmotivirt zu viel von uns selbst gesprochen zu haben. 
Wir haben, obschon vielfach zu einer Darstellung des seit 1869 von 
Seite unserer Anstalt zur Entwickelung der Meteorologie in Russ¬ 
land Geschehenen aufgefordert, dies hiermit erst gethan, als wir uns 
dazu durch bezügliche ungenaue und lückenhafte Kundgebungen 
von anderer Seite provocirt sahen, und als ich speciell mich ver¬ 
pflichtet fühlte, ungerechten, wenn auch nur aus Unerfahrenheit ent¬ 
sprungenen Bemerkungen gegenüber der wirklich aufopfernden 
Thätigkeit meiner Mitarbeiter in schwieriger Zeit eine öffentliche 
Anerkennung zu zollen. 

Manches in unserem meteorologischen Beobachtungssystem ist 
noch nicht, wie es sein sollte und wie insbesondere wir es wünschen 
und anstreben. Man kann aber nach dem bisherigen Gange wohl 
sicher erwarten, dass bei ruhig und konsequent fortgesetzter Ent¬ 
wickelung auch den noch bestehenden Uebelständen und Lücken 
wird äbgeholfen werden', und dass uns dazu einerseits unsere, für 

1 Noch vor Kurzem hat die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften auf den Vor¬ 
schlag des phjrükaMtche« Central. Observatoriums sur’Förderung der maritimen Meteore- 
logit und der Sturmwarnungen, und sodann zur Entwickelung der Anwendungen der 
Meteorologie tum Nutten der Landwirtluehoft höheren Orts zwei Projekte vorgestellt, 
deren Rcalisirung indessen ungünstiger Umstände halber verschoben werde* musste. 


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488 


allea*Gute und Nützliche stets opferbereite Regierung ihre Unter¬ 
stützung nicht verweigern wird, andererseits auch alle wirklichen 
Freunde der Wissenschaft ihre hilfreiche Hand wie bis dahin leihen 
werden. 


Inhalt der 4 ersten Bände des neuen Repertoriums für Meteorologie. 


Band I. 

Vorwort. Seite. 

Instruktion für meteorologische Stationen H. Wild (mit einer Tafel) .... 1—23 

Tafeln für Berechnung der meteorologischen Beobachtungen.25 — 94 . 

Beschreibung der vom physikalischen Central-Observatorium zu beziehenden 

meteorologischen Instrumente (mit zwei Tafeln).95— 98 

Die Wind- und Regen Verhältnisse Tauriens, von W. Koppen. 1— 72 

Marche diurne de la tempdrature aBarnaoul et a Nertschinsk par M. Rikatscheff. 73— 96 
Der jährliche Gang der Temperatur in St. Petersburg, von Dr. L. F. von 

Kämtz, redigirt von I. Pernet.97—148 

Resultate aus astronomischen und magnetischen Beobachtungen, auf einer 
Reise von St Petersburg nach Peking, in den Jahren 1867 und 1868 

angestellt von H. Pritsche . .. . . 149—174 

Sur la distribution des pluies en Russie par A. Wojeikof (avec une planche) 175—200 


Inklinations-Messungen nach verbesserter Methode auf einer Reise nach Italien, 

von Dr. L. F. v. Kämtz, vollendet und redigirt von M. Rikatscheff . . 201 - 252 
Bestimmung der Elemente des Erdmagnetismus auf einer Reise von St. Peters¬ 
burg nach Tiflis, von H. Wild (mit zwei Tafeln).253—300 

Gang der meteorologischen Elemente in Tiflis vom 1. December 1851 bis 1. 

December 1861, von H. Kiefer.. 301— 317 

Druckfehlerverzeichniss. 1 . 319 

Band II. 

Ergänzungen zur Instruktion für meteorologische Stationen, von H. Wild . 1— 20 

Tafeln für die Berechnung der meteorologischen Beobachtungen. 21—44 

Geographische, magnetische und hypsometrische Bestimmungen an 22 in der 
Mongolei und dem nördlichen China gelegenen Orten, von H. Fritsche 

(mit einer Tafel). I— 40 

Ueber die Temperatur des Erdbodens in Peking, von H. Fritsche. 41-64 

Ueber einen Ersatz des Quecksilberbarometers für Reisen und schwer zugäng¬ 
lichen Stationen, von H. Wild.65— 84 

Ueber die Bestimmung von Erdtemperaturen mit Thermoketten, von L Pernet 

(mit einer Tafel)...85—108 

Vorschlag zur Registrirung der Absorption der Atmosphäre für Sonnen- und 

Himmelswärme, von O. Fröhlich.109 -114 

Neue Methode zur Füllung von Barometerröhren, von H. Wild (mit einer Tafel) 

[deutsch und russisch] ..115 —122 

Les observations magnltiques a l*Observatoire physique central pour l’annde 

1868 par M. Rikatscheff..123—148 

Ueber die magnetische Deklination Pekings, von H. Fritsche.149—186 

Die Aufeinanderfolge der unperiodischen Witterungserscheinungen nach den 

Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, untersucht von W. Koppen. 187—238 
Ueber Verbesserungen am Pouillet’schen Pyrheliometer, von O. Fröhlich . 239—250 

Ueber die Bevölkerung Russlands, von H. Wild (mit einer Tafel) .... 251—278 


Katalog der meteorologischen Beobachtungen im russischen Reich, zusammen¬ 


gestellt von F. Clawer: 

Vorwort und Ortsverzeichniss. I—VHI 

Katalog. I— 35 

Erklärung der Abkürzungen.. • . .. 36 


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489 


Band HL 

H 1 Studien über meteorologische Instrumente und Beobachtungsmethoden. I. Ueber 
die Bestimmung des Luftdrucks, von H. Wild (mit drei Tafeln) — 145 Seiten. 

M 2 Ueber ein neues magnetisches Universal-Instrument, von H. WUd (mit zwei Ta¬ 
feln) — 10 Seiten. 

Jd 3 Die periodischen Aenderungen des Luftdruckes in St. Petersburg, nach 50-jähri¬ 
gen Beobachtungen, von I. Pemet. (Mit einer Curventafel) — 12 Seiten. 

»4 Studien über meteorologische Instrumente und Beobachtungsmethoden. 2. Zur 
Kritik der Ozonbeobachtungen, von F. Dohrandt — 16 Seiten. 

H 5 Ueber die magnetische Intensität Pekings, von H. Pritsche. — 49 Seiten. 

M 6 La mar che diurne de la tempdrature ä St. Pdtersbourg, aux jours sereins et aux 
jours couverts, par M. Rikatscheff. (Avec une table) — 16 Pag. 

J6 7 Tafeln zur Ableitung der Mitteltemperatur aus den gebräuchlichsten Kombinatio¬ 
nen von zwei und drei Beobachtungsstunden am Tage, fUr das russische Reich 
und die angrenzenden Länder. Von W. Koppen — 40 Seiten. 

8 Geographische, magnetische und hypsometrische Bestimmungen an 27 im nördli¬ 
chen China gelegenen Orten, ausgeführt in den Monaten Juli, August, Septem¬ 
ber und Oktober 1871 von H. Fritsche. — 36 Seiten. 


Jahresbericht des physikalischen Central-Observatoriums für 1871 und 1872. Der Aka¬ 
demie abgestattet von H. Wild, Direktor. — 103 Seiten. 

Band IT. 

Mi H. Wild, weitere Ergänzungen zur Instruktion für meteorologische Stationen. — 
4 Seiten. 

M2 I. Mielberg. Die magnetische Deklinatioir in St. Petersburg (mit drei litographi- 
sehen Tafeln) — 58 Seiten. 

M 3 H. Fritsche, Geographische, magnetische und hypsometrische Beobachtungen an 
59 Orten etc. (mit einer Karte) — 44 Seiten. 

M 4 W. Koppen, Ueber die Abhängigkeit des klimatischen Charakters der Winde von 
ihrem Ursprünge — 15 Seiten. 

M 5 F. Dohrandt, Bestimmung der Anemometer-Konstanten. — 60 Seiten. 

M6 M. Rikatscheff, La distribution de la pression atmosph6rique dans la Russie d’Eu- 
röpe, (avec 3 planches) — 60 Seiten. 

M7 H. Wild, Ueber den täglichen und jährlichen Gang der Feuchtigkeit in Russland 
(nebst einer Kunrentafel) — 90 Seiten. 

J68 H. Fritsche, Geographische und magnetische Bestimmungen an 26 Orten etc. im 
Jahre 1874 — 12 beiten. 

M9 M, Thiesen, Zur Theorie der Windstärke-Tafel (mit drei Holzschnitten) — 73 S. 

M 10 H. Wild, Jahresbericht des physikalischen Central-Observatoriums für 1873 und 
1874. — 95 Seiten. 


Bus. B«nk«. Bd. VII. 


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Zar Charakteristik der literarischen Bewegungen 
in Russland in den Jahren 1820—1860. 

Historische Skizzen 

von 

A. Pypin. 

(Schluss.) 4 

Der offioielle Begriff des „Volksthümüchen“. 

Der Eindruck, den die Dekabristen-Verschwörung zu Ende des 
Jahres 1825 hervorgerufen, blieb während der ganzen Zeit der nun 
folgenden Periode (bis zum Jahre 1855) unverwischt Die Zeitge¬ 
nossen waren darüber einig, dass diese Bewegung den Fortschritt auf 
lange Zeit aufhalten würde. «Ah, mon prince! vous avez fait bien 
du mal ä la Russie, vous l’avez recutee de cinquante ans», sagte dem 
Fürsten Trubetzkoi der Eine seiner Richter, eine hervorragende Per¬ 
sönlichkeit der neuen Regierung. 

Es lassen sich doch Zweifel darüber hegen, ob diese eine Bewe¬ 
gung wirklich so viel Einfluss haben könnte, um die Entwickelung 
Russlands um fünfzig Jahre aufzuhalten, denn in der That war der 
nun folgende Lauf der Dinge noch durch viele andere Umstände be¬ 
dingt: es wirkten wohl viel mehr noch darauf ein der passive Zu¬ 
stand der Volksmasse überhaupt, die Trägheit und Schlaffheit des 
Bildungsbedürfnisses in den gebildeteren Schichten, der Mangel 
eines klaren Bewusstseins und des Verlangens nach einer anderen 
Ordnung der Verhältnisse. Der kleine Kreis wahrhaft gebildeter 
Menschen, in welchem ein solches Bewusstsein vorhanden war, bil¬ 
dete einen in der Masse so verschwindend kleinen Theil, dass er gar 
keinen Einfluss ausüben konnte. 

Aber die Ereignisse des Jahres 1825 hatten doch eine grosseBe- 
deutung, indem sie die Veranlassung dazu gaben, dass das konser¬ 
vative System den Charakter grosser Schroffheit annahm; man be- 

4 Vgl. «Russ. Revue», VIL Bd. f S. 1—36. 


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49 1 


fürchtete die Möglichkeit der Wiederholung einer solchen Bewegung 
und trieb das Vorurtheil gegen jedes Anzeichen politischer Interessen 
in der Gesellschaft aüf die höchste Spitze. Im Grunde war es derselbe 
Standpunkt, der in den letzten Jahren Alexanders I. der herrschende 
war; aber jetzt wurde dies System mit grösserer Konsequenz und 
Strenge durchgeführt. 

Gleich im Anfänge wurde, im Hinblick auf jene Ereignisse, das 
Prinzip proklamirt, dass, da die Gährung der zwanziger Jahre die 
Folge oberflächlicher Erziehung und der aus dem Auslande herüber¬ 
genommenen Freigeisterei sei, man auf die Erziehung der jungen 
Generation seine besondere Aufmerksamkeit lenken müsse, dass 
den echt russischen Prinzipien Raum zur Entfaltung gegeben, und 
Alles denselben Widersprechende in strenger Weise entfernt werden 
müsste. Dieselben «volkstümlichen» Prinzipien müssten dem ganzen 
staatlichen und socialen Leben zu Grunde liegen, und nur diejenigen 
Thaten und Erscheinungen Bürgerrecht in demselben erhalten, 
welche diesem nun genau bestimmten nationalen Symbol entsprä¬ 
chen, in welchem zuerst officiell von «Volkstümlichkeit» die Rede 
war. 


. Viele von den bedeutenderen Zeitgenossen hatten schon längst 
an dem * volkstümlichen» Charakter des Systems zu zweifeln ange¬ 
fangen; sie gaben wohl zu, dass dasselbe den Traditionen und dem 
konservativen Geschmack der unentwickelten Masse entspreche, 
dass es aber im weiteren Sinne gar nicht volksthümlich sei, da es 
jede Entwickelung der geistigen und materiellen Kräfte des Volkes 
lähme, dass in der Art und Weise, wie das System in Ausführung 
gebracht werde, nur die Anschauungen und Begriffe der westeuro¬ 
päischen «Restauration» hervorträten. In einem handschriftlichen 
Aufsatz der fünfziger Jahre — (diese Art der Verbreitung von publi- 
cistischen Schriften war damals stark entwickelt) —, den man T. Gra- 
nowskij zuschreibt, wurde das Vorherrschen des Metternich’schen 
Systems in der inneren Politik klar nachgewiesen, und nicht nur ab 
zwecklos für Russland, sondern auch als schädlich für dessen Ent¬ 
wickelung erklärt 

Es ist klar, dass das konservative System, welches jetzt in umfas¬ 
sender Weise in Anwendung kam, im grossen Ganzen dieselben 
Züge an sich trug, welche in Westeuropa, und namentlich in Oester¬ 
reich, an der Tagesordnung waren, und die in der schärfsten Beauf- 

3** 


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492 


sichtigung des ganzen staatlichen, nationalen und socialen Lebens 
gipfelten. 

Wir haben nicht die Absicht, hier ausführlicher darauf einzugehen, 
und die Art der Anwendung dieses Systems in den verschiedenen 
Gebieten der Staatsverwaltung eingehend zu verfolgen. Aber eine 
gewisse Inkonsequenz innerhalb desselben müssen wir doch konstati- 
ren: ungeachtet dessen, dass die Nothwendigkeit dieses Systems auf 
den Mangel an politischer Reife hin wies, dass man darum besorgt war, 
das Eindringen jedes politischen Gedankens in die Gesellschaft zu 
verhindern, dass es mit Händen zu greifen war, wie viel Russland 
noch zu lernen habe, um dem westlichen Europa nahe zu kommen — 
ungeachtet dessen behaupteten die Vertreter dieses Systems, dass 
Russland sich eine reife innere und äussere Selbstständigkeit er¬ 
rungen habe. Man gab vor, dass Russland in das Alter der Reife 
getreten wäre, sonderte es von dem westeuropäischen Leben ab und 
stellte es demselben fast gegenüber, indem man die besonderen Ei- 
genthümlichkeiten der russischen Kultur hervorhob, Eigentüm¬ 
lichkeiten, welche Russland eine von dem Gange westeuropäi¬ 
scher Kultur unabhängige und sogar gegensätzliche Stellung sichern 
sollten. 

Russland sei, so wurde gesagt, ein ganz besonderer Staat, mit 
einer ganz besopderen Nationalität, und den Staaten und den Natio¬ 
nalitäten Westeuropa^ durchaus unähnlich; daher müsse es sich auch 
in seinem ganzen staatlichen Leben vom westlichen Europa unter¬ 
scheiden. In Russland allein nähmen die Dinge den regelrechten 
Verlauf im Einklang mit den Forderungen der Religion und wahrer 
politischer W eisheit. Westeuropa hat seine unterscheidenden Merk¬ 
male: in der Religion — den Katholicismus oder den Protestan¬ 
tismus, im Staat—konstitutionelle oder republikanische Institutionen, 
in der Gesellschaft — die Freiheit des Wortes und der Presse, die 
bürgerliche Freiheit, u. s. w. Es sei stolz auf diesen Fortschritt und 
diese Privilegien, aber das sei eine Verirrung und die Folge franzö¬ 
sischer Freigeisterei und der französischen Revolution, die im vo¬ 
rigen Jahrhundert Religion und Monarchie mit Füssen getreten, und 
wenn auch bezwungen, doch die Spuren ihres verderblichen Ein 
flusses und die Keime zu ferneren Unruhen hinterlassen habe. Russ¬ 
land sei von diesen ertödtenden Einflüssen frei geblieben, welche 
dasselbe nur ein Mal aufzuregen versuchten. Es habe die Traditionen 
der Vorzeit unversehrt bewahrt; dadurch vor Unruhen und trügeri¬ 
schen konstitutionellen Einrichtungen geschützt, könne es mit den 



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493 


liberalen Bestrebungen nicht sympathisiren, welche in verschie¬ 
denen Staaten Westeuropa^ in Folge der Nachsicht der Regierungen 
zu Tage getreten sind. Daher könne es nicht anders, als dem Prinzip 
der Monarchie seine Unterstützung verleihen. In religiöser Beziehung 
nehme Russland auch eine ausschliessliche und beneidenswerthe 
Stellung ein. Das Bekenntniss der russischen Kirche sei aus alten 
byzantinischen Quellen geschöpft, welche die Traditionen der Kirche 
treu gehütet haben, und daher sei Russland von jenen religiösen 
Unruhen frei geblieben, welche zuerst die katholische Kirche vom 
richtigen Wege abgelenkt, darauf aber sie selbst gespaltet hätten, 
indem sie den Protestantismus hervorriefen. Auch in der russischen 
Kirche seien freilich Streitigkeiten vorgekoromen, indem sich ein 
Theil des ungebildeten Volkes dem Raskol zugewandt hat, aber die 
Regierung, so wie die Kirche, wendeten alle Mittel an, um die Abge¬ 
fallenen zurückzufiihren und diese Verirrung zu entwurzeln. 

Auch in seinem inneren Sein — so sagte man — wäre Russland 
dem westlichen Europa durchaus unähnlich. Mit den originalen 
Institutionen, dem alten Glauben habe es sich patriarchalische Tu¬ 
genden, die westeuropäischen Völkern wenig bekannt sind, bewahrt. 
So vor Allem tiefe Frömmigkeit, ein'“volles Zutrauen zu den regie¬ 
renden Gewalten und unbedingten Gehorsam. 

Europa habe Russland in BUdung und Wissenschaften überflügelt, 
aber dafür kennt Russland auch deren Missbrauch nicht. Die 
obersten Behörden achteten darauf, dass Russland nur das Nütz¬ 
liche in der Wissenschaft benutzt, und verbieten Alles, was zu ver¬ 
derblicher Freigeisterei hinleiten könnte. Darin besteht das Streben 
der Censur. 

Unter diesen Bedingungen blüht Russland im Genuss der inneren 
Ruhe empor. Es verdankt seine Macht seiner Grösse, der Menge 
seiner Völkerstämme und den patriarchalischen Tugenden des 
Volkes. Eben so mächtig sei Russlands Einfluss nach aussen, der 
durch ein grosses Heer unterstützt wird. 

In Hinsicht der inneren Verwaltung sei die Regierung bemüht, 
ausschliesslich und allseitig für das allgemeine Wohl des Volkes zu 
wirken, und wenn in der praktischen Ausführung Mängel zu Tage * 
treten, so läge die Schuld nicht an der Unvollkommenheit der Ge¬ 
setze, sondern nur an den Menschen, welche diese Gesetze nicht 
genau zu beachten verstanden. . .. 

Obgleich nun dies System ein umfangreich entwickeltes Ganzes 
in sich darstellte, so waren doch schon selbst den Vertretern des- 


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494 


selben einige Schwächen, Widersprüche und Inkonsequenzen in die 
Augen gefallen; es war daher natürlich, dass die allmählich er¬ 
wachende Kritik der Gesellschaft, die Erkenntniss dieser Mängel 
weiter entwickelte; daraus entstand dann jene Gährung, jener Kampf 
der Meinungen, welche die Geschichte der geistigen Entwickelung 
Russlands in dieser Periode ausmachen. 

So wurde dieses System für das echt nationale System erklärt, 
welches als im Geiste der bisherigen historischen Entwickelung des 
russischen Volkes gebildet, als echt «volksthümlich» galt. Worin 
bestand aber nun die historische Bedeutung dieses Systems in der 
Reihe der social-politischen Anschauungen, durch welche die Ent¬ 
wickelung Russlands hindurchgegangen ist? 

Die Panegyristen dieses Systems waren nicht im Unrecht, wenn 
sie darauf hinwiesen, dass dasselbe in direktem Gegensätze zu den 
Reformen Peter's des Grossen stände, — doch im entgegensesetzten 
Sinne. Der Unterschied lag nicht in der Wiederherstellung des so¬ 
genannten angeblich «nationalen» Prinzips, welches Peter der Grosse 
zurückgesetzt hatte. Peter der Grosse besass einen stark ent¬ 
wickelten, kritischen Blick in Bezug auf die Mängel des russischen 
Staatslebens, und dieser kritische Sinn brachte ihn dazu, Russland 
mit Westeuropa in Verbindung zu setzen, westeuropäische Bildung 
und Wissenschaft in das russische Leben hineinzubringen. Darin 
liegt das Wesen und die Macht der Reformen Peter’s des Grossen, 
deren Geist noch lange nach ihm fortwirkte. Hier dagegen existirte 
dieser politische Sinn durchaus nicht. Der gegebene Status quo 
wurde für den besten erklärt; das letzte Ziel war die Vervollkom- 
mung, die Disziplinirung desselben in rein formalem Sinne, ohne 
darauf Rücksicht zu nehmen, ob derselbe dem Geiste derZeit und 
den Forderungen der Civilisation und der Wissenschaft entspreche. 
Insofern stand dies System in Wahrheit zu den Reformen Peter’s 
des Grossen in direktem Gegensätze, und darin liegt die historische 
Bedeutung dieses Systems. Hieraus aber wird auch die Kehrseite 
der Medaille ersichtlich. 

Das Streben, die nationalen Kräfte in Unthätigkeit zu erhalten, 
und ihre geistige Entwickelung zu unterdrücken, hatte zur Folge, 
dass ein bedeutender Theil derselben in der That auch unthätig 
blieb, und im Stillstand, der dem Rückschritt gleich ist, verharrte. 

So kam es, dass die grosse Mehrzahl der Gesellschaft in der That 
daran glaubte, dass Russland ein besonderer Staat sei, und dass die 
Forderungen westeuropäischer Bildung in demselben keinen Raum 


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495 


hätten. Die Formen der westeuropäischen Entwickelung im engeren 
Sinne, die Einzelheiten der Sitten und des Lebens waren für Russland 
freilich durchaus nicht verbindlich; aber der Fehler lag darin, dass 
man nicht einsah, wie die natürliche Entwickelung der Nation die¬ 
selben zu höheren Lebensformen hinauf leiten musste, als Diejenigen, 
welche dem russischen Geiste bis dahin eigen waren; dass der 
einmal angefangene Prozess der Umbildung und Civilisation noth- 
wendiger Weise andere politische und sittliche Begriffe mit sich 
bringen musste, Begriffe und Ideale, welche mit den früheren Le¬ 
bensformen nicht harmonirten, denen aber in dem bezeichneten 
System doch nicht Raum gegeben wurde; dass Russland schon mit 
Europa in Verbindung getreten war, und dass es nur dann Be¬ 
deutung haben könnte, wenn es diese Verbindung mit allen Kräften 
unterhält. 


Nach dem eben Gesagten wird es nun nicht schwer fallen, sich 
über die öffentliche Meinung und die Literatur jener Zeit eine Vor¬ 
stellung zu bilden. 

Die öffentliche Meinung hatte kein Recht der Existenz, da nach 
dem herrschenden System weder das Lob noch der Tadel von Mass- 
regeln und Gesetzen, die von der Regierung ausgingen, gestattet 
war. Der Grundzug der Zeit war die Abwesenheit der Oeffentlich- 
keit, was zur nothwendigen Folge hatte, dass dem Publikum die 
Entwickelung der eigenen Angelegenheiten unbekannt blieb; daraus 
entstand dann jene stark verbreitete Gleichgültigkeit gegen das 
öffentliche Leben, und jener Indifferentismus, der in der Gesellschaft 
eine so grosse Rolle spielte. 

Die Literatur hatte sich in tiefes Schweigen über die wichtigsten 
Lebensfragen gehüllt: weder politische Stoffe wurden behandelt, 
noch die inneren Angelegenheiten. Alles, was Regierung und Ver¬ 
waltung betraf, wurde konsequent vermieden. Die ersten Vertreter 
der Literatur hatten sich dem Kultus der reinen Kunst ergeben, 
oder der abstrakten Philosophie, oder sie stellten Untersuchungen 
über Grundsätze der Moral an. Eine publicistische Thätigkeit exi- 
stirte ebenfalls nicht Alles Politische wurde von der öffentlichen 
Besprechung fern gehalten, so dass sogar der Unterricht der neue¬ 
sten politischen Geschichte verboten war; eben so gehörte die poli¬ 
tische Oekonomie zu den gefährlichen Gegenständen, u. s. w. 

Wenn aber in der Gesellschaft geistige # Kraft und historischer 
Sinn vorhanden waren, so stand nur ein Weg offen: — das Streben 


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496 


nach einer vollen Entwickelung der nationalen Kräfte durch die An¬ 
eignung der westeuropäischen Wissenschaft und durch die Vervoll- 
kommung des inneren politischen Lebens; eben so musste das Ziel 
der Literatur sein — dieses Streben thätig und eifrig zu fördern, den 
freien kritischen Sinn zu wecken, und derSelbsterkenntniss zu dienen. 
Das war denn auch die Richtung, welche die neuere russische Lite¬ 
ratur nun einschlug. So kam es, dass die innerlich nothwendige 
Entwickelung der Literatur sich zu dem herrschenden System in 
feindlichen Gegensatz stellen musste, und da dies System durch die 
Macht und durch den Indifferentismus der Masse unterstützt wurde, 
so war die Lage der Literatur eine im höchsten Grade schwierige. 
Ungeachtet dessen ist sie ihrem Prinzip und ihrem Streben treu ge¬ 
blieben, hat der Gesellschaft die grossen sittlichen Ideale vor Augen 
gestellt, und die Sache der Bildung und Aufklärung gefördert 

Die Reaktion in den letzten Jahren der Regierung des Kaisers 
Alexander I. hatte viele Keime socialer Reformbestrebungen niederge¬ 
drückt, aber die historische Entwickelung der geistigen Strömungen 
konnte sie nicht verändern. Wie früher, spaltete sich auch jetzt die 
Literatur in zwei Richtungen. Die Vertreter der ersten Richtung unter¬ 
stützten das Status quo, und übernahmen die Rolle des reaktionären 
Konservatismus; die Vertreter der zweiten Richtung setzten die früher 
angefangene Kritik fort, indem sie sich an die Untersuchung socialer 
und nationaler Fragen machten. In der ersten Zeit schien die Politik 
bei Seite gelassen worden zu sein, indem vorzugsweise Themata aus der 
abstrakten Philosophie und aus der Kunst behandelt wurden. Theils 
war das die Folge der reaktionären Strömungen, theils lag der 
Grund hiervon aber auch in der natürlichen Entwickelung des Den¬ 
kens, weiches auf dem geistigen Leben Westeuropa^ basirte, wo in 
dieser Zeit Philosophie und Romantik im Schwünge waren. So 
war auch Puschkin in der russischen Literatur der erste Repräsen¬ 
tant künstlerisch-objektiver Poesie, die zugleich politisch-konservativ 
und indifferent war. 

Betrachten wir zuerst jene konservative Richtung, welche dem 
Status quo als Stütze diente. 

Diese konservative Literatur stand in naher Verbindung mit der 
Romantik, und wir haben gesehen, in wie bedeutendem Grade der 
politische Indifferentismus bei Shukowsky vertreten war. Puschkin, 
der vom Liberalismus ausging, besass zu wenig Sinn für unab¬ 
hängige Kritik, um sich auf dieser Bahn weiter zu bewegen, 
und gab dem System der officiellen «Volkstümlichkeit* Anlass, ihn, 


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den bedeutendsten russischen Dichter, zu den Vertretern desselben 
zu rechnen, indem man zuweilen auf seine Worte, als auf die «Stimme 
des Volkes» hinwies. Als schliesslich das zur Reife gekommene 
Gemeingefiihl den heissenden Humor und die Satire in Gogol her¬ 
vorriefen, konnte auch dieser Schriftsteller dem Einfluss der konser¬ 
vativen Richtung nicht widerstehen, und widerrief bekanntlich in dem 
zweiten Theil der «Todten Seelen» und in den «Ausgewählten 
Stücken« die Ideen, denen er früher Ausdruck gegeben hatte, 
indem er Meinungen und Ansichten äusserte, die eben so leblos 
waren, wie das System, welchem er nun angehören wollte. 

So gross war also der Einfluss jenes Systems auf das grosse 
Ganze der Gesellschaft, dass sogar diese hervorragenden Dichter 
denselben nicht widerstehen konnten. Dieser Einfluss der Autorität 
trat im ganzen Leben jener Zeit hervor und es häte wirklich schei¬ 
nen können, dass das System dem Charakter des Volkes entspräche, 
wenn man sah, wie sogar so grosse Geister sich in dasselbe einlebten 
und mit dem Gange der Dinge aussöhnten! 

In der Literatur nun, welche aus diesem System hervorging, zeigt 
sich zwar eine gewisse Lebhaftigkeit, aber es ist mehr ein inhaltsloser 
Lärm, als wahrhaftes Leben. Die Journalistik beschränkte sich fast 
ausschliesslich auf literarische Gegenstände; den Inhalt bildeten: ein 
flüchtiger Roman oder eine Novelle, flüchtige literarische Kritik, in¬ 
differente historische und andere Aufsätze, Reisebilder, Anekdoten. 
Fragen des Gemeinwohls, sowie politische Gegenstände waren ganz 
ausgeschlossen. Die einzige Zeitung, in welcher ein politischer Theil 
existirte, war die «Nordische Biene». Eifrig suchte sie folgende An¬ 
sichten zu verbreiten: Russland und Europa, namentlich das konstitu¬ 
tionelle Europa, ständen zu einander in scharfem Gegensätze — Ord¬ 
nung und Ruhe wären auf der einen Seite, Aufruhr und Eigenmächtig¬ 
keit auf der anderen; Russland brauche Westeuropa durchaus nicht zu 
beneiden, denn die angebliche Civilisation führe nur zum Atheismus 
und zur Revolution; Russland habe nur auf jede Weise darauf be¬ 
dacht zu sein, sich vor Ansteckung zu bewahren. 

Was die Literatur aber selbst betrifft, so finden wir in ihr dieselben 
Züge, wie in der Journalistik. In der Poesie hatte die Romantik die 
höchste Spitze ihrer Entwickelung erreicht; das Charakteristische 
derselben bestand jetzt in dem Streben nach der eingebildeten Frei¬ 
heit poetischen Schaffens, welche jedoch nur auf einen mass- 
losen Wortschwall bestand; in social-politischer Hinsicht — in 
dem falschen, verkehrten Patriotismus, welchen die «Nordische Biene» 


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vertrat. In diesem Stil schrieb Kukolnik seine romantisch-hochfah¬ 
renden und selbstgefällig-patriotischen Dramen; ihre Popularität be¬ 
weist, wie sehr sie nach dem Geschmack der grossen Masse waren, 
welche an dem Wortschwall derselben hinlänglich Genüge fand. 
Aehnlich stand es um die historischen Romane von Sagoskin, in 
denen man vergebens nach historischem Kolorit suchen würde, die 
sich statt dessen aber durch übergrosse Sentimentalität auszeichnen. 
Auch in den von ihm dargelegten Ansichten lag Vieles, was ihn zum 
Vertreter eines falschen Patriotismus und der konservativen Partei 
machte. Zu derselben Gattung gehören auch die damals sehr beliebt 
gewesenen Sittenromane. Dieselbe romantische Ueberschwenglich- 
keit, denselben äusseren Glanz bei auffallender Inhaltlosigkeit findet 
man auch auf anderen Gebieten der Kunst, in der Malerei und Skulp¬ 
tur, was z. B. die Bilder von Brüllow und einige in jener Zeit entstan¬ 
denen Monumente bezeugen. 

