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. . • r \ 0
RUSSISCHE REVUE
MONATSSCHRIFT
FÜR DIE KUNDE RUSSLANDS
Herausgegeben
von
Carl Röttger.
VII. BAND.
ST. PETERSBURG
Kaiserliche Hofbuchhandlung H. Schmitzdorff
(CARL RÖTTOEBl
1875
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STANFORD UNlVERSHY
U8RARICI
JA«
Stacks
R Z3
v. 7
JlossoJieHO ucHaypoio.— C.-rieTepÖypre», ii-ro JJeiraöpi 1875 ro/uu
Buchdruckerei von Röttgkr & Schneidet, Newsky-Prospect M 5*
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Inhalts-Verzeichniss.
Seite.
_^Zur Charakteristik der literarischen Bewegungen in Russ-
' land in den Jahren 1820—1860. Historische Skizzen
von Prof. A. Pypin. . fv ■*•*/>V a 4 u W . 1—36
490-523
__Das russische Geldwesen während der Finanzverwaltung
des Grafen Cancrin (1823—1844). Eine finanzhisto¬
rische Studie von Dr. Alfred Schmidt . 1 . 37— 66
n.. 97-138
hi. .... 215—240
— Der Alexander-Garten in St. Petersburg. Von Dr. E.Regel. 67— 86
Zur Charakteristik der Kaiserin Katharina II. Von Pro-
^ fessor A . Bruckner . 1. 139— 164
II. . 193—214
-^■Die Meteorologie in Russland. Von Dr. A. Wojeikow. . . 165—177
Ein Blick auf die Resultate der Hissar’schen Expedition. 178—188
— Ein Besuch auf Hochland. Von Richard Sivers ^ 240—251
Der asiatische Handel Russlands im Jahre 1873. Von r<J V
Fr. Matthäi . . 251—274
_Otto Anton Pleyer, der erste accredirte österreichische
Diplomat am russischeoHofe. 1692—1719. Von A.Iias*
sellblattl . . . hl ,.\. -v / * t /Vu *J.. & 'w* f« n 281 — 316
n..".415-435
Die Lederindustrie in Russland. Von Prof. M. Kittara 316—343
Ueber Handel und industrielle Thätigkeit der Stadt
Kasan. Eine statistische Skizze von /. T. Ssolowjew 344—356
_Zur Geschichte der didaktischen Literatur in Russland im
achtzehnten Jahrhundert. I. Von Prof. A. Brückner . . 377—414
Der Güterverkehr auf den russischen Eisenbahnen im
Jahre 1873 .435 -445
Notizen über ökonomische Verhältnisse im Gouverne¬
ment Wjatka . .445—453
Der dritte internationale Orientalisten-Kongress .... 453—461
Das physikalische Central-Observatorium in St. "Peters¬
burg und die neuere Entwickelung der Meteorologie
in Russland. Vom Akademiker H. Wild .473—489
Die Fortschritte der geologischen Beschreibung Russ¬
lands in den Jahren 1873 und 1874. Von Professor
Barbot de Mamy . . 523—557
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Seite.
Kleine Mittheilungen.
Zur Statistik des Eisenbahnverkehrs in Russland. 83— 86
Ueber die Wirksamkeit der städtischen Kommunalbanken im Jahre 1874 260—267
Haushalt der Stadt St Petersburg für das Jahr 1874 . 267 - 269
Ueber Flachs- und Hanfproduktion in Russland ... 269—274
Uebersicht der Ergebnisse der letzten Volkszählung in Kijew am 2 Mai
1874. 356—360
Die Bevölkerung des Gouvernements Wladimir in den Jahren 1796—1874 360
Die Schulbildung und die Bevölkerung .. 461 — 464
Literaturbericht.
Die völkerrechtliche Bedeutung der Kongresse. Akademische Abhand¬
lung von Witold Zaieski . .... . . . 87— 93
Bemerkungen zum Igorlied vom Fürsten Paul Petrowitsch Wjasemskij 275 — 278
Bemerkungen zu dem Referat von W. K. über meine Abhandlung:
«La distribution de la pression atmosph£rique dans la Russie d’Eu-
rope. Von M. Rikatscheff . . 360—364
Hebräische Chrestomathie mit Verweisungen auf die Gesenius'sche (und
Edwald’sche Grammatik, nebst einem hebräisch-russischen Glossar,
von Prof. C. Kossowicz . 365 — 369
Hosea et Joel Prophetae, ad fidem codicis Babylonici Petropolitani edidit
Hermanns Strack . 369 -371
A. Harkavy und H. L. Strack , Catalog der hebräischen und samarita-
nischen Handschriften der Kaiserlichen Oeffentlichen Bibliothek in
St. Petersburg. Band I, der hebräischen Bibelhandschpften erster
und zweiter Theil, Von A, Harkavy . . 464—468
Recueil des Trait6s et Conventions conclus par la Russie avec les puis-
sances 6trang&res, publil d’ordre du Ministere des affaires etrangcres
par F. Martens . Professeur ä FUniversit6 imperiale de St. Petersbourg. 556 -567
Revue Russischer Zeitschriften. . .93—95 189—190 278—279
372—373 469—470 567—568
Russische Bibliographie. . . 96 191—192 280
374—375 470—471 568
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Zur Charakteristik der literarischen Bewegungen
in Russland in den Jahren 1820—1860.
Historische Skizzen
von
A. Pypin.
Unter dem vorstehenden Titel veröffentlichte Hr. Prof. Pypin im
«Europäischen Boten» (B'fecraHK'b EBponw) eine Reihe von Arti¬
keln, die nun in einem stattlichen Bande vereinigt, erschienen sind.
Bereits im Jahrgange 1873 unserer Zeitschrift haben wir unseren
Lesern zwei dieser Skizzen mitgetheilt, und zwar in Bd. H. SS. 45
bis 55, 160—175, 261—286: «Die Slawophilen in Russland», in
Bd. III. S. 240—269: «Der Dichter Gogol». Wir lassen nun mit
Genehmigung des Verfassers die übrigen Skizzen folgen und zwar
zunächst die «Einleitung» und «die Romantik in Russland» (Shu- |
kowsky und Puschkin), den nächsten Heften der «Russ. Revue» \
die Fortsetzung dieser so interessanten als wichtigen Beiträge zur
Kenntniss der Entwickelung des geistigen Lebens in Russland vor¬
behaltend.
Einleitung.
Unsere literarische Kritik war lange Zeit fast ausschliesslich eine
ästhetische. Das war natürlich, so lange es sich um die Feststellung
literarischer Grundbegriffe und um die Bestimmung des relativen
Werthes der einzelnen Schriftsteller handelte. Dieser Standpunkt
blieb bis in die letzte Zeit der herrschende. Aber die Entwicke¬
lung der Literatur bietet noch ein anderes Interesse dar: die Litera¬
tur ist ein Theil der ganzen Geschichte der Gesellschaft, und eben
diese Seite der Betrachtung ist unbedingt von grösster historischer
Bedeutung. In unserer Zeit erhebt sich die Literatur in ihren Werken
nur selten bis zur höchsten Vollkommenheit künstlerischer Schönheit;
die Literatur ist jetzt überhaupt mit den socialen und politischen
Erscheinungen des Lebens innig verbunden und giebt in den beiden
Bus. Ktro*. Bd. VU. .
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am meisten beliebten Formen: dem Roman und der Novelle, den
Kampf, das Streben, die Ideen der Zeit wieder. Wenn solche Werke
vielleicht auch durch weniger erhabene Mittel wirken, so ist doch
ihre Leidenschaft, ihre Ueberzeugungskraft, die Gewalt ihres unmit¬
telbaren Einflusses auf die Geister um desto grösser. So kann es
kommen, dass ein Urtheil über die Bedeutung eines Schriftstellers
vom Standpunkte jener Literaturgeschichte, von der wir hier
sprechen — im Lichte des socialen Lebens — ganz anders ausfällt,
als vom rein künstlerischen Standpunkte.
Erst diese Gegenüberstellung der Literatur und des unmittelbaren
Lebens kann uns den Einblick in die wahre Bedeutung des histori¬
schen Progresses eröffnen, und man könnte nicht behaupten, dass
diese Seite der literarischen Betrachtung bisher mit genügendem
Licht beleuchtet sei. Es ist augenscheinlich, dass bei einer solchen
Schätzung sämmtliche Bedingungen, unter welchen die Literatur
überhaupt existirt, in Betracht gezogen werden müssen, und erst
diese allgemeine Bestimmung weist auf den wirklichen Werth der
Literatur für das Leben hin, erklärt ihren Umfang, ihren Ein¬
fluss, u. s. w.
Seit dem Anfänge dieses Jahrhunderts ist bei uns viel von Volks¬
thum und Volksthümlichkeit die Rede gewesen. So soll dieselbe,
nach der Meinung der Kritiker, in einigen Werken Shukowsky’s zu
finden sein, in den Fabeln Krylow’s, dann bei Puschkin, endlich bei
Gogol. In der That trat die poetische Literatur allmählich aus der
Periode künstlicher Nachahmung heraus, von dem Streben beseelt,
durch Aneignen russischer Themata’s und russischer Farben Selbst¬
ständigkeit zu erwerben. Und man kann sagen, dass mit Puschkin,
namentlich aber mit Gogol, dieses Ziel erreicht war. Die Literatur
wurde wirklich volksthümlich oder national, eigenthümlich und
selbstständig in Ideen, Färbung, Ton und Form.
Nun blieb aber noch eine andere Frage zu lösen: — die Stellung
der Literatur zum Gesammtleben der Nation. In welchem Verhältnisse
stand die Entwickelung der russischen Literatur zu den nationalen
Factoren des russischen Lebens, waren sie ihr günstig oder nicht,
welchen Charakter nahm die Literatur unter ihrem Einflüsse an, wie
stand es dabei um die Sache der nationalen Bildung, und welche
Resultate sind erzielt worden?
Kehren wir zum allgemeinen Begriff der Nationalität und ihrem
Verhältnisse zur Civilisation zurück.
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Die Nationalität ist nicht nur der Inbegriff der äusseren Besonder¬
heiten in Hinsicht auf die formale Seite des Volksgeistes und der
Volksphantasie, sondern unterliegt in einem gegebenen Momente in
gleichem Maasse dem Einflüsse der Anschauungen und Kenntnisse,
welche die Vergangenheit des Volkes aus sich entwickelt hat. Dieser
Einfluss kann sowohl günstig als ungünstig sein. Wenn die Kennt¬
nisse und die Gewohnheit der geistigen Arbeit gering sind, so wird
die geistige Entwickelung nothwendigerweise aufgehalten, und der
frühere Stillstand wird in den Massen zum Hemmschuh des Fort¬
schritts. Wir sehen das deutlich, wenn wir die Civilisationen ver¬
schiedener Völker mit einander vergleichen; wir gestehen, dass
Russland in dieser Hinsicht anderen Nationen bedeutend nachsteht,
aber selten geben wir zu, dass dieser Umstand sich direkt im Um¬
fange unserer Anschauungen abspiegeln müsse. Eben dieser Umfang
der Kenntnisse und Anschauungen bildet einen Hauptbestandteil des
nationalen Lebens, und demselben sind die höchsten Schöpfungen
nationaler Schriftsteller und Dichter unterworfen.
Daraus folgt jedoch nicht, dass ein solcher Zustand fatalistisch
sein müsse. DieNationalität ist nicht stabil und unbeweglich, sondern
im Gegentheil der Veränderung und Vervollkommnung durchaus
fähig. Darin liegt die Möglichkeit und die Hoffnung des Fortschritts.
Es ist nicht schwer einzusehen, dass der geistige Inhalt eines Volkes
von Periode zu Periode wechselt. Die nationalen Principien durch¬
laufen die ganze Phase des historischen Lebens, welches ihnen sein
gewichtiges Siegel aufdrückt Ihre Unzerstörbarkeit ist nur eine
scheinbare. Man weist uns oft auf tausendjährigeUeberlieferungendes
heidnischen und patriarchalischen Zeitalters hin, vergisst aber dabei,
dass dieselben die ihnen einst innewohnende Bedeutung gänzlich ver¬
loren haben. Wenn wir letztere jetzt wieder zu errathen anfangen, so
haben wir es nicht einem nationalen Gedächtniss zu verdanken, son¬
dern der emsigen Arbeit der westeuropäischen Wissenschaft. Eben
so wenig darf man sich darüber täuschen, dasjdiese neu entdeckte
Bedeutung einer nationalen Ueberlieferung im Volke jemals wieder
aufleben könnte, sie dient nur zur Bereicherung und Vervollständi¬
gung unseres historischen Wissens. Der innere Gehalt einer Ueber¬
lieferung ist gleichfalls ohne Werth für uns. Denn wie ein religiöser
Mythos uns nur ein historisches Interesse darbieten kann, so kann
auch eine archäologisch aufgefundene Moral von keiner allgemeinen
Verbindlichkeit sein. Die Doctrinäre des Volksthums berufen sich
dagegen auf die «Achtung» für das Volk und den pseudohistorischen
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Schluss, dass eben diese Ueberlieferungen die allein-seligmachen-
den Principien enthielten. Aber der historische Fortschritt besteht
nicht nur in der Entwickelung der ursprünglichen Anschauungen,
sondern auch in der Aneignung ganz neuer, gänzlich fremder und
den früheren durchaus unähnlicher Begriffe. Beispiele dafür sind
das aus Byzanz herübergekommene Christenthum, der unter orien¬
talischem und byzantinischem Einflüsse entstandene Absolutismus
des Moskauer Fürstenthums, die dem westlichen Europa entnom¬
menen wissenschaftlichen Ansichten vom Weltall. Das Neue ist dem
Volke oft ganz fremd, und, bei der Aneignung dasselbe zuweilen
umgestaltend, unterwirft es sich doch seinem Einflüsse. Aber bei den
rein wissenschaftlichen Begriffen, die seit Peter dem Grossen auch zu
uns einzudringen begannen, ist nicht einmal diese Umgestaltung mög¬
lich gewesen. Zwischen den neuen wissenschaftlichen Wahrheiten und
den mittelalterlichen Anschauungen war eine Versöhnung undenkbar.
Und doch waren diese Wahrheiten keine gleichgültigen Theorien,
sondern griffen im Gegentheil in die eingewurzeltesten Vorstellungen
des Volkes hinein. So schränkte die neue Naturforschung mit einem
Male das Gebiet des Wunders ein, welches im Mittelalter in allen
Verzweigungen des Lebens eine so grosse Rolle spielte. Diese
Macht der logisch-wissenschaftlichen Bewegung ist von den natio¬
nalen Eigenthümlichkeiten total unabhängig, und bei der Aneignung
derselben empfangt ein Volk ein ganz neues, sein ganzes morali¬
sches Sein veränderndes Element, ein Bildungsmittel von der
grössten Wichtigkeit. Was aber die Achtung für das Volk betrifft,
so besteht sie nicht im Bemänteln seiner Naivität, sondern in dem
Wunsche nach möglichst bedeutender allgemeiner Bildung und
Selbstständigkeit, verbunden mit Wohlstand, damit es mit voller
Kraft in die Triebräder der Civilisation, seines socialen und politi¬
schen Lebens hineingreifen könne.
Auch darin irren die Doctrinäre des Volksthums, wenn sie be
haupten, dass das Volk selbst seine Ueberlieferungen eifersüchtig
bewache und bewahre. Dieselben bestehen nur, so lange Nichts
vorhanden ist, was ihre Stelle einnehmen könnte. Das Volksleben
war fast bis zur letzten Zeit nach dem eigenen Geständniss des
Volkes ein «dunkles» Leben; es bewahrte die phantastischen Vor¬
stellungen des Heidenthums, weil es in den Lehren der neuen Reli¬
gion nur schlecht unterwiesen wurde. Als dann später die religiösen
Ideen allmählich den mehr bestimmten Charakter des Christenthums
Annahmen, bewahrte das Volk ebenso die ceremoniellen Formen
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der äusseren Frömmigkeit, weil ihm die Möglichkeit einer geistigeren
Auffassung nicht gegeben war. Diese Anschauungen des XVII. Jahr¬
hunderts haben sich fast bis auf diese Stunde bei der Menge er¬
halten. Dass aber selbst dieses «dunkle» Volk nicht bei der Ver¬
bindlichkeit einer Ueberlieferung stehen bleibt, das zeigen viele
nationale Bewegungen, so z. B. der sogenannte Raskol (eine weit¬
verbreitete und in viele Zweige auseinandergehende religiöse Secte).
Zuerst mit dem Charakter einer conservativen Opposition gegen
beabsichtigte Neuerungen auftretend, betritt er bald selbst den Weg
solcher Neuerungen, auf welchem er zwei Grund-Autoritäten des
alten Lebens — die Autorität der Kirche und die Autorität der
Macht — zur Seite stösst. So traten mitten im Volke die einge¬
wurzeltesten Traditionen vor dem Drange cfes neuen Gedankens
zurück.
Zu derselben Kategorie gehört auch die neue geistige Bewegung,
die mit Peter dem Grossen ihren Anfang nahm und welche die
Doctrinäre gewöhnlich als Entfremdung vom Volke bezeichnen.
Diese Bewegung stand in der That in keinem unmittelbaren Zusam¬
menhänge mit der alten Tradition, mit ihr begann eine neue Civili-
sation, aber sonderbar ist es, zu behaupten, dass sie ein «Verrath»
an den nationalen Principien wäre, dass sie eine unnütze Schwen¬
kung in die andere Seite mache. Denn die neue Bewegung kam
nach allen ihren Schwankungen und Anstrengungen doch wieder
auf die Sache des Volkes zurück. Es sind auch hier, wie überall,
Maasslosigkeiten und Uebertreibungen, Fehler und Misserfolge zu
verzeichnen, aber doch sind alle Reformen Peter’s des Grossen und die
ganze Geschichte des neu beginnenden geistigen Lebens ein echt
nationales Werk. Die alten Traditionen hatten sich überlebt, sie
konnten weder das Volk noch den Staat den Forderungen der Zeit
gemäss unterstützen, und damit hatten sie ihre Rolle ausgespielt.
Peter der Grosse war der erste «verneinende» Geist (um einen
modernen Ausdruck zu gebrauchen) und dadurch wurde er einer
der grössten «nationalen* Helden Russlands — denn er negirte
das in sich Zerfallene und suchte nach den Quellen eines neuen Le¬
bens. Mit ihm beginnt jene kritische Auffassung des nationalen
Lebens, welche sich durch verschiedene Schulen bis in unsere Zeit
hineinzieht. Diese Auffassung wurde immer tiefer und ernster, zog
immer neue Gegenstände in ihren Kreis hinein, war aber niemals
ein «Verrath» an der Nationalität, wie dieses Wort jetzt oft auf Jene
angewandt wird, welche den nationalen Vorurtheilen, Schwachheiten
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und Lastern zu fröhnen nicht geneigt waren. Solche Kritiker des
nationalen Lebens waren auch die Männer, welche an der Spitze
der neuen literarischen Bewegung standen, mit welcher wir uns
im Verlauf unserer Darstellung beschäftigen werden. Das waren
Menschen von oft ganz entgegengesetzten Meinungen, «Slawo-
philen» und «Westeuropäer» — aber Alle waren von dem einen
Streben nach Selbsterkenntniss beseelt, Alle waren sie auf gleiche
Weise Freunde des Volkes, dienten auf gleiche Weise dem natio¬
nalen Interesse. Die wahren Feinde des «Nationalen» gehörten
Alle zu einer Kategorie, das waren die Obskuranten, die Unter¬
drücker des kritischen Gedankens.
So giebt uns die Geschichte zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen
Anlass: erstens, dass die Nationalität, ihre Eigenthümlichkeit be¬
wahrend, in verschiedenen Perioden sehr verschieden gewesen ist,
beeinflusst von aussen und unter diesem Einflüsse sich auch innen
umgestaltend; und zweitens, dass das nationale Leben selbst Bei¬
spiele einer kritischen Betrachtung der eigenen Lebensbedingungen
und der sittlichen und politischen Ideen darbietet.
Worin bestand nun die Entwickelung unseres nationalen Geistes?
Seit Peter dem Grossen stand Russland Auge in Auge den Fort¬
schritten der westeuropäischen Civilisation gegenüber. Diese Givili-
sation hatte sich Europa im Mittelalter erworben, als Russland im
Kampfe mit den asiatischen Horden darniederlag, mit dem Ein¬
impfen der unbedeutenden byzantinischen Civilisation und der
Gründung des eigenen Staates beschäftigt war. Damit begann die
Periode der geistigen Nachahmung und Aneignung.
Die Doctrinäre des Volksthums können diesen kühnen Schritt Peter
dem Grossen noch bis jetzt nicht verzeihen. Diese Periode der Nach¬
ahmung, «die St. Petersburger Periode» ist in ihren Augen noch
immer eine Art babylonischer Gefangenschaft; ihm wird noch immer
Alles Schwere in den Reformen und ihren Folgen aufgebürdet. Ohne
Verständnis für den Begriff der historischen Nothwendigkeit jener
Reformen, legte man ihm sogar jene rauhen Seiten des XVIII. Jahr¬
hunderts zur Last, welche ein directes Erbtheil des XVII. Jahrhun¬
derts waren, wie z. B. den unbeschränkten Absolutismus Peter’s
und seiner Nachfolger.
Aber eine solche Periode der Abhängigkeit und Nachahmung ist
eine Erscheinung, die sich "in der Geschichte der allgemeinen Civili¬
sation oft wiederholt Seitdem der Samen der Bildung in Europa
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;
Wurzel gefasst hat, bieten sich viele analoge Fälle dar. Die Ver¬
breitung der Gvilisation war immer eine ungleichmässige; es gab
immer bestimmte Mittelpunkte, zu welchen die anderen Nationen
sich hingezogen fühlten. Im Alterthum war Griechenland ein solcher
Mittelpunkt, dem sich Rom .unterwarf; in späterer Zeit wurde Rom
wieder der allgemeine Anziehungspunkt für das westliche Europa,
welches jener Stadt die höchste moralische und politische Autorität
zuerkannte; in der Epoche der Renaissance spielte Italien eine
solche Rolle; in der Zeit der Reformation bilden sich wieder neue
Mittelpunkte; im XVIII. Jahrhundert herrscht allgemein die franzö¬
sische Civilisation u. s. w. Die europäische Civilisation war eben
das Resultat der gemeinsamen Arbeit aller europäischen Nationen,
so dass es schwer zu bestimmen ist, welcher Nation der erste Preis
gebührt; aber eine jede der Hauptnationen Europa’s hat ein Mal
den ersten Platz behauptet, und alle anderen Nationen unterwarfen
sich dann ihrem Einflüsse. *
Nicht anders war es mit Russland. Als es, den Boden der natio¬
nalen Ausschliesslichkeit verlassend, den neuen Weg betrat, blieb
ihm nichts übrig, als die Aneignung dessen, worin West-Europa ihm
voraus war. Mit Peter dem Grossen begann eine ununterbrochene
Reihe von Nachahmungen; die neuen theoretischen und prakti¬
schen Kenntnisse, die neuen Sitten trugen ein neues Element in das
russische Leben hinein, ein Element, welches das alte Leben zer¬
setzen oder es bis zum Niveau des westeuropäischen Lebens hinauf¬
ziehen musste. Oft ist bei uns zu den verschiedensten Zeiten die
Ansicht ausgesprochen worden, als sei die Periode der Nachah¬
mung endlich zuEnde, dass wir selbstständig geworden, dass wir jetzt
unsere eigene russische Wissenschaft gründen müssten u. s. w.
Auf die Selbsttäuschung, die darin liegt, ist nicht erst nöthig hinzu¬
weisen. Es genügt ein Blick um uns her, um zu sehen, wie wenig
Selbstständigkeit in unserem Leben noch vorhanden ist: aus West-
Europa nehmen wir unsere Institutionen (die guten wie die schlech¬
ten); unsere Gelehrten, die einigermassen von ernstem Streben be¬
seeltsind, haben ihre Studien im Auslande beschlossen; aus West-
Europa stammen die Muster unserer Waffen und unserer Press¬
gesetze; Preussens Beispiel bewegt uns zur Einführung der Erbs¬
wurst, und dasselbe Preussen oder England liefert uns die Argu¬
mente für oder gegen klassische Bildung; viele Zweige der In¬
dustrie liegen Russland noch ganz fern, nicht weil sie bei uns un¬
möglich sind, sondern weil sie uns durch die Vorzüglichkeit der
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8
westeuropäischen Industrie und wegen der eigenen Unwissenheit
verschlossen sind; im Handel sind wir noch jetzt ein Gegenstand
der Exploitation; — von der Literatur sprechen wir später.
Mit einem Worte, die Thatsache der Abhängigkeit kann vor einem
unparteiischen Richter keinem Zweifel unterliegen. Aber die Aneig¬
nung des europäischen Stoffs und das eigene ideale Streben der Lite¬
ratur konnte nicht ohne Kampf von Statten gehen. Gleich im Anfänge
stiessen die Reformen in den Volksmassen auf einen doppelten
Widerstand. Einerseits waren es die unnütze Grausamkeit und die
Maasslosigkeit, mit welcher Peter der Grosse seine Reformen in # s
Werk setzte, welche den Widerstand hervorriefen, und darin war
das Volk im Recht; andererseits war es aber ein Widerstand gegen
den ganzen Gehalt, das Wesen der Neuerungen, ein Widerstand
der Rohheit und Uncultur, und hier war Peter im Recht Dieser
Widerstand der € dunklen» Masse ist bis jetzt der traurige Begleiter
unserer Civilisation geblieben, und wir werden später sehen, wie die
Doctrinäre des Volksthums in dieser Erscheinung ein neues Argu¬
ment gegen den «Europäismus» zu finden glaubten und in dem
Volke eine eitele Selbsttäuschung heranbilden wollten, welche direkt
zum Obskurantismus hinführt.
Leider war das Misstrauen des Volkes gegen die neue Bildung
durchaus natürlich. Selbst den höheren Schichten der Gesellschaft
von Peter d. Gr. aufgezwungen, blieb sie fast bis auf die letzte Zeit
ausschliessliches Eigenthum des Adels; das Volk fand in der neuen
Richtung nichts für sich, als nur neues Leid und neues Wehrder
Druck der Leibeigenschaft und des Beamtenthums unter diesen «ge¬
bildeten» Klassen wurde um so schwerer. Früher war ein gewisses
patriarchalisches Verhältniss möglich, h^beigeführt durch gleiche
Sitten und gleiche Gewohnheiten; jetzt schlossen sich Gutsherren
und Beamte ganz vom Volke ab, wurden in Sitten und Begriffen ihm
fremd, und der Druck, den sie ausübten, war oft unerträglich.
Der Masse des Volkes selbst war die Bildung fast unzugänglich:
während des ganzen XVIII. Jahrhunderts war für den Leibeigenen
die Bildung eine juridische Unmöglichkeit; ebenso unmöglich war
sie dem freien Manne wegen der gegen sie eingewurzelten Antipa¬
thie, und auch wegen Mangel an Schulen und wegen allgemeiner
Armuth. Es ist leicht begreiflich, wie dadurch der Gang der Civili¬
sation aufgehalten wurde, wie viele frische, aus dem Innersten der
Nation kommende Kräfte ihr verloren gingen; zugleich aber bildete
diese Rohheit der Massen eine ungeheure Macht, welche allen Reac-
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tionsströmungen des Obskurantismus der höheren Sphären unter¬
stützend zur Seite stand.
Diese Reactionsströmungen wiederholten sich beständig und waren
auch ganz natürlich. Unter Peter dem Grossen waren die Reformen
und die Sorge für die allgemeine Bildung Sache der Regierung, und
Niemand dachte daran, dass die Bildung irgendwelche Unzulänglich¬
keiten nach sich ziehen könnte. Aber bald traten schon Anzeichen
einer selbstständigen Bewegung auf, welche in der Regierung die
Furcht vor der Freigeisterei erweckte. Schon unter Peter dem
Grossen begann eine Verfolgung der «religiösen Freigeisterei».
Später wendet die Regierung, unter Beihülfe der Geistlichkeit, ihre
Waffen immer mehr und mehr gegen sogenannte «schädliche Theo¬
rien», wie z. B. das Copernicanische Weltsystem. Mit einem Worte,
die ersten Regungen eines selbstständigen Gedankens oder die ersten
Aneignungen ernster Ideen des Westens wurden mit Misstrauen,
Verbot und Verfolgung begrüsst. Die Sache der allgemeinen Bil¬
dung stiess wieder auf ein Hinderniss — von Seiten der Regierung.
Die Letztere wünschte selbst eine gewisse Bildung, aber nur bis zu
einem bestimmten Grade, für den unmittelbaren praktischen Zweck.
Die Regierung konnte den Gedanken gar nicht fassen, dass die Wis¬
senschaft Freiheit haben muss, wenn sie von productiver Kraft sein
soll; sie construirte im Gegentheil eine gewisse Stufenleiter der Wis¬
senschaften: gute und schlechte, schädliche und nützliche. Es gab
zwar Zeiten, in denen sich dieses Misstrauen zu legen schien, so z. B.
im Anfänge der Regierungen Katharina’s II. und Alexanders I.,
aber darauf wuchs das Vorurtheil gegen die Wissenschaft von Neuem
empor und gestaltete sich in der Zeit, von der wir zu sprechen haben
werden, zu einer gewaltigen Macht.
Eine solche Erscheinung war natürlich. Eine echte Wissenschaft
mit vollständiger Gedankenfreiheit hatte bei uns niemals existirt.
Die neuen Reformen brachten uns nur jene praktischen Lehren,
welche bei einseitigem Verständniss für das materielle Bestehen des
Staates als nothwendig erachtet wurden. Aber die Bekanntschaft
mit der westeuropäischen Literatur musste uns auch mit einer wahr¬
haft freien Wissenschaft bekannt machen; es traten in Folge dessen
Ideen und Anschauungen auf, welche denen des bestehenden R6-
gime’s durchaus unähnlich waren. Dieses Regime liess nicht das
geringste freie Urtheil zu; es war selbst zu wenig gebildet, um das
Unschädliche solcher Anfänge einer wissenschaftlichen Selbststän¬
digkeit darzulegen, und zugleich diese Versuche zu ermuntern.
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Wir haben niemals einen Joseph II. oder Friedrich II. in unserer Ge¬
schichte gehabt; selbst Katharina II., welche zuerst einen solchen
Weg betrat, lenkte bald in das System der Anna und Elisabeth ein.
Die französische Revolution bestärkte noch mehr in der Ueberzeu-
gung von der Nothwendigkeit einer strengen Aufsicht; Niemand
gab sich die Mühe, Ausschreitungen und Uebertreibungen von der
ruhigen freien Untersuchung zu unterscheiden; ein jeder kühne und
ungewöhnliche Gedanke wurde für revolutionär erklärt und unserer
halb-kindlichen Gesellschaft revolutionäre Umtriebe zugeschrieben.
Es war einerseits eine Ahnung davon, dass sich etwas Neues, Brei¬
teres in der Gesellschaft heranbilde, andererseits aber die Furcht vor
den geheimen Intriguen, die im XVIII. Jahrhundert eine so bedeu¬
tende Rolle gespielt haben. Dieses Vorurtheil gegen die Wissen¬
schaft und die Rede- und Gedankenfreiheit war nicht bloss auf die
höheren Sphären beschränkt; die Mehrzahl der nur oberflächlich
Gebildeten war derselben Meinung. Endlich wurde dieses Vorur¬
theil noch durch die Ansicht gestärkt, dass es im «Geiste des Vol¬
kes» begründet sei: in der einfältigen Unwissenheit der Massen sah
man die Bestätigung seines Misstrauens gegen die Wissenschaft und
erblickte in der Gedankenfreiheit eine Verletzung des Volksthums.
Eine solche Anschauung entwickelte sich in denjahren 1810 — 1830,
wo die Furcht vor dem Liberalismus besonders gross war. Man kann
sich leicht vorstellen, in welchem Maasse sie die Entwickelung unse¬
rer Civilisation aufgehalten hat. Wenn wir uns bis jetzt nur wenig
in Betreff der Mitarbeit an europäischer Literatur und Wissen¬
schaft rühmen können, wenn die Dosis unserer geistigen Kraft kaum
zum täglichen Hausgebrauch ausreicht, wenn in Literatur und Kunst
* die Mittelmässigkeit so vorherrschend ist, wenn sogar hervorragende
Geister und Talente verhältnissmässig nur wenig erreichen, d. h. nur
selten in ihren Werken sich zu der Höhe eines allgemein menschli¬
chen Interesses erheben — so trägt die Schuld daran zum nicht gerin¬
gen Theil jener Druck, welcher auf der abstracten Forschung wie auf
dem künstlerischen Schaffen lastete. Nirgends freilich ist die Erwer¬
bung der Gedankenfreiheit ohne Kampf gegen Vorurtheil und Aber¬
glauben vor sich gegangen, aber bei uns war das Entkeimen des
Gedankens selbst mit den grössten Schwierigkeiten verbunden, nir¬
gends fand die Sache Unterstützung und war die That einer unbe¬
deutenden Minorität; Literatur und Wissenschaft mussten sich durch
die dicke Schicht des Aberglaubens und der Unwissenheit hindurch¬
arbeiten, welche durch die Ueberlieferung, die Sitten unterstützt
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IX
wurden. Es ist begreiflich, dass diese Arbeit oft erfolglos blieb,
dass von dem freien Gedanken nur einzelne Splitter abfielen, die
fragmentarisch und unentwickelt in die Geister drangen. Daraus folgte
dann bei der lesenden Menge die Ungewohnheit des logischen Den¬
kens, die Neigung zu unfertigen Schlüssen, abweichende Beweisfüh¬
rungen, sowie alle diese Anzeichen und Merkmale einer halben Bil¬
dung, an denen unsere Gesellschaft schon seit lange so reich ist.
Das waren die Bedingungen, unter welchen die Literatur Russ¬
lands in jene Periode eintrat, die uns beschäftigen wird; sie blieben
dieselben während der ganzen Zeit. Der allgemeine Charakter
bleibt derselbe, aber die Bewegung nimmt an Breite zu und wird an
Inhalt ernster; zugleich damit steigt jedoch auch der Widerstand
der Tradition und Reaction. Hinsichtlich der Wissenschaft hatte
Russland immer dieselbe Aufgabe zu bewältigen: die Aneignung
der Resultate und des Wesens westeuropäischer Forschung; auf dem
Gebiete der Poesie hatte es die Entwickelung des künstlerischen
Schaffens unter dem Einflüsse des westeuropäischen Gedankens und
der Poesie West-Europas zu fördern, und zwar auf beiden Gebieten
verbunden mit dem Streben nach Selbstständigkeit. Indem die Li¬
teratur diese Aufgabe erfüllte, hatte sie wieder mit denselben Hin¬
dernissen zu kämpfen — mit der Gleichgültigkeit und der halben
Bildung der Gesellschaft, mit den Traditionen.
Dass die Bewegung unserer Literatur und der gesellschaftlichen
Anschauungen in der That in dieser Richtung fortschritt, wird bei
einem aufmerksamen Blicke auf die historische Entwickelung der¬
selben vollkommen klar. In dem kleinen Kreise, in welchem eine
gewisse Bildung vorhanden war, folgte dieselbe Schritt für Schritt
dem Gange der westeuropäischen Civilisation. Als durch Peter den
Grossen die «Wissenschaften zu uns verpflanzt-* wurden und mit 4P
ihnen die erste «protestantische Freigeisterei» bei uns Eingang fand,
nahm die russische Civilisation eine Menge verschiedener Eindrücke
in sich auf, welche der westeuropäischen Bewegung eigenthümlich
waren. So erschien auch bei uns im vorigen Jahrhundert die Wölfi¬
sche Philosophie, die Freimaurerei, die französische Philosophie und
Freigeisterei, die Reaction der Schwärmerei und der Sentimentalität;
•in diesem Jahrhundert trat wieder die Romantik in allen ihren For¬
men bei uns auf, vom reinsten Mysticismus bis zum skeptischen
Weltschmerz; in Verbindung mit der Romantik beginnt auch bei
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uns, wie in West-Europa, eine geheime liberale Bewegung einer¬
seits und eine Reaction andererseits; zu gleicher Zeit entwickelte
sich auch bei uns die historische und poetische Archäologie und
die Lehre vom «Volksthum»; dann folgen in den dreissiger und
vierziger Jahren Schelling und Hegel, endlich Fourier und Saint-
Simon. Das genügt, um auf die enge Verbindung unserer
geistigen Interessen mit denen West-Europa’s hinzuweisen. Wir
sehen sogar, dass im Slawophilenthum dieselben Einflüsse wirksam
waren. Später aber, nach Erringung einer gewissen Selbstständig¬
keit, bleibt der Reichthum der westeuropäischen Wissenschaft doch
noch immer die Quelle unserer Bildung.
Es ergiebt sich also, dass der Einfluss West-Europa's auf unsere
Literatur eine constante Erscheinung ist. Eine vollständige
Rechtfertigung dieser Periode der Nachahmung finden wir aber
darin, dass diese Einflüsse wesentliche Stützen unserer historischen
Entwickelung wurden. Die Nachahmungen hatten natürlich nicht
den Werth selbstständiger Arbeiten, aber in ihnen lag ein bedeu¬
tendes historisch-pädagogisches Element. Bei den erschwerenden
Bedingungen, in welche das russische Leben gestellt war, war die
Aneignung westeuropäischer Ideen nicht so leicht, wie es vielleicht
den Anschein haben könnte. Einige Personen aber fassten sie in
genügender Klarheit auf, um ihnen Verbreitung geben zu können,
indem sie dieselben zugleich selbstständig weiter entwickelten.
Eine solche Arbeit gewann eine gewisse historische Bedeutung,
indem sie die früheren Anschauungen zurückdrängte und zur Ver-
grösserung des geistigen Horizontes beitrug; eine jede Richtung,
welche wir auf solche Weise miterlebten, wurde ein Markstein
unserer historischen Entwickelung, an dem Europa zwar schon vor¬
übergegangen, der uns aber noch fremd war. Vieles konnte darin
flir uns von nur geringer Bedeutnng sein, aber im Ganzen war zwi¬
schen diesen Richtungen eine logische Verbindung; wir folgten auf
solche Weise den Wendungen der westeuropäischen Bildung, und
dies allein gab uns die Möglichkeit, uns einmal zum Niveau der Civi-
lisation Europa’s zu erheben.
Die Aneignung der Resultate des westeuropäischen Wissens war die
eine Seite der Aufgabe; die andere Seite bestand in der Verbreitung
jener Resultate. Wegen der Leibeigenschaft war es undenkbar, in
den Volksraassen selbst für eine Verbreitung der Bildung zu wirken;
es galt, die Sache der Civilisation wenigstens in den Kreisen zu
erhalten und zu starken, wo dieselbe überhaupt möglich war.
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*3
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Thätigkeit der Literatur
in diesem Sinne viel bedeutender gewesen wäre, wenn sie volle
Freiheit der Entwickelung gehabt hätte. Leider war diese Freiheit
nicht vorhanden.
Der Stoff, den es zu verbreiten galt, war durch den Gang der euro¬
päischen Civilisation bedingt. Es waren überhaupt allgemeine Resul¬
tate aus allen Zweigen des Wissens und ihre Anwendung auf das wirk¬
liche Leben; das ideale Ziel der Literatur war die Verbreitung der Be¬
griffe des wahren Volkswohls und der wahren Bildung, die Noth-
wendigkeit eines kritischen Blickes auf das eigene nationale Leben,
und das Streben nach Erweckung eines bewussten Gefühls mensch¬
licher und nationaler Würde. Das europäische Leben befand sich
damals gerade in einer schweren Krisis. Die französische Revolu¬
tion hatte einer Reaction weichen müssen, welche durch alle Mittel
in Politik und im socialen Leben das Alte wiederherzustellen be¬
müht war. Aber die Resultate der Revolution waren nicht so leicht
auszurotten: viele alten Traditionen hatten unwiederbringlich ihren
Werth verloren. Es war für die russische Gesellschaft schwer,
diesem Kampfe fern zu bleiben, dieser Arbeit an neuen politischen,
moralischen, socialen Principien; Russland stand in zu enger Ver¬
bindung mit den Interessen West-Europa's. Der Enthusiasmus der
jungen Generation für freieres politisches und geistiges Leben fand
auch bei uns einen WiederhalL Die neuen Ideale der westeuropäi¬
schen Poesie hatten um so mehr Anziehungskraft für uns, weil das
eigene Leben so überaus arm war. Unter dem Einflüsse dieser Ideale
bildetdh sich nun neue, selbstständige Bestrebungen, die ihre Nah¬
rung aus dem innersten russischen Leben zogen.
In der Periode, von welcher wir zu sprechen beabsichtigen, tritt
im russischen Leben ein neues Princip, eine neue Idee auf —
die Idee des Volksthums, zum Theil als Folge der westeuropäi¬
schen Bewegung, zum Theil vollkommen selbstständig. Im west»
liehen Europa aus dem Hasse gegen das Joch Napoleons entstanden,
wurde diese Idee der Nationalität zu gleicher Zeit das erste Merk¬
mal einer Reife des Selbstbewusstseins im Volke und äusserte sich
in der Literatur durch die wissenschaftliche Erforschung des natio¬
nalen Alterthums. Eigentlich lag dieser Bewegung ein tief demo¬
kratischer Zug zu Grunde, denn dieses literarische Interesse für da9
Volk war in seinem Wesen ein Anzeichen der Rolle, welche das
Volk in naher Zukunft zu spielen haben würde. Die literarische Be¬
wegung im Sinne des Volksthums deckte in der That die ganze
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*4
Bedeutung dieses nationalen Elementes auf. Aber die Romantik gab
auch dieser Bewegung in ihrem reactionären Geiste eine conserva-
tive Schwenkung. Auch bei uns durch dieselben Ereignisse
hervorgerufen und durch die westeuropäische Literatur verstärkt,
wurde diese Bewegung einerseits der Mittelpunkt jedes geisti¬
gen Fortschritts, andererseits der Ausgangspunkt einer conser-
vativen Bevormundung. Vom Volksthum sprach man in den offi-
ciellen Akten der Regierung und zugleich in den verschiedensten
literarischen Parteien. Aber das gemeinsame Stichwort bedingte
durchaus nicht eine gleiche Auffassung desselben. 'Auf der einen
Seite verstand man darunter den officiellen Status quo der Nation —
diese Ansicht herrschte bei der Regierung und bei der grossen
Mehrzahl vor. Aber in der gebildeteren Minderheit bildeten sich
andere Meinungen, welche man in zwei Kategorien theilen könnte.
Die Einen waren auch mit dem Status quo einverstanden, aber sie
idealisirten das Volk, fanden in seinem Sein ein Heiligthum erha¬
bener Principien, und die Entwickelung hätte, ihrer Meinung nach,
nur in der Erforschung dieses Heiligthums und der in ihm ruhenden
Ideen, wie in der Ausbreitung derselben auf das ganze nationale
Leben bestehen müssen, welches durch die Reformen aus dem Ge¬
leise gebracht worden war. Die Anderen dagegen meinten, dass
das Volksthum gar kein so unverletzlicher und allumfassender Co¬
dex sei, der ein für alle Mal den Gang der Entwickelung regele,
sondern dass das Volksthum sich bis zur Idee des allgemein Mensch¬
lichen erheben müsse, welche allein ihm Würde und historische
Bedeutung zu geben im Stande ist. *
So wurde die Idee des Volksthums selbst zum Streitpunkt der
Parteien. Die Einen hielten sie für bekannt, erreicht und verwirk¬
licht, die Anderen strebten nach ihrer Ergründung und Erklärung.
Für Alle hatte sie aber die Bedeutung der Selbstständigkeit. Aber
.der gereizte Streit zwischen den Parteien zeigte, dass der gesuchte
Kern doch noch nicht gefunden sei, wie es auch noch heute der
Fall ist.
Das sind die bewegenden Ideen der Periode in den zwanziger
Jahren, welche auch noch bis jetzt ihre Rolle spielen. Denn in jenem
für die nur halb gebildete Mehrheit bestimmten Theile der Literatur
wird noch jetzt vom * Volksthum» gesprochen, und daraus leider
nur zu oft ein Schild für jede Art nationalen Eigendünkels und na¬
tionaler Selbstgefälligkeit gemacht.
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15
Was die Einzelnheiten der Bewegung betrifft, so hat sich ihr
Charakter in den fünfziger Jahren bedeutend verändert. Die politi¬
sche Erregung hat sich nach dem Jahre 1825 gänzlich gelegt, da die
Führer der politischen Agitation und Viele, welche daran bethei¬
ligt waren, der Katastrophe zum Opfer gefallen sind. Doch unter¬
dessen ging das Leben seinen Gang ruhig weiter. Alle Versuche
der Einwirkung auf die Gesellschaft und die Verwirklichung der
ideelleif Theorien wurden beiSeite gelassen, weil sie unausführbar
waren; aber trotz alledem begann das nationale Selbstbewusstsein
zu erstarken. Es kam ein ernster Zug in die Literatur, ungeachtet
des Mangels an einem politischen Interesse; sie trat den treibenden
Fragen der Bewegung viel näher und die Zahl der Menschen, denen
allgemeine Interessen am Herzen lagen, ward um ein Bedeutendes
grösser als früher, wenn sie auch jetzt noch relativ gering war.
Es hat sich in unserer Literatur nicht selten ein bedeutendes skep¬
tisches Misstrauen gegen den sogenannten Fortschritt gezeigt; über
alle Maassen erhoben, hat dieser Progress oft nicht einmal die gering¬
fügigsten Resultate in Literatur und Gesellschaft erzielen können.
In unseren Tagen, nach vielen getäuschten Erwartungen und Hoff¬
nungen, findet der Skepticismus noch grössere Nahrung. Es ist in
der That nicht leicht, ihn von sich fern zu halten, wenn man auf
Schritt und Tritt erfährt, dass die Reformen nicht in das russische
Leben eindringen wollen, dass durch alle neuen Institutionen, von
denen man sich so viel für die gesammte Kraft der Nation versprach,
die alte Rohheit und Beschränktheit hindurchschlägt, dass die
wenigdenkende Menge und ihre literarischen Organe die Bande
der alten Ordnung noch fester knüpfen durch Eigenlob und Selbst¬
gefälligkeit. Dieser Skepticismus ist durchaus begründet und wir
wollen ihn auch nicht bestreiten. Aber es wäre ein Irrthum, ihn auf
das Ganze der historischen Bewegung ausdehnen zu wollen. Wir
sind in der That an Persönlichkeiten von Energie und Kraft nicht
reich, unsere Geschichte zeigt nur wenige Charaktere, welche auf
dem Wege der Civilisation voranzugehen im Stande wären; aber in
jener Periode, von der wir sprechen, hat es nicht wenig talentvolle
Männer gegeben, welche die Gegenwart gut verstanden und, nicht
ohne Gefahr für sich, den Kampf gegen ihre Gebrechen aufnahmen.
Denjenigen, die nur oberflächlich auf den Gang unserer Entwicke¬
lung herabblicken, müssen die Namen jener Männer in Erinnerung
gerufen werden, welche ein edles, wenn auch oft erfolgloses Bei¬
spiel darbieten, wie viel Anstrengung es gekostet hat, das Bewust-
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sein der Gesellschaft wachzurufen und die Nation zu einem besseren
Ziele zu leiten. Zugleich aber legen sie Zeugniss dafür ab, dass sogar
in den schwersten Zeiten Keime einer gesunden und dauernden Ent¬
wickelung vorhanden waren. So viel steht jedenfalls fest, dass un¬
sere Literatur unbedingt den Beweis liefert für eine fortschreitende
Entwickelung und diese Thatsache nährt die Hoffnung, dass die Ge¬
schichte der Literatur zu günstigen Resultaten hinleiten wird; es
wird vielleicht eine langsame Entwickelung sein, aber ihre Lebens¬
kraft unterliegt keinem Zweifel.
Wir beabsichtigen durchaus nicht, eine ausführliche Geschichte
der literarischen Bewegung in diesen Skizzen zu geben, und haben
überhaupt nur die Absicht, auf einige wesentliche Punkte dieser Ge¬
schichte in Verbindung mit den gesellschaftlichen Zuständen hinzu¬
weisen. Unserer Meinung nach ist eine erschöpfende Darstellung
gegenwärtig eine Unmöglichkeit. .....
Die Romantik in Russland.
Shukowsky und Puschkin.
Die literarische Erscheinung, welche in den dreissiger und vier¬
ziger Jahren zum Ausgangspunkte der geistigen Bewegung wurde,
ist die Romantik. Sie tritt bei uns in der ersten Hälfte des zweiten
Jahrzehnts auf und findet ihren Abschluss mit dem Erscheinen der
Werke Gogol’s. Die Jahre 1820 bis 1840 sind die bedeutendsten in
der Thätigkeit dieser Schule.
Das eigentliche Wesen der Romantik kam in den Romantikern
selbst niemals zur Klarheit. Sie trugen den fertigen Begriff aus der
westeuropäischen Literatur in die russische hinein, indem ein Jeder
demselben eine besondere Bedeutung beilegte. Nur dasEine wussten
sie, dass das Romantische in der Literatur einen Gegensatz zum
Klassischen bilde.
Ohne uns in die Darlegung des Streites zwischen Klassikern und
Romantikern einzulassen, wollen wir uns bemühen, auf die Verbin¬
dung hinzuweisen, welche zwischen dieser Richtung und den allge¬
meinen Anschauungen der Gesellschaft bestand und darauf, worin
sich der Einfluss der Romantik äusserte.
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Nach dem Urtheile der Zeitgenossen waren Shukowsky und
Puschkin die bedeutendsten Repräsentanten der Romantik. Bei
Shukowsky treten in der That zuerst jene poetischen Motive auf,
welche man mit dem Worte «romantisch» bezeichnen kann, wie er
sich ja auch selbst für den Vater der russischen Romantik hielt.
Die ersten Werke Puschkin’s tragen ebenfalls den Stempel der Ro¬
mantik an sich, und selbst später, nachdem Puschkin schon voll¬
kommen selbstständig national geworden war, glaubte sowohl er
selbst, als auch seine Freunde, in ihm einen Vertreter der roman¬
tischen Schule zu sehen.
Shukowsky und Puschkin, die damals eine besonders hervorra¬
gende Stellung in der Literatur einnahmen, sind sehr charakteristi¬
sche Repräsentanten dieser Richtung, welche eine besondere Sprosse
in der Leiter unserer geistigen Entwickelung bildet, eine besondere
Uebergangsstufe von der patriarchalischen Tradition und den elemen¬
taren Bildungsanfängen des XVIII. Jahrhunderts zu der kritischen
Bewegung in den dreissiger Jahren.
Man hat oft darauf hingewiesen, dass der Charakter der Dich¬
tungen Shukowsky’s in steter Abhängigkeit von seiner persönlichen
Stimmung gewesen sei. In der That spielt das subjective Gefühl in
seiner Poesie eine bedeutende Rolle. Eine unglückliche Liebe zu
einer nahen Verwandten, die eben deswegen nicht seine Frau wer¬
den konnte, fand ihren Ausdruck in poetischen Herzensergiessungen,
denen eine melancholische Schwärmerei zu Grunde lag, welche für
immer den Dichtungen Shukowskys eigen blieb. Er war von Anfang
an vor Allem Uebersetzer; der englischen und deutschen Sprache
mächtig, wählte er in den betreffenden Literaturen die Stücke
aus, die gerade zu seiner Stimmung passten, zugleich die eigenen
Originalgedichte unter dem Einflüsse derselben Stimmung verän¬
dernd. Ausserdem hatte sowohl seine Erziehung, als auch sein
erster Eintritt in die gebildeten und literarischen Kreise und die in
denselben herrschende mystische Frömmigkeit einen ganz beson¬
deren Einfluss auf ihn ausgeübt.
Aber ungeachtet dieser Subjectivität und der schwärmerisch¬
mystischen Richtung hat die Poesie Shukowsky’s ihre besondere
historische Bedeutung. Sein Mysticismus war ein in der russischen
Literatur noch gänzlich unbekannter Mysticismus, nämlich der der
Romantik.
Als Shukowsky seine literarische Thätigkeit begann, hatte er
wohl schwerlich die Absicht, eine neue Richtung in die Literatur
Run. Berne Bd. VII. 2
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hineinzubringen. Sein Ziel war die Verbreitung der Liebe zur Auf¬
klärung und zur Poesie, als eines moralischen Bildungsmittels; ihm
war die Aufklärung vor Allem Sittenlehre und die Poesie die Führe¬
rin der Menschheit zur Tugend und zur Religiosität. Es waren noch
dieselben Ansichten, die seiner Zeit Karamsin vertreten hatte. Und
wie Karamsin so fand auch Shukowsky in der europäischen Literatur
einen neuen Zug, der auf so wunderbare Weise mit seiner oben
gezeichneten Stimmung harmonirte. Die westeuropäische Literatur,
unter deren Einfluss bei uns die pseudo-klassische Schule entstanden
war, gab nun auch die Mittel zur Untergrabung derselben und
wurde wieder die Quelle der Nachahmung und der Umbildung.'
Die europäische Romantik spielte bei uns fast dieselbe Rolle, die
seinerzeit der Pseudo-Klassicismus bei uns gespielt hatte. Die in
Form und Inhalt neue Richtung fand um so mehr in der jungen Ge¬
neration sogleich Beifall, als sich die alte Schule ausgelebt hatte
und in eine inhaltslose Vielschreiberei ausgeartet war. Es war daher
natürlich, dass die neue europäische literarische Richtung durch die
Mannigfaltigkeit ihres Inhalts und ihrer Formen auf alle Diejenigen,
in denen noch frisches Leben pulsirte, von bedeutendem Einflüsse
sein musste.
Welche Elemente fand nun die russische Literatur in der europäi¬
schen Romantik?
Jene Bewegung, welche man mit dem Worte: Romantik bezeich¬
net, war eine höchst complicirte Erscheinung. Ihre Anfänge liegen
in jener besonderen Erregung der Geister, welche für die zweite
Hälfte des XVIII. Jahrhunderts so bezeichnend ist. Die gährenden
Elemente der Zeit machten sich schon lange vor der französischen
Revolution in vielfachen Ausbrüchen Luft, und als der Umschwung
endlich eintrat, trieb er alle fortschrittlichen und conservativen Ele¬
mente in den Kampf. Als der Sturm sich legte,'war aber die wie¬
derhergestellte «Ordnung» länge nicht die frühere. Vieles war
errungen worden, was sich nicht mehr vergessen Hess. Die Roman¬
tik, welche eine charakteristische Erscheinung der damaligen
Geistesstimmung ist, enthielt daher auch viele conservativen Ele¬
mente, aber nebenbei auch viele Ideen und Anregungen der eben
durchlebten Zeit, und das sind eben ihre hellen Seiten. Es lag in
der Romantik doch das Bestreben, neue moralische und sociale
Ideale zu schaffen, die neue Basis zu finden, welche das persön¬
liche und das allgemeine Leben veredeln und heben könnte. Trotz
des Druckes der Reaction erhoben sich Elemente einer neuen, tie-
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feren Bewegung, und neben den Versuchen einerRechtfertigung des
reactionären Stillstandes entwickelten sich die Anfänge einer neuen
Philosophie und einer neuen Poesie.
So diente die Romantik zu gleicher Zeit dem wissenschaftlichen
und literarischen Fortschritt und einer erbitterten Reaction, die zum
Obskurantismus führte. So erweiterte z. B. Herder’s Idee von der
Einheit des Menschengeschlechts, von der Romantik weiter ent¬
wickelt, den Kreis der wissenschaftlichen Begriffe und den Umfang
der Poesie, und führte zu eingehenden Untersuchungen über allge- '
meine Literatur und Geschichte; so gab das Studium des Alter¬
thums, wie es Lessing und Winkelmann betrieben und die Roman¬
tiker fortgesetzt hatten, dem Begriffe der Kunst eine so umfassende
Bedeutung, wie es früher kaum denkbar gewesen; so gab die ro¬
mantische Hinneigung zur idealisirten Vergangenheit den Unter¬
suchungen über das nationale Leben und das nationale Alterthum
einen mächtigen Anstoss und regte ein höchst mannigfaltiges histo¬
risches und ethnographisches Studium an. Aber andererseits fehlte
es dieser literarischen Richtung an einem realen Verständnisse des
Lebens, es brach eine starke Neigung zum Pietismus, zur Mystik,
zum Glauben an alles Uebernatürliche und Wunderbare hervor;
das Studium der Geschichte führte zur Proklamirung mittelalter¬
licher Begriffe für Staat und Gesellschaft; der poetische Idealismus
gab sich in einer schrankenlosen Herrschaft der Phantasie kund.
Die reactionären Züge der Romantik zeigten sich schon früh, doch
fanden sie die grösste Ausbreitung während der Restauration; und
unter dem Einflüsse der Zeit, der Wiederherstellung der alten poli¬
tischen Systeme in Frankreich und Deutschland, wurden der Ob¬
skurantismus und die Reaction, oder die Hinneigung zu ihnen, die
hervorragendsten Eigenthümlichkeiten der Romantik.
Das war ungefähr der Charakter jener Bewegung, deren Einfluss
sich unsere Literatur mit dem Beginn der Thätigkeit Shukowsky's
unterwarf. Wie immer, so war es auch dieses Mal keine vollständige
Aneignung. Es waren nur einige guten, namentlich aber die
schwachen Seiten der Romantik, welche in unsere Literatur Ein¬
gang fanden. Bei der allgemeinen Unkenntniss war es unmöglich,
Das in dem nöthigen Maasse aufzunehmen, was an dieser Be¬
wegung nützlich und bildend war; weder konnte man den Gegen¬
satz der Romantik zum alten Skepticismus erfassen, noch seine be¬
freienden Elemente und wissenschaftlichen Bestrebungen würdi¬
gen; wie gewöhnlich eignete sich unsere Literatur ein wenig von
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dem Guten, wie vom Schlechten an, und hauptsächlich das, was
dem allgemeinen Niveau der Bildung entsprach.
Als Shukowsky die Romantik bei Uns einführte, hatte er, wie wir
oben bemerkten, durchaus kein irgendwie bewusstes Ziel. Er wollte
nur fortsetzen, was Karamsin begonnen hatte, und in der That
haben Beide in ihren moralisch-idealisirenden Ansichten Vieles ge¬
mein. Der Unterschied Beider lag darin, dass, während Karamsin's
journalistische Thätigkeit eine viel mannigfaltigere Richtung nahm,
Shukowsky sich, der Eigenthümlichkeit seines Talentes gemäss,
fast nur auf das Gebiet der Poesie beschränkte. Die ihm zusagenden
Motive in der westeuropäischen Literatur aufsuchend, übersetzte
sie Shukowsky mit einer Meisterschaft, die ihn bald auf eine Reihe
mit den alten Berühmtheiten und an die Spitze der neuen poeti¬
schen Richtung stellte.
Die Bedeutung der neuen Schule bestand darin, dass sie erstens
die formalen Begriffe der Poesie erweiterte, und zweitens in die
russische Lyrik die bis dahin noch wenig bekannte Welt der inneren
Gefühle hineintrug; in Shukowsky’s melancholischer Poesie zeigte
sich ideales Menschenthum und erhebendes, inniges Gefühl. Der
Weg dazu war zum Theil schon durch Karamsin’s sentimentale
Erzählungen gebahnt, welche aber zu gekünstelt, zu weinerlich
und gefühlsselig waren. Bei Shukowsky jedoch sprach sich dies
Gefühl mit solcher Innigkeit und in so schöner Form aus, dass hier
die Lyrik zu ihrem vollen Rechte kam. Zuerst übersetzte er freilich
noch Florian, Thomson, Klopstock, Matthisson, aber bald führte
ihn sein poetischer Instinkt zu den bedeutendsten Vertretern der
westeuropäischen Literatur, zu Goldsmith, Thomas Moore, Walter
Scott, Byron, Schiller, Goethe, Uhland, Hebel, Rückert.
Der Einfluss der neuen Richtung war in vieler Hinsicht ein durch¬
aus wohlthätiger. Shukowsky wollte, nach dem Beispiele der Roman¬
tiker, dje Poesie zum höchsten Princip des Lebens machen, er pre¬
digte die Liebe zum Wahren und Guten, weckte in den Menschen
die Welt der inneren Gefühle, regte die humane Behandlung der
Nebenmenschen an, und die ihn beherrschende Melancholie gewann
einen grossen Reiz für diejenigen, in denen inmitten der allgemei¬
nen Rohheit sich bessere Gefühle Bahn gebrochen hatten.
In diesem, so zu sagen, pädagogischen Sinne wirkte Shukowsky’s
Poesie auf die Gesellschaft; aber hierin lag auch die Grenze dieser
Wirkung. Shukowsky wandte seine Aufmerksamkeit nur selten dem
realen, um ihn sich regenden Leben zu. Ein Mal, im Jahre 1812,
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sprach sich auch bei ihm die allgemeine patriotische Stimmung in
einem Gedichte aus: «Der Sänger im Lager russischer Krieger*. Es
ist gewiss in begeisterter Stunde entstanden und hat durch seinen
nationalen Enthusiasmus eine bedeutende Wirkung ausgeübt. Aber
doch fehlte demselben das Bewusstsein des realen Zusammenhanges
mit der Wirklichkeit, denn auch hier, bei dem Ausdruck des so
nationalen Vertheidigungskrieges, hielt er es für* nöthig, seine
Landsleute in antikes oder mittelalterliches Costüm zu hüllen, und
kam auch hier wieder auf seine gewöhnlichen Meditationen über
die Eitelkeit der Welt, den Schmerz des Verlustes, und die Tugend
zurück.
Wenn wir überhaupt in den Dichtungen Shukowsky’s nach An¬
knüpfungspunkten an das wirkliche Leben suchen wollen, finden
wir sie nur in zwei Arten seiner Gedichte; einmal in den an Mit¬
glieder des Kaiserlichen Hauses gerichteten und zu Hoflesten
verfassten Poesien, und dann in freundschaftlichen «Episteln* und
Albumversen.
Wir sind weit davon entfernt, von Shukowsky politische Lyrik
irgendwelcher Art zu verlangen. Wir geben sein Verdienst um
die formale Entwickelung der Literatur vollkommen zu, wir räu¬
men ihm durchaus sein Recht ein zu einer poetischen Sonderstel¬
lung, und leugnen auch nicht seine wohlthätige pädagogische Be¬
deutung für die Gesellschaft. Wir wollen nur darauf hinweisen,
dass er ungeachtet dessen doch ein charakteristisches Beispiel dar¬
bietet für die Entfremdung der Romantik vom realen Leben. Denn
seiner Melancholie lag doch eine gewisse Gleichgültigkeit, um nicht
zu sagen Feindseligkeit gegen die unmittelbaren Lebensanforderun¬
gen, gegen die Kämpfe und Interessen der Gegenwart zu Grunde.
Das wurde schon von seinen Zeitgenossen empfunden und sogar
für schädlich erklärt. So schreibt Rylejew an Puschkin: «Zum
Unglück war sein Einfluss auf den Geist unserer Literatur im hohen
Grade verderblich: der Mysticismus, von welchem der‘grösste
Tfieil seiner Gedichte durchdrungen ist, seine Träumerei, Unbe¬
stimmtheit und eine gewisse Nebelhaftigkeit, die zuweilen in ihm be¬
zaubernd sind, haben Viele entkräftigt und viel Schaden gebracht*.
Diese Worte zeichnen vollkommen richtig Shukowsky’s schwache
Seite. Er hat darauf noch dreissig Jahre für die russische Literatur
gewirkt und sie mit vielen Uebersetzungen bereichert, aber aus sich
selbst heraus, zu dem, was er in. der ersten Periode seiner Wirk¬
samkeit gebildet, Nichts hinzugefügt.
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Der Inhalt dieser ersten Periode, die unmittelbar nach Karam-
sin’s poetischer Thätigkeit felgte, konnte dem ersten und theil-
weise auch dem zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts genügen;
da überholte ihn die Zeit.
Die europäische Romantik trug nicht die Schuld daran. Der
Umfang derselben war viel grösser, aber Shukowsky und seine
Schüler nahmen nur das auf, was ihrer sentimentalen Auffassung
entsprach und beachteten das Andere nicht oder fühlten eine Anti¬
pathie dagegen. Er fasste die europäische Romantik von einem zu
engen Standpunkte auf. Seine Urtheile über «Hamlet», den er ein
«Ungeheuer» und eine «wunderbare Missgeburt» nannte, können
als Beispiele seines beschränkten Einblickes in das Wesen der Ro¬
mantik gelten, deren Abgott Shakespeare gerade war. Dieser Um¬
stand findet seine Erklärung im ganzen Wesen Shukowsky’s: das
Gemälde der menschlichen Seele mit ihren Kämpfen und Bestre¬
bungen, Zweifeln und Schmerzen stiess ihn ab, weil es seine eigene,
sorgfältig gehegte, sentimentale Weltanschauung umzustürzen
drohte. Ebenso wenig verstand er den energischen Skepticismus
Byron’s, wie er nie jene Poesie verstanden und geliebt hatte, die
sich in den Kampf des realen Lebens hineinwagte und die mensch¬
lichen Ideale einem kritischen Skepticismus unterwarf. Diese Poesie
forderte männliche Kraft der Kritik und des Denkens; aber Shu¬
kowsky war ihr nicht gewachsen.
Nicht nur als Dichter war Shukowsky den bewegenden Fragen
der Zeit fern geblieben, sondern auch als Mensch. Im persön¬
lichen Verkehr besass er viele liebenswürdige Eigenschaften: auf¬
richtige Menschenliebe, Bereitwilligkeit zur Hülfe, jugendliche
Fröhlichkeit im Freundeskreise, die seiner melancholischen Poesie
ganz unähnlich war.
Der eigentliche Grund seines Indifferentismus lag in den eingewur¬
zelten Sitten und Traditionen, welche jede Kritik der allgemeinen
Verhältnisse ausschlossen und durch Erziehung und Umgebung un¬
terhalten wurden.
Persönlich gutmüthig wünschte Shukowsky allgemeine Verede¬
lung der Sitten, eine milde Regierung, und ermunterte durch sein
Beispiel zu philanthropischen Werken. So gab er, als er im Jahre
1822 aus dem Auslande kam, wie es scheint, unter dem frischen
Eindrücke westeuropäischer Sitten und unter dem Einflüsse Schil¬
lers, seinen Leibeigenen die Freiheit, so schrieb er später einigen
hochgestellten Persönlichkeiten von «Selbstverleugnung der Macht»
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und von den Pflichten der Regierung, aber ebenso, wie bei
Karamsin, war seine ganze Theorie vom staatlichen und gesell¬
schaftlichen Leben eine moralische Abstraction und entbehrte einer
ernsten kritischen Auflassung: er blieb bei der Vorzüglichkeit des
Status quo stehen. Ebenso wenig gelang ihm die Behandlung
der rein wissenschaftlichen Fragen. Dem Charakter der Zeit ge¬
mäss, der Literatur und dem Humanismus fast ausschliesslich zu-
gethan, versuchte er es zwar, eine Art Naturphilosophie zu be¬
gründen, aber es kam nur ein Bruchstück «Ein Blick vom Himmel
auf die Erde» zu Stande, in welchem er bloss die Darlegung seiner
romantischen Frömmigkeit mit naturphilosophischen Details umgab.
Das Resultat war, wie man Äs nicht anders erwarten konnte:
Shukowsky’s persönliche Ansichten neigten immer mehr dem
Pietismus zu, das Verständniss seiner Zeit war ihm verschlossen.
Die ganze Civilisation Europa’s schien ihm einem unvermeidlichen
Verfall entgegenzueilen, wie es folgende Stelle bezeugt:
«Wenn wir auf den Westen des jetzigen Europa's hinblicken, was
sehen wir? Ein freches Verleugnen der höchsten Macht zeigt sich
jetzt in Allem, was in den Volksversammlungen vorgeht. Ueberall
herrscht Egoismus und todter Materialismus. Welche lebensvollen
Folgen kann man davon erwarten? Kann menschliches Wohl auf
einem solchen Fundamente errichtet werden? Der Glaube an das
Heilige ist verschwunden, — das traurige Resultat der Reformation,
welche, selbst eine Folge des Vorangegangenen, den sichtbarsten
Ausgangspunkt bildet, von dem man den allmählichen Gang und
die Entwickelung der Gegenwart verfolgen kann. Es ist nicht zu
leugnen, dass die Reformation eine grosse geistige Bewegung her¬
vorgerufen hat, aus der endlich das Bürgerthum entstanden ist,
oder die sogenannte Civilisation unserer Zeit.Die Reforma¬
tion hat gegen die Autorität der Kirche das demokratische Princip
aufgewiegelt; indem sie das Recht einer Kritik der Offenbarung
einräumte, hat sie den Glauben zum Wanken gebracht, und mit
ihm alles Heilige. Dieses Heilige wurde durch die heidnische Weis¬
heit der Alten ersetzt; der Geist des Widerspruchs erhob sich; es
begann der Aufruhr gegen die göttliche und menschliche Macht.
Dieser Aufruhr übte seine Wirksamkeit in zwei Richtungen: erstens
entstand aus der Vernichtung der Autorität der Kirche der Rationa¬
lismus (die Leugnung der Gottheit Christi), hieraus der Pantheis-
mus (die Vernichtung der Persönlichkeit Gottes), endlich der Atheis¬
mus (Leugnung der Existenz Gottes); zweitens hat die Idee vom
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göttlichen Ursprung der regierenden Macht dem Gesellschafts-
Vertrag weichen müssen. Daraus entstand die Souveränität des
Volkes, deren erste Stufe — die constitutioneile Monarchie, die
zweite — die Demokratie, die dritte — den Socialismus und Kommu¬
nismus bilden; vielleicht ist noch eine vierte, letzte Stufe möglich:
die Vernichtung der Familie, und als Folge davon das Herabsinken
der von jeder Pflicht und jeder Grenze befreiten Menschheit zur
völlig ungebundenen Verthierung. Das sind die beiden Punkte,
zu denen diese beiden Wege hinführen und zum Theil bereits hin- •
geführt haben; auf der einen Seite die Souveränität des mensch¬
lichen Geistes und die Vernichtung des Reiches Gottes; auf der
anderen die Herrschaft Aller und die Vernichtung der Gesellschaft.
Und im Kampf zwischen diesen beiden Extremen entkräftigt sich
die Civilisation des westlichen Europa’s». (Werke, Bd. VI,
697—699).
In der Literatur nahm Shukowsky schon seit lange eine ganz
vereinzelte Stellung ein, ausserhalb jeder Verbindung mit dem
Gange der Entwickelung derselben. Als endlich das Erscheinen
Gogol’s eine gewisse Reife des literarischen Strebens ankündigte,
blieb Shukowsky dieser Bewegung ganz fremd, und erst später, als
Gogol das Beste, was er hervorgebracht hatte, gleichsam selbst
abgeschworen, kam eine Annäherung zu Stande. Denn jetzt
begegneten sie sich auf demselben Boden der romantischen
Sentimentalität. Die religiöse Manie Gogol’s traf mit dem Pie¬
tismus Shukowsky’s zusammen und seiner Gleichgültigkeit gegen
das allgemeine Interesse. Düster und niederdrückend ist der Ein¬
druck der letzten Lebensjahre Shukowsky’s. Der Pietismus, dem
er ganz verfallen war, schien ihm endlich die Lösung des Räthsels
zu geben, nach welcher er während seines ganzen Lebens gesucht.
Seine poetische Wirksamkeit erschien ihm fast wie eine Verirrung.
Dieser Ausgang entsprach der ganzen früheren Anlage seines We¬
sens: die romantische Melancholie fand ihre Basis; die Geister und
Gespenster seiner Gedichte standen jetzt in Wahrheit vor ihm. . . .
Wir führen diese Charakteristik Shukowsky’s nicht als einzelnes,
alleinstehendes Exempel an, sondern als Beispiel der Entwicke¬
lung, welche die sentimentale Romantik bei uns genommen hat.
So viel Subjektives in Shukowsky auch gewesen sein mag, so ist
doch diese conservativ-romantische Richtung ein in die Augen fal¬
lender Zug der ganzen Schule. In der Geschichte der Entwickelung
der Literatur und ihrer Formen hat diese Schule ihre Arbeit gethan,
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indem sie das Gebiet der Poesie formell und ideell erweitert hat; in
Hinsicht aber auf die allgemeine geistige Entwickelung der Gesell¬
schaft war sie bei den Ideen Karamsin’s stehen geblieben. Sie
wünschte zwar das allgemeine Wohl, aber dieser Wunsch ist ein
platonischer geblieben. Als Nachfolger einer Generation, welcher
die Idee der Selbstthätigkeit der Gesellschaft überhaupt noch
fehlte und welche sich dieselbe nur unter der mythologischen Form
der Freimaurerei vorstellen konnte, haben Shukowsky und seine
Schule diese Frage nur wenig vorwärts gebracht; ihre abstrakte
Moral und die Predigt der Tugend fanden keinen Anhalt an den
realen Thatsachen und an der bestehenden Ordnung der Dinge;
zur Anknüpfung aber an das* praktische Leben fehlte es ihnen an
Kraft und Fähigkeit.
Die Romantik hatte ausser jener Rückkehr zum Mittelalter, zur
Legende und zum Feudalismus, von dem wir eben gesprochen, noch
eine andere Seite.
Die nationale Erregung und Erhebung in Deutschland, die unter
dem Joch Napoleon’s ihren höchsten Gipfelpunkt erreicht hatte,
fand ebenfalls in den Formen der Romantik poetischen Ausdruck.
Die von der «Aufklärung» des achtzehnten Jahrhunderts übermit¬
telten Freiheitsideen mit dem Kampfe um Befreiung des Vater¬
landes verbindend, vereinigten diese Bewegung die nationalen und
die socialen Interessen in ein Bestreben, welches in den Geheim¬
bünden, in der patriotischen Poesie Ausdruck fand.
In gleicher Weise bestand in Frankreich eine romantische Schule,
die einerseits sich in das Mittelalter versenkte, andererseits aber die
liberalen Elemente in sich barg, welche sich mit der politischen
Agitation gegen die Restauration verbanden.
In England repräsentirten Walter Scott und Byron die beiden
Seiten derselben Bewegung. Byron’s üppige Poesie, beissende
Satire und finstere Erbitterung waren von bewältigender Wirkung,
und die Wenigen, die ihn selbst in Europa damals verstanden,
sahen wohl ein, dass seiner Dichtung politischer Radicalismus zu
Grunde lag.
Diese Seite der westeuropäischen Romantik, mit den politischen
Strömungen jener Zeit eng verbunden, spiegelte sich in unserer
Literatur auf dieselbe Weise ab, wie die politische Gährung Euro-
pa’s in unserem socialen Leben. In unserem Liberalismus der zwan-
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ziger und dreissiger Jahre lag in der That viel Romantisches, sowohl
in den geheimen Verbindungen, als auch in den idealistischen Frei¬
heitsbestrebungen.
Wir finden diese Seite der Romantik in der ersten Periode der
Thätigkeit Puschkiris ausgeprägt. Bei ihm wie bei Shukowsky
haben wir nicht die einzelne Persönlichkeit im Auge, sondern behan¬
deln ihn nur als hervorragendsten Repräsentanten und als einen ganz
besonders charakteristischen Vertreter jener Richtung.
Als Puschkin’s politische Ansichten sich zu bilden anfingen, war
er durchaus liberal gesinnt und ein Freund vieler Mitglieder gehei¬
mer Verbindungen, in die er selbst einzutreten grosses Verlangen
trug. In den Notizen der Zeitgenossen sind manche interessante
Erinnerungen auf uns gekommen, die uns bezeugen, wie sehr ihn
die geheimen Verbindungen anzogen, seine Freunde hielten sie vor
ihm geheim, er errieth sie aber und fühlte sich beleidigt, dass man
ihn nicht aufnehmen wolle.
In dieser Zeit entstanden viele kleine Gedichte und Epigramme,
die eine offenbare politische Bedeutung hatten. Als Manuskripte
kursirten sie von Hand zu Hand und wurden überall fieissig abge¬
schrieben, so dass ein Ausspruch eines Zeitgenossen, Polewoi’s,
nicht ohne Berechtigung ist: «Nicht die Vielseitigkeit seines Genie’s,
nicht die Schönheit der Bilder rissen die Jugend fort, sondern die
wohllautenden Verse, welche die innersten Gedanken derselben
enthielten. Man könnte behaupten, dass Puschkin’sName am meisten
durch einige seiner kleinen Gedichte in Russland bekannt geworden
ist, Gedichte, die man jetzt vergessen, die aber damals in unzähligen
Abschriften von Hand zu Hand gingen».
Puschkin selbst hat später gewünscht, dass diese Gedichte in der
That der Vergessenheit anheimfallen möchten, aber nichtsdesto¬
weniger besitzen sie doch einen gewissen historischen Werth. Sie
bilden ein interessantes Moment damaligen Lebens und' der Ent¬
wickelung Puschkin’s; es sprach aus ihnen ein edles Verlangen
nach einer besseren Ordnung der Dinge, und sie enthielten eine
beissende Satire gegen solche Persönlichkeiten, welche in der
That dem allgemeinen Wohl nur Schaden brachten. Es war auch
ganz natürlich, dass diese erste Periode Puschkin so viel Anerken¬
nung und Ruhm einbrachte, denn das Publikum fand darin den
Ausdruck der eigenen Gedanken und Wünsche. Ausserdem waren
diese Gedichte mit so viel Witz, so viel Anschaulichkeit, so viel
Poesie ausgeführt, dass sie in kürzester Zeit eine imgewöhnliche
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Popularität erhielten. Es lag ihnen ein gegenseitiges Verständnis
zwischen Dichter und Publikum zu Grunde — vielleicht das erste
Beispiel dieser Art in unserer Literatur. . ..
Später neigte sich Puschkin ganz der conservativen Richtung zu,
aber in den zwanziger Jahren finden wir bei ihm oft ganz richtige
und vorurteilsfreie Urtheile, die er dem Einflüsse der Zeit und des
liberalen Kreises, in welchem er lebte, zu verdanken hatte.
In dem in Kischinew geschriebenen Tagebuche Puschkin's äussert
er z. B. seine Ansicht über die Regierung der Nachfolger Peter’s
des Grossen und bemerkt in Betreff der misslungenen Versuche
der Aristokratie, die Macht in ihrer Hand zu vergrössern: «dies
hat uns vor dem ungeheuerlichen Feudalsystem bewahrt, und ver¬
hütet, dass sich die Existenz des Volkes von der Existenz des
Adels durch eine ewige Scheidewand abtheilt*; — im Falle des
Erfolges wären diese Anschläge des Adels von vernichtendem Ein¬
fluss auf das Leben des Volkes gewesen, «sie hätten alle Mittel zur
Lösung der Bauernfrage erschwert oder paralysirt, sie hätten die
Zahl der dem Adel Angehörenden eingeschränkt und den anderen
Ständen den Weg zu staatlichen Aemtern und Ehren versperrt».
«Jetzt aber, sagt Puschkin, verbindet das Verlangen nach Besse¬
rem alle Stände gegen den gemeinsamen Feind, und diese feste
friedliche Einstimmigkeit kann uns bald in eine Reihe mit den auf¬
geklärten Nationen Europa’s hinaufheben». Vollkommen rich¬
tig ist die Bemerkung des Herausgebers jenes Tagebuches, dass
selbst unter den aufgeklärtesten Männern jener Zeit nur sehr Wenige
ein so treffendes Urtheil über die historische Bedeutung der russi¬
schen Aristokratie gehabt haben.
Interessant ist ferner die Aeusserung Puschkin’s über die Sitten
am Hofe der Kaiserin Katharina BL: «Die Favoriten kannten weder
Maass noch Ziel in ihrer Habsucht, und die entferntesten Verwandten
derselben genossen gierig die Vortheile der kurzen Herrschaft.
Daraus entstanden dann jene grossmächtigen Besitztümer gänzlich
unbekannter Familien und die gänzliche Abwesenheit von Ehre und
Ehrlichkeit in vielen Kreisen der höheren Klassen der Nation».
Man begreift nach diesen Wotten den geringschätzenden Ton,
mit dem er überhaupt von den Zeiten der nordischen Semira-
mis spricht.
Diese Beispiele zeigen, dass Puschkin damals die politischen
Dinge ziemlich klar aufzufassen verstand, obgleich er später über
dieselben Gegenstände ganz anders gedacht hat. Und daher konnte
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er in dieser ersten Periode seiner Wirksamkeit mit Recht zu dem
liberalen Kreise herangezogen werden. In dieser Hinsicht stand er
auch unter dem Einflüsse der Romantik. Sein Talent reifte sehr
rasch heran; schon früh eignete er sich Alles an, was Dershawin,
Karamsin, Shukowsky für Vers und Sprache gethan hatten. Die
romantischen Elemente der europäischen Literatur drangen in jener
Zeit immer mehr und mehr in die russische Literatur ein. Die fran¬
zösische Literatur war das tägliche Brod des damaligen Geschlechtes;
die deutschen Einflüsse vertrat Shukowsky, aber die gewaltigste
Wirkung hat auf unsere jungen Romantiker, und also auch auf
Puschkin, Byron ausgeübt. Es ist schon oft bemerkt worden, dass
Puschkin seinem ganzen Wesen nach Byron unmöglich in genü¬
gender Weise verstehen konnte; eben so wenig war er bloss sein
Nachahmer; trotz alledem zeigt sich in seinen Werken der ge¬
waltige Eindruck, den Byron auf ihn gemacht hat. Die Ent¬
täuschung, die Unzufriedenheit mit dem Leben, ein romanti.
sches, unklares Suchen*nach Freiheit finden wir bei allen Helden
Puschkin’s. Und seine Gedichte gefielen dem jungen, zur romanti¬
schen Schwärmerei disponirten Geschlechte so sehr, dass einige
Verehrer seines Talentes ihn sogar den «russischen Byron» nannten.
Unabhängig von dem poetischen Werthe seiner Schöpfungen, boten
dieselben noch ein anderes Interesse dar, wodurch die romantische
Idee einen Schritt über Shukowsky hinaus machte. Puschkin war,
der Anlage seiner Natur gemäss, der melancholischen Sentimen¬
talität, die Shukowsky zum Pietismus führte, nicht fähig. In seiner
Poesie trat das Gefühl der realen Wirklichkeit sehr stark hervor,
es begann eine gewisse, wenn auch unselbstständige, aber doch auf
das reale Leben gerichtete Kritik. Die Zeitgenossen erblickten
darin freilich Vieles, was gar nicht vorhanden war, denn sie glaub¬
ten in ihm einen Dichter zu sehen, der das Streben* der jungen Ge¬
neration zum Ausdruck bringen würde. Aber das geschah nicht.
Wir wissen jetzt, dass es nach Puschkin’s ganzem Wesen als Mensch
und Schriftsteller nicht geschehen konnte.
Das Ende der Regierung Alexanders I., in welchem ein Um¬
schwung in unserem staatlichen Leben eintrat, wurde auch für
Puschkin zur entscheidenden Krisis. Als die hervorragendsten Cha¬
raktere des liberalen Kreises verschwanden, lösten sich die früheren
Verbindungen auf. Aber der tiefere Grund des Bruches lag in
Puschkin selbst: er war so sehr objectiver Künstler, dass ihm in
der poetischen Auffassung die mannigfaltigsten Seiten des Lebens
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vollkommen zugänglich waren, während die Fragen des Augenblicks
ihm fern blieben. Und noch ein anderer Zug lebte in ihm, der einen
seiner neuesten Kritiker zu folgender richtigen Bemerkung veran-
lasste: «Es lag überhaupt in Puschkin’s Charakter die Neiguqg,
Traditionen zu lieben und zu achten, er liebte das Alterthum,
war in seinem Herzen, wenn man es so ausdrücken kann, ein bis zu
einem gewissen Grade alterthümlicher Mensch, ungeachtet dessen,
dass sein durchdringender Geist, seine Bildung und seine prakti¬
sche Anschauung der Dinge ihm sehr gut den Unterschied klar leg¬
ten zwischen den Forderungen der Gegenwart und den Begriffen, die
sich überlebt hatten». Diese conservative Neigung entwickelte sich
später bis zu einer solchen Höhe, dass er in der Literatur die neuen
Anschauungen und Forderungen der Kritik nicht verstehen konnte,
und in Hinscht der staatlichen Zustände der Verehrer des zu einem
Ideal wenig tauglichen Status quo wurde.
Diese Züge zeigten sich schon in der ersten Zeit seines Libera¬
lismus, in welchem mehr romantischer Enthusiasmus, als aufrichtige
Ueberzeugung vorhanden war. Puschkin war aufgeweckt genug,
um die Berechtigung seines Liberalismus efnzusehen, aber allmählich
gewann die obenerwähnte Objectivität die Oberhand über das logi¬
sche Urtheil. Seine begeistertsten Verehrer, wie z. B. der bekannte
Kritiker Belinsky, haben schon bemerkt, dass die intellectuelle
Thätigkeit seines Geistes dem poetischen Anschauungsvermögen
bedeutend nachstand. Daher war sein Liberalismus mehr ein Kind
der Zeit, als die Folge selbstthätigen logischen Denkens. Zufällige
Eindrücke und persönlicher Enthusiasmus haben immer grossen Ein¬
fluss auf ihn ausgeübt, und als sich die Zeiten änderten, unterwarf
auch er sich der herrschenden Strömung. Dieser Mangel an Ernst
war es, der ihm den Eintritt in die geheimen Verbindungen unmög¬
lich machte und der seine damaligen Freunde mit Sorge und Unzu¬
friedenheit erfüllte.
Die liberale Schule der Romantik fand ihren Abschluss mit dem #
Verschwinden der politischen liberalen Partei. Betrachtet man
diese Erscheinung von einem höheren historischen Gesichtspunkte,
so ist es klar, dass das Niveau der allgemeinen Bildung diesen Ideen
sich noch nicht gewachsen zeigte, dass sie der wenig entwickelten
Gesellschaft noch nicht verständlich waren. Sie gewannen nur einen
unbedeutenden Anfang und die Vertreter derselben mussten dem
ersten Zusammenstoss zum Opfer fallen.
Puschkin’s Rolle war in diesem Conflict eine höchst cllfcrakteristi-
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sehe. Seinem Wesen nach war er ein «alterthümücher Mensch»
und stand in keiner solidarischen Verbindung mit den Meinungen
der zwanziger Jahre. Er söhnt sich immer mehr mit dem Leben aus
und findet dort Motive seiner Poesie, wo sie fiir einen Dichter, der
ernst und wahrhaft durch die Byron’sche «Verneinung» hindurch-
‘ gegangen, ganz undenkbar gewesen wären.
Puschkin’s Abfall von den früheren Ansichten ist nicht plötzlich
geschehen, er hat sie nicht «feierlich abgeschworen». Als er nach
Pskow verbannt wurde, stand er noch in einem gewissen selbstge¬
fälligen Gegensätze gegen die Regierung. Aber allmählich trat er
schon in jene Periode der Reife, von der wir oben gesprochen,
in die Periode des künstlerischen Schaflens im Sinne der Romantik
und des politischen Indifferentismus, der zuletzt in die völlige
Anerkennung des status quo überging. Die Poesie hatte nach seiner
Ansicht, die er oft im mündlichen Gespräch und in seinen Gedichten
ausgesprochen hat, nur sich selbst zum Ziel; das poetische Schaffen
unterwirft sich nur der Eingebung; der Dichter ist der Auserwählte
der Götter, der nur für die höheren Wesen existirt: «odi profanum
vulgus et arceo». Mit dem Drama «Boris Godunow» betritt Puschkin
diesen Weg, den er nie mehr verlassen hat.
Die Verdienste Puschkin’s um die russische Literatur waren trotz
alledem gross: er vollendete die formale Entwickelung der Lite¬
ratur; er hat endgültig die Regeln künstlerischer Dichtung festgesetzt,
hat die alten Begriffe und Vorurtheile vernichtet, und hat eine
poetische, von Rhetorik freie, Sprache geschaffen. Die Poesie war
in den Augen der Gesellschaft durch ihn auf jene Höhe gehoben
in der sie erst ihre rechte Bedeutung gewann. Ungeachtet dessen
begann aber das Publikum allmählich für ihn zu erkalten. Viele,
und unter ihnen sogar Belinsky, haben das Publikum deswegen
beschuldigt. Dieses Urtheil ist nicht ganz gerecht. Die Kunst als
Kunst an und für sich ist ein theoretisches Extrem. Der Dichter
*
kann nie auf der Höhe seiner Anschauung bleiben, weil das reale
Leben ihn schliesslich, ohne dass er sich dessen bewusst ist, zum
Anhänger einer Partei macht und zum Diener eines bestimmten
Principes. Der Dichter übertreibt leicht seine «prophetische» Mis¬
sion, und so wird er oft gleichgültig gegen die lebendigsten Inter¬
essen der Gesellschaft. Das war das Schicksal Puschkin’s. Die
Gesellschaft aber dachte anders. Zuerst hatte sie Puschkin als
«Echo» ihrer Ansichten in den Himmel erhoben; sie hatte instinktiv
errathen, "dass die Poesie der Ausdruck des realen Lebens sein
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3 *
müsse, dem Schutze ihrer Interessen dienen, auf lebensvolle Ideale
hinweisen solle. Man kann das Publikum wegen seiner Kälte nicht
beschuldigen, wenn es da, wo es Bilder des russischen realen Le¬
bens erwartete, nur, so zu sagen, mit künstlerischem Luxus ausge-
führte Dichtungen erhielt.
In der zweiten Periode vollendete Puschkin seinen «Eugen
Onägin». Das war die einzige bedeutende Dichtung, in welcher er
das russische Leben seiner Zeit berührte; später wandte er sich
wieder dem Alterthum zu, oder wählte Gegenstände, die dem russi¬
schen Leben ganz fremd waren. Es ist bekannt, mit welchem Inter¬
esse das Publikum zuerst den «Eugen Onägin» verschlang, dann
aber allmählich immer mehr dagegen erkaltete. Der Grund war wohl
der, auf den wir hingewiesen: dem Publikum genügte die blosse
«romantische» Verknüpfung nicht, es erwartete eine ernste Berüh¬
rung der allgemeinen Interessen.
Eine spätere Kritik hat den «Eugen Onägin > wieder sehr hoch ge¬
stellt. SeitBelinsky ist es bei uns Sitte geworden, auf poetischenTypen
eine Geschichte der Gesellschaft zu begründen. Diese Idee ist fehlerhaft
und jedenfalls ist eine solche Geschichte unvollständig. Sie war viel¬
leicht am Platz so lange eine andere von der Literatur unabhän¬
gige Geschichte unmöglich war. Aber abgesehen davon, dass es
noch viele anderen Quellen zu einer Gesichte der Gesellschaft
giebt, waren diese poetischen Typen niemals vollständig, sie er¬
schöpften niemals den ganzen Inhalt des jeweiligen Lebens. Auch
das ist noch zu beachten, dass die poetische Literatur in ihrem
Schaffen niemals frei war: es wäre sonderbar, dort von der Freiheit
des künstlerischen Schaffens zu sprechen, wo ein jeder Schritt nur
unter Aufsicht geschehen konnte, wo die Bevormundung den Dichter
packte, sobald der «freie Schaffensdrang» die gesteckten Grenzen
überschreiten wollte.
Es ist oft bei uns wiederholt worden, dass der «Eugen Onägin»
ein vortreffliches Bild der gesellschaftlichen Zustände jener Zeit,
dass der Held des Gedichtes ein charakteristischer Typus sei u. s. w.
Aber schon in den dreissiger Jahren hat die Kritik einige Entgeg¬
nungen gemacht und mehr Gewicht auf die nebensächlichen Bilder
des russischen Lebens, als auf die Darstellung des Charakters selbst
gelegt. Onägin ist in der That mehr einTypus aus dem engen Kreis
des weltmännischen Lebens, als ein Vertreter seiner Zeit, welche
ein viel bewegteres und mannigfaltigeres Ringen in sich enthielt, als
Onägin es repräsentirt. Wir sind natürlich nicht berechtigt, von einem
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Dichter die Schilderung dieser oder jener Seiten des menschlichen
Lebens zu verlangen — analysiren wir aber die Gründe der
Wahl seines Stoffes, so können wir uns einen Begriff von seinen
Ansichten und seinem geistigen Horizonte bilden, und müssen in
diesem Falle wieder auf den früheren Schluss zurückkommen, dass
die politischen Ideen jener Zeit Puschkin doch fremd geblieben und
von keinem tieferen Interesse für ihn gewesen sind.
Die übrigen Dichtungen Puschkin’s, die Werke der letzten Pe¬
riode, stehen mit der Zeit, in welcher sie geschrieben worden sind,
in keinem Zusammenhänge. Sie sind von bedeutendem Einfluss auf
die Entwickelung der Literatur als Kunst gewesen, aber auf die
Selbsterkenntniss der Gesellschaft haben sie nicht eingewirkt, haben
auf keine Ideale hingewiesen. Es waren namentlich historische
Ereignisse, durch die Puschkin jetzt in seiner Dichtung mit dem
russischen Leben in Verbindung trat. «Aber auch hier — bemerkt
ein Kritiker Puschkin’s — ist Puschkin sich selbst treu geblieben;
er hat nichts ihm Eigenthümliches in denselben ausgesprochen;
seine Ansicht über die historischen Charaktere und Erscheinungen
warder Abdruck allgemeingültiger Anschauungen. Peter der Grosse—
war ein grosser Mann, ein weiser Herrscher; Karl XII. — ein toll¬
kühner Held; Mazeppa — ein hinterlistiger Verräther:—das ist
Alles, was in dem Gedicht «Poltawa» über diese Personen heraus¬
zulesen ist. Das Drama «Boris Godunow» ist die Wiederholung der
Charaktere und der Ansichten Karamsin’s. Ueberhaupt sind die
historischen Dichtungen Puschkin’s durch psychologische Treue
der Charaktere ausgezeichnet, nicht aber dadurch, dass Puschkin
in den dargestellten Ereignissen den tiefen inneren Sinn aufgedeckt
hätte, wie es z. B. Goethe in seinem «Götz von Berlichingen»gethan».
Der historische Standtpunkt Puschkin's war jetzt ganz derselbe
geworden, den Karamsin in seiner «Geschichte des russischen
Kaiserreichs» einnahm. Belinsky äussert sich darüber in folgenden
Worten: «Puschkin war so sehr in den Geist dieser Geschichte ein¬
gedrungen, dass er zum Beschützer und Vorkämpfer derselben
geworden war; er rechtfertigte sie nicht nur als Geschichte, son¬
dern sogar als einen politischen und staatswissenschaftlichen Koran,
der nicht bloss für unsere Zeit aufs Beste passe, sondern auch für
immer so bleiben müsse».
Diesen Karamsin’schen Standpunkt finden wir bei Puschkin ver¬
treten in Anwendung auf die verschiedensten socialen und literari¬
schen Gegenstände, und wir erstaunen über seine geringen Anfor-
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derungen und seine bemerkenswerthe Uebereinstimmung mit der
herrschenden Routine. Einige aufs Gerathewohl herausgenommenen
Beispiele werden den Charakter seiner Ansichten genügend be¬
leuchten. Mit Verachtung spricht er «von den bemitleidenswerthen
skeptischen Theorien des vergangenen Jahrhunderts»; über die
deutsche Philosophie, mit der man in den dreissiger Jahren sich bei
uns zu beschäftigen anfing, sagt er, «dass sie vielleicht zu viele junge
Anhänger gefunden hat», dass ihr Einfluss übrigens ein wohlthätiger
gewesen .sei, denn «sie hat unsere Jugend vor dem frostigen Skepti-
cismus der französischen Philosophie bewahrt und sie von den be¬
rauschenden und schädlichen Schwärmereien fern gehalten, welche
auf die Blüthe der vorangangenen Generation einen so schrecklichen
Einfluss gehabt haben»; er unternimmt eine ungeschickte Verthei-
digung des Mäeenatenthums in der Literatur, und vertheidigt noch
ungeschickter die Gensur: «Keine Macht, keine Regierung kann,
der Alles zerstörenden Wirkung der typographischen Presse gegen¬
über, bestehen. Achtet den Schriftsteller, aber lasst es nicht zu,
dass er sich Euer ganz bemächtigt. Die Handlung des Menschen
ist momentan und vereinzelt, die Wirkung eines Buches vielfach
und an vielen Orten zugleich. Die Gesetze gegen den Missbrauch
der Presse erreichen nicht ihr Ziel: sie kommen dem Uebel nicht
zuvor, es nur selten im Keim erstickend. Beides kann nur die
Censur zu Stande bringen». In der Bauernfrage stand er auf dem
Standpunkte Karamsin’s; von der Wichtigkeit der Hofetiquette
sprechend und bemerkend, dass der Kaiser Alexander Einfachheit
undUngezwungenheit liebte, fügt er hinzu: «er hat die Etiquette
vermindert, welche zu erneuern jedenfalls nicht schlecht wäre».
Man denke ferner an seine ununterbrochene und kleinliche Jagd nach
aristokratischen Vorrechten, seine Angriffe ,auf die sogenannten
französischen «Schreier», d. h. die Parlamentsredner und die Publi-
cisten, an die Complimente in seinen Gedichten u. dgl.
Es kt bekannt, dass Puschkin immer mit einer gewissen Gering¬
schätzung von seinen Kritikern gesprochen hat, und nach ihm hat
man auch später wiederholt, dass die Kritik ihn niemals vollkommen
verstanden hätte. Dieses Urtheil ist ungerecht, denn die Kritik ver¬
stand Puschkin sehr gut zu schätzen und hat auf seine Fehler mit
solcher Sachkenntniss aufmerksam gemacht, wie es bis dahin in der
russkchen Literatur noch nicht vorgekommen war. Die Kritik war
nicht immer richtig, aber sie enthielt viel Wahres über ihn und
seine Schule.
Uom. Bern, Bd. YII» *
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Die Geringschätzung Puschkin’s gegen diese Kritik hatte ihren
Grund nicht in der Verneinung der Principien dieser Kritik und ihrer
Forderungen, sondern in dem fast versteinerten Conservatismus des
Kreises, an dessen Spitze Puschkin stand. In diesem Kreise
herrschte zwar ein reger ästhetischer Geschmack und ein leben¬
diges Gefühl fiir künstlerische Vollendung; aber die neue Entwicke¬
lung der Literatur, die mit Gogol begann, blieb seinem Verständniss
fremd. Es ist kaum zu leugnen, dass eben dieser Kreis einen be¬
deutenden Einfluss auf Puschkin’s conservative Richtung ausgeübt
hat, indem er ihn von dem profanum vulgus, d. h. von der Gesell¬
schaft und ihren Vertretern ablenkte und an sich fesselte. Wie gross
der Einfluss und namentlich welcher Art derselbe gewesen sein
muss, ist zum Theil aus der Herausgabe der Werke Puschkin's
ersichtlich, welche eben diese seine Freunde nach seinem Tode
unternahmen. Wohl im Bewusstsein der Solidarität mit ihrem ver¬
storbenen Freunde und Führer erlaubten sie sich solche Rücksichts¬
losigkeiten, die einem jeden gebildeten Menschen geradezu unbe¬
greiflich sind. Nicht nur, dass sie einzelne Sätze und ganze Auf¬
sätze, gegen welche selbst die Censur Nichts einzuwenden gehabt
hätte, ganz strichen und ausschlossen, sondern sie veränderten
sogar ohne jede Nothwendigkeit mit staunenswerther Willkür die
poetischen und prosaischen Arbeiten Puschkin’s, und zwar von
einem Standpunkte, von dessen beschränktem Horizonte aus Pusch-
kin’s Bedeutung für die russische Literatur im Namen veralteter lite¬
rarischer und moralischer Forderungen fast zu einem Minimum her¬
absank. Das waren die Freunde, die ihn umgaben, deren Ansichten
zum Theil auch die seinigen waren!
Es wäre ungerecht, wollte man der Wirksamkeit Puschkin’s den
Charakter der ganzen Schule beilegen, dessen Namen sie trägt; er
bildete nur das hervorragende Talent in dem Kreise der Schrift¬
steller, deren persönlicher Freund er zugleich war. Der Charakter
der Schule hing ab von dem Geiste der Zeit, von der durchlaufenen
literarischen Entwickelung, dem westeuropäischen Einflüsse, dem
allgemeinen Bildungsgrade, den persönlichen Eigenschaften der
Schriftsteller. Zugleich muss man aber auch in Betracht ziehen,
dass Puschkin grossen Einfluss durch sein Beispiel und durch sein
billigendes Urtheil, welches die Schriftsteller im Glauben an den
Werth und die Richtigkeit in Form und Inhalt ihrer Werke
bestärkte, ausgeübt hat. Puschkin war in Ertheilung des Lobes
bekanntlich nicht sparsam, theilweise, weil ihm die Werke in der
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That gefielen, zum Theil aber auch aus freundschaftlicher, oft
unnützer Nachsicht. Wenn Puschkin’s gewaltiges Talent ihn vor
romantischen Ausschreitungen bewahrt hat, so stand seinen Freun¬
den und Nachfolgern dieses Schutzmittel nur in geringerem Grade zu
Gebote; daher treten die Mängel der Schule und der Zeit bei ihnen
besonders stark hervor. In dem poetischen Gesetzbuch der Roman¬
tik, wie dasselbe aus West-Europa zu uns herübergekommen ist,
war das beliebteste Thema die über das Maas hinausgehende Erhe¬
bung des persönlichen, individuellen Gefühls, verbunden mit der
Schilderung ausschliesslicher Charaktere. Unsere Romantiker warfen
sich mit Eifer auf dieses Thema, und daraus entstanden dann jene
Dichtungen voll persönlicher Herzensergiessungen, romantischer
Melancholie, Enttäuschungen, titanischer Leidenschaften, unent¬
wirrbarer Seelenstimmungen u. s. w.; mit Verachtung wurde dieProsa
des Lebens zurückgewiesen, das freie Spiel der Inspiration gefor¬
dert, die praktische Thätigkeit der Zeit, ihre Wissenschaft, ihr
kalter Verstand geschwächt
Damit verband sich bei den Vertretern der russischen Roman¬
tik, wie bei ihrem Führer, jene Gleichgültigkeit für die unmittelbare
Gegenwart, welche so naturgemäss aus einer übertriebenen Vor¬
stellung von dem alleinseligmachenden Werthe der Poesie und der
Kunst und dem Mangel staatlich-politischer Kenntnisse folgen
musste. Der Romantiker hielt sich, so beschränkt sein Talent auch
sein mochte, für eine bevorzugte Natur und gab sich das Recht,
von oben herab auf die Wirklichkeit hinabzusehen. Es kam ein Ton
der Lüge in die Literatur, der aber die genügsamen Leser befrie¬
digte, weil die Poesie in ihren Augen etwas ganz besonders Erha¬
benes war, welches mit dem realen Leben in keiner Verbindung
stand. Der Einfluss Puschkin’s, welcher selbst dieser romantischen
Theorie gehuldigt hatte, war nicht im Stande dagegen anzukämpfen,
wodurch dass Verständniss der durch und durch realen Dichtungen
Gogol’s dem Publikum später so schwer fiel.
Das waren die Züge der Romantik in unserer Literatur. Die
Romantik hat in Hinsicht literarischer Formentwickelung einen
grossen Schritt vorwärts gethan, aber was das staatlich-gesell¬
schaftliche Leben betrifft, so wiederholte sie entweder die Mei¬
nungen der Karamsin’sehen Epoche, oder blieb den Fragen
und Interessen des wirklichen Lebens vollkommen fern. Jene Seite
3 *
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36
unserer Romantik, in welcher sich lebensvollere Elemente in staat¬
licher Hinsicht regten, verschwand zu gleicher Zeit mit ihren
Vertretern.
Dieser politische und sociale Indifferentismus begann, wie es aus
dem Beispiele Shukowsky s ersichtlich ist, mit dem ersten Erschei¬
nen der Romantik. Nach dem Umschwung während der Regierung
des Kaisers Alexanders I. nahm er an Stärke zu. Das progressive
Element wurde ganz ausgeschlossen, und das blieb natürlich nicht
ohne Einwirkung auf die ganze Literatur: die schon früher passive
und schwankende Romantik lenkte jetzt ganz in die Bahnen ein,
welche Shukowsky und Puschkin in der letzten Phase ihrer Ent¬
wickelung betreten hatten. Sie waren die Bundesgenossen des herr¬
schenden officiellen Conservatismus, der dadurch in der Literatur
eine grosse Stütze und bedeutende Kraft gewann, denn es waren
die ersten Männer der Literatur, welche denselben vertraten.
Shukowsky und Puschkin haben gewiss ein grosses Verdienst um
die Entwickelung der rassischen Literatur: sie haben dieselbe in
formaler Hinsicht von der Herrschaft der alten rhetorischen Schule
befreit, sie haben die Bedeutung der Literatur in den Augen der
Gesellschaft erhöht, und durch ihre humanen und erhabenen poeti¬
schen Ideen einen wohlthätigen, pädagogischen Einfluss ausgeübt;
aber in den Idealen des staatlichen Lebens, denen sie gehuldigt,
sind sie auf dem früheren Standpunkte stehen geblieben und haben
dem alten Inhalt nichts Neues hinzugefügt. Dazu bedurfte es neuer
Kräfte, und die erstanden für die poetische Literatur erst in Gogol
und fiir die literarische Kritik in der Reihe der Kritiker, die unter
dem Einflüsse deutscher Philosophie und neuer volkswirthschaft-
licher Lehren selbstständige Ideen und Anschauungen zum Ver¬
ständnis russischen Lebens zu entwickeln begannen, und die Fragen,
die« sich innerhalb desselben aufdrangen, wenn auch nicht er¬
schöpfend, so doch zum ersten Mal wahrhaft kritisch zu beleuchten
versuchten. — o —
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Das rassische Geldwesen während der Finanzrer-
waltnng des Grafen Cancrin (1823—1844).
Eine finanzhistorische Studie
von
Dr. Alfred Schmidt.
Erster Abschnitt
Zustand und Entwickelung des russischen Geldwesens von 1823—1844.
I. Die klingende Münze.
A. Die klingende Münze russischen Gepräges,
i. Die Kupfermünze .
Durch das Gesetz vom 20. Juni 1810 (Nr. 24,264) 1 war bestimmt
worden, das Kupfergeld stets nach dem Werthe des Rohmaterials zu
prägen, so dass damals 24 Rbl. aus einem Pud Kupfer geprägt wurden.
Allmählich änderte sich aber der Preis des Kupfermetalls und 1827
hatte er die Höhe von ungefähr 34 Rbl. für das Pud erreicht; da
jedoch nach wie vor das Kupfergeld zu 24 Rbl. aus dem Pud ge¬
prägt wurde, so erlitt die Krone dadurch auf die Summe von
30 Mill. Rbl. Kupfermünze einen Verlust von etwa 12 Mill.Rbl. Diese
Preisdifferenz zwischen dem Kupfermetall und der Kupfermünze ver¬
leitete natürlich auch zu massenhaftem Einschmelzen der letzteren,
trotz der strengsten Verbote. Hieraus entstand aber für die Krone
wiederum ein bedeutender Schaden. Der Finanzroinister 2 schlug
daher zur Beseitigung dieser der Krone erwachsenden Nachtheile
im Jahre 1827 vor, das Kupfergeld von nun an zu 36 Rbl. aus dem
Pud zu prägen. Da von den 30 Mill. Rbl., die sich in Umlauf befin¬
den sollten, 15 Mill. in Kronskassen brach lägen, so würde die
Krone durch die Umprägung 5 Mill. gewinnen, das Brachliegen
gebe ja einen Beweis dafür ab, dass 15 Mill. für den Verkehr
genügten.
Im Reichsrathe theilten sich die Stimmen; acht Mitglieder stimm¬
ten für den Vorschlag des Ministers, dreizehn dagegen. Diese
1 Die eingeklammerten Zahlen bezeichnen die Nummer, welche das Gesetz in der
• Vollständigen Gesetzsammlung« (riojmoe coöpame saKOHOBi») trägt.
2 Im Verlauf der ganzen Abhandlung ist darunter immer Graf Cancrin verstanden.
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3 «
letzteren behaupteten nämlich, der Preis von 34 Rbl. für Kupfer
sei vielleicht nur ein zufälliger, durch die Umprägung würde das
Angebot von Kupfer auf dem Markte vergrössert und dadurch
möglicherweise ein Fallen des Metallpreises bewirkt werden. End¬
lich sei eine Veränderung im Geldsysteme stets eine sehr missliche
Sache. Die Nachtheile könnten auch nicht sehr bedeutend sein,
weil während der verflossenen 16 Jahre des alten Systems der Preis
der Assignaten und das Agio auf Gold sehr wenig geschwankt
hätten. Dieses Votum der Majorität wurde vom Kaiser gut ge¬
heissen und Alles blieb beim Alten ’.
Schon nach Verlauf zweier Jahre, im Jahre 1830, kam dieselbe
-Frage im Reichsrathe wieder zur Verhandlung. Der Finanzminister
brachte den Vorschlag von 1827 mit derselben Motivirung aufs Neue
vor, nur gingen seine Forderungen dieses Mal etwas weiter; er
wünschte nämlich, dass die neue Kupfermünze zugleich auch eine
andere Stückelung erfahre; statt blosser 2-Kopekenstücke,. (rpo-
nieBHHKn) sollten jetzt auch 5-, 2- und 1-Kopekenstücke geprägt
werden, (iLHTaKH, AByxJconheqHHZH hjih rpoura h KonhBui). Diese
neue Münze würde, ausser dem aus der Umprägung für die Krone
sich ergebenden materiellen Vortheil noch den einer grösseren
Circulationsfahigkeit in Folge ihres geringeren Gewichtes bieten,
ein Umstand, der zu der Hoffnung berechtigte, dass sie künftighin
weniger durch ausländisches Billon aus dem Verkehr gedrängt
werden würde, wie dieses namentlich in den westlichen Gouverne¬
ments und in den Ostseeprovinzen damals der Fall war. Einen Ein¬
fluss auf den Kurs der Assignaten könnte die Umprägung des
Kupfergeldes seiner Meinung nach nicht haben, da die Assignaten
lediglich auf dem Credite beruhten und einen Werth besonderer
Art hätten, der vollkommen unabhängig von dem des Kupfers und
des»Silbers wäre. Der Preis von 36 Rbl. sei auch nicht zu niedrig,
denn in anderen Staaten würde das Kupfergeld zu 60 — 80 Rbl.
aus dem Pud geprägt, zu so niedrigem Werthe könne man es aber
nicht prägen, weil bei uns das Kupfergeld nicht, wie in anderen
Staaten, nur Scheidemünze, sondern auch Courantgeld (miaTexcHaa
MOueTa) sei. Das Kupfergeld alten Gepräges sollte inzwischen auch
noch in Umlauf bleiben, was zu keinen Unbequemlichkeiten oder
Nachtheilen führen könnte, da die alte und die neue Kupfermünze
ja von sehr verschiedener Grösse seien, und auch die Erfahrung bei
uns gezeigt habe, dass Kupfermünzen von verschiedenem Werthe
1 Memorial des Reichsraths vom 8. Mai 1827.
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39
ganz gut nebeneinander kursiren könnten, wie z. B. die alten 5-K0-
peken- und die gegenwärtigen 2-Kopekenstücke.
Der Reichsrath stimmte dieses Mal dem Finanzminister voll¬
kommen bei und wünschte nur, auch noch ro-Kopekenstücke
(rpuBHbi) geprägt zu haben l . (cf. 'Gesetz vom 1. Juni 183a,
Nr. 5406 2 ).
Eine weit wichtigere, das alte Kupfergeld betreffende Verände¬
rung fand im Jahre 1842 statt. Im Manifest vom 1. Juli 1839
(Nr # 12,497) über das neue Geldsystem, war keine besondere
Bestimmung über die Prägung einer neuen Kupfermünze nach
Silberwerth getroffen, und bezüglich des in Umlauf befind¬
lichen nur bestimmt worden, dass 3 V* Kopeken Kupfer gleich
1 Kopeken Silber gerechnet werden sollten (Punkt 12). Diese
Bestimmung hatte aber zu Verlusten für das einfache Volk geführt.
Da es nämlich keine Münze für die Ausgleichung der sich erge¬
benden Bruchtheile gab, so musste das Volk stets in runder Summe
zahlen und die Kaufleute gewannen diese Bruchtheile. Da nun das
einfache Volk einen grossen Theil der Bedürfnisse des Alltagsle¬
bens mit Kupfergeld bestritt, so mehrten sich diese Bruchtheil-
verluste und wurden dadurch in der That empfindlich. Man brachte
in Folge dessen 1842 den Vorschlag in den Reichsrath ein, für die
alte Kupfermünze einen bestimmten Preis in Silber festzusetzen, zu
welchem sie im Verkehr angenommen werden müsste. Es befand
sich wohl auch nach Silberwerth geprägtes Kupfergeld in Umlauf,
doch nicht in genügender Menge, um das alte einziehen zu können.
Der Finanzminister opponirte aus folgenden Gründen auf das Ent¬
schiedenste gegen diesen Vorschlag: 1. Das Volk habe sich mit
den Bruchtheilen selbst zurechtgefunden. 2. So lange noch Assig¬
naten existirten, erscheine es wünschenswerth, ja nothwendig, zwei
Arten Scheidemünze (pa3Mi3HHOfi mohctw) zu haben, da noch: in
vielen Gegenden nach Assignaten (bei festem Kurse) gerechnet
würde. Aus diesem Grunde könnte das Kupfergeld leicht zwei Preise
erhalten: auf Assignaten und auf Silber, was sehr misslich wäre,
daher jene Massregel wenigstens bis zur Einziehung der Assignaten
zu verschieben sei. 3. Der Nennwerth des alten Kupfergeldes würde
im Widerspruche zu der Aufschrift desselben stehen, und dieser
Umstand Unzufriedenheit beim Volke hervorrufen, da es die
grössere alte Münze zu gleichem Preise mit der neuen kleineren
* 1 M. d. R. v. 18. und 19. April 1830.
9 Pie betreffenden Gesetze der Jahre 1823-1844 folgen weiter unten im HI. Abschnitt
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40
annehmen müsste. 4. Der Gewinn bei der Umprägung für die
Krone werde nach Umbenennung der alten Münze nicht mehr so
bedeutend sein. 5. Allerdings würde die Krone dadurch bei den
Zahlungen der Branntweinspachten gewinnen, dieses könnte jedoch
auch durch Publication besonderer Tabellen erreicht werden. 6.
Die Prägung der neuen Kupfermünze ginge rasch von Statten, daher
in einigen Jahren die Einziehung des alten Kupfergeldes möglich
sein würde. 7. Die Frist für den Umlauf des Kupfergeldes alten Ge¬
präges sei schwer zu bestimmen. Ein langer Termin würde zu Auf¬
käufen von 10- und 5-Kopekenstücken durch die Wechsler führen,
was Anlass zu einem Agio auf Kupfergeld geben könnte, die daraus
aber erwachsenden Missstände und Verluste wären schlimmer, als
die jetzigen Verluste von Siebentel-Kopeken. 8. Durch die neue
Werthbestimmung würde das alte Werthverhältniss der Münzen
zu einander verändert. Früher war nämlich das 10-Kopekenstück
so viel werth als 10 einzelne Kopeken, jetzt aber würde ersteres
= 3 Kop. Silber, letztere aber nur = 2 tys Kop. Silber sein, da das
Kopekenstück = */« Kop. Silber gerechnet werden sollte.
Es ist kaum begreiflich, wie Cancrin, der es sich doch so sehr hatte
angelegen sein lassen, ein möglichst einheitliches Geldsystem auf
Silber als Grundmünze beruhend im Jahre 1839 einzufiihren, gegen
diese gewiss vernünftige, zeitweilige Massregel opponirte. Denn
eine hinlängliche Versorgung des Verkehrs mit Kupfergeld nach
Silberwerth hätte, der von 1839 —1842 gemachten Erfahrung ge¬
mäss, noch Jahrzehnte in Anspruch genommen. Cancrin führt auch
nicht ein einziges treffendes Argument zur Unterstützung seiner
Ansichten an.
Der erste Einwand ist ganz hinfällig, denn das Volk hatte sich
durchaus nicht «zurechtgefunden», sondern erlitt täglich neue
Verluste. Ebenso der zweite, denn seit 1839 gab es nur eine Grund¬
münze oder Währung, und das war das Silber; die Assignaten
besassen nur einen relativen Werth und die Scheidemünze musste
auf Silber lauten, wollte man ein wirklich einheitliches Münzsystem
haben. Es sei auch noch bemerkt, dass sich Cancrin in diesem
Punkte selbst widerspricht, denn er hatte bei einer anderen Gele¬
genheit (p. 38) betont, dass die Assignaten ein reines Creditgeld
seien, ganz unabhängig vom Werthe des Kupfers oder Silbers. —
Der dritte Grund ist auch nicht richtig, denn der Widerspruch
zwischen Nennwerth und Aufschrift wäre nur ein rein formeller
gewesen. Das Volk kannte die Münze nicht nach ihrer Aufschrift,-'
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4*
(welche die Mehrzahl gar nicht zu lesen verstand), sondern durch
Gewohnheit nach ihrer Grösse und ihrem Aufsehen und würde sich,
da es durch die Feststellung eines neuen Werthes der Münze vor
täglichen Verlusten geschützt werden sollte, sehr schnell an den
neuen Werth derselben gewöhnt haben. — Ueber den vierten Ein¬
wand, der geradezu unverantwortlich genannt werden muss, kann
man nur ausrufen: soll denn etwa das Volks wohl den Finanzinter¬
essen aufgeopfert werden! Aehnliches gilt von der rein fiscalischen,
fünften, Bemerkung. — Grund sechs steht im Widerspruche mit
der Wahrheit, denn angestellte Berechnungen hatten ergeben,
dass, wenn die Prägung so fortschreite, wie sie von 1839—1842
stattgefunden habe, der Verkehr erst in Jahrzehnten hinlänglich mit
neuer Kupfermünze versorgt worden wäre. — Die Furcht vor der
möglichen Entstehung eines Agio war durchaus unbegründet, denn
der Werth der Kupfermünze sollte ja überall der gleiche sein, und
dieselbe an allen Kronskassen u. s w. zu diesem Preise angenom¬
men werden; es existirte ja kein Kurs für dasselbe. —Der achte
und letzte Grund ist endlich auch nicht haltbar, denn er verkennt
die Bestimmung des obersten Grundsatzes des Manifestes vom
1. Juli 1839, dass es nur eine Silberwährung geben solle. Assignaten
und Kupfer sind nur Stellvertreter des Silbergeldes und können
daher nicht nach irgend einem Verhälltnisse zu einander berechnet
werden, sondern einzig und allein nach ihrem Verhältnisse zum
Silber.
Es daff uns nicht Wunder nehmen, dass Cancrin mit seiner Wi¬
derlegung im Reichsrathe gar nichts ausrichtete, sondern der Vor¬
schlag angenommen und auch vom Kaiser bestätigt wurde l . (cf. Ge¬
setz vom 10. Juni 1842, Nr. 15,734.
Cancrin selbst verblieb aber auch späterhin bei seiner Ansicht
über die Unzweckmässigkeit dieser Veränderung, denn in seinem
Rechenschaftsberichte an den Kaiser spricht er von ihr als «ver¬
frühter Massregel, welche nothwendig dazu führe, auf einen
schleunigen Umsatz der Bank-Assignaten in Silberscheine Bedacht
zu nehmen» *. Weshalb aber dieser nothwendig sei, erklärt Graf
Cancrin nicht.
* M. d. R. vom 26. Januar 1842.
* S. «Aus den Reisetagebüchern des Grafen Georg Cancrin aus den Jahrtfn 1840 bis
1845». Herausgegeben von Graf A. Keyserlingk. 2 Bde. Braunschweig 1865. Bei¬
lage II, p. 62.
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42
2. Die Gold- und Silbermünze.
Im Jahre 1826 war bei der Regierung ein Vorschlag vom Kauf¬
mann Subzaninow eingelaufen, der auf Grundlage des existirenden
Volks-Agio (Näheres über dieses Agio gebe ich weiter unten im
II. Abschnitt) Folgendes proponirte: Die Regierung solle ihren Pro-
viantmeistem u. s. w. den Befehl ertheilen, alle Ankäufe in Silber zu
machen, welches sie an der Börse für 375 Kop. erhalte und bei den
Bezahlungen zum Volkskurse von 400 Kop. verausgaben könne.
Hieraus würde der Krone ein Vortheil von nahe an 10 Mill. Rbl. Beo.
erwachsen, welcher jetzt zum grössten Theile in die Taschen der
Beamten fliesse. Der Reichsrath erkannte wohl die Existenz des
Volks-Agio an, beschloss aber, den Vorschlag des Kaufmanns Sub¬
zaninow nicht zu acceptiren und, um die Beamten vor derartigen
Missbräuchen zu warnen, das Gesetz vom 27. Octoberi826, Nr. 636,
zu erlassen.
Eine der wichtigsten Vorlagen für das Geldwesen war der von
Cancrin im Jahre 1830 in den Reichsrath eingebrachte Vorschlag,
die Annahme klingender Münze bei Abgabenzahlungen zu gestatten
und zu dem Zwecke für dieselbe einen festen Kurs zu bestimmen.
Das Manifest vom 9. April 1812 (Nr. 25,080) hatte vorgeschrie¬
ben, dass alle Zahlungen in Assignaten zu erfolgen hätten und dass
alle Staatseinnahmen in denselben einfliessen sollten. Mag diese
Bestimmung ihrer Zeit nothwendig und gerechtfertigt gewesen sein,
im Jahre 1830 hatte sich die Sachlage jedenfalls bedeutend geändert.
Durch die Verminderung der Assignaten und die Vermehrung der
klingenden Münze waren die Abgabenzahlungen in Assignaten be¬
deutend erschwert worden, aber andererseits hatte die Nichtannahme
der klingenden Münze entschieden zur Ausbildung des Agio auf
Assignaten mitgewirkt. Allerdings war es seit 1824 und 1827 ge¬
stattet worden, einige wenige Abgaben in Silber zum Kurse von
365 Kop. zu zahlen, doch konnten diese unwesentlichen Erleichte¬
rungen nicht dazu führen, die Unbequemlichkeiten zu beseitigen,
welche aus den verschiedenen Börsen-, Krons- und Volks-Kursen
entsprungen waren und welche wesentlich die Geldumsätze erschwer¬
ten. Gold wurde nirgends von der Krone angenommen, während es
beim Volke sehr beliebt und häufig anzutreffen war, zumal seitdem
die entwickeltere Goldproduction des Ural den Verkehr reichlich
mit diesem Metalle versorgte. Bei einer solchen Sachlage hielt es
Cancrin durchaus für nothwendig, jenes Gebot: alle Abgaben in As-
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43
signaten zu zahlen, aufzuheben Und seitens der Krone überall
und bei allen Abgabenzahlungen die Annahme von Gold-, Silber¬
und Platina-Münze zu festem Kurse anzubefehlen. Gleichzeitig
wünschte er auch die verschiedenen bis dahin üblichen Kronskurse
zu einem allgemeinen vereinigt zu sehen, damit von Seiten der Re¬
gierung das Mögliche zur Vereinfachung des Geldwesens geschehe.
Es existirten nämlich drei Kronskurse für die Annahme des Silbers :
1. der Zollabgabenkurs von 360 Kop. seit 1819; der Zoll musste
stets in Assignaten gezahlt werden. Obgleich die Tarifsätze in Sil¬
ber angegeben waren, erfolgte doch stets eine Umrechnung bei der
Zahlung; ausserdem für die obenerwähnten Ausnahmen: 2. der
Kronskurs für Pässe von 365 Kop., und 3. der für die übrigen Aus¬
nahmen von 370 Kop. Sollten die Kronskassen verpflichtet wer¬
den klingende Münze anzunehmen, so verstand es sich von selbst,
dass sie auch berechtigt werden mussten, Zahlungen in derselben
zu gleichem Kurse zu leisten, was durch das Manifest des Jahres
1812 ebenfalls verboten war. Cancrin war der Meinung, dass die
Annahme von klingender Münze bei Abgabenzahlungen den Assig¬
natenkurs nicht herabdrücken würde, (es ist in der Folge auch
nicht geschehen), da der Kurs derselben ein ganz fester sei und man
durch jene Annahme nur einem dringenden Wunsche des Publikums
nachkäme, was entschieden eher zur Hebung als zur Herabdrückung
des Staatscredits beitragen würde. Er hoffte durch diese Massregei
es zu erreichen, dass die den inneren Verkehr so sehr belästigenden
Volkskurse verschwinden würden.
Die Annahme dieses Vorschlags seitens des Reichsraths gereichte
dem Volke zu einem sehr wesentlichen Vortheil, denn es wurde
durch diese Massregei vor vielen Verlusten bewahrt und der ganze
Umlauf der klingenden Münze bedeutend erleichtert, beschleunigt
und verallgemeinert, so dass sie sich seit dieser Zeit wieder vollkom¬
men im Alltagsverkehre einbürgerte.
Der für die Annahme an Kronskassen geltende Silberkurs sollte
etwas niedriger als der jeweilig herrschende Börsenkurs festgesetzt
werden, damit nicht sobald Veränderungen desselben nöthig würden.
Der Kurs sollte, um möglichste Einförmigkeit und Gleichheit herbei¬
zuführen, für den Zoll und für alle anderen Abgaben derselbe sein 1 .
Die hierauf bezügliche Verordnung wurde am 5. Januar 1831
(Nr. 4241,) publicirt. Nach derselben wurde die Annahme nur von
Silber- und Platina-Münze anbefohlen und zwar bloss versuchsweise
1 M. d. R. vom 10. November 1830.
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in denjenigen Gouvernements, wo ein Ueberfluss an klingender
Münze vorhanden. Die Annahme von Gold an Kronskassen, die
1831 noch nicht zugelassen wurde, erfolgte erst durch die Verord¬
nungen vom 10. Mai und 8. November 1833, *Nr. 6194 und 6562.