Endlich sprach sich der herrschende Ton auch in den historischen 
Anschauungen und Untersuchungen aus. Zum Theil waren es die 
Ansichten Karamsin’s, die vertreten waren, theils fand man aber auch 
neue, originale Zusätze. Drei Umstände wurden als die Grundzüge 
russischen geschichtlichen Lebens hingestellt: erstens — das Selbst¬ 
herrscherthum, welches mit Rurik seinen Anfang nimmt; zweitens 
— die Rechtgläubigkeit, welche, die Traditionen der ältesten Kirche 
treu bewahrend, Russland vor dem verderblichen Sektenwesen Eu¬ 
ropa^ beschützt; drittens — die Volkstümlichkeit, — die Frucht 
der neuesten Zeit und der neuesten Bestrebungen. Seit Peter dem 
Grossen hatte Russland Vieles aus dem westlichen Europa herüber¬ 
genommen, und sich unter Anderem — wie man sagte — viele schäd¬ 
liche Ideen angeeignet; in der neuesten Zeit, hiess es, kehrt Russland 
nun wieder zu den ersten Anfängen des russischen Nationalitätsprin¬ 
zips zurück, indem es nun die Früchte der Civilisation ohne das Ver¬ 
derbliche derselben empfängt. 

Die Geschichte Russlands enthält nur ein Bild des allmählichen 
Hinanstrebens zu dieser gesegneten Gegenwart, und die innere Ent¬ 
wickelung bestand nur in der Reihe von Massregeln, welche von der 
regierenden Macht ausgingen, um die oben dargelegten Grundzüge 
zu befestigen. Für die Historiker gab es in der russischen Geschichte 
keine anderen Elemente historischen Lebens, ihrem Auge war der 
Einblick in den inneren Kampf der Volksmassen verschlossen, sie 
erblickten Nichts von den verschiedenen Erscheinungen des inneren 
Lebens, deren Untersuchung für den modernen Historiker von so 


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hohem Interesse ist Das Volk war in ihren Augen im Gegentheil 
eine passive Masse, welche weder Stimme noch eigenes Urtheil be- 
sass, und nur den Gegenstand für die Anordnungen von Seiten der 
Regierung abgab. So wurde die Geschichte aus der Geschichte des 
russischen Reiches, wie man sie bei Karamsin vorfand, zu einer ein¬ 
fachen Geschichte der Regierung. Die Volksmasse war roh und un¬ 
gebildet, — man gab ihr den Staat, das Licht des Christenthums, 
brachte in das bürgerliche Leben Ordnung hinein, gab Gesetze u. s. w. 
Es sind zwar Aufstände vorgekommen, aber sie waren nur die Folgen 
ungezügelter Leidenschaft und Rohheit, und die Macht stellte die 
unterbrochene Ordnung wieder her; es sind auch öffentliche Plagen 
vorgekommen, aber das Volk «verstand* es, sie «ohne Murren» hin¬ 
zunehmen. Zu der Zahl der weisen Massregeln wurde auch die Ein¬ 
führung der Leibeigenschaft gerechnet. 

Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, welche Züge die 
aus den herrschenden Meinungen und Sitten hervorgehende Literatur 
annehmen musste. Es war eine Literatur des Stillstandes, welche von 
einer anderen Ordnung der Dinge, von einem anderen staatlichen 
und historischen Leben keine Ahnung hatte; es kam nicht ein Mal 
der Zweifel an die eigene Existenzberechtigung in ihr auf, und so er¬ 
hob sie die Verneinung jeder persönlichen und socialen Freiheit und 
jeder Selbstthätigkeit zum Prinzip russisch-nationalen Lebens. 


Es kann nun nicht schwer fallen, sich eine Vorstellung davon zu 
machen, welche Stellung jener Theil der Literatur, welcher das pro¬ 
gressive Streben der früheren Zeit vertrat, unter solchen Verhältnissen 
einnehmen musste. Bei ihrem ersten Auftreten wurde sie jenem Druck 
unterworfen, der in einer ohne das Bedürfniss nach geistigem Fort¬ 
schritt lebenden Cresellschaft auf Allem lastet, was über das Durch¬ 
schnittsniveau hervorragt. Die Censur, in rücksichtsloser Weise aus¬ 
geübt, raubte dem Schriftsteller dieser Richtung jede Möglichkeit 
geistiger Arbeit im Sinne seines Prinzips; sie zog ihm den Boden 
unter den Füssen fort, da sein ganzes Denken als unerlaubt, als ausser¬ 
halb des Gesetzes stehend, er selbst für verdächtig erklärt wurde. 
Und dieser Druck lag um so schwerer auf den Vertretern jener Rich¬ 
tung, als diese eine unbedeutende Minderheit bildeten, welche an 
der Gesellschaft keine Stütze fand, und auf keine Sympathie rechnen 
konnte, da die Selbstkritik und die Neigung zu derselben noch nicht 
existirte. Dadurch wurde das literarische Wirken ausserordentlich 
erschwert, zerstückelt, dem Zufall anheimgegeben, eine unregel- 


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massige Entwickelung des geistigen Lebens hervorgerufen, die nur 
sprungweise, unklar, verschwiegen, in raschen Aufwallungen vor 
sich gehen konnte — eine Erscheinung, welche sich leider noch bis 
jetzt in unserem geistigen Leben abspiegelt. 

Diese Bedingungen muss man sich vor Augen halten, um den weni¬ 
gen Schriftstellern, welche die wahren Interessen der Gesellschaft ver¬ 
treten haben, vollkommen gerecht zu werden. Dass diese Bedingungen 
aber auch auf den regelmässigen Gang der geistigen Entwickelung 
ungünstig einwirken mussten, kann nicht Wunder nehmen. Denn weil 
der Inhalt, den diese progressive Richtung der Literatur verbreitete, 
eine verbotene Frucht war, weil die Wissenschaft nur bruchstückweise 
zu uns drang, verfiel man oft in Einseitigkeiten und phantastische Ex- 
centricitäten: es konnte nicht anders sein, wenn kein Gedanke bis zu 
Ende gesprochen, kein Ausspruch allseitig beurtheilt werden konnte. 

Trotz alledem war der Einfluss dieser literarischen Richtung be¬ 
deutender, als man es sich vielleicht denkt, denn sie unterhielt das 
Interesse an unabhängiger Kritik und freier Untersuchung, indem sie 
in der kleinen Zahl auserwählter Geister die Kräfte des Kampfes, 
den besten Ausdruck für die geistige Bewegung der Zeit, und die 
Bürgschaft der Zukunft in denselben vorfand. 

Die Geistesarbeit der zwanziger Jahre wurde nun in erweiterter 
Weise fortgesetzt; zwar blieb man für’s Erste den politischen Fragen 
fern, denn man fühlte, dass die russische Gesellschaft dazu noch nicht 
herangereift sei, aber dafür drang man in das Wesen der Sache tiefer 
ein, indem man die gründliche Kenntniss der russischen socialen Zu¬ 
stände sich zum Vorwurf nahm, die Untersuchung der historischen 
Vergangenheit und der augenblicklichen Gegenwart, die Erörterung 
der geistigen und socialen Förderung des russischen Volkes. 

Ungeachtet dessen nahmen die Vertreter der progressiven Litera¬ 
tur doch eine verneinende Stellung zu den herrschenden Meinungen 
an: ihre abstrakten Vorstellungen, ihre Ideale stimmten zu wenig 
mit der realen Wichtigkeit des russischen Lebens überein. Sie konn¬ 
ten sich mit den engen Grenzen, welche den nationalen Kräften ein¬ 
geräumt waren, nicht aussöhnen. In der Geschichte entdeckten sie 
nationale Elemente, denen die Zukunft gehörte. Indem sie schon 
jetzt das Wohl des Volkes in geistiger und materieller Beziehung, 
als das Grundprinzip ihres Strebens hinstellten, näherten sie sich im¬ 
mer dem thätigen nationalen Leben; die Einen idealisirten das Volk, 
weil sie in dieser philosophischen, historischen und poetischen Idea- 
lisirung den Weg der Wiedergeburt erblickten; die Anderen suchten 


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dieselbe Wiedergeburt in der kritischen Analyse der Wirklichkeit, 
in der Erkenntniss der schwachen Seiten der Nation in Vergangen¬ 
heit und Gegenwart, darin den ersten Schritt zur Mündigkeit 
erblickend. 

In diesem Sinne hat sich diese literarische Richtung ein grosses 
Verdienst erworben. Den hohen Anforderungen, welche sie theore¬ 
tisch an das nationale Leben stellte, den hohen Idealen und Zielen, 
welche sie dem ernsten Geiste, dem ernsten Streben eröffnete, ver¬ 
dankt Russland viele von jenen socialen Ansichten und Meinungen, 
welche jetzt Wurzel zu fassen beginnen, und viele von den socialen 
Reformen, für welche die gegenwärtige Regierung in der Gesell¬ 
schaft eine rege Sympathie und die zur Ausführung derselben nöthi- 
gen Kräfte vorfand. 

Der Skepticismus in Tsohaadajew. 

Wenn wir die Geschichte der geistigen Entwickelung Russlands 
in den Jahren 1820— 1860 betrachten, und die Elemente unter¬ 
suchen wollen, welche die Reformen der Gegenwart vorbereitet 
haben, so müssen wir vor Allem etwas bei der Persönlichkeit Tschaa- 
dajew’s verweilen, der hinsichtlich der Opposition gegen das herr¬ 
schende System zu den bemerkenswerthesten Erscheinungen der 
Epoche gehört, von der in unseren Aufsätzen die Rede ist. 

Die historische BedeutungTschaadajew’s liegt darin, dass er Einer 
von den Wenigen gewesen ist, deren Entwickelung in die Zeit der 
napoleonischen Kriege und der liberalen Bewegung im zweiten Jahr¬ 
zehnt dieses Jahrhunderts fällt. Er bildete ein Glied in der Kette, 
welche jene Zeit mit den dreissiger Jahren verband, welche zwei 
Richtungen, zwei Sinnesarten, die einander durchaus entgegenge¬ 
setzt waren, aneinander knüpfte. 

Seine erste Erziehung erhielt Tschaadajew in jenem beschränkten 
Umfange, wie es damals in den aristokratischen Kreisen üblich war. 
Es war eine oberflächliche Bildung für die Welt, welche er jedoch 
durch eigene Kraft erweiterte und vertiefte: reich begabt, zeigte er 
schon früh eine gewisse Reife; bei seinem lebhaften Geiste muss¬ 
ten ihn die neu auftauchenden Fragen natürlicher Weise fesseln, und 
ihn dem Einflüsse der Zeit und des Zeitgeistes unterwerfen. 
Tschaadajew war während der napoleonischen Kämpfe in die Armee 
getreten, und hatte in Westeuropa den Feldzug gegen Frankreich 
mitgemacht Hier musste das westeuropäische Leben, welches für 


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mraer sein IdeaLgeblieben ist, einen mächtigen Einfluss auf ihn aus¬ 
geübt haben; und hier liegen auch die Wurzeln seiner Philosophie. 

In den liberalen Kreisen der zwanziger Jahre hatte die Unzufrie¬ 
denheit mit dem Status quo eine hohe Stufe der Erbitterung erweckt. 
Die angeregten Fragen der Moral und des Staatslebens fanden keine 
befriedigende Antwort, und man strebte nun nach einem Ausgang 
aus dieser erregten Gegenwart; in Tschaadajew nahm diese Stim¬ 
mung, seinem Charakter und seiner Gedankenrichtung gemäss, die 
Form von abstrakten Untersuchungen an, aus welchen in Beziehung 
auf das russische bürgerliche Leben ein immer stärker werdender 
Skepticismus hervorging. 

Dieser Skepticismus Tschaadajew’s hängt ohne Zweifel mit den 
katholischen Ideen der Restauration zusammen, andererseits aber 
auch mit der geistigen Entwickelung Russlands in den vorangegan¬ 
genen Zeiten. Und wenn derselbe bei Tschaadajew in so schroffer 
Weise zum Ausdruck kam, so geschah es daher, weil er nicht für 
dieOeffentlichkeit, sondern nur für seine Freunde schrieb, und daher 
nichts zu verschweigen brauchte. 

Die Ansichten Tschaadajew’s sprachen sich hauptsächlich in sei¬ 
nen «Philosophischen Briefen» aus, von denen nur der erste 
im Jahre 1836 zum Abdruck kam. Dieser erste Brief ist jedoch 
auch der Bedeutendste. Wir geben in Folgendem, so kurz als mög¬ 
lich, den Inhalt desselben wieder. 

Der «Philosophische Brief» ist an eine Dame gerichtet, mit wel¬ 
cher der Verfasser über Religion gesprochen hat. Nach der Einlei¬ 
tung über die Zweifel, welche jene Unterredung hervorgerufen, geht 
er gleich zu der allgemeinen Frage über, welche das Hauptthema 
des Briefes bildet. Er sagt, dass auch für die Seele eine gewisse 
Diätetik nöthig ist, wie für den Körper, und bemerkt darauf: 

«Ich weiss, dass ich ein altes Wort wiederhole; aber in unserem 
Vaterlande hat es den Werth der Neuheit. 

«Es ist eine von den kleinlichen Sonderbarkeiten unserer gesell¬ 
schaftlichen Bildung, dass die in anderen Ländern schon längst be¬ 
kannte Wahrheiten, selbst bei in vielen Beziehungen auf niederer Kul¬ 
turstufe stehenden Völkern, bei uns eben erst entdeckt werden. Und 
das kommt daher, weil wir niemals Hand in Hand mit den anderen 
Völkern gegangen sind; wir gehören zu keiner von den grossenFami- 
lien der Menschheit, weder zum Occident, noch zum Orient, wir 
haben weder dieTraditionen der einen, noch der anderen. Wir schei¬ 
nen gleichsam ausserhalb derZeit zu leben, und die allgemeine welt- 


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geschichtliche Bildung des Menschengeschlechts hat uns nicht be¬ 
rührt. Jenes wunderbare im Verlauf der Jahrhunderte entwickelte 
Band der menschlichen Ideen, jene Geschichte der menschlichen 
Erkenntniss, haben gar keinen Einfluss auf uns ausgeübt. Was bei 
anderen Völkern schon längst in Fleisch und Blut übergangen ist, 
ist bei uns noch bis jetzt ein blosses Theoretisiren.... 

«Es fehlt uns die regelmässige Lebenseintheilung.... 

«Blicken Sie um sich, Alles scheint gleichsam unterwegs zu sein. 
Wir leben, als wären wir Wanderer. Niemand hat eine genau be¬ 
stimmte Sphäre seiner Existenz; es ist Nichts vorhanden, was Ihre 
Sympathie, Ihre Neigung fesseln könnte; Nichts Beständiges, Nichts 
Unveränderliches: Alles entflieht, weder äusserlich, noch im Innern 
Spuren hinterlassend.... 

«Bei allen Völkern finden wir Perioden voll kräftiger, leidenschaft¬ 
licher Thätigkeit, Perioden jugendlicher Entwickelung, denen die 
besten Erinnerungen, die Dichtung und die fruchtbarsten Ideen an¬ 
gehören. Hier liegt die Quelle ihrer Geschichte.. .. 

«Wir haben Nichts Derartiges aufzuweisen. In der ersten Zeit fin¬ 
det man bei uns wilde Barbaren, dann einen rohen Aberglauben, 
darauf eine grausame, erniedrigende Herrschaft der Eroberer, eine 
Herrschaft, deren Spuren jetzt noch sichtbar sind. Das ist die trau¬ 
rige Geschichte unserer Jugend. Wir haben dieses Alter masslosen 
Thatendranges, dieses poetischen Spieles der sittlichen Kräfte des 
Volkes niemals besessen. Die Zeit unseres gesellschaftlichen Lebens, 
welche diesemAlter entspricht, erfüllte ein dunkles Sein, ohne Farbe, 
ohne Kraft und Energie. In unserem Gedächtniss finden sich 
keine entzückenden Erinnerungen keine grossen, zur Nachahmung 
anregenden Muster in den nationalen Traditionen. Wir leben in 
einer gewissen Gleichgiltigkeit gegen Alles, vom engsten Horizont 
umgeben, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. ... 

DieVölkerlebennurinFolge der mächtigen Eindrücke derVergan- 
genheit und der Berührung mit andern Völkern. Auch diese Bedin¬ 
gung ist bei uns nicht vorhanden. .. Wir sind als uneheliche Kinder 
zur Welt gekommen, ohne Erbe, ohne Verbindung mit den Neben- 
menschen ... Mit dem Hammer müssen wir uns das in den Kopf hin¬ 
einschlagen, was bei den Anderen aus Gewohnheit, aus Instinkt 
erfolgt. Unsere Erinnerungen reichen nur bis an den vergangenen 
Tag zurück. Wir wachsen, aber wir reifen nicht; wir rücken vor¬ 
wärts, aber auf einer Seitenlinie, die nicht zum Ziele führt..., 


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Alle Völker des westlichen Europa^ haben eine gemeinsame 
Physiognomie, das Resultat ihrer allgemeinen Geschichte, und dann 
den eigenen individuellen Charakter. Die sie verbindenden Ideen 
sind die Ideen der Pflicht, des Gesetzes, der Wahrheit, der Ord¬ 
nung. Wodurch sollen diese bei uns fehlenden Ideen ersetzt werden? 
Uns fehlt die Gründlichkeit, die Methode, die Logik, der Syllo¬ 
gismus des Westens. Das ist ein allgemeiner Zug unseres Wesens, 
der in Westeuropa nur vereinzelt auftritt. 

Unserer Lage zwischen dem Orient und Occident gemäss, hätten 
wir die beiden grossen Anfänge der Erkenntniss in uns verbinden 
müssen: Phantasie und Vernunft. Aber in Wirklichkeit könnte man 
denken, dass das allgemeine Gesetz der Menschheit für uns nicht 
geschrieben sei. Pilger der Welt, haben wir dem Leben Nichts 
gegeben, Nichts von demselben erworben, keine einzige Idee zu 
der Masse der Ideen der Menschheit hinzugefügt; Nichts haben wir 
zur Vervollkommnung der menschlichen Erkenntniss beigesteuert, 
und Alles verunstaltet, was uns diese Vervollkommnung gegeben.... 
Ich wiederhole es: wir haben gelebt, wir leben als eine grosse Lehre 
für die entfernten Geschlechter, welche diesen gewiss zum Nutzen 
gereichen wird, aber gegenwärtig bilden wir eine Lücke im allge¬ 
meinen Erkenntnisprozess». 

Darauf stellt Tschaadajew die Anfänge unseres Lebens jener Be¬ 
wegung entgegen, welche in Europa vor sich ging. Wirtraten —so 
sagt er.— mit dem entnervten Byzanz in Verbindung, wurden darauf 
die Beute der Eroberer, und blieben ausserhalb der historischen 
Ideen, welche sich bei unseren westeuropäischen Brüdern ent¬ 
wickelten. 

Eine grosse Masse von Kenntnissen, die jetzt den Stolz des 
menschlichen Geistes bilden, waren damals schon durchdacht; der 
Charakter der neuesten Geschichte schon bestimmt; es fehlten der 
christlichen Welt nur die Formen des Schönen, und man fand die¬ 
selben, indem man auf die heidnischen Alterthümer zurückging. In 
unseren Wüsten vereinsamt, haben wir Nichts von dem erblickt, was 
in Europa vor sich ging, wir blieben theilnahmlos, während die 
Welt sich entwickelte. . .. ? 

Weiter spricht dann Tschaadajew von der Bedeutung des Chri¬ 
stenthums im westeuropäischen Leben, und von der Entwickelung 
desselben, und schliesst seinen Brief mit dem Hinweis auf die Wieder- v 
gebürt, welcher sich das russische Leben im Geiste der west- 


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europäischen christlichen, speciell katholischen, Sinnes unterwerfen 
müsste. 

(Wir übergehen die anderen Briefe Tschaadajew’s, welche eine 
weitere Entwickelung der im ersten Briefe ausgesprochenen Ge¬ 
danken enthalten, so wie die «Apologie eines Wahnsinnigen*, welche, 
so bedeutend und interessant sie auch sonst ist, nur eine weitere 
Ausführung der schon in den «Philosophischen Briefen» ausge¬ 
sprochenen Ideen ist). 

Wenden wir uns nun zum Inhalt des ersten «Philosophischen 
Briefes* zurück, so müssen wir zuerst auf die historische Bedeutung 
desselben hinweisen, welche darin bestand, dass dieser Brief sich 
mitten in der Periode der höchsten Entwickelung des konservativen 
Systems in die schärfste Opposition zu demselben stellte. Während 
der ganzen Periode hatte es Niemand sonst gewagt, ein so scharfes, 
ernstes, trübes, schonungsloses Urtheil über die russische Vergan¬ 
genheit und Gegenwart zu fällen, einen so widerspruchslosen Skep- 
ticismus zu äussern. 

Dieser Skepticismus fand seinen Ursprung und seine Basis in der 
geistigen Bewegung der zwanziger Jahre, welche die Folge des Ein¬ 
blicks in die westeuropäische Civilisation und in die socialen Zustände 
Westeuropas war, und des Bewusstseins, wie unermesslich Russland 
zurückgeblieben war. Tschaadajew war Zeuge des Aufschwunges un¬ 
ter den Mitgliedern der Geheimbünde gewesen, und zugleich auch 
Zeuge ihrer Unreife und der Erfolglosigkeit ihrer Bestrebungen. So 
kam es, dass der Skepticismus Tschaadajew's Alles in sich begriff, 
was Literatur und Gesellschaft dem herrschenden System zu ent¬ 
gegnen hatten, indem er die vereinzelten Zweifel der ihm vorange¬ 
gangenen Zeit in ein System erhob, auf die Vergangenheit aus¬ 
dehnte und seinen Ideen eine doktrinäre Basis zu Grunde legte. 

Die Masse der Gesellschaft trug nun bei dieser Gelegenheit ihren 
ganzen Kleinmuthund ihre geistige Beschränktheit zur Schau: aus 
allen Schichten der Gesellschaft ertönte derselbe Schrei der Em¬ 
pörung, der Verachtung, des Fluches gegen den Mann, der Russ¬ 
land zu beleidigen gewagt hatte, und die Moskauer Studenten sollen 
sogar den Wunsch ausgesprochen haben, mit der Waffe in der 
Hand dem frechen Beleidiger entgegentreten zu können. Nur eine 
kleine aufgeklärte Minderheit fand den Aufsatz im höchsten Grade 
helehrungswürdig und einer wissenschaftlichen Entgegnung werth. 

Wäre eine freie Kritik möglich gewesen, so hätte man schon 
damals auf die Mängel in den Ansichten Tschaadajew’s aufmerksam 

Bw. Kam*. Bd. VII. n 


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gemacht, aber sie unterblieb, weil Tschaadajew die Möglichkeit 
der Vertheidigung genommen war. Obgleich es Niemanden ge¬ 
geben hat, der mit ihm vollkommen einverstanden gewesen wäre, 
war jener Aufsatz doch ein bedeutendes Ereigniss. Auf Alle, die 
zu denken gewohnt waren, machte er grossen Eindruck, denn es 
war eine Arbeit, welche ihren Ursprung nicht der Routine ver¬ 
dankte, sondern welche der Ausdruck ernsten Denkens und tiefen 
Fühlens war. Wenn die historische Theorie Tschaadajew’s auch 
falsch war, so blieben doch noch jene Seiten in ihrer vollen Be¬ 
deutung stehen, welche der russischen Gegenwart gewidmet waren. 
Der Standpunkt Tschaadajew’s war eben durch diese gänzliche Ver¬ 
neinung der Wirklichkeit so bemerkenswert!!. Man konnte sogar 
sagen, dass er in der Verneinung noch weiter ging, als die ersten 
Geister seiner Zeit, denn Niemand sonst, so scharf der kriti¬ 
sche Blick auch sein mochte, hatte so schonungslos die Schäden 
des Gemeinwesens aufgedeckt, die nationalen Schwächen so züm 
Bewusstsein gebracht, auf die Kindheit der russischen Civilisation 
und der Selbsterkenntnis mit so schneidender Schärfe hingewiesen. 
So wurde der Gegensatz zum herrschenden System öffentlich be¬ 
kundet und darin liegt eben die historische Bedeutung des Werkes 
von Tschaadajew: er machte den ersten Versuch, die Bahn der 
kritischen Selbsterkenntniss zu erschliessen. 

Dadurch hat Tschaadajew zur Vernichtung der Selbsttäuschung 
und des Selbstbetruges, —von je einer der Hauptfehler unserer 
Bildung — so viel, wie nur Wenige ausser ihm, beigetragen. Indem 
er das hohe Ideal der westeuropäischen Civilisation der russischen 
Gesellschaft vor Augen stellte, regte Tschaadajew dieselbe zu¬ 
gleich an,.den Inhalt ihres Strebens zu erweitern, zu erheben, und 
musste eben dadurch eine Reaktion der lebendigen Kräfte hervor- 
rufen, welchem Lager sie auch zugehören mochten. 

Der Skepticismus Tschaadajew’s, das Beispiel einer unabhängigen 
Sinnesart, des Bestrebens, die philosophische Basis nationalen Lebens 
fest zu bestimmen, des Versuches, diese Basis durch die historische 
Entwickelung zu belegen. Daher stellte er die historische Kritik so 
überaus hoch; sie musste alle historischen Phantome vernichten, 
alle falschen Bilder zerstören, um die Vergangenheit in der richtigen 
Beleuchtung zu zeigen, um Schlüsse irgend welcher Art auf die Ge¬ 
genwart daraus zu ziehen, und mit Zuversicht in die Zukunft blicken 
zu können. 

Diese Forderung historischer Kritik und der Einsicht in die Män- 



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gelder Vergangenheit und Gegenwart, verbunden mit dem Hinweis 
auf den unendlichen Vorzug der europäischen Civjlisation, bilden 
das Wesendes Einflusses von Tschaadajew. So bildet der Skepti- 
cismus Tschaadajew's den Ausgangspunkt der Entwickelung der 
neuen Periode, welche in der Poesie durch das Auftreten Gogol’s 
charakterisirt ist. 

In dem persönlichen Charakter, sowie in der Thätigkeit Tschaada- 
jew’s findet man viel Fehlerhaftes und Irrthümliches; aber die Schuld 
hiervon trägt nicht er allein, es war zugleich auch die Folge der 
lückenhaften Entwickelung des russischen Geisteslebens überhaupt. 
Die vielfachen Bedrückungen und Unterbrechungen, welchen der 
Gang der russischen Geistesbildung unterworfen war, traten auch in 
Tschaadajew hervor: der eigenen Geisteskraft überwiesen, ohne die 
Möglichkeit zu besitzen, seine Gedanken offen zu entwickeln, ohne 
regelrechte Selbstkritik, fällt Tschaadajew neben den höchsten idea¬ 
len Forderungen, neben der tiefen Erkenntniss der Wirklichkeit in 
die seltsamsten Verirrungen, welchen selbst seine eifrigsten Anhän¬ 
ger nicht beistimmen konnten. Sie erkannten die allgemeinen Züge 
an, wiesen aber jene Erklärungen zurück, welche auf Rechnung sei¬ 
ner individuellen katholisch-mystischen Neigungen gesetzt werden 
mussten.. 

Die Entwickelung der wissenschaftlichen Erkenntniss 
des Volksgeistes. 

Die wissenschaftlichen Forschungen über die nationale geistige 
Entwickelung hatten in dieser Periode eine bedeutende Höhe er¬ 
reicht. Einige Zweige derselben, wie z. B. die Untersuchungen über 
die nationalen Sitten und Traditionen, wurden damals zum ersten 
Mal zum Gegenstand des Studiums gemacht; andere, wie z. B. die 
Geschichte, wurden in erweitertem Umfange und auf andere Weise 
betrieben. Den grössten Einfluss haben auf diese Forschungen die 
deutsche Wissenschaft Und die deutsche Literatur ausgeübt, wobei 
wir natürlicher Weise die bedeutende selbstständige Arbeit nicht in 
Abrede stellen wollen. Trotz alledem hatte die europäische, und 
namentlich die deutsche, Wissenschaft uns die Mittel zur «Selbster- 
kenntniss» an die Hand gegeben, welche nicht allein die Folge der 
Intuition des nationalen Volksgeistes war. 

Dieser Einfluss musste auch in den erzielten Resultaten zu Tage 
treten, und dies um so mehr, als die europäische, und namentlich die 
deutsche Wissenschaft, mit deren Hilfe wir uns der Erforschung des 

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Volksgeistes und der Geschichte hingaben, das ganz besondere Ko¬ 
lorit der Zeit an sich trugen. 

Man kann sich davon leicht überzeugen, wenn man einen Blick auf 
die Richtungen wirft, welche die wissenschaftliche Erkenntniss des 
Volksgeistes heranbildeten. Seit dem achtzehnten Jahrhundert bietet 
die Geschichte der geistigen Entwickelung Russlands das Bild eines 
ununterbrochenen westeuropäischen Einflusses dar. Schon damals 
spiegelten sich in der russischen Literatur und in der ganzen Bildung, 
wenn auch nur schwach, die verschiedenen Richtungen westeuro¬ 
päischen Gedankenlebens ab. Zu Ende des vorigen und während der 
ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts war dieser Einfluss in fortwäh¬ 
rendem Steigen begriffen, und wenn es früher meist nur ein ober¬ 
flächliches Nachsprechen war, so begann man jetzt tiefer in das 
Wesen der Sache einzudringen, und den Inhalt westeuropäischer 
Bildung ernstlich in sich aufzunehmen. 

Im dritten Jahrzehnt findet man nun eine besonders stark ent¬ 
wickelte Neigung zur Erfassung der deutschen Philosophie in ihren 
jüngsten Ausläufern. Von Kant »bis Hegel, mit allen ihren Schülern, 
fanden alle Systeme mehr oder weniger eifrige Anhänger. Zu Ende 
des vorigen, sowie zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde die Kanti- 
sche Philiosophie auf allen russischen Universitäten von deutschen 
und einheimischen Professoren gelehrt. Darauf kam Schelling an die 
Reihe, endlich Hegel. Namentlich hat der Letztere einen ungemein 
grossen Einfluss ausgeübt, und hat den bedeutenden literarischen 
Grössen des vierten Jahrzehents als Basis gedient. 

In dieser deutschen Philosophie hatte man eine vortreffliche Vor¬ 
bildung für die folgenden wissenschaftlichen Untersuchungen über 
" den Volksgeist. Sie bahnte den Weg, indem sie die unklaren Vor¬ 
stellungen der früheren Zeit in ein System braohte, und eine neue 
Grundlage für die Entwickelung der Begriffe des Volksthums, des 
Staates, der bürgerlichen Gesellschaft festsetzte. Dazu kamen noch 
die Geschichte des Rechts, die vergleichende Sprachwissenschaft 
und Mythologie, die Geschichte und Ethnographie, die allmählich in 
Russland Eingang fanden und zur Vertiefung der Bildung beitrugen. 