Der Kurs wurde zu 360 Kop. für den Silber- und zu 375 Kop. für
den Goldrubel festgesetzt.
Schon im Jahre 1834 brachte Cancrin eine neue Vorlage in den
Reichsrath ein, in welcher er eine Herabsetzung des Kronskurses für
Gold beantragte. Seine Motive waren folgende: der Börsenkurs von
Gold und Silber war bedeutend gefallen, so dass er, am meisten derje¬
nige für Gold, tiefer als der Kronskurs stand. Die Folge davon
war, dass das Volk einerseits wohl die Abgaben vorherrschend in
klingender Münze zahlte, aber Schwierigkeiten machte, die klin¬
gende Münze von der Krone in Zahlung zum Kronskurse anzu-
nehmen, da es dadurch Verluste erlitt. Das starke Einfliessen der
klingenden Münze erschwerte es aber der Krone bedeutend, ihre
Ausgaben zu bestreiten, da ja die Circulationsfähigkeit des Metalls
eine weit geringere als die der Assignaten ist; dazu kamen die Ver¬
luste, welche die Krone durch den zu hohen Kurs erlitt, endlich
drückten auch die an der St. Petersburger Hauptstaatskasse zusam¬
mengeflossenen grossen Goldmassen den Kurs des Goldes noch mehr
herab. Um nun allen diesen Uebelständen abzuhelfen, verlangte
Cancrin vor allen Dingen Herabsetzung des Goldkurses und zwar von
375 auf 365, da der Börsenkurs 369 Kop. betrug. Der Kronskurs
auf Silber sollte 360 Kop. bleiben, weil man denselben während der
Branntweinspacht-Periode nicht ohne grosse Schwierigkeiten und
Verluste ändern konnte und der Börsenkurs für Silber nur wenig
tiefer als der Kronskurs stand (nämlich 359); wollte man ihn aber
verändern, so musste man einen neuen dritten Kronskurs schaffen,
da der bestehende aus Rücksicht auf die Branntweinspächter in kei¬
nem Falle verändert werden durfte. Die Schöpfung eines solchen
dritten Kurses hätte zu neuen Complicationen u. s. w. geführt.
Cancrin’s Vorschlag ging im Reichsrathe durch, weil man nament¬
lich auch die Krone vor unnützen Verlusten schützen wollte, und
überdies Var ja Niemand gezwungen in Gold zu zahlen, oder dasselbe
von der Krone anzunehmen 1 , (cf.Gesetz vom 25. Juni 1834, Nr. 7215).
Nach dieser Vorlage ist es fast unerklärlich, dass Cancrin noch in
demselben Jahre, am 29. October, eine neue Vorlage beim Reichs¬
rathe einbrachte, worin er mit Beibehaltung des Kurses von 360
1 M. d. R. vom 9. April 1834.
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45
für Silber beim Zoll, die Herabsetzung desselben auf 3$5 für alle
anderen Abgaben verlangte. Diese Forderung steht in. grellem
Widerspruche mit seiner; eben erwähnten Motivirung, in welcher
er sich auf das Entschiedenste gegen die Einführung eines neuen
dritten Kurses ausspricht. Das einzige Motiv, welches ihn jetzt zur
Herabsetzung bewog, war das, die Kronskasse vor Verlusten zu be¬
wahren, da der Börsenkurs des Silbers noch etwas mehr herunter¬
gegangen war. Warum er aber den alten Kurs für die Zollabgaben
beibehalten wissen wollte, ist nicht klar zu ersehen *. Jedenfalls
liess Cancrin sich hier eine grosse Inconsequenz zu Schulden kom¬
men und es stand daher zu erwarten, dass der Reichsrath seine Zu¬
stimmung zu diesem Vorschläge, wie es faktisch auch geschah,
verweigern würde a .
Trotzdem Cancrin mit dem Antrag, den Kronssilberkurs herabzu¬
setzen, 1834 nicht durchgedrungen war, kam er 1838 bei Gelegenheit
der Festsetzung des Gold- und Silberkurses für 1839 mit einem
ähnlichen beim Reichsrathe ein. Er hielt jetzt die Zeit zu einer
Aenderung des Kronskurses für noch angemessener als 1834, weil
mit dem Jahre 1839 eine neue vierjährige Branntweinspacht-Periode 8
begann. Es kam noch hinzu, dass inzwischen der Börsenkurs für
Silber bedeutend unter den Kronskurs gesunken war, — er betrug
352 Kop., — während er für Gold auf 363 stand, also nur wenig unter
dem Kronskurse, und Cancrin daher den letzteren auch unverändert
lassen, den erstefen aber auf 350 herabgesetzt sehen wollte. Er
machte auch darauf aufmerksam, dass der Kurs des Silbers die ent¬
schiedene Tendenz zeige, in Folge des steigenden Credits der Assig¬
naten, des günstigen Wechselkurses u. s. w. noch mehr zu sinken.
Der Verlust, welcher der Krone aus der zu hohen Annahme des
Silbers erwachse, betrage etwa 3 Mill. Rbl. jährlich. Dieser Verlust
wäre aber von 1839 an noch bedeutender geworden, da jetzt ge¬
stattet werden sollte, statt der früheren 20 pCt., 30 pCt. der Brannt¬
weinspacht in klingender Münze zu zahlen. Auch die Branntweins¬
pächter verloren durch jenen zu hohen Kronskurs, wenigstens bei
den Summen, die sie nicht in klingender Münze als Pacht der Krone
1 Ich neige der Ansicht zu, d esshalb: weil die Krone aus jenem höheren Kurse
einen Vorth eil zog, da ja der Zollsatz in Silber fixirt war, aber in Assignaten ge¬
zahlt werden musste.
* M. d. R. vom 29. October 1834.
• Seit dem Jahre 1827 wurde das Recht des Branntwein Verkaufs von der Regierung
an den Meistbietenden (Ur je einen Zeitraum von vier Jahren verpachtet Der Pachtzins
vertrat die Stelle der Accise.
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46
zahlen konnten, da sie gezwungen waren, das Silber von den Ge¬
tränkekäufern zum Kronskurse anzunehmen. — Die Anführung
dieses mächtigen Verlustes von 3 Mill. Rbl. ist eine List Cancrin’s,
mit der er seine Gegner zu blenden versuchte. Ein solcher konnte
nimmermehr stattfinden, da die Krone das Silber zu eben demselben
Kurse verausgabte, zu welchem sie es in den Abgaben empfing.
Ein wirklich triftiger Grund wäre die Bemerkung gewesen, dass
die Beamten des Staates durch Zahlung der Gehalte u. s. w. in
Silber Verluste erlitten. Wie wenig aber Cancrin, wo es den Vor¬
theil der Krone galt, an die Benachtheiligung des Volkes dachte,
geht klar daraus hervor: dass er gleichzeitig den Zollabgabenkurs
für Silber mit 360 beibehalten wünschte, weil dadurch der Krone
ein reiner Vortheil von 2 1 /* Mill. Rbl. jährlich zufloss. Ein sehr we¬
sentlicher Grund sprach zu Gunsten des Cancrin’schen Vorschlags:
das war die Erschwerung und Vertheuerung der Bestreitung der
Regierungsausgaben mit dem schwerbeweglichen Metalle, welches
allerdings in Massen einlief. (Nach Cancrin’s Angaben war allein
in St Petersburg ipi Jahre 1838 für 25 Mill. Rbl. Münze ein¬
gekommen).
Der heftigste Gegner dieser Vorlage Cancrin’s war der frühere
polnische Finanzminister Fürst Drutzki-Ljubetzki. Seinen Haupt¬
widerspruch richtete er gegen die nicht gleichzeitige Herabsetzung
des Zollabgabenkurses, eine Massregel, die er für eine ebenso un¬
sittliche Bereicherung der Staatskasse hielt, wie den Verkauf
kleinen Silbergeldes an der Börse zu einem höheren Kurse, als
dasselbe von der Krone bei Zahlungen angenommen wurde. Er
wandte ein, dass der Verlust der Branntweinspächter nicht zu leugnen
sei, so weit sie nämlich mit dem Silber Assignaten zur Bezahlung
ihrer Pacht aufkaufen müssten, dass sie es aber in allen anderen
Fällen zum Volkskurse verausgabten, der stets höher als der Krons¬
kurs stand. Diesem Verluste der Pächter ständen aber die unver¬
gleichlich grösseren Verluste gegenüber, welche das Volk erleide,
sobald der Kronskurs unter dem Börsenkurse stehe. Ferner habe
jede Kursveränderung auch eine Veränderung der Staats- und Privat¬
schuldverhältnisse zur Folge, erstere würden z. B. durch eine Her¬
absetzung des Kurses von 360 auf 350 mit einem Federstriche um
30 Mill. Rbl. Assignaten vermehrt. Der Finanzminister habe selbst
angeführt, dass die klingende Münze das Verkehrsmittel des täg¬
lichen Lebens sei, die Assignaten aber ganz in die grosse Cirkulation
übergegangen wären! Es sei nicht Recht, in einem solchen Falle von
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den Abgabenpflichtigen Assignaten zu verlangen, die sie nicht besas*
sen, oder ihnen die Erlaubnisse mit dem zu zahlen, was sie besassen,
d.h. mit Silber, durch Herabdrückung des Kurses illusorisch zu machen,
wobei noch die Krone an anderer Stelle, beim Zolle, für die An¬
nahme von Assignaten gar ein Agio fordere. Fürst Drutzki-Lju»
betzki beantragte daher dringend, die Vorlage des Finanzministers
zu verwerfen, zumal da derselbe keinen einzigen volkswirtschaft¬
lichen, sondern bloss fiskalische Gründe zu Gunsten derselben an*
führe. Endlich handle es sich ja nur um eine zeitweilige Beibehal¬
tung des alten Kurses, da ja eine Reorganisation des ganzen Geld¬
systems in nächster Aussicht stehe. Der Reichsrath stimmte dem
Fürsten vollkommen bei, und als das Gutachten dem Kaiser vorge¬
legt wurde, bestätigte er es mit den Worten: «Sehr klar und er¬
scheint mir vollkommen recht und billig 1 >.
B. Die ausländische Münze»
I. Das Billon oder die ausländische Scheidemünze.
In allen russischen Grenzgouvernements fand ein bedeutender
Umlauf ausländischer Scheidemünze statt: in den Ostseeprovinzen
war es preussische und polnische, in den westlichen Gouverne¬
ments polnische und in den südwestlichen türkische. Schon wieder¬
holt war der Umlauf ausländischer Scheidemünze, doch stets ohne
Erfolg, verboten worden; Cancrin verlangte daher 1827 ein neues
verschärftes Verbot. Er behauptete nämlich, dass das ausländische
Billon sich nicht aus wirklichem Bedarf an kleiner Münze in Um¬
lauf erhielte, sondern bloss aus Gewohnheit und Bequemlichkeit
der Bewohner der Grenzgouvernements. Dieser Ansicht wider¬
sprachen aber auf das Entschiedenste die Gouverneure jener Pro¬
vinzen, welche versicherten, dass die Grenzbewohner zur Ermög¬
lichung und Erleichterung des Grenzverkehrs einer Münze durch¬
aus bedürften, die in möglichstem Einklänge mit der ausländischen
Scheidemünze stände. Da nun das russische Kupfergeld dieser An¬
forderung gamicht entspräche, so hätte sich das ausländische
Billon in unseren Grenzprovinzen eingebürgert. Es gäbe nur ein
Mittel es zu vertreiben: unsere Kupfermünze in Einklang mit dem
ausländischen Billon zu setzen. Thäte man dieses nicht, so müsste
man das ausländische Billon in Umlauf lassen, da der Grenzver¬
kehr desselben bedürfe; eine polizeiliche Verfolgung würde nur
1 M. d. R. vom 31. October, 7. und 14. November 1838.
/
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Erbitterung gegen die Regierung Hervorrufen. Der Reichsrath
beschloss daher, vorerst keine neuen Verordnungen gegen den
Umlauf des ausländischen Billon zu erlassen K Das Gutachten
wurde vom Kaiser bestätigt. — Im folgenden Jahre brachte der Fi¬
nanzminister denselben Antrag noch einmal beim Reichsrathe ein,
indem er eine Prägung russischer Kupfermünze im Einklänge mit
dem ausländischen Billon, welches zu 72 Rbl. aus dem Pude ge¬
prägt wurde, für unausführbar erklärte. Bei uns sei nämlich das
Kupfergeld nicht nur Scheidemünze, wie im Auslande, sondern
auch Courantgeld und die Assignaten beruhten auf demselben;
diese würden also in ihrem Werthe durch die Prägung minderwer-
thigen Kupfergeldes leiden *. Er hob abermals hervor, dass für den
Umlauf der ausländischen Scheidemünze keine Nothwendigkeit vor¬
handen, sondern dass derselbe bloss auf einer schlechten Angewohn¬
heit der Grenzbewohner beruhe; den besten Beweis liefere dafür der
Umstand, dass dieselben sogar lieber Billon als vollwichtige russische
Silbermünze entgegennähmen. Dieses Umstandes habe ich allerdings
sonst nirgends erwähnt gefunden und nehme an, dass Cancrin selbst
dies wohl kaum hätte beweisen können. Sein Vorschlag blieb auch
diesmal unberücksichtigt 8 .
Bis zum Jahre 1837 wurde nun diese Frage nicht mehr berührt,
man hatte nur noch einmal das alte Verbot von Neuem eingeschärft,
sonst aber der Sache freien Lauf gelassen. Allmählich aber hatte die
Lage der Dinge einen immer schlimmeren Charakter angenommen ;
nicht allein, dass alle Grenzprovinzen mit ausländischer Scheide¬
münze überschwemmt waren, sondern es liefen auch allseitig von
den dortigen Generalgouverneuren Klagen an den Finanzminister
ein, dass das ausländische Billon im täglichen Verkehre zu einem,
seinen inneren Werth übersteigenden Kurse vom Publikum ange¬
nommen würde. Die Folge davon sei, dass sich Spekulanten ein
Geschäft daraus machten, da die freie Einfuhr verboten sei, Billon
heimlich in Masse ein- und dagegen vollwichtiges russisches Silber
auszuführen, auch münze man sogar Billon nach.
Der Finanzminister wandte sich desshalb abermals mit einer Vor¬
lage an den Reichsrath. Er gab in Betreff der eingelaufenen Klagen
folgende Erklärung ab: 1. falsches Billon habe sich nach einer ange-
1 M. d. R. vom 5. December 1827.
* Wenige Jahre darauf behauptete allerdings Cancrin gerade das Gegentheil: dass
die Assignaten ganz unabhängig in ihrem Werthe von dem Kupfergelde seien (p. 38).
# M. d. R. v. 1. Mai 1828.
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49
stellten Untersuchung nicht im Verkehre vorgefunden, aber wohl
sei es wahr, dass die ausländische Scheidemünze zu viel zu hohem
Werthe in den Grenzprovinzen kursire. 2. Das kleine russische Sil¬
bergeld könne sich in den westlichen Gouvernements im Verkehre
nicht erhalten, da es gegen Billon ausgeführt würde. Die Kupfer¬
münze dagegen liege grösstentheils in den Kronskassen brach und
könne auf keine Weise in Umlauf gebracht werden. 3. Die Zoll¬
ämter könnten unmöglich die heimliche Einfuhr des Billon völlig
verhindern. Aus diesen Gründen verlange er nachdrücklichst den
Erlass eines Verbotes über den Umlauf ausländischer Scheidemünze,
wie dieses in allen übrigen europäischen Staaten der Fall sei, und
strenge Bestrafung Aller, welche gegen dieses Verbot fehlten.
Da sich aber das Billon in grossen Massen in jenen Grenzpro-
vinzen in Umlauf befinde, so könnte ein plötzliches, gänzliches
Verbot desselben zu Störungen im Verkehre führen und diejenigen,
die im augenblicklichen Besitze des Billon wären, dadurch Ver¬
luste erleiden; desshalb sollte für den Umlauf noch eine Frist von
einem Jahre festgestellt werden.
Das Departement der Reichsökonomie wie die Majorität im
Reichsrathe stimmten dieses Mal dem Vorschläge des Finanzmini¬
sters vollkommen bei: weil jene Provinzen inzwischen hinlänglich
mit kleinem Silbergelde und neuer Kupfermünze versehen worden
wären, die Ausfuhr des kleinen Silbergeldes zum Eintausch gegen
werthloses Billon das Volkskapital schädige und das Kupfergeld
ganz zwecklos in den Kronskassen brach läge, statt sich in Umlauf
zu befinden. Drei Mitglieder des Reichsraths, unter diesen Admiral
Greigh, stimmten gegen den Antrag und waren — meiner Ansicht
nach — auch entschieden im Recht. Sie hoben hervor, dass das
hartnäckige Festhalten an dem ausländischen Billon weniger auf
eingewurzelter Angewohnheit wegen des bequemen Gebrauches
dieser Münzzeichen beruhe, vielmehr daher rühre, dass jene
Gegenden entschieden noch nicht hinlänglich mit russischem Klein¬
gelde versehen seien. Seit 1813 bestand ein Verbot des Umlaufes,
2824 und 1827 wurde es erneuert und doch war es im Verlaufe von
34 Jahren nicht im Stande gewesen, den Umlauf des Billon zu ver¬
hindern. Das ist doch ein sprechender Beweis dafür, dass der Geld¬
verkehr in jenen Provinzen dieser Münze nothwendig bedurfte; man
bedenke dabei, dass nicht einmal die Furcht vor Strafe die Grenz¬
bewohner verhindert hatte, sich des Billon zu bedienen. Wenn
man nur jene Provinzen hinlänglich mit russischer Scheidemünze
Hau. Barn«. Bd. VH. .
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5ö
versorgt hätte, so würde das Bülon schon von selbst aus dem Ver¬
kehre verschwunden sein. Die Behauptung des Finanzministers,
dass man sich in jenen Provinzen aus Eigennutz des Billons bediene,
ist falsch; es geschah einfach aus Mangel an Scheidemünze. War
dieser Mangel doch damals im ganzen Reiche so fühlbar, dass es
selbst in der Residenz sehr schwer war, kleines Geld herauszube¬
kommen, wenn man bei einem Einkauf für wenige Kopeken mit
einem 75 Kopekenstück (3 Rbl. Assignaten) zahlte; sehr häufig
musste man bei solchen Einkäufen noch Verluste fürs Wechseln erlei¬
den. Nicht weniger zeugen für jenen Mangel auch die in St. Peters¬
burg in den Clubs angewandten Marken und die Stadtmarken, die
in Est- und Livland als Ersatz von Scheidemünze von Privatper¬
sonen eingeführt waren. — Admiral Greigh äusserte in Bezug auf
den Umlauf des Billon sehr richtig: «Ueberall bemerkt man, dass
die Fehlgriffe der Regierungen durch das Volk ausgeglichen und Mit¬
tel und Wege ausgedacht werden, solche Fehlgriffe weniger fühlbar
oder unbedeutend zu machen» *.
Die eigentliche Ursache jenes fortgesetzten Umlaufs von Billon
war meiner Ansicht nach einfach die Unvollkommenheit unseres
Geldsystems. Kleine silberne Scheidemünze existirte nicht und das
Kupfergeld war durch seine Grösse und Schwere bei Weitem nicht
so für den Kleinverkehr geeignet, als das ausländische Billon. Can-
crin wollte, wie dies so häufig bei ihm der Fall war, diesen Uebel-
stand nicht einsehen, weil er im Widerspruche mit seinen Plänen
stand. Er wollte eine möglichst grosse Einheit der in Umlauf be¬
findlichen Münzen herbeiführen, und daher lag ihm die Vertreibung
des ausländischen Billon zunächst am Herzen. Mit den Mitteln, die
ihm zur Erreichung eines Zieles dienen sollten, hat er es niemals
gar zu genau genommen; wir werden auf ähnliche Fälle noch öfter
stossen.
Im Jahre 1838 fand dann noch einmal eine Berathung dieser Frage
statt. Ich entnehme derselben einige interessante Notizen. Unter
Billon verstand man bei uns, wie oben erwähnt, kleine ausländische
Scheidemünze, die sich in den Grenzgouvernements in Umlauf be¬
fand. Es war nicht eigentliches Geld (A'hflCTBHTejibHaa MOHeTa):
denn es war kein gesetzliches Zahlmittel und wurde von der Krone
in keiner Zahlung, ja selbst von Privaten nur nach freiwilligem
Uebereinkommen angenommen. Seine Benutzung beschränkte sich
meistens auf den täglichen Kleinverkehr beim Kauf und Verkauf
1 M. d. R, v. 39. November 1837.
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St
von Lebensmitteln unter dem einfachen Volke, namentlich unter den
bäuerlichen Grenznachbarn. Seit dem Jahre 1719 datiren die Ver¬
bote hinsichtlich des Umlaufs ausländischer Scheidemünze; bis zum
Jahre 1801 erstreckten sie sich auf einzelne Arten derselben, dann
aber heisst es in der Geldordnung vom 20. Juni 1810: «der Umlauf
und die Einfuhr ausländischer kleiner Scheidemünze, bekannt unter
dem Namen «Billon», wird vom Jahre 1812 gänzlich verboten».
Dieser Termin wurde jedoch 1813 für die Ostseeprovinzen bis 1815
ausgedehnt. Da aber alle diese Verbote gänzlich erfolglos blieben,
versuchte man ipi Jahre 1824, das Billon während vier Monaten an
den Staatskassen gegen russische Münze einzuwechseln; jedoch auch
diese Massregel erzielte nicht das gewünschte Resultat. Es wurde
sogut wie.gar kein Billon zur Einwechselung präsentirt, da diese
nach einer festen Taxe, nach dem Metallwerthe de6 Billon erfolgte,
zu einem Preise also, der tief unter ihrem Verkehrswerthe stand.
Nach Verlauf jener vier Monate sollte alles Billon, das im Verkehre
angetroffen wurde, confiscirt werden. Aber selbst diese Drohung
blieb erfolglos, denn 1827 musste das Verbot wieder verschärft wer¬
den und^auch das half nichts. Diese Erfahrungen überzeugten das
Departement der Reichsökonomie, dass die Gewohnheit des Volkes
im Gebrauch des Billon auf einem wirklichen örtlichen Bedürfnisse
begründet sei. Da aber andererseits das neue Kupfergeld (seit 1832
in Umlauf gesetzt) nach den Versicherungen des Finanzministers
alle Eigenschaften besass das Billon zu ersetzen und die Grenzpro¬
vinzen auch hinlänglich mit demselben versorgt waren, ohne es in¬
dessen im Verkehre zu benutzen, so hielt das Departement es für
nothwendig, ausser der Wiederholung des früheren Verbots hinsicht¬
lich des Billon noch folgende Massregeln durch den Finanzminister
treffen zu lassen: 1. in jenen Provinzen Kassen einzurichten, bei
welchen man nach Wunsch Assignaten und Silber gegen Kupfer¬
geld, und umgekehrt Kupfergeld gegen Assignaten und Silber zu
jedem Betrage einwechseln könne. 2. Den Umlauf des Kupfer¬
geldes möglichst zu befördern. — Der Reichsrath billigte dieses
Verlangen und es wurde also beschlossen, kein neues Gesetz zu
erlassen, sondern es zu versuchen, das Billon dadurch zu ver¬
treiben, dass man das Bedürfniss nach demselben beseitigte l .
Doch auch dieser Versuch schlug fehl, denn im Jahre 1844 war
noch so viel Billon in Umlauf, dass ein neues strenges Verbot gegen
1 M. d. R. Yom 2 . Juni 1838.
4 *
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den Umlauf desselben erlassen wurde, doch das geschah schon nach
Cancrin’s Rücktritte, liegt also ausserhalb des Rahmens unserer
Studie.
2. Die Gold• und Silbermünze .
Seit den ältesten Zeiten hatte, ohne dass dem Verkehre dadurch
irgendwelcher Nachtheil erwachsen war, ausländische Gold-und Silber¬
münze im Reiche kursirt. Mit der Hebung des Werthes der Assignaten
fand sie sich aber auch in grösserer Menge ein, und wurde allmählich
so häufig, dass sie geradezu einige Gouvernements überschwemmte,
was besonders seit 1830 zu häufigen Klagen Anlass gab. Im Jahre
1834 reichten Moskau’sche Kaufleute sogar eine Petition an den
Reichsrath ein, um ein Verbot des Umlaufs ausländischer Gold- und
Silbermünze zu.erwirken. Die Klagen der Kaufleute liefen darauf
hinaus, dass fremde Goldmünze (besonders französische) den Markt
dermassen beherrsche, dass das Agio auf Assignaten 12 pCt. er¬
reicht habe und die russische Goldmünze ganz vom Markte ver¬
schwunden sei. Dies beeinträchtige den Credit; Käufer wollten
keine Wechsel auf Assignaten ausstellen, die in 7 Monaten um
2 l /t pCt. gestiegen seien; Verkäufer keine auf Gold ausgestellten
annehmen. Es hätte sich — so hiess es weiter in der Petition — ein
besonderer Handelszweig ausgebildet, um russisches Gold aus- und
ausländisches einzuführen, letzteres sei aber seinem Metallwerthe
nach viel schlechter als das russische. Die Kaufleute baten daher,
man möge die Einfuhr ausländischer Goldmünze, ausgenommen
holländischer Dukaten, die vollwichtig wären und sich schon längst
in Russland in Umlauf befänden, verhindern. Ferner erklärten sie,
dass der ganze Handel der Moskauer Kaufleute ein interner sei,
der zum grössten Theile mit baarem Gelde geführt würde. Der
Grosshandel sei vollständig in den Händen ausländischer Kaufleute,
von diesen würde denn auch der Import ausländischer Münze ins
Werk gesetzt. Den Nachtheil müssten aber die einheimischen Fa¬
brikanten und kleinen Kaufleute empfinden, welche gezwungen
seien, ihre Waare rasch abzusetzen, weil sie nur kleine Betriebs¬
kapitale besässen, und da sie ihr Geld brauchten, aus Noth jed¬
wede Art von Geld annähmen. Diese ungünstige Lage der Verkäu¬
fer nützten die Käufer für sich aus, indem sie in ausländischer Münze
zahlten, welche im Verkehr einen höheren als ihrem Metallwerthe
entsprechenden Kurs hätte. Aehnlich verführen die Schuldner mit
ihren Gläubigern; wohl wissend, dass diese langwierige Processe
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53
scheuen würden, zwängen sie dieselben, ausländische Münze als
vollwichtige russische anzunehmen. Am meisten aber litten von
dem Umlauf ausländischer Münze zu einem zu hohen Kurse die
arbeitende Klasse und überhaupt der kleine Mann.
Der Finanzminister gab wohl zu, dass aus dem Umlaufe ausländi¬
scher Goldmünze zu einem ihren inneren Werth übersteigenden
Kurse grösser Nachtheil für's Volk erwachse, aber gleichzeitig müsse
erwogen werden: i. Dass es nicht wahrscheinlich sei, dass russi¬
sches Gold zum Ankäufe ausländischer Münze ausser Landes gehe,
weil, das ausländische Gold viel bequemer auf kaufmännischem
Wege zu erhalten wäre. 2. Dass der wahre Grund der Einfuhr frem¬
der Münze die günstige Handelsbilanz sei, denn während 1829
der Import den Export um 19V2 Mill. Rbl. Assignaten überwog,
überstieg seit 1830 der Export den Import um 12—23V2 Mill. jähr¬
lich. Ferner käme der Umstand in Betracht, dass bei uns Gold und
Silber überhaupt höher im Preise ständen, als in andern Ländern,
und dazu trete dann noch der Leichtsinn und die Oberflächlichkeit
hinzu, mit der unser einfaches Volk die fremde Münze in ihrem
Werthe mit der unsrigen vergleiche, so dass selbst verschiedene
Verwaltungsmassregeln fruchtlos geblieben, welche in dieser Bezie¬
hung Vorsicht und Kenntnis verbreiten sollten. 3. Dass das Verbot
des Umlaufs ausländischer Münze mit politischen und wirtschaft¬
lichen Schwierigkeiten verbunden sei. Wer ausländische Münze be¬
sitze, würde durch Einwechselung derselben in den Wechselbuden
verlieren, auch würde das Verbot erfolglos sein, da es an anderen
Werthzeichen mangele. — Der Finanzminister rieth daher, keine
besonderen Massregeln gegen den Umlauf ausländischer Münze
zu ergreifen und hoffte, dass in kurzer Zeit die fremden Münzen
ihren richtigen Werth im täglichen Verkehre gewinnen würden,
wozu die Regierung durch häufige Publikationen von Tabellen über
den wahren Werth ausländischer Münze viel beitragen könnte. Die
Frage erschien jedoch so wichtig, dass man zur genauen Erfor¬
schung derselben ein besonderes Comite einsetzte. Das Comite
fand: 1. Dass sich keine zu leichten 20-Francstücke in Umlauf be¬
fanden; man hatte nämlich auch darüber geklagt, dass Speku¬
lanten Ducaten ins Ausland schickten, um sie dort in 20-Franken-
stücke umprägen zu lassen, und zwar aus je drei Ducaten zwei
20-Frankenstücke. 2. Dass thatsächlich in den Gouvernements,
wo viel ausländische Münze kursire, das Agio besonders hoch
stände, so namentlich in Moskau, wo etwa viermal soviel ausländi-
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54
sehe wie inländische Münze in Umlauf wäre. 3. Dass ein Export
russischer klingender Münze 1833 so gut wie gar nicht stattgefun¬
den habe 9 im Ganzen nur für 632,000 Rbl. Assignaten, und zwar nur
Silbermünze; dagegen wäre eingeführt worden: an
Gold in Barren für 3,000 Rbl. Assignaten
* Münze * 33,285,024 * »
Silber in * » 3 >° 93>957 » »
» Barren * 1,428,065 » »
37,810,046 Rbl. Assignaten.
Der Finanzminister gab hierauf folgende Erklärung ab: 1. Die bis¬
herige zu hohe Schätzung der ausländischen Münze komme unse¬
rem Publikum bereits zum Bewusstsein, und dieser Umstand habe
das plötzliche Steigen des Agio auf russische Münze und Assig¬
naten, — ein Jeder, der russische Münze besass, hielt sie zurück, —
sowie den raschen Umlauf der ausländischen Münze bewirkt, Jeder
wollte sie jetzt möglichst rasch los werden. 2. Die Einfuhr von Münzen
als Waare sei ein Zeichen günstiger Handelsbilanz. Der dem Publi¬
kum daraus erwachsende Nachtheil sei nur Folge derSpeculation eini¬
ger Personen, ausländische Münze zu einem zu hohen Kurse in
Umlauf zu bringen. 3. Mit dem Bekanntwerden des wahren Wer-
thes der ausländischen Münze würde die Speculationseinfuhr dersel¬
ben aulhören, auch hätte ihr Werth im Verhältnisse zur russischen
Münze bereits zu fallen begonnen. 4. Es gehe nicht an, ein Einfuhr¬
verbot zu erlassen, denn die Aus- und Einfuhr von Münzen werde
durch die Handelsbewegung regulirt. 5. Die Regierung könne auslän¬
discher Münze unmöglich einen Zwangskurs verleihen, weil die An¬
nahme derselben auf freiem Uebereinkommen beruhe. 6. Eine amt¬
liche Verfolgung hinsichtlich des Umlaufs, — denn ein blosses Ver¬
bot würde nichts helfen, — hätte unerträgliche Beschränkungen
u. s. w. für den Handel zur Folge.
Der Reichsrath entschied schliesslich dahin, dass, so misslich
auch der Umlauf ausländischer Münze zu einem ihren inneren Werth
übersteigenden Kurse für das Volk sei, doch dagegen keine Ver-
botsmassregeln ergriffen werden könnten, weil die Regierung sonst
von ihrem Principe der freien Aus- und Einfuhr edler Metalle in
Barren und Münze abweichen müsste. Ueberdies sei es noch sehr
fraglich, ob man durch solche Mittel das gewünschte Resultat er¬
zielen werde, da beim Billon das Verbot des Umlaufs gar nichts
geholfen. Eine Einziehung aller in Umlauf befindlichen ausländi-
"V
V
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sehen Münze zu einem festen Kurse könne leider nicht ins Werk
gesetzt werden, weil es dazu an einem genügenden Kapitale fehle,
da die Menge der kursirenden ausländischen Münze ausserordentlich
gross sei. Die Regierung könne demnach weiter nichts thun, als
durch wiederholte Publikationen über den wahren Werth der auslän¬
dischen Münze darauf hinwirken, dass sie zu einem, diesem Werthe
entsprechenden Kurse im gewöhnlichen Verkehre angenommen
werde. Ferner sollte es Jedermann gestattet sein, ausländische
Münze zur Umprägung an die Münzhöfe einzuliefern, ohne dass
ihm die Umprägungskosten angerechnet würden, und in den bedeu¬
tenderen Städten sollte an den Kronskassen einem Jeden ausländi¬
sche Münze gegen russische klingende Münze eingewechselt wer¬
den, doch nur bis zum Betrage von ioo Rubeln
Man vermisst in erster Reihe bei Durchsicht dieser Verhandlung
die Erwähnung der wahren Ursache des Importes ausländischer
Münze: den Mangel an russischer. Denn selbst gesetzt den Fall,
dass die Handelsbilanz eine so günstige gewesen sei, als sie Cancrin
angiebt, — wogegen übrigens nicht unbedeutende Zweifel sich
erheben, — so wäre es dem Auslande bei sonst normalen Verhält¬
nissen noch immer vortheilhafter gewesen, die sich ergebende
Differenz zwischen seinem Import und Export mit Gold und Silber
in Barren auszugleichen, statt in Münze, da diese ja bekanntlich
im eigenen Lande stets in höherem Preise, als in fremdem steht. Da
es nun aber Thatsache ist, dass allein im Jahre 1833 von den
37 Mill. Rbl., die an edlen Metallen importirt wurden, nur etwa
1 */* Mill. auf Barren, die übrigen 35 l /i Mill. auf Münze kamen, so
kann dieser Umstand nur davon herrühren, dass sogar ausländische
Münze, nicht nur Gold und Silber, wie Cancrin bemerkt, bei uns
in höherem Preise stand, als in dem Lande, wo sie legales Zahl¬
mittel war. Diese Thatsache kann aber wohl kaum anders erklärt
werden, als dadurch, dass es dem Verkehre in Russland an eigener
Münze zur Bestreitung seiner Geldumsätze in hohem Grade man¬
gelte; man war daher wegen des Bedarfs an klingender Münze ge¬
zwungen, für die ausländische einen so hohen Preis zu zahlen, dass
die Ausländer es für vortheilhaft finden mussten, ihre Münze aus
dem eigenen Lande auswandern zu lassen. Wir haben hier die ein¬
fache Erscheinung von Nachfrage und Angebot. Aus diesem Grunde
hätte' wohl die erste Pflicht des Finanzministers die sein müssen,
den Verkehr hinlänglich, mit klingender Münze des eigenen Landes
1 M. d. R. v. 3. Mai 1834.
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zu versorgen; dieses Mittel würde radikal geholfen, dem Unwesen
des Umlaufs ausländischer Münze zu einem unnatürlich hohen
Kurse ein Ende gemacht, und aller Wahrscheinlichkeit nach die
fremde Münze bald ganz aus dem Verkehre gedrängt haben. Aber
von diesem Hilfsmittel ist auch nicht einmal die Rede. War die
Möglichkeit nicht vorhanden, es auszufiihren, oder fürchtete man
etwa, dadurch den Handel zu beeinträchtigen, in der Meinung, das
Ausland würde nicht mehr so viel kaufen, wenn es sein Gold und
Silber oder seine Münze nicht mehr so vortheilhaft wie früher nach
Russland absetzen könnte! Wir wissen es.nicht, wir haben nirgends
auch nur eine Andeutung darüber gefunden, warum man nicht zu
diesem Auskunftsmittel griff. Allerdings beging der Reichsrath,
wohl durch Cancrin dazu veranlasst, den Fehler, den Import von
Gold und Silber in Barren und den in Münze nicht getrennt zu be¬
trachten, — und doch liegt ja darin ein grosser Unterschied: Münze
ist nicht nur Waare, sondern auch Geld.
n. Die Reichsschatzbillete.
(BaneTM rocyflapcTBeHHaro KaaHaneflcTBa.)
Unter den im Manifeste vom 15. Juli 1831, Nr. 4704, angegebe¬
nen Gründen, welche die erste Ausgabe der Reichsschatzbillete
veranlassten, war der Hauptgrund, die ausgebrochenen Unruhen
in Polen, weggelassen worden, was natürlich aus politischen Rück¬
sichten geschah. Der Finanzminister schritt selbst, wie er es
wenigstens aussagte, sehr ungern zu dieser Vermehrung der bereits
existirenden Creditpapiere, aber die so plötzlich hereingebrochenen
schwierigen Verhältnisse zwangen ihn zu diesem Schritte. Die
Zinsen wurden nicht höher als 4 pCt. festgesetzt, weil man verhin¬
dern wollte, dass das Publikum die Einlagen aus den Creditanstalten
zurückziehe. Die näheren Bestimmungen über den Charakter dieser
Papiere ersieht man aus dem angeführten Gesetze.
Diese Reichsschatzbillete fanden einen grossen Absatz. Als sich
im Jahre 1834 wieder ein Deficit in dem Budget herausstellte, hervor¬
gerufen durch grosse Rückstände in den ordentlichen Einnahmen,
durch vermehrte Unkosten bei der Herbeischaffung des Branntweins
und durch Vergrösserung des Ausgabe-Etats des Kriegsministeriums
in Veranlassung der stark erhöhten Preise fast aller Gegenstände
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der Verproviantirung der Truppen, musste wiederum an ausser-
ordentliche Mittel zur Deckung desselben gedacht werden. Es gab
nach der Meinung des Finanzmfnisters vier Wege, um diese nöthig
gewordenen Mehrausgaben zu bestreiten: i. Das Kriegsreserve,
kapital anzugreifen ‘—wäre seiner Ansicht nach bei den unruhigen
Zeiten in fast ganz Europa geradezu eine Thorheit gewesen. 2. Eine
auswärtige Anleihe konnte in dem Augenblick unmöglich abgeschlos¬
sen werden, da die letzte, dritte 5-procentige vom 14. Mai 1831 im
Betrage von 20 Mill. Rbl. Silb. erst vor Kurzem vollkommen reali-
sirt worden war. Eine neue würde daher im Auslande zu der Ver-
muthung Anlass gegeben haben, Russland denke an Krieg, oder es
seien seine Quellen dermassen versiegt, dass es nicht einmal im
Stande sei, in Friedenszeiten seine ordentlichen Ausgaben selbst zu
decken. Beide Vermuthungen hätten zum sofortigen Fallen unse¬
rer, schon ohnedies tiefstehenden Fonds geführt, wodurch die An¬
leihe auch noch besonders vertheuert worden wäre. Ueberhaupt
aber sind auswärtige Anleihen nach der Meinung Cancrin’s beson¬
ders drückend und ein Staat darf nur in Fällen äusserster Noth zu 4
ihnen greifen. 3. Das Auskunftsmittel einer Anleihe bei den Cre-
ditanstalten konnte auch unmöglich ergriffen werden, da die Credit-
anstalten damals zu dem Zwecke nicht mehr genug flüssiges Kapital
besassen, weil bereits im Jahre 1834 verschiedene kleine Anleihen
gemacht worden waren und auch noch gemacht werden sollten.
Auch hätten die Einlagen zurückgefordert werden können, zumal
' sie jetzt lange nicht mehr so reichlich einflossen, wie in früheren
Jahren. Im August 1833 gab es in der Leih- und Commerzbank über
421V2 Mill. Rbl. freies Kapital, am 1. October war es auf 2Ö 1 /* Mill.
herabgegangen und am 24. December betrug es nur noch 10 Mill.
Rbl. 4. Eine neue Emission von Reichsschatzbilleten und Sistirung
der Tilgung der ersten. Dieses war die einzige Quelle, zu der man
seine Zuflucht nehmen konnte. Folgende Umstände sprachen noch
besonders für diesen Weg: Die Billete vom Jahre 1831 hatten sehr
guten Absatz gefunden und beim Publikum waren sie sehr beliebt,
so dass man die zur Tilgung nöthige Anzahl derselben nicht erhal¬
ten konnte. Cancrin hielt sie daher für die beste Form einer inne¬
ren Anleihe und ganz besonders zur Deckung ausserordentlicher
Ausgaben geeignet, viel mehr als die Assignaten. Eine vermehrte
Ausgabe der letzteren hätte ihren Kurs sofort herabgedrückt, d. h.
den Staatscredit gefährdet, während die Ausgabe der Reichsschatz-
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5 «
billete auch nicht den geringsten schlimmen Einfluss auf den Kurs
der Assignaten gehabt hätte.
Was nun die alten Serien vom Jahre 1831 anbetrifft, so waren
noch 20 Mill. derselben in Umlauf; 10 Mill. aber, nicht aus regel¬
mässigen Einnahmen, sondern vermittelst Bankanleihen getilgt. Im
Jahre 1834 mussten nun wieder 10 Mill. getilgt werden, die Mittel
dazu waren aber nicht vorhanden und da rieth denn der Finanzmi¬
nister, die Tilgung zu sistiren, was die neue Ausgabe von Reichs-
schatzbilleten für's Erste sogar unnöthig machen würde. Der Reichs¬
rath stimmte dem bei (cf. Manifest vom 9. Januar 1834, Nr. 6706).
Da auch diese neuen Serien, nach Einwechselung der alten, sich
grosser Gunst beim Publikum erfreuten, so dass von den für 40 Mill.
Rbl. ausgegebenen Billeten bis 1837 nur 8,183,300 Rbl. in den ver¬
schiedenen Creditanstalten eingewechselt und bis auf 183,300 Jlbl.
auch durch Verbrennen getilgt waren, so rieth der Finanzminister
im Jahre 1837 die im Verkehr befindlichen Reichsschatzbillete zwei¬
ter Emission vor ihrer Ablaufszeit (1840) gegen neue einzutauschen.
Er betonte abermals, dass diese Billete eine vortreffliche Einnahme¬
quelle für die Regierung in Zeiten der Noth darböten und man das
Publikum ja nicht durch Herausziehen derselben aus dem Verkehre
von ihrem Gebrauche entwöhnen solle. Sein Vorschlag wurde vom
Reichsrathe angenommen und auch im Jahre 1839 ausgeführt, zu¬
mal in letzter Zeit aus den inneren Gouvernements eine consequente
Nachfrage nach Reichsschatzbilleten stattgefunden hatte; man ver¬
langte sie namentlich von den St. Petersburger Kaufleuten als Zah¬
lung statt Geldes. Dieser Anforderung konnte aber nur wenig ge¬
nügt werden, da es im Verkehre an ihnen vollkommen mangelte,
(cf. Senatsbefehl vom 29. März 1839, Nr. 12,185).
Im Jahre 1840 fand dann noch einmal eine neue Emission von
Reichsschatzbilleten statt, 4 Serien, jede zu 3 Mill. Rbl. Silber (cf.
Senatsbefehl vom 19. April 1840, Nr. 13,383). Der Grund zu die¬
ser Ausgabe waren die enormen Rückstände in den ordentlichen
Einnahmen, veranlasst durch die Missernten, welche einen gros¬
sen Theil des Reiches betroffen hatten. Da die Unkosten zur
Herstellung der Reichsschatzbillete sehr bedeutend waren, so bat
sich der Finanzminister die Erlaubnis aus, dieses Mal gleich Billete
für 30 Mill. Rbl. Siib. im Voraus anfertigen zu dürfen, obgleich nur
für 12 Mill. Rbl, Silb. emittirt werden sollten.
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59
HL Die Reorganisation des Geldsystems im Jahre 1839.
A. Historischer Rückblick auf das Assignatensystem.
Der erste Versuch Assignaten einzuführen, stammt noch aus der
Zeit des Zaren Alexei Michailowitsch, Der schwedische und pölni-
sehe Krieg hatten der Staatskasse dermassen Silbermünze geraubt,
dass die Regierung sich bei eingetretenem vollkommenem Mangel
an Mitteln entschloss, eine auswärtige Anleihe zu contrahiren. Man
wandte sich zu diesem Zwecke an die grosse Bank der Republik
Venedig, erhielt aber von dort eine abschlägige Antwort. Da
wusste man sich denn anders zu helfen, und im Jahre 1656 wurden
neue Kupfermünzen geprägt, denen ein Zwangskurs al pari mit der
Silbermünze beigelegt wurde. Es war dies Mittel nichts anderes als
eine besondere Art von Papiergeld-Emanation, denn diese neue Kupfer-
assignate unterschied sich von eigentlichem Papiergelde nur darin,
dass jene Assignaten doch einigen materiellen Werth (Kupfer)
besassen, während die Papierassignate werthlos ist. Die Folgen der
Kupferassignaten von 1656 waren genau dieselben, wie man sie bei
jeder Papiergeldwirthschaft beobachten kann. Kaum hatte sich
jenes neue Kupfergeld, von welchem ein Rubel = einem Rubel in
Silber gelten sollte, während das wirkliche Verhältnis beider
Metalle wie 62 l /*: 1 war, im ganzen Reiche verbreitet, so trat auch
bereits (1658) seine Entwerthung und in deren Gefolge Theuerung
u. s. w. ein. Diese Entwerthung nahm natürlich ungemein schnell
zu, so dass man im Jahre 1663 schon gegen 17 Kupferrubel für
einen Silberrubel zahlte. 1662 war in Veranlassung der durch die
Entwerthung des Geldes hervorgerufenen Galamität ein Volksauf¬
stand ausgebrochen, der zwar mit Waffengewalt unterdrückt wurde,
aber doch von Einfluss auf die im Jahre 1663 erfolgte Einziehung
des gesammten Kupfergeldes und die Ausgabe neuen Silbergeldes
gewesen zu sein scheint. Eine eigentümliche, sonst wohl kaum
dagewesene Thatsache ist die, dass die Regierung das Kupfergeld
nicht etwa nach dem Kurswerte desselben in Silber, ja nicht ein-
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6 o
mal nach dem wahren Werthverhältnisse beider Metalle zu einander,
sondern nach einem viel niedrigeren Verhältnisse gegen Silber¬
münze eintauschte. Sie gab nämlich für ioo Rbl. Kupfer nur einen
Rbl. in Silber, während thatsächlich letzterer im Verkehre nur
17 Kupferrubel galt, und das damalige Werthverhältniss der beiden
Metalle Kupfer und Silber 1 : 62 Va war. Zugleich wurde auch noch
bestimmt, dass, wer sein Kupfergeld zu jenem von der Regierung
angesetztem Preise nicht an die Krone verkaufen wollte, dasselbe
einschmelzen, aber bei Strafe der Confiskation sich seiner nicht als
Geld im Verkehre bedienen durfte l .
Bei der nun folgenden Darlegung der Entwickelung des eigent¬
lichen (Papier) Assignatensystems, werde ich mich möglichst kurz
fassen, da über diesen Gegenstand ausführlichere Arbeiten existiren,
auf welche ich hiermit verweise 2 * * * * * .
Um von der Gestaltung des Assignatenwesens dem Leser ein
möglichst prägnantes Bild zu geben, fügen wir eine Tabelle bei,
welche uns die stete Zunahme der Assignatenmasse (Colonne 2 und
3), das Fallen und Steigen ihres Kurswerthes (Colonne 4), den
jeweiligen Werth der ganzen Assignatenmasse in Silber (Colonne
5) und den entsprechenden Wechselkurs auf Amsterdam (Colonne 7)
zeigt. Die Tabelle ist dem Gutachten des Grafen Speranski «Ueber
den Geldumlauf» entnommen; dasselbe wurde in seinem Nachlasse
gefunden und dem Departement der Reichsökonomie, als es die Ver¬
handlungen über die Reorganisation des Geldsystems im Jahre 1839
begann, zugestellt. Graf Speranski sagt von dieser Tabelle: «sie ist
nach positiv officiellen Quellen zusammengestellt» 8 .
1 Eine genaue und ausführliche Darlegung dieser^Kupfergeld-Operation findet man
bei A. Brückner: Kupfergeldkrisen. Dorpat 1867. p. 16 ff und 65 ff. Diesem Buche
sind auch meine Bemerkungen entnommen. — Cf. auch Lamanski: Geschichtlicher
Ueberblick des Geldumlaufs in Russland von 1650 — 1817, p. 68. (JlairaHCKitt: Hcto-
pHHecail onepin» AeHexHaro o6pameHift bt» Pocciu ci» I650—1817).
2 a)H. Storch: Cours d’Economie Politique. 1815; b) Jacob: Ueber Russlands Papier¬
geld. 1817; c) Lamanski: a. a. O.; d) A. Brückner: Die Geschichte des russi¬
schen Papiergeldes. (Hildebrand’s Jahrbücher fiir Nationalökonomie und Statistik.
Jena 1863. Bd. I, p. 48 ff.); e) W. Goldmann: Das russische Papiergeld 2. Aufl.
Riga 1866. (Auch in russischerUebcrsetzung erschienen).
Ä Journal des Dep. der Reichsokonomie 1839. Nr. 77, Bl. 358 ff.
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Tabelle über die Bewegung und den Werth der Assignaten.
(Zusammengestellt vom Grafen Speranski nach officiellen Daten.)
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1 Diese 761 Mill. waren von der Regierung in Umlauf gesetzt worden, bei der späteren Einzie¬
hung der Assignaten ergab sich aber die Summe von 832 Mill., von denen alsö # wenigstens 71 Mill.
gefälscht waren, sie wurden aber alle von der Regierung eingetauscht. Die Angaben Über die Maxi-
mal-Summe der Assignaten schwanken, die angegebenen Daten stammen vom Grafen Speranski. Der
Fürst Drutzki-Ljubetzki giebt dieselbe auf 836 Mill. an. Lamanski in seinem HcropKiecKil oiepai.
AeHexHaro oöpameHU auch auf 836 Mill. Dieselbe Summe auch A. Brückner in seiner «Geschichte
des russischen Papiergeldes» (Hildebrand’s Jahrbücher 1863, pag. 55). Goldmann scheint als Maxi¬
mum 700 Millionen anzunehmen, cf. sein «Russisches Papiergeld*, p. 39.
3 Dieser Kurs ist zu niedrig, man kann daher annehmen, dass es ein Versehen des Abschreibers
war und nicht Irrthum Speranski’s; dafür spricht auch der Werth des Bancorubels von 9 StÜver, die
etwa 24 4 /s Kop. Silber gleichkommen. Dieser letztgenannte Kurs ist auch entschieden der niedrigste
gewesen, ihn finden wir auch bei Jacob «Ueber Russlands Papiergeld» p. 147 angegeben. Derselben
Meinung sind auch Lamanski und Goldmann a. a. O.
3 Dieser Durchschnittskurs ist falsch, woran wohl der Fehler von Punkt 2 Schuld ist
1 Nach Speranski’s Rechnung müsste hier rund 595 Mill. stehen, nämlich 76 1 — 166 Mill.
(Spalte 3 und 2). Die Angabe von 595^776,310 ist aber jedenfalls die richtige, denn dieselbe Summe
wird im Manifeste vom 1. Juni 1843, Nr. 16,903, Punkt I. angeführt (cf. Abschnitt III).
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t)ie erste Emission der Assignaten erfolgte im Jahre 1769 auf
Grundlage des Manifestes vom 29. D.ecember 1768 (Nr. 13,219);
als Grund dieser Massregel wurde daselbst angeführt, dass das
Kupfergeld sich für den Verkehr und namentlich für die Ueber-
sendung von Ort zu Ort wenig eigne. Diese ersten Reichs-Banco-
Assignationen waren ein reines Geldsurrogat, sie hatten keinen
Zwangskurs, sollten in ihrem ganzen Werthe durch klingende Münze
gedeckt sein und besassen noch obendrein Steuerfundation. Sie
lauteten auf «gangbare Münze» (xoAjreeio mohctoio), und waren
gegen solche an den zu diesem Zwecke besonders gegründeten
Einwechselungskassen zu St. Petersburg und Moskau jeder Zeit
einlösbar. Seit dem Ukas vom 30. März 1764 (Nr. 12,116) galten
als gangbare Münzen: Gold, Silber und Kupfer, doch existirte
zwischen den beiden letzteren Metallen kein besonderer^bestimmter
Kronskurs. Das Kupfergeld wurde in seinem Preise durch seinen
verhältnissmässig hohen Metallwerth (16 Rbl. aus dem Pude Kupfer)
gehalten; es war auch nicht eine sehr grosse Quantität davon im Ver¬
kehr, zumal sich auch Silbermünze in grosser Menge in Umlauf
befand; — es mussten ja alle Zollabgaben in Silber entrichtet Wer¬
dern Trotzdem dass die Ausgabe der Assignaten bald zur Bestreitung
laufender Staatsausgaben benutzt wurde, hielten sie sich doch in
ihrem Kurse, weil sie von der Krone bei allen Zahlungen entgegen¬
genommen wurden und die in Umlauf befindliche Menge derselben
den Bedarf nicht überstieg. Im Jahre 1786 trat durch das Manifest
vom 28. Juni (Nr. 16,407) eine Veränderung ein: die beiden Ein¬
wechselungskassen wurden zu einer Assignationsbank vereinigt und
der Einwechselung überhaupt mit keinem Worte mehr erwähnt.
Mit, dem Aufhören der faktischen Einlösbarkeit der Assignaten
stützte sich nunmehr ihr Werth allein auf ihre Steuerfundation und
das Versprechen der Regierung, dass die Menge der ausgegebenen
Assignaten die Summe von 100 Millionen Rbl., die etwa der ganzen
Jahreseinnahme der Krone gleich kam, nicht übersteigen würde.
Die alten Assigpaten von 1769 wurden bei dieser Gelegenheit gegen
neue eingetauscht. Obgleich aber letztere einen ganz anderen Cha¬
rakter hatten, als die ursprünglichen, fand doch die Regierung es
iiir nöthig, auch bei diesen die alte Aufschrift: «dem Vorzeiger
der Assignate zahlt die Assignationsbank x x Rubel in gangbarer
Münze» zu belassen. Der Grund dazu liegt auf der Hand: die alte
Assignate, als einlösbare Note, hatte im Laufe der 16 Jahre ihres
Bestehens allgemeines Vertrauen erworben — dieses wäre aber bei
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—*_
einer Veränderung der Aufschrift sofort erschüttert worden. In der
That war demnach durch (das Manifest vom Jahre 1786 eine neue
Art Assignaten geschaffen worden, die mit den ursprünglichen nichts
als die Aufschrift gemein hatten.
In der Entwickelung des Assignatenwesens muss man drei Perio¬
den unterscheiden, wie sie uns die erwähnte Tabelle des Grafen
Speranski verdeutlicht.
Die erste Periode, welche als die Periode des Umlaufs der Assig¬
naten al pari mit dem Silber bezeichnet werden kann, zeigt sonst
nichts Aussergewöhnliches. Sie umfasst 16 Jahre, von 1769—1786,
d. h. die Zeit der einlösbaren Assignaten, und ihre Gesammtmenge
betrug 40 MilL Rbl.
Die zweite Periode, die Periode des beständigen Sinkens der
Assignaten in ihrem Werthe, beginnt im Jahre 1787, ein Jahr nach
der Vermehrung der vorhandenen Anzahl um 60 Mill. Rbl. In den
beiden darauf folgenden Jahren hatten die Assignaten bereits 9 pCt.
ihres ursprünglichen Werthes in Silber eingebüsst; als nun 1790
zu den im Umlauf befindlichen* 100 Mill. noch' 11 Mill. neue hinzu¬
kamen, fiel der Werth der Assignaten sofort noch um 4 pCt. Von
nun an sank der Kurs der Assignaten mit jeder neuen Vermehrung
derselben beständig, dabei fand aber zwischen der jedesmaligen
Vermehrung der Assignatenmenge und dem nachfolgenden Fallen
des Assignatenwerthes kein entsprechendes, bestimmtes Verhält¬
nis statt. Das konnte auch nicht der Fall sein. Wenn die ver¬
mehrte Ausgabe auch die Hauptursache des Sinkens war, so wirkten
dabei doch noch viele andere Factoren mit, wie z. B. Kriegszeiten,
die Gestaltung des auswärtigen Handels und des Wechselkurses,
der Volkswohlstand, das Umlaufsgebiet der Assignaten u. s. w. Das
Fallen der Assignaten wurde auch noch dadurch beschleunigt, dass
die Regierung zur Bestreitung extraordinärer Ausgaben, wahr¬
scheinlich zur Kriegsführung, klingende Münze unumgänglich
brauchte und zu diesem Zwecke, wie Fürst Drutzki-Ljubetzki in
seinem Gutachten über die Beseitigung des Volks-Agio hervorhebt,
Beamte mehrere Jahre nacheinander im Innern des Reiches herum¬
reisen Hess, um Gold und Silber mit Assignaten aufzukaufen 1 .
Es liegt nicht in meiner Absicht hier die Folgen zu schildern,
welche die Entwerthung der Assignaten für die Volkswirtschaft
hatte, sie sind ja überall dieselben und von der Theorie des Papier¬
geldes hinlängüch verallgemeinert worden.
1 J. d. Dep. d. Reichsökon. 1839 Nr. 77.
\
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<55
Im Jahre 1815 erreichten die Assignaten ihren tiefsten Stand,
der Bancorubel galt 24 l j$ Kop. Silber 1 , und nicht, wie Graf Spe-
ranski in seiner Tabelle angiebt, 20 Kop. 2 , hiernach musste man
für einen Silberrubel 413 Kop. Banco zahlen; der Assignatenrubel
galt also nicht einmal ein Viertel seines ursprünglichen Werthes
in Silber.
Diese zweite Periode umfasste 28 Jahre, die Zeit von 1787—1815.
Die wichtigsten Gesetze, welche während dieser zweiten Periode
erlassen worden sind und an welche man die Hoffnung knüpfte,
dass sie eine Hebung der Assignaten erzielen, oder doch wenigstens
ein ferneres Sinken derselben verhindern würden, waren folgende.
Durch das Manifest vom 2. Februar 1810 (Nr. 24,116) wurde
bestimmt, alle fernere Ausgabe von Assignaten einzustellen; damit
aber die, namentlich durch die grossen Kriege veranlassten erhöhten
Staatsausgaben durch regelmässige Staatseinnahmen gedeckt werden
könnten, wurden gleichzeitig fast alle Abgaben erhöht. In den Mani¬
festen vom 13. April (Nr. 24,197), 27. Mai (Nr. 24,244), 20. Juni
(Nr. 24,264), 29. August (Nr^ 24,333) unc * l 9 • December (Nr. 24,465)
desselben Jahres wurde bekannt gemacht, dass die Gesammtmenge
der in Umlauf befindlichen Assignaten 577 Mill. betrage; dass zur
Verminderung der Staatsschulden Verkäufe von Staatsdomainen
stattfinden und zur Einlösung von Assignaten innere Anleihen bis
zum Betrage von 100 Mill. Rbl. in Assignaten eröffnet werden soll¬
ten, und dass der Silberrubel gegenwärtigen Gepräges und Werthes
zum gesetzlichen und unveränderlichen Preismaass (zur Münzeinheit)
alles im Reiche kursirenden Geldes festgesetzt werde. Durch das
Manifest vom 11. Februar 1812 (Nr. 24,992) wurden die Abgaben, um
die Schuldentilgung und die Assignateneinziehung zu beschleuni- ^
gen, nochmals erhöht. — Doch sistirten die Manifeste vom 9. April
(Nr. 25,080) und vom 17. October 1812 (Nr. 25,449) die meisten
dieser Massregeln, denn sie enthielten die Bestimmung, dass im gan¬
zen Reiche alle Rechnungen und Zahlungen auf Assignaten lauten
und in ihnen bezahlt werden mussten. Hiermit wurden die Assig¬
naten zur einzigen Reichsmünze erhoben, d. h. es gab von nun ab
in Russland nur Papiergeld.
Die dritte Periode, die Periode der beständigen Kursbesserung
der Assignaten, beginnt mit dem Jahre 1815. Soweit sich dieHe-
1 v. Jacob a. a. O. p. 147; Lamanski a. a. O. p. 1555 Goldmann a. a. O. p. 39.
1 cf. Anmerkung 2 der Tabelle.
Bus. Beta«. B4. VII* e
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66
bung der Assignaten auf dieses und das folgende Jahr bezieht, ist
sie von keinen besonderen Regierungsmassregeln abhängig, dage¬
gen aber wohl seitdem Jahre 1818. Das Manifest vom 1 6. April 1817
(Nr. 26,791) hatte nämlich bestimmt: die durch den Krieg ein¬
gestellte Schuldentilgung und Assignateneinziehung, wie sie durch
das Manifest von 1810 befohlen war, wieder aufzunehmen, und die
Verminderung der in Umlauf befindlichen Assignatenmenge so lange
fortzusetzen, bis der Werth des Assignatenrubels wieder al pari
mit dem Silberrubel stände. Um die Einziehung der Assignaten
sofort in’s Werk setzen zu können, wurde eine Anleihe ausgeschrie¬
ben, deren Zinszahlung und Amortisation mit den 30 Mill. bestritten
werden sollten, welche für die Einlösung der Assignaten aus den
Reichseinnahmen auszuscheiden seien. Die eingezogenen Assigna¬
ten wurden durch öffentliche Verbrennung vernichtet.
Von nun an beginnt ein stetes Steigen des Werthes der Assignaten.
Mit den allgemeinen Missständen, welche die Hebung eines tief und
lange entwertheten Papiergeldes im Gefolge hat, macht uns aber¬
mals die Theorie des Papiergeldes bekannt, weshalb ich auf diesel¬
ben nicht näher «inzugehen brauche, und verweise nur noch in die¬
ser Beziehung, wie auch in Betreff der Nachtheile des Sinkens von
Papiergeld mit besonderer Genugthuung auf die Erörterungen des
Grafen Cancrin, welche mit zu den besten Partien seines «Weltreich¬
thum» 1 und seiner «Oekonomie der menschlichen Gesellschaften »^ge¬
hören. Einen Missstand aber hatte die Hebung des Assignaten-
werthes in Russland zur Folge, wie er wohl noch nirgends beobach¬
tet worden ist, es war dies die Entstehung und Ausartung des soge¬
nannten Volks-Agio. Ich habe dieser eigenthümlichen und wohl
einzig in ihrer Art dastehenden Erscheinung in dem wirtschaft¬
lichen Leben eines Volkes eine eingehende Erörterung in einem
folgenden Abschnitte gewidmet. Da wir im Laufe des Reformver¬
suches des Geldwesens, mit welchem wir uns jetzt beschäftigen
wollen, wiederholt finden werden, dass man des Volks-Agio als
eines Krebsschadens erwähnt, so verweise ich ein für alle Mal hin¬
sichtlich Dessen, was das Volks-Agio betrifft, auf den erwähnten\
Exkurs. (Fortsetzung folgt.)
i Weltreichlhum, Nationalreichthum und Staatswirthschaft. München 1821^.46-79.
a Die Oekonomie der menschlichen Gesellschaften und das Finanzwesen. Stuttgart
1845, P- 113-138-
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Der Alexander-Garten in St. Petersburg.
Von
Dr. E. Regel.