Der Einfluss dieser westeuropäischen, und namentlich deutschen, 
Wissenschaft war ein im höchsten Grade günstiger. Aber mit ihr 
zugleich kamen auch jene Einzelheiten und Richtungen herüber, 
welqhe sich in der westeuropäischen Wissenschaft ihrer historischen 
Entwickelung gemäss herangebildet hatten. So sprachen sich in der 
deutschen Wissenschaft die Tendenzen deutschen Geisteslebens 


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während der ersten Jahrzehnte aus —, Tendenzen, in denen sowohl 
die revolutionären, als auch die reaktionär-romantischen Ideen ihren 
Ausdruck fanden. Obgleich dieselben die unabhängige kritische 
Untersuchung nicht beeinflussen konnten, so sprachen sie sich doch 
in dem allgemeinen Ton der Werke aus. So fassten diese Eigenheiten 
westeuropäischer Wissenschaft auch in der russischen Bildung Wur¬ 
zel, so dass Russland nicht nur die Mittel zur Selbsterkenntniss der 
westeuropäischen Wissenschaft verdankt, sondern auch einige eigen- 
thümliche Tendenzen, welche man als Ausflüsse der historischen und 
socialen Reife aufzufassen nur zu geneigt war, wie z. B. das Slayo- 
philenthum. 

Wenden wir uns nun zuerst zur Historiographie. Den Ausgangs¬ 
punkt bildete hier natürlich Karamsin's «Geschichte des russischen 
Kaiserreichs», welche die vorangegangene Periode der russischen 
Gesichtsschreibung beschliesst. Karamsin’s historischen Anschauun¬ 
gen lagen die Ideen und die Sinnesrichtungen des XVIII. Jahrhunderts 
zu Grunde: in seinen Augen war die Geschichte nur die Kunst der 
Geschichtsschreibung; in den Details hat er viele bemerkenswerthe 
Erörterungen zu Tage gefördert, aber kein einheitliches historisches 
System zu Stande gebracht; eine übertriebene Idealisirung des Alter¬ 
thums und der Wunsch, die «Geschichte des Kaiserreichs» mit Rurik 
zu beginnen, hatten eine ganz falsche Anschauung über die ersten 
Jahrhunderte russischer Geschichte zur Folge; das Verlangen, zu 
poetisiren, zu verschönern, fand oft in einer prunkenden Rhetorik 
ihren Ausdruck. 

Die Forscher, welche ihm folgten, kamen bald über diese schwachen 
Seiten Karamsin’s zur Einsicht, und namentlich war es Katschenowsky 
(starb im Jahre 1842), der eine andere Methode einschlug und der 
Begründer der sogenannten skeptischen Schule wurde. Sein Ver¬ 
dienst besteht in der unablässigen und eifrigen Vertheidigung des 
kritischen Prinzips und der Berechtigung des historischen Skepticis- 
mus. Die einzige Autorität, die er anerkannte, war die wissenschaft¬ 
liche Kritik. Sein Vorbild darin war Schlözer, den er auch gegen die 
Ausfälle, die er als Ausländer zu erleiden hatte, hartnäckig verthei- 
digte. Darauf bezeichnet die Bekanntschaft mit Niebuhr und den 
Prinzipien seiner Geschichtsschreibung den zweiten Schritt in der 
inneren Entwickelung Katschenowky’s, wonach er in seiner Kritik 
immer kühner wurde, und sogar sein erstes Vorbild, Schlözer, in den 
Hintergrund stellte, 


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’ Der Skepticismus Katschenowsky's hat sich nun in den wesent¬ 
lichsten Punkten als unhaltbar erwiesen; aber wenn man untersuchen 
wollte, wem das Verdienst, die sentimentale Idealisirung der ersten 
Zeiten russischer Geschichte bei Karamsin in ihrer ganzen Falschheit 
dargelegt zu haben, gebührt, so muss man dasselbe in bedeutendem 
Grade Katschenowsky zuschreiben. Er zuerst hatte auf die Nothwen- 
digkeit hingewiesen, dass die Nachrichten über die älteste Geschichte 
Russlands einer strengen Kritik unterworfen werden müssten, und 
wenn er in derselben auch zu weit gegangen ist, so hat doch er zuerst 
einer gesunderen Anschauung des russischen Alterthums Bahn gebro¬ 
chen, als es bei Karamsin der Fall war. 

Nächst Katschenowsky ist Polewoi eine bedeutende Erscheinung in 
der russischen Historiographie. Obgleich seine «Geschichte des russi¬ 
schen Volkes» nun vergessen ist, so war sie doch flir die Zeit, in welcher 
sie geschrieben wurde, höchst bemerkenswerth. Wie Katschenowsky, 
war auch Polewoi bestrebt, jene Methode in Anwendung zu bringen, 
welche sich damals in der westeuropäischen Wissenschaft entwickelt 
hatte. Er liess den Vorzügen Karamsin’s volle Gerechtigkeit wider¬ 
fahren, erkannte zugleich aber auch die Mängel desselben. Seine 
Vorbilder waren Niebuhr (dem er seine Geschichte gewidmet hat), 
Guizot, Thierry und Heeren. Sein Ziel war es, eine «philosophische» 
Geschichte zu schreiben, welche nicht nur die äusseren Ereignisse 
wiedergeben, sondern den inneren Zusammenhang derselben dar¬ 
legen, ihre natürliche und nothwendige Folgerichtigkeit beweisen 
sollte. Daher schreibt er eine Geschichte «des Volks», nicht des 
«Reichs». 

Die Ausführung entsprach nicht den Anforderungen, die er selbst 
gestellt hatte; nichts destoweniger sind manche treffende Bemer¬ 
kungen über dies «innere» Leben in seiner Geschichte vorhanden, 
und Forderungen an die Geschichtsschreibung gestellt, welche nicht 
mehr zurückgewiesen werden konnten, und die in dem eifrigen Drin¬ 
gen auf ein eingehenderes Studium der westeuropäischen Historiker 
bestanden. 

Im dritten Jahrzehnt herrschte in der russischen Wissenschaft ein 
ganz besonderes reges Leben, und man könnte sagen, dass in dieser 
Zeit eine neue Periode für die russische Historiographie begann. Den 
äusseren Anstoss dazu gab die Regierung durch die Begründung 
einer archäographischen Expedition, und durch die Massnahmen zur 
Heranbildung von Professoren für die russischen Universitäten. 
Bis dahin war die Herausgabe historischer Denkmäler fast aus- 


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schliesslich die Sache von Privatleuten gewesen; jetzt würdevoll 
der Regierung die archäographische Expedition ausgerüstet, welche 
eine Rundreise durch einen bedeutenden Theil Russlands machte, 
und viel historisches Material aufsammelte, worauf eine archäogra¬ 
phische Kommission die Herausgabe desselben in die Hand nahm; 
diese Dokumente bildeten dann die Basis vielfacher Untersuchungen 
über das russische Alterthum. 

Andererseits wurden viele angehende Professoren ins Ausland 
geschickt, um dort ihre Studien zu vollenden. Obgleich die Regie¬ 
rung ihre eigenen utilitaren Zwecke verfolgte, so fand auch sie, 
dass die einzige Möglichkeit, diese Zwecke zu erreichen, in der Be¬ 
kanntschaft mit der deutschen Wissenschaft wurzelte. Damals 
hatten die deutschen Universitäten noch nicht den verdächtigen 
Ruf, der ihnen später in Russland zu Theil geworden, weil zu jener 
Zeit die zur preussischen Staatsphilosophie erhobene Philosophie 
Hegel’s und die konservative Richtung Savigny's dort herrschten. 
Diese Reisen waren auf die jungen Gelehrten von grossem Einfluss, 
und aus den Biographien derselben und ihren eigenen Schilderungen 
ersieht man, wie tief der Eindruck war, den die Berühmtheiten der 
deutschen Wissenschaft auf die jungen Leute machten. Einige 
trafen noch Hegel, und nach ihm seine nächsten Schüler; die Ju¬ 
risten hörten Savigny, Klenze, Eichhorn, Rudorf, Hans; die Ju¬ 
risten und Historiker — Ranke, Ritter, Böckh, Schleierraacher 
u. s. f. Schon in dem folgenden Jahrzehnt zeigten sich die Resultate 
dieses Studiums; einerseits wandte man zum ersten Male eine 
strenge Kritik bei der Untersuchung der Denkmäler an; anderer¬ 
seits zeigte sich überhaupt eine Erweiterung des historischen Stand¬ 
punktes. 

In dem folgenden, vierten Jahrzehnt, setzten die russischen Ge¬ 
lehrten, wenn auch in geringerer Zahl, die Reisen ins Ausland fort. 
In dieser Zeit tauchte noch ein neuer Zweig der wissenschaftlichen 
Forschung auf — das Studium der slavischen Sprachen und Völker¬ 
schaften, und es wurden wieder mehrere Gelehrte in die slavischen 
Länder geschickt. Diese Forscher: Bodjansky, Gregorowitsch, Ssres- 
newsky, wurden dann die eigentlichen Begründer der wissenschaft¬ 
lichen Erforschung des Slaventhums. 

Unter diesen Einflüssen entsteht in der russischen Geschichts¬ 
schreibung, namentlich was Russlands älteste Geschichte betrifft, 
eine neue Richtung, welche ganz besonders durch Ssolowjew charak- 
terisirt wird. Die Eigentümlichkeit derselben trat gleich bei dem 


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5 ** 

ersten Zusammenstoss mit der alten Schule, welche Pogodin vertrat 
und noch vertritt, zu Tage. 

Die historischen Untersuchungen Pogodin’s betrafen meist die 
älteste Periode der russischen Geschichte, wobei seine Kritik sich 
immer nur auf Einzelheiten einliess, rein äusserlich war, denn es 
verband sich mit derselben eine Feindschaft gegen jede Verallge¬ 
meinerung, welche den Zusammenhang der Thatsachen hätte auf¬ 
klären, auf ihre Folgerichtigkeit, ihre Bedeutung hinweisen, mit 
einem Worte: die innere Entwickelung der Geschichte darlegen 
können; bei ihm, als einem Gegner des «höheren Standpunktes», 
existirt natürlich keine vollkommen entwickelte Anschauung über 
das Ganze der russischen Geschichte, und wenn er es versucht, die 
Schicksale des russischen Volkes zu erklären, so endigen seine Be¬ 
trachtungen mit leeren Phrasen über die Herrlichkeit Russlands, 
über die gewaltige Grösse des Reichs, über die unerforschlichen 
Schicksale, u. s. w. Die russische Geschichte ist ihm aus einer 
Reihe von Wunderthaten zusammengesetzt, welche er betroffen an- 
Staunt, mit Ehrfurcht betrachtet, und bei denen er sich von heiligem 
Schauer ergriffen fühlt. In Folge dieses Mysticismus war ihm auch die 
russische Geschichte der Gegenwart die beste der Welt. Wenn er die 
alte russische Geschichte mit der westeuropäischen verglich, so 
fand er in der letzteren eben so viel Unverstand, Ungerechtigkeit 
und Unterdrückung, wie in der'ersteren Vernunft, patriarchalische 
Güte und Tugend, und seine Selbstgewissheit ging so weit, dass er 
Deutschland mit den am wenigsten entwickelten-russischen Gouver¬ 
nements auf eine Stufe oder, wie er sich ausdrückte, unseren «fünf¬ 
zigsten Gouvernements» gleich stellte. 

Die ersten Arbeiten Ssolowjew’s wurden nun von der historischen 
Schule, deren Repräsentant Pogodin war, des Leichtsinns und fast 
der Durchführung unredlicher Absichten angeklagt, und die Auf¬ 
stellung eines unberechtigten «höheren Standpunktes» ihm zum 
Vorwurf gemacht. Aber man wollte nicht einsehen, dass es jetzt 
nicht mehr willkürlich ausgedachte Theorien waren, denen man un¬ 
genügend beleuchtete und untersuchte Thatsachen unterlegte, son¬ 
dern genau bestimmte allgemeine Schlüsse, welche aus der Reihen¬ 
folge der Thatsachen entsprangen, und welche die lezteren be¬ 
stätigten. 

In seiner Rede, bei Gelegenheit der Vertheidigung seiner Disser¬ 
tation: »Geschichte der Beziehungen zwischen den russischen 
Fürsten des Hauses Rurik» (1847) äusserte Hr. Ssolowjew, dass 


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man sich lange um die Eintheilung der russischen Geschichte be- 
Tcümmert hätte, und dass es nun an der Zeit wäre, dieselbe wieder 
■zu einem Ganzen zusammenzufassen, man müsse erst den Orga¬ 
nismus einer lebendigen Geschichte schaffen, dann würden sich die 
natürlichen und nothwendigen Theile von selbst ergeben. Das war 
ein Standpunkt, der bis dahin in der russischen historischen Lite¬ 
ratur noch nicht zur Anwendung gekommen war, denn jetzt wurden 
die oberflächlichen Vorstellungen über die Epochen der russischen 
Geschichte zur Seite geschoben, und auf die organische Entwicke¬ 
lung desselben hingewiesen. 

Diese neue Richtung, welche viele bedeutende Anhänger fand 
war von jeder Routine frei, und brachte viele neue Methoden in die 
historische Erforschung des nationalen Lebens als eines Ganzen 
hinein. Die Vertreter derselben standen auf der Höhe der histori¬ 
schen Wissenschaft ihrer Zeit. Die Geschichte war ihnen nicht mehr 
eine todte Nomenklatur der Thatsachen im Schmuck der Rhetorik, 
sondern eine theoretische Erklärung eines lebendigen, sich nach ge¬ 
wissen Gesetzen entwickelnden Organismus. Daher erschien ihnen die 
Neuzeit schon nicht mehr abgerissen von der Vergangenheit, daher 
sympathisirten sie mit den Interessen der Literatur, welche für sie 
eine Quelle fruchtbarer Anregungen enthielt. 

Die neue Schule richtete ihre Aufmerksamkeit ganz besonders 
auf die allgemeinen Formen des nationalen Lebens, auf die Idee der 
Gesetze, auf die Entwickelung der Institutionen, u. s. w. Indem man 
"auf diese Weise die allmähliche Entwickelung der politischen Formen 
beobachtete, trug man dieselbe Methode auf die Mythologie über, 
auf die Untersuchung der Sitten und Traditionen. In dieser Bezie¬ 
hung sind namentlich die Werke Kawelins bemerkenswerth, welcher 
zum ersten Mal den Versuch einer eingehenden Erörterung der Er¬ 
scheinungen dieses inneren Lebens der Nation machte. 

In derselben Zeit begann unter dem Einflüsse der deutschen Wis¬ 
senschaft, welcher Russland viel zu verdanken hat, die Erforschung 
der russischen Sprache und der Mythologie, vom Standpunkte der ver¬ 
gleichenden Sprachwissenschaft und der vergleichenden Mythologie, 
welche namentlich Hr. Busslajew und Hr. Afanassjew mit Erfolg 
betrieben. 

Die poetischen und mythologischen Bilder des russischen Alter¬ 
thums erscheinen nun in einer ganz anderen Beleuchtung. Man drang 
viel tiefer in den Gegenstand ein, indem man bis in jene Zeiten hin¬ 
aufstieg, wo der slavische Volkstamm dem allgemeinen arischen 


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Urtypus noch nahe stand. Dann verfolgte man in vergleichender 
Weise die weitere Entwickelung des Mythos, die verschiedenen Um¬ 
wandlungen desselben, bis die alte Weltanschauung auf das Christen¬ 
thum stiess, und theilweise unter dem Einflüsse der neuen Religion 
verschwand, zum andern Theil selbst dem Christenthum ein beson¬ 
deres Gepräge aufdrückte. Die Geschichte der nationalenTraditonen 
zeigte sich nun zum ersten Mal in ihrem wahren Lichte. Die neue 
Kritik war Vieles aufzuhellen im Stande, was unerklärbar erschien, sie 
vermochte aut die innige Verbindung und Folgerichtigkeit da hin¬ 
zuweisen, wo man früher nur den Zufall suchte und fand — das be¬ 
wies, dass die Kritik den richtigen Weg eingeschlagen hatte. 

Das sind im Allgemeinen die Züge der wissenschaftlichen Erfor¬ 
schung des Volksthums bis zu jener Zeit, wo die gegenwärtige 
Periode begann. Um nun diese nur von wenigen hervorragenden 
Geistern erworbenen Anfänge der Selbsterkenntniss und der Selbst¬ 
ständigkeit dem anderen Theile der Gesellschaft übergeben zu kön¬ 
nen, war es nöthig, dass der praktische Werth der gewonnenen Re¬ 
sultate zur Klarheit gebracht werde. Die Literatur aber war zu sehr 
beeinflusst und gebunden, um dies ausführen zu können. So kam es, 
Hacs in der Masse der Gesellschaft die unklarsten Anschauungen 
über die theoretisch gewonnenen Resultate herrschten, und dass die¬ 
selben gar nicht ins Leben hineindrangen, weil sie daselbst keine 
Stütze fanden. 

Auf diese Weise war jn dieser Periode im Vergleich mit der vor- 
angegangenen eine grosse Veränderung vor sich gegangen. Die frü¬ 
heren romantischen Anschauungen starben immer mehr aus, an die 
Stelle des früheren romantischen Interesses für das Volk tritt ein po¬ 
sitives, auf wissenschaftliche Erkenntniss basirtes. Die historischen 
und ethnographischen Untersuchungen gipfelten in dem Bestreben 
in den Kern des nationalen Lebens einzudringen, und wenn dieses 
Ziel auch nicht gleich erreicht wurde, wenn Fehler und Irrthümer 
mit unterliefen, so standen diese Forschungen doch im Ganzen auf 
einer höheren Stufe, als es während der romantischen Periode im 
dritten Jahrzehnt der Fall war. 

Wenn wir nun auf die Erforschung des nationalen Lebens in der 
neuesten Zeit einen Blick werfen, so finden wir, dass sich der Um¬ 
fang derselben bedeutend erweitert hat. Die historische Untersuchung 
wendet sich neuen Stoffen im Geiste einer neuen Richtung zu. 

Ein Ausfluss dieser neuen Richtung in der Historiographie ist die 
sogenannte föderative Theorie. Diese Theorie stand vor Allem zu 




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der Centrallsationstheorie im Gegensatz, indem ihr zufolge neben 
dem Strome staatlicher Entwickelung noch ein Strom nationalen 
Lebens als bestehend hingestellt wurde, ein Strom, welcher sich nicht 
immer mit dem ersten vereinigte. Die Vertreter dieser Theorie gaben 
es nicht zu, dass das Volk, nachdem es ein Mal den Staat gebildet 
sich von jeder Autonomie losgesagt und dieselbe unentwendbar dem 
Staate übergeben hätte; der Staat war vom Standpunkte dieser Theorie 
durchaus keine so ideale Institution, welche ein für alle Mal geschaffen 
wird, und eine unfehlbare Autorität bleibt, sondern im Gegent hei 
eine ganz gewöhnliche Institution mit vorübergehenden Formenl 
deren Charakter in letzter Instanz durch die Vorstellungen und die 
Bedürfnisse der Masse bestimmt wird. Was in den nationalen Bewe¬ 
gungen der früheren Jahrhunderte von den Anhängern der Centrali¬ 
sationstheorie als «anti-staatlich» bezeichnet wurde, war vom Stand¬ 
punkte der föderativen Theorie eine Kundgebung der natürlichen 
Instinkte des nationalen Lebens, wejche zwar in eine falsche Bahn 
gerathen konnte, nichts destoweniger aber vollkommen natürlich und 
gesetzmässig waren, und nur daher anti-staatlich wurden, weil ihnen 
in dem bestehenden Staate nicht Genüge gethan wurde. Die natio¬ 
nalen Bewegungen der alten Zeit enthalten nicht den Kampf der ab- 
Jebenden nationalen Autonomie mit dem neuen staatlichen Elemente 
welchem allein die Zukunft gehört, sondern im Gegentheil den Streit 
zweier Elemente, welche beide gleich berechtigt sind; wenn den Um. 
ständen der Zeit gemäss, der Staat den Sieg gewann, so ist damit 
eine neue Lösung der nationalen Frage in der Zukunft doch nicht 
aufgehoben. 

So beginnt nun, wie man sieht, zugleich mit der Entwickelung de 
historischen und ethnographischen Studien, ein regeres sociales und 
nationales Leben, welches in den wissenschaftlichen Theorien zum 
Ausdruck kommt. 

Die nun beginnende Zeit der Reformen im inneren Leben Russ 
lands machten ferner die Erforschung neuer Seiten nationalen Seins 
möglich. Die Basis dieser Reformen war die Aufhebung der Leib¬ 
eigenschaft. - Die beiden Beweggründe dieser Reform entsprangen: 
der moralische — aus dem Erkenntniss des ungerechten Druckes, 
der auf einem grossen Theil des Volkes lastete, und der materielle — 
aus der Ueberzeugung von dem schädlichen Einflüsse der Leibeigen¬ 
schaft auf die ökonomische Lage des Landes. Beide Beweggründe 
kamen erst jetzt, als die Möglichkeit der offenen Besprechung dieser 
Institution gegeben war, zum rechten Bewusstsein. Diese Reform- 


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frage war so richtig, griff so bedeutend in das ganze staatliche und 
nationale Leben Russlands hinein, dass man wohl ohne Uebertrei- 
bung sagen kann: erst mit der Bauernfrage beginnt in der russischen 
Gesellschaft das Bestreben der Selbsterkenntnis, der Ergründung 
der Elemente und des Inhaltes des eigentlichen nationalen Lebens. 
Erst die Aufhebung der Leibeigenschaft machte die Beleuchtung des 
Begriffes «Volk» im rechten Lichte möglich, indem das Volk nun 
aufhörte, eine seltsame Fiktion und eine traurige Ironie zu sein. 

Die Gewährung des Bürgerthums an das leibeigene «Volk» musste 
natürlicher Weise von einer grösseren Aufmerksamkeit für die Schick¬ 
sale der Volksmassen begleitet sein. So verbesserte die föderative 
Theorie, welche in dieser Zeit aufkam, die früheren Anschauungen, 
indem sie ausführte, dass die nationalen Bewegungen der vorange¬ 
gangenen Geschichte nicht «anti-staatliche» Gährungen waren, son¬ 
dern im Gegentheil Kundgebungen nationaler Elemente und natür¬ 
licher nationaler Bestrebungen. In demselben Sinne begann man 
jetzt die Erforschung der religiösen nationalen Bewegung — des 
Raskol. Man fand, dass man den Ursprung desselben nicht in den 
aufrührerischen Neigungen der ungebildeten Masse, sondern in dem 
ganzen Zustande der Zeit, in welchem er entstanden war, zu suchen 
hätte. Man ging sogar noch weiter. Man erklärte, dass diejenigen 
Begriffe, welche später als dem Raskol besonders zugehörig betrachtet 
wurden, den eigentlichen Inhalt der Weltanschauung des Volkes im 
siebenzehnten Jahrhundert bildeten, d. h. die eigentliche Religion des 
Volkes in jener Zeit. Die Wurzeln dieser Religion lagen in den voran¬ 
gegangenen Jahrhunderten, als das Christenthum zuerst die Gemüther 
erfasste, aber bei dem niedrigen Zustande der Civilisation des Volkes 
nicht in der vollen Reinheit aufgenommen werden konnte, wie die 
Dogmatik der späteren Zeit es forderte, sondern unter dem Einfluss 
der frühere# Anschauungen Eingang fand, ^s dann der Patriarch 
Nikon die dogmatische Reinheit gewaltsam wahren wollte, nahm das 
Volk natürlich die alten Traditionen in Schutz, in welchen es den 
«wahren» Glauben erblickte. Später von der Regierung verfolgt, 
gerieth der Raskol auf verschiedene Irrwege, blieb aber doch seinen 
religiösen Traditionen treu. 

Eine solche Erklärung stand der Wahrheit jedenfalls näher, als 
die früheren Auffassungen, und zeigte ausserdem eine rege Liebe zum 
Volke. Zugleich sprach sich aber auch in der Literatur eine neue 
Auffassung aus, welche die Forderung religiöser Toleranz und der 
Gewissensfreiheit aussprach, eine Forderung, welche Russland nur 


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den Ideen der westeuropäischen Civiisation zu verdanken hat, und 
von welcher in den Traditionen der russischen Geschichte keine Spur 
zu finden ist. 

Ferner gehört der letzten Zeit die sehr verbreitete Neigung für 
die neueste Geschichte Russlands. Bis dahin gab es nur eine rein offi- 
cielle Geschichte oder eine Kriegsgeschichte, und so war die Erfor¬ 
schung der Begebenheiten des vorigen und des laufenden Jahrhun¬ 
derts in ihren eigentlichen bewegenden kleinen und grossen Ursachen 
eine ganz neue Erscheinung. Wenn im Grunde auch keine abge¬ 
schlossenen Werke existiren, wenn es meist nur rohes Material ist, 
was dem Publikum geboten wird, so hat es demselben doch einen 
interessanten Einblick in bis dahin unzugängliche Zustände erschlos¬ 
sen. Wie ungenügend auch im Ganzen die Lage der Literatur der 
neuesten russischen Geschichte bis jetzt noch ist, so bildet sie doch 
einen vortheilhaften Gegensatz zu dem, was noch ein Jahrzehnt früher 
existirte. 

Endlich ist die neue Periode des socialen Lebens noch durch einen 
neu eröffneten Stoff der Forschung bemerkenswerth — die Erfor¬ 
schung der ökonomischen Verhältnisse Russlands. Früher sehr in 
Grenzen gehalten, kam dieser Gegenstand erst jetzt mit der Aufhe¬ 
bung der Leibeigenschaft zu seiner vollen Geltung, indem er unend¬ 
lichen Reichthum an Material darbot zur Erkenntniss des wirklichen 
nationalen Lebens. Zum ersten Mal that sich vor den Augen des 
Publikums ein wahres Bild nationaler Zustände und des Lebens des 
Volkes auf, und so wurde der Gesellschaft, welche sich so lange vom 
Volke fern gehalten hat, nun wieder die Möglichkeit gegeben, das 
moralische Band wieder fester zu knüpfen, welches allein die Basis 
echter Bildung und segensreicher Entwickelung abgeben kann. 

In dieser ganzen geistigen Bewegung nun, welche mit dem Krim¬ 
kriege ihren Anfang genommen hatte, findet man nicht wenig Merk¬ 
male wahrhafter nationaler Selbsterkenntniss, und jetzt erst begann 
in Wirklichkeit das offene Wirken der öffentlichen Meinung und der 
Literatur auf dem Gebiete der inneren Politik. 

Was aber die Mittel betrifft, durch welche diese Selbsterkenntniss 
gewonnen wurde, so muss doch wieder darauf hingewiesen werden, 
dass die wissenschaftliche und theoretische Basis derselben auf den 
Lehren westeuropäischer Wissenschaft und westeuropäischer Erfah- 


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rung ruht, wenn diese Selbsterkenntniss auch aus den natürlichen in¬ 
neren Bedürfnissen der geistigen Entwickelung hervorgegangen ist l . 

W. Belinsky und seine Kritik. 

Im dritten Jahrzehnt beginnt im russischen Geistesleben die Ent¬ 
wickelung einer neuen Richtung, welche erst im vierten Jahrzehnt 
vollkommen heranreifte, und die gewöhnlich mit dem Namen W. Be- 
linsky’s verbunden wird. Die Slavophilen gaben ihr den Namen der 
•westeuropäischen Richtung», jetzt aber pflegt man sie «die Rich¬ 
tung des vierten Jahrzehnts» zu benennen. Der Name Belinsky’s 
kann gerechter Weise bei dieser Richtung verbleiben, denn wenn er 
auch nicht der leitende Repräsentant derselben war, so ist er doch 
einer der feurigsten Anhänger der neuen Ideen gewesen, und ohne 
Zweifel ihr thätigster und beredtester Apologet. 

Die Richtung Belinsky V bildet die Hauptbasis der literarischen 
und socialen Bewegung innerhalb des vierten Jahrzehnts: sie spie¬ 
gelt in vollkommener Weise die Kraft und das Wesen des geistigen 
Lebens in jener Periode ab; sie ist zugleich der Ausgangspunkt der 
progressiven Bestrebungen unserer Tage. 

Die Richtung Belinsky’s nahm ihren Anfang in einem kleinen 
Kreise junger Leute an der Moskauer Universität, bei denen die 
HegePsche Philosophie die Basis bildete, welche allen ihren An¬ 
schauungen zu Grunde lag. Wie in Deutschland, so hatte dieses 
philosophische System auch in Russland auf alle jungen Gemüther 
einen mächtigen Eindruck gemacht. Alles, was im Geiste dieses 
Systems in Deutschland geschrieben wurde, verschlang man mit 
unersättlichem Interesse und verbrachte ganze Tage nnd Nächte in 
unermüdlichen Diskussionen über jeden Paragraphen, über jedes 
Wort der philosophischen Lehre Hegel’s. Dieser Enthusiasmus für 
die neue Philosophie beseitigte mit einem Schlage die früheren ro¬ 
mantischen Theorien, und machte nun zum ersten Mal eine fast be¬ 
stimmte, rationelle Kritik möglich. 

Aber trotz des Enthusiasmus für die neue Lehre wandte man 
sich derselben doch mit einem gewissen kritischen Sinne zu, und 
verarbeitete sie in vollkommen selbstständiger Weise. 

Daher ist siein jenemKreise nie zu einem starren Dogma geworden, 
sondern hat nur die Basis der weiteren Entwickelung abgegeben. 

1 Die nun folgenden Kapitel «Die russischen Slavophilen» und: «Der Dichter Gogol» 
findet der Leser in Bd. II. p. 45 f., 160 ff. und 261 ff. und Bd. III. p. 240 ff. der 
•Russischen Revue». 


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Diese Entwickelung nahm nun einen ganz natürlichen Verlauf. 
Belinsky und seine Freunde konnten auf dem ersten philosophisch¬ 
idealistischen Standpunkt nicht stehen bleiben. Verschiedene Um¬ 
stände trugen dazu bei, dass der abstrakte Gedanke sidi der Wirk¬ 
lichkeit zu nähern begann und eine andere Bahn einschlug. 

Diese «Wirklichkeit», welche bis jetzt theoretisch erklärt worden 
war, musste mit jedem Schritt in das praktische Leben hinein an 
Klarheit zunehmen, und die unüberwindlichen Schwierigkeiten der 
Versöhnung derselben mit der «Vernünftigkeit» mussten Belinsky 
sogleich in die Augen fallen. Die Lebenserfahrung hatte ihm schon 
früh die düsteren Seiten der'Wirklichkeit aufgedeckt, deren theo¬ 
retische Versöhnung keine leichte Sache war. Als er dann endlich 
aus Moskau nach St. Petersburg übersiedelte, befreite ihn das Leben 
in dieser Stadt immer mehr und mehr von dem Selbstbetrug der ab¬ 
strakten Theorien: der Einfluss der «Wirklichkeit» war hier beson¬ 
ders stark und fühlbar, and man musste ganz besonders zur Selbst¬ 
täuschung geneigt sein, um auch jetzt noch bei den früheren ideali¬ 
stischen Anschauungen zu verharren. 

Ausserdem traten noch andere Einflüsse hinzu, welche ihn in seinen 
neuen realistischen Ideen bestärkten. 