Einige Mittheilungen über den Alexander-Garten in St. Peters¬
burg gab der Referent im ersten Bande (pag. 177 ff.) der «Russi¬
schen Revue», zur Zeit als die Arbeiten für die Anlage des Gartens
in vollem Gange waren.
Gegenwärtig, wo alle diese Arbeiten vollendet sind, dürfte ein
Nachtrag, gleichsam als Ergänzung jenes ersten Artikels, einiges
Interesse bieten.
Ausser den 17,000 [DFaden 1 Flächenraum, welchen der Alexander-
Garten einnimmt, wurden die Boulevards, welche die Admiralität
umgeben, noch in die Anlage hineingezogen und neu hergestellt,
so dass der ganze Flächenraum des Gartens jetzt 21,600 □ Faden
oder ungefähr 9 Dessjatinen beträgt.
Der Kostenanschlag für die Anlagen des Gartens (17,000 □ Faden)
allein betrug 95,000 Rbl. Ausserdem ward aber auch noch der Bou¬
levard aus der gleichen Summe hergestellt und doch waren von den,
von der Stadtduma eingezahlten 95,000 Rbl. nach Zahlung aller
Arbeiten und Anschaffungen noch etwas über 12,000 Rbl. als Ueber-
schuss geblieben.
Die Kanäle zum Abzug des Wassers, die Wasserleitung, die
Wasserbassins, von denen eines im Laufe dieses Jahres ausgeführt
werden sollte, und endlich der eiserne Zaun um den Garten, waren
von Anfang an aus der vom Gartenbauverein vorgestellten
Kostenberechnung ausgeschlossen, indem die Ausführung dieser
Arbeiten Von der Duma direkt abgegeben wurde. Dagegen wurden
aus der nur für die Anlage des Gartens bestimmten Summe die
Ausgaben für Nivellirung, die Lockerung des festen aus Schutt
bestehenden Bodens auf i 1 /* Arschin besorgt; ferner die Verthei-
lung und das Auffahren des gelockerten Bodens nach dem Nivel¬
lement, nachträgliche Vermischung der aufgefahrenen Erde mit dem
Untergrund, Anschaffung von Erde, Schutt, Sand, Anlage der
Wege und Rasenplätze, Anschaffung der Pflanzen und Beflanzung,
Anschaffung von 115 eisernen Gartenbänken, einer Verpflanz¬
maschine für grosse Bäume, von Walzen und allen für die Gärtner
nothwendigen Instrumenten, Herstellung eines provisorischen Zau¬
nes um den Garten, Ausführung mehrerer kleiner Baulichkeiten etc.
Gepflanzt wurden:
320 grosse Bäume von Vs — 1 Fuss Durchmesser des Stammes.
4,940 Bäume, wie man solche in erster Stärke aus den Baum¬
schulen bezieht.
* 1 Faden = 7 Fuss engl.
5 *
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68
I2,6 oo grössere und kleinere Sträuchen
4,000 Stück perennirende Pflanzen in einigen Blumengruppen und
in der Steinpartie des Hügels.
1,000 Stück Florblumen in die Blumengruppen.
Gute Gartenerde ward im Ganzen 3179 Kubikfaden (7 Fuss engl,
im Kubikmaass) angefahren.
684 Kubikfaden Schutt ward ziir Bildung der Wege verwendet.
Ferner: tausende von Fuhren gewöhnlichen Schuttes zur Bildung
des Hügels und der von diesem ausgehenden Anschwellung der
nach dem Hügel ansteigenden Rasenplätze; lur die Wege wurden
ausserdem verwandt 2 5 Kubikfaden rother Sand und 21 */* Kubik¬
faden feiner Kies für den Reitweg. Zur Bildung der Rasenkanten
gingen auf 535 □ Faden Rasen.
Das obenerwähnte ausserordentlich günstige Resultat in Bezug
auf die Herstellungskosten ward dadurch erreicht, dass:
a. Auf Befehl des Herrn Ministers der Reichsdomänen aus den
Wolkow’schen Baumschulen, aus dem Kaiserlichen Botanischen Gar¬
ten, aus dem Forstcorps undaus der Akademie zu Petrowsky ein
grosser Theil der Bäume und Sträucher nur gegen Ersatz der
Transportkosten geliefert wurden.
b. Die Aufsicht über Ausführung der Arbeiten und Annahme
der Materialien von Seiten der Kaiserlichen Gartenbau-Gesellschaft
umsonst geführt wurden.
Die Anlage des Gartens begann im Herbste 1872, ward im
Frühjahre 1874 vollendet und am 8. Juli 1874 fand die feierliche Ein¬
weihung und Eröffnung des Gartens durch Sr. Majestät den Kaiser
statt, wobei Sr. Majestät und Sr. Kaiserliche Hoheit der Grossfiirst
Konstantin Nikolajewitsch geruhten je einen Eichbaum einzupflanzen.
Seit seiner Eröffnung ist der Alexander-Garten täglich von Tausenden
von Spaziergängern im Sommer und Herbst besucht worden, und es hat
sich schon allgemein die Ueberzeugung Bahn gebrochen, dass gerade
die, der Lokalität angepasste Umwandlung des früheren Peterplatzes
den Eindruck des dort errichteten Monumentes Peter’s des Grossen
nicht nur nicht beeinträchtigt hat, sondern dass dasselbe gegenwärtig
in seiner grossartigen Einfachheit und genialen Auffassung viel
schöner hervortritt als früher, sowie dass die freundliche niedrig
gehaltene Umgebung desselben das Beschauen desselben wesentlich
erleichtert und die Zahl der Bewunderer bedeutend vergrössert hat.
Ebenso hat sich die, besonders von Architekten zuvor ausge¬
sprochene Befürchtung, dass der niedrige Hügel gegenüber dem
Monumente der Wirkung desselben schaden würde, in keiner Be¬
ziehung bewährt, denn die ganze allmähliche Erhebung des Hügels
mit seinen grünen Rasenflächen und niedrigen Bosquetpartien auf
der einen, und das am Fusse mit grünen niedrigen Bosquetpartien
abgedeckte mächtige Senatsgebäude auf der anderen Seite, dienen
gerade dazu, das Denkmal wie in einen Rahmen gefasst, schön
und grossartig hervortreten zu lassen. Der Hügel aber darf, ohne
Uebertreibung, als einer der schönsten Punkte innerhalb der Stadt
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6g
bezeichnet werden, der einen herrlichen Blick auf unsere nordische
Metropole gewährt. Im Süden erhebt sich die Isaakskirche, welche
die Baumpflanzungen jetzt schon theilweise, später aber ganz ein¬
rahmen werden, so dass dieser stolze majestätische Bau, in seinem
wunderbar schönen Ebenmass aller Theile und seiner kolossalen
Grösse, abgegrenzt von allen anderen Gebäuden der Stadt, wie
nirgendswo anders vortheilhaft und grossartig jetzt schon hervor¬
tritt und später noch mehr hervortreten wird. Nach Westen ge¬
währt der Hügel den Blick auf das Monument Peteris des Grossen,
nach Nordwesten, Norden nnd Nordosten aber die Aussicht auf die
Newa, deren krystallheller Wasserspiegel von der Nikolaibrücke
bis zur Festung, nebst den die Ufer umsäumenden Gebäuden von
Wassili-Ostrow, von hier aus übersehen werden kann.
Die Abhänge des Hügels selbst sind theils — nach Norden und
Osten — mit Tannen bepflanzt, welche die Aussichten einrahmen,
theils mit anderen Holzgewächsen, und überall da, wo der Blick nicht
begrenzt werden darf, ziehen sich die Rasenplätze bis zur Höhe des
Hügels oder es umsäumen denselben Steinpartien, durchschnitten
von schmalen Wegen. In diesen Steinpartien wachsen die schö¬
neren ausdauernden Stauden der Gebirge Sibiriens, des Kaukasus
und der europäischen Alpen.
Wer den Alexander-Garten besucht hat, den hat wohl auch die
Mannigfaltigkeit der Baum- und Strauchgewächse, die hier ganz gut
gedeihen, erfreut. Litten doch in dieser Beziehung die meisten
Gärten in und um St. Petersburg unter dem Eindrücke einer grossen .
Einförmigkeit. Einer unserer schönsten Bäume des Nordens, die
Birke, herrscht in den meisten Anpflanzungen in so bedeutendem
Maasse vor, dass durch den Mangel an Abwechselung, der durch die
Leichtigkeit und die zierliche grazile Verästelung der Zweige der¬
selben bedingte pittoreske Eindruck dieses Baumes, zur langweiligen
Eintönigkeit herabsinkt. Der Alexander-Garten, dessen Ausführung
von Seiten der Kaiserlichen Gartenbau-Gesellschaft aber nur deshalb
übernommen ward, um einerseits dem Publikum zu zeigen, welche
Menge verschiedenartiger Holzgewächse und ausdauernder Stauden
im Klima von St. Petersburg noch gut im Freien überdauern, sowie
um andererseits in der Art seiner Anlage und Unterhaltung für die
fernere Anlage von öffentlichen oder Privatgärten ein Muster zu bie¬
ten, wird diesem Zwecke in hohem Maasse genügen. Der Augen¬
schein lehrt hier jedem Unbefangenen, welchen vorzüglichen Effect
die richtige Mischung und der richtige Contrast der Baumgruppen
untereinander, die Umsäumung der Bosquetpartien mit den in den
verschiedensten Farben den Sommer hindurch reichlich blühenden
Strauchgewächsen, und das frische Grün der Rasenplätze hervorzu¬
bringen vermögen.
Wir halten es deshalb für geeignet, zunächst auf dieses lebendige
Material, welches hier in St. Petersburg, auf Grund der vom Refe¬
renten seit 20 Jahren im Kaiserl. Botanischen Garten und in seinen
Privatbaumschulen gemachten Erfahrungen, zum ersten Mate in
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grösster Mannigfaltigkeit zur Verwendung kam, von der praktischen
und allen Gartenfreunden interessanten Seite etwas näher einzugehen
und die im Alexander-Garten gewonnenen Resultate zu besprechen*.
1. Nadelhölzer. Starke Exemplare-von 15— 30 Fuss Höhe sind
überhaupt sehr schwer mit gutem Erfolge zu verpflanzen.
Von diesen sind die im Winter mit Frostballen verpflanzten Exem¬
plare am Besten fortgekommen. Kleinere mit Ballen den Baum¬
schulen entnommene Exemplare sind durchschnittlich mit wenig Ver¬
lust angewachsen, wenn dieselben im Frühjahre vor dem Beginne des
Triebes oder unmittelbar nach Beendigung des Triebes Mitte Juli bis
Mitte August gepflanzt wurden.
Im Herbste gepflanzte Exemplare sind durchschnittlich schlecht
gewachsen und Sommerpflanzungen, welche im Herbste aus uner¬
warteten Ursachen nochmals verpflanzt wurden, gingen sämmtlich
ein. Ebenso war dies der Fall mit den aus weiterer Entfernung im
Sommer und ohne Erdbällen bezogenen Tannen- und Lebensbäumen.
Nadelhölzer, welche im Sommer gepflanzt wurden, sollten im
ersten Winter mit Bastmatten oder Zweigen anderer Tannen lose
eingebunden und diese Umhüllung nicht eher im nächsten Frühjahre
entfernt werden, als bis keine Fröste mehr zu besorgen sind und der
neue Trieb beginnt.
Die eigentliche Winterkälte schadet denselben nämlich nicht, dage¬
gen ist vom Februar an der wechselnde Einfluss von der höheren Ta¬
gestemperatur unter Einfluss von Sonnenschein mit niedrigen Nacht¬
temperaturen schädlich. Treten dazu im April, zur Zeit wenn das Le¬
ben im Baume sich zu regen beginnt, noch kalte trockene Luftströme,
dann werden an allen aus Nordamerika und Sibirien stammenden
Arten, vorzugsweise aber an den im Vorjahre verpflanzten Exem¬
plaren, alle Blätter gebräunt und Exemplare, die im Jahre vorher
schon schöne junge Wurzeln gezogen, gehen nachträglich noch ein.
Man entferne daher die Umhüllung nicht eher als gegen Ende April.
Bei Anpflanzung von kleineren Exemplaren Von 2—4 Fuss Höhe,
welche, wenn mit Ballen verpflanzt, die sichersten Resultate geben,
wende man statt Einbinden ein Umstecken mit Tannenzweigen an,
welche letztere über den Exemplaren zusammengebunden werden.
Solche leichte luftige Deckung schützt genügend und besser vor
dem verderblichen Einflüsse der Frühjahrssonne und der kalten
Winde, und ist dem Einbinden mit St oh oder Bastmatten noch
vorzuziehen. Solche Art des Schutzes wende man bei uns vorzüg¬
lich bei den Lebensbäumen (Thuja occidentalis und Th. Warreana),
dann bei den Föhren, Fichten und Tannen Sibiriens und Nordame¬
rikas an, welche bei uns noch aushalten, so also bei Pinus Cembra
L., P. Strobus L., Picea alba Lk., P. rubra Lk., P. nigra Lk., Abies
sibirica Ledb., A. Fraseri Lk. und A. balsamea Lk. — Unsere ge¬
meine Fichte (Picea excelsa) und Föhre (Pinus sylvestris), sowie
die Fichten der höheren Gebirge (Pinus Mughus Scop., P. Pumilio
Hänke und P. uncinata Ramond), haben diesen Schutz nach dem
Verpflanzen weniger nothwendig. Dem Walde entnommene grössere
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Exemplare von Picea excelsa, selbst wenn sie mit möglichst viel Bal¬
len ausgegraben werden, wachsen stets nur zum kleinen Theil an.
Endlich ist in Bezug auf die Anpflanzung von Nadelhölzern im Gar¬
ten noch zu bemerken, dass die Erde eine lockere Lehm- oder auch
schwarze Moor- oder Haide- oder Lauberde, letztere 3 Sorten aber ge¬
mischt mit lehmiger Erde, erstere gemischt mitHumus, sein kann, und
dass die Nadelhölzer um so besser gedeihen und annehmen werden,
je mehr die Erdmischung zu gleichen Theilen aus Lehm und den
genannten Humusarten besteht. Eine nur sehr wenig mit alter
Düngererde vermischte,Erde ist ebenfalls zum Gedeihen der Nadel¬
hölzer nicht schädlich, ja in armen sandigen Bodenarten ist eine
schwache Düngung mit recht altem verrottetem Dünger sogar
nützlich. Wo aber der Boden stärker gedüngt, wie z. B. auf zum Gar¬
ten umgewandeltem Gemüseland, oder auf von Gemüseland angefah¬
rener Erde, da nehmen Nadelhölzer nicht an; sondern sterben ab.
Leider mussten wir diese Erfahrung auch vielfach im Alexander-
Garten machen. Die dort angeführte Erde bestand nämlich nur
zum kleineren Theile aus einer guten nahrhaften Lehmerde, weil die
letztere Erde, bei dem enormen Bedarf, nicht schnell genug aus
weiteren Entfernungen angefahren werden konnte. Der grösste
Theil der Erdlieferungen bestand aber aus einer fetten schwarzen
Erde aus alten stark gedüngten Gemüsegärten. Wo nun die letztere
Erde vorherrschte, sind die Tannenpflanzungen im Allgemeinen
schlecht gediehen, d. h. die Bäume wuchsen i_m ersten Jahre an
und starben im zweiten ab, wo dagegen vorzugsweise Lehmerde
angelegt war, gediehen solche viel besser.
2. Laubbäume. Für die Mehrzahl der Laubbäume ist der Herbst
während und nach dem Laubfalle und das Frühjahr bis zum Beginne
des Triebes die geeigneteste Zeit zum Verpflanzen. Wenn aber
im Spätherbst Nachtfröste und bei Tage so niedrige Temperaturen
eintreten, dass die Oberfläche des Bodens nicht mehr aufthaut,
dann soll man nicht mehr verpflanzen. Je früher man im Herbste
gleichzeitig mit dem Beginn des Laubfalles die Pflanzungen aus¬
führt, desto sicherer werden die Pflanzungen gedeihen. Eine Aus¬
nahme machen nur die baumartig gezogenen Pappeln und Weiden,
welche jn unserem Klima nur im Frühjahre vor Beginn des Triebes
gepflanzt werden sollten, da selbst unsere heimischen Weiden und
Pappeln bei Herbstverpflanzung mehr oder weniger leiden. Eichen
können zeitig im Herbste noch mit gutem Erfolge zur Pflanzung
benutzt werden, aber wenn sie erst im Spätherbste oder namentlich
bei beginnendem Frostwetter gepflanzt werden, so nehmen solche
sehr schlecht an. Im Frühjahre können die Eichen sowohl vor
Beginn des Triebes, wie auch wenn deren Vegetation schon etwas
begonnen hat, noch mit gutem Erfolge versetzt werden.
Eschen , Linden , Birken , Vogelbeeren , Ahorn , Ulmen , EUem , Sibiri¬
sche Aepfel, werden mit gleich gutem Erfolge im Herbste und Früh¬
jahre gepflanzt. Aesculus und andere zartere Arten nur im Frühjahre.
Lerchen im Frühjahre vor Beginn oder mit Beginn des Triebes.
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Grosse starke Laubbäume sind bei Winterverpflanzung am Besten
fortgekommen. Zu diesem Behufe werden die betreffenden Exem¬
plare im Herbste umgraben und mit dem beginnenden Frost¬
wetter wird der Ballen von oben und den Seiten durch Laubdeckung
geschützt.
Im Winter bei Schlittbahn und einer massigen Kälte, die nicht
unter—io bis —12° R. fällt, nimmt man dann das Verpflanzen auf
die zuvor bezeichneten Stellen vor, wo der Boden gleichfalls durch
Laub- oder Mistdeckung vor dem Eindringen des Frostes geschützt
wurde. Man hüte sich aber, tiefere Kältegrade längere Zeit auf
den entblössten Ballen und die gleichzeitig bloss gelegten Wurzeln
wirken zu lassen, denn bei Exemplaren, wo dies geschah, leiden
die Wurzeln und die Bäume wachsen nicht an. Einen der schönsten
Eichbäume, der zur Verpflanzung kam, gelang es z. B. nicht, wegen
des grossen Gewichtes seines Erdballens, mit der zum Heben ange¬
wendeten Maschine, aus der Grube auf den Schlitten zu heben.
Darüber blieb der Ballen unbedeckt eine Woche stehen und dieser
Baum ist nicht angewachsen.
Ausserdem war der Transport der mit Frostballen ausgehobenen
Bäume schwierig, weil dieselben nicht stehend transportirt werden
konnten, sondern wegen der vielfach zu passirenden Telegraphen¬
linien umgelegt werden mussten. Die ersten Bäume, die transpor¬
tirt werden sollten, rollten dabei mit den Ballen vom Schlitten her¬
unter, blieben, bis der Schlitten eine Einrichtung erhalten hatte,
damit Baum und Ballen sicher und fest lagen, 24 Stunden frei bei
starkem Frostwetter liegen, und auch diese sind nicht ange¬
wachsen, — während ausserdem alle anderen mit Winterballen ver¬
pflanzten Bäume sehr gut fortgewachsen sind.
Das zuerst vom Fürsten Pückler-Muskau in seinen Parks zu
Muskau und Branitz in grossartigem Maassstabe ausgeführte Ver¬
pflanzsystem, nämlich grosse Bäume im Frühjahre und Herbste
ohne Ballen, aber mit möglichst gut erhaltenen Wurzeln zu ver¬
pflanzen, gab bei uns weniger günstige Resultate, als das Ver¬
pflanzen derselben mit Frostballen, ist aber, weil einfacher und
leichter auszuführen, auch viel weniger kostspielig als das Letztere
Nach diesem Pücklerschen Systeme wurde im Alexander-Garten
im Frühlinge und Herbste verpflanzt. Die im Frühlinge auf diese
Weise umgepflanzten Bäume nahmen im Allgemeinen, ja selbst
wenn sie erst zu Anfang des Triebes gepflanzt wurden, besser an,
als die im Herbste gepflanzten. Wir bedienten uns dazu des nach
englischem Systeme unter Anleitung des Herrn Gartendirektors
Petzold in Muskau angefertigten Verpflanzwagen erster Grösse, von
16 Ctr. oder 48 Pud Gewicht. Die Anfertigung desselben in Muskau
kostet 230 Thaler und ist dieser Wagen jetzt im Museum der land-
wirthschaftlichen Geräthschaften (im Exercierhause, gegenüber dem
Winterpalais) ausgestellt. Man construirt aber in Muskau auch
1 Die Kosten für Ausgraben, Transport und Pflanzen der grösseren Bäume
mit Frostballen, schwankten zwischen 8—25 Rbl , je n*ch Grösse der Exemplare.
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mittlere und kleine Verpflanzwagen, — die mittleren von 12 Ct. =
36 Pud Gewicht zu 200 Thaler, und die kleinen von 8 Ctr. = 24 Pud
Gewicht zum Preise von 160 Thalern.
Nach unseren Erfahrungen würden wir die Verpflanzwagen mitt¬
lerer und kleinerer Grösse als viel leichter zu handhaben und noch
genügend stark empfehlen.
Diese Verpflanzwagen sind ausserordentlich einfach construirt,
da nur einfache Hebelkraft bei denselben in Anwendung kommt.
Ein solcher Wagen erster Grösse besteht aus einer starken eisernen
Achse von 8 Fuss 2 Zoll Länge, die von 2 starken, 5 Fuss 6 Zoll
hohen Rädern getragen wird. Auf der oberen Seite der Achse ist
aus starkem festem Eichenholz eine sich allmählich verschmälernde,
ungefähr 2 Fuss über die Achse sich erhebende Erhöhung (Trag¬
bock) angebracht, die in eine Art von Sattel endet, der stark ge¬
polstert und breit und dazu bestimmt ist, sowohl beim Ausbeben,
wie beim Transport das ganze Gewicht des Baumes zu tragen. Auf
der vorderen Seite ist mit der Achse eine starke, 15 Fuss lange
Deichsel verbunden und auf der entgegengesetzten Seite sind die
Ringe angebracht, an welche die Pferde angespannt werden. So¬
bald der zu verpflanzende Baum so gut als möglich, ohne die Wur¬
zeln zu stark zu beschädigen, umgraben und respective ringsum
bis auf die in die Tiefe gehenden Wurzel gelöst ist, wird derselbe
mit der der Deichsel entgegengesetzten Seite an den Baum so dicht
als möglich angeschoben. Nun stellt man die Deichsel aufrecht an
den Baum empor und bindet* den Stamm des Baumes mit Stricken
sowohl auf das Tragkissen, wie weiter oben einige Mal an die
Deichsel an. Da wo der Stamm mit der Maschine auf diese Weise
verbunden wird, muss er zuvor fest und dicht mit Emballage oder
Bastdecken umwickelt werden, und die Befestigung selbst mit den
Stricken muss sehr fest und solid gemacht werden, denn wenn dies
versäumt wird und der Baum sich rühren kann, wird namentlich
beim Verpflanzen im Frühjahre, wenn der Baum schon in Saft ist,
die Rinde abgequetscht, so dass der Baum zum Verpflanzen un¬
tauglich wird.
Gleichzeitig mit dem Befestigen des Stammes an das Tragkissen
und die Deichsel, wird auch oben im Baume ein langer Strick befes¬
tigt, an dem nun nach der Seite der Deichsel zu, von 10—40 Mann,
je nach derGrösse des Baumes, ruckweise gezogen wird, bis auch die
unteren Wurzeln des Baumes sich lösen, so dass derselbe auf den
Wagen zu liegen kommt, auf dem er nun durch Pferde bis zu der
Stelle geschafft wird, wo für denselben schon das Pflanzloch ausge¬
graben ist. Mit Hülfe der oben befestigten Stricke wird dann der
noch immer auf der Maschine liegende und befestigte Baum aufrecht
in die Pflanzgrube gestellt und so viel Erde eingefüllt, dass er fest
steht, bevor die ihn mit der Maschine verbindenden Stricke gelöst
-werden. Ohne diese letztere Vorsichtsmassregel würde der Baum
beim Ablösen von der Maschine sich rühren und die Rinde würde
stark beschädigt werden. Hierauf wird die Maschine abgefahren
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und der Baum gepflanzt. Während der Operation des Einpflanzens
muss derselbe von Arbeitern mittelst der oben befestigten Stricke
gehalten, sowie so oft hin und hergezogen und Erde ein und unter
gebracht werden bis er hoch genug steht, und der Stamm eine voll¬
kommen senkrechte Richtung besitzt, worauf die Erde überall gleich-
mässig zwischen die Wurzeln eingefüllt wird. Beim Verpflanzen im
Frühjahre erfolgt ein starkes Begiessen, beim Verpflanzen im Herbste
ist das aber nicht nothwendig. Dass der Baum wieder genau nach
den Himmelsgegenden gepflanzt werden müsse, wie er zuvor ge¬
standen, das ist eine viel verbreitete Ansicht und ich wurde sehr oft
darüber befragt, — es ist aber nach meinen Erfahrungen ganz ohne
Einfluss, ob man ihn wieder genau in der gleichen Richtung oder in
beliebig anderer Richtung einpflanzt. Was von Einfluss ist, das ist
das sorgfältigste Ausgraben der Wurzeln, sorgfältigste Befestigung,
sorgfältiger Transport mit so viel Leuten als nothwendig sind, um
die Krone des Baumes zu halten, dass diese während des Transpor¬
tes nicht leidet, sorgfältiges Ausbreiten der Wurzeln in der genügend
weiten Pflanzgrube, sorgfältiges Einfüllen der Erde, das Einpflanzen
in der Höhe, dass die obersten abgehenden Wurzeln gerade nur mit
Erde bedeckt sind und endlich wiederholtes starkes Begiessen nach
dem Einpflanzen im Laufe des ersten Frühjahrs und Sommers.
Was die Maschine anbetrifft, so ist die grösste derselben nur für
ganz grosse Bäume von mehr als i Fuss Stammdurchmesser zu em¬
pfehlen; für gewöhnliche grosse Bäume von Va Fuss Stammdurch¬
messer sind, wie wir schon erwähnten, die mittleren und die klein¬
sten Verpflanzmaschinen viel bequemer und besser geeignet.
Mit der Maschine und ohne Ballen zu verpflanzende Bäume werden
stets liegend transportirt. Die im Winter mit Frostballen zu ver¬
pflanzenden Bäume werden mit starken Lastschlitten, und wo es an¬
geht, aufrecht transportirt, da wo man aber zur Pflanzstelle zahlreiche
Telegraphenleitungen passiren muss, wie dies bei uns der Fall war',
da muss gleichfalls liegend transportirt werden, wozu man sich einen
längeren und breit gebauten Schlitten einrichten lassen muss, wo,
nachdem der Baum aufrecht auf den Schlitten gestellt ist, durch seit¬
lich einzusteckende feste, dicke Stangen, der Ballen vor dem Herab¬
rollen gesichert und hinten am Schlitten Stützen angebracht werden
können, auf welche der Stamm gelegt und befestigt werden kann.
Herr Hofgärtner Müller in Zarskoje-Sselo wendet die Winterpflanzung
mit Frostballen gleichfalls seit einer Reihe von Jahren mit gutem
Erfolge an.
Die Bäume und deren Verwendung im Garten bestimmen vor¬
zugsweise den Charakter des letzteren, sei es, dass sie partien¬
weise als Hainpflanzung oder als Bosquetpflanzung, oder als Einzel¬
bäume angewandt werden. Um geschlossene, von Anfang an effekt¬
volle Partien zusammenstellen zu können, muss man besonders in
einem öffentlichen Garten auch von Anfang an viel mehr Bäume
pflanzen, als später stehen bleiben können. Das ist auch im Alexan¬
der-Garten in so hohem Maasse geschehen, dass später kaum der
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zehnte Theil der jetzt zu Partien vereinigten Bäume bleiben darf.
Die Sache der Aufsicht und Unterhaltung eines solchen Gartens
ist es, sobald die Partien sich dichter schliessen, immer mehr und
mehr einzelne Bäume fortzunehmen, so dass die stehen bleibenden
Exemplare sich frei und natürlich entwickeln können. Versäumt
man es, dieses rechtzeitig auszuführen, dann schiessen alle die zu
dicht stehenden Exemplare zu hohen dünnen unten astlosen Bäumen
empor, die ihreA eigenthümlichen Charakter gar nicht ausbilden
können.
In einem Klima, wie im St. Petersburger, wo es viel länger als in
milderen Klimaten dauert, bis ein Baum zu einiger Stärke empor¬
wächst, da beobachtet man in den Garten-Anlagen im Allgemeinen
viel zu viel Pietät gegenüber den Bäumen, man kann sich nicht ent¬
schlossen, die zu dicht stehenden zu lichten, oder die sich auf
Kosten des Totaleffekts zu sehr verbreitenden Gruppen zu beschrän¬
ken, und bringt es dadurch schliesslich dahin, dass man in der gan¬
zen Anlage nur wenig schön entwickelte Bäume sieht, wie dies
leider das Schicksal der meisten Park-Anlagen ist. Die ursprünglich
in einen Garten angepflanzten grossen und starken Bäume sind
mehr dazu bestimmt, der ganzen Anlage Halt- und Stützpunkte
zu geben und einzelne Punkte herauszuheben. Später werden diese
grossen starken Exemplare von den im jüngeren Alter gepflanzten
überholt und diese letztere sind es, welche, durch entsprechende
zeitige Lichtung, die Haine schöner einzelner Bäume und die
Schattenpartien bilden müssen. Ein Garten, in welchem daher
nicht rechtzeitig verständig gelichtet und aufgeräumt wird, muss
bei sonst vollkommener Unterhaltung später den Eindruck der Ver¬
wilderung machen.
In unserem ersten Artikel über den Alexander-Garten gaben wir
ein kurzes Verzeichniss der für unser Klima wichtigsten Bäume.
Jenem kurzem Verzeichnisse wollen wir diesmal noch eine Art
und einige Formen nachtragen, die in unseren Gärten mit der Zeit
eine sehr wichtige Rolle zu spielen bestimmt sind.
Acer dascycarpum Ehrh ., (A. eriocarpum Mx.), ward von uns er¬
wähnt. Dieser herrliche Baum mit seiner weit ausgebreiteten Krone,
seinen tief handförmig gelappten und unterhalb weisslichen Blättern,
verdient es aber ganz besonders hervorgehoben zu werden. Der¬
selbe stammt aus Nordamerika und ist, wenn er erst einmal über
die erste Jugend hinaus ist, noch unempfindlicher gegen unsere
Winterkälte, als der gewöhnliche Berg-Ahorn (Acer platanoides
L.). Derselbe hat nämlich bei der Anzucht bei uns im Norden die
gleiche Eigenthümlichkeit, wie manches andere aus Nordamerika
stammendes Holzgewächs. Aus Samen erzogen, leiden die üppigen
Triebe, wie solche die 2- oder 3-jährige Pflanze bildet, von der
Winterkälte, ebenso die der amerikanischen Wallnussbäume (Juglans
cinerea u. nigra). Ist aber der Stamm erst gebildet und der Trieb ge¬
mässigt, dann leidetdieser prächtige Ahorn auch in den härtesten Win¬
tern nicht. Ferner sind von unserem gemeinen Bergahom , dem Acer
platanoides einige Abarten für unsere Gärten von hohem Werthe.
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7&
Ueber die buntblättrigen Abarten haben wir in Bezug auf
unser Klima noch kein vollgültiges Urtheil, denn es ist eine
eigene, in der Natur tief begründete Erscheinung, dass die bunt¬
blättrigen Abarten imjner viel empfindlicher, als die grünen Stamm¬
arten sind. So halten z. B. Ulmen, Sommereichen bei uns sehr gut
aus, die buntblättrigen Abarten derselben wollen aber unser Klima
nicht ertragen, — denn buntblättrige Pflanzen sind solche, in denen
eine Krankheitserscheinung (Umbildung des Chlorophylls) durch un¬
geschlechtliche Fortpflanzung mittelst Veredelung festgehalten
wird. Dass aber solch ein krankhafter Organismus der Ungunst
der äusseren Einflüsse weniger widerstehen kann als ein gesunder,
das liegt ja in der Natur tief begründet, da verhalten sich unsere
Pflanzen ganz wie die durch die Cultür verzärtelten Thierragen. —
Wenn wir nach dieser Abschweifung zum Berg-Ahorn zurück¬
kommen, so haben wir zu erwähnen, dass von demselben in der
allerneuesten Zeit eine Abart mit im jungen Zustande tief rothen,
aber auch später immer noch röthlichen Blättern erzogen worden,
der als Acer platanoides Schwedleri in den Gärten verbreitet ist und
auch bei uns sich noch als vollkommen dauerhaft erwies. Als erster
rothblättriger, bei uns ausdauernder Baum, hat diese Form einen
hohen Werth für unsere Gärten. Auch eine Form mit geschlitzten
Blättern des gemeinen Ahorn ist schön und dauerhaft.
3. Sträucher. Mit wenigen Ausnahmen werden alle Sträucher
ebenso sicher im Herbste, wie im Frühjahre gepflanzt. Nur einzelne
zartere Sorten, wie gefüllte Rosen, immergrüne Berberitzen etc.
pflanzt man besser im Frühjahre, als im Herbste. Wir geben in
Nachstehendem ein kurzes Verzeichniss der wichtigsten im Alexan¬
der-Garten angepflanzten Sträucher.
Amelanchier Botryapium DC. 10 — 15' hoher Strauch von dichtem
Wuchs. Weisse, massenhaft erscheinende Blüthentrauben im ersten
Frühjahre, süssliche, essbare, schwärzliche Beeren im Herbste.
Stammt aus Nordamerika und eignet sich auch zu Hecken.
Ampelopsis hederacea DC\ Der wilde Wein, als eine der besten
holzigen Schlingpflanzen für unser Klima. Nordamerika..
Azalea pontica L . Die gelbblumige Azalea des Kaukasus hält bei
uns noch gut aus, wenn sie gruppenweise in leichte moorige Erde
gepflanzt und im Winter mit Laub eingedeckt wird. Der starke
Wohlgeruch der Blumen zeichnet dieselbe ebenso sehr aus, wie deren
nah verwandte Arten mit weissen, rosarothen und röthlichen Blu¬
men, die aus Nordamerika stammen, wie A. nudiflora L., A. calon-
dulacea Mx., A. viscosa L. und die schöne, rothgelb blühende
A. chinensis Lodd., letztere in Japan heimisch und etwas zarter.
Die Berberitzen mit fallendem Laube sind im St. Petersburger
Klima noch alle hart und nur in besonders ungünstigen Wintern
frieren dieselben zumTheil zurück. Da ist die B. vulgaris L., oder die
gemeine Berberitze mit ihren zahlreichen Abarten, unter denen für
unsere Gärten als besonders schön hervorzuheben ist die Abart mit
schwarzrothen Blättern (B. vulgaris atropurpurea), dann die Form
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mit den röthlichen, gefurchten, sterilen Trieben und festeren klei¬
neren Blättern (B. vulgaris sulcata), und endlich die Form vom
Amur (B. vulgaris amurensis), welche noch einmal so grosse Blätter
als die Stammart besitzt. Von den Berberitzen mit immergrünen
gefiederten Blättern (Mahonien) halten B. Aquifolium L., B. repens
Lindl. und B. nervosa Pursh., alle drei aus Nordamerika, bei uns
noch ganz gut aus. Dieselben sind als die einzigen immergrünen
im St. Petersburger Klima noch dauerhaften Sträucher mit grossen
schönen Blättern zu nennen. Bilden bei uns nur i—3 Fuss hohe,
sich stark ausbreitende Sträucher, welche man in Gruppen oder ein¬
zeln frei in den Rasen pflanzt und im Winter mit Tannenreis deckt
oder umsteckt, damit unsere Frühjahrssonne deren Laub nach gut
überstandenem Winter nicht verderbe.— Von den gelbblumigen Ca -
ragana- Arten Sibiriens, hier Akazien genannt, halten alle aus. Von
ihnen ist C. arborescens Lam . als hoher Bosquet- und Heckenstrauch
allgemein bekannt und verbreitet. Niedriger und weit schöner ist
C. frutcscens DC. y von der eine grossblumige Abart (C. grandiflora
hört.) und eine zweite Abart mit hängenden Zweigen (C. frutescens
pendula) hochstämmig veredelt sehr zieren und auch im Alexander-
Garten häufig vertreten sind. Man verwendet beide vorzugsweise
als kleine Kugelbäume. Zu ähnlichem Zwecke dienen auch 2 klein¬
blättrigere Arten, Caragana pygmaea DC. und C. spinosa DC.
Von Comus alba L. ist vorzugsweise die Form mit korallenrothen
Zweigen zu empfehlen, namentlich da, wo man durch diesen rasch
wachsenden Strauch Sibiriens schnell etwas decken will.
Von Cotoneaster sind vorzugsweise C. laxiflora Lindl. mit schwar¬
zen Beeren und C. vulgaris Lindl. mit rothen Beeren, beide in Eu¬
ropa und Asien heimisch, als niedrige Sträucher für unser Klima zu
empfehlen. — Aus der Gattung Cytisus ist der in den Gärten West-
Europa’s viel verbreitete C. Laburnum für das St. Petersburger
Klima schon zu zart, dagegen halten von den Arten von niedrigem
Wuchs C. austriacus L., C. capitatus Jacq. y C. elongatus W. et K.,
C. hirsutus L etc., alle in dem mittleren Europa heimisch, noch
ganz gut aus, nur C. nigricans L. und C. sessilifolius L. frieren jähr¬
lich zum Schnee ab, blühen dann aber noch ganz gut. — Diervilla
(Calyptrostigma) Middendorffiana Trautv. et Mey aus dem nord¬
östlichen Sibirien, ist einer unserer schönsten harten Blüthen-
sträucher, mit grossen gelblichen, röthlich gezeichneten Blumen.
Aus der Gattung Elaeagnus ist nur der E. argenteus Pursh . mit
silberweissen Blättern, aus Nordamerika, bei uns noch als ganz
hart zu empfehlen. — Evonymus europaeus L. und E. verrucosus Scop .
sind 2 schöne hohe Sträucher, die im Herbste massenhaft schöne ro-
the Früchte tragen. — Genista tinctoria L., in den Gärten meist als
G.sibirica verbreitet, ist ein niedriger, reich goldgelb blühender Strauch
Europa’s und Sibiriens. — Hippophae rhamnoides L. t mittelhoher
Strauch, der im Geschiebe der Flüsse Europa’s und Sibiriens wächst,
und der mit seinen graugrünen, schmalen, weidenartigen Blättern
und den gelben essbaren Beeren im Herbste einen sehr guten Effekt
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;*
im öarten macht. — Lotticera alpigena Z. (Schweiz), Z. chrysantha
Turcz . (Dahurien), L. caerulea L. (Sibirien), Z. Maximowiczi Rupr .
(Mandschurei), L. Kuprechtiana RgL (Mandschurei), Z. tatarica
Z. (Südliches- Sibirien und Russland), Z. Xylosteum Z. (Europa),
sind alles schöne nicht schlingende Geisblatt-Arten, die in St. Pe¬
tersburg gut aushalten. Die schönste Art unter ihnen ist das
hoch und rasch wachsende tatarische Geisblatt, mit weissen,
blassrosa, rothen und dunkelrosarothen Blumen, die massen¬
haft erscheinen und dasselbe zu einem der schönsten Blüthen-
sträucher unserer Gärten stempeln. Z. Caprifolium Z. und Z. Perl-
clymenum Z. dagegen sind die beiden allbekannten und beliebten
halb schlingenden Geisblattarten mit wohlriechenden Blumen aus
Mitteleuropa. Noch härter als diese beide Arten ist das gleichfalls
schlingende, gelbblumige Geisblatt Nordamerika^, di z Lonicerapubes-
eens Sweet — Philadelphus , gewöhnlich wegen des starken Wohl¬
geruchs der Blumen «Jasmin» genannt, gehört zu den beliebtesten,
noch dauernden Sträuchern, und zwar halten sowohl die Formen des in
Europa, Asien und Nordamerika heimischen Pk. coronarius L (P.
nanus Mill., P. floribundus Schrad., P. hirsutus Nutt., P. latifolius
Schrad., P. tenuifolius Maxim., P. Schrenki Rupr., P. Satsumi
Sieb.), wie die, von dem ausschliesslich in Nordamerika vorkom¬
menden Ph. grandiflorus Willd. abstammenden Abarten (P. inodorus
L., P. laxus Schrad., P. speciosus Schrad., P. Gordonianus Lindl.)
bei uns aus, verlangen aber doch einen wasserfreien Boden und
geschützten Standort. — Potentilla fruticosa Z., die von den Steppen
Russlands durch Sibirien nach Nordamerika reicht, mit ihren Ab¬
arten und den, den ganzen Sommer hindurch unaufhörlich erschei¬
nenden Blumen, gehört zu den empfehlenswerthesten niedrigen
Sträuchern unserer Gärten. Ihr schliesst sich die weissblumige Poten¬
tilla des Altai (P. glabra Lodd.) würdig an. — Rhamnus catharticus
L. und R. Frangula Z. bewohnen Europa und Sibirien und sind
besonders für Stellen, wo andere Sträucher nicht mehr wachsen
wollen, wie z. B. unter Bäumen, als noch gut gedeihend zu empfeh¬
len.— Von den zahlreichen Ribes-Arten gedeihen leider die schönsten
mit rothen Blumen im St. Petersburger Klima nicht mehr; von der
schwarzen Johonnisbeere (R. nigrum) sind nur die Abarten mit ge¬
flecktem oder geschlitztem Laube für den Ziergarten zu empfehlen;
R. alpinum Z., in Sibirien und Europa heimisch, ist gut zur Anpflan¬
zung unter Bäumen. R. aureum PursA., aus Nordamerika, mit gold¬
gelben Blüthentrauben, R. floridum Ü Her., aus Nordamerika, und
R. petraeum Jaq . (Europa); letztere beide mit röthlichen Blumen,
sind aus der Gruppe der Arten mit Blüthentrauben, als schöne zur
Anpflanzung zu empfehlende Arten, zu nennen, — während alle
Arten aus der Gruppe der Stachelbeeren keinerlei Werth für den
Ziergarten haben. — Die Gattung Rosa enthält eine Masse von Arten*.
Unter denselben sind die folgenden für unsere Gärten im Freien
vorzugsweise zu empfehlen und auch im Alexander-Garten vielfach
angepflanzt. Die dunkelrothe und grossblumige einfache Abart von
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n
R.gallica Z. macht, als Pflanze der Bosquetränder verwendet, einen
bedeutenden Effect und ist bei uns durchaus hart. Ebenso schön
und gleichfalls hart sind deren gefülltblumige Abarten, besonders für
Blumengruppen zu empfehlen. Die gefüllten Abarten der in Europa
heimischen./?. tf/&*Z., die alsR.Maidenblush undR.unica bekannt sind,
und die gefüllt blühende Abart der R. cinnamomeaL.{ Europa) sind bei
uns noch ziemlich hart. Die gefüllten Abarten der R. damascena Z.
und R. centifolia L ., beide aus dem Orient, können bei uns nur
wurzelecht angepflanzt werden, und verlangen im Winter Schutz
durch Deckung des Bodens mit Laub und Ueberdeckung der
Gruppen mit Tannenreis. Ferner ist als hart zu nennen die Ab¬
art mit schwefelgelb gefüllten Blumen der R. sulphurea Ail,
(Orient), welche als R. Persian yellow bekannt ist. Von der
im Westen Europa's und im Kaukasus heimischen R . gallica L .
sind die Abarten mit dunkelrothen, grossen, einfachen Blumen
und dann die zahlreichen gefüllten Sorten für unser Klima vor¬
zugsweise zu empfehlen. R. nitida MUL (Neufundland) ist eine
hübsche, einfach rosaroth blühende Sorte mit glänzend grünen Blät*
tern. R. pimpinellifolia Z., in Europa und Sibirien heimisch, wird
nur 2—3 Fuss hoch, und sind von derselben besonders die gefüllt
blühenden Sorten mit weissen und rosarothen Blumen zu empfehlen.
R . rubrifolia VilL , im westlichen Europa heimisch, hat einfache
rosenrothe Blumen, dagegen sind die Formen mit dunkelrothen
Blättern ausserordentlich schön als Dekorationspflanzen am Rande
von Gebüschen. R. rugosa Thbg . (Japan), schön wegen des dichten
Wuchses und prächtigen Laubes, ist sowohl als einfach, gross rosa¬
roth blühende Stammform, wie besonders auch als gefülltblumige
Abart für unsere Gärten geeignet als ganz harte schöne Sorte. —
Aus der Gattung Rubus sind R. odoratus Z., rothblühend, und R.
nutkanus Mogin , weissblühend, beide aus Nordamerika, als schöne
Blüthensträucher zu nennen. — Unter den Strauchweiden sind Salix
angustifolia W., S. Lapponum Z., S. repens Z., S . rosmarinifolia Z.,
alles niedrige* in Europa heimische Arten mit weisslichen Blättern,
— und S. purpurea Z. und S. undulata Ehr/t. sind unter den höhei
wachsenden Strauchweiden die decorativesten, und deshalb am mei¬
sten zu empfehlen. Alle andere Sorten sehr zu beachten, als ausser¬
ordentlich schnell wachsend, wo hässliche Gegenstände gedeckt
werden sollen. — Sambucns nigra L. und S. racemosa Z., beide in
Europa heimisch, werden bis 12 Fuss hoch und sind von sehr raschem
Wüchse. Die Erstere besitzt mehrere schöne Abarten mit geschlitz¬
ten und bunten Blättern, welche aber wie die Stammart im Winter
meist bis zum Schnee abfrieren, dann aber wieder austreiben und
noch üppige Sträucher bilden. S. racemosa ist viel härter und ziert
im Herbste durch seine rothen Beeren. Als Hochstamm mit Krone
gezogen ist derselbe eine wahre Zierde unserer Gärten. Sambucus
canadensis Z., aus Nordamerika, ist fast ebenso hart als S. racemosa,
und als schnell wachsender Strauch sehr verwendbar.
Die meisten schönen Blüthensträucher, welche bei uns vollständig
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hart sind, bietet für unsere Gärten die Gattung Spiraea . Als
rothblühende in St. Petersburg harte Arten derselben nennen
wir Sp. salicifolia L. (Europa, Sibirien), Sp. Douglasi Hook, und
Sp. tomentosa L. aus Nordwestamerika, sowie Sp ., callosa Thbg.
aus Japan. Zwischen diesen Arten sind eine Masse von For¬
men erzogen worden, die wir zu den unbedingt dankbarsten
und am schönsten blühenden Ziersträuchern unserer Gärten
rechnen; theils werden diese als Formen der obenerwähnten Ar¬
ten aufgeführt, theils finden sich solche in den Gärten als Sp. exi-
mia, Billardieri, bethlemensis, Lenneana, semperflorens, Regeliana
etc. verbreitet. Als weiss oder fleischfarb blühende, bei uns
ausdauernde Spiraea-Arten nennen wir noch Sp. acuttfolia Willd
Sp. alba Dur., Sp. amurensis Max., Sp. cana W. et K., Sp. carpini-
folia Willd., Sp. chamaedryfolia L., Sp. confusa Rgl. et Körn., Sp.
crenata L., Sp. laeyigata Z., Sp. opulifolia Z., Sp. sorbifolia L., Sp.
Pallasi Rgl. und Sp. trilobata Z., alle in Europa oder Sibirien hei¬
misch und schön und reich blühende Arten. — Symphoricarpus race -
tnosus Mich., aus Nordamerika, ist ein niedriger hübscher Strauch,
der im Herbste weisse Beeren trägt. — Von den Syringa-Arten ist
nur 5 . vulgaris L. (Südeuropa und Persien), mit ihren zahlreichen
schönen Abarten ünd S. Josikaea Jacq. aus Ungarn, bei uns noch
dauerhaft Namentlich die erstere ist als beliebtester Zierstrauch
bei uns in die meisten Gärten eingewandert und wird auch schon
von Bauern gepflanzt und zum Verkauf auf den Markt gebracht.
— Endlich erwähnen wir noch Vibumunt' Lantana L. (Europa),
V. Opulus Z. (Europa), V. Oxycoccos Pursk. (Nordamerika), und
V. Lentago L. (Nordamerika) als schöne, bei uns ausdauernde,
mittelhohe Ziersträucher. Von V. Opulus ist die Abart, welche vor¬
zugsweise als Schneeballen bekannt ist (V. Opulus roseum), bei uns
etwas zärtlicher, hällt aber auf geschütztem Standorte noch gut aus.
4. Perennirende Stauden. Die Zahl der im St. PetersburgerKlima
noch aushaltenden perennirenden, schönblühenden und dekorativen
Stauden ist unverhältnissmässig grösser, als die der Holzgewächse,
da bei uns mit wenigen Ausnahmen noch alle jene Arten gedeihen,
welche im westlichen mittleren Europa im freien Lande aushalten.
Der Grund davon liegt in der Art ihres Wachsthums. Im Winter
sterben meist deren oberirdische Stengel ganz ab, und der Wurzel¬
stock im Boden, oder selbst auch deren niederliegende perennirende
Stengel finden bei uns in Folge der beständigen Schneedecke einen
genügenden Schutz, so dass bei uns sogar manches schöne Pflänz¬
chen der Alpen und Sibiriens besser gedeiht, als im westlichen
Europa. Als ein schlagendes bekanntes Beispiel der Art ist die
Cultur der grossfrüchtigen Erdbeeren zu nennen, welche in so gross¬
artigem Maassstabe, wie um St. Petersburg, fast nirgends betrieben
wird. Dessjatinenweise sieht man um St. Petersburg freie Felder
mit dieser Staude bepflanzt, während die gleiche Pflanze in bedeu¬
tend milderen Klimaten im Winter viel häufiger und viel mehr lei¬
det, als das um St. Petersburg der Fall ist. Und doch sind es kaum
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io Jahre her, als auf den Feldern um St. Petersburg noch keine der
neueren grossfrüchtigen Erdbeeren gezogen, und diese nur in gerin¬
ger Anzahl in einzelnen Gärten angebaut wurden.
So ist es jetzt auch noch mit der grossen Anzahl der schönblü¬
henden Stauden, die, obgleich sie als ausdauernd den bleibenden
Schmuck der Gärten bilden, doch bis jetzt nur in einzelnen Gärten
in grösserer Zahl Eingang gefunden haben, so z. B., wenn wir die
reichen Stauden-Sammlungen des Kaiserlichen Botanischen Gartens
ausschliessen, in dem hinter Oranienbaum gelegenen Garten des
Präsidenten der Kaiserlichen Gartenbaugesellschaft, Reichscontro-
leur S. A. Greigh, wo sich jetzt eine der vollständigsten und reich¬
sten Sammlungen von Stauden befindet, welche dem Garten vom
Frühjahre bis zum Spätherbste zur schönsten Zierde gereichen.
Auch im Alexander-Garten, ist, wie wir oben schon erwähnten,
in der Steinpartie an dem Hügel eine Sammlung von Stauden ange¬
pflanzt, und den ganzen Sommer hindurch sieht man einzelne Garten¬
freunde sich dort Notizen machen; so dürfte der Alexander-Garten
einen wichtigen Anstoss zur Verbreitung der schöneren Holz¬
gewächse und Stauden in den Gärten unserer Gartenfreunde geben,
wodurch die bis jetzt in den kleinern Gärten herrschende Eintönig¬
keit allmählich verschwinden dürfte.
5. Grasplätze. Vom Publikum sind die schönen, frisch grünen
Rasenplätze des Alexander-Gartens besonders bewundert worden.
Ein schöner, den ganzen Sommer hindurch schwellender, grüner
Rasenplatz ist eine der grössten Zierden eines gut gehaltenen Gartens,
und die Frage, wie die Rasenplätze des Alexander-Gartens angelegt
seien, ist wohl hundert Mal an mich gerichtet worden.
Es handelt sich da um: richtige Auswahl der für unser Klima
geeignetesten Gräser, richtige Vorbereitung des Bodens und sorg¬
fältige Pflege. Das sind die drei Faktoren, durch deren Zusammen¬
wirken ein ausdauernder, frisch grüner Rasenplatz nur allein unter¬
halten werden kann.
In England, - dessen grüne Rasenplätze besonders bewundert
werden, benutzt man das Raygras (Lolium perenne L.) zur Bildung
derselben, und von dort aus hat sich dasselbe zum gleichen Zwecke
über den grössten Theil des westlichen mittleren Europa^ verbreitet.
In St. Petersburg wintert dasselbe aber aus. Trotzdem benutzte man
es aber früher und noch vor 18 Jahren auch im Kaiserlichen Botani¬
schen Garten zur Anlage einzelner Rasenplätze, die vorzugsweise
schön gehalten werden sollten. Das aber hat zwei Uebelstände, die
darin bestehen, dass einmal, derartige Rasenplätze jährlich im Früh¬
jahre umgegraben werden und neu besäet werden müssen, und dann,
dass im ersten Frühjahre, wo man sich am meisten über das erste
frische Grün freut, die Rasenfläche braun und traurig daliegt.
In grösseren Anlagen fand ich damals das Lieschgras (Phleum
pratense L.) als einziges Gras zur Bildung dauerhafter Rasenplätze
angewendet« Dauerhaft ist dieses Gras in unserem Klima allerdings;
es bildet auch dichte feste Rasen, aber nach dem Schneiden be¬
kommt es, bis frische Blätter gebildet sind, eine um so stärker
Bum. Berne. Bd. YU. 5
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röthliche Färbung, je höher es geworden. Dagegen hat das Liesch¬
gras den Vorzug, dass es im Frühjahre von allen unseren Gräsern am
ersten grünt. Um es daher für einen dauerhaften stets frisch grünen
Rasenplatz nutzbar zu machen, kam es darauf an, dasselbe mit
einem feinen dauerhaften Gras vermischt auszusäen. In dieser
Beziehung wurden verschiedene feinere Gräser probirt, und schliess¬
lich stellte sich (Jas Wiesenrispengras (Poa pratensis L.) als das geeig¬
neteste zu diesem Zwecke heraus. Auch die Rasenplätze im Ale¬
xander-Garten sind aus diesen beiden Gräsern gebildet.
Vor der Aussaat muss der zu einem Rasenplatz bestimmte Platz tief
umgegraben und gut gedüngt werden. Dann muss die Oberfläche
gut geebnet und so gelegt werden, dass dieselbe eine leichte Anschwel¬
lung zeigt, denn nur derartig angelegte Rasenplätze präsentiren sich
- dem Auge in der gefälligsten, sogenannten schwellenden Weise.
Bei der Aussaat wird der viel gröbere Samen des Lieschgrases
zuerst und nicht gar zu dicht und gleichmässig ausgesäet und darauf
mit Rechen eingehackt. Nachdem dies geschehen, wird der Samen
vom Rispengras darüber ausgesäet, und darauf nur der Rasenplatz
mit dem Rechen gut geebnet, wodurch dieser feine Samen tief
genug in den Boden kommt. Ist der Boden nass, so wird er, nachdem
er abgetrocknet, erst mit einer hölzernen Walze gewalzt; bei der
Aussaat im Herbste walzt man daher erst im folgenden Frühjahre beim
Eintritt trockenen Wetters. Ist der Boden aber trocken, so wird sofort
nach der Aussaat gewalzt oder mit einem Brettstück festgestampft.
Das Lieschgras geht stets zuerst auf und erst im Schutze dessel¬
ben erscheint später das Rispengras.
Mit dem jungen Gras erscheinen aber auch gleichzeitig verschie¬
dene Unkräuter. Wer deshalb einen schönen Rasenplatz herstellen
will, muss auf frisch ausgesäeten Rasenplätzen die Unkräuter
mehrmals wie auf einem Blumenbeete mit der Hand ausziehen, und
die grossen Wurzeln sogar mit kleinen Handspaten vorsichtig, ohne
die Grasnarbe zu sehr zu beschädigen, ausstechen lassen.
Die fernere Pflege besteht im Reinhalten von Unkräutern, häu¬
figen Schneiden des Grases, nämlich wenigstens alle 14 Tage ein¬
mal und wo es nur einigermassen möglich, in starkem Ueberspritzen
des Rasenplatzes bei trockenem Wetter.
Zum Schneiden empfehlen sich am meisten die Grasmähmaschi¬
nen, denn bei der Sense gehört schon ein sehr geschickter Arbeiter
dazu, wenn man nach dem Mähen die Sensenstriche nicht sehen,
oder wenn nicht hier und da die Sense zu tief greifen soll, wodurch
hässliche Stellen im Rasenplatz erzeugt werden. Mit einer guten
Mähmaschine kann dagegen Jeder arbeiten und die Arbeit wird
stets so gleichmässig, dass der Rasen jenes schöne sammetartige
Aussehen erhält; — doch darf man das Gras nicht zu hoch werden
lassen, sondern muss es, je nach dem Wetter, alle 8—14 Tage
schneiden und auch die Maschine so stellen, dass das Gras nicht
zu kurz geschnitten wird. Nicht alle Mähmaschinen sind aber gut.
Im Alexander-Garten wurden mehrere geprüft, aber nur eine ame¬
rikanischer Construction, welche wir durch die Samenhandlung von
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«3
J. Siem in der Karawannaja in St. Petersburg bezogen, zeigte sich
in ihren Leistungen untadelhaft und als sehr leicht im Gebrauche
zu handhaben. Zu bemerken ist noch, dass der erste Schnitt mit
einer Mähmaschine, wenn das Gras noch ungleich lang, stets
schwieriger, der zweite Schnitt aber bedeutend leichter ist, und dass
nach dem Schneiden das feine Gras mit einem Besen vom Rasen¬
platz abgefegt werden muss. Ein gründliches Begiessen der Rasen¬
plätze bei trockenem Wetter ist allerdings nicht überall möglich.
Im Alexander-Garten sollen zu diesem Zwecke noch Röhren der
Wasserleitung gelegt werden; man braucht dann nur Schläuche
anzuschrauben, um die Rasen gründlich bespritzen zu können.
Dass der Rasen sich daselbst im verflossenen Jahre so gut hielt,
hatten wir dem feuchten Sommer zu danken. Ohne Vorrichtungen
für das Begiessen ist bei anhaltend trockenem und heissem Wetter
ein stets grüner Rasen im Sommer nicht zu unterhalten und in diesem
letzten trockenen Sommer waren denn auch die Rasenplätze des
Alexander-Gartens ziemlich gelb; denn während alle Strassen St.
Petersburgs überspritzt werden können, ist dies im Alexander-Garten
leider noch nicht der Fall.
Kleine Mittheilnngen..
(Zur Statistik des Eisenbahnverkehrs in Russland.)
Für die internationale geographische Ausstellung, welche am 4./16.
Juli d. J. eröffnet wurde, hat der Verf. im statistischen Departement
des Ministeriums der Communicationen auf Grund der, den Eisen¬
bahngesellschaftsberichten entnommenen Daten; zwei Kartogrammen
ausgeführt, welche für das Jahr 1873 und die hauptsächlichsten Orte
Russlands die eine: den Waarenumsatz im Eisenbahnverkehre, die an¬
dere: die Zahl der abreisenden Passagiere darstellen. — Da diese
zum ersten Male berechneten Zahlen überhaupt von Interesse sind,
ihre Veröffentlichung auf gewöhnlichem Wege, wenn überhaupt, nur
sehr spät erfolgt, so theilen wir vorläufig einige davon mit.
Die Betriebslänge der russischen Bahnen betrug im Jahre 1873:
13,625,49 Werst oder 14,538,40 Kilometer (nicht mit eingerechnet
sind die Bahnen von Ssewastopol, Liwny, Pawlowsk, Bolderaa und
diejenigen von Finland); dieselben berührten 808 verschiedene Orte.
Der Umsatz an Frachtgütern, solcher ausschliesslich, welche neu
aufgegeben oder den Adressaten abgeliefert wurden, betrug
mehr als 5 Mill. Pud ..an 47 Orten
» » 3 » » und weniger als 5 Mill. Pud >37 »
>>2»»» » »3» »*50»
• »1*»» > » 2 > » • 97 »
* * 1 1 * * 577 *
Mehr als 5 Millionen Pud hatten folgende 47 Orte (s. die Tabelle
auf Seite 84). 6 #
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84
Waarenverkehr
Mt
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
4 1
42
43
44
45
46
47
Rane der Ortschaften I Ab 8« #Bdt A,R * ko “" en
Pud_Pud_Pud
Moskau. 33 » 7 6 7 » 3 i 5 151.402,071 185,169,386
St. Petersburg. .. . 22,051,354 56,546,041 78 , 597.395
Ssossnowitze. 32,470,340 32,610,643 65,080,983
Odessa. 11,686,903 43,011,841 54,698,744
Warschau. 12,400,835 31,873,395 44,274,230
Orel. 22,207,828 20,092,766 42,300,594
Riga... . 9 . 815,575 22,204,540 32,020,115
Wirballen . . ~ . 4,082,013 18,050,219 22,132,232
Rybinsk . ...... 18,598,531 2,528,556 21,127,087
Zarizyn. 17,956,083 2,710,049 20,666,132
Nishnij-Nowgorod. . 13 > 7 6 7 , 53 ° 5 . 395.404 19,162,994
Rostow am Don. . . 3,538,722 14,881,366 18,420,088
Grjasy. 1,697,814 15,868,200 17,566,014
Koslow. 8,600,253 5,875,431 I4,475, 6 84
Kijew. 4,224,980 9,294,296 13,519,276
Charkow. 3,697,472 9,326,427 13,023,899
Ssaratow. 5,013,450 7,681,308 12,694,758
Taganrog. 2,222,233 9,944,336 12,166,569
Wolotschisk. 4,678,692 7,754,882 12,133,574
Woronesh. 6,517,507 5.579.726 12,097,233
Donskaja. 1,002,912 10,499,340 11,502,252
Kursk.. . 5 . 330.943 5,635,839 10,966,782
Sserpuchow. 6,922,171 2,420,630 9,342,801
Alexandrow. 6,624,705 2,683,909 9,308,614
Wilna. 4,290,2 76 4,832,837 9,123,118
Dünaburg. 3.500,673 5 ,i 7°>557 8,671,230
Twer. 5.040,330 3 , 133.396 8,173,726
Rjasan. 6,525,386 1,640,979 8,166,365
Reval. 3,474,787 4,449,178 7,923.965
Brjansk. 4,567,772 3,283,267 7,851,039
Brest-Litowsk. . . . 2,941,272 4,472,155 7,413,427
Lodz. 425,396 6,813,574 7,238,970
Werchowje. 3.500,354 3,401,875 6,902,229
Jarosslaw. 4,772,078 2,081,957 6,854,035
Iwanowö. 710,333 6,111,479 6,821,812
Tula. 3,261,876 3,516,410 6,778,286
Orjechow. 644,303 5 , 994,304 6,638,607
Schachtnaja. 6,169,798 266,491 6,436,289
Krementschug. . . . 4,672,630 1,762,695 6,434,725
Skopin. 4,851,873 1,476,190 6,328,063
Koljuschky. 599 ,101 5,688,010 ' 6,287,111
Morschansk. 4 , 657,751 1,298,389 5,956,140
Radziwillow. 1,694,612 4,146,99 6 5,841,608
Reschetnikow. . . . 5,654,328 135,566 5,789,894
Ssergijewa-Lawra. . 4,878,504 777,96O 51656,464
Poltawa. 1 , 751,957 3,830,862 5,581,919
Kischmew. 3,398,412 2,024,754 5,423,166
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85
Passagierverkehr
je
Hanen der Ortschaften
Zahl der abreisenden F
inl.u. n. Kl. | in HI. u. IV. Kl.
assagiere
überhaupt
I
Moskau.
3 ".343
1,592,611
1 , 903,954
' 2
St. Petersburg . . .
253,530
796,683
1,050,213
3
Warschau..
118,442
383,300
501,742
4
Charkow.'. .
85,399
174,807
260,206
5
Riga.
40,496
218,587
259,083
6
Odessa..
61,632
194,332
255,964
7
Rostow am Don . .
48,226
204,190
252,416
8
Kursk.
35,127
192,569
227,696
9
Orel.
35,682
181,875
217,557
IO
Ssergijewa-Lawra. .
20,378
185,993
206,371
II
Wilna.
46,219
147,092
I 93 , 3 t»
12
Kijew.
47,964
144,228
192,19 2
»3
Dünaburg.
21,637
ti 9,387
141,024
>4
Oranienbaum ....
34,991
97,929
132,920
15
Taganrog.
25,379
106,444
131,823
16
Nowo-Tscherkask .
27,071
101,850
128,921
17
Koslow.
12,89t
" 5,557
128,448
18
Shmerinka.
31,442
95.526
126,968
*9
Mitau.
16,525 ,
107,767
124,292
20
Jarosslaw.
12,219
108,104
120,323
21
Rjasan.
12,256
101,986
114,242
22
Kischinew.
17,163
89.398
106,561
23
Nishnij-Nowgorod .
20,752
83,373
104,125
24
Gatschina.
25,070
77,882
102,952
25
Grjasy.
10,657
91, 43 1
102,088
26
Ssmolensk.
",974
87,370
99,35»
27
Tula . . . ..
18,812
77 , 8 i 4
96,626
28
Skemewice.
19,098
76,504
95,602
29
Piotrkow.
14,760
80,836
.95,596
30
Jelissawetgrad. . . .
20,511
75,019
95,530
31
Ssossnowitze.
33,962
61,101
95,063
32
Minsk.
17,771
76,939
94,700
33
Chotkowo.
7,"7
85,271
92,388
34
Sserpuchow.
7,776
84,298
92,074
35
Poltawa.
25 , 95 i
64,223
90,174
36
Kolpino .......
12,582
77,222
89,804
37
Brest..
17,969
70,245
88,214
38
Wladimir.
6,973
79,582
86,555
39
Puschkino.
20,268
66,025
86,293
40
Alexandrow.
19,976
66,168
86,134
41
Berditschew.
22,532
I 62,640
85,172
42
Neu-Peterhof ....
26,530
57,481
84,011
43
Rjäschsk.
8,084
1 75,899
83,983
44
Strelna.
20,100
1 62,235
82,335
45
Krassnoje-Sselo . .
20,205
I 62,018
82,223
46
Bjelostok ..
7,863
73,057
80,820
47
‘Tschenstochow . . .
14,665
65,645
80,310
48
Tambow.
12,314
67,948
80,262
1
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86
In Bezug auf Abgang und Ankunft der Wäaren vertheilen sich die
Stationen wie folgt:
Abgang Ankunft
unter 500,000 Pud. 538 665
von 500,000 bis 1,000,000 Pud . . 94 56
» 1,000,000 » 2,000,000 » . ♦ 93 38
» 2,000,000 » 3,000,000 » . . 37 12
» 3,000,000 * 5,000,000 -* . . 26 12
* 5,000,000 * 10,000,000 » . . 11 14
über 10,000,000 Pud . 9 n
Derjenige Theil Russlands, in welchem Eisenbahnen den Verkehr
vermitteln, kann wohl als begrenzt betrachtet werden durch: 1. die
Wolga, 2. die Ostsee, 3. die westliche Landesgrenze, und 4. das
Schwarze Meer mit dem Asow’schen Meere.
Die auf diese Linien kommenden Eisenbahnstationen weisen, für
jede Linie summarisch genommen, folgende Waarenbewegung auf:
Abgang
1. Wolga (Twer, Rybinsk, Jarosslaw, Kineschma,
Nishnij-Nowgorod, Ssaratow, Zarizyn).69,008,5 II
2 . Ostsee (St. Petersburg, Reval, Bald sch-Port, Riga,
Libau) . .. ... . .*36,582,081
3. Landesgrenze (Wirballen, Grajewo, Alexandrow,
Graniza, Ssossnowitze, Radziwillow, Wolotschisk) . 5^,690,284
4. Schwarzes Meer mit dem Aso w’schen Meere
(Odessa, Nikolajew, Taganrog, Rostow mit dem Ha¬
fen von Gnilow) . . . •.17,771,684
Ankunft
23,887,145
87,482,768
67,252,761
72,418,742
Die Stationen der Linien 2.—4. haben empfangen 227,154,271
Pud, welche vom Innern Russlands kamen und von denen ein Theil
ins Ausland ging; dieselben Stationen haben ins Innere 107,044,049
Pud abgefertigt, von denen ein Theil vom Auslande ankam.
Der Gesammtumsatz der bezeichneten vier Grenzlinien mit dem
von Moskau zusammengenommfen, macht 42 pCt. des Gesammtum-
satzes der russischen Bahnen (1,455,024,607 Pud) aus.
Mit neu gelösten Fahrkarten sind abgereist:
mehr als 80,000 Passagiere ,
von
48 Orten
» » 50,000 und weniger als 80,000 Passagiere
»
22 »
* » 25,000 » »
* 50,000
9
80 »
» » 10,000 » »
* 25,000
»
>
»55 »
» > 5,000 » »
» 10,000
»
»
200 »
»
» 5,000
»
»
303 »
Mehr als 80,000 Passagiere weisen folgende 48 Orte auf (s. die Ta¬
belle auf Seite 85).
A. Stein.
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8 7
Literaturbericht.
Die völkerrechtliche Bedeutung der Congresse. Akademische Abhandlung von Witold
Zateski , Mag. dipl. Dorpat 1874. 76 S. und 5 Thesen.
Einzelne der bedeutenderen Congresse von internationalem Cha¬
rakter. sind Gegenstand besonderer Monographien gewesen; die
rechtliche und speciell also völkerrechtliche Bedeutung derselben
innerhalb der ganzen Reihe von internationalen Congressen wurde
aber nicht genügend, oft gar nicht hervorgehoben, im Gegentheil,
diese Monographien über einzelne Congresse behandeln mehr die
politischen Unterhandlungen, geben hier die Motive an und liefern
überhaupt mehr der Geschichte im Allgemeinen, als speciell der des
Staatenrechts^ Unter solchen Umständen kann das Unternehmen des
Hm. Zatgski, sich an jenes genannte Thema gemacht zu haben, nur
bewillkommnet werden. — Ehe wir nun zu einer Beurtheilung des¬
sen übergehen, wie er sich seiner Aufgabe gewachsen gezeigt, und
in wie weit er den von ihm behandelten Gegenstand durch seine
Abhandlung gefördert hat, geben wir eine kurze Uebersicht über
den Inhalt des Buches. Im Vorworte wird über die Schwierigkeit,
eine vollständige Geschichte aller Congresse zu geben, gesprochen,
und dann in kurzer Weise das Programm für die vorstehende Ab¬
handlung gegeben, in der der Verfasser von einer Geschichte der
Congresse absieht und im ersten allgemeinen Theile seiner Abhand¬
lung eine Zusammenstellung der durch die Geschichte der Congresse
und ihrer Verhandlungen gelieferten und auf das Zustandekommen,
den Ort, die Zahl und Art der Mitglieder, das Ceremoniell, die Ver¬
handlungen und die Beendigung der Congresse bezüglichen Materia¬
lien in Aussicht stellt — «um so ein formelles Congressrecht der
völkerrechtlichen Praxis zu entnehmen* —, dem im zweiten, beson¬
deren Theile, der Versuch folgen soll, die verschiedenen auf den Con¬
gressen behandelten Materien nach den bei ihrer Entstehung leiten¬
den Principien und nach ihrem Inhalte zu ordnen, unter Zugrunde¬
legung des von Bulmerincq angedeuteten Systems des Völkerrechts.
— Der Inhalt der einzelnen Theile zerfällt in Paragraphen. Im
allgemeinen Theil handeln die einzelnen Paragraphen: Si über die
Begriffsbestimmung und Unterscheidung der Congresse und Con-
ferenzen. Die Haltung Berner’s, Bluntschli’s, Calvo’s und v. Martens’
diesen Fragen gegenüber wird kurz angedeutet, und dann auch mit
ein paar Worten des Gebrauchs der Ausdrücke «Congress* und«Con-
ferenz* in der Staatenpraxis gedacht. Nach der Ansicht des Hrn. Za-
t§ski wäre «das Merkmal der Beschlussfähigkeit recht wohl dazu ge¬
eignet, die Congresse von denConferenzen bestimmt zu unterscheiden,
wenngleich dieser Unterschied kein absoluter sein würde, denn die
Bestimmungen der Congresse erfordern gewöhnlich noch die Rati¬
fication der resp. Monarchen oder gesetzgebenden Körper, falls die
Souveräne nicht persönlich auf dem Congresse zugegen waren; aber
schon das Zustandebringen eines solchen definitiven Actes, welcher
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88
nur einer Sanction für seine Gültigkeit bedarf, unterscheidet die
Congresse von den Conferenzen, welche letztere nur das Material
zu solch einem definitiven Entscheid zu sammeln und über einzelne
Punkte der Details sich zu verständigen bestimmt sind.» Darauf
finden sich am Schlüsse dieses Paragraphen einzelne Andeutungen
über die Entstehung der modernen Congresse, die so ziemlich in die
Zeit der Genesis, der Idee des politischen Gleichgewichts, nachdem
die Concilien aufgehört hatten, fällt. Die Geschichte der völker¬
rechtlich bedeutsamen Congresse beginnt nach Hrn. Zatgski’s An¬
sicht mit dem zu Münster und Osnabrück. — §2 giebt Bemerkungen
über das Zustandekommen der Congresse, wobei die verschiedenen
Modi mit Beispielen aus der Geschichte der Congresse belegt werden.
In den meisten Fällen sind die Congresse in Folge direkter Ueber-
einkunft der kriegführenden oder der sonst interessirten Staaten zu
Stande gekommen. Man vereinigte sich in solchem Falle über die
zu verhandelnden Punkte, ohne Präliminarartikel zu unterschreiben,
und auf Grund einer solchen Uebereinkunft fand dann der betreffende
Congress Statt». Zum Schlüsse werden besonders die Congresse der
heiligen Allianz besprochen. — § 3: «der Ort, die Zahl und Art der
Mitglieder, das Ceremoniell eines Congresses», giebt namentlich in
seinem letzten Theile recht pikante Bemerkungen. Der darauf
folgende Paragraph spricht über die «Congressverhandlungen»: von
der Wahl des Vorsitzers, der Prüfung und Auswechselung der
Vollmachten, dann specieller von den Verhandlungen selbst,
wie sie geführt wurden durch Vermittler, schriftlich oder,mündlich
etc. Alles ist mit Beispielen aus der Geschichte versehen, und in
besonders ausführlicher Weise wird der Wiener Congress herange¬
zogen. — §5 handelt über die * Beendigung des Congresses». «We¬
gen des Erfordernisses der Einstimmigkeit bei zu fassenden Con-
gressbeschlüssen ist die Zahl der resultatlos verlaufenen Congresse
ziemlich gross, obgleich die Auflösung derselben auch vielfach aus
anderen Gründen erfolgt ist». Im Fall eines günstigen Resultates der
Congressverhandlungen, im Fall einer allgemeinen Verständigung
und Uebereinkunft wird eine Schlussacte unterzeichnet, deren for¬
melle Seite eine verschiedene sein kann. «Neben der Schlussacte des
Congresses können auch noch einzelne Verträge, aber nur als
Annexe vorhanden sein». Ferner bespricht dieser Paragraph die
Garantie der Congressbestimmungen, die von einem oder meh¬
reren Staaten zum Zweck der Congressbestimmungen die nothwen-
dige Kraft und Bürgschaft hinsichtlich ihrer Ausführbarkeit zu
geben im Congressact selbst oder durch besondere Deklarationen
übernommen wurde; die Protestationen gegen die Bestimmungen
der Congresse seitens dritter Staaten, in allen Fällen, die angeführt
werden, figurirt der Papst mit; die Ratification der Congressbe-
schlüsse, resp. der Verweigerung derselben; einzelne Fälle, wo zur
Ausführung der Congressbestimmungen specielle Conventionen abge¬
schlossen wurden; die officielle Congresssprache; die Dauer der
Congressverhandlungen. — § 6: «die allgemeinen Congresse» handelt
über den Pariser Allianz vertrag vom 20. November 1815 und das
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89
Aachener Protokoll vom 15. November 1818, die Londoner Confe-
renz der fünf Grossmächte von 1830—1839, über den Vorschlag
eines allgemeinen europäischen Congresses seitens Napoleon’s III.
vom Jahre 1863, die Congresse zu Panama und Lima, und schliesst
mit einem Referat über Lorimer’s Vorschläge für einen völkerrecht¬
lichen Congress auf dem Princip des tatsächlichen Besitzstandes
(de facto). — §7: «die geschichtliche Eintheilung und Bedeutung der
Congresse* giebt eine Periodisirung der Congresse seit 1648 bis
1866 in drei Perioden (1713, 1789 und bis 1866), die in einzelne
Gruppen zerfallen — fünf, sechs und vier, — und eine Charakteri¬
stik der wichtigsten Congresse, indem von einer Würdigung der
geschichtlichen Bedeutung aller dieser (— in diesem Paragraphen
aufgezählten?) Congresse abgestanden wird. Zu den wichtigsten
Congressen zählt Hr. Zatgski den Westphälischen, Pyrenäischen,
Utrechter und Nystädter, den Wiener von 1815 und Pariser von
1856 und schliesst: «wie verschieden auch die Meinungen über die
Leistungen und die Bedeutung der völkerrechtlichen Congresse sein
mögen, jedenfalls gebührt ihnen das Verdienst, dass sie dass Bewust-
sein der Zusammengehörigkeit der europäischen Staaten gegenüber
der Abgeschlossenheit jedes einzelnen Staates geweckt haben«.
Welchen Antheil der Westphälische, Wiener und Pariser Congress in
Bezug hierauf gehabt, wird alsdann kurz angegeben. — S 8 handelt
über die leitenden Principien der Congresse. 1648 und 1713 war das
von Frankreich in Umlauf gesetzte «Princip des politischen Gleich¬
gewichts in Europa» massgebend gewesen. 1815 kam das Princip
der Legitimität zur Geltung. Talleyrand sagte: la restauration est
un principe, tout le reste est une intrigue. «Durch die Deklaration
vom 15. November 1818 war ein Völkerrechtscodex, waren die Richter
und ihre Entscheidungsnorm proklamirt. Diese Erklärung blieb aber
zunächst eine theoretische, in der Praxis richteten sich die fol¬
genden Congresse zu Troppau, Laibach und Verona nach dem Le-
gitimitätsprincip und suchen die territorialen und politischen Ein¬
richtungen des Jahres 1815 unbedingt aufrecht zu erhalten».
Der Inhalt des besonderen Theiles wird nach der von Bulmerincq
vorgeschlagenen Systematie in auf materielles und formelles Völker¬
recht bezügliche Congressbestimmungen zergliedert. In Bezug auf
materielles Recht haben wir drei Paragraphen: § 1. Bestimmungen
über die Rechte der Staaten (p. 42—52), S 2. über das Staats- und
Privatvermögen (p. 52—59), S 3. über die internationalen Verträge
und Erwerbsarten (p. 59). In Bezug auf formelles Recht: 1. (§4)
Bestimmungen über die Organe des völkerrechtlichen Verkehrs (p.
60—61), und 2./ (S 5) das völkerrechtliche Verfahren mit Einschluss
der Intervention (p. 61—66).
In der Schlussbetrachtung (p. 67—68) bemerkt der Verfasser,
dass sich die Verhandlungsgegenstände der einzelnen Congresse
vorzüglich mit territorialen Festsetzungen und erst in zweiter Reihe
mit anderen Fragen beschäftigt haben, und dass die politischen Prin¬
cipien immer die leitenden waren, während die völkerrechtlichen
mehr in den Hintergrund gedrängt wurden. Der Erörterung allge-
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s
90
mein völkerrechtlicher Fragen stellten sich aber viele Hindernisse
entgegen, in Anbetracht welcher den einzelnen, von den Congressen
aufgestellten, dem allgemeinen Rechtsbewusstsein Rechnung tragen¬
den, Principien eine um so grössere Anerkennung gebührt, und stellt
sich somit Hr. Zatgski in stricten Gegensatz zu Vattel und dessen
Commentator Pinheiro Ferreira, von denen der Erstere Angesichts
der beiden erfolglosen Congresse von Cambray und Soissons über
das ganze Genus den Stab brach, und der Letztere ihnen mehr
Schlechtes als Gutes beilegte. — Darauf folgen 5 Thesen.
Wie zahlungsfähig hat sich nun Hr. Zatgski in seiner Abhandlung
gegenüber dem im Titel derselben ausgestellten Wechsel gezeigt?
Nach dem, was der Hr. Verfasser im Titel und in der Vorrede ver¬
spricht, nach dem ferner, wie er den Begriff des Congresses aufzu¬
fassen scheint, wird uns zum wenigsten die Hälfte, wenn nicht mehr,
einer Dogmengeschichte des Völkerrechts seit der Entstehung der
neueren Staatsidee in Aussicht gestellt; es sollen, wie bemerkt, die
verschiedenen auf den Congressen behandelten Materien nach den
bei ihrer Entscheidung leitenden Principien und nach ihrem Inhalte
geordnet werden. Diesem ist der Verfasser nun keineswegs nach¬
gekommen, denn abgesehen davon, dass er keine in Form/ einer prä-
cisen Definition gegebene Begriffsbestimmung der Congresse auf¬
stellt, sondern in der von uns angedeuteten Weise die Sache so ganz
obenhin berührt und im Grunde nichts Anderes als Berner sagt, hat
er auch der aus seinen Andeutungen zu formirenden Definition keine
Folge geleistet, sondern ganz willkürlich den westphälischen Con-
gress von 1648 als den ersten völkerrechtlich bedeutsamen bezeich-'
net, in welche Kategorie dann später so beiläufig auch der Congress
zu Brömsebro eingereiht wird, dann weiter unter die Congresse auch
nur solche Zusammenkünfte von Staatsvertretern aufgenommen, die
von der Staatenpraxis und darauf in den geschichtlichen Nachrich¬
ten oder Bearbeitungen hierüber, oder von beiden letzteren allein,
mit dem Namen Congress bedacht worden sind. Nach Schoell und
Ghillany Hess sich leicht verfolgen, welchen Weg Hr. Zatgski einge¬
schlagen hat, um seine sogenannten Congresse zu finden. Er be¬
dachte gar nicht, dass nach seiner Auffassung der Congresse, die
allerdings nicht ganz präcis und definitionenmässig zum Ausdrucke
gebracht wird, jedem Friedensschlüsse fast ohne Ausnahme ein Con¬
gress vorausgehen musste; die Geschichte Polens und Russlands
lag dem Verfasser besonders nahe, und hätte er so aus der russischen
Geschichte des XVI., XVII., XVIII. Jahrhunderts das zur Genüge
erkennen sollen, dass die Zahl der Congresse sich nicht auf die
von ihm aufgeführten beschränken könne. Nach dem, was wir ge¬
sagt, brauchen auch die völkerrechtlich bedeutsamen Congresse nicht
erst mit dem Westphälischen zu beginnen; für die nordischen Ange¬
legenheiten giebt es schon zu Ende des XVI. und Anfang des XVII.
Jahrhunderts nicht minder völkerrechtlich bedeutsame Congresse,
als für die mitteleuropäischen Staaten es der Westphälische war. Die
Congresse des XVI. und XVII. Jahrhunderts, auf denen Russland
und Polen oder Russland und Schweden als Contrahenten auftraten,
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9i
finden bei Hm. Zatgsld keine Berücksichtigung, selbst die in den
historischen Nachrichten freilich einfach als Friedensschlüsse bezeich-
netenCongresse zu Kardis und Andrussow werden keiner Bemerkung
gewürdigt. Die Friedensverhandlungen zu Oliva und Altona z. B.
werden ganz gewöhnlich als Congresse bezeichnet; Hr. Zatgski folgt
dem und durchaus nicht im Widerspruch zu seinem angedeuteten
Grundsatz. Die Friedensverhandlungen von Niemirow, Fokschany
und Bucharest v. J. 1737, 1772 u. 1773 werden als Congresse bezeich¬
net, die darauf stattgehabten Unterhandlungen von Belgrad (1739)
und Kutschuk-Kamardschi (1774) sind gar nicht genannt, gehören
also nach Hrn. Zatgski’s Ansicht oder auch nach der von Ghillany
nicht zu den Congressen, während Hr. Zatgski auch hier mit seiner
Auffassung des Begriffes • Congress» in den grellsten Widerspruch
geräth. Aber auch der Congress zu Jassy 1791 existirt für Hm. Za-
tgski als solcher nicht, gleichfalls der zu Grodno 1792, zu Bucharest
1812, zu Adrianopel I829, der bedeutende Fürsten congress zu Tilsit
— während des zu Erfurt wohl gedacht wird —, der im Haag 17 IO,
welche einen interessanten Fall für die Geschichte der Neutralisation
zu Kriegszeiten abgeben. Mit gleichem Rechte, wie die Verhand¬
lungen zu Fokschany, Bucharest und vorher zu Niemirow als Con¬
gresse bezeichnet werden konnten, sollten es auch die dem Frieden
zu Kardis und Andrussow vorangegangenen, so z. B. der sehr be¬
deutende Congress zu Wilna von 1657, auf dem Russland und Polen
vertreten waren, und an dem auch aus Moskau nach Hause reisende
kaiserliche Gesandte Theil nahmen. Die in neuerer Zeit behufs
Verkehrserleichterungen von Delegirten verschiedener Staaten ab¬
gehaltenen Congresse werden gar nicht angedeutet, obgleich sie
gerade nicht zum wenigsten das Völkerrecht fördern, was Hrn. Za-
tgski doch nicht unbekannt sein dürfte, zumal er diesen Gegenstand
in seiner Magister-Dissertation berührt hat l .
Dass die Vereinigung der deutschen Staaten im norddeutschen
Bunde und deutschen Reiche, und schon früher seit 1648 auf einem
völkerrechtlichen Verhältnisse beruht hat und beruht, und somit
auch der Bundestag und der deutsche Reichstag zu Congressen zu
rechnen sind — ganz im Einklänge mit der von Hrn. Zatgski aufge¬
stellten Auffassung über Congresse — hat der Verfasser gar nicht
bedacht. Die Congresse in Folge der Dinge von 1866 und 1870/71
sind gleichfalls übergangen. — Spricht der Verfasser endlich von
völkerrechtlichen Congressen, so ist nicht recht abzusehen, was dar¬
unter verstanden werden soll, da das ein nicht üblicher Ausdruck ist
und ihm von Hrn. Zatgski auch kein Commentar beigegeben wurde.
Der Titel verspricht überhaupt von Congressen zu handeln, man er¬
sieht jedoch aus dem Zusammenhänge, dass die politischen oder
Staatscongresse gemeint sind, d. h. die von Staaten beschickten und
im direkten Interesse dieser zusammengetretenen, ohne Unterschied
der zu verhandelnden Gegenstände, wie wir das auffassen. Der
Begriff des Congresses und sein* Unterschied zur Conferenz ist also
1 Zur Geschichte und Lehre der internationalen Gemeinschaft, Dorpat 1866.
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9 2
nicht genügend formulirt und die Vorstellung davon in der Abhand¬
lung selbst durchaus inconsequent durchgeführt.
Wie sind nun die in den angeführten Congressen stipulirten Bestim -
mungen über internationale Rechtsverhältnisse behandelt worden?
Nichts weniger als befriedigend; es findet auch hier eine ganz will¬
kürliche Auslese der Bestimmungen statt, und eine Zahl im ersten
Theil genannter Congresse werden im zweiten vergebens gesucht;
selbst auf den angezogenen Congressen behandelte Gegenstände von
völkerrechtlicher Bedeutung, welche nicht zum Entscheid gelangt
sind, kpmmen nur ganz ausnahmsweise ein paar Mai im zweiten
Theile der Abhandlung vor. Einzelne Bestimmungen werden dagegen
wieder so ausführlich gegeben, wie es sich gar nicht mit der Sym¬
metrie des Buches verträgt, so p. 48 und 49 in Bezug auf die Gewis¬
sensfreiheit v. 1648, p. 50—52 über die Aufhebung des Negerhan¬
dels; und überhaupt wäre eine grössere Kürze in der Wiedergabe
der Bestimmungen des Wiener Congresses von 1815 wünschenswerth
gewesen gegenüber den oft nur in Andeutungen gegebenen Notizen
über wichtigere Bestimmungen anderer Congresse. Das Capitel
über territoriale Bestimmungen ist ferner auch sehr weit und breit
behandelt, was an und für sich nichts tadelnswerthes ist; über den
Schutz des Privateigenthums wird dagegen mit ganz unverständlichen
Worten hinweggegangen. Die internationale Justiz und Gesetzge¬
bung, für die sich in den von Hrn. Zatgski angeführten Congressbe-
schlüssen Bestimmungen finden, wird gar nicht berührt. Die Rege¬
lung von Erbansprüchen regierender Fürsten und die Thronfolgeord¬
nung gehören nicht in's Völkerrecht, und hätten die in Congressacten
hierüber gefällten Bestimmungen nicht berücksichtigt werden sollen,
zumal Hr. Zatgski sich wenigstens f in seiner früheren Schrift von
1866 zum internationalen Rechtsprincip bekannt hat und auch in der
vorstehenden Abhandlung auf dasselbe zu recurriren scheint. — Der
Paragraph über Bestimmungen der betreffenden Congressbeschlüsse
in Bezug auf internationale Verträge und Erwerbsarten ist zu kurz
und dürftig gegenüber dem reichen Material, das sich dem erschliesst,
der den Text der Congressbeschlüsse liest und ihn durchdenkt.
Gleiches gilt von den Bestimmungen über die Organe des vöker-
rechtlichen Verkehrs und in gemilderter Weise von denen über das
völkerrechtliche Verfahren. Ueber die Mediation und den Krieg
hätte sich ganz anders sprechen lassen. Das über die Kriegscontre-
bande Gesagte ist auch nur so, um da zu sein, angeführt. Der der
Intervention gewährte Raum hätte in anderer Weise ausgefüllt
werden können. — Werden aber nun die Congresse in so beschränk¬
tem Umfange herangezogen und dann das auf ihnen zum definitiven
Entscheid gebrachte Rechtsmaterial in so willkürlicher Weise berück¬
sichtigt, so kann selbstverständlich auch von einer dogmen-histori-
schen Darstellung der betreffenden 'Völkerrechts-Institute und -Sätze
nicht recht die Rede sein, und somit fehlt auch eine an allen Glie¬
dern vollständige Kette, ohne die sich der Fortschritt der, den
bezüglichen Instituten und Sätzen innewohnenden Ideen Schritt für
Schritt nicht verfolgen lässt.
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Wollte Hr. Zatgski daher unter "dem seiner Abhandlung gegebe¬
nen Titel etwas für die Wissenschaft leisten, und hatte er sich ein¬
mal an die Lösung der völkerrechtlichen Bedeutung der Congresse
gemacht, so durfte er kein Stückwerk liefern; der Begriff Congress
und Conferenz und ihr Unterschied zu einander mussten nicht nur als
Material für eine Definition, wie die Rechtswissenschaft eine solche
verlangt, angedeutet werden, sondern eben präcis formulirt. Danach
hätten dann die Congresse aufgesucht werden sollen, aber auch
wieder ohne Rücksicht auf politische Principien, wie das des politi¬
schen Gleichgewichts. Die einzelnen Congressbeschlüsse sollten
darauf in grösstmöglichster Vollständigkeit, aber zugleich auch in
angemessenster Kürze zu einer Philosophie oder Theorie oder Phy¬
siologie des völkerrechtlichen Fortschrittes der Congressschlussacte
zusammengefasst werden, unter Angabe der sie umgebenden und
sie beeinflusst habenden Umstände. Der grössten Ausführlichkeit
wird durch die angedeutete, allerdings noch fast gar nicht zur Geltung
gekommene Methode die gebundenste Kürze verliehen. — Ob nun
Hr. Zatgski in einer Doctorschrift diese Aufgabe so lösen konpte, ist
eine andere Frage, jedenfalls eine von uns nicht näher zu erörternde.
Es ist aber unmöglich, sich mit einer solchen Lösung der im
Titel in Aussicht gestellten Aufgabe zu verständigen, und braucht
man nicht diesen langen Weg erst einzuschlagen, um gegenüber
VattePs und Pinheiro Ferreira’s vernichtendem Urtheil über die Con¬
gresse das Gegentheil zu beweisen. Sollte also ursprünglich nichts
Anderes geleistet werden, als was uns vorliegt, so lohnte es sich
überhaupt nicht, an diese Arbeit zu gehen, und den gewiss alle un¬
sere Anerkennung verdienenden Fleiss, der auf die Abfassung der
Abhandlung verwandt wurde, hätte der geehrte Hr. Verfasser eher
auf einem anderen begrenzteren Gebiete des Völkerrechts verwer-
then sollen, wo wir die Leistung gewiss in anderer Weise hätten an¬
erkennen können; denn dass er zu arbeiten versteht, hat er bewie¬
sen, wenn ihm allerdings auch eine rechte dogmatische Auffassung
abgeht, und die Auslese der Beispiele nicht selten nur zufällig zu
sein scheint Otto Eichelmann.
Revue Russischer Zeitschriften.
«Russisches Archiv» (Russkij Archiw — Pyccxift ApxHBi>) —
herausgegeben von Peter Bartendew. XIII. Jahrgang. 1875. 3. Heft. Inhalt:
Autobiographische Tagebücher des Senators E t Th . v, Bradke . (Gossner. — Die
südliche Ansiedelung. — Graf Witt. — Der polnische Aufstand. — Die Einnahme
von Lowitscb. — Der Kijewer Lehrbezirk. — Die Eröffnung der Universität des heil.
Wladimir. — Das Leben in Kijew. — Professor Zieh. — Arreste. — Der Dienst im
Domainenministerium und im Senat.) — Aus einem alten Notizbuche, begonnen im
Jahre 1813. (Erzählungen aus Warschau. — Logogriphen. — Fürstin Jussupow. —
T. B. Potemkin. u. s. w.). — Verbesserungen und Bemerkungen zum Testament des
Feldroarschall Grafen B. P. ScheremetjeV. — Bilder aus den kleinrussischen Familien.
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94
Materialien zur Geschichte der Gesellschaft im XVH. und XVHI. Jahrhundert. Ge¬
sammelt von A. M. Lasarewsky. — Drei Briefe des Fürsten A. Tschartorissky an
N. N. Nowossilzow. Mitgetheilt von N. Makarow . — Anekdoten aus der Zeit des
Kaisers Alexander Pawlowitsch. Mitgetheilt von Z>. D . Pjabinin. — Aus den Erinne¬
rungen M. M. Jewreimow’s. Von N . K. Sagrjaschskqja . — Papiere des Fürsten J. W.
Wassiltschikow, mit einem Vorworte von seinem Sohne A. J. Wassiltschikow: Drei
Briefe des Kaisers Alexander Pawlowitsch. — Wer verliess zuletzt Ssewastopol? Aus
den Erinnerungen J 9 J. Krassowsky* s . — Fünf Briefe aus dem vorigen Jahrhundert,
mit einem Nachwort von J, W\ Tolstoi. — Die Hochzeit des Grafen P. J. Panin: Der
Brief W. E. Adadurow’s an den Grafen N. J. Panin. 1748. Mitgetheilt von der Fürstin
M. A. Meschtschersky .
-4. Heft. Inhalt:
Papiere von J. B. Pestell. (Kurze Biographie; Notizen über seinen Dienst, von ihm
selbst geschrieben, u. s. w.). Mitgetheilt von S. J. Pestell. — Der Kanzler Fürst Bes-
borodko. Cap. X. (Die Reise nach der Krim. Zerwürfnisse mit der Türkei.). Von
N. J. Grigorowitsch. — Bilder aus den kleinrussischen Familien. Materialien zur Ge¬
schichte der Gesellschaft im XVIII. und XIX. Jahrhundert. Gesammelt von A. M, La~
sarewsky. — N. Th. Pissemsky und seine fünfundzwanzigjährige literarische Thätig-
keit Von B. N. Almasow. — Aus einem alten Notizbuche, begonnen im Jahre 1813.
(Das Hazardspiel. — Der Diensteifer. — Nowossilzow und Baikow in Warschau. —
General Kuruta. — u. s. w.). — Brief des General-Adjutanten Grafen P. E. Kotzebue
an den Herausgeber, in Veranlassung des Artikels: «Wer verliess zuletzt Ssewastopol?»
— Das Alter des Zarskoje-Sselo’schen Lyceums: I. W. D. Wolchowsky. 2. Th. Th.
Matuschkin. 3. Die Jahrestage des Lyceums. Vom Akademiker J 9 K . Groth. — An¬
zeige des Grafen G. A, Miloradowitsch.
Journal für Civil- und Criminal-Recht (Journal grashdanskawo i ugo-
lownawo Prawa — )KypHajn> rpaxcAaHcitaro n yrojiOBHaro npaßa)
V. Jahrgang. 1875. Heft 3. Mai-Juni. Inhalt:
Gesetze und Verordnungen der Regierung. — Bemerkungen über Fragen, die aus
einer Convention, bei Uebergabe zur Aufbewahrung, entstehen. Von P, Marko7v. —
Das Volksgericht und das Völkerrecht. Von I. Orschansky. — Ueber Feuerversiche-
rungs-Uebereinkunft. Von A. Brandt. — Ueber die russische Advocatur. Von S . Pia -
tonow . — Bibliographie: 1. A. Gradowsky: Der Anfang des russischen Staatsrechis.
Von N. Korkunow . 2. Graf L. Komarowsky: Der Beginn der Nichtintervention. Von
F. Martens.
«Militär-Archiv» (Wojennij Ssbornik — BoeHKBifl CöopHHiCb.) —
Achtzehnter Jahrgang. 1875. Nr. 6. Juni. Inhalt:
Materialien zur Geschichte des ungarischen Krieges im Jahre 1849. Mitgetheilt vom
Generallieutenant des Generalstabs Menkow. — Die Brüsseler Deklaration über Gesetze
und Gebräuche des Krieges. Von F. Martens. — Die turkestanischen Truppen und
die Bedingungen ihres Feld- und Schlachtenlebens. (Schluss.) Von L. Kostenko. —
Die Attaque der österreichischen Ulanen in der Schlacht bei Custozza am 24. Juni 1866.
Uebersetzt aus dem Deutschen von Oberstlieutenant Baron Krüdner . — Die Schnellig¬
keit und Ausdauer der Kavallerie. (Uebersetzt nach dem Werke des französischen
Obersten Boni.) Von T. . . . — Die Mobilisation der deutschen Armee. (Schluss.)
Von A. Pusyrewsky. — Nochmals über den Truppentransport Von N . B. — An¬
merkung zum Artikel des Hm. Archipow: «Zur Frage der Brustmessung und des Wä¬
gens des Körpers und deren Bedeutung*. Von N. Seland. — Andreas Globa. (Bruch¬
stücke eines nicht beendeten Romans.) Von A. Spakowsky, — Bibliographisches. —
Militärische Umschau in Russland. — Militärische Umschau im Auslande.
Journal des Ministeriums der Volksaufklärung (Journal miriister-
stwa narodnawo prosweschtschenija — )KypHa;n> MmmcTepcTBa
HapOAHarO IlpoCB'femeHiH). Mai 1875. Inhalt:
Regierungsverordnungen. — Die russischen Schulen und das Erlernen der russischen
Sprache im Weichselbezirke vor dem Erlass der Bestimmungen vom 30. August 1864.
Von E. Kryshanowskij. — Versuche Über die Entwickelungsgeschichte der christlichen
Legende. (Schluss). Von A. N . Wesselowshij . — Die Verhandlungen Russlands mit
den auswärtigen Mächten vor dem vaterländischen Kriege des Jahres 1812 (Fortsetzung).
—- Kritiken und Bibliographie. Anlässlich der «Antwort» des Hm. Wladislawlew.
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95
Von A. E. Swjetilin. — Unterrichtsliteratur und Lesebücher. — Nachrichten über die
Thätigkeit und den Zustand unserer Lehranstalten: a) Universitäten, b) Gymnasien. —
Die Eröffnung des Orenburger Lehrbezirks. — Brief aus Paris. Von Z— r. — Abthei¬
lung für klassische Philologie. Untersuchung über Heimat, Verwandte und Geburtsjahr
Herodot’s. Von Ph. N. Djatschan, — Untersuchung über die Modi im russischen und
griechischen Verbum. Von S. Schaf,ranow. — Bibliographie. Corsen. Ueber die
Sprache der Etrusker. Band I. Angezeigt von L. I. — Rede über P. M. Leontjew.
Gehalten von A. /. Georg) ewskif.
— — Juni 1875: Inhalt:
Regierungsverordnungen. — Ueber die zweite Verkeilung der Prämien Peteris des
Grossen. — Das Hypotheken- System und seine Reform. Von Ph . Schmigalskij . —
Die Inschriften am Wansee und ihre Bedeutung für die Geschichte Vorderasiens. Von
K. P. Patkanow . — Das Karpathische Russland. Von y. Th, Golowazkij. — Die
ethische Bedeutung der Mythen. Von Z. Ph. Wojewodskij. — Kritiken und Bibliogra¬
phie. Neue Erscheinungen in der ausländischen Literatur. — Unterrichtsliteratur und
Lesebücher. — Ueber den Unterhalt der Elementar- Lehrer und- Lehrerinnen in Preus-
sen. Von A. S. IVoronow. — Nachrichten über die Thätigkeit und den Zustand unse¬
rer Lehranstalten: a) Universitäten, b) niedere Schulen. — Brief aus Paris. Von Z—r.
— Abtheilungen für klassische Philologie. Ueber den altcyprischen Dialekt. Von P,
Nikitin . — Untersuchung Ober die Modi im russischen und griechischen Verbum.
(Schluss). Von S, N. Schafranow,
Der «europäische Bote» (BicTHmci» Eßponbi—Westnik Jewropy).
X.Jahrgang. 1875. Juni. Inhalt:
Der Kosak Kudejar. Historische Chronik in 3 Büchern. III, Buch. Von N. J . Ko-
stomarew . — W. H. Bjelinski. Biographischer Versuch. X. Bjelinski’s letzte Krankheit
und Tod. (Mai 1848). Schluss. Historische Studien. VII. Die Reichsstadt. VIII. Die
Ritterschaft. Der deutsche «Junker». IX. Die Geistlichkeit. Der deutsche Prälat und
der Kanonikus. X. Der Graf und der «Herr». XI. Der Fürst. Seine Gewalt. XD. Die
Lebensweise des deutschen Fürsten. XIII. Die niedere Klasse — «Canaille». Von A,
S. Traczewsjey. — Mignon. Nach Goethe. Von N. IV. Gerbet. — Die Löwen-Insel.
Briefe von der Insel Ceylon. III.—IV. Von J. P. Minajetv. — Die Freistadt Krakau.
1815—1846. XVI—XVH. (Schluss). Von N. A. Popow. — Im grossen Dorf und am
Seitenwege. Skizze aus dem Dorfleben. HI—VU. Von O. Sabyti. — Chronik; Psy¬
chologische Kritik. Bemerkungen J. Ssamarin's zudem Werke: «Die Aufgaben der
Psychologie». Von K. D. Kawelin. — Die Handels-Bilanz und ihre Bedeutung. Von
y. G. — Rundschau im Inlande. — Correspondenz aus Berlin: Politische Unruhe.
Von K . — Pariser Briefe: III. Die Bilderausstellung in Paris. Von E. Z—l . — Ein
gelehrter Disput in Moskau in Verbindung mit der Universitätsfrage. Von W. N. —
Was soll man vom Spiritismus denken? Anlässlich des Prof. Wagnerischen Briefes.
Von A. S. Schklarewsky . — Nachrichten. — Bibliographische Blätter. —
«Das alte Russland» (Russkaja Starina — PyccKaa CTapraa). —
Herausgegeben und redigirt von M.J.Ssemewskij . Sechster Jahrgang. Heft VI. Juni
1875. Inhalt:
Fürst Gregor Alexandrowitsch Potemkin, der Taurier. Biographischer Abriss, 1739
—1791. Cap. VH. Briefwechsel mit P. A. Potemkin 1789—1790. — Bemerkung über
das Portrait des Fürsten Potemkin und über den Graveur Akademiker J. S. Poschalos-
tin. — Das St. Petersburger Findelhaus unter der Verwaltung von J. J. Betzky. Eine
historische Untersuchung von A. P. Pjatkowskij. Cap. IU. — Die französische Armee
in den Jahren 1792—1808, vor dem Kriege mit Russland. Uebersetzt nach einer franzö¬
sischen Handschrift Mitgetheilt von M. D. — Der Hetraan des Donischen Heeres
M. G. Wlassow in den Jahren 1836—1848. Biographischer Abriss und Erinnerungen
seines Adjutanten. — Das erste Bombardement auf Ssewastopol vom 5.—13. October
1854. Abriss von M. J. Bogdancnmtsch. — A. S. Dargomy’schskij. Briefe an seine
Freunde 1847—1865. Mitgetheilt von K. K . Stassow. — Erinnerungen der Frau L. J,
Karinalin geb. Belenitzin: M.’J. Glinka und A. S. Dargomyschskij. — Blätter aus
dem Notizbuche der «Russkaja Starina»: Pugatschewsche Blätter, 1774 - — «Der
Candidat.» Russische Oper in Jarosslaw 1780. Mitgetheilt von M. y. Lestwizin.—
Bibliographische Mittheilungen üb^r neue russische Bücher (auf dem Umschläge).
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96
Rassische Bibliographie.
Lowitzky. Abriss der inneren Geschichte Klein-Russlands in der
zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts. Lfg. i. Kiew. 8°. 200 S.
(TleBMUKiM, Opecrb. O^epia» BHyTpeHHefl HCTopin Majiopoccin bo
BTopoft nojiOBHH'fe XVII B'feica. Bbin. I. Kießi». 8 a. 200 CTp.)
Uebersicht der Rumjanzow’schen Beschreibung Klein-Russlands
Lfg. 3. (das Regiment Starodubsky). Von N. Konstantinowitsch. Heraus¬
gegeben vom Tschernigow’schen statistischen Comitö. 8°. 857 S.
(Oöo3p'fcHie PyMRHUOBCKoö odhch Majiopoccin. Bbin. III. (IIojikt>
OrapoAyöcKift). H. KoHCTaHTMHOBNHa. Ü3ä. Hepmir. Ty6. CTaT. Komh-
TCTa. HepHnroBi». 8 a. 857 CTp.)
Neselenow, A. Nikolai Iwanowitsch Nowikow. Herausgeber der
Journale in den Jahren 1769—1785. St. Petersburg. 8°. 447 S. (HeaeJie-
hobi, A. HnKOJiafi HBaHOBH*n> Hobhkobt>, H3AaTejib acypHajioB-b
1769—1785 rr. Cn6. 8 a. 447 CT P-)
Blioch, I. Die russischen Eisenbahnen bezüglich ihrer Einnahmen
und Ausgaben etc. Graphische und Zahlen- Tabellen. St. Petersburg.
Folio. 88 Bogen. (Bjlioxi, M. PyccKiÄ Äejrfc3HbiR Aoporn OTHocHTejibHo
Aoxoaobt* h pacxoAOBi> sKcnjiyraiuö, ctohmocth npoB03a n ABH»te-
Hia rpyaoBi». 4iicjiOBbiÄ h rpaoHHecxia Ta6jnm,bi. Cn6. 2 a. 88 ji.)
Kessler, K. Die russischen Fluss-Krebse. St. Petersburg. 8°. 94 S.
und 5 Bogen Abbildungen. (KecCJiep'b, K. Pyccxia p'fcmibiH paxa. Cn6.
8 a. 94 CTp. h 5 ji. pnc.)
Tschmyrow, N- Uebersicht der allgemeinen und russischen Geo¬
graphie. Moscau 8°. 32 S. (HafafpeB'b, H. KoHcneirrb Bceoömeft h pyc-
CKofl reorpa<£in. MocKBa. 8 a. 32 crp.)
Alandsky, P. I, Die Poesie als Wissenschaft. I. Theil. Kiew. 4 0 .
199 S. (AjiaHACKiff, II. M. no93ia, Kaxi» npeAMerb HayKH. 4 . I. Kießi>.
4 A. 199 CT P-)
Roschdestwensky, S. Kurze Auslegung der Sophoclefschen Tragö¬
die «Oedipus auf Kolonos*. Moskau. 12 0 . 24 S. (PomAecTBeHCKifi, C.
KpaTKoe H3AO»ceHie TpareAia Co<x>omia • Bähet» bt> Kojioirfe ».
MocKBa. 12 a. 24 CTp.)
Markow, E. Junge Herren. Bilder aus der Vergangenheit. St. Peters¬
burg. 8°. 441 S. (MapKOBb, EßreHiö. EapnyKH. KapTHHbi nponuiaro.
Cn6. 8 a. 441 CTp.)
Melescheff, P. R. Russische Volksscenen. Kiew. 8°. 75 S. (MeJlB-
UieBb, fl. fl. Pyccxia HapoAHbi* cneHbi. Kießi>. 8 a. 75 CTp.)
Kokscharow, Nikolai. Materialien zur Mineralogie Russlands. Ende
des VI. und Anfang des VII. Bandes. St. Petersburg. 8°. 408 S.
Jakowicki, Anton. Zur physiologischen Wirkung der Bluttransfusion.
Dorpat. 8°. 49 S.
Jung-Stilling, Fr. Die directen Steuern der Livländischen Bauernge¬
meinden im Jahre 1871. Riga. 4 0 . 24 S.
Herausgeber und verantwortlicher Redacteur Ca&l Röttgbr.
AodBo-icHo ueHaypoio. C.-IleTep6ypn», 10-ro 1 k>jul 1875 roaa.
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Das russische Geldwesen während der Finanzver-
waltung des Grafen Cancrin (1823—1844).
Eine finanzhistorische Studie
von
Dr. Alfred Schmidt.
(Fortsetzung.)
B. Die Reorganisation des Geldsystems im Jahre 1839.
Bevor ich zur Wiedergabe der Verhandlungen, welche über
diesen Gegenstand im Reichsrathe gepflogen worden sind, über¬
gehe, muss ich, um die Darlegung der bis zum Jahre 1839 auf dem
Gebiete des Geldwesens getroffenen Massregeln zu vervollständi¬
gen, noch zweier Vorlagen erwähnen, wofür ich hier die geeignetste
Stelle finde.
i. Als man im Jahre 1834 im Reichsrathe über die Klageschrift
der Moskauer Kaufleute hinsichtlich des Umlaufs ausländischer
Münze berieth (cf. p. 52), wurde zu gleicher Zeit eine zweite Frage
behandelt, diejenige über die Ausstellung von Wechseln auf «gang¬
bare Münze* (HaxoÄÄHeio MOHeTy). Es waren nämlich von vielen
Seiten her Klagen über diese Art von Wechselausstellung einge¬
laufen. Die angestellte Untersuchung ergab, dass unter dem Aus¬
druck «gangbare Münze* im Publikum russische und ausländische
Gold- und Silbermünze verstanden wurde, letztere aber bei Zah¬
lung der Wechsel nicht nach ihrem Edelmetallwerthe, sondern
nach ihrem höheren Volkskurse berechnet wurde, woraus für die
Wechselinhaber natürlich mannigfache Verluste erwuchsen. Da
diese Art Wechselausstellung in direktem Widerspruche mit der
neuen Wechselordnung vom Jahre 1832 stand, so beschloss der
Reichsrath zu verordnen, dass jede Vermerkung auf «gangbare
Münze* widergesetzlich sei, daher Wechsel mit dieser Bemerkung
als ungültig betrachtet und die Uebertretung dieser Verordnung
Rom. Revue. Bd. VII. »
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9 8
bestraft werden sollte. In der Wechselordnung von 1832 wurde
wohl ein Unterschied zwischen inländischen und ausländischen
Wechseln gemacht; während letztere auch auf ausländische Münze
ausgestellt sein konnten, durften erstere nur auf russische klingende
Münze oder Assignaten lauten, und auch diese Betimmüng sollte
dem Publikum von Neuem eingeprägt werden
2. Im Jahre 1837 kam eine ganz ähnliche Frage im Reichsrathe
zur Verhandlung. Das Gesetz vom 8. October 1834 (Nr. 7,442),
welches alle schriftliche Abmachungen auf «gangbare Münze»
strengstens verboten hatte, überliess den contanten Kauf und Ver¬
kauf vollkommen dem freien Uebereinkommen zwischen Käufer und
Verkäufer. Dies war namentlich aus zwei Gründen geschehen:
erstens in der Erwartung, dass jenes Gesetz allmählich der «Rechnung
auf Münze» 2 (cHerh Ha MOHeTy) überhaupt ein Ende machen würde,
und zweitens, um nicht ohne äusserste Noth zu lästigen polizeilichen
Ueberwachungen schreiten zu müssen. Jenes Verbot hatte aber
durchaus nicht den gehofften Erfolg 8 , und die aus der «Rechnung
auf Münze» sich ergebenden Nachtheile für den Alltagsverkehr
hatten sich inzwischen durchaus nicht verringert, sondern bedeutend
zugenommen. Der Finanzminister reichte daher 1837 eine Vor¬
lage beim Reichsrathe ein, von der er überzeugt war, dass durch ihre
Ausführung alle Uebelstände der «Rechnung auf Münze» und des
Volks-Agio beseitigt werden könnten. Diese Vorlage verlangte, dass
ausser den durch das Gesetz vom 4. October 1834 verbotenen
schriftlichen Abmachungen «auf Münze» auch alle mündlichen Ab¬
machungen, jeglicher Kauf und Verkauf nach dieser Art Rechnung
verboten werden sollten, mit der gleichzeitigen Bestimmung, dass
alle Zahlungen in ausbedungenen Fällen in Gold, Silber und Assig¬
naten je nach ihrem Börsenkurse, in allen anderen Fällen aber
nach dem Abgabenkurse zu geschehen hätten. Die Annahme des
kleinen Silbergeldes sollte jedoch bei Bruchzahlungen zum Volks¬
kurse (vier Rbl. Assignaten gleich einem Silberrubel) gestattet blei¬
ben. Wer diese Verordnung übertreten würde, sollte gerichtlich
1 M. d. R. v. 3. Mai 1834. Ausführlicheres im Gesetz vom 8. October 1834
Nr. 7,442.
* Genaueres über diese «Rechnung auf Münze* findet man weiter unten im Exkurs
über das Volks-Agio im II. Abschnitt.
3 Ja Fürst Drutzki-Ljubetzki behauptete sogar, dass diese Verordnung nur noch
zur Verbreitung des Agio beigetragen hätte, da man in Folge derselben gezwun¬
gen war, sich häufiger als sonst an die Wechsler zu wenden. (J. d. Dep, d. Reichs¬
ökonomie Nr. 77. 1839).
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belangt werden und derselben Strafe wie fiir Betrug unterliegen. —
Das Departement der Reichsökonomie, davon absehend, dass diese
Massregeln sich gar nicht auf den Grund des Uebels, sondern bloss
auf die Folgen desselben bezogen, hielt sie trotzdem für unausführbar;
es sei sehr wenig Aussicht vorhanden, dass man durch ihre Verwirk¬
lichung das gewünschte Resultat: Unterdrückung der «Rechnung
auf Münze», erreichen würde, was schon die Erfahrung lehre,
welche man mit dem Verbote schriftlicher Abmachungen auf «gang¬
bare Münze» gemacht habe. Ferner würde das erforderliche polizei¬
liche Spionirsystem mit Recht grosse Klagen hervorrufen, den freien
Verkehr zum Nachtheil des ganzen Volkes erschweren und beein¬
trächtigen, ja es sei überhaupt sehr zweifelhaft, ob man mündliche
Abmachungen irgendwie polizeilich verhindern könnte. Was die
Ausnahme zu Gunsten der Annahme des kleinen Silbergeldes zum
Volkskurse anbeträfe, so könnte dieselbe Grund zum Fortbeste¬
hen der Agiotage geben, ausserdem wäre es doch eine mehr als
missliche Sache, durch ein Gesetz verschiedene Preise für eine
Münze von gleichem Gewichte und gleichem Feingehalte zu be¬
stimmen! — Im Reichsrathe wurde der Antrag des Finanzministers
auch als unausführbar verworfen. Hier wurde noch hervorgehoben,
dass die vorgeschlagenen Massregeln den Grund der Calamität gar
nicht beseitigen, dagegen ihre Ausführung selbst mit ganz bedeu¬
tenden Nachtheilen für die Volkswirthschaft verbunden sein würde.
Es war eben Allen, bis auf den Finanzminister, klar geworden, dass
die Ursache des ganzen Uebels die falsche Grundlage des beste¬
henden Geldsystems sei, und eine wirkliche und endgültige Ab¬
hülfe aller Missstände nur von einer Reorganisation des herrschen¬
den Geldsystems erwartet werden könnte K
Vergegenwärtigen wir uns nun in kurzen Zügen die Lage des Geld¬
wesens bis zum Jahre 1839.
Die Assignaten, bei ihrer ersten Ausgabe (1769) ursprünglich ein¬
lösbare Noten mit Steuerfundation, verloren mit der Aufhebung der
Einwechselungskassen 1786 ihre Einlösbarkeit, behielten aber noch
ihre Steuerfundation; 1812 wurde ihnen dann Zwangskurs beigelegt
und sie damit in eigentliches Papiergeld umgewandelt. 1815 hatten
sie ihren tiefsten Stand erreicht, und mit 1818 beginnt ihr Steigen in
Folge nicht unbedeutender Einziehung von Assignaten und des
4 M. d. R. v. 29. Nov. 1837.
7 *
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100
Versprechens der Regierung, die Verminderung der in Umlauf be¬
findlichen Menge so lange fortzusetzen, bis die Assignaten ihren ur¬
sprünglichen Werth wieder erreicht hätten, d. h. al pari mit dem Sil¬
ber ständen. Mit dem Verwaltungsantritte des Grafen Cancrin wurde
dieses, wie er es nannte *, «unvorsichtige System, welches darauf hin¬
ausging, die ganze Assignatenmasse in verzinsliche Schuld umzu¬
wandeln», abgeschafft, wodurch eine Ausgabe von jährlich 18 Mill.
Rbl. Banco in Wegfall kam.
'Für die klingende Münze war das Manifest vom 20. Juni 1810
(Nr. 24,264) von grösster Bedeutung, denn durch dasselbe wurde
ein neues Münzsystem hergestellt. Der Rubel in Silber wurde zum
allgemeinen gesetzlichen Preismass, zur Münzeinheit bestimmt.
Dieser neue Rubel erhielt folgende Theilung: es sollte kleines Sil¬
bergeld gleichen Korns in 50-, 20-, 10- und 5-Kopekenstücken ge¬
prägt werden. Da jedoch für das 5-Kopekenstück keine dem Werthe
entsprechende Einwechselungsmünze, d. h. keine Kopeken in Silber¬
werth geprägt wurden, so zerstörte man damit die Einheit des
Münzsystems. Im S 9 des Manifestes heisst es nämlich: «Das kleine
Silbergeld (silberne Scheidemünze) wird nach Massgabe seiner
Ausprägung in den Verkehr treten, jedoch nach einem, seinem
Metallwerthe entsprechenden Kurse, d. h. mit einem Agio gegen
Kupfer und Assignaten, wie. ein solches an der Börse für Silber
bestehen wird». Auch der durch das Manifest vom 30. März 1764
(Nr. 12,116) anerkannte Grundsatz, dass das Werthverhältniss
zwischen Gold- und Silbermünze genau demjenigen der beiden
Metalle zu einander entsprechen müsste, wurde im Manifeste von
1810 nicht mehr eingehalten, denn während der alte Silberrubel
jetzt in seinem Gewichte reinen Silbers verändert wurde, liess man
der Goldmünze ihr altes Gewicht. —Das Kupfergeld hatte seit 1810
zweimal in seinem Werthe Veränderungen erlitten (18 io und 1832).—
Die neue Platinamünze, die ursprünglich nach dem Werthverhält¬
nisse des Platinametalls zum Silber geprägt wurde, entsprach dieser
Werthrelation schon lange nicht mehr, denn das Platinametall war
im Preise gegen Silber bedeutend gesunken, während die Platina¬
münze noch nach ihrem Nennwerthe, also zu einem viel zu hohen
Kurse, sich in Umlauf befand.
Das Gesetz von 1786 war von allen, das Geldwesen betreffenden
Gesetzen aus den Jahren 1786, 1810, 1812, 1817, 1828, 1829,
4 Reisetagebücher, Beilage II, p. 59.
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IOI
1832 und 1834 dasjenige, welches man als letzte Grundursache des
beständigen Schwankens unseres damaligen Geldsystems ansehen
muss, während alle übrigen wesentlich dazu beigetragen haben,
diese Unbeständigkeit mit allen ihren volkswirthschaftlichen Schä¬
den zu befestigen, zu verbreiten und sie tiefe Wurzeln schlagen zu
lassen. Die Hauptveranlassung zu der unerträglichen Lage des
Geldwesens in Betreff der verschiedenen Kurse (namentlich des
Volkskurses) war die Bestimmung, dass alle Abmachungen, Con-
trakte, Rechnungen u. s. w. ausschliesslich auf Assignaten lauten
mussten, während die Regierung gleichzeitig verkündigte, dass sie
mit Hülfe von Anleihen und erhöhter Abgaben Assignaten aus dem
Verkehre ziehen würde, bis diese wieder ihren ursprünglichen Werth
erreicht hätten, d. h. al pari mit dem Silber ständen. Bis zum Jahre
1839 fehlte dem bestehenden Geldsysteme alle feste Basis und
Einheit, es herrschte in allen Geldverhältnissen ein wahres Chaos.
Da ist kein constantes Preismass, keine Münzeinheit vorhanden,
dagegen kursiren eine Menge Geldarten, die alle in keinem festen
Werthverhältnisse zu einander stehen; die Goldmünze hat den
Goldrubel, die Silbermünze den Silberrubel, die Kupfermünze den
alten Kupferrubel, die Assignate eigentlich gar nichts zur Basis.
Ausserdem befanden sich noch ausländische Scheidemünze (Billon)
und ausländische Gold- und Silbermünze zu einem ihren Metall¬
werth bedeutend übersteigenden Kurse in Umlauf, und in einer
solchen Menge, dass sie an manchen Orten die vorhandene einhei¬
mische Münze um das Vierfache übertrafen. Dazu kam noch ein
grosser Uebelstand: die Existenz dreier Kurse, des Börsen-, Abga¬
ben- und Volkskurses für die eigene Münze. So lange ein getrennter
Zoll- und Abgabenkurs existirte, gab es deren zeitweise sogar vier.
Alle diese Uebelstände wurden aber noch bedeutend von den wirt¬
schaftlichen Nachtheilen des ausgearteten Volks-Agio übertroffen
(cf. Abschnitt II.). Ueber die durch dasselbe hervorgerufenen Schä¬
den hörte man daher auch die häufigsten und nachdrücklichsten Kla¬
gen. Der Grund aber zu diesem Agio lag unleugbar nur in dem, jeg¬
licher festen Grundlage entbehrenden damaligen Geldsysteme. Da¬
her war die Reorganisation desselben im Jahre 1839 die grösste Wohl¬
tat, welche die Regierung dem Volke erweisen konnte.
Inzwischen war zur Abstellung der Missstände im Laufe der Can-
crin’schen Finanzverwaltung Folgendes geschehen. Es war die An¬
nahme klingender Münze bei den Abgabenzahlungen anbefohlen
und Tabellen waren publicirt worden, welche die genaue Werthan-
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102
gäbe aller, zu einem ihren Metallwerth bedeutend übersteigenden
Kurse im Reiche in Umlauf befindlichen ausländischen Münzen
enthielten; auch hatte die Regierung denVersuch gemacht, diese
gegen russische Münze einzutauschen. Alle schriftlichen Abmachun¬
gen «auf Münze» wurden verboten und den Ortsaufsehern in den
Gouvernements strengstens befohlen, darüber zu wachen, dass das
Volks-Agio nicht mehr gesteigert werde. Alle diese Massregeln
hatten aber nicht den gewünschten Erfolg: das Volks-Agio zu unter¬
drücken. Ebenso wenig hatte der Versuch einiger Kaufleute in
Moskau und anderen Städten, einen festen unveränderlichen Kurs
von 360 Kopv Assignaten für das Silber einzuführen, gefruchtet. Die
Erklärung liegt auf der Hand: alle diese Massregeln waren nicht
gegen den Grund des Uebels, sondern nur gegen die Folgen des¬
selben gerichtet! Nur eine Reorganisation des bestehenden Geld*
Systems konnte radical helfen.
Ich will nun versuchen, den Gang dieser Reorganisation in seinen
Hauptzügen zu schildern, wobei ich den verschiedenen Gutachten,
welche über diese Frage von namhaften Staatsmännern jener Zeit
schriftlich abgegeben worden sind und die mir zur Einsicht Vorge¬
legen haben, folgen werde.
Diese Gutachten, welche meistens zwei Fragen getrennt behan¬
deln: die Unterdrückung des Volks*Agio und die Gründung einer
Depositenkasse für Einlagen in Silber bei der Commerzbank, sind
folgende:
I. Von dem Finanzminister Grafen Cancrin über beide Fragen,
vom 29. Juli 1837; 31. Januar, 1. März, 15. November 1838
und ohne Datum aus dem Jahre 1839.
II. Vom Grafen Speranski: Ueberden Geldumlauf. Ohne Datum *.
III. Vom Fürsten Drutzki-Ljubetzki: a. Ueber die Depositenkasse,
vom 9. November 1837 un d b. Ueber die Unterdrückung der
Rechnungen «auf Münze», vom 11. Mai 1838.
IV. Vom Admiral Greigh über beide Fragen, vom 9. December
»837-
V. Vom Grafen Mordwinow: Ueber die Münze, vom 6. Fe¬
bruar 1838.
Der wesentlichste Inhalt dieser Gutachten in Betreff der einzu¬
führenden Massregeln ist folgender.
I. Der Finanzminister schlug vor: 1) zuerst in St Petersburg bei
der Commerzbank, dann aber auch bei ihren Filialen in Moskau und
1 Dieses Gutachten wurde erst nach dem Tode des Grafen im Februar 1839 bekannt.
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103
Riga Depositenkassen zum Zwecke der Ausgabe von Papiergeld,
gegen Einlagen von Silbermünze, in Appoints von 5, io, 25, 50
und 100 Rubeln unter dem Namen «Depositenbillete* zu gründen.