Die Haupteigenthümlichkeit des Talentes von Belinsky bestand in 
der Fähigkeit eines lebendigen Verständnisses der Kunst, seinHaupt- 
verdienst in der Heranbildung der russischen Kritik und der Ge¬ 
schichte der russischen Literatur vom ästhetischen Standpunkte. In 
dem ersten Artikel, mit welchem er das kritische Gebiet betrat, 
stellte er gleich die theoretischen Begriffe fest, aus welchen sich 
dann allmählich seine späteren Anschauungen entwickelten. Seine 
ästhetische Kritik begann mit der Theorie des unbewussten Schaf¬ 
fens; aber im selben Masse wie der philosophischeNebel von seinen 
Augen fiel, verliess er allmählich den ursprünglichen Standpunkt, und 
wandte sich immer mehr und mehr der Theorie des bewussten 
Schaffens und den Forderungen des Lebens und der Gesellschaft zu. 
Die Kunst ist ihm dann nicht mehr das unbewusste Schweben des 
Künstlers in höheren Sphären, sondern bloss einMittel des Ausdrucks 
für die Lebenserscheinungen, zur Erklärung des Lebens, zum Ver¬ 
ständnis des Lebens. Hiermit betrat die Kritik den publicistischen 
Boden, nachdem siebisdahin nur dem Abstrakten, dem Didaktischen, 
dem Dilettantismus gehuldigt hatte. Seitdem stand die Literatur 
auf dem Boden des wirklichen Lebens, spiegelte die geistigen Strö 


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muQgen desselben ab; in dem Kampfe für diese Ideen hat Be- 
linsky eine bedeutende Rolle gespielt. 

Seine Thätigkeit fand zugleich in der natürlichen Entwickelung: 
3er Literatur eine beachtenswerthe Stütze. In dem vierten Jahrzehnt: 
bot die Literatur ein interessantes Bild des neu erwachenden Lebens 
dar. Zur selben Zeit, als man theoretisch die Nothwendigkeit eines 
realen Inhalts für die Literatur zu beweisen bemüht war, traten plötz¬ 
lich so bedeutende Talente, wie Gogol, Kolzow, Lermontow auf, 
welche denselben Weg einschlugen. Hier fand man endlich das na¬ 
tionale Leben in seiner vollen Wahrheit dargestellt. 

Das Zusammenfallen der theoretischen Entwickelung der Begriffe 
mit den Erzeugnissen der poetischen Literatur weist darauf hin, dass 
eine historische Nothwendigkeit diesen Erscheinungen zu Grunde 
lag. Dass Belinsky dies einsah, indem er gleich bei dem Erscheinen 
des ersten Werkes von Gogol den vollen Werth desselben erkannte 
und ihn so bedeutend hervorhob, muss ihm ebenfalls als ein grosses 
Verdienst angerechnet werden. 

Wie wir oben bereits bemerkt haben, war Belinsky einer der feu¬ 
rigsten Anhänger der «westeuropäischen» Richtung. Ungeachtet 
dessen war er durchaus unparteiisch in der Würdigung der Slavo- 
philen. Er bestritt ihre Meinungen über die russische Geschichte, 
die russische Civilisation, die russische Nationalität; aber zugleich 
liess er ihreraufrichtigenund selbstständigen Ueberzeugung volleGe- 
rechtigkeit widerfahren. In diesem Streit gegen die Slavophilen kamen 
dann auch die Ideen zum Ausdruck, welche er selbst vertrat. So hat¬ 
ten ihm die Slavophilen den «äussersten Europäismus» zum Vorwurf 
gemacht; er entgegnet ihnen darauf: 

«Der Werth dertheoretischenUntersuchungenhängt von ihrem Ver¬ 
hältnis zur Wirklichkeit ab. Was für uns Russen noch Fragen von 
äusserlicher Wichtigkeit sind, das hat das westliche Europa schon 
längst überwunden, das ist dort schon längstzurWahrheit geworden, 
ist in das Leben eingedrungen und Niemand zweifelt mehr daran, nie 
wird darüber gestritten, weil Alle darüber einig sind. Und—was noch 
mehr sagen will — das Leben selbst hat diese Fragen gelöst, und 
wenn die Theorie dabei auch mitgewirkt hat, so geschah es nur mit 
Hilfe der Wirklichkeit. Aber das muss uns nicht die Lust und die 
Kühnheit rauben, auch unsererseits uns mit der Lösung dieser Fragen 
zu beschäftigen, denn so lange wir diese nicht selbst gelöst haben, 
werden wir gar keinen Nutzen von dem haben, was in Westeuropa 
geschehen ist. Zu uns hinübergetragen sind diese Fragen dieselben. 


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und doch nicht dieselben, denn sie erfordern eine andere Lösung. 
Jetzt (1847) handelt es sich in Europa um neue grosse Fragen. Man 
kann und soll an denselben Interesse finden, dieselben verfolgen, da - 
uns nichts was menschlich ist, fremd sein soll, wenn wir Menschen 
sein wollen. Aber zugleich wäre es ein durchaus fruchtloses Bemühen, 
diese Fragen als unsere eigenen aufzufassen. Nur das gehört uns in 
denselben, was auf unsere Lage anwendbar ist; alles Uebrige ist 
uns fremd, und wir würden die Rolle des Don Quixote spielen, wenn 
wir uns deswegen ereifern wollten. Wir würden dadurch mehr den 
Spott Westeuropa^ auf uns ziehen, als dessen Achtung. Bei uns, in 
uns, um uns—hier müssen wir dieFragen und derenLösung suchen. 
Diese Richtung wird Früchte tragen, wenn auch keine glanzenden Re¬ 
sultate erzielt werden. Und die Anfänge dieser Richtung finden wir 
in der gegenwärtigen russischen Literatur, in den Anfängen erblicken 
wir aber die Bürgschaft für die nahe Reife derselben.» 

Diese nahe Reife der Literatur sah Belmsky aber in der Hinnei¬ 
gung zu der realen Wirklichkeit, zur Erkenntniss der Erscheinungen 
des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens. Daher vertheidigte er 
so eifrig die sogenannte «natürliche» Schule, welche zuerst das 
Leben und Denken der unteren Schichten des Volkes zu schildern 
begann; er nimmt diese Schule gegen den Vorwurf des Utilita¬ 
rismus in Schutz, und erklärt, dass der Nutzen, der aus diesen 
Werken für die Gesellschaft entspringt, dem ästhetischen Werthe 
derselben gar nicht nachtheilig sein könne: 

«Der Lehrer der politischen Oekonomie beweist mit den statis¬ 
tischen Zahlen an der Hand, indem er die Vernunftthätigkeit seiner 
Leser oder Zuhörer in Anspruch nimmt, dass sich die Lage dieser 
oder jener Klasse der Gesellschaft verbessert oder verschlechtert 
hat, in Folge dieser und jener, Ursachen. Der Dichter zeichnet das 
lebendige uud helle Abbild der Wirklichkeit, indem er auf die 
Phantasie der Leser wirkt, und zeigt dadurch, dass sich die Lage 
einer gewissen Klasse der Gesellschaft in der That verbessert oder 
verschlechtert habe. Der Eine beweist, der Andere zeichnet, beide 
aber überzeugen , der Eine durch logische Schlüsse, der Andere durch 
Bilder. Doch den Ersten hören und begreifen nur Wenige, den 
Andern — Alle. Das höchste und heiligste Interesse der Gesellschaft 
muss in der eigenen, auf alle Glieder sich in gleicher Weise er¬ 
streckenden Wohlfahrt liegen. Das Mittel zu dieser Wohlfahrt ist 
die Selbsterkenntniss; zur Selbsterkenntnis kann aber die Kunst 

Kuss. CeYue. Bd. VII. 34 


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eben so viel beitragen, wie die Wissenschaft. Hier sind Wissen¬ 
schaft und Kunst gleich nothwendig». 

Auf diese Weise war das positive Ziel der Literatur klar hinge¬ 
stellt worden, die Bedeutung derselben für das Gemeinleben darge¬ 
legt; in dem Wirken für dieses Ziel liegt der bleibende Werth der 
journalistischen Thätigkeit Belinsky *s. Das Grundprinzip, welches er 
vertrat, für welches er von Anfang bis zu Ende so lebhaft und lei¬ 
denschaftlich eiferte, war — die Aufklärung im westeuropäischen 
Sinne. Nur in der allgemeinen Aufklärung, in der Bildung erblickte 
er die Bürgschaft für eine bessere Zukunft. Unter dem Druck der 
damaligen Verhältnisse war es ihm unmöglich, seine Gedanken in 
klarer und konsequenter Weise darzulegen; aber auch innerhalb 
der engen Grenzen der literarischen Kritik hat er Grosses geleistet, 
und einen im höchsten Grade wohlthätigen, sittlichen Einfluss 
auf die Literatur und auf die Geister der neuen Generationen aus¬ 
geübt 

Zugleich war Belinsky der eigentliche Begründer der neueren Ge¬ 
schichte der russischen Literatur. Er machte der früheren system¬ 
losen Anschauung ein Ende, wonach die Literaturgeschichte nur 
ein inhaltsloser Katalog mit willkürlich ertheiltem Lob und Tadel 
war, und wies zuerst in der Geschichte der Literatur den histori¬ 
schen Charakter streng folgerichtiger Entwickelung nach. Auch 
jetzt noch behalten seine ästhetischen Beurtheilungen alter und 
neuer Dichter ihren vollen Werth bei und können niemals um¬ 
gangen werden. 

Wenn aber die neuere Kritik auch so manchen faktischen Fehler 
bei ihm aufdeckt, nicht in der ästhetischen Beurtheilung, sondern in 
historischen und anderen Thatsachen, welche auf ein lückenhaftes 
Wissen hinweisen, so bleiben nichtsdestoweniger jene Worte eines 
seiner Zeitgenossen aus dem feindlichen Lager der Slavophilen 
durchaus wahr und im höchsten Sinne gerecht. 

«Die innigste Sympathie im Leben wie im Tode hat der Mensch 
verdient, der selbst innig und rücksichtslos alles Edle, Schöne und 
Grosse zu lieben verstand. Furchtlos im Kampf für die Wahrheit 
hat Belinsky sich nie von der Lüge loszusagen gezaudert, sobald er 
sie eingesehen, und hat Denjenigen, welche ihm Veränder¬ 
lichkeit der Meinungen vorwarfen, stolzen Muthes erwidert, dass 
nur Derjenige die Meinung nicht ändert, dem die Wahrheit nicht 
theuer ist. Er schien so geschaffen, als könne seine Natur der 


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5*3 


Wahrheit nicht widerstehen, wie sehr dieselbe den früheren An¬ 
sichten auch widersprechen mochte, welche Opfer es auch kosten 
sollte. Kühn und offen erklärte er das für genial, was er dafür hielt, 
und irrte sich darin, Dank seinem kritischen Gefühl, nur selten. 
Eben so kühn und offen deckte er das auf, was ihm falsch und 
schwülstig erschien, oft im Gegensatz zu den eingewurzelsten An¬ 
schauungen. Wie viele Andere, liess auch er sich von der ab¬ 
strakten Theorie hinreissen, aber es lag in ihm ein Etwas, das höher 
war als alle Theorie, was nur Wenige besitzen. Im vollen Sinne 
des Wortes ein Sohn seiner Zeit, war er derselben nicht vorausgeeilt, 
und durfte derselben auch nicht vorauseilen. Wenn Belinsky in un¬ 
seren Tagen gelebt haben würde, stände er auch jetzt an der 
Spitze der Bewegung der kritischen Selbsterkenntniss, und zwar aus 
dem einfachen Grund, weil er sich die hervorragendste Eigentüm¬ 
lichkeit seiner Natur bewahrt hätte: die Unmöglichkeit, im Kampfe 
für die Wahrheit, für die Kunst, das Leben, in der abstrakten Theorie 
zu verknöchern». 


Die Fortschritte der geologischen Beschreibung 
Russlands in den Jahren 1873 und 1874. 

Von 

Prozessor Barbot de IMarny *. 

Im Jahre 1873 gaben wir eine kurze Uebersicht der in Russland 
im vorhergehenden Jahre ausgeführten geologischen Arbeiten 4 . Die 
vorliegende Arbeit bringt eine genauere Uebersicht der Fortschritte 
der Beschreibung Russlands in geologischer Beziehung für die zwei 
letzten Jahre und enthält eine Menge systematisch geordneter Anga¬ 
ben, die aus den einzelnen einschlägigen Schriften zusammengestellt 
worden sind. Wir geben zuerst die Angaben über das europäische 
Russland, dann die über das Uralgebirge, über Sibirien und zuletzt 
über den Kaukasus. Bei der Uebersicht der geologischen Erfor- 

* In rassischer Sprache ist die vorliegende Arbeit gedruckt im TopH. JKypiuun» 1875. 

* s. «Russ Revue» 1873. Bd. UL p. 476 ff. 

34 # 

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5*4 


dctiung des europäischen Russlands nehmen wir die verschieden«! 
Formationen nach ihrem Alter durch, beginnen mit den ältesten 
und schliessen mit den Alluvialschichten. 

Das europäische Russland. 

Die krystallinischen Gesteine, als Granit, Gneiss, Schiefer, die unter 
den Alluvial-, Tertiär-, Kreide , Kohlen- und sibirischen Ablage¬ 
rungen an verschiedenen Stellen auf einer enormen Fläche, von den 
Ufern des Don im Gouvernement Woronesh bis zum Dnjestrund 
südlichen Bug, hervortreten, war ich schon vor langer Zeit geneigt 
ür alte metamorphorisirte sedimentäre Ablagerungen anzusehen. 
Diese meine Ansicht basirte auf einen vollkommenen Mangel jeglicher 
Beweise des eruptiven Ursprunges dieser Gesteine, sowie besonders 
auf dem durchgehend schichtenartigen Charakter derselben. Die 
Ablagerung der horizontalen Schichten der silurischen Formation 
über diesen im Podolischen Gouvernement zu Tage tretenden Ge¬ 
steinen dokumentirt das hohe Alter derselben, und meine Ansicht 
hierüber wurde noch dadurch bestärkt, dass in Nordamerika die 
Hauptmassen von Labrador, welcher als selbstständiges Gestein auf- 
tritt, zu dem laurentischen System gehören. Auf einer kleinen geolo¬ 
gischen Karte der Umgebungen von Kriwoi-Rog (an der Grenze der 
Gouvernements Chersson und Jekaterinosslaw) von H. Strippelmann 1 
finden wir das Laurentische und Huronsystem sogar mit verschiedenen 
Farben angegeben. Hr. Strippelmann hat natürlich nicht bewiesen, 
dass diese Gesteine zu den genannten Systemen gehören, wenigstens 
ührt er keine derartigen Beweise an; wir vermuthen, dass Hr. Strip¬ 
pelmann wahrscheinlich dem im Handbuch der Geologie von Credner 
gegebenen Beispiele folgt, und alle alten Granitgneisse dem Lorenzsy¬ 
stem und die alten Schiefer dem Huronsystem zuzählt. Uebrigens hat 
Hr. Blümel, welcher auf Antrag des Kijew’schen Naturforscher-Ver¬ 
eins im Chersson’schen Gouvernement geologische Untersuchungen 
angestellt hat 2 , unlängst ausgesprochen, dass dierfebung der krystal- 
linsichen Schiefer, aller Wahrscheinlichkeit nach, in derTertiärperiode 
stattgefunden hat und namentlich in der Epoche, welche der Ablagerung 
der Etage des weissen Sandes folgte. Hr. Blümel begründet die von 
ihm geäusserte Meinung darauf, dass er an einer Stelle Gelegenheit 
hatte, «die Ablagerung des weissen Sandes auf dem zu Tage tre- 

1 Strippelmann. Südrusslands Magneteisen und Eisenglanzerzlagerstdtten. 1873. 

* Memoiren de» Kijew’schen Naturforscher-Vereins 1873. III, p. 328 und 331. 


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525 


tenden Quarzschiefer* zu beobachten. Wir müssen gestehen, dass 
eine solche Folgerung nicht nur für ungeologisch, sondern auch ein¬ 
fach als unlogisch erklärt werden muss. Ganz anders würde sich die 
Sache verhalten, wenn Hr. Blümel die Schichten des weissen Sandes 
nicht direkt auf dem Schiefer, sondern irgendwo in der Nähe des¬ 
selben und in gehobener Lage beobachtet hätte; dann könnte man 
die Behauptung aufstellen, dass die Sandschichten vom Schiefer ge¬ 
hoben worden seien, doch finden wir bei Hrn. Blümel kein Wort über 
eine derartige Lage der Sandschichten. 

In der Beschreibung der von Hrn. Klemm 1 im Aufträge des 
Charkower Naturforscher-Vereins angestellten Beobachtungen fin¬ 
den wir allgemeine Angaben über die Lagerungsverhältnisse der 
krystallinischen Gesteine in der Gegend am Dnjepr. Beim Beob¬ 
achten der Art des Auftretens krystallinischer Gesteine sieht man, 
nach Aussage von Hrn. Klemm, wie diese zuerst von den neueren Bil¬ 
dungen in einzelnen Gruppen hervortreten, und in einer bestimmten 
Richtung kommen diese einzelnen Gruppen der krystallinischen 
Gesteine immer häufiger an die Oberfläche, bis sie sich endlich zu 
einer gemeinsamen Masse verbinden. Eine genauere Untersuchung 
dieser Gesteine zeigt, dass die hervorgetretenen Massen grössten- 
theils ein bestimmtes Fallen haben, was als Beweis dafür dienen kann, 
dass die Schichten aus der Tiefe nur in einzelnen Gruppen, nicht 
aber in einer gemeinsamen Masse emporgehoben wurden. Es kommt 
oft vor, dass in tiefen Schluchten, die zwischen zwei nahe bei ein¬ 
ander liegenden einzelnen Gebirgsgruppen gelegen sind, die kry¬ 
stallinischen Gesteine nicht zu Tage treten; während in anderen 
Fällen schon sehr geringe Abspülungen jene Schichten bloss legen. 
Die von Hrn. Klemm angestellten Untersuchungen bestätigen im 
Allgemeinen die von Professor Le vakowsky ausgesprochene Meinung, 
dass der weltliche Theil der Dnjepr’schen krystallinischen Fläche 
seiner Tektonik nach Reihen vonFalten und Brüchen darstellt, welche 
sich als unbedeutende, sich bald einander nähernde, bald weiter 
von einander entfernende Gebirgsketten in zwei Hauptrichtungen 
erstrecken (SW — NO, NW — SO) und sich an bestimmten Stellen 
kreuzen. 

Zwischen den in Südrussland auftretenden krystallinischen Ge¬ 
steinen giebt es aber auch solche, die als eruptive anzusehen sind. 
Hierzu gehören vielleicht die Granite aus einigen Gegenden; doch 

1 Verhandlungen des Naturforscher-Vereins an der Charkower Universität. 1874. VIII. 


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526 


ein besonderes Interesse verdienen der Anamesit und Porphyrit. 
Ersteres Gestein aus der Gegend der Dörfer Berestovzy und Slasnja, 
circa 35 Werst nördlich von der Stadt Rowno im Wolhynischen Gou¬ 
vernement, ist von dem Professor Karpinsky genau untersucht und 
beschrieben worden l . Dieses dichte, schwarz gefärbte Gestein, in 
welchem die Säulenstruktur ausgezeichnet zu sehen ist, erwies sich, 
nach mikroskopischer Untersuchung, als aus klinoklastischem Feld- 
spath, Augit, Olitin und Magneteisenstein bestehend; zugleich wur¬ 
den in diesem Gestein Einschlüsse von Glas und eine Beimischung 
von gediegenem Eisen gefunden. Das Gestein wird in genannter 
Gegend von horizontalen Kreideschichten überlagert. Ein anderes 
interessantes Gestein, welches im Kreise Owrutsch, des Wolhynischen 
Gouvernements, von Hm. Ossowsky entdeckt und von ihm mit dem 
Namen Wolhynit bezeichnet worden ist, wurde von Hrn. Muschke- 
tow untersucht *. Dieses Gestein, welches aus einer schwarzen fein¬ 
körnigen Grundmasse mit grossen abgesonderten Krystallen von 
Oligoklas besteht, erwies sich als Porphyrit; die Grundmasse dessel¬ 
ben besteht aus einem Aggregat von Hornblende und Oligoklas, 
mit Beimischung von Magneteisenstein und Schwefelkies. 

Von den krystallinischen Gebilden Südrusslands gehen wir nun zu 
denen des Nordens, in den Gouvernements Olonetz, Archangel und 
in Finland, über. Die Landschaft des Gouvernements Olonetz 
hat nun schon zwei Jahre nach einander den Professor Ino¬ 
stranzow zu geognostischen Untersuchungen aufgefordert, um die 
in genanntem Gouvernement befindlichen Mineralschätze zu er- 
schliessen. Da die detaillirten Berichte des Hrn. Inostranzow noch 
nicht publicirt sind, so gehen wir sofort zu den Forschungen der 
Hrn. Ludwig und Kulibin über. 

Hr. Rudolph Ludwig, Direktor an der Darmstädtischen Bank, hat 
öfters Gelegenheit gehabt, verschiedene Theile von Russland zu be¬ 
suchen zum Zweck einer Taxirung der an verschiedenen Orten ent¬ 
deckten Lagerstätten von nutzbaren Mineralien. Als Resultat ähn¬ 
licher Besuche erscheinen gewöhnlich flüchtige geologische Notizen 
desHrn.Ludwig, denen bisweilen geologische Karten beigegeben sind; 
doch wird wohl schwerlich selbst der Zusammensteller dieser geok> 
gischen Karten die Genauigkeit der Grenzen der auf ihnen angegebe- 


1 Sammlung von Schriften zur Feier des 100-jährigen Jubiläums des Berg-Instituts. 
1873. H, p. 1. 

* Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. Zweite Serie. AH, p. 320. 


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527 


nen Formationen behaupten können. Im Olonetz’schen Gouverne¬ 
ment wurde von Hrn. Ludwig die Gegend an den Flüssen Semtscha 
und Suna im Kreise Powenetz, untersucht *. Von alten Gesteinen 
wurden von ihm hier: Dolomit, Talk-Chloritschiefer, Quarzitschiefer, 
Quarz-Breccia, Epidoth-Diorit, Magnetit-Diorit und Granit beobach¬ 
tet. Den Angaben des Hrn. Ludwig zufolge bilden diese Gesteine 
gewöhnlich abwechselnde, dem Meridiane folgende, Streifen. Unter 
den sedimentären Schichten hält Hr. Ludwig die des Quarzitschiefers 
für die ältesten; im Chloritschiefer hat er sogar Versteinerungen ge¬ 
funden; dieser Schiefer wird von einem Quarz-Konglomerat überdeckt, 
während die Quarz-Breccia näher zum Quarzitschiefer steht. Der 
Dolomit aber gehört, nach der Ansicht des Hrn. Ludwig, vielleicht 
zum Devonischen System, so wie auch der Thonschiefer, der gewöhn¬ 
lich von Diorit überdeckt ist Den Quarzitschiefer und die Breccia 
hält Hr. Ludwig für identisch mit dem sogenannten Onega-Sandstein. 
Von den eruptiven Gesteinen ist das älteste, aller Wahrscheinlichkeit 
nach, der Granit, dann kommt das Epidoth- Gestein und zuletzt der 
Diorit, welcher reich an Magnetit ist. Das interessanteste von Hrn. 
Ludwig in seiner Schrift mitgetheilte Faktum ist die Entdeckung von 
Korallen im Talk-Chloritschiefer, vier Werst nordöstlich vom Dorfe 
Koikory. Diese in weissen, dichten Quarz verwandelten Korallen ge¬ 
hören, nach Hrn. Ludwig, zur Gattung Cystiphyllum; er erklärt die¬ 
selben für eine neue Art (C. gracile). Diese Entdeckung dürfte 
von grossem Interesse sei, wenn die von Hrn. Ludwig gefundenen 
Reste wirklich nicht bloss eine Art von Konkretionen im Schiefer dar- 
steflen, obgleich nach denselben das geologische Alter des sie ent¬ 
haltenden Gesteins nicht bestimmt werden kann. Unter genannten 
Gesteinsarten ist der Magnetit-Diorit die erzhaltigste, und in ihm findet 
man das Erz entweder zerstreut in der ganzen Masse des Gesteins 
(bisweilen in einem Gehalt von 53% Erz), oder das Erz bildet Nester 
im Gestein. Was die Sumpferze betrifft, so behauptet Hr. Ludwig, 
dass sie sich nur dadurch vom Rasenerz unterscheiden, dass sie nicht 
in Sümpfen, sondern in flachen Theilen von Seen entstanden sind; 
hier wurden sie aus angeschwemmten Massen von Eisenoxyd oder 
feinem Magneteisen gebildet, oder sie haben ihre Bildung den Algen 
zu verdanken, die sie aus einem doppel-kohlensauren Eisensalz aus¬ 
schieden. 


1 Bulletin de la Soc. des Natur&listes de Moscou. 1874. III, p. x68. 


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528 


Die geognostischen Untersuchungen desHrn.K. Kulibin im Qlonetz’ 
sehen Gouvernement beschränkten sich auf das Tulmoserskische Re¬ 
vier *. In genannter Gegend sind auch Dolomite und Schiefer (Thon-, 
Talk- und Chlorit-Schiefer) vorherrschend, die stark von Kieselsäure 
imprägnirt sind und von NW nach SO streichen. Oestlich von die¬ 
sem Streifen kommen jedoch Granite und Gneisse, und westlich 
Diorite zum Vorschein. Die Anhöhen dieser Gegend haben eine 
beinahe meridionale Richtung und bestehen hauptsächlich aus Dolo¬ 
mit und Schiefer. Nach der Meinung des Hrn. Kulibin haben sich 
diese Anhöhen gebildet, nachdem eine allgemeine Hebung der gan¬ 
zen Gegend, die eine Einwirkung auf die Lage der Schichten aus¬ 
übte, schon stattgefunden hatte; die Entstehung dieser Anhöhen 
ist seiner Meinung nach einer allmählichen Erosion und Verän¬ 
derung der Flussbette zuzuschreiben. Die Dolomite sowohl, als 
die Schiefer werden von mehreren Seiten von Gängen durchsetzt; 
diese Gänge enthalten Eisenglanz mit eingesprengtem Magneteisen¬ 
stein. Die Hauptstreichungslinie der Erzgänge ist von N noch S, 
doch geht das Erz auch in das umliegende Gestein über. Die Rich¬ 
tung der Schieferung des Erzes ist häufig der Schichtung des Ge¬ 
steins parallel und bildet somit einen gewissen Winkel mit dem 
Streichen des Erzganges. Daher behauptet Hr. Kulibin mit Gewiss¬ 
heit, dass die Eisensalze enthaltende Lösung nicht nur in die Spalten 
des Gesteins eindrang und einen Erzgang bildete, sondern auch auf 
die Wände des Ganges eine gewisse Einwirkung ausübte, indem das 
Gestein theilweise aufgelöst und Eisenoxyd niedergeschlagen wurde. 

Im Gouv. Olonetz kommt unter Anderem die unter dem Namen 
Variolit bekannte Gesteinsart vor. Hr. Professor Inostranzow hat ein 
solches Gestein aus der Umgegend des Dorfes Jalguba, im Kreise 
Petrosawodsk, untersucht*. Dieses dichte Gestein von dunkelgrauer 
Farbe zeigt beim Schleifen Variolit-Konkretionen in konzentrischen 
Streifen von grauer und schwarzer Farbe. An der Bildung der Kon¬ 
kretionen und der Grundmasse nehmen Theil: basisches Glas und 
krystallinische Elemente. In der Grundmasse kommen Körner, Mikro- 
lite und Krystalle von Epidot vor. Die verschiedenartigen Kombi¬ 
nationen dieser Eleihente bewirken die konzentrisch-schalige Struk¬ 
tur der Peripherie der Konkretionen, deren Centrum als strahlige 
Masse erscheint. In den Konkretionen kommt bei polarisirtem Lichte 
ein dunkles Kreuz zum Vorschein. 

1 Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. 1873. VIII, p. 31. 

* Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. 1874 IX. p 3. 


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Aus dem Gouvernement Archangel liegen uns neue, durch 
Hm. Kiel angestellte Untersuchungen an der Murmanischen Küste 
vor *. Die Halbinsel Kola, sagt Hr. Kiel, besteht aus Verzweigungen 
der Norwegischen Gebirge und bietet, längs dem Ufer des Eismee- 
res eine grosse Einförmigkeit dar. Ueberall sieht man nur kuppel¬ 
artige Erhöhungen von Granit, und nur bei der Bucht Petschenga 
tritt eine Gneisspartie auf, die, wie es scheint, weiter im Innern des 
Kontinents grosse Flächen einnimmt. Der Granit und der Gneiss 
sind durchschnitten vonDioritgängen, mit deren Erscheinen das Auf¬ 
treten von Erzlagerstätten in Zusammenhang steht. Sedimentäre 
Schichten sind nur auf der Fischerhalbinsel und der Insel Kildin 
beobachtet worden, und sie bestehen hier aus bunten Thonschiefem, 
auf denen graue und gelbe Sandsteine gleichlaufend abgelagert sind. 
Diese Gesteine sind mit denen der Halbinsel Waranger in Norwegen 
identisch, doch kann man wegen Abwesenheit von Versteinerungen 
das Alter derselben nicht bestimmen. 

Das finnische Lappland ist, seit der Entdeckung des Goldes in 
dieser Gegend, von mehreren Geologen besucht worden. Von dem 
Werke des Hrn. Ternstroem: Material tili Finska Lappmarkens 
Geologi, Helsingfors. 1874, sind schon zwei Lieferungen erschienen. 
Die erste Lieferung behandelt den nördlichsten Theil von Lappland 
am See Enare, und die zweite — die Gegend am Flusse Kitten und 
bei Sodankül. Die geschichteten Gesteine von Lappland gehören zur 
laurentischenFormation, undbestehenausHornblendeschiefer, Gneiss, 
Quarzit, geschichtetem Granit, Granulit und Glimmergneiss. Zu den 
massiven Gesteinen gehören: Granit, Granulit und Diabas. Im südlichen 
Theile vonFinland hat Hr.F. T. Wiik zahlreiche geologische Untersu¬ 
chungen angestellt, und dieselben in folgenden Brochüren beschrieben: 
1) Geognostikajakttagelser under en resa i sydvestraFinland, 2) Om 
östra Finlands Primitiva Formationer, und 3) om Skifferformationen 
Tavasthus Län. Hr. Wiik giebt folgende Reihenfolge der primitären 
Gebilde Süd-Finlands an, und vergleicht dieselben mit den Forma¬ 
tionen inCanada: 

Finland. Canada. 

Hiperit (eruptiv). 

Sandstein (sedimentär). Potsdamer Formation. 


* Russisches Berg-Journal. 1873. II. p. 30. 


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530 


(eruptiv). 


Huron-Formation. 


Laurentische Formation. 