Die Einlagen sollten einen unantastbaren Fond bilden, die neuen
Billete einen freien Umlauf al pari mit der Silbermünze und zu
einem festen Kurse, dem Abgabenkurse, ohne alles Agio gegen
Assignaten, haben, bei allen Kronszahlungen, mit alleiniger Aus¬
nahme der Zollabgaben, angenommen, wie auch von der Krone bei
allen Zahlungen, ausgenommen in den Creditanstalten, ausgegeben
werden. Der Abgabenkurs sollte stets nach dem Börsenkurse des
Silbers geregelt und nur geringe Abrundungen gestattet werden.
2) nach der Ausgabe von Depositenbilleten alle Abgaben und
Kronszahlungen allmählich auf Silber umzurdchnen. — 3) Wenn die
Depositenbillete sich eingebürgert hätten: a. alle Staats-Einnahmen
und -Ausgaben nach Silber zu rechnen; b. nach Massgabe des Ein¬
laufens der jetzigen Assignaten in die Kronskassen und Banken die¬
selben gegen Depositenbillete oder Assignaten auf Silber (je nach¬
dem man dieses dann bestimmen würde) nach dem zu der Zeit gel¬
tenden Abgabenkurse einzuwechseln; letzterer sollte aber von
dann ab bis zum gänzlichen Eintausch aller alten Assignaten unver¬
ändert bleiben und gleichzeitig ein besonderer Einwechselungsfond
für die neuen Billete gegründet werden; e. endlich auch alle Bank¬
schulden und Einlagen nach demselben festen Kurse auf Silber um¬
zurechnen.
II. Sehr ähnlich waren die Vorschläge des Grafen Speranski:
1) Ausgabe einer neuen Art Creditbillete, auf Grundlage thatsäch-
licher Einlagen, unter dem Namen Depositenbillete. Diese sollten
an allen Kronskassen al pari mit dem Silber und anstatt Assignaten
zum Abgabenkurse von 360 Kop. angenommen und ausgegeben
werden. 2) Alle Zahlungen soMten von nun an in Silber oder jenen
Depositenbilleten zum festgesetzten Kurse gemacht werden können.
3) Schliesslich alle Bank-Assignaten gegen Depositenbillete einzu¬
tauschen; damit diese aber in ihrem Werthe durch Silber gedeckt
seien, sollte eine Anleihe im Betrage der einzuwechselnden Assig¬
naten in Silber gemacht werden, wobei die Einlagen der Depositen¬
kasse unter allen Umständen unangetastet bleiben müssten. Der
Eintausch der Assignaten sollte nicht direkt gegen Silber, sondern
gegen die in ihrem vollen Silberwerthe gedeckten Depositenbillete
erfolgen.
HI. Fürst Drutzki-Ljubetzki verlangte : 1) Anerkennung des jetzj-
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104
gen Silberrubels als Münzeinheit. 2) Beibehaltung seiner jetzigen
Theilung, nur vervollständigt durch die Ausgabe von Kupfergeld
nach Silberwerth in 3-, 1- und V 8 -Kopekenstücken. Dieses neue
Kupfergeld sollte 40 pCt. unter seinem Nennwerthe geprägt wer¬
den. 3) Alle Zahlungen, Rechnungen, Schulden u. s. w. sollten künf¬
tighin auf Silber lauten; daher a. alle Abgaben zum festen Kurse
von 360 Kop. Banco für den Silberrubel umzurechnen seien; b. alle
Zahlungen bis zur gänzlichen Einziehung der Assignaten auch in
Silber zum festgesetzten Kurse geleistet werden könnten; c. Gold-
und Platinamünze, wie die Silbermünze zu ihrem Nennwerthe, die
jetzige Kupfermünze dagegen zu gleichem Werthe mit den Assig¬
naten kursiren zu lassen; mit der Prägung der Platinamünze jedoch
aufzuhören und dieselbe überhaupt aus dem Verkehre zu ziehen.
4) Gründung einer Depositenkasse bei der Commerzbank zur Ein¬
wechselung russischer Silber münze auf folgender Grundlage: a. Aus¬
gabe neuer Assignaten auf Silber in Appoints von 1, 5, 10, 25, 50
und 100 Rubeln, und zwar allein für 30MUI. Rbl. 1-Rubelscheine
und für dieselbe Summe von allen anderen Gattungen zusammen.
Diese Scheine sollten einen Umlauf al pari mit der Silbermünze
und zum Kurse von 360 Kop. für den Rubel gegen Assignaten er¬
halten. b. Alles in Staatskassen einlaufende Silbergeld sollte zum
Eintausch gegen die 1-Rubelscheine in die Depositenkasse abge¬
liefert, dagegen die Gold- und Silberbarren in russische Münze um¬
geprägt und zur Einwechselung der Silber-Assignaten benutzt
werden, c. Aus den erzielten Gewinnen der Depositenkasse einen
Fond zur Einwechselung der Bank-Assignaten zu bilden. Sollte
aber die Einziehung schnell ausgeführt werden, dann eine Anleihe
zu diesem Zwecke zu machen.
Wesentlich abweichend sind die beiden letzten Gutachten.
IV. Admiral Greigh schlug vor: 1) Umprägung aller in Umlauf
befindlichen Münze, um den Silberrubel auf den vierten Theil seines
damaligen Werthes zu reduciren, d. h. ihn dem Assignatenrubel
gleich zu machen (dabei musste aber dem damaligen Viertelrubel
45 Kop. Banco in Silber zugestzt werden, da der Kurs des Silber¬
rubels 355 Kop. Banco betrug). Münzen zu 25 und 50 Kopeken,
zu 1, 2 und 3 Rbl. in Silber, zu 5, 10 und 20 Rbl. in Gold zu
prägen. Das Gewicht des Kupferrubels sollte 60 Solotnik betragen.
2) Bis zur Umprägung aller Münze zu gestatten, Zahlungen u. s. w.
sowohl in Assignaten, als auch in der neuen Münze zu machen.
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105
3) Bei Schuldzahlungen jedoch die Annahme der Goldmünze dem
freien Uebereinkommen zu überlassen.
V. Graf Mordwinow verlangte: i) Die Kronsgoldwäschen zu
verstärken und sie Compagnien zu übergeben. 2) Die dadurch er¬
zielten grösseren Gewinne zur Eröffnung und Unterstützung von
Privatbanken in den Provinzen zu verwenden. 3) Mit Zunahme der
Goldmünze auch das Papiergeld zu vermehren (bis um 200 Mill. RbL
Assignaten), und an den Staatskassen Assignaten und Münze ohne
Unterschied bei allen Zahlungen anzunehmen, den Silberrubel zum
festen Kurse von 400 Kop. Banco. 4) Alle in Umlauf befindliche
ausländische Münze in russische umzuprägen und, um die Ausfuhr
letzterer zu verhindern, eine Abgabe für dieselbe zu erheben. 5) In
der Folge statt der vorhandenen Bank*Assignaten, Assignaten auf
Silber einzuführen.
Von diesen fünf Gutachten sind die beiden letzten im Reichsrathe
unberücksichtigt geblieben. Dasjenige vom Grafen Mordwinow —
weil es sich hauptsächlich auf die Entwickelung des inneren Ver¬
kehrs bezog, soweit es aber das Geldsystem berührt, in den übri¬
gen Gutachten schon enthalten war; dasjenige des AdmiralsGreigh—
weil seine Ansicht in Betreff der Depositenbank mit der Cancrin’s
und Speranski’s übereinstimmte, und seine Anschauung bezüglich
des neuen Geldsystems wohl als sehr lehrreich, aber doch nicht
als anwendbar angesehen wurde, da 1) eine Veränderung in der
Münzeinheit von nachtheiligem Einflüsse auf den auswärtigen Handel
und Credit sein könnte; 2) ein Beibehalten der gegenwärtigen As¬
signaten die Wiederkehr aller jetzt herrschenden Missstände doch
möglich machen würde; 3) die Prägung von kleinem Silbergelde
für den täglichen Verkehr obwohl nothwendig, bei der gewünsch¬
ten Theilung jedoch in Folge seiner zu kleinen Grösse unmöglich
wäre; und 4) andere Vorschläge die Majorität im Reichsrathe und
den Finanzminister für sich hätten.
Die Vorschläge des Grafen Speranski und des Fürsten Drutzki-
Ljubetzki sind im Wesentlichen so übereinstimmend mit der Vor¬
lage des Finanzministers, dass sie mit derselben zusammen einer
Betrachtung unterworfen werden können. Sie verlangen alle drei
1) Anerkennung der Süberwährung und des Silber-Rubels als Münz¬
einheit; Annahme dieser Münze nach festgesetztem Kurse an allen
Kronskassen und Banken. 2) Gründung einer Depositenkasse zum
Zweck der Ausgabe von Depositenbilleten oder Assignaten auf Süber,
die in ihrem Silberwerthe durch Silbermünze gedeckt seien. 3) Die
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kursirenden, auf «gangbare Münze» lautenden, Bank-Assignaten
gegen Assignaten auf Silber lautend einzutauschen.
Diese drei Gutachten entsprachen auch vollkommen den Grund¬
forderungen, denen bei der Reorganisation des damaligen Geld¬
systems Genüge geleistet werden sollte: i) dem Reichsgelde
durch Wiederherstellung der Münzeinheit und der Einheit des
Münzsystems einen positiven, festen Preis zu geben; 2) zur Festig¬
keit und Beständigkeit des Geldsystems dieses auf der Silberwährung
zu begründen; 3) um das Volks-Agio in seinem letzten Grunde zu
unterdrücken und ein Steigen der Assignaten zu verhüten, sowie
zur Erleichterung der Geldumsätze, neues, in seinem Werthe durch
Silber gedecktes, Papiergeld zu emittiren und die Assignaten gleich¬
zeitig einzuziehen.
Da eine ausführliche Besprechung aller vorgeschlagenen Mass-
regeln 1 zu weit führen würde, so werde ich nur bei den wichtigsten
derselben länger verweilen.
I. Ueber die Zeit der Einführung der nothwendigen Massregeln.
Fürst Drutzki-Ljubetzki verlangte sofortige Publikation über die
Ausführung aller Massregeln mit Ausnahme des Eintausches der
alten Bank-Assignaten gegen Assignaten auf .Silber. Die Grafen
Cancrin und Speranski wollten dagegen ein allmähliches Vorgehen,
wenn möglich in drei, sonst in zwei Perioden; und zwar sollten am
1. Januar 1840 alle Massregeln in Kraft treten, ausgenommen die
Einwechselung der Assignaten, die erst am 1. Januar 1841 oder je
nach Umständen auch noch später beginnen sollte. — Obgleich die
Majorität im Reichsrathe der Vorlage des Finanzministers im We¬
sentlichen vollkommen beistimmte, differirte sie mit ihm in drei
Punkten: 1) sie verwarf alle von ihm vorgeschlagenen Ausnahmen
(cf. Vorlage Punkt 1, p. 102); 2) verlangte sie sofortige Bestim¬
mung eines festen, unveränderlichen Abgabenkurses (cf. Vorlage
Punkt 1, p. 102), und 3) hielt sie die Nachtheile des Fortbestehens
eines Volks-Agio während noch siebenMonaten (die Verhandlungen
fanden im Juni 1839 statt) für so schädlich, dass sie die möglichst
rasche Fixirung des Assignatenkurses und die Publikation eines
darauf bezüglichen Manifestes für absolut geboten hielt. Dadurch
hoffte man dem Uebel die Spitze abzubrechen und für alle anderen
Massregeln Zeit zu gewinnen. Das Manifest sollte die Fixation des
Assignatenkurses und den Befehl der Annahme von Silbermünze
zum festgesetzten, unveränderlichen Kurse an allen Staatskassen
1 M. d. R. v. 10., la. und 17. Juni 1839.
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und an den Creditanstalten bringen. Alle übrigen Massregeln sollten
aber erst mit dem i. Januar 1840 eingeführt werden.
II. Ueber die Fixation des Kurses.
Welcher Kurs sollte bis zur vollendeten Einziehung der Assig¬
naten zum festen, unveränderlichen Kurse für letztere bestimmt
werden? Diese Frage ist wohl die wichtigste in der ganzen Ver¬
handlung über die Reorganisation des Geldsystems von 1839. —
Es standen sich hierbei zwei Ansichten schroff gegenüber. Die
Einen, an ihrer Spitze der Finanzminister Graf Cancrin, verlangten
zum festen, unveränderlichen Kurse den Börsenkurs, die Anderen,
unter ihnen der Fürst Drutzki-Ljubetzki, den Abgabenkurs von
360 Kop. für den Silberrubel bestimmt zu sehen.
Für die Fixation nach dem Börsenkurse, welche übrigens nur die
Minderzahl im Reichsrathe befürwortete, wurde mit vielem Rechte
geltend gemacht, dass die Regierung verpflichtet sei, Sorge dafür
zu tragen, dass die Ungerechtigkeit, welche sie mit jeder Fixation un¬
vermeidlich begehen müsse, eine möglichst geringe sei. Der Finanz¬
minister hob hierbei noch hervor, dass die Regierung bei der Ein¬
führung eines Zwangskurses sich vor Nichts so sehr scheuen müsste,
als vor einem Vorgehen, das nur den geringsten Anschein von Will¬
kür habe; sie müsse dagegen suchen, dem allgemeinen Vertrauen
möglichst Rechnung zu tragen. Es ist nun aber gewiss klar, dass
der Börsenkurs der Assignaten ohne Frage ein weit richtigerer
Massstab für das Vertrauen des Publikums in den Credit des Staates
war, als der Abgabenkurs, denn letzterer war ja von der Regierung
selbst festgesetzt worden. Es wundert mich auch sehr, dass man
den eifrigen Vertheidigern des Abgabenkurses nicht in Erinnerung
gebracht hat, dass der Abgabenkurs bei seiner Einführung, d. h.
neun Jahre bevor er zum fixen Kurse gemacht werden sollte, auch
kein anderer als der damalige Börsenkurs mit einiger Abrundung,
der leichteren Berechnung wegen, gewesen ist. Jetzt entsprach er
aber schon lange nicht mehr dem Börsenkurse, wie dieses doch
eigentlich der Fall sein sollte. Der St. Petersburger Börsenkurs
schwankte vom 1. Mai 1838 bis zum 1. Mai 1839 zwischen 353 und
346 Kop. Banco für den Silberrubel, während der Abgabenkurs
nach wie vor 360 betrug. — Der Abgabenkurs, da er niedriger
als der faktische war, hätte, als fixer Kurs eingeführt, alle
-Gläubiger stark benachtheiligt. Den Schuldnern sollte es näm¬
lich dem Gesetze nach freistehen, ihre Schulden in * Assignaten
nach fixem Kurse oder in Silber zu bezahlen; die Gläubiger
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/
dagegen waren gezwungen die Geldart anzunehmen, in welcher der
Schuldner zahlen wollte. Durch denselben wären auch alle Perso¬
nen, die vom Ertrage fixer Kapitalien lebten, beeinträchtigt worden;
desgleichen die Banken, welche den Depositären ihre Einlagen auf
Wunsch in Assignaten zurückzahlen mussten; die Depositäre hätten
also ihre Einlagen in Assignaten herausgezogen, für dieselben billi¬
geres Silber gekauft und dieses wieder in die Banken als Einlagen
zurückgegeben, aus welcher Operation ihnen ein grosser Vortheil,
den Banken aber ein entsprechender Schaden erwachsen wäre. Da
die Kündigungen in solch einem Falle wahrscheinlich in Masse statt-
funden hätten, so würde der Baarvorrath der Banken, mit dem es
schon an und für sich schlecht bestellt war, nicht genügt haben, alle
gekündigten Einlagen auszuzahlen; es wäre also zu schlimmen Krisen
gekommen. Der zu niedrige Kurs hätte auch der Staatskasse direk¬
ten Nachtheil gebracht, indem sie nicht mehr mit 360 Kop. Banco,
sondern mit einem Silberrubel alle Dinge bezahlen musste, diese sich
aber in ihren Preisen nach dem höheren, natürlichen, d. h. dem Bör¬
senkurse der Assignaten, umgestaltet hätten.
Als ein Hauptargument für die Fixation des Abgabenkurses wurde
von den Vertretern desselben angeführt, er hätte sich beim Volke
im Laufe der neun Jahre seines Bestehens vollkommen eingebür¬
gert, da alle Abgaben nach ihm entrichtet würden. Dabei vergassen
die Herren vollkommen, dass die Zahlung von Abgaben nur einen
sehr geringen Theil der gesammten Geldumsätze des Volkes aus¬
macht, bei weitem die meisten Zahlungen also nicht nach dem
Abgabenkurse ausgeführtwurden. Ferner behaupteten sie, dass
nur die Fixirung des Abgabenkurses zum beständigen Kurse der
Regierung die Möglichkeit eröffne, dem Voikskurse sofort ein Ende
zu machen. Merkwürdigerweise scheint dieser Vorzug des Abga¬
benkurses von den Gegnern nie beanstandet worden zu sein; wäh¬
rend, meiner Ansicht nach, die Bestimmung des Börsenkurses
genau denselben Vortheil darbot, wenn man statt des projektirten
Durchschnittes des Börsenkurses vom Jahre 1839, den Durch¬
schnittskurs vom 1. Mai 1838 bis zum 1. Mai 1839 zum unveränder¬
lichen Kurse bestimmt hätte. Triftiger erscheint dagegen der Ein¬
wand, dass es ungerecht sei den Börsenkurs von St. Petersburg, wie
man dies vorgeschlagen, zum fixen Kurse zu machen. Warum man
allerdings diese wesentliche Ungerechtigkeit begehen zu müssen
glaubte, habfe ich nirgends ersehen können; es lag doch so nahe, den
Durchschnittskurs der Hauptbörsen zum fixen Kurse zu bestimmen >
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zumal der Börsenkurs für den Silberrubel an den Haupthandelsplätzen
nicht ganz unbedeutend von einander abwich, am höchsten stand er
gewöhnlich in St. Petersburg. Man könnte auch noch einwenden, dass
es ebenso ungerecht war, den Durchschnittskurs nur des Jahres 1839
zur Fixation zu wählen, und nicht den mehrerer Jahre oder den am
Tage der Publikation des Manifestes an der Börse notirten. Letzteres
wäre vielleicht das Gerechteste, aber doch nur scheinbar so gewesen,
denn ein Tageskurs kann von sehr zufälligen Umständen bedingt
werden, und wäre dieses Mal auch aus dem Grunde gewiss nicht
zweckentsprechend gewesen, weil das Gerücht von der Absicht der
Regierung, den Tageskurs zum fixen zu bestimmen, sich nothwen-
digerweise vor derZeit unter dem Publikum verbreitet hätte und damit
die Bildung jenes Tageskurses vollkommen der Willkür des grossen
Handelsstandes, der die Börse beherrscht, Preis gegeben gewesen
wäre. Den Durchschnitt mehrerer Jahre hätte man gewiss wählen
können, aber dieses machte die Berechnung des fixen Kurses be¬
deutend complicirter, und eine grössere Gerechtigkeit wäre damit
auch nicht gerade erzielt worden, zumal die meisten Geldverbind¬
lichkeiten, x Kapitalumsätze u. s. w. im Laufe eines Jahres vor
sich gehen.
Nach den heftigen Debatten, welche im Reichsrathe über die
Fixation stattfanden, ist es um so befremdender, dass das Mani¬
fest vom 1. Juli 1839, Nr. 12,497, «Ueber die Organisation des Geld¬
systems» in Punkt 2 und 3 nur eine Bestimmung über die Fixa¬
tion des Kurses enthält: er wird zu 350 Kop. Banco für den Silber¬
rubel normirt und der Abgabenkurs von 360 Kop. bis zum 1. Januar
1840 für alle Zahlungen, die nach ihm laut früheren Bestimmungen
erfolgen sollten, beibehalten. Es wird hier im Manifeste auch nicht
mit einem Worte erwähnt, warum gerade der Kurs von 350 Kop. ge¬
wählt worden!? Dieser Kurs von 350 Kop. für den Silberrubel kam
dem Durchschnitts-Börsenkurse vom 1. Mai 1838 bis zum 1. Mai 1839
wohl nahe, überstieg ihn aber doch selbst für St Petersburg und
noch mehr für andere Handelsplätze.
DI. Ueber die Stückelung des neuen Papiergeldes.
Der Finanzminister hatte Appoints von 5, 10, 25, 50 und
100 Rubel vorgeschlagen, der Fürst Drutzki-Ljubetzki aber auch
noch 1-Rubelscheine dringend verlangt. Das Departement der
Reichsökonomie und der Reichsrath stimmten für den Vorschlag des
Fürsten Drutzki-Ljubetzki, sie betrachteten die Ausgabe von
I-Rubelscheinen für durchaus wünschenswert!!, weil sich leicht ein
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Mangel an i-Rubelstücken einstellen könnte. Der Finanzminister
wandte dagegen mit grösstem Rechte ein, dass es unzweckmässig
sei, Billete in so kleinen Appoints in Umlauf zu setzen, weil das
Augenmerk der Regierung darauf gerichtet sein müsse, die klingende
Münze stets als Verkehrsmittel des täglichen Lebens zu erhalten,
das Papiergeld dagegen nur im Grossverkehre cirkuliren zu lassen,
wo es namentlich seiner grösseren Cirkulationsfahigkeit wegen be¬
deutende Vorzüge vor der klingenden Münze besitze. Eine Ausgabe
von i- und 2-Rubelscheinen hielt Cancrin für geradezu gefähr¬
lich, diese könnten die klingende Münze wieder aus dem Verkehre
treiben und dadurch nur all zu leicht wieder zum Agio-Unwesen
Anlass geben lm
IV. Ueber den Eintausch der Assignaten und den zu diesem
Zwecke zu gründenden Fond.
Graf Speranski schlug vor: i) eine Anleihe ganz ohne Rücksicht
auf die in der Depositenkasse vorhandenen Einlagen zur Gründung
des Fond zu machen, und 2) die Einwechselung der Assignaten
nicht direkt gegen klingende Münze, sondern gegen, in Silber in
ihrem Werthe gedeckte Depositenbillete vorzunehmen. — Fürst
Drutzki-Ljubetzki wollte den Fond aus dem Ertrage der Depositen¬
kasse, wenn die Einwechselung der Assignaten aber rasch erfolgen
sollte aus einer Anleihe gebildet haben. Unter allen Umständen
sollte aber jedes Depositenbillet, auch das zum Eintausch der Assig¬
naten bestimmte, ganz in seinem Werthe durch Edelmetall ge¬
deckt sein. Der Finanzminister beantragte dagegen: Gründung
eines Einwechselungsfond im Betrage von einem Fünftel oder einem
Sechstel der zur Einwechselung der Assignaten ausgegebenen De¬
positenbillete, mit gleichzeitiger Garantie der Staatskasse, dass die
Einlösung der neuen Billete ununterbrochen und ohne den gering¬
sten Aufenthalt vor sich gehen würde. Ferner sollten fürs Erste nur
die in Staatskassen einlaufenden Assignaten eingetauscht werden,
und an den Kreisrenteien die Einlösung der neuen Billete nur nach
Massgabe des Baarvorraths derselben erfolgen, so wie nur in be¬
schränktem Betrage an ein und dieselbe Person.
Das Departement der Reichsökonomie argumentirte seinerseits:
die Ursache der gegenwärtigen Calamität liege in der Natur der
Assignaten, die keine Pfandscheine (aKTM aajiora) seien, sondern
ganz gewöhnliche, in ihrem Werthe durch gar nichts gedeckte
Wechsel. Um das Uebel mit der Wurzel auszurotten, sollte nun die
1 J. d. Dep. d. Reichsökon. 1839. Nr. 77.
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III
Natur der Assignaten verändert werden, indem sie jetzt auf Silber
lauten und in ihrem Werthe durch Silber gedeckt sein sollten, anstatt"
wie früher auf «irgendwelche gangbare Münze» (Ha Kaityio-To xoäh-
nefo MOHeTy), deren Bedeutung von Anfang an nie genau bestimmt
und in Folge von Zeit und Umständen ganz verdunkelt worden sei.
Die Depositenbillete, welche zur Einwechselung der Assignaten aus¬
gegeben werden sollten, könnten unmöglich dieselbe volle Baar-
deckung haben, wie die gleichlautenden undgleichaussehenden Depo¬
sitenbillete, welche gegen Einlagen in Gold und Silber ausgegeben
würden. Im Manifeste könne daher nicht die Rede davon sein, dass
die ganze Masse der ausgegebenen Billete volle Baardeckung habe,
sondern es könne dort nur heissen, dass ein Fond vorhanden sei,
der die ununterbrochene Einlösung garantire. Es fragte sich nun, ob
diese neuen Bilette dadurch nicht mit der Zeit zu denselben Calami-
täten führen könnten wie die Assignaten? Da aber andererseits der
Ertrag der Commerzbank bei weitem nicht genügen würde, um
auch nur im Entferntesten an eine Einlösung der Assignaten durch
denselben denken zu können, andere Quellen dazu nicht vorhanden,
eine neue Anleihe in so bedeutendem Betrage (170 Mill. Rbl. Silber)
unmöglich, eine Einwechselung der Assignaten aber unumgänglich
nöthig sei, so glaube das Departement der Vorlage des Finanz¬
ministers seine Zustimmung nicht vorenthalten zu dürfen, darauf
rechnend, dass die ununterbrochene Ausgabe von Gold und Silber
gegen die neuen Depositenbillete und das unbegrenzte Vertrauen,
welches die Regierung geniesse, das Gelingen dieser in ihren Folgen
so wichtigen Massregeln mehr als wahrscheinlich mache.
V. Ueber die nothwendigen Veränderungen im Systeme der klin¬
genden Münze.
Zwei auf diesem Gebiete angeregte Fragen wurden für den Augen¬
blick nicht entschieden. Einmal, welche Massregeln gegen den Um¬
lauf ausländischer Münzen zu treffen seien, und dann die Einziehung
der Platinamünze als ungeeignetes Edelmetall geld. Was die Gold-
und Silbermünze anbelangt, so wurde entschieden, dass sie in Form,
Gewicht, Korn u. s. w. ganz dieselbe bleiben sollte. Da die Gold¬
münze mehr als Waare angesehen wurde, so blieb es den Privat¬
leuten überlassen, sie in Zahlung anzunehmen oder nicht; für die
Annahme derselben an den Staatskassen wurde aber ein fester Kurs*
bestimmt, der 3 pCt. höher als ihr Nennwerth war; dieses geschah,
weil sich das Werthverhältniss von Gold und Silber inzwischen ver¬
ändert hatte. — Da eine den Verkehrsansprüchen genügende Aus¬
gabe von Kupfergeld nach Silberwerth erst im Laufe vieler Jahre
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erfolgen konnte, so musste inzwischen für das kursirende Banco-
Kupfergeld auch ein fester Annahmekurs bestimmt werden. Da die
Assignaten auf Kupfer basirten, wie dies wenigstens von den
Meisten angenommen wurde, so lag es nahe, das Kupfergeld in
dasselbe Verhältniss zu bringen wie die Assignaten, d. h. den
Silberkopeken 3 ] /a alten Kupferkopeken gleich zu setzen y wie es
auch geschah. Dagegen war von anderer Seite vorgeschlagen wor¬
den, das Verhältniss wie eins zu vier zu normiren. Zu Gunsten
dieser Relation führte man an, dass durch dieselbe alle Umrech¬
nungen für das Volk bedeutend erleichtert und alle Brüche ver¬
mieden würden, welche namentlich deshalb sehr misslich wären,
weil seit dem neuen Kupfergelde (1832) die Regierung keine
Kopeken und halbe Kopeken mehr präge, von den alten sich aber
nur sehr wenige in Umlauf befänden. Jene andere Werthbestim¬
mung für das Kupfergeld würde daher Verluste für das Volk her¬
beiführen, indem dieses stets die Brüche, welche sich bei Berech¬
nungen ergeben würden, zu Gunsten der Verkäufer cediren
müsste. — Der Finanzminister hatte Anfangs auch für das Ver¬
hältniss von 1:4 gestimmt, dann aber seine Meinung geändert:
1) weil er durch den Kurs von 3V2 grössere Einheit des ganzen
Münzsystems zu erreichen hoffte, da ja der Assignatenrubel und
der Kupferrubel gleichwerthig kursiren sollten; 2) weil den Brannt¬
weinspächtern und durch diese der Krone bei einer zu hohen Fixirung
Nachtheile erwachsen konnten, und 3) endlich, weil er der Ansicht
war, dass die vom Volke zu erleidenden Verluste bei kleinen Zah¬
lungen sehr gering und daher nicht fühlbar sein würden, bei grossen
Zahlungen aber verschwinden müssten.
Wie sehr sich aber Cancrin hierin irrte, zeigt die im Jahre 1842
gepflogene Verhandlung über das Kupfergeld, die wir bereits zu
Anfang dieses Abschnittes kennen gelernt haben (cf. p. 39).
VI. Ueber die Gründung der Depositenkasse l .
Die Umsätze der Commerzbank waren in Folge der schwerfälligen
Form der Deposita sehr gering gewesen. Es konnten nämlich nur
Einlagen gegen ! /4pCt. Provision auf sechs Monate gemacht werden;
die ausgestellten Quittungen lauteten auf Namen, daher ihre Ueber-
tragbarkeit sehr weitläufig war, zumal sie jedes Mal an der Bank
selbst geschehen musste. Dazu kam, dass seit der Erlaubniss,
Abgaben auch in klingender Münze zu zahlen (1831, cf. p. 42 und
Gesetz Nr. 4,241), dieselbe sich in den Kronskassen massen-
1 M. d. R. y. 9. November 1837 und J. d. Dep. d. Reichsökon. Nr. 77. 1839.
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haft ansammelte, wo nun ihre schwierige Verschickung, Aufbewahrung
u. s. w. der Finanzverwaltung sehr viele Unbequemlichkeiten verur¬
sachte. Aus diesen beiden Gründen schlug der Finanzminister eine
Reform des Depositen-Statuts der Commerzbank vor, die darin
bestehen sollte, den Quittungen über Einlagen eine circulations-
fahigere Form zu geben, sie in Depositenbillete au porteur und auf
bestimmte gleiche Appoints lautend umzuwandeln, und die Aufbe¬
wahrungsspesen abzuschaffen. Da die Depositenbillete volle Baar-
deckung durch die Einlagen hatten, so konnte auf ihren Umlauf
al pari mit der Silbermünze sicher gerechnet werden, zumal ihnen
auch noch Zwangsannahme für die Kronskassen beigelegt wurde. —
Ein für Cancrin gewiss nicht minder wichtiger Beweggrund zur
Creirung dieser auf Silber lautenden Depositenbillete war seine
Absicht, bei Wiedereinführung der Silberwährung auch Papiergeld
auf Silber lautend einzuführen. Durch eben diese Depositenbillete
wollte er das Volk für eine neue Art Papiergeld vorbereiten, denn
es war ja anzunehmen, dass das Publikum an diesen Depositen-
billeten grosses Gefallen finden würde, wie es auch geschah. Wenn
man nun später, wie dieses in Cancrin's Absicht lag, die Assignaten
gegen ebensolche Depositenbillete eintauschen wollte, so konnte
man wohl nicht mit Unrecht darauf rechnen, dass das Vertrauen
des Publikums zu den Depositenbilleten gegen Einlagen sich auch
auf die zum Assignateneintausch bestimmten fortpflanzen würde,
wenn diese sich durch Nichts von den ersteren unterschieden.
Der Reichsrath stimmte vollkommen mit der Vorlage des Finanz¬
ministers überein; sie wurde auch Allerhöchst bestätigt und so
erschien am i. Juli 1839 gleichzeitig mit dem Manifeste über die
Organisation des Geldsystems auch ein Manifest über die Gründung
einer Depositenkasse für Einlagen in Silbermünze bei der Commerz¬
bank (cf. Gesetz Nr. 12,498).
Der Erfolg dieser Depositenkasse war ein eclatanter. In dreizehn
Monaten waren für 26,666,808 Rbl. Silber Einlagen gemacht und
nur für 1,596,475 Rbl. Silber Depositenbillete zur Einlösung gegen
klingende Münze präsentirt worden. Die Billete kursirten im
ganzen Reiche al pari mit der Silbermünze und genossen beim
Publikum das grösste Vertrauen. Um nun die Umsätze der Kasse
noch zu vergrössern und dem Publikum die Einlagen zu erleichtern,
schlug der Finanzminister im Jahre 1841 vor, auch die Annahme
von Gold- und Silberbarren an der Depositenkasse zu gestatten.
Russische Goldmünze und ausländische Gold- und Silbermünze
Boss. Kerne, Bd, YH. o
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sollten aber nach wie vor nicht angenommen werden. Letztere
seien von zu verschiedenem Feingehalte und ihre Annahme könnte
daher Verluste für die Kasse zur Folge haben. Die russische
Goldmünze dem Verkehre zu entziehen, wäre ein Nachtheil für den¬
selben, auch könnte sie nur nach Gewicht angenommen werden,
da sehr viel abgenutzte Goldmünze in Umlauf sei. Den Beweis für
diese Behauptung blieb aber Cancrin schuldig. Das Departement
der Reichsökonomie erkannte daher sein letztes Argument nicht an,
sondern betrachtete die Annahme russischer Goldmünze in der Depo¬
sitenkasse als einen direkten Vortheil für den Verkehr, da durch
dieselbe die Silbermünze mehr im Umlaufe erhalten würde, was für
den täglichen Verkehr von viel grösserer Bedeutung sei, weil die
Zahlungen im Alltagsleben stets vermittelst Silbermünze gemacht
würden. Da der Finanzminister sich hierauf erbot, eine besondere
schriftliche Eingabe über diesen Punkt zu machen, so wurde fürs
Erste nur die Annahme von Gold- und Silberbarren entschieden 1
(cf. Gesetz v. io. Februar 1841. Nr, 14,266).
Die Ein- und Ausfuhr der Depositenbillete war, weil diese Billete,
nach der Meinung des Reichsraths, ihren Eigenschaften gemäss aus¬
schliesslich für den internen Verkehr bestimmt waren und deshalbüber
ihre Nachahmung ganz besonders gewacht werden müsste, verboten 2 .
Leser, welche mit den im Vorstehenden geschilderten Zuständen
bekannt sind, werden manche Lücken in der Erörterung bemerkt
haben, die einmal dadurch entstanden sind, dass ich über die betref¬
fenden Fragen kein genügendes Material habe finden können, oder
dass das Material nicht wesentlich Bedeutendes enthielt, oder end¬
lich, dass dasselbe bereits bis zu einem gewissen Grade unverändert
in das darauf bezügliche Gesetz selbst übergegangen war. Aus diesem
Grunde habe ich nun im letzten Abschnitte der Studie möglichst
sorgfältig die auf das Geldwesen bezüglichen Gesetze nach der voll¬
ständigen Gesetzsammlung (üojiHoe CoöpaHie 3 aKOHOBi>) zusam¬
mengestellt, mit besonderer Berücksichtigung ihrer Motive, wo
solche im Gesetze enthalten waren. Ich verweise daher auf diese
Zusammenstellung, welche die vorliegende Darstellung des Geld¬
wesens unter dem Grafen Cancrin wesentlich ergänzt und die Lücken
meiner Abhandlung ausfüllt.
1 M. d. R. v. 10. Februar 1841. * M. d. R. v. 18. März 1840.
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Zweiter Abschnitt.
Ueber das Volks*Agio (npocTOHapoAHbtf *m%).
Es gilt hier einen Versuch, die eigenthümliche Erscheinung des
«Volks-Agio» zu erklären. Ich betone, dass es nur ein Versuch ist,
denn weder habe ich in der Literatur über die damalige Zeit irgend¬
welche genügende Erklärung dieser wohl einzig in der Volkswirt¬
schaft dastehenden Erscheinung gefunden, noch selbst in tmedirten
Quellen, die mir zu Gebote gestanden und aus denen ich einzelne
Ansichten über diesen Gegenstand weiter unten ausführlich darlegen
werde; noch ist es mir selbst gelungen, durch mündliche Bespre¬
chung der Frage mit Männern aus jener Zeit eine wissenschaftlich
genügende Auskunft zu erhalten. Ein Jeder erinnerte sich wohl,
dass vor dem Jahre 1839 von einem sogenannten Volks-Agio ge¬
sprochen worden und auch wohl dessen, dass, wenn man z. B. eine
Waare für hundert Rbl. erhandelt hatte, es vorgekommen sei, dass
der Kaufmann, bei der Bezahlung derselben mit einem Hundert-Ru-
bel-Assignatenscheine, einige Rubel Banco wieder herausgegeben.
Fragte ich aber warum? wie viel? und dergleichen mehr, so blieb
man mir stets die Antwort schuldig. Da mir also stricte Erklärungen
aus jener Zeit fehlten, ich in der Literatur nichts und in den Quellen
nur einzelne, zum Theil entschieden falsche Andeutungen über die
Entstehung dieses Agio fand, so galt es eine einigermassen genügende
Erklärung dieser Erscheinung selbst zu finden. Das habe ich nun in
Nachfolgendem versucht. Dem mit den Verhältnissen jener Zeit be¬
kannten Leser mögen einzelne Erörterungen vielleicht zu weitläufig
erscheinen, aber man wolle bedenken, dass diese Erscheinung des
Volks-Agio den Meisten jedenfalls in ihrem Wesen vollkommen un¬
bekannt ist, und es demnach meine erste Pflicht war, eine derartige
Erklärung derselben zu geben, dass sie auch dem Laien möglichst
verständlich sei. Ein weiteres Motiv habe ich dazu auch noch darin
gefunden, dass, soweit mir die Literatur zu Gebote gestanden hat,
das Vorkommen dieses Volks-Agio einzig in Russland bemerkt wor¬
den ist.
Aus dem vorhergehenden Abschnitte konnte man ersehen, dass
kaum irgend eine das Geldwesen betreffende Verhandlung im Reichs-
rathe stattgefunden hat, ohne dass in derselben von «der Rechnung
auf Münz§» (cHen> Ha MOHeTy) und von dem «Volkskurse» (npo-
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cTOHapoAHUtt KypcT») oder dem «Volks-Agio» (npocTOHapOAHbift
jia>KT>) die Rede gewesen. Gleich im Jahre 1826 findet die Ver¬
handlung über das Projekt des Kaufmanns Subzaninow statt und so
geht es fort bis zu der grossen Reform des Geldwesens im Jahre
1839. Ein Hauptmotiv zu dieser letzteren war unbedingt die fürch¬
terliche Verwirrung, welche die Existenz «der Rechnung auf Münze»
und «des Volks-Agio» in dem ganzen Gemeinleben verursacht hatte.
Ein Krebsschaden war dadurch entstanden, an dem alle Stände
und Klassen der Gesellschaft, bei weitem aber am meisten das nie¬
dere Volk, zumal die Bauern und Tagelöhner litten.
Aus praktischen Gründen schicke ich meine eigene ausführliche
Untersuchung über die Entstehung und das Wesen des Volks-Agio
voraus, bevor ich auf die zeitgenössischen Erklärungen dieser Er¬
scheinung und die sich aus der «Rechnung auf Münze» und dem
Volks-Agio ergebenden Missstände eingehe.
Das Manifest vom 16. April 1817 (Nr. 26,791) enthielt folgende
wichtige Bestimmung: «Die im Jahre 1812 in Folge des Krieges
suspendirte Tilgung der Schulden und Auslösung der Assignaten
[wie sie nach den Manifesten des Jahres 1810 vom 13. April (Nr*
24,197), 27. Mai (Nr. 24,244), 20. Juni (Nr. 24,264), 29. August
(Nr. 24,433) und vom 19. December (Nr. 24,465) stattzufinden hat]
wird wieder aufgenommen, und zwar ist die Verminderung der in
Umlauf befindlichen Menge Assignaten so lange fortzusetzen, bis die
Assignaten in ihrem Werthe al pari mit der klingenden Münze stehen*.
Veranlasste die Einziehung der Assignaten auch nicht direkt das Ent¬
stehen des Volks-Agio, so that sie es doch auf indirekte Weise, indem
diese Massregel eine Steigerung des Werthes der Assignaten be¬
wirkte, welche letztere der Ausgangspunkt für das Volks-Agio wurde.
Im Jahre 1815 hatten die Assignaten ihren tiefsten .Stand erreicht.
Derselbe wird für den Assignatenrubel allgemein mit 24V6 Kop. Silb.
angegeben, welcher Kurs für den Silberrubel etwas mehr denn 413
Kop. Banco ergiebt l . Ganz im Allgemeinen rechnete man aber
den Silberrubel gleich vier Rubel Assignaten zur Zeit des tiefsten
Standes der letzteren. Diesen Kurs müssen wir uns im Laufe der
Erörterung stets vergegenwärtigen.
4 v. Jakob: Ueber Russlands Papiergeld. 1817. Tabelle p. 147,148; JlauaHCicil:
ÜCTopanecKift oMeprb AenexcHaro oöpameHi* bt» Pocciu <n» 1650 - 1817, p. 155. (La-
manski: Historische Skizze des Geldumlaufs in Russland von 1650-
Tabelle p. 62, Anmerkung 2.
1817). cf. auch
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117
Nach dem Manifeste vom 16. April 1817 sollte nun der Werth der
Assignaten, wenn auch im Laufe vieler Jahre, allmählich um das
Vierfache gehoben werden. Welch* glänzende Aussicht für den
augenblicklichen Besitzer von Assignaten! Er konnte auf ein stetes
Wachsen seines in Assignaten bestehenden Vermögens rechnen;
legte er es nun gar in den Creditanstalten als Einlage an, so erhielt
er obendrein noch Zinsen und sein Vermögen wuchs ohne das ge¬
ringste Zuthun seinerseits, denn die Creditanstalten waren verpflich¬
tet, ihm seine Einlage auf Verlangen stets wieder in Assignaten,
d. h. in der Geldart, in welcher die Einlage gemacht worden war,
zurückzuzahlen. Da nun wirklich eine fortdauernde Hebung des
Werthes der Assignaten eintrat, so wurde die Hoffnung des
Assignatenbesitzers auf Gewinn zur Gewissheit. Dieser Gewinn
steigerte sich von Jahr zu Jahr, denn der Stand der Assignaten bes¬
serte sich erst langsam, dann schneller. Durch welche Ursachen
das bewirkt wurde, berührt uns an dieser Stelle nicht, denn
es kommt uns nur auf die Thatsache an, dass jeder Besitzer
von Assignaten eine Vermögensvermehrung genoss, ohne auch
nur das Geringste dafür gethan zu haben. Wer aber keine
Assignaten besass, participirte auch nicht an diesem unverdienten
Gewinne. Man darf sich daher nicht wundern, dass Diejenigen,
welche keine Assignaten in ihrem Besitze hatten, sich bemühten,
doch auch auf irgend eine Weise Theil an jenem unverdienten
Vermögenszuwachse zu erlangen. Natürlich konnten aber anderer¬
seits derartige Gedanken nur Leuten kommen, die wenigstens eini-
germassen mit dem Geldwesen vertraut waren. Die Hauptklasse
der Gesellschaft, deren Vermögen nicht in flüssigem Gelde oder An¬
lage - Papieren bestand, war der Handelsstand. Dieser wollte nun
den Besitzern von Assignaten jenen aus der Hebung der letzteren
erwachsenden Vortheil keinen Falls allein überlassen, sondern selbst
auch daran Theil nehmen; er suchte ihnen gegenüber dieselbe Stel¬
lung zu behaupten, wie er sie vor der Kursbesserung der Assignaten
eingenommen. Als der Kurs der Assignaten am niedrigsten stand,
400 Kop. Banco gleich 100 Kop. Silber, war es nämlich wesentlich
gleich, ob Jemand 400 Rubel in Assignatenscheinen oder 100 Rubel
in Silber, oder Waare für 400 Rbl. Assignaten oder 100 Rbl. Silber
besass. Mit der Hebung der Assignaten (von 1817 an) aber änderte
sich die Sachlage. Waren der Kaufmann und der Assignatenbesitzer
vorher gleichgestellt gewesen, so war es von jetzt ab nicht mehr der
Fall. Angenommen, dass der Eine seine Waaren, der Andere seine
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Assignatenscheine, die er 1815 im Werthe von 400 Rbl. Banco be¬
sessen, bis 1837 nicht verkauft und nicht verausgabt hatte, so war
Letzterer nun im Vortheil. 1837 hatte sich der Kurs der Assignaten
allmählich gebessert, wodurch dem Besitzer der Assignaten ohne
jegliches eigene Verdienst ein Gewinn erwachsen war, denn seine
400 Rubel Assignatenscheine waren jetzt nicht nur 100 Rubel Silber,
sondern noch bedeutend mehr werth. Anders erging es dem Kauf¬
mann. Seine Waare, damals 400 Rbl., war jetzt dem Kurse nach nur
noch 352 Rbl. in Assignaten werth, weil der Kurs der letzteren sich
von 400 auf 352 gehoben hatte. Zwar erlitt er keinen direkten Ver¬
lust, denn seine Waare blieb nach wie vor 100 Rbl. Silber werth f
aber er hatte in diesem Falle auch keinen Antheil an dem Gewinne
aus der Hebung des Assignatenkurses. Der Kaufmann suchte nun
nach Mitteln und Wegen, um an jenem unverdienten Vortheile auch
zu participiren. Er konnte dieses erreichen, wenn er seine Waare
den Schwankungen des Assignatenkurses anpasste, d. h. mit jedem
Hinaufgehen desselben auch seine sämmtliche Waare im Preise stei¬
gerte. Diese steten Umrechnungen waren ihm viel zu umständlich
und hätten auch eine beständige Schwankung der Preise herbeige¬
führt, was die Käufer stutzig machen musste, u. dgl. m. Kurz, dieser
Weg, jenen Vortheil zu erjagen, kam dem Kaufmann unanwendbar
vor und er ersann sich einen anderen. Er stellte z. B. 1837 folgen¬
des Raisonnement an: «Vor der Hebung der Assignaten, d. h. zur
Zeit ihres tiefsten Standes, erhielt ich für meine Waare, die 100 Rbl.
werth war, 100 Rbl. in Assignaten oder 25 Rbl. in Silber und stand
mich dabei ökonomisch ganz gleich mit meinem Käufer, der einen
100-Rubel-Assignatenschein besass; jetzt 1837 ist eben dieselbe
meine Waare beim Kurse von 352 Kop. Banco (statt damals 400)
für den Silberrubel nur noch 88 Rbl. in Assignaten werth, während
der damalige Besitzer des 100-Rubel-Assignatenscheines denselben
noch in seinem vollen Werthe besitzt. Demnach befinde ich mich
beim Verkaufe meiner Waare gegen Assignaten zu deren Kurs¬
werte im Nachtheil dem Besitzer der Assignaten gegenüber, wenn
ich unsere beiderseitige gleiche ökonomische Stellung zur Zeit des
tiefsten Standes der Assignaten berücksichtige». Der Kaufmann
beschloss demnach, seine Waare dem Käufer nicht direkt gegen
Assignaten zu verhandeln, sondern einfach auf Rubel, ohne irgend¬
welche nähere Bestimmung. Dieses nannte man «Rechnung auf
Münze» (cnen» Ha MOHeTy) 1 . — Wurde z. B. eine Waare für 100 Rbl.
* Hierbei sei aber daran erinnert, dass laut Gesetz alle Preise in Assignaten ange¬
geben werden mussten.
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erhandelt, so fragte der Verkäufer erst nach Abschluss des Handels
den Käufer, worin er zahlen wolle, in Assignaten oder Silber? Je
nachdem die Antwort ausfiel, stellte er nun seine besondere Berech¬
nung an. Wollte der Käufer in Assignaten zahlen, so überlegte der
Verkäufer folgendermassen: «Durch die Hebung des Assignaten¬
kurses von 400 auf 352 ist dem A'ssignatenbesitzer ein Vortheil von
12 pCt. zu Theii geworden, es ist nun nicht billig, dass ihm allein
dieser unverdiente Gewinn ganz zufliesse, andererseits kann ich ihn
aber auch nicht für mich allein beanspruchen, indem ich meine
Waare um 12 pCt. steigere, worauf der Käufer nicht eingehen würde,
daher theile ich jenen Vortheil und verrechne dem Käufer die
Assignate mit 6 pCt. (statt 12) Kurshebung». Der Verkäufer lässt
sich demnach für die für 100 Rbl. erhandelte Waare vom Käufer nicht
88 Rbl. in Assignaten auszahlen, was die Waare dem Kurse der As¬
signaten nach eigentlich werth ist, auch nicht 100 Rbl. in Assigna¬
ten, was sie beim tiefsten Stande der Assignaten werth war, sondern
94 Rbl. — Eine ähnliche Berechnung stellte der Verkäufer an, wenn
der Käufer in Silber zahlen wollte. Da er laut Gesetz verpflichtet
war, den Preis der Waare in Rubeln Assignaten anzugeben, so
musste er erst seinen in Rubeln angegebenen Preis auf Assignaten
umrechnen und dann, von diesem letzteren Preise ausgehend, folgen¬
der Art seine Berechnung für den Kurs, nach welchem er das Silber
vom Käufer annehmen konnte, anstellen: «Verrechne ich dem Käu¬
fer die Assignaten nach dem Börsenkurse, d. h. zu 352 Kop. für den
Silberrubel, so erhalte ich in Silber für die 100 Rubel, für welche der
Handel abgeschlossen wurde, eine Summe, die nur 88 Rbl. in Assig¬
naten werth ist, hierbei wäre ich im Nachtheil, denn gegen Assigna¬
ten verkauft, erhielt ich 94 Rbl.» Er muss also die Assignaten zu
einem niedrigeren Kurse verrechnen, und zwar nach folgender Pro-
P 0rti0n; 88:94 = 352:*; x = 3 S >.94 = 3 J 0 M = 376 ,
also zu einem Kurse von 376, d. h. er wird für jene 100 Rbl. 26*/®
Rbl. Silber zu lösen suchen, denn
376:400 = 25
400.25_10000
= 26,6.
376 376
Dieser Preis von 26 # /5 Rbl. Silber ist aber auch um 6 pCt. höher
(etwas mehr) als der Werth der Waare nach dem Börsenkurse be¬
tragen würde, nämlich 25 Rbl. Silber. Wollte er die Assignaten bei
der Bezahlung in Silber zum Börsenkurse verrechnen, so müsste er
für seine Waare einen höheren Preis fordern, nämlich io6 4 /# Rbl., denn
352 : 376 = 100 : x; x = 376 -- °? = = 106,8.
* 35* 35*
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Der Bequemlichkeit wegen würde er die Waare für io6 Rbl. ablas-
sen, wobei er aber auch in diesem Falle 2Ö 8 /5 Rbl. Silber lösen
würde. Der Verkäufer schlug jedoch diesen letzten Weg nicht ein,
weil derselbe eine direkte Preissteigerung der Waare verlangte, die
er aber unter allen Umständen vermeiden wollte.
Diese Mehrforderung der Kaufleute, d. h. die Procente, um welche
sie ihre Waare indirekt theurer verkauften, als sie nach dem jedes¬
maligen Börsenkurse der Assignaten werth war, bildete nun das
sogenannte «Volks-Agio». Dieses bestand demnach in einer Kurs¬
differenz-Berechnung, durch welche der Verkäufer von Waare an
dem, aus der Hebung des Assignatenwerthes sich ergebenden
Gewinne Theil zu nehmen sich bestrebte. Dem Käufer erschien
im ersten Augenblicke die Sachlage ganz anders, wenigstens wenn
er in Assignaten bezahlen wollte. Er erhandelte eine Sache für
ioo Rbl., bezahlte dieselbe mit einem ioo-Rbl.-Assignatenschein
und erhielt 6 Rbl. in Assignaten wieder zurück. Diese zurück¬
erhaltenen 6 Rbl. betrachtete er nun irrthümlich als einen direkten
Gewinn, denn die von ihm gekaufte Waare war in dem Augenblicke
nur 88 Rbl. in Assignaten werth. Er hatte sie mit mehr denn
6 pCt. zu theuer bezahlt, um ebenso viel, als wenn er in Silber nach
dem Börsenkurse von 352 gezahlt hätte und der Verkäufer ihm
für dieselbe Waare 106 Rbl. abforderte, oder auch nur 100 Rbl.,
ihm dann aber die Assignate zum Kurse von 376 für den Silber¬
rubel verrechnete. In allen drei Fällen kam ihm die Waare statt
der 88 Rbl. Assignaten, die sie eigentlich werth war, 94 Rbl. Assig¬
naten zu stehen.
Die Kaufleute Hessen also alle ihre Waarenpreise nominell unver¬
ändert, d. h. von den Kursveränderungen der Assignaten unbe¬
rührt, wie sie beim tiefsten Stande der Assignaten gewesen waren.
Sie vermieden namentlich auch deshalb alle Preisveränderungen,
weil sich ihnen damit die Möglichkeit entzogen hätte, die Waare für
einen billigeren Preis, als den ursprünglich ausgemachten, wegzu¬
geben, durch welchen scheinbare^ Rabatt die Käufer leichter
bewogen wurden, auf ihre Berechnungen einzugehen. Die Münz¬
einheit, nach der die Preisbestimmung beim Abschlüsse eines Handels
erfolgte, war demnach der Assignatenrubel zur Zeit seines tiefsten
Standes; die sogenannte «Rechnung auf Münze» (c*ien> Ha MOHeTy):
eine Preisbestimmung zu einem Kurse der Assignaten, welcher sich
auf halber Höhe zwischem dem v jeweiligen Börsenkurse der Assig¬
naten und dessen tiefsten Stande 1815 befand, und welchen man
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den «Volkskurs* (npocTOHapoAHufl Kypct) nannte; und das «Volks-
Agio» selbst (npocTOHapoAHUfi jia>KT>) bestand stets in gewissen
Procenten, die dem jeweiligen Börsenkurse zugeschlagen wurden.
Genau dieselben Berechnungen und Verrechnungen fanden bei
Käufen auf Credit, Schuldverschreibungen u. s. w., kurz bei
Schliessung aller Geldverbindlichkeiten statt. Es hiess dann immer
«nach Rechnung auf Münze (uo cneTy Ha MOHeiy) so und so viele
Rubel zu zahlen», worunter man die Bezahlung nach dem Volks*
kurse verstand.
Ich hoffe im Vorhergehenden für den Ursprung und das Wesen
der «Rechnung auf Münze» (cnerb Ha MOHeTy), des «Volks-Kurses»
(npocTOHapoAHMft Kypcb) und des «Volks-Agio» (npoeroHapoAHuft
jiaÄT>) eine genügende Erklärung gegeben zu haben. Wie weit die¬
ses Auskunftsmittel der Kaufleute, am Vortheile der Hebung der
Assignaten Theil zu nehmen, gerechtfertigt werden kann, welche
Missstände es mit sich führte und ähnliche Fragen, können nicht
an dieser Stelle beantwortet werden, weil wir bei der Darlegung
und Kritik der nachfolgenden Ansichten des Grafen Cancrin, des
Fürsten Drutzi-Ljubetzki und des Grafen Speranski auf dieselben
zurück kommen werden und zum Schlüsse ein kurzes Ergebniss der
ganzen Untersuchung zu geben gedenken.
I. Ansicht des Grafen Cancrin über,das «Volks-Agio». Ich habe
dieselbe nach den mannigfachen Aeusserungen, welche er wieder*
holt in den Reichsrathssitzungen über diesen Gegenstand gethan, so
wie nach dem Gutachten, welches er über die Frage der Reorgani¬
sation des Geldwesens bei dem Departement der Reichsökonomie ein¬
gereicht hat, zusammengestellt 1 . Ausserdem erwähnt Cancrin ganz
kurzder Erscheinung des Volks-Agioin seiner «Oekonomie dermensch-
lichen Gesellschaften», p. 119, mit folgenden Worten: «So stiegen die
russischen Assignationen . . . wozu noch der höchst sonderbare Um¬
stand kam, dass die Kleinhändler auf Metallgeld und Papier zugleich
die Kurse vergrösserten, so dass zwar das Verhältnis gegen den
Börsenkurs blieb, aber durch beständiges Erhöhen beider Geldsorten
bei den Zahlungen für Waare, die auf langen Credit genommen
worden, ein Gewinn herauskam; sogar wurden diese imaginären
Kurse im gemeinen Leben herrschend. Eine höchst sonderbare
Erscheinung, die Manchem kaum begreiflich erscheinen wird, aber
1 J. d. Dcp. d. Reichsokon. Nr. 180, 1837 und Nr. 77, 1839. M. d. R. v. 29. No¬
vember 1837.
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viel Uebel stiftete». Und in seinem Rechenschaftsberichte an den
Kaiser über seine zwanzigjährige Finanzverwaltung, welche Graf
Keyserling als Beilage der Tagebücher abgedruckt (Beilage II,
p. 6o), lässt sich Cancrin folgendermassen über dieselbe Erscheinung
aus: «Doch war die Besserung (der Assignaten) auch gewisser-
massen mit Ungelegenheiten im entgegengesetzten Sinne verbunden,
und gleichzeitig schlich sich ein eigenthümliches Uebel ein: es bil¬
dete sich im Verkehre unter dem niederen Volke ein Agio, nach
welchem sich für Silbermünze und für Banknoten Kurse von beson¬
derer Höhe in gewissem Verhältnisse zu einander nicht nur in
beiden Residenzen, sondern auch in vielen Gouvernements fest¬
stellten. Die augenfällige Tendenz dieses Missbrauchs bestand
darin, durch beständiges Steigen eines solchen willkürlichen Agio
für eine kurz vorher contrahirte Schuld weniger zu zahlen und über¬
haupt auf mannigfache Weise zu agiotiren. — In Veranlassung eines
von Commissionären der Krone gegen Schiffsarbeiter ausgeübten
Betruges kam 1826 über diesen Gegenstand eine Vorstellung des
Militärressorts an den Reichsrath, der ungeachtet der dringendsten
Gegenvorstellung des Finanzministers dieses Agio legalisirte K Ur¬
sprünglich unbedeutend, wuchs dieses Agio zu einer unglaublichen
Höhe, so dass endlich sogar bis zu 27 pCt. sowohl zur Silber¬
münze als auch zu Banknoten zugeschlagen wurde, wobei noch
jedes Gouvernement, wie gesagt, sein besonderes Agio hatte; eine
Sachlage, die geradezu eine Volkscalamität war. — Die Ursache
dieses jetzt kaum verständlichen Uebels suchte man da, wo sie
nicht zu finden war, und bei der Neigung Vieler, jede Schuld dem
Finanzministerium beizumessen, schrieb man sie seiner Nachlässig¬
keit zu, wiewohl es energische Massregeln zur Ausrottung dieses
Betruges wiederholt in Vorschlag gebracht hatte».
Die Ergänzungen und Ausführungen dieser in wenigen Zeilen aus¬
gedrückten Ansichten über das Volks-Agio erhalten wir ^us den
schon erwähnten Reden und Gutachten im Reichsrathe und dem De¬
partement der Reichsökonomie. Das^wichtigste Dokument für uns ist
sein Gutachten: «Ueber die Noth wendigkeit, der Rechnung auf Münze
und Assignaten nach dem Volkskurse ein Ende zu machen», am 29.
Juli 1837 von ihm eingereicht 2 . Der wesentliche Inhalt desselben ist
folgender. Der Hauptgrund der Einführung undSteigerung der Volks¬
kurse war die eigennützige Absicht einiger Kaufleute, sich die Einfalt
1 cf. Gesetz vom 27. October 1826, Nr. 636.
* J. d. Dep. d. ReichsokQn., 1839, Nr. 77.
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123
und Unwissenheit des niederen Volkes zu Nutzen zu machen,
indem sie eine Waare aus erster Hand für den früheren Preis
kauften, sie aber nach höherem Kurse bezahlten j eingegangene Geld¬
verbindlichkeiten vermittelst erhöhter Kurse vortheilhaft lösten, oder
indem sie für verkaufte Waare Geld zu einem Kurse annahmen,
es aber zu einem anderen vortheilhafteren Kurse wieder veraus¬
gabten. Den Erfolg dieses Unternehmens begünstigten: I) die in den
letzten zwanzig Jahren stattgefundene mächtige Umwandelung in
unserem Geldwesen, nach welchem, im Gegensatz zu der früheren
Zeit, das Silber für alle kleinen Zahlungen im Gemeinleben in
Gebrauch gekommen war, während die Assignaten mehr in die
grosse Circulation übergingen; und 2) die unbedeutenden Verände¬
rungen im Börsen-Agio, als 1818 die Ausgabe von Assignaten ganz
sistirt und ein nicht unbedeutender Theil derselben durch Anleihen
• getilgt wurde. Die beim Detail-Verkauf üblichen runden Kurse, wie
z. B. in St. Petersburg von 375 Kop., waren theilweise Folgen der
Rechnung auf Münze, theilweise hatten sie sich aber selbstständig
ausgebildet. Durch diese spekulativen Rechnungen hatte sich all¬
mählich in vielen Klassen der Geist des Agiotirens eingeschlichen,
welcher durch die Wechselbuden genährt wurde. Die Verwirrung
der Geldverhältnisse wurde durch das höhere Agio auf kleine Silber¬
münze noch vermehrt. Dieses gründete sich nicht auf den Mangel
an solcher Münze im Verkehr, sondern auf die Bequemlichkeit einer
leichteren Berechnung und hätte keinen besonderen Nachtheil mit
sich geführt, wenn nicht gleichzeitig eine besondere Rechnung auf
Münze existirte.
Cancrin ist der Meinung, dass wenn der Volkskurs stets auf der¬
selben Höhe stehen geblieben wäre, er keinen Grund zu einer
Gewinnsucht erwähnter Art gegeben hätte, die Unbeständigkeit
des Werthes der verschiedenen Geldarten lieferte ihr aber nur all zu
reiche Nahrung. Er betont, dass kein Schwanken in dem Volks-
Agio statt fände, sondern bloss ein stetes Wachsen, und in diesem
letzteren liege auch der einzige Gewinn, der für Spekulanten aus
dem Volks-Agio entstehe, es sei dasselbe überhaupt nur Folge der
Spekulation einzelner Personen. Als Zeugniss für die Absonderlich¬
keit des Agio und die schwache Grundlage, auf welcher es beruhe,
führt Cancrin an, dass die polnischen 7 5-Kopekenstücke (5 Zloten)
in St. Petersburg und Moskau zu demselben Kurse, wie das kleine
Silbergeld angenommen wurden. Die Folge davon war, dass man
dieselben in Massen aus Warschau herschickte; als er aber eine Publi-
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kation über den zu hohen Kurs jener Münze erlassen, sei dieselbe
sofort bis auf ihren wahren Werth im Kurse herabgesunken.
Folgende von Cancrin zusammengestellte kleine Tabelle diene zur
Charakteristik der Mannigfaltigkeit des Volkskurses; sie bezieht sich
auf das Jahr 1837:
In dem Gouvernement
Börsenkurs Volkskurs
fiir Silber
Volks-Agio in
Procenten d.
von
Kop.
Kop.
Börsenkurses
Nishnij-Nowgorod und Jarosslaw
• 355.»»
420
18
pCt.
Moskau und einigen anderen Gou-
vernements ...........
• 358,»7
420
17
>
Wjatka ..