Uralit-Porpbyr, 

Pegmatit-Porphyf, 

Sienit-Granit, 

Granito-Porphyr, 

Schiefer (metamorphisch), 

Pegmatit, ] 

Gneist-Granit, J CfUptiv - 
Gnebs (metamorphisch, 

Indem wir zum sQurischenSystem übergehen, wollen wir die inter¬ 
essanten Arbeiten des Hm. Linnarsson besonders berücksichtigen. 
Hr. Linnarsson, ein schwedischer Gelehrter, machte im Jahre 1872 
eine Reise durch die Ostseeprovinzen, deren Ziel hauptsächlich darin 
bestand, einen näheren Vergleich der baltischen silurischen Schich¬ 
ten mit denen von Schweden anzustellen. Der Bericht von Hm. Lin¬ 
narsson ist in den Memoiren der Stockholmer Akademie abgedruckt 
und erschien darauf in deutscher Uebersetzung in der Zeitschrift der 
deutschen geologischen Gesellschaft (1873. XXV. p. 675). Hr. Lin¬ 
narsson kam direkt nach St Petersburg, nahm hier die palaeontolo- 
gischen Sammlungen in Augenschein, ging dann mit der Eisenbahn 
nach Pleskau, und von da mit dem Dampfboot nach Dorpat, wo er 
ebenfalls der Besichtigung palaeontologischer Sammlungen einige 
Tage widmete. Von Dorpat wendete er sich nach Wesenberg, wo er 
seine eigenen geognostischen Beobachtungen anzustellen begann. 
Nach Besichtigung der um Wesenberg herum gelegenen Steinbrüche 
machte Hr. Linnarsson eine Fahrt über Kurküll, Borkholm, Kulling, 
Altenhof, Kandel, Wrangelshof, Wannamons, Kunda und Sommer¬ 
husen, und kehrte dann nach Wesenberg zurück. Darauf fuhr er mit 
der Eisenbahn nach Reval, wo er durch eine Reihe von Exkursionen, 
die theils per Eisenbahn, theils mit dem Dampfboot und theilweise 
auch per Post ausgefiihrt wurden, die umliegenden Gegenden kennen 
lernte. Auf diese Art hat Hr. Linnarsson einen grossen Theil der 
interessantesten Orte besucht, nämlich, aufdem Kontinent: Raiküll, Ker- 
küll,Kegel, Baltischport, Tischer, Sack,Kirna,Kukars,Ontika,Nemme- 
weski, Neuenhof, Angern und Schwarzen; auf der Insel Nuko—Lick¬ 
holm; auf Oesel — Podel, Koggul, Rotziküll, Selga, Pank, Tagga- 
mois, Undra, Lümmada, Kaugotoma, Oggessar, St. Johannis und den 
sogenannten Krater bei Sali. — Wir geben hier mit Absicht die 
Marschroute so ausführlich, da dieselbe als bester Wegweiser zum 
Studium der geologischen Verhältnisse der baltischen Provinzen 
dienen kann. — 


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53i 


Wir wollen hier, nach dem Berichte desHrn. Linnarsson alle einzel¬ 
nen Glieder des silurischen Systems durchnehmen, und beginnen 
vom untersten — vom blauen Thon. — Im westlichen Theile des 
silurischen Gebiets liegt dieses unterste Glied unter dem Meeresspie¬ 
gel, wesshalb H. Linnarson nur an einem Orte, in Kunda, Gelegen¬ 
heit hatte, den blauen Thon zu beobachten. Im oberen Theil des blauen 
Thons treten hier dünne Sandsteinschichten auf, die Hm. Linnarsson 
sogleich an die Eophyton-Sandsteine von Westgothland erinnerten; 
auf der oberen Fläche der Sandsteinschichten waren Wellenfurchen 
zu sehen, während die untere Fläche eine Masse von .Steinkernen 
zeigte, die denen aus dem Sandstein von Westgothland ähnlich waren» 
wie z. B. Cruziana. Der blaue Thon sowohl, als auch der Sandstein 
sind ihrem äusseren Ansehen nach den Gesteinen des Eophyton- 
Sandsteins sehr ähnlich, nur sind sie viel lockerer; zugleich sind auch 
die Lagerungsverhältnisse dieselben. Hr. Linnarsson ist zu der 
Ueberzeugung gekommen, dass der baltische blaue Thon dem schwe¬ 
dischen Eophyton-Sandstein equivalent ist, und einstmals die unmittel¬ 
bare Fortsetzung desselben darstellte. Unter dem Namen Eophy- 
ton-Sandstein ist in Schweden der älteste Sandstein bekannt, der 
gleich unserem blauen Thone unmittelbar auf dem Granit abgelagert 
ist; in diesem Sandstein findet man Lingula und undeutliche Pflan¬ 
zenreste «Eophyton*, die jedoch nicht zu den Algen gehören, son¬ 
dern eher Wurzeln von Farrenkräutern gleichen; dieser Sandstein 
bildet den untersten Theil des bekannten Fucoiden-Sandsteins. Uebri- 
gens zweifeln einige Gelehrte an dem organischen Ursprung des Eo¬ 
phyton und nehmen an, dass seine Formen durch ein Hin- und Her¬ 
schieben der Algen von den Meereswellen gebildet worden sind. 

Was unseren Ungulitensandstein betrifft, so vergleicht ihn Hr. Lin¬ 
narsson, wie es Hr. Schmidt schon gethan hat, mit dem oberen Theile 
des Fucoiden-Sandsteines. Es giebt wohl keine palaeontologischen 
Beweise für die Identität dieser Schichten, obgleich in beiden Sand¬ 
steinen Versteinerungen aus der Klasse derBrachiopoden, und nament¬ 
lich aus der Familie Lingulidae Vorkommen; doch werden diese Ver¬ 
steinerungen in den baltischen Provinzen nur in den oberen Sand¬ 
steinschichten gefunden, und bisweilen in grossen Mengen, während 
sie im Fucoiden-Sandsteine von Westgothland in den unterem 
Lagen und überhaupt selten Vorkommen. Die Hauptmasse des 
Ungulitensandsteins, welche keine Versteinerungen enthält, gleicht 
auffallend dem Fucoiden-Sandstein Westgothlands, nur ist sie viel 
lockerer. Die Aehnlichkeit der Schichten in petrographischer Be- 


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532 


Ziehung wird dadurch noch gesteigert, dass in den oberen Theilen 
der beiden Sandsteine viel Schwefelkies enthalten ist. Die Lage der 
Sandsteine—in der Allgemeinen Reihenfolge der Schichten — ist voll¬ 
kommen identisch. 

Der Thonschiefer hat im Ganzen genommen keine grosse Ausdeh¬ 
nung, doch erstreckt ersieh von St. Petersburg bis Baltischport, wo er 
in grossen Mengen Dictyonema flabelliformis enthält. In Schweden aber 
kommt die Dictyonema nur im oberen Theile des Alaunschiefers in 
gösseren Anhäufungen vor; während die Trilobiten, die in grosser 
Anzahl in den unteren Theilen des schwedischen Alaunschiefers auf- 
treten, in unserem Schiefer vollständig unbekannt sind. Daraus ist zu 
schliessen, dass der russische silurische Schiefer nicht der ganzen 
Masse des schwedischen Alaunschiefers equivalent ist, sondern nur 
dem oberen Theile desselben entspricht, mit welchem er auch in 
petrographischer Hinsicht grosse Aehnlichkeit hat. 

Hr. Linnarsson lässt die Frage im Zweifel: ob es in Schweden ein 
requivalentes Glied für unseren sogenannten grünen Sandstein giebt 
obgleich hier nach der Reihe der Schichtenlagerung das Obolus- 
Konglomerat von Dalarn vielleicht in Betracht käme. 

Hr. Linnarsson hatte an vielen Stellen Gelegenheit, den Chlo¬ 
ritkalkstein zu beobachten und ist zu der Ueberzeugung gekommen, 
dass derselbe, gleich dem schwedischen Glaukonitkalkstein, die Un¬ 
terlage des Orthoceratitenkalksteins bildet, in den er allmählich über¬ 
geht, und ebenfalls Knollen von Phosphorit enthält. Der schwedi¬ 
sche Glaukonitkalkstein ist im Allgemeinen recht arm an Verstei¬ 
nerungen, und enthält einen Trilobiten Megalaspis planiümbata , 
welcher in dem russischen Chloritkalksteine, zusammen mit ver¬ 
schiedenen Brachiopoden in Massen gefunden wird, und unter dem 
Namen Asaphus iyranno aff. bekannt ist. 

Die Identität der Orthoceratitenkalksteine der russisch-baltischen 
Provinzen und Schwedens in palaeontologischer Beziehung ist schon 
längst von verschiedenen Gelehrten nachgewiesen worden, und 
Hr. Linnarsson zählt folgende, den beiden Kalksteinen gemeinsame 
Formen auf: Asaphus expansus, Asaphus raniceps , Ptychopyge angu - 
stijrons , Illaenus crassicauda , Chirurus exsul , Amphion Fischen, 
Lituites undulatus , Orthoceras trochleare , Rhynchonella nucella , Orthis 
calligramma und Andere. Im russischen Orthoceralitenkalksteine 
findet man auch solche, jedoch Formen,—z. B. Chastnops conicophtalmus 
und Echinosphaerites aurantwm —, die in Schweden einem hö- 



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heren Horizonte, Und namentlich dem Chasmopschen Kalkstein ail- 
gehören. 

Vom Brennschiefer sagt Hr. Linnarsson, dass er, wie schon 
Hr. Schmidt es behauptet hat, mit dem schwedischen Beyrichius- oder 
Chasmop’schen Kalksteine verglichen werden kann. Obgleich die 
erwähnten Schichten nicht viele gleiche Versteinerungen aufzu¬ 
weisen haben, kann man doch folgende anführen: Ckasmops c<mi- 
cophthalmus , Pleurotomana elliptica> Leptaena sericea , Stropkomena 
imbrex u. A. 

Soweit fiel es Hrn. Linnarsson nicht schwer, die Analogie der Ab¬ 
lagerungen der baltischen Provinzen mit den schwedischen Schicht 
für Schicht zu verfolgen; für die weiteren Bildungen erwies sich das 
jedoch als unmöglich, da man in Schweden keine bestimmten Equi- 
valente für die Jew’esche, Wesenberg’sche und Lickholm’sche Etagen 
finden kann, wohingegen die baltischen Provinzen keine bestimmten 
Equivalente für den Trinucleus-Schiefer, den Brachiopodenschiefer 
und den oberen Graptolithenschiefer^Schwedens aufweisen können. 
Die genannten Etagen der beiden Länder haben beinahe gar keine 
Aehnliclikeit in palaeontologischer Beziehung, nur hat die in ihnen 
enthaltene Fauna in beiden einen allgemeinen silurischen Charakter. 
Die Gesteine dieser Etagen in den beiden Ländern sind auch ver¬ 
schieden; in den baltischen Provinzen herrscht Kalkstein vor; 
während in Schweden verschiedene Schiefer auftreten. Diese petro- 
graphische Verschiedenheit weist auf eine Ungleichheit der physi¬ 
schen Verhältnisse in beiden Ländern hin, und kann einigermassen 
Aufklärung über Verschiedenheit der Fauna geben. Es ist übri¬ 
gens schwer anzunehmen, dass die Faunen verschiedenen Zeitpe¬ 
rioden angehören sollten; im Gegentheil, nach den Lagerungs¬ 
verhältnissen zu urtheilen, erscheint es viel wahrscheinlicher, dass 
diese Ablagerungen Schwedens und der Ostseeprovinzen mehr oder 
minder einander entsprechen. 

Betreffs der Borkholm’schen Schicht ist Hr. Linnarsson auch zu 
keinem bestimmten Resultate gelangt; erweist nur daraufhin, dass 
Hr. Schmidt in derselben einen Repräsentanten des Leptaena-Kalk- 
steins von Dalarn sieht. 

Die Schichten der oberen silurischen Formation der Ostseepro¬ 
vinzen, im Gegensatz zu den oberen Schichten der unteren siluri¬ 
schen Formation, erscheinen wieder als deutliche Equivalente der 
schwedischen Schichten, namentlich derjenigen von Gothland. 
Hr. Linnarsson kennt jedoch Gothland nicht aus eigener An- 


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534 


schauungj; unter den von ihm in Estland und auf Oesel gesammelten 
Korallen und Brachiopoden giebt es beinahe keine einzige Form, 
die nicht auch auf Gothland vorkäme. Eine merkwürdige Aus¬ 
nahme hiervon bildet jedoch Pentamerus borealis , welcher in Estland 
ganze Schichten bildet, während er in Gothland ganz zu fehlen 
scheint. 

Aus dem von der Schrift des Hm. Linnarsson oben Angeführten 
ist zu ersehen, dass die oberen und unteren Theile der sibirischen 
Ablagerungen Schwedens und der baltischen Provinzen im Allge¬ 
meinen viel Aehnlichkeit mit einander haben, während die mittleren 
Theile verschieden sind. Und gerade in diesen mittleren Theilen 
finden wir eine merkwürdige Aehnlichkeit der silurischen Schichten 
Schwedens mit denen von Böhmen. Die baltischen Provinzen haben 
mit Böhmen nichts gemeinsames, indessen bildet Schweden ein ver¬ 
bindendes Glied zwischen denselben. 


Zum Vergleich der kambrischen und der unteren silurischen 
Schichten Böhmens, Schwedens und der baltischen Provinzen giebt 
Hr. Linnarsson folgende Tabelle: 

Böhmen Schweden Ostseeprevinzen 

Barrande. Linnarsson. Schmidt 

Leptaenakalk. 3. Borkholm’sche Schicht 

Ee I. Oberer Graptolithenschiefer. 

Brachiopodenschiefer. 

Dd 5. Trinucleusschiefer. 

Chasmopskalk, mit mittlerem 1. a. Brandschiefer. 
Graptolithenschiefer (obe¬ 
rem Graptolithenschiefer v 

Kjerulf) an der Basis. 

Orthoceraskalk. I. Vaginatenkalk und chlo- 

ritischer Kalk. 


c 


Unterer Garptolithenschiefer. 

Ceratopygekalk. 

Oienusschiefer. 

Parodoxidesschiefer. 

Fucoidensandstein. 

Eosphytonsandstein. 


Thonschiefer mit Dietyo - 
netna. 

Ungulitensandstein. 

Blauer Thoa 


Die Ansicht des Hrn. Akademikers Schmidt, welcher speciell mit 
unseren silurischen Schichten bekannt ist, stimmt nicht vollkommen 




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535 


mit der angeführten Tabelle überein l . Hr. Schmidt meint, dass unser 
Thonschiefer, vielleicht sogar mit dem Glaukonitensande zusammen, 
drei Etagen von Linnarsson entspricht, nämlich dem Graptolithen- 
schiefer, Ceratopygekalk und Olenus- (Alaun) Schiefer. 

Da die unteren Glieder unseres silurischen Systems ein ungetrenn- 
tes Ganzes mit den oberen Schichten bilden, so ist Hr. Schmidt der 
Meinung, dass man einige dieser Glieder durchaus nicht zur Kam- 
brischeformation zu rechnen braucht. Soll aber eine solche Trennung 
der Schichten stattfinden, und nach Lyell die primor diale Fauna 
zur Kambrischeformation gerechnet werden, so muss die Grenze 
zwischen den beiden Systemen, zwischen dem grünen Sandstein und 
dem Thonschiefer, gezogen werden. 

Hr. Schmidt hat in letzter Zeit begonnen, seine Miscellanea silurica 
zu drucken, in den zwei ersten Lieferungen beschreibt er 8 die russi¬ 
schen Liperditien und einige neue und wenig bekannte Formen der 
Crinoiden. Hr. Möller 8 hat eine neue Art Brachiopoda, mit einer 
aus Horn bestehenden Muschel, unter dem Namen Volbortia festge¬ 
stellt; Exemplare dieser Versteinerung sind im silurischen Kalkstein 
bei Zarskoje-Sselo gefunden worden. Hr. Dybowsky, aus Dorpat, hat 
«fite Monographie unserer silurischen Koralle aus der Abtheilung der 
Zoantharia sclerodennata rugosa erscheinen lassen 4 . 

Von den silurischen Gebilden der baltischen Provinzen gehen wir 
nun zu denen am Dnjestr über. Dr. Alth (in Krakau) giebt eine 
grosse Schrift unter dem Titel: «Ueber die paläozoischen Schichten 
und Versteinerungen Podoliens» heraus. Das russische Reich hat 
Hr. Alth selbst nicht besucht, doch hat er in seiner Schrift alles ver¬ 
eint, was bisher aus den Untersuchungen anderer Gelehrten bekannt 
war. Im russischen Podolien findet man die untersten Theile der 
Dnjestrow’schen paläozoischen Gebilde, und namentlich folgende in 
der Ordnung von unten nach oben: i) Grauwacken-Sandsteine und 
Thonschiefer; 2) graue, dichte, dünn- oder dickgeschichtete, harte, 
öfters bituminöse Kalksteine, die in oberen Theilen mit Mergelschich¬ 
ten wechsellagern; 3) graue, schiefrige Mergelthone mit einzelnen 
dünnen Zwischenschichten von dichtem, an Versteinerungen reichem 
Kalksteine. Diese Ablagerungen hältHr. Alth mit derWenlock-Etage 

* Verhandlungen der St. Petersburger Naturforscher Gesellschaft. Bd.III l p.XXlI. 

9 Mlmoires de l’Acaddmie. VH. Sdrie. XXI. Nr. s und 11. 

8 Sammlung von Schriften zur Feier des 100-jährigen Jubiläums des Berg-Instituts. 
I« 73 - n, P- 33 . 

4 Archiv für die Naturkunde Estlands. 1873. V. 


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Englands für equivalent, obgleich er in einer Beilage sagt, dass die 
obersten Schichten, welche unter Anderem Eurypterus enthalten, 
auch zur Ludlow’schen Gruppe gerechnet werden können. In der 
ersten bisher erschienenen Lieferung der Schrift von Hrn. Alth sind 
die Fische, Merostomaten, Trilob'iten und Ostrocoden bearbeitet. 

Gehen wir nun vom silurischen System zu dem devonischen über, 
so finden wir dieses letztere beschrieben: von Hr Antonowitsch und 
von Hr. Lahusen: — von dem ersteren: das Gouvernement Witebsk, 
von dem letzteren das Gouvernement Nowgorod. 

Das Gouvernement Witebsk gehört zu den am wenigsten er- 
forschten; wir kennen aus demselben nur einige Beobachtungen 
von Blasius und Helmersen und in letzter Zeit hat Hr. Antonowitsch auf 
einer Fahrt durch das ganze Gouvernement (längs der Düna) einige 
interessante neue Entdeckungen gemacht. Der Bericht von Hrn. An¬ 
tonowitsch ist im russischen «Berg-Journal» 1873. T. II, p. 55 abge¬ 
druckt. Die Schichten des devonischen Systems treten zuerst 
15 Werst oberhalb von Witebsk zu Tage; weiter, zwischen Wi¬ 
tebsk, Polotzk und Disna, und noch weiterhin sieht man nur Allu¬ 
vialgebilde und endlich bei der Insel Krischkan (unterhalb Düna¬ 
burg) kommen wieder devonische Schichten zum Vorschein, die sich 
von hier aus mit kurzen Unterbrechungen bis zur westlichen 
Grenze des Gouvernements erstrecken. Die Schichten von Witebsk 
und Kreuzburg, welche aus grauem Dolomit bestehen, und Spirifer 
tenticulum % Platyschisma und Natica enthalten, stellt Hr. Antono» 
witsch der oberen oder Kirchholm’schen Abtheilung der devoni¬ 
schen Formation Livlands gleich; hingegen zählt er die Dolomite 
von der Insel Krischkan mit Orthio striatula und Rhynchonella tivo- 
nica zur unteren oder Kokenhusenschen Abtheilung. Der inter¬ 
essante Fund von Hrn. Antonowitsch besteht in einer in den Kiesel¬ 
konkretionen von ihm entdeckten reichen fossilen Fauna; diese 
Kieselkonkretionen kommen in den Dolomiten der oberen Ab¬ 
theilung der devonischen Formation häufig vor. Es ist Hrn. Anto¬ 
nowitsch gelungen 22 Molluskenformen zu bestimmen, von denen 
einige bis dahin in Russland noch nicht gefunden waren, und diese 
Entdeckung führt zu einer noch grösseren Annäherung unserer 
devonischen Gebilde zur mittleren Gruppe des devonischen Systems 
in den Gegenden am Rhein (Köln, Nassau, an der Lahn etc.). 

Hr. Lahusen hat durch seine geognostischen Untersuchungen 
nachgewiesen *, dass in dem ganzen westlichen Theile des Gouver- 

1 Materialien zur Geologie Russlands Bd. V, 


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537 


nements Nowgorod die Schichten des devonischen Systems ver¬ 
breitet sind, und die östliche Grenze derselben bei den Städten: 
Tichwin, Borowitschi und Waldai gezogen werden muss. Die untere 
versteinerungsleere Sandsteinformation tritt nur in den Flussbetten 
zu Tage; die mittlere Kalksteinformation erstreckt sich über den 
ganzen Nowgorod’schen und den nordwestlichen Theil des Staraja- 
Russa’schen Kreises; in dem übrigen Theile der von dem devoni¬ 
schen System eingenommenen Fläche treten nur Sandsteine, Mergel 
und Thonschichten der oberen Formation mit Asteroltpis omata 
und Holoptychius nobilissimus auf. Was die mittlere Formation be¬ 
trifft, so ist Hr. Lahusen der Ansicht, dass die Kalksteine am II- 
mensee einen höheren Horizont einnehmen, als die Kalksteine am 
Fluss Schelon, welche ihrerseits die Fortsetzung der beim Kirch¬ 
dorf Tschudo wo auftretenden Schichten bilden; die am Fluss Ore- 
deja auftretenden Kalksteinschichten gehören dagegen zu den un¬ 
tersten. In den angeführten drei verschiedenen Horizonten weist 
Hr. Lahusen folgende Veränderungen der in ihnen enthaltenen 
Faunen nach. Die Kalksteine am Ilmensee enthalten: Spirigerina 
reticularis , Strophalosia subaculeata , Spirifer tenticulum , Athyris Hel - 
mersent u. s. w. In den Kalksteinen am Fluss Schelon und bei 
Tschudowo kommen erstere drei Arten schon viel seltener vor, 
Athyris Helmerseni wird gar nicht gefunden, statt dessen erscheinen 
Spirifer Archiaci , Khynchonella livonica , Orthis striatula . In den Kalk¬ 
steinschichten am Flusse Oredej verschwinden die am Ilmensee vor¬ 
kommenden Formen’ beinahe gänzlich und ausser Rhynchonella 
livonica und Orthis striatula kommen hier hauptsächlich Rhyncho - 
nella Meyendorfii und Spririfer muratis vor. 

Hr. Trautschold 1 hat uns eine Beschreibung der Fischreste aus 
den devonischen Schichten bei Malöwka im Tula’schen Gouverne¬ 
ment geliefert. In seiner Schrift sagt Hr. Trautschold, dass die von 
ihm beschriebenen Fischzähne, mit Ausnahme der neu entdeckten 
Formen, eine deutliche Verwandtschaft mit den im Bergkalk vor¬ 
kommenden Arten zeigen. Von dreizehn beschriebenen Formen 
ist nur eine, Cladodus simplex , früher bekannt gewesen. Dieselbe 
wurde in den devonischen Schichten der Umgebung St. Petersburgs 
gefunden; ausserdem kann noch die Form der Schuppen von Glyp- 
tolepis als eine rein devonische angesehen werden. Helodus gibbe - 
rulus und Psamtnodus porosus sind hingegen Bergkalk Versteine¬ 
rungen; die am häufigsten auftretenden Zähne von Helodus aversus 


Nouveaux m^moires de la Society des naturalistes de Moscou 1874. V. p. 263. 


Rdm Tcttio Bd. VII. 


35 


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sind beinahe mit dem Helodus lacrissimus aus dem Bergkalk iden¬ 
tisch. Orodus tumidus steht auch der Species Orodus ramosus aus 
dem Bergkalk sehr nahe. Was endlich die neuen von Hm. Traut- 
schold beschriebenen Arten betrifft, so sind sie mehreren, im Berg¬ 
kalk vorkommenden Formen sehr ähnlich. 

Die Versteinerungen der Malöwka-Murajewnaschen Etage haben 
in letzter Zeit die Aufmerksamkeit des Professors De-Koninck auf 
sich gezogen, welcher ihnen einen besonderen Aufsatz gewidmet 
hat (Bulletin de Moscou. 1874. III, p. 165) 1 . Hr. Prof. De-Koninck 
hält die Mehrzahl der palaeontologischen Bestimmungen der Hm. Sse- 
menow und Möller, welche eine Monographie der Fauna der ge¬ 
nannten Etage geliefert haben (Russisches Berg-Journal, 1864) für 
unrichtig. Er bemüht sich nachzuweisen, dass diese Etage nicht 
zur devonischen, sondern zur Kohlenformation gehört. Bevor jedoch 
Professor De-Koninck seinen Zweifel an der Richtigkeit der Bestim¬ 
mungen der Hrn. Ssemenow und Möller aussprach, hatte schon der 
verstorbene Professor Auerbach (im Bulletin de Moscou, 1862) 
solche Formen der Kohlenformation als im Kalkstein von Malöwka 
vorkommend, beschrieben und abgebildet, welche dort nie gefunden 
worden sind, was denn die Hrn. Ssemenow und Möller nachgewiesen 
haben, und was ich durch meine eigenen Beobachtungen bestätigen 
kann. Die von Professor Auerbach beschriebenen Versteinerungen 
waren nicht von ihm selbst in Malöwka gesammelt worden. 

Ueberhaupt können, meiner Meinung nach, die Malöwka-Mura¬ 
jewnaschen Schichten, die Professor Romanowsky schpn früher mit 
dem Namen der Citherinen-Gruppe bezeichnet hat, nicht die Be¬ 
deutung als eine selbstständige Etage verlieren, weil dieselben 
grosse Mengen von Citherinen, Area oreliana u. A. enthalten, nur 
müssen sie als eine Uebergangsetage vom devonischen zum Kohien- 
system angesehen werden. 

Was das Donez’sche Kohlenbassin betrifft, so liegen uns dar¬ 
über zwei Schriften vor. Die erste, von Hrn. Ludwig, giebt eine 
allgemeine Eintheilung der Donez'schen Schichten; die zweite, 
von Hrn. Gurow, enthält eine Beschreibung der organischen Ueber- 
reste der Donez’schen Kohlenformation. 

Von Hrn. Ludwig wurden geognostische Untersuchungen änge- 
stellt. Er machte eine Fahrt aus Sulim längs der Woronesh- 

f Wir behalten uns vor, auf diesen Artikel des Hrn. de-Koninck ein anderes Mal 
näher zurück zu kommen. D. Red. 


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539 


Rostow’schen Eisenbahn, über die Kosackendörfer Krinitschnaja, 
Doljinskaja, Kuritschja bis Rovenki, und von da über das Dorf 
Krepinkaja nach Nowo-Pawlowsk und Uspensk, auf der Taganrog- 
Charkower Linie. Die Kohlenformation des Donez’schen Gebirges 
zerfällt, nach Angabe von Hrn. Ludwig, in vier Etagen 

Die erste oder Kalkstein-Etage bildet die Grundlage der ganzen 
Kohlenformation, und besteht hauptsächlich aus Kalksteinschichten 
mit Productus giganteus und Spirifer glaber, zu denen in dem oberen 
Theile der Etage Sandsteine und Schieferthone hinzutreten. Am 
Fluss Kalmius ist diese Etage auf Sandstein- und Konglomerat¬ 
schichten mit Pflanzenüberresten gelagert; letztgenannte Schichten 
entsprechen den Kohlen von Central-Russland. In Central-Russland 
liegen diese Gebilde auf devonischen Schichten, hier aber dienten 
ihnen als Sohle primäre Gesteine und Porphyre. 

Die zweite oder eisensteinhaltige Etage . Die mächtigen Ablage¬ 
rungen dieser Etage bestehen hauptsächlich aus Sandsteinen und 
Schieferthonen, zu denen Kalksteine, Brauneisenerze und im obersten 
Theile dann noch drei Kohlenlager hinzutreten. Im Kalkstein, 
der die obere Grenze dieser Etage bildet, kommen folgende 
Versteinerungen vor: Spirifer glaber, Sp. lineatus , Sp. striatus , 
Sp. mosquensis , Productus semireticulatus, Pr. haentispkaericus , Orthis 
resupinata u. A. In den untersten Theilen der Etage tritt Bleiglanz, 
und in den mittleren Brauneisenstein in vielen 3 bis 5 Fuss dicken 
Schichten auf, mit einem Eisengehalt von 30 bis 52 pCt. 

Die dritte oder die Kohlenetage wird aus «Schieferthonlagem mit 
untergeordneten Schichten von Sandstein, Brauneisensteinschichten, 
vielen Kohlenlagern und einigen Kalksteinschichten gebildet. Die 
Kalksteinschichten theilen diese Etage in Junf Abtheilungen. Die 
unterste Abtheilung enthält die erste Pflanzen-Zone, welche bei Pe- 
trowsk mit Calamiten, Sigillarien, und theilweise auch mit Farren- 
kräutern auftritt; sie enthält drei Schichten guter Steinkohle. Die 
zweite Abtheilung ist die reichste an Kohlenflötzen. Sie wird von 
der zweiten Pflanzenzone charakterisirt, die hauptsächlich aus Far- 
renkräutern besteht, als: Odontopteris neuropteroides , Neuropteris 
flexuosa , Sphenopteris distans u. A. Viele der hier vorkommenden 
Pflanzenreste sind zugleich auch für die zweite Pflanzenzone charak¬ 
teristisch, woher denn Hr. Ludwig auch diese Schichten einander 
gleich stellt. Die dritte Abtheilung wird von der dritten Pflanzen¬ 
zone charkterisirt, die in zwei Kohlenschichten auftritt und Odontop 

1 Bulletin de la Soci£t6 des naturalistes de Moscou. 1873. TV, p. 290. 

35* 


Ä 


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540 


teris Münsteri ,, Neuropteris acutifolia , Annularia radiata , LUopodües 
selaginoides enthält. Die vierte Abtheilung enthalt auch zwei Kohlen¬ 
schichten, ist aber bis jetzt noch wenig untersucht Die fünfte Ab¬ 
theilung besteht aus Schieferthon, enthält eine Kohlenschicht und 
harrt auch noch einer genaueren Untersuchung. 

Die vierte oder Fusulinen-Etage besteht aus bunten Schiefer- 
thonen, Sandsteinen und Kalksteinen, und bildet einen Uebergang 
zum permischen System. In dieser Etage ist bis jetzt nur eine 
Kohlenschicht bekannt, sie enthält viele Eisenerzlagerstätten; im 
Kalkstein, der die unterste Grenze dieser Etage bildet, kommt Fusu - 
Ima cylindrica vor. 