• 3 6 3,«»
400
IO
»
Astrachan...
• 354,9*
390
IO
»
St. Petersburg .
• 353,77
375
6
•
Pleskau (Pskow).
. 361 , »0
380
5
»
Mohilew.
. 361,44
375
3 S
'/* '
In den westlichen Gouvernements, den Ostseeprovinzen und Sibi¬
rien kam der Volkskurs gar nicht vor. Aus dieser Tabelle ergäbe
sich nun seiner Ansicht nach, dass der Volkskurs nichts Wesent¬
liches in sich berge und dass, wenn man das Aufgeld auf die Assig¬
naten abrechne, der Preis des Silbers dem Börsen- oder dem Abga¬
benkurse gleichkomme, d. h. der Silberrubel 353—363 Kop. Banco
werth sei. Wer übrigens seine Abgaben in Silber zahle, verlöre
nichts, sondern gewinne, da der Abgabenkurs höher als der Börsen¬
kurs, also (?) auch höher als der Volkskurs wäre. Es sei klar, dass
in der Rechnung nach dem Volkskurse weder eine Bequemlichkeit
noch eine Wahrheit, sondern bloss Verirrung, Unwissenheit und Be¬
trug enthalten wäre, denn man könnte eben so gut den Silberrubel,
welcher dem Abgabenkurse nach 360 Kop. werth sei, zu 720 Kop.,
oder einen Fünf-Rubel-Assignatenschein für einen Zehn-Rubelschein
verrechnen 1 Alle diese Ausführungen seien ein Beweis, dass der
Volkskurs nicht aus irgendwelchen wesentlichen Mängeln unseres
GeUJsystems entstanden sei, sondern dass die Regierung hier bloss
mit Unverstand und Gewinnsucht zu kämpfen habe; dagegen müssten
systematische Massregeln unwirksam bleiben und nur die strengsten
Verbote könnten helfen.
Einzelne von den inneren Gouvernements schrieben die Erhöhung
des Volks-Agio Moskau zu, dagegen erklärte der Moskauer Kauf¬
mannsstand, dass die Assignaten durch Spekulanten aus Moskau in
das Innere gebracht würden, wegen des dort herrschenden höhe¬
ren Agio, und dass daselbst die Krämer und Wechselbuden an ihm
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die Hauptschuld trügen. Seit einiger Zeit erstrecke sich das Volks-
Agio in einzelnen Gouvernements auch auf das Kupfergeld. Gegen
die Behauptung, dass Mangel an Assignaten zum Zweck der Abga¬
benzahlungen das Volks-Agio steigere, wendet Cancrin ein, dass
das Agio sich auf Silber und Assignaten stets gleichzeitig erstrecke,
ja gewöhnlich sogar beim Silber zu steigen beginne. Er betont
wiederholt, dass der Volkskurs nichts Anderes als der Börsenkurs,
nur mit Hinzufügung fingirter Procente sei, um durch deren Ver¬
mehrung Vortheile zu erlangen, die Wurzel desselben sei also Ge¬
winnsucht und Betrug. Trotz alledem meint er aber an einer ande¬
ren Stelle: «Uebrigens ist das Uebel dieser Art «Rechnung auf
Münze», wenn auch gross, so doch nicht so bedeutend, dass es
schlimme Folgen für die allgemeine Wohlfahrt haben könnte?! »*.
II. Ansicht des Fürsten Drutzki-Ljubetzki über das Volks-Agio 1 :
Das Aufkommen des Börsen-, Abgaben- und des Volkskurses bei
uns ist nichts Anderes, als ein deutlicher Beweis für das allgemeine
Bewusstsein der Nothwendigkeit, sich vor Verlusten zu schützen und
das Nöthige zu sichern.
Der «Börsenkurs» ist entstanden: i) weil durch das Manifest vom
9. April 1812 (Nr. 25,089) alle Rechnungen u. s. w. einzig und allein
auf Assignaten zu führen befohlen wurde; 2) weil die Regierung
durch das Manifest vom 16. April 1817 (Nr. 26,791) verkündigt hatte,
dass sie auf die Hebung des Assignatenkurses hinwirken wolle, und 3)
weil der auswärtige Handel grösstentheils auf Credit effectuirt wird.
Der Werth der Waaren wird in Assignaten bestimmt, wenn aber der
Zahltermin kommt, so ist der Börsenkurs wiederum für die Zahlung
bestimmend. So lange die Assignaten Geld bleiben und nicht blosse
Surrogate desselben, so lange es vier Arten Münze, die noch ihrem
inneren Werthe nach sich von einander unterscheiden, geben wird,
so lange nicht ebenso viel klingende Münze und deren Surrogate in
Umlauf gesetzt werden, als die zunehmende Bevölkerung u. s. w.
derselben bedarf, — so lange wird auch der Börsenkurs nothwendi-
gerweise bestehen. Denn ohne diesen müsste der ganze auswärtige
Handel aufBaargeld geführt werden — ein Ding der Unmöglichkeit.
Der Börsenkurs dient dem Handel als Hülfsmittel, um sich vor Ver¬
lusten zu schützen, welche ihm aus der Unbeständigkeit der Kurse
erwachsen könnten.
1 M. d. R. vom 29. November 1837.
* Journ. d. Dep. d. ReichsÖkon., 1839, Nr. 77.
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12 6
Der «Abgabenkurs». Wollte die Regierung darauf bestehen,
dass alle Abgaben, welche auf Assignaten festgesetzt sind, auch in
Assignaten gezahlt würden, so könnte sie, weil es im Verkehre an
Assignaten mangelte, bedeutende und unvermeidliche Rückstände
heraufbeschwören. Um Letzteres nun zu vermeiden, gestattete sie
. das Zahlen in klingender Münze. Hätte sich aber nun der Kurs der
Assignaten gehoben, so wäre das eine Veranlassung gewesen, Zu¬
zahlungen zu fordern, um die Verluste, die durch jene Hebung der
Assignaten bei Zahlungen in klingender Münze tür die Regierung
entständen, auszugleichen. Um diesen Uebelstand zu vermeiden,
wurde der Abgabenkurs niedriger als der Börsenkurs festgesetzt.
Der «Volkskurs». Das Volk, unbekümmert um Börsen- oder
Abgabenkurs, weiss wie viel es für seine Arbeit zu fordern hat, da¬
mit der erzielte Gewinn ihm die Mittel darbiete, seine Bedürfnisse zu
bestreiten. Dagegen suchten die Käufer der Arbeit, aus Mangel an
Geld im Verkehre, den Preis des Geldes zu steigern. Der Volks¬
kurs und die «Rechnung auf Münze» seien daher nicht Beweise fiir
die Gewinnsucht von Spekulanten oder für die Unwissenheit des
Volkes, sondern unvermeidliche Folgen der Noth.
Zur Erläuterung dieser seiner Anschauung giebt Drutzki-Lju-
betzki folgende kleine Tabelle:
Sone der io Umlaof beflndlielieo Assignateo ood ihr Werth io Silber oaeh dem BdrseoKorm.
1807
Bevölkerung: 36 Millionen
1838
Bevölkerung: 48 Millionen
lillioiai
EU bog. RU. m.
prt l«jpf der BcföUemg
RU.Kop.bi. RU.Kop. Bfl.
lillioiei |
| Rbl. tasg RU. 89b. |
m.Im( faltribiaf
IM.I4.b1. KM.K4.U-
In Umlauf.
382 258
10 61 7 16
595 '6S
ia 39 3 43
Staatseinnahme nach dem
Voranschlag .....
120 81
3 33 2 25
SOS * 4 °
10 52 2 91
Verbleiben zur Bestreitung
des internen Geldbedürf-
nisses.
262 177
7 *8 4 91
90 aj
1 87 - 52
Der Volkskurs und der Umlauf ausländischer Münze zu einem
ihren inneren Werth übersteigenden Kurse beweisen, dass ein Man¬
gel an eigener Münze zur Bestreitung der Bedürfnisse des Gemein¬
lebens vorhanden ist. Hieraus ergiebt sich, dass nicht durch Ver¬
bote, sondern nur durch hinlängliche Versorgung des Verkehrs
mit klingender Münze und deren Surrogaten der Volkskurs und da¬
mit zugleich das Agio beseitigt werden kann.
s
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127
III. Ansicht des Grafen Speranski über das Volks-Agio ! .
Ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen dem Wechsel-
Agio (aacio) und dem sogenannten Volks-Agio (jiaHC't). Von letz¬
terem spricht man nur beim Waarenkauf, sei es, dass dieser auf
Baargeld oder auf Credit geschlossen wird. Beim Kauf auf Baar*
geld bezeichnet man mit dem Volks-Agio die Procente, um welche,
bei der Bezahlung der Waare in Silber, dieses gegen seinen eigent¬
lichen Tauschwerth erhöht wird; bei der Bezahlung in Assignaten
dagegen die Procente, welche vom Preise der Waare in Assignaten
abgelassen werden.
Bei jedem Kaufe auf Baargeld hatte sich die Gewohnheit einge¬
schlichen, mit der Festsetzung des letzten Preises zwischen Ver¬
käufer und Käufer folgende zwei Fragen zu verhandeln: soll die
Zahlung in Silber oder in Assignaten geschehen, und zu welchem
Preise wird das Silber oder die Assignate vom Verkäufer ange¬
nommen werden. Gesetzt den Fall, dass eine Waare für ioo Rbl.
erhandelt worden ist und der Käufer entschliesst sich, diesen Preis in
Silber zu zahlen, so setzt der Verkäufer für den Silberrubel einen
höheren, als den auf der Börse notirten fest; so z. B. in St. Peters¬
burg statt 352 Kop. — 375 Kop., also um 23 Kop. zu hoch, und
dieses Aufgeld, welches fast 6 pCt. ausmacht, bildet das Volks-
Agio. Nach derselben Rechnung nimmt er auch die Zahlung in
Assignaten entgegen, indem er jeden Assignatenrubel zu 106 Kop.
rechnet und demnach die für 100 Rbl. erhandelte Waare für 94 Rbl.
Assignaten weggiebt, d. h. er giebt dem Käufer 6 pCt. vom Preise
der Waare ab, und dieser Rabatt bildet wieder das Volks-Agio.
Vergleicht man diese Berechnung mit dem Börsenkurse, so sieht
man, dass beim Kaufe einer Waare eine 100-Rubel-Assignate für
106 Rbl. angenommen wird, gleichzeitig werden aber 100 Rbl. Silber,
nicht wie auf der Börse für 352 Rbl., sondern für 375 angenom¬
men. Hieraus ergiebt sich folgende Proportion:
io6: 100 = 375 : x, x = 353 ,ti; so beträgt denn der Unter¬
schied zwischem dem Preise des Silbers in Assignaten nach dem
St. Petersburger Börsenkurse und nach seiner Annahme im freien
Handel auf 100 Rbl. nur 1 Rbl und 77 Kop. Weshalb folgt aber
der Verkäufer nicht einfach dem Börsenkurse? Der Grund ist augen¬
scheinlich. Wenn er dem Börsenkurse folgen wollte, so müsste er
je nach dessen Veränderungen auch alle seine Waaren im Preise
1 J. d. Dep. d. Reichsökon., 1839, Nr. 77.
pT
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128
umschätzen, und was er gestern für ioo Rbl. verkaufte, müsste er
heute nach dem gehobenen Kurse der Assignaten für 98 Rbl. ver¬
kaufen u. s. w. Diese grosse Unbequemlichkeit vermeidend, zieht
er vor, dieselben Procente, welche er bei der Preisbestimmung der
Waare abziehen müsste, bei der Bezahlung abzurechnen. Wenn
er z. B. den Silberrubel zu 352 Kop. rechnete, so könnte er nicht
bei Abschluss des Handels auf Assignaten 6 pCt. ablassen, indem
er aber den Preis des Silbers auf 375 erhöht, erhält er sich den
Preis seiner Waare und kann gleichzeitig dem Käufer einen fingirten
Rabatt geben, in welcher Münze der Käufer auch zahlt. Entschliesst
sich der Käufer in Silber zu zahlen, so meint er im Preise des Silbers
23 Kop. (375—352), d. h. fast 6 pCt. zu gewinnen, zahlt er in
Assignaten, so gewinnt er scheinbar auch 6 pCt., denn er zahlt für
die für 100 Rbl. erhandelte Waare nur 94 Rbl.
Dieses ist die Bedeutung des Volks-Agio beim Kauf auf Baargeld.
Dieselbe Berechnung wird aber auch bei Zahlungen von Schulden
angewandt. Wer Waare auf Credit gekauft hat, ist, wenn er sie
nach Jahresfrist nach dem beim Kauf stipulirten Preise bezahlt, der
Meinung, dass er zu viel zahlt, denn die Assignaten, in welchen die
Zahlung erfolgt, sind in ihrem Werthe im Laufe des verflossenen
Jahres gestiegen. — Was soll der Gläubiger thun? Entweder den
Schuldner verklagen oder sich auf einen nothgedrungenen Rabatt
verstehen, indem er die Zahlung nach der Rechnung auf Münze
annimmt. Gewöhnlich wird er sich für Letzteres entscheiden. — Im
Allgemeinen ist der Volkskurs nichts Anderes, als eine besondere
Art Berechnung des Börsenkurses. Erdacht und eingeführt ist er
von den Krämern (wahrscheinlich den Juden), dann aber auch in den
Grosshandel übergegangen. Der Zweck seiner Einführung war der,
die Waaren nicht nach den Schwankungen des Börsenkurses stets
umschätzen zu müssen, und um den Schein eines Rabatts vom wirk¬
lichen Preise der Waare zu ermöglichen und den Käufer damit zu
überlisten; denn der vermeintliche Unterschied von 23 Kop. zwi¬
schen den Kursen von 375 und 352 war ja schon in den 100 Rubeln
enthalten, die anfänglich für die Waare ausgemacht wurden. Ohne
diesen Unterschied hätte der Käufer für seine Waare nur 94 Rbl.
verlangt. Für den mit dieser Art Rechnung bekannten Käufer ist
dieser Versuch der Ueberlistung nichts als Spielerei; er weiss, dass,
wenn von ihm 100 Rbl. für eine Waare verlangt werden, er darunter
94 Rbl. Assignaten zu verstehen hat, und handelt auf dieser Grund¬
lage mit dem Verkäufer. Ganz etwas Anderes ist es aber, wenn
V
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der Handel zwischen einem Kaufmanne und dem niederen Volke
(etwa den Bauern) stattfindet. Hier wird die Ueberlistung zu einem
thatsächlichen Betrüge. Der Bauer verkauft auf dem Markte nach
einem in Assignaten angesetzten Preise; der Kaufmann aber, selbst
der wohlmeinendste, handelt auf Silber und schätzt dabei den Silber¬
rubel zu 375 Kop. Durch alle um ihn her geschehenden Käufe
glaubt sich der Bauer von der Richtigkeit dieses Preises für
Silber überzeugt und schliesst in der Meinung, in jedem Silberrubel
375 Kop. Banco zu erhalten, den HandeL An den Kronskassen wird
ihm aber derselbe Silberrubel bei seiner Abgabenzahlung nur zu
360 Kop. in Assignaten angenommen und von dem Wechsler nur
zu 352 Kop. Auf dieses Weise erleidet der Bauer einen Verlust
von 15 oder 23 Kop. auf jeden Silberrubel.
Woher rührte dieser Volkskurs? Vor dem Fallen der Assignaten
und während desselben hatte er nicht existirt. Während des Sin¬
kens der Assignaten kam ein Einw r echseln derselben gegen Silber
selten vor; das Silber wurde immer theurer und versteckte sich.
Der ganze interne Handel wurde mit Assignaten betrieben und es
gab überall nur eine Rechnung auf Assignaten. Sobald aber die
Assignaten zu sinken aufhörten und zu steigen anfingen, begann
das Silber billiger zu werden und daher auch im Verkehre wieder
zu erscheinen. Dazu wurden grosse Summen Goldes und Silbers
von der Regierung in Umlauf gesetzt. Von dieser Zeit an gab es
auch im internen Verkehre wieder zwei Geldarten: Assignaten und
Silber. Wer Silber besass, bedurfte aber häufig Assignaten: 1) weil
sie zur Versendung geeigneter waren; 2) weil sie im Werthe stiegen
und 3) weil sie zu der Bezahlung von Schulden in den Creditan-
stalten unbedingt nothwendig waren; für die Branntweinspächter
noch besonders, weil, während der Branntweinsverkauf fast aus¬
schliesslich gegen Silbergeld stattfand, sie nur 30 pCt. der Pacht¬
summe in Silber entrichten durften, das Uebrige aber in Assignaten
zahlen mussten. Aus diesen Gründen wurde das Wechseln, welches
früher nur ganz vereinzelt vorkam, zu einem alltäglichen, nothwen-
digen und allgemeinen Geschäfte. Dieses veranlasste die Entstehung
der Wechselbuden, eines neuen, bisher unbekannten Erwerbs¬
zweiges. Obwohl in der Nothwendigkeit begründet, erregte die¬
ses neue Unternehmen doch allgemeinen Unwillen, weil hier der
Gewinnsucht keine Schranken gesetzt, und es nicht wie die übrigen
Handelsarten nach festen Grundsätzen betrieben wurde. Es gab
hier weder eine Concurrenz noch eine Uebermacht grosser Kapita-
Ruaa. Revue. Bd. VU. 9
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13 °
listen, welche die willkürlichen Berechnungen Weiner Spekulanten
dämpfte.
Als Resultat der angestellten Betrachtung zog Graf Speranski
folgende Schlüsse:
1. Der Volkskurs ist nichts Anderes, als die Anwendung des
Börsenkurses (Einwechselungskurses) bei dem Waarenverkaufe und
bei der Bezahlung von Schulden.
2. Im Wesentlichen sind Volkskurs und Börsenkurs gleichartig.
3. Der Volkskurs ist aus Nothwendigkeit eingeführt worden, die
täglichen Umschätzungen der Waaren zu vermeiden.
4. Diese Art Rechnung hat bei alledem zwei sehr wesentliche
Schattenseiten: a) die Zusammensetzung derselben ist nicht Allen
verständlich, und b) giebt sie beim Kaufe von Waaren Veranlassung
zu Ueberlistung, ja häufig sogar zu Betrug.
Nachdem wir so im Vorhergehenden die Ansichten dreier bedeu¬
tender Finanzmänner aus der Zeit der Herrschaft des Volks-Agio
über letzteres ausführlich kennen gelernt haben, will ich noch einige
kurze Bemerkungen über dasselbe folgen lassen, welche ich an ver¬
schiedenen Stellen des Materials, das mir Vorgelegen hat,* ange¬
troffen habe.
Der Reichsrath fand, dass die Verminderung der Assignaten¬
menge (seit 1818) und die Vermehrung der klingenden Münze die
Zahlung aller Abgaben in Assignaten (wie es das Gesetz vom 9.
April 1812 verlangte) erschwere, und dadurch eben in vielen Gou¬
vernements bei Geldzahlungen zwischen Privaten, nicht nur auf
Gold und Silber, sondern auch auf Assignaten, zu einem besonders
willkürlichen Agio geführt habe l . Und bei Gelegenheit der Ver¬
handlungen über die Geldreform im Jahre 1839 wurde das Uebel
des Volks-Agio daselbst folgendermassen charakterisirt: «Das
Uebel des Volks-Agio, oder der Rechnung auf Münze hat schon so
tiefe Wurzeln geschlagen, dass die Reichs-Zahlzeichen, ihrer ur¬
sprünglichen Bestimmung zuwider, nach der sie, nur Verkehrs¬
mittel des Kaufs und Verkaufs und anderer Bedürfnisse des Gemein¬
lebens sein sollten, — selbst Objecte des Handels geworden sind.
Sie verändern sich beständig in ihrem Werthe und im ganzen
Reiche sind diese Veränderungen so mannigfaltig, dass fast jede
Stadt, jeder Flecken seinen eignen Geldkurs für Assignaten, Silber-,
Gold-, ja selbst für Kupfermünze besitzt. Daraus erwächst aber:
Unbestimmbarkeit des Werthes von Geldkapitalien und liegender
1 M. d. R. v. 10. Nov. 1831.
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* 3 *
Gründe, Schwankungen aller Handels- und Industrie-Unternehmungen
und Erschütterung allen Credits. Abgesehen von dem Handels¬
und Handwerkerstande, welche sich mehr oder minder durch Preis¬
steigerung ihrer Waare vor den Verlusten, die durch das Agio ent¬
stehen, schadlos halten können, leiden am meisten von der gegen¬
wärtigen Lage der Geldverhältnisse alle diejenigen Personen, welche
von einem festen Einkommen leben, namentlich also der ganze
dienende Stand, dann die Bauern, die Tagelöhner und überhaupt
das niedere Volk, welchem die Feinheiten der Kursberechnungen
unverständlich sind. Die Bedrückungen und Verluste, die alle diese
Stände erleiden, sind so augenscheinlich, dass sie auch von Nieman¬
den bezweifelt werden» l .
Auch das Departement der Reichsökonomie sah in dem Vorziehen
der Assignaten vor der klingenden Münze die Wurzel des Volks¬
kurses und einer lästigen Agiotage, welche alle Geldumsätze bedeu¬
tend erschwerte. Ihm zugestellte officielle Berichte meldeten, dass
in vielen Gouvernements und seit einer Reihe von Jahren das Agio
auf Assignaten stets kurz vor dem Zahlungstermin der Abgaben be¬
deutend stiege 2 . Ein anderes Mai äusserte sich das Departement
also über denselben Gegenstand: Die Wechselbuden, deren Zahl be¬
ständig wächst, haben eine Agiotage hervorgerufen, welche ganz
besonders schädliche Folgen für die Wohlfahrt des Volkes in sich
birgt, wie vollkommene Einschränkung der inländischen Industrie,
Schwankung aller Handels-Verbindlichkeiten und -Unternehmungen',
Erschwerung des Geldumlaufs und Schwächung des privaten Unter¬
nehmungsgeistes. Die Gewinnsucht hat es bereits so weit gebracht,
dass auf dem «Agio» selbst ein neues System rascher Bereicherung
gegründet worden ist, zum nicht geringen Schaden des ganzen Volkes,
besonders aber der zahlreichen Klasse der Landleute. Diese erhal¬
ten ihre Arbeit und ihre Produkte fast ausschliesslich in Silber- und
Goldmünze, die ihnen zum Volkskurse verrechnet wird, bezahlt,
wodurch sie bei der Bezahlung ihrer Abgaben in Assignaten oder
nach dem Abgabenkursein einzelnen Gouvernements bis zu 18 pCt.
verlieren, wenn sie aber das Silber gegen Assignaten eintauschen
wollen, noch bedeutend mehr. Die Quelle des Volks-Agio kann das
Departement nicht «in der blossen Gewinnsucht der Spekulanten
und in der Unwissenheit des niederen Volkes» erblicken, wie dies
der Finanzminister thut (p. 123), sondern glaubt, dass die Wurzel
1 M. d. R. V. 10. Nov. 1831.
* M. d. R. v. 10. Nov. 1831.
9*
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*32
dieses Uebels viel tiefer zu suchen ist, und der gegenwärtige Zustand
unseres Geldwesens als eine natürliche Folge mehr oder weniger
falscher Grundursachen angesehen werden muss. Als solche mög¬
liche Ursachen führt es an: i) Mangel an kleiner Silbermünze, mit
welcher doch die meisten internen Zahlungen bestritten werden;
2) allgemeines Missverhältniss zwischen den vorhandenen Geldzei¬
chen und dem zeitweiligen Bedürfnisse an denselben; 3) der immense
Zufluss ausländischer Münze und der freie Umlauf derselben unter
dem Volke zu einem ihren inneren Werth bedeutend übersteigenden
Kurse (die häutigsten Klagen über das Agiowesen liefen seit dem
Erscheinen der fremden Münze im Verkehre ein), und 4) Mangel an
Gelegenheit zum freien Einwechseln von Silber gegen Assignaten
und auch umgekehrt von Assignaten gegen Silber 1 .
Zum Schlüsse erwähne ich auch noch einiger Ansichten von Pri¬
vatleuten, um ein möglichst vollständiges Bild der über das Volks-
Agio herrschenden Meinungen damaliger Zeit zu geben.
Eine ganz eigenthümliche Anschauung entwickelte der Admiral
Greigh über dasselbe. Er sah den Ursprung des Agio in dem Stre¬
ben des Volkes nach einer Münzeinheit, die dem Assignatenrubel
möglichst gleich käme, es fand dieselbe im silbernen 25-Kopeken-
stücke. Dieses Letztere rechnete nun das Volk gleich 100 Kop.
Banco und demnach den Silberrubel gleich vier Rubel Assignaten.
Gestiegen sei das Agio, weil es im Verkehre an 25-Kopekenstücken
und an dessen Mehrfachen mangelte *!
Der Kaufmann Subzaninow fand den Grund für den Volkskurs in
der Leichtigkeit und Bequemlichkeit seiner Handhabung fiir den
Alltagsverkehr. Man nahm den Silberrubel rund zu vier Rubeln an,
und verrechnete dann zur Ausgleichung des Agio den Assignaten¬
rubel mit 107 und 108 Kop. An den Haupthandelsplätzen und in
vielen Gouvernements galt der Silberrubel dagegen nur 370Kop.*.
Die Moskau’schen Kaufleute klagten, dass fremde Goldmünze den
Markt dermassen beherrsche, dass das Agio auf Assignaten 12 pCt.
erreicht habe, was den Credit ungemein beeinträchtige. Verkäufer
wollten nicht Zahlungen in Gold verschrieben haben, Käufer diese
nicht in Assignaten verschreiben, die in sieben Monaten um 2 f /a pCt.
gestiegen seien. Ferner sei Anfangs die ausländische Münze zu
einem, ihren Metallwerth bedeutend übersteigenden Kurse im Ver-
* M. d. R. vom 10., 12. und 19. Juni 1839.
* J. d. Dep. d. Reich&ökon. 1S39, 77 -
* M. d. R. vom 27. October 1826.
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133
kehre angenommen worden, als man aber allmählich diesen Fehler
eingesehen, habe man den Kurs derselben nicht herabgesetzt, son¬
dern dem Agio der fremden Münze entsprechend auch den Kurs der
eigenen gesteigert, so dass das Agio in Folge hiervon für Assigna¬
ten auf 14 pCt. gestiegen sei. Es scheint ihnen, als habe sich gleich¬
sam ein Fehler in alle Rechnungen und eine Unbestimmtheit in alle
Handelssachen eingeschlichen, denn das Volk führe alle seine Rech¬
nungen auf eine nur in der Einbildung existirende Münzeinheit von
vier Rubeln, die Regierung dagegen nach einem von ihr selbst be¬
stimmten festen Kurse von 360 Kop. K
In der russischen Commerzzeitung vomJahr£ 1839, Nr. 1, heisst
es: Das Volks-Agio besteht darin, dass man dem Silbemibel einen
höheren Werth giebt, als derselbe sich auf der Börse gestaltet, und
in demselben Verhältnisse schlägt man dann auch Procente zum Kurse
der Assignaten zu. Allen mit den Eigentümlichkeiten des Geldwe¬
sens Vertrauten ist es ferner bekannt, dass diese Rechnung nicht auf
irgend welchen Mängeln unseres Geldsystems beruht, sondern einzig
und allein in Folge der Unwissenheit auf der einen und der Gewinn¬
sucht auf der anderen Seite entstanden ist Die Macht dieser Rech¬
nung besteht in der beständigen Steigerung des Agio, die Haupt¬
veranlassung zu den Klagen über dasselbe darin, dass die Schuldner
und Käufer die Zahlungen verweigern, wenigstens verzögern oder
auf den Handel nicht eingehen, wenn die Gläubiger und Verkäufer
das Geld nicht zu höherem Kurse, d. h. mit Agio, annehmen wollen.
Letztere finden es aber schliesslich vortheilhafter, etwas weniger zu
erhalten, als noch länger auf die Bezahlung zu warten oder die Waare
unverkauft zu lassen. — Diese Darlegung des Volks-Agio ist so
übereinstimmend mit der Ansicht des Grafen Cancrin, dass sie ent¬
weder von ihm selbst herstammt, oder doch wenigstens in seinem
Aufträge von einem seiner Beamten abgefasst worden ist; diese
Voraussetzung wird dadurch noch wesentlich unterstützt, dass der
Artikel, dem dieser Passus entnommen ist, keine Unterschrift zeigt.
In Nr. 34 desselben Jahrgangs schreibt ein Herr Morosow aus dem
Gouvernement Pensa: Das Volks-Agio ist eine financielle Ano¬
malie. Dasselbe bringt keinem Stande so grossen Schaden als den
Landleuten durch Verwirrung der Wirthschaftsrechnungen. Ist es
wohl möglich, richtige Berechnungen anzustellen, wenn die Münz¬
einheit beständig schwankt? Wenn alle Leute ihre Rechnungen auf
Silbemibel führen würden, so könnte das gegenwärtige Volks-
* M. d. R. vom 3. Mai 1834.
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134
Agio nie bestehen. Aber anstatt einer gesetzlich festgestellten Münz¬
einheit ist im Handel eine Münzeinheit üblich geworden, die gar
kein bestimmtes Gewicht, gar keinen beständigen Werth hat! In
der That, was ist der Rubel — Münze? Eine fingirte, willkürliche
Grösse. In Moskau macht sich bei den unteren Klassen das
Streben bemerkbar, von der fictiven Rechnung zur wahren zurück¬
zukehren. Die Fuhrleute und Handwerker verlangen jetzt häufig
nicht mehr so und so viele Rubel, sondern Silberrubel, oder sie
sagen, die Arbeit kostet einen Assignatenschein von der und der
Farbe.
Endlich gab es auch-Personen, welche das Volks-Agio vom Jahre
1813 datirten. Nach Beendigung des Feldzuges von 1813 strömten
Arbeiter in Massen nach Moskau, wo sie vollauf bei dem Wieder¬
aufbau der durch den grossen Brand zerstörten Stadt Beschäftigung
fanden. Diese Arbeiter verlangten nun der Bequemlichkeit halber,
zur Vermeidung aller Bruchrechnungen, dass der Silberrubel ihnen
stets mit vier Rbl. Assignaten verrechnet werden sollte. Um das
Jahr 1818 war die Annahme des Silberrubels zu diesem Kurse in ganz
Mittel-Russland üblich geworden.
Bei allen über die Entstehung und das Wesen des Volks-Agio
angeführten Ansichten vermissen wir vor allen Dingen die noth-
wendige Klarheit. Wir finden fast bei Allen die Folgen des gewöhn¬
lichen Agio und des Volks-Agio mit einander vermischt, und häufig
Erscheinungen des ersteren auf letzteres bezogen, so dass man oft
thatsächlich nicht weiss, welches Agio der Begutachter eigentlich
im Auge gehabt hat. Die vollständigste Erörterung giebt Graf Spe-
ranski, bei welchem doch Andeutungen auf den wahren Ursprung
des Volks-Agio vorhanden sind; die misslungenste ist die des
Grafen Cancrin, der auf den Ursprung und das Wesen der Erschei¬
nung gar nicht eingeht, sondern den allmählich ausgebildeten Miss¬
brauch und die Folgen desselben für den Ausgangspunkt ansieht.
Seine Bemerkungen, welche er den factischen Missständen entnom¬
men hat, sind alle richtig, doch hat er sich nie die Zeit genommen,
der Sache auf den Grund zu gehen, sondern sich nur damit begnügt,
die zunächst liegende Ursache des Uebels für den Keim der ganzen
Krankheit zu halten.
Ich will es nun versuchen, den Entstehungsgrund des Volks-
Agio und, die sich später daraus entwickelnden Folgen und Miss¬
stände auseinander haltend, die Erscheinung des Volks-Agio einer
Kritik zu unterwerfen.
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135
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Kernpunkt der
Sache. Den Grund zur Entstehung des Volks-Agio sahen wir in
der Hebung des Werthes der Assignaten; herbeigeführt wurde es
durch diejenigen "Personen, welche keine Assignaten besassen und
doch an dem ' unverdienten Gewinne, welcher den Besitzern von
Assignaten aus deren Kurshebung zufloss, theilhaben wollten.
Das Volks-Agio selbst bestand in einer Annahme der Assignaten
zu einem schlechteren als ihrem Börsenkurse, d. h. zum Volks¬
kurse, und die Differenz beider Kurse bildete die Höhe des Volks-
Agio. Der Ausgangspunkt zur Bestimmung des Annahmekurses
der Assignaten war der gewesene tiefste Stand derselben. Die letzte
Ursache der ganzen Calamität war nun freilich die Papiergeld-Miss-
wirthschaft. —Dieses Streben Derjenigen, die keine Assignaten
besassen und doch theilnehmen wollten an dem sich aus der
Hebung des Assignatenwerthes ergebenden unverdienten Gewinne,
kann nicht ganz unbedingt verurtheilt werden, denn dasselbe war
im Grunde genommen an sich kein Betrug, sondern nur eine, wenn
auch nicht zu rechtfertigende Art von Selbsthülfe gegen den aus
der Hebung der Assignaten sich ganz einsejtig für die Besitzer der
letzteren ergebenden Vortheil. Wäre dieser eben denselben Personen
zugeflossen, welche, bei dem Sinken des Papiergeldes unverschul¬
deter Weise Verluste erlitten hatten, so müsste jenes Streben unbe¬
dingt verurtheilt werden. Es mag wohl vorgekommen sein, dass
die Assignaten sich bei ihrer Hebung noch in denselben Händen,
wie zur Zeit ihres Sinkens, befanden, im Allgemeinen war dies
aber nicht der Fall, und der Gewinn aus der Besserung der Assig¬
naten kann mit Recht als ein unverdienter für den jeweiligen Assig¬
natenbesitzer bezeichnet werden. — Unter allen Umständen konnte
aber das Streben, theilzunehmen an diesem Vortheile, auch nur
so lange auf bedingungsweise Entschuldigung Anspruch erheben,
so lange der Gewinn thatsächlich zwischen Waarenbesitzern und
Assignatenbesitzern getheilt wurde, etwa derart, wie es in dem Bei¬
spiele zu Anfang dieses Exkurses gezeigt wurde. Aber die daselbst
angestellte Berechnung kann auch zugleich dazu dienen, die nahe¬
liegende Versuchung nachzuweisen, durch Steigerung der Procente
(welche die Hälfte des Gewinnes betragen sollten) den Besitzern
der Assignaten ihren Vortheil immer mehr zu schmälern. Dieses
geschah denn auch, und nun begann allerdings eine Spekulation
mit Folgen, wie sie Graf Cancrin schildert. Durch stetes Steigern
der Procente suchte man mehr und mehr zu gewinnen, und es bil-
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136
dete sich hierauf gegründet zuletzt factisch ein neues System ra¬
scher Bereicherung aus. Der Börsenkurs blieb nun nicht mehr
massgebend, sondern wurde ganz willkürlich gesteigert, in Folge
dessen wir so mannigfache Volkskurse finden, die^bedeutend stärker
von einander abweichen, als die Börsenkurse an denselben Orten.
Doch dieser Missbrauch hat, im Grunde genommen, mit dem Wesen
des Volks-Agio nichts gemein, eine Thatsache, welche die meisten
Personen stets verkannt haben. Sie haben nur nach dieser Spekula¬
tionserscheinung die ganze Frage über das Volks-Agio abgeur-
theilt. Solange nun ein Börsenspiel dieser Art zwischen Kaufleuten
oder doch wenigstens nur zwischen Leuten, die von Geldsachen
und diesem Agio einen Begriff hatten, betrieben wurde, brachte es
wohl sehr bedeutende Nachtheile, vor allen Dingen Unbestimmt¬
heit im ganzen Geldwesen, mit sich, konnte aber zu einem facti-
schen Betrüge ausarten, sowie der eine Theil der beim Handel
Betheiligten mit dem Volks-Agio unbekannt war. Diesen Betrug
hat sich nun der Handelsstand damaliger Zeit in hohem Grade zu
Schulden kommen lassen; besonders sind es die Krämer, aber auch
die Grosshändler und alle Diejenigen gewesen, welche aus erster
Hand vom Bauer kauften oder Tagelöhner in Arbeit nahmen. Selbst
Beamte der Krone haben sich, wie Graf Cancrin dessen selbst er¬
wähnt (Reisetagebücher, Beilage II, p. 60) dieses Unrechts schul¬
dig gemacht. Die Art und Weise der Verrechnung war in diesem
Falle eine etwas andere, als in dem oben angeführten Beispiele,
denn sie ging hier vom Käufer, nicht wie dort vom Verkäufer aus.
Der Bauer setzte den Preis des Korns u. s. w., das er zum Markte
brachte, wie er nach dem Gesetze verpflichtet war, in Assignaten
an, der Kaufmann aber, welcher das Korn kaufte, bezahlte es mit
Silber und verrechnete dem Bauer für seine Forderung in Assignaten
das Silber zum Volkskurse, aber nicht einmal zu dem von uns aner¬
kannten zulässigen, sondern zu einem willkürlichen, wie ihn die
Spekulation ausgebildet hatte. Es findet hier ein Handel statt,
wie ihn Graf Speranski geschildert (cf. p. 128). Diese Art der
Uebervortheilung des mit Kursberechnungen unbekannten ein¬
fachen Mannes hatte in den dreissiger Jahren ganz unglaubliche
Dimensionen erreicht, und Cancrin nennt sie mit Recht eine wahre
Volkscalamität (p. 122). Trotzdem verbleibe ich bei meiner Be¬
hauptung, dass alle diese Ausartungen und Betrügereien nicht
charakteristische Kennzeichen des Volks-Agio seien, sondern blosse
Folgen des Missbrauchs desselben. Das Volks-Agio war aber selbst
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137
nur eine Folge der Hebung eines tiefentwertheten Papiergeldes/ ein
neuer Beweis dafür, wie schwierig und mit welchen Missständen
es verbunden ist, von einer entarteten Papiergeldwirthschaft zu einer
geordneten zurückzukehren, wenigstens auf dem Wege der Hebung
des entwerteten Papiergeldes.
Ich möchte einerseits von der Einführung des Volks-Agio fast
dasselbe sagen, was Admiral Greigh über den Umlauf ausländischen
Billons in Russland sagte: rUeberall bemerkt man, dass die Fehl¬
griffe der Regierungen durch das Volk ausgeglichen und Mittel und
Wege ausgedacht werden, jene Fehlgriffe in ihren Folgen weniger
fühlbar oder unbedeutend zu machen* ! ; — andererseits mich jedoch
gegen den Vorwurf verwahren, als wenn ich den Volkskurs oder das
Volks-Agio in irgendeiner Beziehung habe rechtfertigen oder gut¬
heissen wollen, — ich habe mich nur bestrebt, das Wesen und die
Entstehung des Volks-Agio sowie seine Folgen klar und sachlich
nachzuweisen.
Zum Schlüsse dieses Exkurses muss ich noch mit ein paar Wor¬
ten des Agio auf Assignaten erwähnen. In den Gutachten, welche
wir durchgenommen, ist wiederholt bemerkt worden, dass es nicht
nur ein Agio auf Gold und Silber, sondern selbst auf Kupfer und so- »
gar auch auf Assignaten gegeben habe. Letzteres ist allerdings wie¬
der eine ganz eigenthümliche Erscheinung und, so viel mir bekannt,
eine bei entwerthetem Papiergelde sonst nie vorgekommene That-
sache. Es sei wohl verstanden, dass hier nicht von einem Volks-
Agio, sondern genau von derselben Art Agio, wie es bei Wechseln, •
Gold und Silber auch in anderen Ländern vorkommt, die Rede ist.
Das Agio auf Assignaten entstand nach dem Jahre 1812, als durch
das Manifest vom 9. April desselben Jahres (Nr. 25,080) bestimmt
wurde, dass alle Abgabenzahlungen mit sehr wenigen und ganz
unbedeutenden Ausnahmen fortan in Assignaten erfolgen mussten.
Dadurch wurde natürlich der Bedarfskreis an Assignaten bedeutend
erweitert. Als nun von 1818 an die Tilgung der Assignaten be¬
gann, die Menge derselben bedeutend geringer wurde und sich die
Assignaten mehr im Grossverkehre concentrirten, während im Klein¬
verkehre das Silber wieder Zahlmünze wurde, so geschah cs nicht
selten, dass zur Zeit der Abgabentermine eine solche Nachfrage nach
Assignaten entstand, dass derselben mit der am Platze vorhandenen
Menge nicht genügt werden konnte. Diesen Umstand benutzten
1 M. d. R. vom 28. October 1837.
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138
dann die Wechsler und verlangten beim Verwechseln des Silbers ge¬
gen Assignaten ein Agio zum Börsenkurse der letzteren. Dieses Agio
bildete sich in den inneren Gouvernements aus, wo sich besonders
leicht Mangel an Assignaten fühlbar machte, denn diese pflegten
stets nach den Hauptstädten zu strömen, wo sich ja der Sitz der
Regierung und des Grosshandels befand. — Wie sich das Agio auf
die Kupfermünze hat ausbilden können, darüber fehlen mir alle An¬
deutungen aus jener Zeit, vielleicht kann man es sich so erklären,
dass das Agio auf Assignaten eine derartige Höhe in manchen Gou¬
vernements erreichte, dass die Steuerzahler es vorzogen, ihre Ab¬
gaben in Kupfermünze zu zahlen, ein Recht, welches ihnen zu jeder
Zeit freistand und dass gleichzeitig auch selbst Mangel an Kupfer¬
geld vorhanden war. Oder die Wechsler können auch das Agio ein¬
fach von den Assignaten auf das Kupfergeld übertragen haben, da
dieses ja nach der Meinung vieler Leute Zahlmünze für die Assigna¬
ten war. Jedenfalls ist dieses Agio sehr unbedeutend gewesen, da
keine allgemeinen Klagen über dasselbe eingelaufen sind und es
gewiss nicht leicht an Kupfermünze gemangelt haben kann, da der
Finanzminister wiederholt darüber klagte, dass Millionen desselben
in den Kronskassen brach lägen und im Verkehre nicht gehalten
werden konnten.
Ich habe des Agio auf Assignaten besonders deshalb erwähnt,
weil man nur gar zu leicht es mit dem Volks-Agio zu vermengen
pflegt und beide Erscheinungen zusammen aburtheilt. Am befrem¬
dendsten bleibt es aber immer, dass selbst der Finanzminister Can-
crin keine klare Einsicht in diese Verhältnisse besessen. Das do-
kumentirt sich auch in seinen mehr als einmal vorgeschlagenen
Massregeln, durch ein Verbot die Existenz des Volks-Agio und da¬
mit zugleich auch alle anderen Schattenseiten des damaligen Geld¬
systems zu vernichten. Doch ist ihm dieses trotz mehrfacher Ver¬
suche auf diesem Wege nie gelungen.
(Schluss folgt.)
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Zar Charakteristik der Kaiserin Katharina II.
J^HeBHUKii A. B. XpaooBHiiKaro 1782 — 1793. Ho noAJiHHHoH ero pyiconncw, ch 6iorpa-
4»MMecKoio craTbeio h oö'bflCHHTe^bHhiM'b yKasaTe-ieü-b Hhkojus BapcyicoBa, H-nena
Axeorpa«tMMecicofl KoMMwcciti. Il 3 A. A. Q. BaayHOBa. Cn6. 1874. XII. u. XXIV.
610 S.
Geschichtsquellen, wie das unlängst in neuer Ausgabe erschienene
Tagebuch Chrapowitzkij’s sind unersetzlich. Ein Mann, welcher
Jahre lang zu der unmittelbaren Umgebung der Kaiserin gehört, fast
täglich und nicht selten mehrmals täglich, über die Vorkommnisse
des Tages, über grosse politische Ereignisse, Verwaltungsfragen,
Personen und Verhältnisse, Kunst und Literatur sich mit der Kai¬
serin unterhielt, genau unterrichtet ist von ihren Studien, Arbeiten,
Zerstreuungen, von ihrem Befinden, ihrer augenblicklichen Stim¬
mung; ein Mann, der mit grosser Aufmerksamkeit allen momen¬
tanen Eindrücken, denen Katharina ausgesetzt ist, folgt, jede
vorübergehende Laune oder Verstimmung als ein wichtiges Ereig¬
niss betrachtet, macht über alles Dieses mehrere Jahre hindurch
ganz kurze Aufzeichnungen. Es giebt Zeiten, in denen kaum ein
Tag vorübergeht, an welchem nicht wenigstens eine Notiz über
Katharina oder sonstige Vorkommnisse am Hofe oder in der Politik
uns begegnen.
Selten, fast nie sind Geschichtsquellen im Stande, uns in so unmit¬
telbarer Weise in historische Situationen längst vergangener Zeiten
einzuführen. Die Vergangenheit wird beim Lesen dieser Blätter
zur Gegenwart. Wie reich wären wir an Stoff in Betreff des Le¬
bens und Treibens, des persönlichen Verhaltens, des Tempera¬
ments und Charakters bedeutender Menschen, wenn Personen der
Umgebung auch anderer historischer Heroen ähnliche Aufzeich¬
nungen gemacht hätten. Briefe und Memoiren sind literarische
Erzeugnisse, bei deren Abfassung eine gewisse Absicht zu Grunde
liegt. Es gilt den Verfassern derselben, eine gewisse Wirkung
zu erzielen. Oft zeichnen sie sich durch Wahrheit aus: in der
äusseren Correctlieit werden Tagebücher stets viel mehr leisten.
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So häufige, kurze, zum Theil abgerissene, mit photographischer
Treue gemachte Aufzeichnungen, welche durchaus keinen Anspruch
haben, als literarische Production zu gelten, üben einen viel grös¬
seren Zauber aus, als Actenstücke oder andere Ueberreste aus der
Vergangenheit. Jede flüchtige Erregung, welche in wenigen
Worten sich Luft macht, Ungeduld und Missstimmung, wohlwol¬
lender Scherz und heissender Witz, geistvolle tiefe Gedanken und
ganz momentane Apergu’s, jede Trübung der geistigen Heiterkeit
und Frische, der Gesundheit und Spannkraft des Gemüthes durch
leibliches Unwohlsein, das Maass von Arbeit und Genuss, Kraft¬
aufwand und Abspannung, Sonnenschein und Regen, Sturm und
Windstille, wie jeder Tag in dem Leben bedeutender und in bedeu¬
tenden Verhältnissen lebender Menschen solche Erscheinungen
mit sich bringt — alles Dieses finden wir mit gleichsam mechani¬
scher Sicherheit, Objectivität und Vollständigkeit in dem Tage¬
buche des Geheimschreibers der Kaiserin Katharina. Chrapo-
witzkij ist wie ein Barometer oder Thermometer oder Anemometer
neuester Construction, d. h. ein Apparat, der durch sinnreich ange¬
brachte Vorrichtungen das Maass der Wärme und des Luftdrucks oder
die Richtung und Stärke des Windes mechanisch selbstschreibend
zu Papier bringt. Welchen Eindruck müsste es machen, wenn
wir über das, was ein Perikies, ein Gottfried von Bouillon, ein
Gustaf Adolf oder ein Friedrich der Grosse mehrere Jahre hindurch
täglich äusserten oder thaten, ähnliche reichliche Mittheilungen be-
sässen. Durch dieselben würden uns Klima und Temperatur histo¬
rischer Situationen unvergleichlich näher gebracht werden können,
als auf irgend eine andere Weise. Hier sehen wir, wie grosse
Haupt- und Staatsactionen sich hinter den Coulissen ausnehmen.
Die berühmten Menschen erscheinen nicht in Parade-Uniform, son¬
dern im Hauskleide. Die Werkstätten politischer Thaten thun sich
vor uns auf. Wir blicken hinter das Zifferblatt der politischen Uhr
in den complicirten Mechanismus und beobachten das Ineinander¬
greifen der kleinen Räder und Zähnchen. Wir lernen das Maass
von Staunen, Ueberraschung, Erschütterung, Freude und Schmerz,
Hoffen und Bangen kennen, welches von den Ereignissen und Ein¬
drücken des Tages bewirkt wird. Kaiser und Minister sind denn
doch auch Privatleute. Als solche lernen wir sie in dieser Art
Geschichtsquellen kennen. Die grosse Beleuchtung und Perspec¬
tive der Weltgeschichte sind beseitigt. Die Menschen erscheinen
in unmittelbarer Nähe gesehen, bei gewöhnlichem Tageslichte, wie
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141
die Gunst des Himmels es bietet, oder bei dem Scheine einer be¬
scheidenen Hauslampe anders. Ob kleiner?
Man sagt wohl, dass es für den Kammerdiener keinen Helden
gebe. Aber hierauf ist erwidert worden: nicht weil der Held kein
Held y sondern weil der Kammerdiener ein Kammerdiener sei.
Man darf behaupten, dass Katharina durch dieses Tagebuch eher
gewinnt als verliert. Beim Lesen dieser Blätter empfindet man ein
noch lebhafteres Interesse für die Persönlichkeit der Kaiserin, als
sonst. Man lernt ihren Geist und ihre Arbeitskraft, ihr Gemüth und
ihre Liebenswürdigkeit genauer kennen, als dieses auf andere Weise
möglich ist. Es dürfte kaum einen so werthvollen und einen so zuver¬
lässigen Quellenbeitrag zur Geschichte des Charakters und Tempa-
rements der Kaiserin geben, als diese Notizen.
Aber auch für die Geschichte der ganzen Zeit ist das Tagebuch
eine sehr werthvolle Quelle. Die Gespräche Katharina’s mit Chra-
powitzkij betreffen sehr häufig die wichtigsten politischen Angele¬
genheiten, welche damals die Aufmerksamkeit der Kaiserin in An¬
spruch nahmen. Ueber Einzelnheiten der grossen Conflicte mit der
Türkei und mit Schweden werden wir sehr genau unterrichtet.
Unzählige Male wird der politischen Correspondenz der Kaiserin
erwähnt, wobei nicht selten einzelne Stellen aus den Briefen der
Kaiserin an Joseph II., den Fürsten von Ligne, Potemkin u. s. w.
wörtlich angeführt werden. Ein solcher Umstand verleiht dem Tage¬
buche eine Art archivalisches Interesse. Es lässt sich auf Grund
dieses Tagebuches ein Verzeichniss der in diesen Jahren von Katha¬
rina geschriebenen Briefe zusammenstellen.
Die Stadt- und Hofgespräche über Menschen und Verhältnisse
werden fast täglich in ganz kurzen Worten reproducirt. Wir er¬
fahren, wie Katharina über eine grosse Anzahl von Zeitgenossen
geurtheilt hat. Die bedeutenderen und viele minder bedeutende
Vorkommnisse in der Hauptstadt Russlands werden erwähnt und
besprochen. Die Bemerkungen über allerlei Vorfälle an anderen
Höfen sind von dem grössten Interesse. Katharina’s lebhafter
Verkehr mit den Gesandten der verschiedenen Mächte, ihre Kennt-
niss von dem Inhalte des Briefwechsels dieser Staatsmänner mit den
leitenden Ministern der Staaten, der Eifer, mit welchem Katharina
Zeitungen y Broschüren, politische und historische Schriften, welche
damals erschienen, liest — Das alles verleiht dem Tagebuche
Chrapowitzkij’s zum Theil den Charakter eines Tageblattes, und noch
dazu eines an sehr massgebender Stelle erscheinenden. Wir erfah-
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ren allerlei von Stürmen und Ueberschwemmungen in St. Peters¬
burg, von Korntheuerung in Russland, von Todesfällen so bedeu¬
tender Personen wie Potemkin, Joseph II., Gustaf III., von Sie¬
gen und Niederlagen der Russen, Türken, Schweden, von Erken¬
nungen zu verschiedenen Aemtern und Ordensverleihungen, von
diplomatischen Schachzügen, von kleinen Verstimmungen zwischen
den Mächten u. s. w.
Als Beispiele von dem reichen Inhalte des Tagebuches greifen wir
einzelne Tage heraus. So notirt Chrapowitzkij (S. 184) am 2. No¬
vember 1788 Folgendes: Einige Bemerkungen über die Unter¬
stützungen, welche die Kaiserin den Angehörigen der in der Schlacht
bei Hochland (im Juli 1788) Gefallenen gewährte. Einen recht
langen, wörtlich citirten Passus aus einem Schreiben des Fürsten
von Ligne aus Südrussland an den Grafen Cobenzl, welches die rus¬
sische Post auf dem Wege der «Perlustration» geöffnet und copirt
hatte, und aus welchem wir höchst anziehende Einzelnheiten über
Potemkin’s Verhalten bei der Belagerung Otschakovv’s erfahren.
Verhandlungen der Kaiserin mit Chrapowitzkij über die Theater-
direction, welche der Letztere übernehmen sollte. Ueber einen
komischen Vorfall mit der Fürstin Daschkow, der ehemaligen
Freundin der Kaiserin, weiche ein Paar Schweine eines ihr ver¬
hassten Nachbars hatte umbringen lassen. Eine Verfügung Katha¬
rina^ über ein dem Andenken des Admirals Greigh, welcher bald
nach der Schlacht bei Hochland gestorben war, zu errichtendes
Mausoleum.
Aehnlich mannigfaltig ist der Inhalt der Notizen vieler anderer
Tage. So wird z. B. am 15. April 1798 erwähnt: der Krankheit des
Königs von England; einiger Aeusserungen der Kaiserin über die
staatsrechtlichen Bestimmungen in Betreff des Verlustes der Adels¬
rechte; eines jungen Verbrechers, welcher verurtheilt wird; des
Grafen Roger Damas, der als Emigrant sich bei der Einnahme
Otschakow’s ausgezeichnet hatte u. s. w.
Bei der Abfassung mancher Actenstücke war Chrapowitzkij mit¬
helfend thätig, manche Concepte der Kaiserin hatte er umzuschrei¬
ben; viele Privatbriefe, welche übrigens oft politische Bedeutung
hatten, wie z. B. Briefe an Grimm, Zimmermann, Pohlmann und dgl.,
las Katharina ihrem Geheimschreiber vor, und er notirte dann zuHause
sogleich den Inhalt so genau wie möglich. Dadurch ist denn Chra¬
powitzkij oft in den Stand gesetzt, solche Actenstücke wenigstens
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143
theilweise oder im Auszuge mitzutheilen, welche sonst der Geschichts¬
forschung gar nicht zugänglich geworden sind *.
Insofern wir es mit einer so hervorragenden, geistvollen, literarisch
bedeutenden Persönlichkeit wie Katharina II. zu thun haben, erinnert
das Tagebuch Chrapowitzkij’s stellenweise an die Art der Gespräche
Eckermann's mit Goethe. Insofern Fragen der Tagespolitik, Details
aus der Hof- und Beamtengeschichte darin eine grosse Rolle spielen,
kann man dieses Tagebuch mit Varnhagen von Ense’s Tagebuch
vergleichen.
Ehe wir den Inhalt des Tagebuches nach einzelnen Richtungen hin
betrachten, müssen wir die Persönlichkeit des Verfassers genauer
kennen lernen.
Die Familie Chrapowitzkij stammte aus Polen und ein Mitglied
derselben wanderte während der Regierung des Zaren Feodor Alexeje-
witsch, also in der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts
nach Russland aus. Der Vater des Geheimschreibers der Kaiserin
Katharina diente in der «Leibcompagnie» der Kaiserin Elisabeth,
wurde im Jahre 1747 in den Adelsstand erhoben und erhielt 1777
Generalsrang. Der Grossvater des Verfassers des Tagebuches von
mütterlicher Seite war der bekannte Ingenieur Serdjukow, ein Mann,
welcher des Vertrauen des Kaisers Peter in hohem Maasse genossen
hatte und als Erbauer der Schleusen des Kanals von Wischnij-Wolo-
tschök und anderer derartiger grossartiger Anstalten eines wohl¬
verdienten Ruhmes genoss 2 .
Alexander Wassil je witsch Chrapowitzkij wurde i. J. 1749 geboren.
Der Grossfürst Peter (nachmals Kaiser Peter III.) war sein Taufpathe.
Chrapowitzkij erhielt eine militärische Erziehung und wurde Officier.
Die Bekanntschaft mit dem berühmten Lomonossow, welcher frei¬
lich viel älter war als Chrapowitzkij, regte den letzteren zu literari¬
schen Arbeiten an. Männer wie der Herausgeber der «Alten Russi¬
schen Bibliothek», Nowikow, oder wie der bekannte Dichter Ssuma-
rokow, schätzten das poetische und kritische Talent des jungen
Schriftstellers hoch. Er schrieb Dramen, lyrische Gedichte und sa-
4 s. z. B. S. 191 ein Schreiben Katharina’s an den Vicekanzler Ostermann über die
militärischen Operationen in Finland; oder S. 2$7 ein Schreiben Katharina’s an den
Grafen Woronzow über das Verhalten Russlands zu England im Jahre 1789 und dgl.
* Einer Tradition zufolge soll die Mutter Chrapowitzkij’s, Helena Serdjukow, eine
natürliche Tochter Peter’s des Grossen gewesen sein; sonach wäre er selbst der Enkel
Peter’s.
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tyrische Briefe, welche letzteren, so wie manche seiner Kritiken, ihm
einige Feinde erwarben. Zuerst bekleidete Chrapowitzkij ein Amt
bei dem Grafen Kyrill Grigoije witsch Rasumowskij, später diente er
als Secretär bei dem General-Procureur Fürsten Wjasemskij, sodann
wurde er Obersecretär im Senat In den siebenziger Jahren lernte
er Dershäwin kennen, welcher ebenfalls im Senat diente, und sich
mit dem strebsamen Dichter und vortrefflichen Prosaschriftstller be¬
freundete. Chrapowitzkij war in der That unübertrefflich bei der
Redaction von Schriftstücken, so dass ein Kenner guten Styls, wie
I. I. Dmitrijew, die Aeusserung thun konnte, Chrapowitzkij sei von
allen Zeitgenossen Speranskij’s der einzige, dessen Talent in dieser
Hinsicht mit der ungewöhnlichen Begabung des berühmten Ministers
Alexanders I. verglichen werden könne. Gerade in der Eigenschaft
eines Schriftführers wurde er im Jahre 1782 von dem Fürsten Wja¬
semskij der Kaiserin Katharina empfohlen. Es begann der denk¬
würdige Abschnitt seines Lebens, in welchen die Abfassung des
Tagebuches fällt. Dieses Tagebuch führte er vom Januar 1782 bis
zum September 1793, d. h. bis zu jenem Zeitpunkte, wo er, zum
Geheimrath und Senator ernannt, seinen Hofdienst beendet hatte.
Von dem Jahre 1793 an lebte er zurückgezogen und vorherrschend
sich literarischen Arbeiten widmend, wobei er indessen sich auch als
Senator bedeutenden Einfluss erwarb und während der Regierung
des Kaisers Paul durch Aemter und Ehren ausgezeichnet wurde.
Sehr lebhaft waren seine literarischen Beziehungen zu dem berühm¬
testen Dichter jener Zeit, Dershäwin, zu dem Ober-Procureur Dmi¬
trijew und anderen Schriftstellern jener Zeit. In dem brieflichen
Verkehr mit ihnen wie mit seinem Bruder bediente er sich gern der
gebundenen Rede. Es wurde ihm sehr leicht Verse zu machen, aber
ein bedeutender Dichter war er nicht. Er lebte als Junggeselle und
Hagestolz und starb am 29. December 1801.
In seinem literarischen Nachlass finden sich eine Menge eigen¬
händiger Schriften der Kaiserin, darunter mehrere kurze Zettel an
Chrapowitzkij, Concepte zu allerlei Manifesten und anderen Geschäfts¬
papieren, u. A. Besonders anziehend sind Entwürfe und Bruchstücke
von schriftstellerischen Arbeiten der Kaiserin, welche Chrapowitzkij
durchzusehen, zu verbessern, in Verse zu bringen hatte. Nur zu
einem geringen Theile sind diese werthvollen Fragmente veröffent¬
licht worden. Sie liefern einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der
schriftstellerischen Thätigkeit Katharina^ und der Beziehungen
Chrapowitzkij’s zu der Kaiserin in den Jahren 1782—1793.
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Chrapowitzkij verstand es sehr wohl, als Geheimschreiber der Kai¬
serin sich das Vertrauen derselben zu erwerben und zu erhalten. In
seinem Tagebuche findet sich nirgends ein Urtheil über Katharina,
und nirgends eine Andeutung von Lob oder Tadel. Aber die Ver¬
ehrung für die Kaiserin, die unbedingte Ergebenheit Chrapowitzkij’s
ist aus der Ausführlichkeit zu ersehen, mit welcher er von Allem, was
die Kaiserin thut und sagt, berichtet. Das Tagebuch enthält keine an¬
deren, als die Kaiserin betreffenden Notizen. Der Verfasser desselben
muss doch auch vieles Andere erlebt, muss doch Verwandte, Freunde
und sonstige Interessen gehabt haben, aber er erwähnt in seinem
Tagebuche nur solcher persönlicher Erlebnisse, in denen auch Ka¬
tharina eine Rolle spielte. In einer solchen Abgrenzung des Stoffes,
einer solchen fast monographischen Beschränkung auf einen Gegen¬
stand dürfte ein Grund zur Vermuthung liegen, dass Chrapowitzkij
sein Tagebuch doch nicht bloss für sich schrieb, sondern dass es
ihm darum zu thun war, einen Beitrag zu liefern für die Geschichte
der Kaiserin. Es ist sehr zu bedauern, dass der Herausgeber des
Tagebuches, Hr. Barssukow, bei der Beschreibung der Handschrift
die Frage gar nicht berührt, ob aus der letzteren zu ersehen sei, dass
sie eine Reinschrift des ursprünglichen Tagebuches, oder dieses
selbst sei. In dem ersteren Falle, der nach den Aeusserungen Hrn.
Barssukow’s wahrscheinlicher ist, würde ein solcher Umstand eben¬
falls darauf hindeuten, dass Chrapowitzkij ein Bewusstsein von der
Bedeutung seiner Arbeit für die Nachwelt als Geschichtsquelle ge¬
habt habe.
Ganz kurz und mit längeren Unterbrechungen wurde das Tage¬
buch geführt in den ersten Jahren des obenerwähnten Zeitraumes.
Die Jahre 1782 bis 1786 nehmen nur 4 Seiten ein. Im Jahre 1786
werden die Aufzeichnungen sehr viel häufiger und ausführlicher, so
dass es 17 Seiten umfasst; das Jahr 1787 übertrifft das vorhergehende
an Ausführlichkeit um das Doppelte; am reichlichsten sind die No¬
tizen im Jahre 1788 (sie umfassen 160 Seiten); dann nimmt die Aus¬
führlichkeit langsam ab; das Jahr 1789 ist immerhin noch sehr reich
vertreten (100 Seiten), die folgenden Jahre sind schon spärlicher aus¬
gestattet (1790 umfasst 30, 1791—35, 1792—30, 1793—20 Seiten).
Betrachten wir den Inhalt des Tagebuches im Anschluss an unsere
kurzen biographischen Bemerknngen in Hinsicht auf den Verfasser
selbst und seine Stellung zur Kaiserin.