Wir schliessen hier eine kurze Notiz über die Pflanzenzonen 
der Steinkohlenformation Deutschlands an, deren Hr. Ludwig er¬ 
wähnt In vielen Kohlenbecken ist die Möglichkeit geboten, in 
den verschiedenen über einander gelagerten Steinkohlenschichten 
eine, von der anderen verschiedene Flora zu beobachten. Durch 
die in Sachsen angestellten Untersuchungen hat Hr. Professor Gei¬ 
nitz nachgewiesen, dass über der ältesten, dem Culm entspre¬ 
chenden, Flora der Kohlenformation, welche die erste Pflanzen¬ 
zone bildet, (besonders in der Umgegend von Zwickau) noch vier 
Pflanzenzonen übereinander folgen, welche der produktiven Kohlen¬ 
formation angehören. Diesen vier Zonen giebt Hr. Geinitz folgende 
Benennungen: der zweiten — die Sigillarienzone, der dritten—die 
Annularinzone, der vierten — die Calamitenzone und der fünften 
oder jüngsten — die Zone der Farrenkräuter. Dieser Eintheilung 
zufolge müssen die dritte und vierte Etage von Ludwig, als zur 
oberen (produktiven) Kohlenformation gehörend, angesehen werden; 
obgleich die erste Abtheilung der dritten Etage hier dem Culm ent¬ 
spricht, so muss man doch bemerken, dass der Culm nicht überall 
dem Bergkalk equivalent ist, sondern in einigen Gegenden die Flora 
des Mühlsteinsandsteins in sich schliesst, und Letzterer immer der 
oberen Formation zugezählt wird. Die fünfte Etage ist ein Ueber- 
gangsgebilde, während die erste und zweite der unteren Kohlen¬ 
formation oder dem Bergkalk angehören. Es ist bemerkenswert!!, 
dass auch hier, wie im Moskauer Becken, die Schichten mit Pro - 
ductus giganteus unter den Schichten mit Spirifer mosquensis liegen. 
Da die zweite Etage von Ludwig in ihrem oberen Theile drei Kohlen- 
flötze in sich schliesst, so musste das zur Bildung dieser Flötze nö- 
thige Material eine Flora darstellen, die der ersten Pflanzenzone 


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S4i 


vorherging. Es ist desshalb zu bedauern, dass Hr. Ludwig aus 
dieser zweiten Etage keine Repräsentanten ihrer Flora anführt. 

Eine kleine, der Arbeit von Hrn. Ludwig beigefügte, geogno- 
stische Karte stellt die Verbreitung der verschiedenen Etagen der 
Kohlenformation dar. Aus dieser Karte ist zu ersehen, dass im 
Donez’schen Becken die zweite Etage vorherrschend ist; unter der¬ 
selben treten nur stellenweise die Schichten der untersten Etage zu 
Tage. Auf dieser zweiten Etage ist in vielen einzelnen Inseln die dritte 
Etage abgelagert, welche im nordwestlichen Theile des Donez- 
schen Bergrückens von der vierten Etage und von Gebilden jün¬ 
gerer Formationen überlagert wird. Die erste Etage nimmt auf der 
Karte drei schmale Streifen ein, von denen der eine den Ort Stila, 
der andere die Dörfer Nowo-Pawlowka und Isajewka streift und der 
dritte den oberen Lauf der Kamenka durchschneidet. 

So gerne wir anerkennen, dass der Artikel von Hm. Ludwig und 
die beigefügte Karte interessante Angaben enthalten, so sehr müssen 
wir bedauern, dass der allgemeine Ueberblick über die Gebilde des 
Donez’schen Kohlensystems nicht auf einer allgemeinen Uebersicht 
aller einzelnen, in den verschiedensten Gegenden des Donez’schen 
Gebirges angestellten Beobachtungen beruht. Da solche Beobach¬ 
tungen hier jetzt noch fehlen, so können natürlich die allgemeinen 
Folgerungen, welche nur auf einzelnen Beobachtungen beruhen, in 
Hinsicht auf das ganze Terrain in Zukunft grossen Veränderungen 
unterliegen. 

Einen ganz anderen Charakter trägt die Arbeit des Hrn. Gurow 
die das Resultat gründlicher Untersuchung eines reichen paläontologi- 
schen Materials darstellt Hr. Gurow hat ausführliche Diagnosen von 
120 Thier- und Pflanzenformen aus den Kohlenschichten des Donez’¬ 
schen Gebiets mit Angabe ihrer Fundorte geliefert. Es ist zu be¬ 
dauern, dass diese Arbeit plötzlich abbricht und keine allgemeinen 
Folgerungen enthält, wenn diese auch nur eine Gruppirung der 
Formen nach den Fundorten bieten würden. Hr. Romanowsky hat 
eine Spirifer Species, die er für neu hält ( 5 ^. Jerofejeuri ), aus dem 
Bergkalk der Ufer des nördlichen Donez bei Lisitschansk be¬ 
schrieben *. 

Endlich ist noch eine bergindustrielle Flötzkarte des westlichen 
Theils des Donez’schen Gebirges (im Maasstabe von 3 Werst auf 

* Verhandlungen des Naturforscher-Vereins an der Kaiserlichen Universität iu Char¬ 
kow. Bd. VI und VH. 

Ä Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. 1873. Vjn, p. 127. 


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542 


einen Zoll) erschienen. Dieses ist nur eine Reproduktion von 
Hrn. Nossow’s Karte, welche im Maassstabe von io Werst = ein 
Zoll herausgegeben wurde. Bei der Uebersicht des permischen 
Systems kommen wir nochmals auf diese neue Karte zurück. 

Wir verlassen nun das Donez’sche Kohlenbecken und gehen zu dem 
von Central-Russland über, dessen Kohlengebilde in den Gouverne¬ 
ments Nowgorod, Ssmolensk und Wladimir von den Hrn. Ditmar und 
Lahusen im Aufträge der Mineralogischen Gesellschaft untersucht 
worden sind l . Aus den sehr umständlichen Untersuchungen des 
Hrn. Lahusen ist zu ersehen, dass im Gouvernement Nowgorod die 
Schichten der Kohlenformation dasselbe in der Mitte von Norden 
nach Süden durchschneiden; die westliche Grenze dieser Ablage¬ 
rungen ist bei Tichwin, Borowitschi und Waldai zu ziehen, während 
die östliche eine Linie bildet, die sich von Bjeloosero zum nörd¬ 
lichen Ende des Kubenskischen Sees und von da nach Ustjuschna 
erstreckt. Der hier auftretende Streifen von Schichten des Kohlen¬ 
systems zerfällt in zwei Theile, von denen der östliche, grössere 
Theil aus oberem Bergkalk, der westliche aber aus unterem Berg¬ 
kalk, mit unter ihm hervortretenden kohlen führenden Schichten 
besteht. Diese aus Thon und Sand zusammengesetzten Schichten 
treten an der westlichen Grenze des unteren Bergkalkes zum Vor¬ 
schein, und an den Stellen, wo dieser abgeschwemmt ist, erscheinen 
sie in Form vereinzelt liegender Inseln. Der untere Bergkalk hat hier 
eine gelbe oder graue Farbe, und schliesst Productus giganteus in 
sich. Die allgemeine Verbreitung des unteren Bergkalks entspricht 
hier ganz der Richtung, welche die Waldai’sche Hochebene ein- 
nimmt. Die Etage des oberen Bergkalks besteht aus verschieden¬ 
farbigen Kalksteinen mit Spirifer mosqucnsis und Fusulina cylindrica y 
aus bunten Mergeln und Thonschichten; sie bildet ein weit aus¬ 
gebreitetes erhöhtes Plateau, welches in der Nähe der Quellen des 
Flüsschens Olchowka (Nebenfluss des Pes’) mit einer hohen Terrasse 
beginnt, und erstreckt sich von hier aus über die Kreise Ustjuschna 
und Bjelosersk. Den Untersuchungen des Hrn. Ditmar zufolge ist 
der untere Bergkalk im südöstlichen Theile des Ssmolenskischen 
Gouvernements sehr verbreitet, was man beurtheilen kann nach den 
Entblössungen der Schichten dieser Etage an den Ufern des Flusses 
Wasusa am Sytschew’schen Kreise, am Fluss Ugra im Juchnow 1 - 
schen Kreise, am oberen Lauf des Dnjepr und der Düna, so wie 
auch an den Nebenflüssen der Meja im Kreise Bjelsk, und endlich 

f Materialien zur Geologie Russlands. 1873. V. 


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543 


am Flusse Wjasma im Wjasmaschen Kreise. Im Wladimir’schen 
Gouvernement finden wir hingegen den oberen Bergkalk stark 
ausgebildet, doch war es Hrn. Ditmar nicht möglich, diesem Gou¬ 
vernement eingehende Studien zu widmen. Er hat hier den oberen 
Bergkalk hauptsächlich in den Kreisen Kowrow und Sudogda 
untersucht. 

Hr. Profssore Traütschold hat die Herausgabe einer paläontologi- 
schen Monographie des oberen Bergkalks begonnen, und betrachtet 
die an Versteinerungen reichen Steinbrüche von Mjatschkowo bei 
Moskau als Repräsentanten desselben. In dem ersten Theile seiner 
Arbeit 1 bespricht Hr. Traütschold die Lagerungsverhältnisse der 
verschiedenen, in Mjatschkowo vorkommenden Gesteinschichten und 
giebt die Beschreibung der in ihnen vorkommenden Fischreste, 
Trilobiten und Mollusken. Die zu besprechende Arbeit stellt einen 
merkwürdigen Kontrast zu der Arbeit des Hrn. Gurow dar, indem 
Hr. Traütschold viele neue Arten beschreibt, während in dem nicht 
weniger reichen Material des Hrn. Gurow beinahe keine neue Form 
anzutreffen ist. 

Hr. Prof. De-Koninck hat neuerdings 2 die Meinung ausgesprochen, 
dass die russischen Geologen, aller Wahrscheinlichkeit nach, in 
Betreff der Batrologie der verschiedenen Abtheilungen des Mos¬ 
kauer Bergkalkes irre geführt seien, und dass dort, trotz den An¬ 
gaben von Murchison und anderer Gelehrten, der Kalkstein mit 
Productus giganteus wahrscheinlich über dem Kalkstein mit Spirifer 
mosquensis liege. Diese Meinung des Hrn. Professors De-Koninck ist 
darauf begründet, dass in Belgien der Spirifer mosquensis wirklich 
unter den Schichten mit Productus giganteus gefunden wird. Der 
belgische, mit der russischen geologischen Literatur wenig bekannte 
Gelehrte sagt selbst, dass sein vorgerücktes Alterund seine Schwäche 
es ihm nicht gestatteten, durch eigene Untersuchungen diese überaus 
wichtige Frage zu entscheiden. Er fordert junge Leute, die sich mit 
Liebe der Wissenschaft gewidmet haben, auf, diese Frage zu lösen 
und ahnt dabei gar nicht, dass die russischen Geologen über diesen 
Punkt vollkommen einig sind, und Hrn. De-Koninck an solche 
Orte führen können, wo der Kalkstein mit Spirifer mosquensis ganz 
deutlich auf dem mit Productus giganteus gelagert ist. Bei dieser 
Gelegenheit fällt mir unwillkürlich ein ähnlicher Fall ein, wo ein aus¬ 
ländischer Gelehrter behauptete, dass die russischen Geologen 

1 Nouveaux m^moires de la Soc. des Natur, de Moscou. 1874* P* * 97 » 

* Bullet, de la Soc. des Natur, de Moscou. 1874. ni, P« l6 5 - 


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544 


desshalb im Moskauer Becken keine guten Kohlenschichten ent¬ 
decken könnten, weil sie nicht in den rechten Schibhten, und nament¬ 
lich in der oberen Kohlenformation (coal-measures) nach solchen 
suchten. Dieser Gelehrte hatte natürlich keine Ahnung davon, dass 
die Formation, auf welche er hinweist, im Moskauer Becken ganz 
fehlt, und dass dort nur die untere Steinkohlenformation (der Berg¬ 
kalk) auftritt. 


Die neueren Nachrichten über das permische System betreffen 
nur das Gouvernement Wladimir und die jenseits der Wolga gele¬ 
genen Steppen (den Berg Tschaptschatschi). Im östlichen Theile 
des Wladimir’schen Gouvernements sind die Zechsteinablagerungen 
schon von Murchison und Pander entdeckt worden; Hr. Ditmar 
giebt eine Beschreibung solcher Schichten beim Kirchdorf Bulat- 
nikowo, 22 Werst nord-westlich von Murom, und beim Kirchdorf 
Lewkowo am Flusse Lucha im Wjasnikow’schen Kreise. Beiläufig 
ist zu erwähnen, dass beim Dorf Melkowodka, im Knjagininschen 
Kreise des Gouvernements Nishnij-Nowgorod, Nester von Amiant 
gefunden worden sind, die Hr. Professor Schtjurowsky als zu dem 
in der Gegend verbreiteten permischen System gehörend ansieht *. 

Was nun den im Jenotajew’schen Kreise des Gouvernements Astra¬ 
chan befindlichen Berg Tschaptschatschi betrifft, so habe ich in den 
Dolomiten, welche den südlichen Theil desselben bilden, Versteine¬ 
rungen gefunden, die mich bewegen, diesen Dolomit als permisch an¬ 
zusehen. Das im Hangenden des Dolomits gelagerte Steinsalz ge¬ 
hört aller Wahrscheinlichkeit nach auch zum permischen System 2 . 

In der permischen-Formation der Gouvernements Charkow und 
Jekaterinoslaw, in Sslawjansk und Bachmut, sind in einer Tiefe von 
50 Faden Steinsalzlager entdeckt worden *. Dieser höchst wichtige 
Fund wird natürlich genauere Untersuchungen an verschiedenen 
Orten zu Folge haben, doch sei hier bemerkt, dass nicht alle roth- 
gefärbten Gesteine dieser Gegend zur permischen Formation gehören. 
Im Gegentheil, nach den Untersuchungen des Hm. Klemm erweist 
es sich, dass die, von den Hrn. Nossow (Bergjournal, 1865. II, p. 50) 
als permische bestimmten Schichten zweifellos zur Tertiärformation 
gehören, wie z. B. die Schichten an der oberen Tersa, bei Litowka, 

* Verhandlungen des Vereins der Freunde der Naturkunde, Anthropologie und Eth¬ 
nographie, 1874. XIV, p. 6. 

* TopHbift )Kyp^ajn> (Russisches Bergjournal). 1874. II, p. 67. 

3 Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. 1874. IX, p. 143. 


V 


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545 


am Flusse Woltschja, in der Gegend von Iwanowka und an anderen 
Orten. 

Hr. Prof. Lewakowsky legt besonderes Gewicht auf jenes Re¬ 
sultat der Erforschungen von Hrn. Klemm, durch welches das Alter 
(Tertiärformation) derjenigen Schichten genau bestimmt worden ist, 
die ganz willkürlich zur unteren Kreideformation und zu dem permi¬ 
schen System gerechnet wurden, und auch so auf der Karte der 
Gebrüder Nossow angegeben sind. Professor Lewakorowsky fügt noch 
hinzu, dass die Untersuchungen von Hrn. Klemm ausser ihrem rein 
wissenschaftlichen Interesse noch die praktische Bedeutung haben, 
dass sie Jedermann warnen, unnütze Ausgaben zur Erforschung von 
solchen Mineralien, die in den Ablagerungen des permischen Sy- 
st&ns auftreten, in dieser Gegend zu machen l . 


Da in neuester Zeit die Triasschichten Russlands nicht weiter un¬ 
tersucht worden sind, so wenden wir uns zu den jurassischen Ge¬ 
bilden. Wir halten es für nöthig, zuerst die neue Auffassung des 
Wiener Professors Hm. Neumayr zu erwähnen, welcher neuer¬ 
dings in den Juraschichten Europas drei geologische Provinzen un¬ 
terscheidet. Das Jurasystem ist, wie bekannt, sehr reich an Verstei¬ 
nerungen und zerfällt in drei Formationen und vielfache Unterab¬ 
theilungen. Die Verschiedenheit der Formationen und hauptsächlich 
ihrer Unterabtheilungen wird nicht durch die Genera bestimmt, son¬ 
dern vielmehr durch die verschiedenen Species der in ihnen einge¬ 
schlossenen Thierreste, und die Gliederung des Systems umfasst 
gewöhnlich nur bestimmte Lokalitäten. Daher kommt es oft vor, 
dass man zwischen den in einer Gegend festgestellten Unterab¬ 
theilungen der Juragebilde nicht eine genaue Parallele ziehen kann 
mit den Schichten eines anderwärts gelegenen Jurabassins; und 
daher gerade erregt die Aufsuchung ähnlicher Parallelen bei Weitem 
kein solches Interesse, wie sie die Nachweisung der Verschieden¬ 
artigkeit der Juraschichten an verschiedenen Orten ihres Auftretens 
bietet. Eine solche Verschiedenartigkeit weist darauf hin, dass 
während der Juraperiode zum ersten Mal die Einwirkung verschie¬ 
dener Klimas auf das organische Leben deutlich zum Vorschein tritt. 

Aehnlich wie wir jetzt eine Verschiedenheit der Fauna und Flora 
beobachten, die hauptsächlich von der geographischen Breite der 
Orte, im Zusammenhang mit sehr vielen anderen Bedingungen, 

1 Verhandlungen des Naturforscher-Vereins zu Charkow. VIII. 


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546 


abhängt, so muss man auch vermuthen, dass in den früheren Perioden 
der Erdbildung ebenfalls solche Verschiedenheiten stattgefunden 
haben, und von der Juraperiode an finden wir auch deutliche Spuren 
derselben. Aehnlich wie wir jetzt die Erdoberfläche nach den‘auf ver¬ 
schiedenen Theilen derselben vorkommenden Thieren und Pflanzen 
in verschiedene Zonen theilen, die durch eine besondere ihnen 
eigenthümliche Fauna und Flora charakterisirt werden, so können 
wir uns auch fiir die früheren Perioden verschiedene geologische 
Provinzen denken. Wie schon erwähnt, unterscheidet Hr. Professor 
Neumayr in den mittleren und oberen Juraschichten drei Provinzen 1 , 
nämlich die Provinz des Mittelmeeres (der Jura Spaniens, der Se- 
vennen und Alpen, Italiens, der Karpathen und des Balkangebirges); 
die Provinz Mitteleuropa (der Jura des übrigen Frankreichs utid 
Deutschlands, Englands, der baltischen Länder, Brünn, Krakau, 
Dobrudscha) und die russische Provinz (die Umgegend von Moskau, 
das Petschoraland, Spitzbergen, Griechenland). Die noch wenig er¬ 
forschten Juraschichten der Krim und des Kaukasus, so wie die 
Schichten bei Isum, gehören wahrscheinlich zu der erstgenannten 
Provinz (des Mittelländischen Meeres). 

Die Fauna der Provinz des Mittelländischen Meeres wird haupt¬ 
sächlich durch eine Menge von Ammoniten aus den Gattungen 
Phylloceras und Lytoceras , wie auch durch Terebratulen aus der 
Familie T. diphya charakterisirt. In der mitteleuropäischen Provinz 
fehlen die eben erwähnten Ammonitenarten beinahe gänzlich, statt 
welcher die Arten Oppelia und Aspidoceras auftreten; zugleich sind 
hier auch die Korallenriffe äusserst verbreitet. Die russische Provinz 
zeichnet sich durch die Abwesenheit der Arten Oppelia und Aspi¬ 
doceras aus; auch die Korallenbildungen fehlen. Alle drei Provinzen 
erstrecken sich in der Richtung von Osten nach Westen; die nördlichste 
der Provinzen ist die russische, dann folgt die mitteleuropäische, und 
die südlichste ist die Provinz des Mittelländischen Meeres. Die Ver¬ 
schiedenheit der beiden letzteren Provinzen, welche sich stellen¬ 
weise berühren (wie z. B. in Mähren) kann nicht durch die An¬ 
nahme der Existenz eines Kontinents zwischen ihnen nachge¬ 
wiesen werden, und da in jetziger Zeit eine scharfe Verschiedenheit 
der Fauna in den Meeren und an den Grenzen warmer Meeresströ¬ 
mungen beobachtet wird, so glaubt Professor Neumayr, dass der 
Provinz des Mittelmeeres durch eine Equatorialströmung warme 
Gewässer zugeführt wurden, und dass die nördliche Grenze dieser 

1 Verhandlungen der K. K. Geologischen Reichsanstalt. 1872. 


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547 


Equatorialströmung mit der jetzigen Grenze der beiden Provinzen 
ühereinstimmt. 

Somit haben die jurassischen Gebilde des nördlichen und mittleren 
Russlands einen besonderen Charakter, und stellen eine besondere 
geologische Provinz dar. 

In den oberen Etagen dieser Ablagerungen erscheinen, wie be¬ 
kannt, schon einige der Kreide angehörige Thierformen, so dass 
Hr. Eichwald diese Etagen, wie z. B. bei Moskau, nicht mehr als 
dem Jura-, sondern dem Kreidesystem angehörig betrachtet. Ueber- 
haupt ist bei uns die Frage, was die Grenze zwischen den Jura- und 
Kreidegebilden ausmache, von grossem Interesse und kann nur 
durch die allergenauesten stratigraphischen und paläontologischen 
Bestimmungen entschieden werden. Ganz speciell weist Hr. Kowa- 
lewsky in seinem Werke, das wir in den «Verhandlungen des 
Moskauer Vereins von Freunden der Naturgeschichte, Anthro¬ 
pologie und Ethnographie, Bd. XIV, pag. 41» abgedruckt finden, 
auf diese Frage hin. Auch Hr. Kowalewsky nimmt auf Grundlage 
der Art und Weise, wie sich die Jura-Kreidegebilde gegenseitig 
berühren, für Europa drei parallele Zonen an. 

Seine nördliche Zone wird im Süden durch eine Linie begrenzt, 
welche sich von Yorkshire über Helgoland nach Braunschweig, 
hierauf über Schlesien nach Polen erstreckt; in der ganzen Aus¬ 
dehnung dieser Zone sind die Kreidegebilde unmittelbar, und zwar 
diskordant, auf die ausgewaschene Oberfläche der oberen Jura¬ 
schichten gelagert; — augenscheinlich fand hier, bei der Bildung 
beider Systeme, eine Zwischenzeit statt. Die mittlere Zone wird im 
Süden durch eine Linie von ununterbrochenen Jura-Kreideablage- 
rungen begrenzt, welche sich von Spanien über Chambery, Glarus, 
die bayrischen Alpen, Wien, die Karpathen, Dobrudscha und viel¬ 
leicht bis zur Krim hinzieht; in dieser Zone schiebt sich zwischen 
die Jura- und Kreideablagerungen eine Suite von Süsswasserge¬ 
bilden ein. Der südlichen oder mediterranäen Zone gehören alle die 
sedimentären Ablagerungen an, die, südlich von letzterwähnter Linie 
befindlich, die Alpen- (Tiefwasser) Facies darstellen, in welchen 
die oberen Juraschichten, in ununterbrochener und paralleler Lage¬ 
rung, in die unteren Kreideschichten übergehen, so dass es in diesem 
Falle fast unmöglich erscheint, eine bestimmte Grenze zwischen 
beiden Systemen festzustellen. 

Auf diese Weise sehen wir die Jura- und Kreideperioden, die im 
nördlichen und mittleren Europa so scharf abgesondert erscheinen, 


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im südlichen Europa eng verbunden durch eine ununterbrochene 
Schichtenreihe, die, wie bekannt, in der Wissenschaft den Namen 
der Tithonischen Etage führt. Zu der Zeit, als sich diese Schichten 
im südlichen Europa ablagerten, bildete, nach erfolgter Hebung, 
das übrige europäische Jurasystem schon einen Theil des festen 
Landes, auf dem sich die Süsswassergebilde der sogenannten Wealden - 
formaüon ablagerten. Die Juraschichten des Königreichs Polen und 
die bei der Stadt Propiljan (im Kowno’schen Gouvernement) hält 
Hr. Kowalewsky für Gebilde des westeuropäischen Jurameeres und 
ordnet sie seiner nördlichen Zone unter, in der, zwischen den Jura- 
und den sie überlagernden Kreideschichten, eine bedeutende Zwi¬ 
schenzeit bemerkbar ist. Dagegen werden die Juragebilde des 
nördlichen und mittleren Russlands, auf Grundlage ihrer Analogie 
mit dem Jurasystem Spitzbergens und Sibiriens, von Hrn. Kowa¬ 
lewsky für Ablagerungen aus einem Meere, das einen Theil des 
nördlichen Jura-Oceans bildete, angenommen; dieser Theil des nörd¬ 
lichen Meeres zog sich über das Petschora-Bassin nach Süden hin, 
umspülte das Moskauer Gebiet und dehnte sich bis zum Kaspischen 
See aus, während er vom westeuropäischen Meere durch das erhöhte 
Festland des nördlichen Russlands, durch Finland und Schweden 
getrennt war. Dieses Festland existirte schon längst, sogar schon 
nach der permischen Periode, was daraus zu ersehen ist, dass es 
weder im nördlichen noch im mittleren Russland Meeresablage¬ 
rungen aus der Triaszeit giebt. Hr. Kowalewsky fordert nun auf, 
zunächst die nördlichen Grenzen unseres centralen Juragebietes zu 
bestimmen. Man habe, sagt er, einigen Grund vorauszusetzen, dass 
vielleicht auch Russland die beiden Typen der Jura-Kreidegebilde 
aufweisen könnte, die er für das übrige Europa beschrieben hat. 
Das Vorkommen in der Krim solcher Formen wie Terebratula 
diphya, ) Ammonites quadrisulcatus (tatricus) und überhaupt einer 
Neokombildung, die vollkommen der südüchen Zone der ununter¬ 
brochen Jura-Kreideschichten entspricht, giebt in der That Veran¬ 
lassung zu glauben (wie dieses schon von Neumayr ausgesprochen 
ist), dass in den südlichen Theilen Russlands, in der Krim und auf 
dem Kaukasus ein allmählicher Uebergang vom Jura zur Kreide, ver¬ 
mittelst der Tithonischen Etage, stattfindet. Andrerseits weist 
die Existenz des Klin’schen Sandsteines, den man zur Wealdenfor - 
tnation rechnet, darauf hin, dass die Erhebung des Festlandes näch 
der Juraperiode eine Unterbrechung in der Bildung der Niederschläge 
in Central-Russland hervorrief. Die Existenz der Wealdenformation 


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549 


in Central-Russland, meint Hr. Kowalewsky zum Schlüsse, mache 
die Frage wegen der Grenze zwischen den Kreide- und Juragebilden 
zu einer ganz besonders interessanten; zur Entscheidung derselben 
weist Hr. Kowalewsky auf eine Untersuchung der Wolgaent- 
blössungen hin. 

Gleichzeitig mit dem Werke des Hm. Kowalewsky erschienen 
Hrn. Ludwig’s Notizen *, gleichfalls die Wolgaufer betreffend. 
Hr. Ludwig sagt, er habe in den Schichten der bekannten Ent- 
blössung beim Städchen Kaschpur Ammoniten gefunden, die 
hier auf die Existenz von Tithonschichtrn schliessen liessen. Ob¬ 
gleich alle diese Ammoniten nur annähernd bestimmt worden sind, 
so könnte doch, nach der Meinung des Hm. Ludwig, vielleicht eine 
neue Besichtigung der Moskauer und Wolgaer Ammoniten den 
alten Streit über das Alter der Schichten, welche diese Versteine¬ 
rungen enthalten, entscheiden. 

Ferner erwähnen wir noch, dass sich in den Berichten der 
Hrn. Ditmar und Stuckenberg 2 Notizen befinden über die Juragebilde 
am Flusse Oka, im Wladimirschen Gouvernement, und in der Krim. 
Hr. Stuckenberg hat in den Thonschiefern Balaklawa’s Ueberreste 
von Posidonia Bronni aufgefunden, und dadurch die Zugehörigkeit 
dieser Schiefer zum Lias noch mehr konstatirt. Hr. Miloschewitsch 
sagt in seinem Aufsatze 3 , dass in der mittleren Etage der Moskau’- 
schen Juragebilde, zwichen den Dörfern Tatarowo und Troitzk, 
Zähne von Polyptychodon interrupius Ow. aufgefunden seien, und 
dass man, aller Wahrscheinlichkeit nach, diesem Genus die Rücken¬ 
wirbel zuschreiben müsste, welche Fischer früher unter dem Namen 
Jchtyosaurus Nasimovit beschrieben hat. Dieser Fund eines so hoch 
organisirten Thieres, das ohne Zweifel der Kreideperiode ange¬ 
hörte, in Ablagerungen, die gewöhnlich für Juragebilde angenommen 
werden und Ammonites virgatus enthalten, wirft, wie Hr. Milo¬ 
schewitsch bemerkt, ein ganz neues Licht auf diese Schichten, und 
unterstützt im hohen Grade die Meinung des Hrn. Eichwald, der 
diese Schichten für Kreidegebilde hielt. 

Der Kijew’sche Naturforscher-Verein unternahm eineUntersuchung 
des Chersson’schen Gouvernements mit der Absicht, Juragebilde 
in demselben aufzusuchen. Hr. Blümel wurde zu diesem Zwecke 
dahin geschickt. Man muss bemerken, dass es bei uns kein Gou- 

1 Bull. d. 1 . soc. d. nat. d. Mose. 1874. H, 379. 

* Materialen für die Geologie Russlands. V. 

* Verhandlungen des Moskauer Naturforscher-Vereins. ITT, 311. 


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SSO 


vernement giebt, welches in geologischer Beziehung so genau unter¬ 
sucht worden wäre, wie das Chersson’sche, und keiner von den bis¬ 
herigen Forschern hat auch je nur entfernt auf die Möglichkeit hin¬ 
gewiesen, daselbst Spuren von Juragebilden anzutreffen; andererseits 
ist auch zu erwähnen, dass gerade im Kijew’schen Gouverne¬ 
ment, im Konew'schen Kreise, Juraschichten schon längst bekannt 
sind, an deren nähere Untersuchung und Beschreibung bisher noch 
Niemand gedacht hat. In seinem Berichte 1 erklärt Hr.Blümel, dass er 
im Chersson’schen Gouvernement durchaus keine Juragebilde ge¬ 
funden habe — was auch zu erwarten war. 


Die hier zu besprechenden Schilderungen des Kreidesystems be¬ 
ziehen sich hauptsächlich auf die Ufer der Wolga. Hr. Lahusen * 
wählte zum Thema seiner paläontologischen Dissertation die Be¬ 
schreibung der Schichten schwarzen Thones, auf denen die Stadt 
Ssimbirsk gebaut ist. In dem Ssimbirski’schen Thone, erklärt Hr. La¬ 
husen, treten nicht nur einige der Hauptvertreter der unteren west¬ 
europäischen Kreidegruppe auf, sondern auch viele andere Thier¬ 
formen derselben, die den bekannten Species der unteren Kreide 
sehr ähnlich sind. In paläontologischer Beziehung kann man diese 
Thonbildungen in zwei Etagen eintheilen, von denen die untere 
einige allgemeine und ähnliche Formen mit denen des Neocom und 
Hils einschliesst, während in der oberen Etage eine grosse Menge 
von fossilen Ueberresten einiger Cephalopoden bemerkbar ist, welche 
den oberen (wahrscheinlich wohl den unteren) grünen Sandstein 
Englands oder das Aptiengebilde Frankreichs charakterisiren. Eine 
genauere, jenen beiden Etagen entsprechende, Gruppirung der be¬ 
schriebenen Formen führt jedoch Hr. Lahusen nicht an, wenn 
er auch erwähnt, dass in den Mergelkonkretionen der unteren 
Etage Pecten crassitesta , Avicula Comueliana , Astarte porreeta , 
lnoceramus aucella, Ammonites verstcolor u. a. m., und in den 
Mergelzwischenschichten der oberen Etage eine Menge von 
Ammoniies Deshayesii und A. bicurvatus Vorkommen. Obgleich 
Hr. Professor Trautschold % mit einigen paläontologischen Bestim¬ 
mungen Hm. Lahusen’s nicht übereinstimmt, so ist er doch nichts¬ 
destoweniger bereit, den Ssimbirski’schen Inoceramenthon für ein 
Kreidegebilde anzusehen. Dagegen zählt Hr. Professor Trautschold, 

1 Schriften des Kijew’schen Naturforschervereins, m. 311. 

1 Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. 1874, IX, 150, 

• Bull. d. 1 . soc. d. nat. d. Mose. 1874, III. 150. 


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nach wie vor, die Aucellaschichten, in denen Hr. Lahusen keine 
einzige jurassischeThierform anerkennt, zu den Juragebilden. Hr. Pro¬ 
fessor Trautschold lenkt die Aufmerksamkeit der Geologen auf den 
Umstand hin, dass längs der Wolga, zwischen Nowo-Dewitschje und 
Ussolje, die Kreidemergel mit Avicula densicostata eine grosse Ver¬ 
breitung haben. Die fossilen Ueberreste der oberen Kreideformation 
hat Hr. Lahusen in einem anderen Aufsatze 1 beschrieben, theil- 
weise auf das von ihm selbst gesammelte Material, grösstentheils je¬ 
doch auf die Exemplare der vorzüglichen Jasykowschen Sammlung 
fussend, die sich gegenwärtig im Museum des Berginstituts be¬ 
findet. Die von ihm beschriebene Fauna (in der bloss die Schwämme 
und Wurzelfüssler unbestimmt geblieben sind) umfasst, ausser 
durchaus russischen Formen, die wichtigsten und charakteristisch¬ 
sten Vertreter der Senongebilde d’Orbigny’s; auch sind hier einige 
Turonische Formen mit einbegriffen. — Werfen wir einen Blick auf 
den petrographischen Charakter der oberen Kreideformation, so 
könnte man sie in folgender absteigender Ordnung darstellen: 

I. weisse Kreide in Mergel übergehend, 2. weisser und grauweisser 
Kreidemergel, 3. dichter sprüngiger rauchgrauer Mergel, 4. Glaukonit¬ 
mergel mitKnollen von Phosphorit, 5. grünlich grauer Sand und Sand¬ 
stein, gleichfalls mit Phosphorit. Wie Hr. Lahusen bemerkt, sind 
die fossilen Ueberreste gleichmässig in diesen Gesteinen vertheilt, 
nur werden in den Mergeln, subNr. 3, vorzugsweise Avicula tenuicosta i 
Foraminiferen und kleinere Austernarten angetroffen. 

Endlich finden wir noch Notizen über Kreidegebilde an der 
Wolga in dem Werke des Hm. Sinzow (Schriften des Neurussi¬ 
schen Naturforscher-Vereins, 1873) und in meinem Aufsatze (Berg- 
Journal, 1874. in. 169) \ in dem Werke, das Hr. Karpinsky über 
seine Reise in Wolhynien (Wissensch.-hist. Sammlung v. Schriften des 
Berginstituts, 1873) veröffentlichte, finden wir gleichfalls Notizen über 
das Kreidesystem, ebenso auch in dem Aufsatze des Hm. Stucken¬ 
berg über die Krim 2 (Materialien für die Geologie Russlands, V). 
Endlich muss auch auf die Arbeit des Professors Lewakowsky 
hingewiesen werden «über die Kreidegebilde und die tiefer lie¬ 
genden Schichten in dem Gebiet zwischen den Flüssen Dnjepr und 
Wolga» (Schriften des Charkow’schen Naturfurschervereins, 1873 
und 1874). Bisher ist von Hrn. Professor Lewakowsky bloss die Geotek- 

1 Wissenschaftlich historische Sammlung von Schriften des Berginstituts. 1875, 

II. 219. 

1 s. «Russ. Revue* Bd. IV, p 255, ff. 


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552 


tonik der obenerwähnten Ablagerungen am Dnjepr, seinen Neben¬ 
flüssen und an den Flüssen des Asow’schen Bassins bearbeitet 
worden und wir erwarten mit Ungeduld die Beendigung dieses 
beachtenswerthen Werkes, das ein so kolossales Gebiet umfasst. 

Was die Tertiärzeit betrifft, so müssen zu allererst AizNumntidiUn- 
kalksteine besprochen werden, deren Entdeckung in der Nähe des 
Kriwoi-Rog von Hrn. Strippelmann 1 erwähnt wird. Leider bestimmt 
er nicht genauer, wo dieselben gefunden worden sind, ob im 
Chersson’schen, oder im Jekaterinoslaw’schen Gouvernement? Diese 
Thatsache wäre höchst interessant, falls sich Hrn. Strippelmann’s 
Anzeige bestätigen sollte, da bisher bei uns Nummulitenschichten 
bloss in Polen, in der Krim und auf dem Kaukasus bekannt waren. 
Dem verstorbenen Professor Fischer von Waldheim wurden übrigens 
eines Tages Nummuliten aus Jelissawetgrad zugestellt; dieSchichten 
jedoch, denen sie angeblich entstammten, sind bisher noch von 
keinem der Erforscher des Chersson’schen Gouvernements entdeckt 
worden. Die Nummulitenschichten der Krim wurden von Hrn. Stu¬ 
ckenberg näher untersucht 2 (Materialien für die Geologie Russlands, 
V. 145). Wie bekannt schreiben einige Geologen diese Krimschen 
Gebilde der Kreide zu, andere — dem Eozen; die Meinung Letz¬ 
terer theilt auch Hr. Stuckenberg, wobei er auf das Faktum fusst, 
dass mit den Nummuliten zusammen hauptsächlich nur Eozen- 
Versteinerungen gefunden werden, dagegen wären die der Kreide¬ 
zeit angehörigen Thierformen, die mit den Nummuliten zusammen 
angetroffen werden, bloss fossile Ueberreste einer schon ausgestor¬ 
benen Kreidefauna. 

Einige Notizen über die Untertertiärbildungen an den Wolga¬ 
ufern findet man in der oben citirten Schrift des Hrn. Sinzow und 
in der meinigen. Hier bemerken wir einen allmählichen Uebergang 
der Kreidegebilde in Tertiärgebilde, wobei eine sehr an Ostrea vesi - 
cularis erinnernde Form den Uebergang vermittelt. Ein ganz beson¬ 
deres Interesse erregen, ihrer Grösse und ihres Reichthums an Ver¬ 
steinerungen wegen, die kolossalen Konkretionen, denen vom Volke 
der Name Korowät (grosse flache Weizenkuchen) gegeben worden 
ist, und nach denen die Stanitza (Kosakendorf) Korowaikina be¬ 
nannt wurde; diese Konkretionen erreichen bisweilen einen Durch¬ 
messer von 3 Faden (6,4 Mtr.). Die Versteinerungen können nur 

4 Strippelmann, Süd-Russland’s Magneteisenstein- und Eisenglanz Lagerstätten. 
Halle. 1873, pag* * 5 «Russ. Revue» 1 . c. 


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schwer aus der harten Quarzmasse ausgeschieden werden; unter 
ihnen entdeckte ich zwei Formen, die ich für neue halte (Cardita 
volgensis und Cucullaea volgensis). 

Hier wäre es am Ort, die geologische Karte der Stadt Kijew zu 
erwähnen, welche der Professor Feophilaktow im Jahre 1874 zusam¬ 
menstellte, (Massstab ungefähr 200 Fd. = 1 [engl.] Zoll). Kijew ist 
•nicht nur seiner historischen Denkmäler und seiner schönen Lage 
wegen bemerkenswerth, es erregt auch in geologischer Beziehung 
das höchste Interesse. Sich malerisch auf dem hohen rechten Dnjepr- 
ufer ausbreitend, auf Hügeln, die im Laufe der Zeit durch den alten 
Potschaina, Lybed und eine Menge von Schluchten zerspalten sind, 
bietet Kijew vorzügliche Schichtenentblössungen der Tertiär- und 
diluvialen Periode dar. Auf der Karte finden wir nicht bloss die 
Ausgänge verschiedener Abtheilungen der Tertiärperiode, sondern 
auch die Verbreitung der diluvialen Gebilde verzeichnet. Diese 
letzteren sind, je nachdem sie auf verschiedenen Abtheilungen der 
Tertiärgebilde ruhen, mit verschiedenen Farben bezeichnet, was 
natürlich, beim Durchsehen der Karte, eine kleine Unbequem¬ 
lichkeit verursacht: es wäre viel einfacher gewesen, die Diluvial¬ 
bildungen mit einer Farbe zu bezeichnen, die untergeordneten Ter¬ 
tiärbildungen hingegen auf dieser Farbe mit Strichen anzuzeigen. 
Das Auge wird ganz besonders unangenehm berührt durch das ver¬ 
schiedenfarbige Bezeichnen ein und derselben Schicht auf geologi¬ 
schen Profilen, welche, trotz ihrer Einfachheit, noch ausserdem 
durch Zahlen und Buchstaben bunt gesprenkelt erscheinen. Die 
Ausführung dieser übrigens höchst interesanten Karte ist eine vor¬ 
treffliche; auf den Profilen ist der höchste und niedrigte Stand¬ 
punkt des Grundwassers angegeben, auch der Horizont des Kijew’- 
schen Höhlenklosters und A. m. Das Ufer des Dnjepr erreicht in 
Kijew eine Höhe von 327 Fuss, wobei die absolute Höhe des Fluss¬ 
spiegels 278 Fuss beträgt. 

Von den unteren Tertiärgebilden gehen wir zu der Neogenfor¬ 
mation über. Hr. Sinzow weist in seiner Abhandlung «Geologi¬ 
sche Beschreibung des Bessarabischen Gebiets. Odessa. 1873» 
'daraufhin, dass die Nulliporenschichten, die von mir zuerst in Russ¬ 
land entdeckt worden sind, eine bedeutende Entwickelung im nord¬ 
westlichen Theile Bessarabiens zeigen. Auch von den aus Pleuropora 
(Eschara) lapidosa gebildeten Kalksteinen, die ich aus dem Podoli- 
schen Gouvernement, zwischen den Flüssen Muschka und Uschitza, 
beschrieben habe, weist er nach, dass sie sich auch nach Bessarabien 

Hum. Berne. Bd. Y1I. -r 




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erstrecken, und, in der Gestalt eines schmalen Bandes, sich nach 
SW. bis zum Flusse Pruth', und zwar bis zum Kirchdorfe Brinsen, 
ausdehnen. In den sandigen Ablagerungen einiger Gegenden des 
Bessarabischen und des Podolischen Gouvernements, die ich als dem 
sarmatischen Stufe angehörig betrachtete, da in diesen Schich¬ 
ten Bruchstücke von Mactra podoüca angetroffen worden sind, ist es 
dem Hrn. Sinzow gelungen, Süsswassermuscheln und Knochen 
von Säugethieren zu finden, wesshalb er diese Schichten mit Recht 
als posttertiäre betrachtet. Die Beschreibung der Ssarmatischen 
Fauna aus Kischinew findet sich auch in der Schrift des Hrn. Ru¬ 
dolph Hoernes, die wir im «Jahrbuch der K. K. Geologischen Reichs¬ 
anstalt. 1874. XXIV. 33* abgedruckt finden. Die sarmatischen 
Schichten der Krim, aus der Umgegend Ssewastopols, wo ihre 
Basis aus Süsswasserablagerungen besteht, sind von Hr. Stucken¬ 
berg ( 1 . c.) beschrieben worden; die Ssarmatische Fauna aus Jenikale 
— von Hrn. Hoernes. 

Aus der Abhandlung Hrn. Sinzow’s ist es ersichtlich, dass es 
Hrn. Wiedholm gelungen ist, im Odessaer Kalksteine (zur ponti- 
schen Stufe gehörig), — Valenciennesia annulaia aufzufinden, was 
den erwähnten Kalkstein noch mehr den Kertsch’schen Schichten 
nähert; diese Annäherung tritt ganz besonders in der obenerwähnten 
Schrift des Hrn. Hoernes klar hervor. Hr. Sinzow ist ( 1 . c.) da¬ 
gegen der Meinung, dass Cardiutn littorale Eichw . indentisch sei 
mit C. semisulcatum Rous.> dass die von mir beschriebene Congeria 
simplex mit C. gracilis Rous . zu identificiren sei, u. d. m. TDieses 
Alles ist wohl möglich (da diese Versteinerungen von Hrn. Eich¬ 
wald und mir nur nach Steinkern bestimmt worden sind), bedarf 
aber noch des Beweises; ungegründete Behauptungen können 
durchaus nichts besagen, und dass es Hrn. Sinzow so leicht erscheint, 
eine Species in eine andere umzunennen, kann hier nicht in Betracht 
kommen, da er ja im Stande ist, aus einer ganzen Fauna eine an¬ 
dere umzuschafien (ist der Fall mit den Ssaratowschen Schichten). 

Nachdem wir auf diese Weise aus der Reihe der Neogengebilde 
die Nulliporenschichten, die sarmatischen und pontischen Schichten 
unserer Betrachtung unterworfen haben, bleibt uns noch 'übrig, 
einige Worte über die baltdsche Stufe hinzuzufügen. Hr. Sinzow 
(l. c.) ist der Meinung, dass die balta’sche Stufe eine dem Odes¬ 
saer Kalkstein parallele Ablagerung sei. Diese Anschauung ist 
sehr wahrscheinlich, da ja auch im Wiener Bassin die Belvederer 
Kiesschichten (denen ich die balta’schen Sandschichten gleichstelle) 




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555 


theilweise der Congeriaschichte (der man den Odessaer Kalkstein 
gleichstellen könnte) untergeordnet sind, obgleich sie grösstentheils 
auf letzterer ruhen; dieses scheint Hr. Sinzow, aller Wahrschein¬ 
lichkeit nach, unbekannt zu sein. Die hier ausgesprochene Ansicht 
kann übrigens erst dann als eine wahre hingestellt werden, wenn 
sie sich nicht mehr auf blosse Voraussetzungen basiren, sondern sich 
auf genaue geologische Untersuchungen begründen wird. Und auch 
in letzterem Falle wird man, wie früher, die balta’schen Sand¬ 
schichten die hauptsächlich nur Ueberreste von Säugethieren, nicht 
von Mollusken, enthalten, den Belvederer Schichten gleichstellen 
müssen. Eine wichtige Entdeckung glaubt Hr. Blümel (Schriften des 
Kijew’schen Naturforschervereins. 1873. UL 332) gemacht zu haben, 
indem er erklärt, dass die Schichten des Alexandryski’schen und des 
Jelissawetgradski’schen Kreises, im Gouvernement Chersson, die ich 
auf Grundlage ihrer petographischen Analogie zum balta’schen 
Stockwerke zählte, als Diluvialschichten betrachtet werden müssten. 
Ich bemerke bloss, dass es überaus schwierig ist, das Alter von 
Schichten, die durchaus ohne Versteinerungen erscheinen, zu be¬ 
stimmen .... wie schade, dass es Hm. Blümel nicht gelungen ist, 
wenn auch nur das Bruchstück eines Mammuthschneidezahns auf¬ 
zufinden. 

DieLosowo-SsewastopolerEisenbahnlinie durchschneidet auf ihrer 
ganzen Länge hauptsächlich bloss Tertiärbildungen. Die Ein¬ 
schnitte, die diese Bahnlinie macht, sind von Hrn. Myschenkow 
beschrieben worden; aus seiner Abhandlung (Berg-Journal. 1874. 
IV. 179) ist ersichtlich, dass er die nördliche Grenze der sarma- 
tischen Stufe am Fluss Worona, im Jekaterinosslaw’schen Gou¬ 
vernement angetroffen habe, dagegen die nördliche Grenze der Pon- 
tischen Stufe in der Nähe der Station Wassiljewka, im Alexan- 
drow’schen Kreise. 

Die diluvialen Bildungen, die noch vor kurzer Zeit bei uns nicht 
die nöthige Aufmerksamkeit erregten, bilden heut zu Tage immer 
mehr und mehr einen Gegenstand ernsten Studiums. Für die bei¬ 
den letztverflossenen Jahre finden wir in der geologischen Literatur 
zerstreut eine Menge von Notizen und sogar Specialuntersuchungen 
über diesen Gegenstand. Besonders bevorzugt waren in dieser Be¬ 
ziehung unsere nördlichen erratischen Gebilde, wobei die von den 
schwedischen Geologen fesgestellten Data viel zur Erklärung ihrer 
Entstehung beigetragen haben. Eine hervorragende Stellung in der 
Reihe der Untersucher unserer erratischen Gebilde nimmt der Fürst 

36* 


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556 


Kropotkin ein; er studirte die erratischen Bildungeneines bedeutenden 
Theiles von Finland und unternahm eine Reise nach Schweden, um 
sich an Ort und Stelle mit Dem bekannt zu machen, was bisher hin¬ 
sichtlich dieses Gegenstandes daselbst geleistet war. In der Er¬ 
wartung des wichtigen Werkes Kropotkin’s, das gegenwärtig im 
Drucke befindlich ist, führen wir hier einige schon von ihm ver¬ 
öffentlichte Fakta 1 an. Als charakteristisch für die Diluvial-Gebilde 
der Gletscherperiode bezeichnet Fürst Kropotkin das Vorkommen 
von mehligem Gletscherschlamm oder Gletscherstaub in den Ablage¬ 
rungen, wobei das Trümmermaterial durchaus ungeordneterscheint. 
Solche ursprüngliche diluviale Gletscherablagerungen theilten sich, 
als sie späterhin stellenweise der Wirkung von Gewässern unterwor¬ 
fen wurden, in verschiedene Produkte, wie Gletscherkies und Gle¬ 
tschersand, wobei sich aus letzterem wiederum Gerolle, Flusssand und 
sandige Thonarten absonderten. DieHügel, die unter dem Namen äsar 
bekannt sind, nimmt Fürst Kropotkin lür Moränen an und unter¬ 
scheidet unter ihnen einige Typen. Der gewöhnlichste dieser Typen 
besteht aus einem ungeschichteten Kerne und einer geschichteten 
Decke (Mantel). Bei der Bildung solcher &sar waren zwei Kräfte 
thätig: die Kraft des Gletschers zur Schaffung des Kernes, und die 
Kraft des Wassers zur Ablagerung der äusseren Decke. Ueberhaupt, 
meint der Verfasser, seien die äsar Moränen, die zu der Zeit, wo 
sie nach der Gletscherperiode im See- oder Meereswasser theilweise 
oder vollständig versanken, durch geneigte Schichten von Alluvial- 
Gebilde überdeckt worden. Auch glaubt Fürst Kropotkin, sich auf die 
Gesammtheit seiner Beobachtungen stützend, dass zur Zeit der Gle¬ 
tscherperiode ganz Finland von einem kompakten, mit Skandinavien 
gemeinsamen Eismantel bedeckt gewesen sei. Hierauf wäre, zur 
Zeit des Aufthauens der Gletscher, die Periode einer ausgedehnten 
Entwickelung von Landseen eingetreten, die, nach der Mächtigkeit 
der Alluvialgebilde zu urtheilen, überaus lange gedauert habe. Zur 
Zeit dieser Periode war die absolute Höhe Finlands um ioo— 150 
Fuss geringer wie heut zu Tage. Durch dies allmähliche Sinken 
konnte aber bloss ein schmaler Küstenstrich unter Wasser gesetzt 
werden; dagegen hat man durchaus nicht konstatiren können, dass 
der grössere Theil Finlands vom Meere bedeckt gewesen sei. 

Endlich giebt Fürst Kropotkin zu *, dass alle erratischen Blöcke, 
welche wir im mittleren und nördlichen Russland zerstreut finden, 

1 Schriften d. St. Petersb. Naturforscher-Vereins, 1874. LXXÜ. 

* Verhandlungen d. Geogr. Gesellsch. 1874. X. 323. 


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557 


durch die Thätigkeit der Gletscher an ihre Stelle gebracht worden 
seien und nicht vermittelst schwimmender Eisschollen, wie man ge- 
wöhnlichanzunehmenpflegt. Diese Meinung basirt er darauf, dasssich, 
nach den Beobachtungen von Seefahrern, auf den Eisschollen, die von 
den Küsten Grönlands in’s nördliche Eismeer getrieben werden, 
Steine nur in beschränkter Anzahl vorfinden, wobei dieselben in die 
untere Fläche der Eisschollen eingefroren erscheinen. Eine solche 
Anschauung der Verfassers bedingt natürlich die Annahme eines 
ununterbrochenen Gletschers, der das europäische Russland, von 
Finland bis Kijew und Woronesh, bedeckte. Die Beweise für die 
Möglichkeit der Existenz eines solchen Gletschers und für die Ver¬ 
breitung erratischer Blöcke durch denselben erwarten wir in dem 
uns in Aussicht gestellten Hauptwerke Kropotkin’s. Für den 
Augenblick können wir uns nur in dem Sinne aussprechen, dass die 
frühere Theorie von der Verbreitung erratischer Blöcke durch 
schwimmende Eisschollen schon längst ihre Bedeutung verloren hat 
und sich nur noch ihrer einfachen Auslegung wegen hält. Ihre Be¬ 
deutung aber hat sie desshalb verloren, weil mit ihr solcheThatsachen, 
wie z. B. die Gegenwart von Süsswassermuscheln und von Säuge¬ 
thierknochen in den Diluvialschichten, sowie das Fehlen von Vertre¬ 
tern des Meeres in denselben, durchaus nicht in Einklang zu brin¬ 
gen sind. 

l Schloss folgt). 


Literatnrberlclit. 


CoÖptHie TpanTÄTorb n KOHnetmil, aami.Poccieio erb HHOCTp. (Io nopyneiiiio 

mhh. HHocrp. A'bJn* cocraBHJn> 0 . Mapmeucs , npo#, Hmii. Ct. IleTcpÖ. yHascpcM- 
TeTa.T.I,TpaicraTbi Cb ABerpieio 1548—1762. CüB. 1874. XXII-j-XXIV + 3 * 4 * 
T. II, Tp. ct» AüCTpieK) 1772—1808. CI1B. 1875. XV -f- 517« 

Recueil des Trait^s et Conventions conclus par la Russie avec les puissances Itrang&res, 
publie d’ordre du Ministere des affaires etrangores par /*. Martens , Professeur ä 
rUniversit£ imperiale de St. P&ersbourg. T. I. Traitäs avec TAutriche. 1648— 
1762. St Pltersbourg 1874. XXII + XXIV + 324 T. II. Trait^s avec l’Au- 
triche. 1772—1808. St Pötersbourg. 1875. XV + 5 * 7 - 

So viel manche Philantropen der Gegenwart auch darüber klagen 
mögen, dass die internationalen Beziehungen in ihrer rechtlichen Nor- 


/ 


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558 


mirung keineswegs den sonstigen hohen Ideen unserer Zeit entspre¬ 
chen, so wird Keiner, der dem Gange und der Entwickelung des inter¬ 
nationalen Rechtslebens der letzten Jahrzehnte aufmerksam gefolgt 
ist, in Abrede stellen wollen, dass die Errungenschaften auf dem Ge¬ 
biete des Völkerrechts im Vergleich mit denen auf anderen Gebieten 
des socialen Lebens auffallend zurückgeblieben wären; imGegentheil, 
es ist in den letzten Jahrzehnten so Vieles, Gutes und Nützliches für die 
Förderung der Weltrechtsordnung geleistet worden, dass wirlm Gan¬ 
zen und Grossen ohne allen Optimismus mit gutem Gewissen zugeste¬ 
hen können, dass sich der auf diesem Gebiete erreichte Standpunkt der 
Gegenwart seinerzeit nicht zu schämen braucht. Alles geht seine Zeit, 
Sprünge sind, wenn sie auch selbst möglich wären, nie gut, und 
Rechtssätze ohne die nöthige moralische Grundlage sind eher krank¬ 
hafte und desshalb unerfreuliche, als erfreuliche und den Gegenstand 
fördernde Zustände. Sich über den durch den Abschluss einer fast 
unübersehbaren Menge von Staatsverträgen geförderten Stand des 
Völkerrechts der Gegenwart ein klares und vollständiges Bild zu ver¬ 
schaffen, ist nun allerdings nicht so leicht. Die Ursache dieser Schwie¬ 
rigkeit liegt aber keineswegs in der Unmöglichkeit: das ganze Ver¬ 
tragsmaterial, welches den Stand des Völkerrechts in den letzten 
Jahrzehnten gefördert hat, zu übersehen, sondern in einer scheinbar 
weit weniger zu rechtfertigenden Ursache. Wir besitzen nämlich erst 
seit kürzerer Zeit ein Journal, das uns in periodenweise erscheinenden 
Heften die Staatsverträge bringt, die in der Gegenwart abgeschlossen 
werden. So rasch nach dem Abschluss derselben geschieht es frei¬ 
lich nicht, ufld man erfährt nicht selten den Inhalt der betreffenden 
Aktenstücke erst nach Verlauf mehrerer Jahre. Um sich daher auf 
dem Standpunkte der Zeit zu erhalten, ist es nothwendig, sich in 
allen möglichen Zeitschriften und Zeitungen umzusehen. Aber nicht 
nur wird uns die Kenntniss der zeitgenössischen Staatsverträge in 
dieser Weise erschwert, auch die der schon historisch gewor¬ 
denen ist uns nicht immer ohne weitere Unbequemlichkeiten zugäng¬ 
lich. Für die Zeit nach 1761 haben wir allerdings nicht mit solchen 
Schwierigkeiten zu kämpfen; für die Zeit vor 1761 ist uns aber das 
Zusammensuchen der Staatsverträge in vollständiger Zahl nicht leicht, 
oft sogar unmöglich. Berücksichtigt man diese Umstände, so wird 
man leicht ermessen, mit welchen äusseren Hindernissen es Deijenige 
zu thun hat, der sich die Aufgabe stellt: die Geschichte des interna¬ 
tionalen Rechtslebens zu erforschen. Diese literarische Thätigkeit 
ist nun keineswegs gelehrte Spielerei, sondern sie hat ihre tiefe prak¬ 
tische Bedeutung, indem sie den Weg zeigt, welchen man in der Ge¬ 
genwart mit Berücksichtigung der Vergangenheit und zeitgenössi¬ 
schen Zustände einzuschlagen hat, um der Zeit entsprechende, für 
die Dauer haltbare Veränderungen in der Ordnung der Staaten unter 
einander vorzunhmen. Ausserdem wird Keiner die moralische Kraft 
des Geschichtlichen in Abrede stellen wollen. 

Im Hinblick auf das Gesagte wird es einleuchtend sein, welchen 
Werth gut systematisch angelegte Staatsvertragssammlungen haben. 


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559 


Da es aber äusserst schwierig wäre, eine allgemeine Sammlung der 
Staatsverträge für alle Zeiten mit der grössten Vollständigkeit her¬ 
zustellen, so ist es ganz zweckmässig, dass einzelne Staaten die von 
ihnen seit Anbeginn ihrer Existenz geschlossenen internationalen 
Verträge in fortlaufender Sammlung herausgeben j diese hat ausser¬ 
dem unmittelbaren praktischen Nutzen für die Beamten im auswär¬ 
tigen Departement des betreffenden Staates. Mit Rücksicht auf den 
letzteren Umstand sind denn auch schon von mehreren Staaten 
Sammlungen der von ihnen mit anderen Staaten abgeschlossenen 
Verträge herausgegeben worden. Wir in Russland ermangeln im 
Augenblick einer speciellen Sammlung aller von Russland seit An¬ 
beginn seiner Existenz mit fremden Staaten geschlossenen Verträge. 
Katherina II. gab 1779 dem Kollegium für auswärtige Angelegen¬ 
heiten allerdings den Befehl, eine Sammlung der alten und neuen 
russischen Staatsverträge zu veranstalten, das Kollegium betraute den 
bekannten Historiker Müller mit den Arbeit. 1783 erfolgte sogar 
ein Ukas über die Errichtung einer besonderen Buchdruckerei für 
den Druck der coöpaHie BC'fcx-b poccificKuxt ApeBHHXi» h hobbixi» 
ny6jIHXCHHXT> TpaKTaTOBT>, KOHBeHU,it) H npOHHXB I 10 A 06 HMXT> TOMy 
aKTOBt no npHM'hpy AiOMOHOBa AHn;ioMaTHHecKaro Kopnyca (Samm¬ 
lung aller alten und neuen russischen öffentlichen Traktate, Konven¬ 
tionen und ähnlichen Akte etc.). Müller starb indessen bald und die 
einst erlassenen Befehle blieben unausgeführt. Seit den zwanziger Jah¬ 
ren begann man alsdann hin und wieder die russischen Staatsverträge 
einzelner Zeiträume und mit bestimmten Staaten herauszugeben, dem 
Bedürfnisse im Grossen und Ganzen wurde damit aber keineswegs abge¬ 
holfen ; das beste Sammelwerk war und blieb bei all seiner Lückenhaftig¬ 
keit jedenfalls die nojiHoe coöpaHie 3aKOHOBis (vollständige Gesetz¬ 
sammlung). Diese Rolle wird dieseRiesensammlung freilich auch inder 
nächsten Zukunft spielen, denn das von Professor Martens in An¬ 
griff genommene Werk wird wohl erst nach Verlauf einer längeren 
Zeit zum Abschluss gebracht werden. Um den in der unmittel¬ 
barsten Gegenwart abgeschlossenen Verträgen folgen zu können, 
muss man jetzt noch zu einer anderen Sammlung greifen, nämlich 
zur «Co6paHiey3aKOHeHift h pacnopx>KeHitt npaBHTejibCTBa» (Samm¬ 
lung der Regierungsverordnungen), aus der nach gewissen Zeit¬ 
räumen die vollständige Gesetzsammlung zusammengestellt wird. 
Unter solchen Umständen ist es gewissermassen ein Ideal, eine 
Sammlung zu besitzen, in der alle Verträge, die Russland seit je ge¬ 
schlossen hat, in übersichtlicher und handlicher Weise wiederge¬ 
geben sind. Die Verwirklichung dieses Ideals ist seit ein paar Jahren 
vom auswärtigen Amt dem an der St. Petersburger Universität als 
Professor docirenden Hrn. Dr. Martens aufgetragen worden, und es 
sind bereits in den Jahren 1874 uud 1875 zwei Bände der «coöpame 
AoroBopoBT» m KOHBeHuiM» erschienen. Diese Sammlung hat jeden¬ 
falls sehr günstige Auspicien, indem sie einmal unter dem Schutz 
massgebender Beamten des auswärtigen Ministeriums steht, 
und dann zum Redakteur einen Mann hat, wie er gerade für die 


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560 


Herausgabe von Staatsverträgen gewünscht werden kann; der Pro¬ 
fessor des Völkerrechts ist jedenfalls eine kompetente Persön¬ 
lichkeit für die Bestimmung der nothwendigen Eigenschaften einer 
Staatenvertragssammlung; durch die jünstigen Verbindungen, die 
der Herausgeber der genannten Sammlung ferner nach allen Seiten 
hat, konnte er di6 theoretisch als nothwendig erkannten Forde¬ 
rungen leicht erfüllen. Daher kann uns dann der Verfasser auch zum 
ersten Mal eine vollständige Sammlung in Aussicht stellen. Der 
Plan, den sich der Herausgeber zurecht gelegt hat, findet sich in 
der Vorrede zum ersten Bande angedeutet. Der Verfasser bemerkt, 
dass Sammlungen der Art, wie eine solche von ihm jetzt begonnen 
wird, nicht nur praktische, sondern auch theoretische, wissenschaft¬ 
liche Zwecke zu erfüllen bestimmt seien, indessen müsse man doch 
zugeben, dass die jetzt bestehenden Sammlungen von Staatsver¬ 
trägen zumeist nur rein praktische Zwecke verfolgt hätten; in ihnen 
finde man die Verträge oder internationalen Urkunden in chronolo¬ 
gischer Reihenfolge gedruckt, und zwar ohne alle Erklärungen, so 
dass diese Sammlungen eine enorme Masse unverarbeiteten und 
rohen Materials enthalten; die Benutzung der Letzteren setzte 
daher eine gründliche Vorbereitung voraus. In Folge der geschilder¬ 
ten Mängel genügten so angelegte Sammlungen selbst nicht einmal 
dem nächsten Zweck, ein Handbuch für die Praxis zu sein, denn der 
blosse Text erkläre keineswegs hinlänglich den Inhalt desVertrages; 
zu diesem Behufe sei es nothwendig, die Umstände zu schildern, 
unter denen der betreffende Willensausdruck entstanden. Nachdem 
Hr. Professor Martens diese Mängel der zeitgenössischen Staaten¬ 
vertragssammlungen dargestellt hat, giebt er den Weg an, den 
er einzuhalten gedenkt. Die chronologische Reihenfolge erschien 
ihm unwissenschaftlich, er wird statt dessen die russischen Staats¬ 
verträge nach einzelnen Staaten, mit denen sie abgeschlossen 
wurden, herausgeben, und hier wird er alsdann nicht die alphabe¬ 
tische Reihenfolge einhalten, sondern erst grössere Staaten, als 
Oesterreich, England, Preussen, Frankreich, die Türkei, an die 
Reihe kommen lassen, darnach sollen dann die übrigen Staaten 
(— HbiH'h cymecTßyiomiÄ) in alphabetischer Ordnung berücksichtigt 
werden. 

Durch eine solche Gruppirung wird, sagt Hr. Professor M., eine 
zusammenhängende Uebersicht der Beziehungen Russlands zu den 
einzelnen Staaten gesichert. Im Einklänge mit der vom Heraus¬ 
geber gegen die sonstigen zeitgenössischen Staatenvertragssamm- 
lungen ausgesprochenen Rüge wird versprochen, dass jedem zu 
druckenden Vertrage oder sonstigen internationalen Aktenstücke 
eine geschichtliche Einleitung vorausgeschickt werden soll, welche 
letztere nur ganz objektiv sowohl die faktischen Umstände schildern, 
unter denen der Abschluss stattfand, als auch die diplomatischen 
Verhandlungen, die ihn hervorriefen, skizziren wird. Diese jedem 
Aktenstücke vorausgeschickten Einleitungen sollen nun aber unter 
sich in einen Zusammenhang gebracht werden und zusammen eine 




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5 6i 


«kurze Skizze der Entwickelung der diplomatischen Beziehungen 
Russlands mit den verschiedenen auswärtigen Staaten bieten». Eine 
absolute Durchführung des bezeichneten Planes war indessen nicht 
möglich, so bemerkt der Herausgeber, indem es nämlich russische 
Staatsverträge giebt, in denen, ausser Russland, mehr als ein anderer 
Staat als Kontrahenten auftreten. Für diesen Fall hat Hr. M. fol¬ 
genden Grundsatz aufgestellt t: Solche Kollektivverträge, die auf 
einem Kongresse oder einer Konferenz abgeschlossen wurden, wer¬ 
den unter den Verträgen des Staates aufgenommen werden, auf dessen 
Territorium der Kongress oder die Konferenz stattfand. Andere 
Kollektivverträge sollen unter den Verträgen mit dem Staate auf¬ 
geführt werden, für den sie die grösste Bedeutung haben K Als 
Zeitpunkt für den Beginn der in die Sammlung aufzunehmenden 
Verträge bezeichnet der Herausgeber das Jahr 1648 und zwar mit 
Rücksicht auf den in dieses Jahr fallenden Abschluss des westphä- 
lischen Friedens und darauf, dass mit der zweiten Hälfte des XVII. 
Jahrhunderts der internationale Verkehr Russlands mit Westeuropa 
eine regere Entfaltung zeigt, und dass ferner das Jahr 1649, als der 
Ausgangspunkt unserer «IToji. C06. 3aK.» (Vollständige Gesetz¬ 
sammlung), fast mit 1648 zusammenfällt (coBnaAaen,). 

Soweit in Bezug auf die äussere Anordnung. Hinsichtlich des auf¬ 
zunehmenden Materials ist der Herausgeber in der erfreulichen Lage, 
dasselbe den Archiven des auswärtigen Amtes entnehmen zu 
können. Die aufzunehmenden Verträge und die anderen Akten¬ 
stücke sind endlich sowohl in der Sprache, in der, sie abgeschlossen 
resp. veröffentlicht wurden, als auch in ihrer Uebertragung ins Rus¬ 
sische abgedruckt. Hr. M. verspricht ferner auch nach Kräften für 
die Vermerkung der Zeit der Kodifikation, soweit hierfür sichere 
Nachrichten zu finden sein werden, sorgen zu wollen. Der erste 
Band des Werkes enthält nun die zwischen Russland und Oester¬ 
reich seit der zweitenHälfte desXVII. Jahrhunderts bis 1762 geschlos¬ 
senen Staatsverträge. Die russischen Uebersetzungen der zu be¬ 
rücksichtigenden Aktenstücke werden der II. C. 3 . entnommen wer¬ 
den: finden sich die betreffenden Urkunden hier nicht vor, so sollen 
sie dem Moskauer Hauptarchiv entlehnt werden; nur, wenn nirgends 
eine officielle Uebersetzung zu finden sein wird, will die Redaktion 
eine solche besorgen etc. Der Druck des ersten Bandes 
ist in folgender Weise bewerkstelligt: Jede der grossen Oktavseiten 
ist in zwei Hälften getheilt; auf der linken Seite befindet sich in 
dem Vorwort der russische Text, auf der rechten der französische. 
Diese Vertheilung des französischen und russischen Textes ist auch 
in der historischen Einleitung über die russisch- österreichischen Be¬ 
ziehungen bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts eingehalten, die 
russisch mit gegenüberliegender französischer Uebertragung abge¬ 
fasst sind. Der Urtext der internationalen Aktenstücke selbst be¬ 
findet sich indessen auf der linken Spalte der Seite, die russische 


1 Wird meist schwer zu entscheiden sein! 


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$62 


Uebersetzung auf der gegenüberliegenden. So ist es auch mit dem 
Index gehalten, und die in russischer Sprache mit französischer Ueber- 
tragung abgefassten Einleitungen zu den einzelnen internationalen 
Urkunden, haben den französischen T ext auf der linken Spalte der Seite, 
den russischen auf der entgegengesetzten. Diese Vertheilung der 
verschiedenen Texte ist, bis auf die Vorrede, auch im zweiten Bande 
beibehalten, (der die russisch-österreichischen Verträge von 1772 bis 
1808 enthält. Die russischen Uebersetzungen zu den in diesem 
Bande aufgenommenen internationalen Aktenstücken mussten, sagt 
der Verfasser, zum grossen Theil von der Redaktion besorgt wer¬ 
den, da officielle aus der Zeit des Abschlusses nur für einen gerin¬ 
gen Theil der bezüglichen Urkunden vorhanden waren. Die ge¬ 
schäftlichen Einleitungen zu den internationalen Aktenstücken im 
zweiten Bande sind ferner weit ausführlicher, als im ersten, was 
namentlich dadurch verursacht wurde, dass der Verfasser im Archiv 
eine. Menge interessanter und jetzt noch unbekannter Thatsachen 
fand, die zur besseren Charakteristik der russisch-österreichischen 
Beziehungen zu benutzen, er für seine moralische Pflicht hielt. — 
Beide Bände enthalten für den Zeitraum von 1675 — 1808 im Gan¬ 
zen 60 Nummern, wobei freilich nicht selten die einzelne Nummer 
aus mehreren Theilen besteht. Die Zahl der Nummern vertheilt 
sich auf beide Bände ziemlich gleichmässig. 

Das der Plan und der Beginn eines Werkes, dem in Zukunft in 
unserer juristischen Literatur gewiss eine grosse Bedeutung bevor¬ 
steht, desshalb erschien es uns nothwendig, mit Ausführlichkeit über 
den Plan des Herausgebers zu referiren; aus denselben Gründen glau¬ 
ben wir aber auch mit einer — wenn auch nur kurzen — kritischen 
Besprechung der nun bereits im zweiten Bande vorliegenden Samm¬ 
lung nicht zurückhalten zu dürfen. 

Bei der Edition einer solchen Sammlung, wie sie von Hrn. Prof. 
Martens begonnen worden, hat man, wie der Herausgeber richtig be¬ 
merkt hat, nach zwei Seiten hin zu genügen. Wir werden daher 
den Plan des Herausgebers nach zwei Seiten zu beurtheilen haben. 
Wir stellen hierbei folgende Fragen, deren Beantwortung dann un¬ 
sere Aufgabe sein wird. 1) Genügt der von Hrn. Prof. Martens für die 
Sammlung entworfene Plan, den von der Praxis und Theorie ge¬ 
rechterweise zu stellenden Forderungen? 2) Ist die ökonomische 
Seite der Arbeit glücklich und praktisch? — Obgleich wir gewiss 
die letzten sind, die den Werth der von Hrn. Martens besorgten Samm- 
lungder russischen Verträge irgend wie in Abrede stellen möchten — 
wir haben das Unternehmen von Anbeginn mit grosser Freude be- 
grüsst, — So können wir dennoch die Art der Ausführung des Unter¬ 
nehmens mit unserer Zustimmung nicht begleiten. Schon die Wahl des 
Jahres 1648 als Ausgangspunkt für die Sammlung scheint uns eine 
misslungene. Wir haben bereits angedeutet, welche Gründe Hr. 
Martens für diesen Zeitpunkt geltend macht; der treffendste dürfte 
noch der Grund wegen der Aenderung des Charakters der interna¬ 
tionalen Beziehungen um die Mitte des XVII. Jahrhunderts sein. 


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563 


Aber eben diese allgemeine verbreitete Ansicht ist auch wieder 
nicht stichhaltig, denn der Wechsel des Charakters der internationa¬ 
len Beziehungen Russlands zum westlichen und nördlichen Europa 
vollzieht sich nicht so plötzlich in der Mitte des XVII. Jahrhunderts, 
sondern wird schon seit dem XV. Jahrhundert an gebahnt und zieht 
sich langsam durch die folgenden zwei Jahrhunderte bis zum Eintritt 
des energischen Umstosses des Alten und Uebergang zur modernen 
Völkerrechtsidee zu Anfang des XVII. Jahrhunderts hin. Wenn nun 
die Sammlung ferner theoretischen Zwecken dienen soll, so dürfte 
doch der Hr. Herausgeber als akademischer Lehrer des Völker¬ 
rechts kaum behaupten wollen, dass die russischen Staatsverträge 
aus der Zeit vor 1648 gleichgültig für die wissenschaftliche For¬ 
schung seien. Wir zum wenigsten sind der Meinung, dass man eine 
Geschichte der russischen internationalen Beziehungen seit 1648 
mit gründlichem Verständniss nie wird abfassen können, ohne die 
Kenntniss auch der in die frühere Zeit fallenden internationalen Ur¬ 
kunden. Die internationalen Aktenstücke zwischen Russland und 
Schweden und Russland und Polen aus den fünfziger resp. sechs- 
ziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts haben ihre Grundlage in 
älteren Verträgen. Mit dem westphälischen Frieden hat die Ent¬ 
wickelung unseres internationalen Lebens aber durchaus nichts zu 
thun; der Einfluss ist nur ein äusserst indirekter, und in seiner ge¬ 
ringen Bedeutung für unsere Angelegenheiten jedenfalls nicht fixir- 
barer. Die Garantie des westphälischen Friedens durch Peter in dem 
Vertrage von 1717 mit Preussen und Frankreich hatte eine formelle 
Bedeutung, und den Umstand, dass die II. C. 3 mit dem Jahre 1649 
beginnt, für den Beginn einer Sammlung russischer Staatsverträge 
mit dem Jahre 1648 geltend zu machen, dürfte doch wohl nicht ernst 
gemeint sein, denn bei der Zusammenstellung der II. C. 3 . ward der 
Beginn mit 1649 keineswegs mit Rücksicht auf die internationalen 
Beziehungen Russlands gewählt, sondern die Erklärung für jenen 
Umstand tritt uns in der ersten Nummer der n. C. 3 . entgegen; dass 
nun aber ferner die yjiaaceHie von 1649 von Einfluss auf die Aende- 
rungder rechtlichen Stellung der Ausländer in Russland gewesen wäre, 
wird der mit dem Charakter und der Entstehungsweise des genann¬ 
ten Gesetzbuches Vertraute nicht behaupten wollen. Ist nur Hr. 
Martens in der glücklichen Lage, uns die russischen Staats Verträge 
seit der Mitte des XVII. Jahrhunderts in der grössten Vollständig¬ 
keit mittheilen zu können, so können wir unsererseits und gewiss 
im Sinne aller für die der Besprechung unterliegenden Sammlung 
Interessirten an den gelehrten Hrn. Herausgeber die Bitte nicht un¬ 
terdrücken, dem unter seiner Redaktion in Angriff genommenen 
Unternehmen einen vollständigeren Charakter zu geben, indem in 
Zukunft alle von jeher von Russland mit dem Auslande geschlosse¬ 
nen Verträge in die Sammlung aufgenommen werden. Das in dieser 
Hinsicht in Bezug auf Oesterreich Unterlassene könnte ja leicht in 
nächster Zukunft nachgeholt werden. Wer sich mit den interna¬ 
tionalen Beziehungen Russlands seit ihrem Beginn beschäftigt hat 


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564 


— unddieses GebietderwissenschaftlichenThätigkeit dürfte in Zukunft 
eine grössere Pflege finden, als es im Augenbick der Fall ist — weiss 
wohl, wie schwer und dennoch nicht ganz erfolgreich es ist, die 
Verträge in grösseren Geschichtswerken aufzusuchen, wo wir denn 
endlich nach mühevollem Suchen auch wieder nichts anderes, als 
ohne juristisches Verständniss gemachte Auszüge finden. Wie noth- 
wendig daher eine zeitlich möglichst vollständige Sammlung der 
russischen Staatsverträge ist, leuchtet ein, ausserdem dürfte sie auch 
eine gründlichere Kenntniss der Entwickelung des russischen inter¬ 
nationalen Rechtlebens in den Kreisen der Praktiker zur Folge haben, 
welches letztere mit Rücksicht auf die zeitgenössischen konkreten 
Zustände allerdings nur zu wünschen wäre. 

Was die historischen Einleitungen zu den einzelnen mitgetheilten 
Aktenstücken betrifft, so wird Niemand die guten Absiehten des 
Hrn. Herausgebers in Abrede stellen wollen, aber wir müssen ge¬ 
stehen, dass sie uns nicht befriedigen konnten. Historische Einlei¬ 
tungen zu Staatenvertragssammlungen sollen nicht alles mögliche, 
und mit den betreffenden internationalen Aktenstücken nur irgend 
wie in Zusammenhang zu bringende Material in sich aufnehmen: 
als ihre Aufgabe erscheint es, — da sie eben nur Abrisse sein können, 
und, wenn sie diese Grenze überschreiten, zu wenig bieten und Den, 
der die Sache specieller studiren will, nicht beftiedigen können, — 
die massgebenden Momente kurz zusammenzufassen: auf alles irgend 
als bekannt Vorauszusetzende nur hinzuweisen, die Ursachen der 
Entstehung nur anzudeuten, und selbst kurze Skizzirungen von 
diplomatischen Verhandlungen in den seltensten Fällen zuzulassen, 
da sie meist höchst gleichgültig sind. Ihr Verlauf sollte nur ihrem 
allgemeinen Charakter nach angegeben werden. Hatte Hr. Martens 
die so günstige Gelegenheit, das historische Wissen um einzelne neue 
Nachrichten aus den internationalen Beziehungen Russlands zu be¬ 
reichern, so war dabei zu bedenken, dass eine solche Sammlung das 
Ding nicht sei, in dem man nur alles Neue und Interessante placiren 
könne. Für die Publikation neuer historischer Aktenstücke hat man 
eben auch bei uns eigene Reservoirs. Jedenfalls hätte Hr. Martens 
dann aber auch jedesmal angeben sollen, wo er das historische 
Wissen durch neue Nachrichten bereichert hat; so wissen wir 
eigentlich nicht, was neu und was schon bereits bekannt ist Die 
23 Seiten lange Einleitung über die russisch-österreichischen Bezie¬ 
hungen bis 1675 zeigt uns schon an, welches Programm der Her¬ 
ausgeber für diesen Theii seiner Sammlung entworfen. Wepn auch 
nicht geleugnet werden kann, dass die Einleitungen recht glatt und 
fliessend gehalten sind, so besitzen sie doch kaum einen selbststän¬ 
digen Werth — was sie auch wohl nach des Verfassers Absicht nicht 
haben sollten, und für ihren Zweck sind sie vielfach zu breit gehalten. 
Im zweiten Bande wird man schon beinahe zweifelhaft, was eigent¬ 
lich die nächste Aufgabe des Herausgebers der cCoßpaHie» war; 
historische Einleitungen zu den Verträgen zu schreiben, oder die 
internationalen Aktenstücke in grösster Vollständigkeit zu ediren. 




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5öS 


Hier finden sich unter den durchweg zu ausführlich gehaltenen 
geschichtlichen Einleitungen einzelne, die geradezu ermüdend auf 
den Leser wirken, indem dieser für seinen nächsten Zweck nicht 
schnell genug den kurzen Gang der Einleitung finden kann, und 
auch ohne den Reichthum des Materials zu verkürzen, hätte, bei 
der lobenswerthen, glatten und gefälligen Form, die Fassung eine 
um die Hälfte kürzere sein können. 

Die Aktenstücke endlich hätten nicht selten nur im Auszuge mitge- 
theiltwerden können, wo einekürzere Ausdrucks weise ohne Entstellung 
des Sinnes möglich war, namentlich wäre ein solches Verfahren für 
die Urkunden des XVII. und XVIII. Jahrhunderts sehr wohl möglich 
gewesen. Ich meine hier allerdings, dass die bezeichnete Verkür¬ 
zung nur mit einzelnen Aktenstücken, namentlich der Offen- und 
Defensivallianzen — mit ihren sich immer und immer wieder gleich 
bleibenden Bestimmungen — und dann mit einzelnen unwichtigeren 
Fortsetzungen, deren sich in jedem Vertrage welche finden, hätte 
vorgenommen werden sollen. Welchen Werth hat z. B. die geheime 
Bestimmung der im März 1738 zwischen Russland und Oesterreich 
abgeschlossenen Konvention, enthaltend gegenseitige Verpflich¬ 
tungen der beiden Kontrahenten in Bezug auf den Kriegsplan gegen 
ihren damaligen gemeinsamen Feind, den Türken, dass er so in 
seinen Details mitgetheilt wird. Die Absicht des Herausgebers war 
eben die, seine Sammlung gegen den Vorwurf der Unvollständigkeit 
sicher zu stellen. Indessen müssen ausser dieser an sich lobens¬ 
werthen Absicht auch noch andere, so zu sagen, ökonomische 
Umstände in Betracht kommdn, und letztere, glaube ich, dürfen in 
keinem Fall ausser Acht gelassen werden, wenn die Sammlung den 
beabsichtigten Erfolg haben soll: den praktischen und theoretischen 
Bedürfnissen zu genügen. Wir kommen auf eine ganz materielle 
Frage. Soll die der gegenwärtigen Besprechung unterliegende 
Sammlung das Eigenthum aller Derer werden, welche sie ihrer prak¬ 
tischen und theoretischen Lebensaufgabe gemäss besitzen sollten, 
so muss eine solche Sammlung auch so angelegt sein, dass sie bei 
aller Vollständigkeit und durchgehender Befriedigung aller an sie 
gerechterweise zu stellenden Forderungen dennoch nach Umfang so 
hergestellt sei, dass der Kostenpunkt bei Anschaffung derselben 
keine Schwierigkeit bildet. Aber ausser dieser Rücksicht hat die 
Handlichkeit solcher Sammlungen auch eine Reihe anderer Vorzüge. 
Ferner vom rein wirthschaftlichen Standpunkt aus gesprochen, 
kommt hier vor allen Dingen der ökonomische und nicht der Affek- 
tionswerth in Betracht. Der Plan für eine Sammlung russischer in¬ 
ternationaler Aktenstücke dürfte unserer Ansicht nach daher folgen¬ 
der sein: 

1) Die Sammlung umfasst alle auf das internationale Leben Russ¬ 
lands bezüglichen Aktenstücke, die allerhöchst die Ratifikation er¬ 
halten, und nicht erst die seit 1648,— denn in dieses Jahr speciell 
fallt selbst kein, auf das internationale Leben Russlands Bezug ha¬ 
bendes allerhöchst ratificirtes Aktenstück. 


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2) Die mitgetheilten Aktenstücke werden je nach ihrer Bedeutung 
ganz unverkürzt, oder zum Theil unverkürzt, zum Theil im Auszuge 
oder durchgehend im Auszuge gegeben, wobei die Quelle, wo das 
Aktenstück in extenso vorzufinden ist, angegeben wird. 

3) Angaben von Titel und Orden — letztere finden sicfi nament¬ 
lich seit dem Anfang des XVIII. Jahrhunderts sehr oft und werden 
bei Hm. Martens immer in extenso abgedruckt — sind verkürzt zu 
geben durch bestimmte Buchstaben, was namentlich durch die Ru- 
bricirung nach Staaten sehr erleichtert wird, indem hier die Erklä¬ 
rungen der Buchstabenzeichen in einer besonderen Tabelle zusam¬ 
mengefasst werden können. 

4) Die geschäftlichen Einleitungen geben nur über das Nothwen- 
digste Auskunft. Hier die Methode in der Form einer Ein mal Eins¬ 
tafel anzugeben,ist natürlich unmöglich, und kann hiebei nur der dog¬ 
matisch geübte Geist der beste Leiter sein. Indessen sind Angaben 
über die Werke wünschenswerth, in denen das Nähere und Ausführ¬ 
lichere zu finden ist, selbstverständlich mit genauer Bezeichnung 
von Band, Seite etc. 

5) Die Ordnung der Verträge nach den einzelnen Staaten ist aus 
mehreren Gründen der rein chronologischen vorzuziehen. 

6) Die Aktenstücke und historischen Einleitungen sind nur in ei¬ 
ner Sprache, entweder russisch oder französisch zu geben; beides 
zugleich ist vollkommen unnütz. Soll dem Auslande auch ein Dienst 
erwiesen werden, so wäre die französche Sprache vorzuziehen, da 
diese Denen, welche diese Sammlung zu benutzen haben werden, 
keine Schwierigkeiten bieten dürfte. Oder man besorgt eine russi¬ 
sche und eine französische Ausgabe. 

7) In Bezug auf die äüssere Ausstattung endlich sei zu bemerken 
erlaubt, dass bei gutem Papier der für die historischen Einleitungen 
gewählte Druck auch für die Urkunden ausreichen dürfte. Gegen 
das grosse Format haben wir dagegen nichts einzuwenden, obgleich 
mit Rücksicht auf den kleineren Druck, kleinere Seiten vielleicht 
Manchem zuträglicher sein dürften. Die Setzung des «article» und 
«CTaTbH Taxaa to» über den Abschnitten könnte einfach auf die 
Setzung der entsprechenden Ziffer vor dem bezüglichen Abschnitte 
reducirt werden. Die gewiss zu lobende Bezeichnung der betreffen¬ 
den Jahreszahl über dem Text der einzelnen Seiten wird dann auch 
nicht doppelt zu geschehen brauchen; auch bei gleichzeitiger Edition 
des Originaltextes und der russischen Uebersetzung erscheint uns 
diese zwiefache Bezeichnung durchaus unnütz zu sein, sie hat wenig¬ 
stens keinen Zweck. — So wird denn allerdings die Zahl der Bände 
keine sehr hohe Ziffer erreichen; der äussere Umfang des Unter¬ 
nehmens würde im Vergleich zum Plan des Hm. Martens wohl auf 
ein Fünftel oder noch mehr reducirt werden. Welche Zahl der Bände 
aber bei, nach ursprünglichem Plan fortgesetzen Verfahren entstehen 
wird, übernehmen wir nicht im Voraus zu sagen. Endlich dürfte 
auch eine schnelle Aufeinanderfolge der Bände im Wunsche aller 
Interessenten liegen. Denn wenn weiterhin auch immer nur 30N.N. 




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das Resultat einer Jahresarbeit sein werden, so wird ein Ende nicht 
bald abzusehen sein. Die p. VII in der Vorrede zum zweiten Bande 
ausgesprochene Ansicht, dass der zweite Band so schnell nach dem 
ersten erschienen sei, dürfte daher nicht so recht zugegeben werden. 
Wir verstehen wohl, welche Anstrengungen und nicht selten unsäg¬ 
liche Mühen die Herausgabe von Urkunden verursacht, und wir sind 
weit entfernt, das Verdienst des Hrn. Martens hinsichtlich der vor¬ 
liegenden Sammlung irgendwie schmälern wollen, wir räumen im 
Gegentheil Hrn. Martens im Vergleich zu dem, wie man bei uns 
überhaupt Sammelwerke von Urkunden edirt, und wie auch völker¬ 
rechtliche Urkundensammlungen sonst besorgt zu werden pflegen, 
einen Vorzug ein, aber die vorhandenen Mängel und praktischen 
Unzweckmässigkeiten lassen sich nun einmal nicht läugnen. 

Wir schliessen mit dem Wunsche, dass es Hrn. Martens für die 
Fortsetzung seines Unternehmens nicht an Muth und nicht an der 
fernerenUnterstützung seiner hohen Gönner fehlen möge, und würden 
uns freuen, nach Erwägung der von uns gemachten Bemerkungen 
die weiteren Bände der Sammlung in modificirter Gestalt erschei¬ 
nen zu sehen. 

Otto Eichelmann. 


Revue Russischer Zeitschriften. 


Der «europäische Bote» (B'fecTHHKt Eßponu —Westnik Jewropy). 

X. Jahrgang. 1875. November. Inhalt: 

Erinnerungen einer Reise durch Serbien im Jahre 1867. I—II. Von P. A. Rounnsky. — 
Das Heldenweib. Von y. S. Surikow. — Die Bevölkerung St. Petersburgs in ökono¬ 
mischer und socialer Hinsicht. III—IV. Von J, E. Janson . - Die Loreley. Ballade 
von C. Brentano. .Von- dt —Die älteste Zeit der russischen Literatur und Bildung. 

I. Von A. N. Pypin. - Turkestan und die Turkestaner. III. Schluss. Von M, A. 
Terentjew. — Das Dörfchen Malinowka. Novelle. Von O Sefv lesehowsky. — Pierre 
Josef Proudhon. Correspondance de P. J. Proudhon. Vierter Artikel. Von D jew. — 
Der gegenwärtige Roman in England. Literarischer Abriss. Von Z. A. Po Ions ky. — 
Die Lage der Verbannten in Sibirien. I—III Von N. A. Jadrinzetv. — Chronik. — 
Rundschau im Inlande. — Correspondenz aus London.— Pariser Briefe. VIII. Flaubert 
und seine Werke. Von £. Zola . — Literarische Bemerkungen. Von A. M. — Ein Brief 
an den Redakteur. Anlässlich des Todes Sr. Erlaucht des Grafen A. K. Tolstoi. Von 

J. L. Turgenjew — Nekrolog. — Bibliographische Blätter. 

«Das alte Russland» (Russkaja Starina — Pycacaa GrapHHa). — 

Herausgegeben und redigirt von M. y. Ssemeiushij . Sechster Jahrgang. Heft XII. 
December 1875. Inhalt : 

Der Einfall der Franzosen in Russland im Jahre Igi2. Erzählung des Bischofs But- 
kewitsch. Uebersetzt nach einer polnischen Handschrift. — Das St. Petersburger Er¬ 
ziehungshaus unter der Verwaltunh J. J. Betzky’s. Von A H. Pjatkoiusky. M. L. Mag- 
nitzky und seine Verbannungen. 1812 — 1844. — N. W. Gogol: nichtveröffentlichte 
Briefe an seine Freunde aus den Jahren 1847 — 1852. Von B. S. Schewirew . Mit 


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Anmerkungen von Professor J. Th. Müller. (Schluss). — Erinnerungen an J. A. Prczes- 
lawski: Minister, Staats-Secretair Turkul, 1797 — 1857. — KarJ Andrejewitsch 
Schilder auf der Donau im Jahre 1854 * Von -*V* K. Schilder . — Gedichte von Stifts - 
fräulein und das Gutachten des Grafen Sawadowsky. 1807. Von P. /. Sawaitow. — 
A. I. Ismailow 1779 — *839: seine nicht veröffentlichten Märchen, Epigramme und 
Gesänge Von P. A. Ismailow. — Das Cholera-Jahr 1830 in Tambow. Von I. Du - 
basow. — Der Oberpriester E. I Popow, 1875. Von /. T. Ossi »in. Bibliographische 
Blätter (auf dem Umschläge;. 


Russische Bibliographie. 


Ssemetschkin, L. 0. Ueber die Wasserwege zur Fortschaffung der 
Donischen Steinkohlen. St. Petersb. 8. 69 S. (CtieHKMtfb, A. 0 bo a- 
hmxt> nyTRXT> aax pacnpocTpaHeHix AOHeitxaro KaMeHHaro yrjni. 
Cn6. 8 ä. 69 CTp.). 

Hosea et Joel prophetae ad fidem Codicis Babylonici. Petropoli- 
tani. Edidit Hermannus Strack. Cn6. 2 a. 23 CTp. 

Catalogue des livres rares et precieux, anciens et modernes, qui 
composent la bibliotheque de feu Mr. Giustiniani, dont la vente se 
fera Mercredi, 7 (19) janvier 1876 et les jours suivants a St-Pöters- 
bourg. 8 a. 320 exp. 

Notice sur la Societe Imperial Odessoise d'Histoire et d’Antiqui- 
tes et sur ses Memoires. OAecca. 8 a. 320 CTp. 

Abriss der Geschichte Russlands. Para. 8 a. 2 -f 177 CTp. 

Das Archiv des Fürsten Woronzow. VII. Band: die Papiere des 
Reichskanzlers^Grafen M. L. Woronzow. Moskau 1875. 8°. 688 S. 
(ApxHBi> KHR3X Bopomjoßa. Kh. VII. ByMara rocyAapCTBeHHaro 
Kamyiepa rpa<t>a MuxaHJia JlapioHOBHHa Bopomtoßa. MocKBa 1875. 
8 a. 688 CTp ). 

Nelidow, N. Kursus des allgemeinen Staatsrechts. Kasan. 8°. 28 S. 
(HeJiMAOBl, H.' CacTeMa xypca o6maro rocyAapCTBeHHaro npasa. 
Ka3aHb. 8 a. 28 CTp). 

Tschebyschew-Dmitriew, A. Der russische Kriminalprocess nach der 
Gerichtsordnung vom Jahre 1864. I. Theil. St. Petersburg 1875. 8°. 
497 S. (He6wmesvA»MTpieB-b, A. Pyccicoe yrojioBHoe cyAonpoH3- 
boactbo no cyAeÖHbiMi» yciaßaMi» 1875 r. l I. I. Cn6. 1875. 8 a. 
* 497 ct P . 

Nossowitsch, I N. Sammlung weissrussischer Sprichwörter. St. Pe¬ 
tersburg. 8°. VI + 222 S. HocoBMM'b, M. H. CöopHHKi» ö'iuiopyccicHX'b 
nocAOBHivb. Cn6. 8 a. VI + 222 exp. 


Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Carl Röttger. 
Ao3BOJieHo ueH3ypoio. C.*rieTcp6yprb, n-ro AeicaÖp« 1875 rofla. 


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