Sehr ausführlich erwähnt Chrapowitzkij der jeweiligen ihm von
der Kaiserin aufgetragenen Arbeiten. Er ist denn doch in erster
Buh. Rutim. B4. TII. IO
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Linie ihr literarischer Handlanger. Eine seiner Hauptbeschäftigungen
war die Anfertigung von Reinschriften der von Katharina verfassten
Theaterstücke. Ihm steht für diesen Zweck eine Anzahl von Schrei¬
bern zur Seite, welche nach Vollendung einer Reinschrift in mög¬
lichst kurzer Zeit sehr reichliche Geldgeschenke erhalten. Chrapo-
witzkij selbst muss sich bisweilen sehr anstrengen: es geschieht mit¬
unter, dass er einen Theil der Nacht oder die ganze Nacht hindurch
mit Abschreiben oder mit dem Anfertigen von Versen für die Stücke
der Kaiserin zubringen muss. Er vergisst dann nie des Wohlwollens
zu erwähnen, mit welchem seine Herrin seine Mühe und Arbeit an¬
erkannt. Wiederholt ist beträchtlicher Geschenke erwähnt, welche
die Kaiserin ihm macht. Es sind dann einige Tausend Rubel, oder
eine werthvolle Tabaksdose oder etwas dergleichen. Er ist sehr
empfänglich für jede Aeusserung von Lob und Tadel von Seiten der
Kaiserin nicht bloss, sondern auch von Seiten Anderer, z. B. Potem-
kin’s. So bemerkt er einmal nicht ohne Behagen (S. 250): der Fürst
Potemkin habe dem Kammerdiener der Kaiserin, Sotow, gesagt,
Chrapowitzkij sei ein sehr brauchbarer Mensch* oder ein andermal,
die Kaiserin sei seinem Diener begegnet und habe ihm bemerkt, er
müsse ebenso gewandt und pünktlich sein, wie sein Herr (S. 231) u.
dgl. Wie sehr viel ihm an Katharina’s Urtheil gelegen war, zeigt fol¬
gende Andeutung. Nachdem ihm die Direktion des Theaters übertra¬
gen worden war, geschah es, dass er nach einer Aufführung sich, wie
er selbst schreibt, nur darum im Zimmer der Kaiserin mit einigen
Büchern zu schaffen machte, um vielleicht eine Aeusserung Katha¬
rina^ über die Aufführung zu hören. Er fügt hinzu, er habe doch
selbst davon zu reden anfangen müssen und theilt dann einige Be¬
merkungen der Kaiserin über die Chöre und Arien der neuen Oper
mit (S. 240). Sehr oft erwähnt er, dass seine Aeusserungen «beifällig»
(öjiarociuioHHo oder dgl.) aufgenommen worden seien. Katharina
bedurfte seiner für die verschiedensten Geschäfte. So hatte er u. A.
die der Kaiserin eingereichten Bittschriften entgegenzunehmen (S. 3).
Bisweilen redigirte er «Ukase»; als einmal der Graf Besborodko,
welcher im gewissen Sinne ein Minister des Auswärtigen genannt
werden kann, krank ist, hat Chrapowitzkij statt seiner den Vortrag
der laufenden Geschäfte bei der Kaiserin. Bei der öffentlichen Feier
des Friedens von Werelä (im September 1790) verliest er das Ver¬
zeichniss der Belohnungen und Ordensverleihungen. Dann hat er
oft für die Kaiserin allerlei Einkäufe von Kunstgegenständen zu be¬
sorgen. Es ist häufig von geschnittenen Steinen, Statuen und dgl.
v
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die Rede, welche Chrapowitzkij auswählt und der Kaiserin zeigt.
Beim Abschiede von der Kaiserin, als er zum Senator ernannt, seine
Stelle bei der Kaiserin verlässt, macht er der Letzteren drei geschnit¬
tene Steine zum Geschenk (S. 438). Die Günstlinge der Kaiserin
hatten Rücksicht auf den Secretär Katharina’s zu nehmen. Mamo-
now schenkt ihm einmal «einen Zug» Pferde [man fuhr vierspännig
mit einem Vorreiter] (S. 61), ein andermal eine Tabati£re mit Bril¬
lanten im Werthe von 1800 Rbl., welche die Kaiserin selbst ausge¬
wählt hatte (S. 141 und 143). Wiederum besorgte er manche Ge¬
schenke, welche Katharina ihren Günstlingen machte, wie z. B. ein
Silberservice für Mamonow, Ehrendegen, goldene Schüsseln und dgl.
für Potemkin u. s. w. So oft Katharina aus einem Palast in den
anderen zieht, oder den Aufenthalt in St. Petersburg mit dem Land¬
leben in Zarskoje-Sselo vertauscht, hat er die Papiere und Bücher der
Kaiserin einzupacken und hinüberzubefördern. Bisweilen ertheilt
ihm die Kaiserin ganz gewöhnliche kleine Aufträge, wie z. B. in Be¬
treff eines Hühneraugenpflasters, dessen Wirksamkeit die Kaiserin
lobt, sich aber dabei doch entschuldigt, dass sie ihn mit einer solchen
«Kommission» beschwerlich falle (S. 161).
Katharina scheint seiner Gesellschaft bedurft zu haben. Er wusste
von Allem; er kannte alle Interessen der Kaiserin; er ging auf ihre
Gedanken ein; er widersprach nie; er hatte keine eigene Meinung,
aber er verstand es sehr geschickt, die Aeusserungen der Kaiserin
zu ergänzen, ein Gespräch weiter zu führen, wenn eine lebhafte Sorge
die Kaiserin quälte, etwas Beruhigendes vorzubringen, hier und da
etwas Schmeichelhaftes zu sagen, wobei er denn in seinem Tage¬
buche bemerkt, das von ihm Gesagte sei «mit Vergnügen» gehört
worden. Bisweilen wohnte er den dramatischen Aufführungen im
kleinsten Kreise der Kaiserin, etwa in den Privatgemächern Mamo-
now’s, bei und wurde zur Tafel gezogen (s. z. B. S. 156); als* einst
kurz vor Tische Katharina ihn rufen Hess, um über Statuen mit ihm
zu sprechen, behielt sie ihn gleich zu Mittag «am kleinen Tische»
bei sich, indem sie sagte «puisque vous y etes». Oft geschah es,
dass er, sich mit der Kaiserin unterhaltend, mit ihr «in der Kolon¬
nade» auf- und abging.
Chrapowitzkij war viel jünger als Katharina. Sie war eine Sechs¬
zigerin, er erst 40 Jahre. Sie fragte ihn einst, wie alt er sei, und
meinte lachend, er könne noch sehr wohl heirathen (S. 165). Sehr
oft erwähnt er, er habe der Kaiserin die Hand geküsst. Sie wusste
seinen Eifer zu schätzen. Sehr häufig Hess sie ihn mehrmals am Tage
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kommen, und nannte ihn wohl einmal «in Gegenwart einiger Aus¬
länder» ein «souffre douleur», weil sie ihn so oft in Anspruch nehme.
(S. 28). Einmal fragt sie ihn, ob nicht seine Füsse schmerzen,
weil sie ihn so viel umherschicke (S. 97). Sie scherzt über seine
Beleibtheit und freut sich, dass er trotz der vielen ihm ertheilten
Aufträge nicht magerer werde, und so rasch laufen könne (S. 28
und 88). «Je vous fatique trop, je ne vous manage gu&re», bemerkt
sie einmal (S. 129). Als sie ihn einst an seinem Namenstage rufen
lässt, entschuldigt sie sich, dass sie ihm auch an diesem Tage keine
Ruhe lasse (S. 141). Eines Tages lachte sie: er müsse eigentlich
noch besonders Geld für Schuhwerk von ihr erhalten, da er so viel
für sie zu laufen habe (S. 199); dabei wiederum wusste sie, wie
gern er ihr diente; als es sich eines Tages traf, dass sie ihn gar
nicht hatte rufen lassen, fragte sie ihn am folgenden Morgen, was
er sich wohl dabei gedacht habe, dass sie seiner nicht bedurft
hatte. Mit Wohlwollen erkundigt sie sich oft nach seiner Gesund¬
heit. Als einst in der Nähe seiner Wohnung eine Feuersbrunst
stattgefunden hatte, fragt sie besorgt, ob er nicht in Gefahr ge¬
wesen sei, auch einen Verlust zu erleiden (S. 289). Nur selten be¬
richtet er von augenblicklicher Missstimmung der Kaiserin in Betreff
seiner. So berichtet er im Februar 1789 nicht ohne Missmuth,
dass Katharina auf seine, das Theaterbudget betreffenden Vorstel¬
lungen nicht eingegangen sei und dass er in Folge dessen den
ganzen Tag in Verstimmung verbracht habe (S. 255). Es ist dieses
das einzige Mal, dass er von sich, von seiner Stimmung spricht.
Als er ein andermal Katharina beim Briefschreiben störte, um ihr
über ein stattgehabtes Unglück — ein Dachdecker war bei einem
Sturz vom Dache verunglückt — zu berichten, fährt sie ungeduldig
mit der Aeusserung auf, dass «man sie den unseligen Brief nicht
ruhig zu Ende schreiben lasse», entschuldigt sich aber wegen ihrer
Leidenschaftlichkeit nachher «während des Haarkämmens» (S. 70).
Ein andermal ist sie unwillig über einen ihr von Chrapowitzkij
erstatteten Bericht in Betreff eines im Bau befindlichen Fahrzeuges
und fährt auf, sagt aber sogleich, nachdem Chrapowitzkij den Fall
näher erläutert hat: «Excusez, je suis un peu impatiente aujourd*-
hui, c’est peut-etre le beau temps, qui en est la cause» (S. 279). Da
der Vorfall im April sich ereignet, wird das Wetter wohl das Ge-
gentheil von «schön» gewesen sein. In der Regel ist die Kaiserin
sehr rücksichtsvoll, wohlwollend, zu, Scherzen aufgelegt. Als einst
die Miene Chrapowitzkij's ihr bekümmert erschien, bemerkte sie,
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ersehe so übelgelaunt aus: «netes-vous pas brouilte avec votre
belle, que sais-je moi?« (S. 69). Einmal nahm sie in harmlosem
Geplauder eine Rolle Papier und stach damit Chrapowitzkij in den
Leib, indem sie lachend sagte: *Je vous tuerai avec un morceau
de papier» (S. 401). Sie war ihm dankbar, wenn er stets etwas
Neues zu erzählen wusste: «rContez moi toujours plus de nouvelles»,
sagte sie einmal, als sie ihn entliess (S. 283). Wie intim sie mit
Chrapowitzkij war, ist u. A. aus der gemüthlichen Weise zu ersehen,
wie sie den sehr corpulenten Mann bedauert, dass er in der heissen
Sommerzeit so arg schwitze. Sie tröstet ihn, es werde damit bei
zunehmendem Alter besser, räth ihm häufiger kalte Bäder zu neh¬
men, weist auf ihre eigene Erfahrung in dieser Beziehung hin
(S. 91 u. A. 103), lacht ihn aus, er sei vom vielen Schwitzen ganz
abgemagert, u. s. w. (S. 103, 113, 402, 429). Sehr lustig ist der
Rath, den sie ihm einmal giebt, sich nicht auf einen Stuhl, sondern
auf das Sopha zu setzen, denn, wenn er falle, so werde sie ihn nicht
aufheben können (S. 429). #
So geringfügig alle diese Dinge sein mögen, so führen sie uns
doch in die Atmosphäre ein, welche die Kaiserin umgab. Wir
begegnen einem glücklichen Temperament; es ist viel Gemüth und
heitere Laune, viel Liebenswürdigkeit in der Art des Verkehrs
zwischen Katharina und ihrem Geheimschreiber, den sie als einen
ehrlichen und in seinem Berufskreise treuen Diener kannte und
schätzte, und von dem sie einmal bemerkte, sie sei bereit ihre
Hand zum Verbrennen ins Feuer zu stecken, wenn Chrapowitzkij
der Bestechung zugänglich sei l .
Chrapowitzkij war mehr Hofmann als Staatsdiener. Er strebte
nie nach politischem Einfluss und hatte auch keinen. Er war zugleich
ein Freund der Kaiserin und gehörte doch auch gleichsam zu ihren
Dienstboten, wie er denn oft seines Verkehrs mit dem Kammer¬
diener Sotow und der Kammerfrau der Kaiserin Maria Sawischna
erwähnt. Er war wohlhabend und angesehen. Seine Stellung
mochte von vielen beneidet werden und dennoch ist er eine ganz
untergeordnete Persönlichkeit. Er lebte dem Dienste der Kaiserin
und der Literatur, aber hier wie dort blieb er ein Subalterner.
f Es wird berichtet, Chrapowitzkij sei dem Trunk ergeben gewesen, habe sich in¬
dessen in der Regel erst spät Abends berauscht, wenn er vermuthete, die Kaiserin
werde ihn nicht mehr rufen lassen. Geschah letzteres trotzdem, so musste er durch
Sturzbäder einige Nüchternheit zu erlangen suchen. S. d. Einleitung zum Tagebuche
von Barssukow S. XI.
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Sein grösstes Verdienst, seine bedeutendste Leistung, das was ihm
bei der Nachwelt einen Anspruch auf Anerkennung sichert, ist die
Führung des Tagebuches, dessen Werth Männer wie Dmitrijew,
Karamsin u. A. wohl zu schätzen wussten, dessen Bedeutung als
Geschichtsquelle indessen bisher doch nicht hinreichend gewürdigt
worden ist.
Noch eines Punktes ist hinsichtlich der Beziehungen Chrapo-
witzkij’s zur Kaiserin zu erwähnen. Es handelt sich um die Frage,
ob Katharina davon wusste, dass ihr Secretär täglich über sie Auf¬
zeichnungen machte. Der Herausgeber des Tagebuches, Hr. Bar-
ssukow, spricht die Vermuthung aus, dass dem so gewesen sei;
ja er scheint sogar (s. S. XIII der Vorrede) anzunehmen, dass sie
in Folge dessen, d. h. nachdem sie erfahren, dass er ein solches
Tagebuch führe, gegen ihn kälter geworden sei und ihn aus ihrer
unmittelbaren Umgebung entlassen habe. Es fehlt durchaus an
Anhaltspunkten für eine solche Hypothese, welche Hr. Barssukow
auch nicht Irgendwie zu begründen sucht.
Gewiss ist, dass der tägliche Verkehr zwischen Chrapowitzkij
und der Kaiserin ein sehr ungezwungener, fast freundschaftlicher
war, und dass eine etwa eingetretene Spannung wenigstens nicht
aus dem Tagebuche zu ersehen ist. Die Einzelnheiten, welche wir in
den folgenden Abschnitten mittheilen, mögen einen Beitrag liefern
zur Charakteristik Kath^rina’s, der Art und Weise, wie sie mit den
sie umgebenden Personen umzugehen pflegte.
Indem wir Proben aus dem Tagebuche geben, wollen wir gleichzei¬
tig darthun, wie reichhaltig dasselbe als Geschichtsquelle ist.
Gruppenweise gedenken wir die Aeusserungen Katharinas in
Betreff der verschiedensten Gegenstände zu betrachten. Aus ihren
harmlosen Plaudereien, aus ihren Aeusserungen über Theater und
bildende Kunst, schöne Literatur und Wissenschaft, über Menschen
und Verhältnisse ersehen wir sehr viel über sie selbst, ihre eigenen
Erlebnisse, ihr Geistes- und Gemüthsleben. Fragen der inneren
Verwaltung, der auswärtigen Politik werden ebenfalls mit grosser
Ausführlichkeit berührt.
Katharina verstand es, sich gut zu unterhalten. Meist war sie in
heiterer Laune, reich an Einfällen, angeregt durch Regierungs¬
geschäfte, Lectüre, Kunststudien und den Verkehr mit einer grossen
Anzahl zum Theil bedeutender Menschen. Chrapowitzkij hat nun
nicht immer wichtige Aussprüche Katharina’s notirt, sondern auch
ganz gewöhnliche Aeusserungen; aber gerade das Zufällige, Gele-
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gentliche, nichts weniger als Monumentale in den Plaudereien, wie
jeder Tag dieselben veranlasste, bringt uns die Person der Kaiserin
näher. Wir hören ihr herzliches Lachen, als die Nachricht von
einem eiligen Rückzuge der Türken eintrifft (S. 58); als sie von
einem unglücklichen Ehemann hört, der sich scheiden lassen will,
trällert sie sogleich ein Couplet mit Spottversen (S. 69); sie sitzt
am Schreibtische und hat einige siebenzig Papiere zu unterzeichnen,
plaudert die ganze Zeit und bemerkt lachend, die Kaiserin Anna
habe es beim Unterschreiben viel leichter gehabt, da der Name
«Anna» so viel kürzer sei als «Katharina» (S. 213 und 349); am
Fenster stehend spricht sie wohl einmal von den Tauben, welche
draussen auf dem Fensterbrette sitzen (S. 229); ein andermal er¬
blickt sie eine Heerde Dohlen und Krähen, und bemerkt, diese
Vögel freuten sich nach dem Regen der vielen Würmer und Raupen,
welche aus der Erde hervörkriechen «tous-se maugent dans ce monde-
ci» (S. 401); als sie ihre Hündchen, behaglich zusammengekauert,
im Sonnenschein liegen sieht, ruft sie Chrapowitzkij, zeigt ihm die
Thiere und sagt lustig, er werde es nicht verstehen, sich so ge¬
schickt hinzulegen (S. 409); als einst eine Biene die Kaiserin sticht,
nennt sie das ein der Todesstrafe würdiges Majestätsverbrechen
(S. 342). Sie neckt die livländischen Edelleute, dass sie unter sich
gern esthnisch sprechen (S. 27); sie bemerkt ärgerlich, dass Potem-
kin stets vergesse seine Briefe mit einem Datum zu versehen*
(S. 343); sie verspottet ihren Leibarzt Rogersbn, indem sie ihn
fragt, ob die Engländer den Verlust der amerikanischen Kolonien
verschmerzt hätten (S. 18). Als Chrapowitzkij ihr zum Fest der
Maria Verkündigung Glück wünscht, bemerkt sie, es sei eigentlich
ein Weiberfesttag (S. 307); auf den Glückwunsch zu dem Feste
ihrer Thronbesteigung und die Aeusserung Chrapowitzkij’s, sie
möge sechzig Jahre herrschen, sagt sie: «Nein, ich werde den Ver¬
stand und das Gedächtniss verlieren; ich werde vielleicht noch
zwanzig Jahre leben; das letzte Jahr war ein schweres Jahr u. s. w.»
(S. 309). Es war im Jahre 1789. Der türkische und schwedische
Krieg hatten ihr viel Sorge bereitet. Als sie einmal niesst, bemerkt
sie: Quand on £ternue on ne meurt pas» (S. 332). Als einst von
Finanzfragen die Rede ist, fragt sie Chrapowitzkij, ob er sie für
geizig halte? u. w.
Die Unterhaltung war bisweilen recht frei und die übrigens da¬
mals schon bejahrte Kaiserin erlaubte es sich, auch etwas bedenk¬
liche Gegenstände zu berühren; so spottete sie über manche Anek-
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doten der griechischen Mythologie, über die Liebesabenteuer
Jupiter’s, Mars’, Herkules' u. s. w (S. 45, 227, 385); erwähnte sehr
unbefangen etwas heikler Vorkommnisse der chronique scandaleuse
(z. B. S. 66 und 316), der lockeren Theaterprinzessinen, welche die
Sitten verderben (S. 347), u. dgl, m.
Sehr gern sprach Katharina gelegentlich von ihren Vorgängern
auf dem russischen Throne. Von Peter I. sagte sie wohl, er sei
in schwierigen Lagen fähig gewesen, mit dem. Kopfe gegen die
Wand zu rennen (S. 229). Ein andermal sagte sie, man habe Peter
nicht geliebt, aber gefürchtet (S. 196). Dann erwähnt sie einst des
Gerüchtes, demzufolge die Kaiserin Anna eine Tochter Peter’s
gewesen sein sollte; erzählt, Peter II. sei in die Prinzessin Elisabeth
verliebt gewesen, doch habe sie ihm einen Korb gegeben. Auch
sonstiger Anekdoten über Katharina I. und Anna erwähnte die
Kaiserin (S. 132). Einst verglich sie die Regierung Elisabeths mit
der ihrigen und meinte, unter Elisabeth hätten Emporkömmlinge
wie Rasumowskij viel Einfluss gehabt; es sei eine terroristische
Zeit gewesen (S. 68). Sie tadelte ferner die Unordnung der Ver¬
waltung während der Regierung Elisabeth's und meinte, unter Anna
sei Alles ordentlicher hergegangen (S. 346).
Auch ihrer eigenen Thronbesteigung erwähnte sie zuweilen; am
Jahrestage derselben im Jahre 1789 bemerkte sie, es seien nun
doch schon 27 Jahre seitdem vergangen, und doch scheine es ihr,
als habe sich Alles vor gar nicht langer Zeit ereignet (S. 309). Ein
andermal bemerkte sie, ihre Thronbesteigung könne nicht mit der¬
jenigen der Kaiserin Elisabeth verglichen werden; im Jahre 1762
sei Alles einmüthig gewesen, man habe sie vorher 18 Jahre hindurch
gekannt (S. 82). Dann wieder fiel ihr eine Episode aus jenen Vor¬
fällen ein: ein Grenadier des Preobrashenskischen Regiments hatte
mit Gregor Orlow die Verabredung getroffen, dass Katharina an
dem verhängnisvollen Tage des Sturzes Peter's III. aus dem Palaste
heraustreten und ihm, dem Grenadier, die Hand geben werde zum
Zeichen, dass die Zeit zum Handeln gekommen sei. Im Winter
1788/89 erinnerte sich nun Katharina dieses Soldaten und erzählte
ihrem Geheimschreiber, wie der Grenadier in dem Augenblicke,
als sie ihm die Hand gegeben habe, erschüttert gewesen, in Thränen
ausgebrochen sei, wie sie ihn in den Adelsstand erhoben habe, es
seien in jedem Regimente 99 in das Geheimniss der bevorstehenden
Umwälzung Eingeweihte gewesen u. s. w. (S. 222).
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153
Sehr oft begegnen wir in den Gesprächen Chrappwitzkij's mit der
Kaiserin Urtheilen der Letzteren über Menschen, u. A. auch über
die Fürsten, welche zu jener Zeit regierten.
Von Friedrich Wilhelm II. von Preussen hatte Katharina keine
sehr hohe Meinung. Sie erwähnte bisweilen einiger Vorkommnisse
am preussischen Hofe in nicht sehr wohlwollendem Sinne; sie sagte
einmal, Friedrich Wilhelm sei, wie sein Vater und Grossvater, cd* un
caract£re violent et fougueux». Sie lachte über den Aberglauben
des Königs, welcher Geister zu sehen glaubte: einst erzählte sie,
Preussen habe es aufgegeben ihr, der Kaiserin, den Krieg zu er¬
klären, weil Friedrich Wilhelm eine Zusammenkunft mit Christus
gehabt und der Letztere den Krieg verboten habe (S 14, 33, 373).
Wir begegnen ferner sehr scharfen Urtheilen über den König
Georg III. von England. Als er 1788 erkrankte, folgte Katharina
mit Interesse allen Nachrichten über den Verlauf der Krankheit, und
theilte allerlei Details von Aeusserungen der Geistesstörung des
Königs ihrem Geheimschreiber mit, wie z. B., dass er die Königin
geschlagen habe und vier Menschen ihn nur mit Mühe zu halten ver¬
möchten. «C’est notre ennemi le plus acharn£ und weshalb? Nur
weil wir an seinen Dummheiten (wegen der amerikanischen Kolo¬
nien) keinen Theil nehmen wollten*, sagte Katharina. Als die
Kaiserin einst eine Menge Geschäfte auf einmal zu erledigen und den
«Kopf sehr voll* hatte, bemerkte sie, sie werde am Ende auch noch
verrückt werden, wie der König von England. Chrapowitzkij trös¬
tete, sie habe denn doch einen ganz anders gearteten Kopf wie
Georg EU., worauf Katharina sagt: «Trouvez vous cela?» und dgl.
Die Königin von England wird von Katharina als dumm und geld¬
gierig bezeichnet. (S. 196, 205, 261, 236).
Mancherlei Scherze erlaubte sich Katharina in Betreff GustaPs UI.,
wenn sie u. A. einmal erzählt, der König von Schweden und sein
Bruder, der Herzog Karl von Südermannland, trügen lange Schnurr¬
bärte und sähen aus wie Kater, oder wenn sie Gustaf in einem
Theaterstücke, welches sie schrieb, auf das Gründlichste verspottete
(s. u. A. S. 168). Leider sind die Nachrichten über die Ermordung
des Königs ganz kurz, und es finden sich nur Notizen über den Ver¬
lauf der letzten Krankheit Gustaf’s, keine Aeusserungen der Kaiserin
über diesen Vorfall.
Ebenso ist es zu bedauern, dass bei Gelegenheit von Artois’ Be¬
such in St. Peterburg keine Äeussereng Katharina’s über den nach¬
maligen König Karl X. sich in Chrapowitzkij’s Tagebuche findet.
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154
Dagegen spricht Katharina wiederholt von Joseph II., dessen
Ueberstürzung und Eile sie tadelt, und dessen Handlungsweise in
Betreff der Niederlande sie auch nicht durchweg zu billigen ver¬
mochte. Aus dem von A. v. Arneth herausgegebenen Briefwechsel
zwischen Katharina II. und Joseph II. wissen wir, wie sehr die Kai¬
serin den Letzteren schätzte, der Tod des Kaisers ging ihr sehr nahe.
Chrapowitzkij schildert in seinem Tagebuche sehr ausführlich den
Schmerz, welchen Katharina bei der Nachricht von der letzten
Krankheit und dem Hinscheiden des Kaisers empfand. Sie verlor
in ihm einen Freund und einen treuen Alliirten.
Selbst über einige Glieder der kaiserlichen Familie urtheilte
Katharina in ihren Gesprächen mit Chrapowitzkij. So bemerkte sie
einmal, dass der Grossfürst Alexander an Wuchs, Gemüthseigcn-
schaften und Geistesschärfe den Grossfürsten Konstantin weit über¬
treffe (S. 355). Als sie ein andermal mit Befriedigung von der glück¬
lichen Entwickelung des Grossfürsten Alexander sprach, bemerkte
sie: «Wenn er einmal einen Sohn hat, und derselbe auch ähnlich er¬
zogen wird, dann ist die Thronfolge in Russland auf ioo Jahre ge¬
sichert (sic). Welch’ ein Unterschied zwischen dieser Erziehung und
derjenigen des Vaters (Paul’s). Damals durfte ich Anfangs keinen
eigenen Willen haben, und nacher konnte ich den Grossfürsten (Paul)
aus politischen Gründen nicht von Panin fortnehmen. Alle waren
der Ansicht, dass, wenn er nicht bei Panin ist, er ganz zu Grunde
geht». (S. 435).
Mit besonderem Behagen, wie uns scheinen will, notirt Chrapo¬
witzkij in seinem Tagebuche alle tadelnden, gegen hohe Beamte ge¬
richtete Aeusserungen Katharina’s.
So klagte sie einmal: Wjasemskij, Tschernyschew und Panin
hätten während des letzten Krieges mit der Pforte stets allerlei
Schwierigkeiten gemacht, statt den Gang der Geschäfte zu fördern,
so dass Rumjanzow besondere Vollmachten erhalten musste, damit
der Krieg beendet würde (S. 9). Dagegen lobte sie Potemkin’s
Energie wiederholt, und aus vielen Stellen des Tagebuches geht
hervor, dass sie seine Treue und Anhänglichkeit, so wie seine Fähig¬
keiten zu schätzen wusste. Einmal sagte sie von ihm: «Potemkin
sieht wie ein Wolf drein und wird nicht geliebt, hat aber eine gute
Seele*. (S. 10). Als sich die Einnahme von Otschakow 1788 so
lange verzögerte, baute sie zuversichtlich darauf, dass Potemkin
nicht eher ablassen werde, als bis die Festung gefallen sei. Sie sagte
zu Chrapowitzkij: «Je connais mon homme . . je sais, que son hon-
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neur y est attachd», u. s. w. (S.203). «Potemkin ist klug wie der
Teufel», bemerkte sie einmal (S. 82). Von Rumjanzow äusserte die
Kaiserin einst, er habe grosse militärische Verdienste, sei aber eher
tapfer mit dem Verstände als mit dem Herzen; vom Grafen Kyrill
Rasumowskij: er sei nicht dumm, habe aber ein verdorbenes Herz
(S. 73 ).
In gereiztem Tone spricht Katharina wiederholt von dem ihr nahe¬
stehenden Grafen Besborodko, dessen Dienste ihr von grossem
Werthe waren, der aber oft ihren Unwillen erregte. Als es im Jahre
1788 mit der Expedition Saborowskij’s ins Mittelmeer zum Zweck
derlnsurgirung der Slaven gegen die Türkei nicht rasch genug vor¬
wärts ging, schrieb Katharina eine solche Verzögerung der Nach¬
lässigkeit Besborodko's zu und machte ihm Vorwürfe, worüber wir
denn in Chrapowitzkij’s Tagebuche einige Einzelnheiten finden
(S. 81). Ein andermal war Katharina unzufrieden, dass Besborodko
müssig auf seinem Landsitze sich aufhielt, während es in der Haupt¬
stadt wichtige Geschäfte zu erledigen gab (S. 102 und 423).
Oft finden sich scharfe Aeusserungen über einzelne Verwaltungs¬
beamte, deren Gewissenlosigkeit die Kaiserin kannte. Von dem Gou¬
verneur von Astrachan, Alexejew, sagte sie: «il va se casser le nez»
(S. 57)/und ein andermal, er habe die Kalmyken geplündert (S. 62).
Jedesmal, wenn die Kaiserin Jemandem «den Kopf wäscht», nimmt
Chrapowitzkij die Sache zu Protokoll (S. 63, 121, 130 u. dgl. m.).
In ihrem Unmuth über die Untüchtigkeit mehrerer Beamten platzt
die Kaiserin einst mit der Aeusserung heraus: «Un beau matin je
les chasserai tous» (S. 193). Es ist immerhin ein kleiner Beitrag für
die Biographie der betreffenden Personen, wenn Katharina den Ge¬
neral-Gouverneur von Moskau, Archarow, als «reinen Intriganten»
(S. 341), den General Kamenskij als «sehr langweilig» (S. 331) be-
zeichnete, wenn sie den Metropoliten Platon mit einem läufischen
Kater und einem zitternden Hasen verglich (S. 77), wenn sie den
Dichter Dershawin mit einiger Kälte behandelte (S. 301), oder wenn
sie über die Fürstin Daschkow, ihre ehemalige Freundin, spottete
(S. 83 und 304).
Es ist bewunderungswürdig, dass Katharina bei ihren Regierungs¬
geschäften, bei dem unmittelbaren, persönlichen Antheil, welchen
sie an den Ereignissen der auswärtigen Politik und der inneren Ver¬
waltung nahm, doch noch sehr viel Zeit übrig behielt für literarische
und wissenschaftliche Studien. Ein sehr lebhaftes Interesse hatte
sie am Theater. Gerade in der Zeit, in welche die Führung von
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Chrapowitzkij’s Tagebuch fällt, schrieb Katharina ein Theaterstück
nach dem anderen, und diese Dramen und Lustspiele wurden denn
auch meist im engeren Hofkreise aufgeführt.
Mehrere der Dramen haben Stoße aus der ältesten Geschichte
Russlands zum Gegenstände. So schrieb die Kaiserin ein Stück
«Rurik», ein anderes «Oleg», ein drittes «Igor». Es wird erwähnt,
dass der Fürst Potemkin an dem «Rurik» einiges verbessert hatte
(S. 15). Katharina las Shakespeare’sche Stücke, um an denselben
Studien zu machen. In einzelnen Stücken, wie z. B. im «Verschwen¬
der», versuchte sie es, dem grossen englischen Dichter nachzuahmen.
In anderen Stücken behandelte sie Stoffe der gleichzeitigen Politik,
verhöhnte u. A. im «Gore Bogatyr» den König Gustaf III., in dem
Stücke «Morton et Crispin» den Bruder des Königs, Herzog Karl
von Südermannland. Ebenso finden sich Seitenhiebe auf Schweden
in dem Stücke «Kosslaw». In einem kleinen Lustspiele, «le flatteur
et les flatt^s», behandelte sie den Stoff der Fabel vom Fuchs und vom
Raben. Es ist zu verwundern, dass die Kaiserin im Drange der
Geschäfte und gerade zu einer Zeit, in welcher die Conflicte mit
Schweden und der Pforte Russland in eine bedenkliche Lage ver¬
setzten, die Zeit fand, Theaterstücke dutzendweise aus dem Aer'mel
zu schütteln. Sie selbst aber bemerkte wohl gelegentlich, sie schreibe
dergleichen, um sich zu zerstreuen (S. 119). Es war gerade die
Zeit, als, nach dem Ausbruche des Krieges mit Schweden, die Lage
trotz des bei Hochland über die schwedische Flotte erfochtenen
Sieges eine recht ernste geworden war.
Die Kaiserin interessirte sich für viele Details der Inscenirung.
Als der «Oleg» gegeben werden sollte, suchte sie selbst die Co-
stüme für die Schauspieler nach Mustern auf alten Heiligenbildern
zusammenzustellen (S. 308). Während ein Stück eingeübt wurde,
erkundigte sie sich angelegentlich, wie die Proben gingen, ob die
Schauspieler zufrieden seien. Sie gab einzelne Rathschläge in Be¬
treff der bei der Aufführung zu erzielenden Wirkung; unterhielt sich
nach der Aufführung darüber, was mehr und was weniger gelungen
sei. In Katharina’s Stücken wurde viel gesungen. Drei Compo-
nisten, Cimarosa, Sarti, Martini, hatten vollauf zu thun, die in der
Regel mit Chrapowitzkij’s Hülfe gereimten Libretto’s der Kaiserin
in Musik zu setzen. Dann fällte sie wohl ein Urtheil über die Com-
Positionen, erkundigte sich nach dem Urtheil, welches Andere, z. B.
Mamonow, gefallt hatten, Hess Einiges ändern, sprach mit Chrapo-
witzkij über die Regeln, nach denen ein Duett componirt werden
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müsse, und meinte schliesslich, man brauche sich nicht um derglei¬
chen Regeln zu kümmern (z. B. S. 352).
Einst wurde, um den Günstling der Kaiserin, den Grafen Mamonow,
zu überraschen, ein von der Kaiserin verfasstes «Proverbe»: «qu’il
n’y a point de mal sans bien# heimlich einstudirt und in den Ge¬
mächern des Grafen aufgeführt. Die Ueberraschung gelang voll¬
kommen (s. S. 151 und 156). Die Stücke der Kaiserin wurden ge¬
druckt, unter dem Titel: «Recueil des pi&ces donnees au th£atre de
PErmitage». (S. 183).
Die Kaiserin war vielseitig und unermüdlich beim Lesen der ver¬
schiedenartigsten Werke. Bald lässt sie sich von Chrapowitzkij eine
Menge Märchen verschaffen, weil sie der leichten Lectüre bedurfte;
bald studirte sie die französische Encyclopädie oder Blackstone’s
Werk über die englische Verfassung, um bei der Ausarbeitung neuer
Gesetze das Richtige zu treffen. Wegen einzelner Fragen, oft wegen
einzelner Wörter musste Chrapowitzkij häufig in allerlei Werken
nachschlagen und ihr Bericht erstatten. Nicht selten schaffte der¬
selbe Landkarten herbei, wenn Katharina u. A. die Operationen in
Finland gegen die Schweden, oder den Feldzug der Preussen gegen
Frankreich genauer zu verfolgen wünschte. Es ist u. A. von Land¬
karten die Rede, welche aus Nürnberg verschrieben worden waren.
Dazwischen las Katharina auch grössere historische Werke, z. B.
die «Histoire de la maison d’Autriche» des Grafen Girecourt, das
Werk von Theyls «Memoires pour servir ä Thistoire de Charles XII.»,
die «Oeuvres posthumes deFr6d£ric II.», Mirabeau’s «Histoire secr^te
de la cour de Berlin», die Memoiren des Kardinals von Retz, u. A.
Nebenher war die Kaiserin aufgelegt zu allerlei Possen, und veran¬
staltete Aufführungen, bei denen die Frauenrollen von Männern und
die Männerrollen von Frauen gegeben wurden (S. 350); dann wieder
gab es Zeiten, wo sie Richardson’s Romane mit dem Bedeuten fort¬
gab, sie habe keine Zeit zu leichter Lectüre. Einmal rühmte sie sich,
dass sie nicht weniger als sechs Bücher auf einmal lese. Oft versah
sie die Bücher, welche sie las, mit Randglossen, wie z. B. Denina’s
«Essai sur la vie et le r&gne deFrederic II». Bei der Lectüre des Don
Quixote notirte sie die darin vorkommenden Sprüchwörter (S. 273).
Aus dem Plutarch (vermuthlich der französischen Ausgabe) übersetzte
sie das Leben des Alcibiades (doch wohl ins Russische), (S. 323), und
machte einige wissenschaftliche Bemerkungen zu der Biographie
Coriolan's (S. 325 und die Bemerkungen des Herausgebers S. 558
und 559).
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Sehr fleissig arbeitete Katharina an Streitschriften, welche gegen
Gustaf III. gerichtet waren. So verfasste sie eine Entgegnung auf
Gustafs III. Manifest, welches derselbe bei dem Beginn der Feind¬
seligkeiten gegen Russland veröffentlicht hatte. Chrapowitzkij's
Tagebuch setzt uns in den Stand, mehrere Wochen hindurch dem
Gange dieser Arbeit zu folgen. An der Abfassung einer, von dem
Prinzen von Nassau-Siegen herausgegebenenBrochüre, in weicherein
Schlachtbericht des Königs Gustafs III. in sehr spitzer Weise kritisirt
und zurechtgewiesen wurde, hatte die Kaiserin ebenfalls Antheil.
Längere Zeit hindurch beschäftigte sich Katharina mit der älteren
Geschichte Russlands. Ueber diese Studien giebt das Tagebuch
Chrapowitzkij’s in sehr anziehender Weise Auskunft. So erfahren
wir, dass sie mit grossem Interesse Herberstein's Werk über Russ¬
land las, dass sie sich eingehend mit Nestor’s Chronik beschäftigte,
dass sie Einzelnheiten der Topographie in Betreff der Schlacht am
Flusse Siti studirte (S. 1238) u. s. w. Ihre Bemerkungen über das
Tatarenjoch, die politische Rolle Alexander Newskij's, über das
Geschichtswerk des Fürsten Schtscherbatow, über Fragen der
Genealogie u. s. w. zeugen von umfassendem Wissen und von einer
gewissen Selbstständigkeit im Urtheil. Sie hatte den Muth, sich
an schwierige, verwickelte Probleme zu wagen.
Auch an den Erzeugnissen der bildenden Kunst hatte Katharina
ihre Freude. In dem Tagebuche Chrapowitzkij's ist wiederholt
von «Antiken» die Rede, über welche die Kaiserin entzückt ist.
Bald bringt der Geheimschreiber eine «Bacchantin», bald Medaillen
oder Cameen. Als im Jahre 1788 Chrapowitzkij ihr geschnittene
Steine bringt und deren Ankauf vorschlägt, erwidert Katharina,
dass sie das Geld für den schwedischen Krieg brauche und es vor¬
ziehe, einen Ochsen für die in Finland fechtenden Soldaten zu
kaufen (S. 119). Als 1789 15 geschnittene Steine für den Preis von
982 Pfund Sterling angeboten werden, besinnt sich die Kaiserin, ob
sie wohl eine solche Ausgabe machen dürfe. Für eine Camee mit
dem Bildnisse Potemkin’s bezahlte sie 100 Rbl., sie bemerkte, es sei
eine Art Krankheit, sich für geschnittene Steine zu begeistern. Als
Chrapowitzkij entgegnete: «Ja wohl, aber eine Krankheit, bei
welcher man sich sehr wohl befindet», sagte sie, es sei eine Lieb¬
haberei, welche das Wissen erweitert, eine wahrhaft kaiserliche
Beschäftigung (S. 315). So liebte es die Kaiserin, sich Rechenschaft
abzulegen von der Bedeutung ihrer Studien. Sie war strebsam, sie
wusste geistigen Genuss zu schätzen.
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Mit Spannung lesen wir in dem Tagebuche, wie die Gedanken
der Kaiserin bisweilen hochfliegend werden, wie sie allgemeine
Sätze, schwerwiegende Thesen ausspricht. «Wie kann man*, sagte
sie einmal, «wenn man in Russland herrscht, unthätig sein, oder die
Arbeit scheuen? Gilt es doch, mit einer einzigen Handbe¬
wegung den wichtigsten Angelegenheiten die Richtung zu geben»
(S. 393). Ein andermal führte sie aus, wie Russland in zwei Epochen
im Kulturfortschritt aufgehalten worden und hinter dem übrigen
Europa zurückgeblieben sei: zu der Zeit des Tatarenjochs und in
den Jahren des Interregnums; in jenen Zeiten habe Jeder nach sei¬
nem Privatvortheil gestrebt und das Gemeinwohl nichts geachtet,
und doch habe es einzelne grosse Männer gegeben (S. 284). Der
Ausspruch Katharina^ im Jahre 1782, dass es nach 60 Jahren gar
keine Secten mehr geben würde, weil die Unwissenheit durch
Volksschulen beseitigt sein werde (S. 2), ist zu optimistisch. Auch
heute noch giebt es viele Secten, relativ wenig Volksschulen und
die Ignoranz macht sich noch breit und liefert dem Aberglauben
viel Spielraum.
Chrapowitzkij’s Tagebuch führt uns unmittelbar in die Situationen,
wie das Hofleben dieselben mit sich brachte. Er zeigt uns die
Kaiserin unter dem Einflüsse momentaner Eindrücke. Wir erfahren,
dass ein Hündchen ein anderes gebissen, dass die Fürstin Daschkow
sich mit der Fürstin Naryschkin überworfen habe; wir werden über
allerlei Brautschaften von Hoffräulein unterrichtet, und ebenso von
den in der Hofkirche stattfindenden Trauungen. Im Schlafzimmer
Potemkin’s wird ein Fenster vom Blitz zerschlagen; eine Eule fliegt
in die Gemächer der Kaiserin; ein Bedienter stiehlt etwas u. dgl. —
alle derartigen Vorkommnisse werden notirt. Als dem Grossfürsten
Paul eine Prinzessin geboren wird und die Mutter in der äussersten
Lebensgefahr schwebt, so dass Alle den Kopf verlieren, legt Katha¬
rina ungewöhnliche Geistesgegenwart an den Tag und ordnet ret¬
tende Massregeln an (S. 81). Als ein andermal wiederum eine
Prinzessin geboren wurde, legt Katharina, welche einen Prinzen ge¬
wünscht hatte, ihren Unmuth an den Tag, indem sie bei den Freu¬
denschüssen bemerkt: «faut-il tant de bruit pour une fichue de-
moiselle»? (S. 404).
Katharina’s leicht bestimmbares, sanguinisches, echt weibliches
Temperament lernen wir aus dem raschen Wechsel der* Stimmungert
kennen, von welchen Chrapowitzkij berichtet.
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i6o
Als der Grossfürst Paul im Sommer 1788 während des schwedi¬
schen Krieges zur Armee nach Finland abreiste, weinte Katharina
(S. 99). Heftige Gemiithsbewegung verursachte ihr die Krankheit
des Admirals Greigh, welcher ihr soeben noch in der Schlacht bei
Hochland sehr wesentliche Dienste geleistet hatte. Als in dieser
Beziehung sehr bedenkliche Nachrichten aus Reval eintrafen, wo
Greigh sich befand, schrieb Chrapowitzkij in sein Tagebuch, dass
die Kaiserin tief aufgeseufzt habe («axHyjrn* S. 166). Als man
erfuhr, dass Greigh's Leben nicht mehr zu retten sei, konnte sie
sich der Thränen nicht enthalten (S. 173); bei der Nachricht von
dem Verscheiden Greigh’s war sie sehr kummervoll und weinte,
indem sie bemerkte: «Cest une grande perte, c’est une perte
pour l’£tat» (S. 175). Dazwischen findet sich im Tagebuche das
Wort: «Thränen* (z. B. S. 255), ohne dass die Ursache des Kum¬
mers der Kaiserin angegeben wurde. Sehr niedergeschlagen war
sie über den Tod Potemkin's. Als die Nachrichten aus Südrussland
in Betreff des Befindens des Fürsten schlimmer wurden, hatte der
Geheimschreiber mehrmals Veranlassung, «Thränen» zu notiren.
Bei der Nachricht von dem Tode Potemkin’s heisst es: «Thränen
und Verzweiflung. Um 8 Uhr Aderlass; um 10 Uhr hat sich IhreMaj.
zu Bett gelegt». Am anderen Tage wachte die Kaiserin in tiefem
Kummer und mit Thränen auf, und klagte, dass sie nicht Zeit gehabt
habe, zum Ersätze Potemkin’s Staatsmänner zu bilden, und dass sie
nun Niemand habe, auf den sie sich stützen könne. Noch drei Tage
später schreibt Chrapowitzkij: «Fortsetzung der Thränen. Die
Kaiserin sagte mir: Wie kann man Potemkin ersetzen? Alle An¬
deren sind doch nicht das, was er war u. s. w.» (S. 378). Noch
einige Wochen später, als Katharina von Potemkin’s Verwandten
ein Schreiben erhielt, in welchem die Ordnung der Angelegenheiten
des Verstorbenen ihr anheimgestellt wurde, brach sie plötzlich in
Thränen aus und bemerkte: «ce sont mes amis qui me font pleurer
et jamais mes ennemis» (S. 385).
Die Eindrücke wechselten rasch und mit ihnen die Stimmungen.
Bald konnte sie über Gustaf III. herzlich lachen, wenn er die Ver¬
mittelung Frankreichs in seinem Conflicte mit Russland in Anspruch
nahm und dabei im Gepräche mit dem französischen Gesandten den
Ausdruck gebraucht hatte, er werfe sich in die Arme des Königs
von Frankreich (S. 163); bald liess sie sich von ihrem Unmuthe über
den schwedischen König so sehr hinreissen, dass sie ihn eine «Bestie»
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nannte (S. 142), wobei sie übrigens, wegen des allzustarken Aus
druckes, ihren Geheimschreiber um Entschuldigung bat.
Es fehlte der Kaiserin oft die Gelassenheit. Gleichmuth war ihre
Sache nicht. Sie konnte leidenschaftlich auffahren. Sie sagte einmal
in höchster Erbitterung, sie könnte sich mit allen ihren Feinden ver¬
söhnen, aber die Könige von Schweden und Preussen nehme sie aus;
dem Ersteren.habe Elisabeth eroberte Länder zurückgegeben, dem
Letzteren sie selbst (S. 178). Als Preussen 1788 eine drohende Hal¬
tung annahm, bemerkte Katharina II.: Friedrich Wilhelm II. bilde
sich ein, der Statthalter Gottes zu sein, der über das Weltall verfü¬
gen könne; er sei ganz von Sinnen vor lauter Anmassung (S. 182).
Sehr hübsch ist eine Aeusserung, welche zeigt, wie heiss Katha¬
rina wünschte, den Sieg über die Türkei zu erlangen. Sie sprach
im Januar 1789 die Hoffnung aus, Potemkin werde im Laufe des
Jahres in Konstantinopel sein, und fügte hinzu: «wenn es so weit ist,
dann sagt es mir nicht zu plötzlich» (S. 245). Sie fürchtete, dem
Uebermass von Freude zu erliegen.
Hin und wieder schien es der Kaiserin, dass sie der Menge der
Staatsgeschäfte nicht gewachsen sei. Sie fühlte sich abgespannt,
klagte über schlechtes Gedächtniss (S. 222), meinte, sie werde alt
und sei nicht mehr wie früher im Stande, in schwierigen Verhält¬
nissen allerlei Hülfsmittel zu ersinnen (S. 285). Sie musste sich Ge¬
walt anthun, um die Vorträge in Betreff der laufenden Geschäfte an¬
zuhören (s. S. 399).
Auch fehlte es nicht an Veranlassungen zu Gemüthsbewegungen.
Wie oft hatte sie Gelegenheit, über die Unehrlichkeit, Saumseligkeit,
Selbstsucht ihrer Beamten in Unmuth zu gerathen. Als ihre Räthe
nicht energisch genug gegen England nnd Preussen vorgingen, sagte
die Kaiserin unter Thränen: «Haben denn meine Unterthanen nicht
das Herz, als Antwort auf die mir zugefügten Beleidigungen der
Könige von Preussen und England, diesen die Wahrheit zu sagen?
Haben meine Unterthanen etwa jenen Fürsten einen Eid geleistet?»
(S. 164). Die kleinen Vorkommnisse der Verwaltung machten der
Kaiserin viel Verdruss. Bald hörte sie von falschem Papiergeld,
das verbreitet wurde, bald machte ihr, wie z. B. im Jahre 1787, die
Korntheuerung lebhafte Sorgen und Hess sie die Erbitterung des St.
Petersburger Pöbels empfinden, welcher eines Tages vor dem Pa¬
laste erschien und Lärm machte (s. S. 42). Jeden Augenblick hörte
sie von der Bestechlichkeit der Beamten, von allerlei Unterschleif,
Unordnungen, Durchstechereien. Bald war es die Verwaltung des
fatau. Revue. Bd. VII. II
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t62
Hofes, bald das Salzregal, bald das Theaterwesen, bald die Brannt¬
weinspacht, bei denen allerlei widerwärtige Handlungen der Beamten
entdeckt wurden. So fehlte es nicht an Verstimmungen, so dass die
Kaiserin einmal sagte, man habe ihr so viel Verdruss gemacht, dass
sie ganz matt sei und immer schlafen wolle (S. 211). Aeusserungen
wie «beaucoup de mouvements d’impatience» u. dgl. kommen häufig
in dem Tagebuche vor.
Am aufgeregtesten war Katharina aber in Fragen der auswärtigen
Politik. Oft, wenn die Kriegsereignisse nicht nach Wunsch verlie¬
fen, wenn es etwa mit der Ausrüstung der Flotte nicht so schnell
ging, als die Kaiserin erwartete, konnte sie alle Fassung verlieren.
Als im Frühling 1788 der schwedische Krieg ausbrach und die Be¬
fehle der Kaiserin nicht schnell genug vollzogen wurden, sagte sie
zum Grafen Besborodko: wer jetzt sich mit Intriguen befasse und
Zeit verliere, sei eine Canaille; denn er schade dem Staate (S. 80).
Mit diesem Kraftworte nannte sie im Gespräche mit Chrapowitzkij
den Feldherrn Puschkin, welcher in Finland den Oberbefehl führte
und unthätig blieb (September 1789, S. 308). Vor Zorn weinend,
sagte sie einst: «diese Canaillen», die Schweden, würden vielleicht
nicht einmal kommen, aber man müsse doch die unglücklichen See¬
soldaten in bitterer Kälte aufs Meer hinaussenden (S. 362). Als ein¬
mal die Russen in Finland in einem Gefechte geschlagen wurden,
meinte die Kaiserin, welche momentan allen Muth verlor; «Sieben¬
undzwanzig Jahre lang habe ich keine so schlimme Nachricht erhal¬
ten» (S. 288). Bald klagte sie unter Thränen über die Unthätigkeit
ihrer Generale (S. 302), bald schluchzte sie über den Tod eines oder
des anderen derselben, wie z. B. darüber, dass der Prinz von Anhalt,
ihr Verwandter, in einem Gefechte in Finland eine tödtliche Wunde
erhalten hatte (S. 330); bald grämte sie sich über die Gefahr, welche
dadurch drohte, dass die Schweden bei Baltischport gelandet waren,
so dass Chrapowitzkij in sein Tagebuch notirte, es sei «den ganzen
Morgen ein Wirrwarr» gewesen» (S. 327). Als man bei Reval (im
Mai 1790) eine Seeschlacht erwartete, war Katharina äusserst unru¬
hig, schlief die Nacht kaum, Graf Besborodko weinte (S. 331). Die
Nachricht von dem bei Reval erfochtenen Siege regte die Kaiserin
auf. Es heisst im Tagebuche, sie habe «von der Alteration einen
rothen Fleck auf der Wange» gehabt (S. 332).
Oft vcranlasste die Gemüthsbewegung ein vorübergehendes Un¬
wohlsein, über welches uns das Tagebuch sehr genau unterrichtet.
Sie klagte u. A. im Sommer 1788 über Magenverstimmung in Folge
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der ♦ Alteration» (S. 9$); als einst wichtige Papiere an eine falsche
Adresse abgegeben wurden, ärgerte sich Katharina so sehr, dass
sich eine Kolik einstellte (S. 122). Als Chrapowitzkij die Kai¬
serin einst im Fieber, ganz krank auf einem Sopha liegend, traf, und
sie über Schmerzen in der Herzgrube klagte, meinte der Geheim¬
schreiber, das Herbstwetter übe vielleicht einen schädlichen Ein¬
fluss auf die Gesundheit der Kaiserin. Sie entgegnete: «Nein, es
ist Otschakow; die Festung wird heute oder morgen genommen;
j'ai souvent de tels pressentiments* (S. 179). Als einst mehrere
russische Schiffe in Gefahr waren, in die Hände der Schweden zu ge-
rathen, und man längere Zeit keine Nachricht von denselben er¬
hielt, klagte Katharina: sie habe ein Gefühl, als läge ihr ein schwe¬
rer Stein auf dem Herzen (S. 223).
Chrapowitzkij notirt sehr gewissenhaft alles auf das Wohl- und
Uebelbefinden der Kaiserin Bezügliche. Wir erfahren, dass sie mit
verbundener Wange erscheint, dass sie an Brustbeklemmungen, an
Rücken- oder Magen- oder Kopfschmerzen leidet, wie sie die Nacht
verbracht hat, dass sie bei einer Schlittenfahrt den Schnupfen be¬
kommen, oder dass sie gestolpert und gefallen ist, dass sie einen stei¬
fen Hals oder Ohrensausen hat, dass sie an Krämpfen oder an einem
Husten leidet, dass sehr häufig Kolikschmerzen sie peinigten. Bis¬
weilen dauert das Unwohlsein einige Tage Und täglich macht Chra¬
powitzkij hierauf bezügliche Bemerkungen. Einmal erzählt die Kai¬
serin ausführlich, wie arge Kolikschmerzen sie gehabt, und wie gar
nichts, weder Warmes noch Kaltes geholfen, bis sie im Bette eine
solche Lage angenommen habe, wie eine Elster sich hinzulegen
pflegt, worauf es besser geworden sei (S. 77). Ein anderes Mal, als
Katharina sich bei dem Festgottesdienste bei Gelegenheit der Ein¬
nahme von Otschakow eine heftige Erkältung zugezogen hatte, er¬
klärte sie wiederum sehr genau, wie sie im Bette keine Lage habe
finden können, wie sie hundertmal die Lage verändert, und erst
gegen Morgen Ruhe gefunden habe (S. 215).
So werden wir in viele kleinen Geheimnisse des Privatlebens
der Kaiserin eingeweiht. Sie tritt uns ganz nahe, nicht als nor¬
dische Semiramis, nicht als die mächtige Herrscherin, deren
Einfluss auf die europäischen Angelegenheiten so oft geschildert
wurde, nicht als die Fürstin, deren Hof in vielen belletristischen
Werken mit unsauberen Farben dargestellt zu werden pflegt, sondern
einfach als Privatperson, als eine anziehende Erscheinung voll Geist
und Gemüth, als ein sehr lebhaftes Temperament, als eine liebens-
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II
i64
würdige Matrone, deren hervorragende Stellung unterstützt wird
durch hervorragende Gaben, durch Energie und Strebsamkeit,
durch ein reiches inneres Leben. Wenn sie, indem sie den Plutarch
übersetzt, die Bemerkung macht: «cela me fortifie Tarne» (S. 331);
wenn sie in solchen Studien den wirksamsten Trost sucht und findet
in allerlei Widerwärtigkeiten der politischen Geschäfte; wenn sie
u. A. erzählt, der Priester habe sie bei der Beichte gefragt, ob sie
an Gott glaube, es sei eine wunderliche Frage, sie habe sogleich
«tout le symbole» hergesagt, und hätte, wenn nöthig, auch solche
Beweisgründe Vorbringen können, an welche noch Niemand gedacht
habe; wenn sie bei aufregenden Nachrichten vom Kriegsschau¬
plätze in Finland bemerkt, sie habe neunzig Pulsschläge in der
Minute; wenn sie die Bemerkung macht, die Aerzte müssten auf die
psychische Behandlung mehr Gewicht legen (S. 289); wenn sie aus¬
gelassen scherzt, oder wenn sie bei der Nachricht von der Hinrichtung
Ludwig's XVI. erkrankt und sich zu Bette legen muss; — so lernen
wir aus solchen einzelnen Zügen die Kaiserin sehr viel genauer ken¬
nen, als aus vielen Dutzenden von Geschichtswerken, welche ihr Le¬
ben, ihre politische Thätigkeit zum Gegenstände haben.
Aber, wie wir bereits oben bemerkten, nicht bloss in Bezug auf
die Persönlichkeit der Kaiserin ist Chrapowitzkij’s Tagebuch eine
höchst werthvolle, ja im Grunde unersetzliche Quelle. Auch für
die Kenntniss der Geschichte der wichtigsten politischen Ereignisse
in den Jahren 1788 bis 1792 finden sich darin zahlose Angaben. Es
ist die Zeit des Krieges Russlands mit Schweden und mit der Pforte,
es ist die Zeit der ersten Anfänge der Revolution. Nicht bloss er¬
fahren wir durch das Tagebuch, wie Katharina über die Ereignisse
jener Zeit dachte, wie die politischen Vorgänge auf sie selbst
wirkten, — auch unzählige Einzelnheiten, deren sonst in keiner
Quelle erwähnt wird, werden uns durch Chrapowitzkij mitgetheilt.
Bei Hofe, in den massgebenden Kreisen, wusste man u. A. von den
Operationen der russischen Truppen in Finland und in Südrussland
mehr, als man in officiellen Berichten sagen mochte. Daher ist die
Benutzung des Tagebuches Chrapowitzkij's bei der Erforschung
der Ereignisse jener Zeit ganz unerlässlich *. A. BRÜCKNER.
1 Der Verfasser dieser Abhandlung hat bei seinen zum Theil veröffentlichten
Schriften über den schwedischen und türkischen Krieg, so wie über Katharina 1 s
Verhalten zur Revolution reichliches Material dem Tagebuche entnommen.
(Schluss folgt).
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Die Meteorologie in Russland.
Von
Dr. A. Wojeikow *.
Die ersten meteorologischen Beobachtungen wurden in Russland
etwa um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts angestellt. Der
Beobachtunsgspunkte waren wenige, sie waren unregelmässig im
Lande verstreut und bedienten sich sehr verschiedener Methoden
und Instrumente. Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts wurde
die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf das ferne, aber höchst inter¬
essante Sibirien gelenkt Als die Naturgeschichte dieses Landes
von Lepechin, Pallas, Gmelin u. A. untersucht wurde, machte sich
auch die Nothwendigkeit eines Studiums seines Klimas fühlbar.
Einige Anstrengungen wurden auch in dieser Richtung gemacht;
es wurden Thermometer ausgejtheilt, jedoch die Resultate waren
nicht ermuthigend, und wir wissen so gut wie Nichts von diesen
ersten sibirischen Beobachtungen. Sogar beim Beginne des neun¬
zehnten Jahrhunderts war die Nothwendigkeit des Studiums der
Meteorologie in Russland noch nicht allgemein erkannt, und erst
um das Jahr 1820 wurde die Zahl der Beobachtungspunkte grösser.
In den Jahren 1820 bis 1835 wurden meteorologische Beobachtungen
an etwa 30 Orten gemacht, im Allgemeinen von Privatpersonen,
ohne irgend einen einheitlichen Plan und oft mit unvollkommenen
Instrumenten. Wahrscheinlich sind sogar viele von den meteorolo¬
gischen Tagebüchern aus dieser Zeit für die Wissenschaft verloren
gegangen; denn jeder Beobachter arbeitete auf eigene Hand und
hatte meistentheils keinerlei Verbindung mit den anderen und den
leitenden Gelehrten der Zeit.
Der grosse Impuls, welcher im Jahre 1828 dem Studium des
Magnetismus gegeben wurde, hatte Einfluss auf die Meteorologie.
In diesem Jahre wurde in Deutschland der «Magnetische Verein»
gegründet, und dessen Vorsitzender, A. v. Humboldt, liess es nicht
an Bemühungen fehlen, um die Russische Regierung zur Einrichtung
f Aus dem Jahresbericht der < Smithsonian Institution» für 1872 auszugsweise übersetzt.
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1 66
magnetischer Beobachtungs-Stationenin ihrem Gebiete zu veranlassen.
Die Akademie der Wissenschaften unterstützte seine Anstrengungen
auf das Wärmste, und in deren Folge wurden magnetische Obser¬
vatorien gegründet zu St. Petersburg, Kasan, Nikolajew, Sitcha und
Peking, und etwas später in Jekaterinenburg (Ural), Barnaul (West-
Sibirien), und an dem Nertschinsker Hüttenwerke (Ost-Sibirien).
Im Jahre 1833 stellte Kupffer einen Plan zur Reorganisation der
magnetischen Observatorien vor, nach welchem auch die Meteoro¬
logie in ihr Programm aufgenommen werden sollte. Er wurde un¬
terstützt vom Minister der Finanzen 1 und dem Chef der Berginge¬
nieure, K. W. Tschewkin. Der Plan ward vom Kaiser Nikolaus
bestätigt und das Ganze wurde, wie schon vorher das System der
magnetischen Beobachtungen, unter die Verwaltung des Berg¬
departements gestellt, mit dem Centrum in St. Petersburg. Magne¬
tische und stündliche meteorologische Beobachtungen wurden nun
angestellt zu St. Petersburg, Barnaul, Jekaterinenburg und Ner-
tschinsk; ausserdem nur meteorologische Beobachtungen zu Bogo-
slowsk und Slatoust (Ural), und zu Lugan (Südrussland). Die Beob¬
achtungen sollten auf Kosten des Bergdepartements veröffentlicht
werden; Kupffer wurde zum Direktor des Systems ernannt. Alles
dieses wurde in den Jahren 1835 bis 1841 durchgeführt. Uebrigens
standen die Observatorien von Nikolajew, Sitcha und Peking, so
wie auch das 1844 zu Tiflis gegründete, nicht unter Kupffer’s
Direktion. Eine jährliche Publikation, welche den Titel «Annuaire
magnötique et meteorologique» führte, enthielt die Beobachtungen
sowohl der Stationen des Bergdepartements, als auch jene von
Sitcha, Peking und Tiflis.
Im Jahre 1849 wurde das Physikalische Central-Observatorium
gegründet. In der Lage der Hauptstationen fand keine Aenderung
statt, aber das Central-Observatorium trat auch in Verbindung mit
privaten Beobachtern, versorgte sie mit guten Instrumenten und
publicirte die täglichen Mittel von ihren Beobachtungen, wie auch
von jenen der Regierungsstationen, in einer Vierteljahrsschrift, die
den Namen «Correspondence meteorologique» führte. Die Publi¬
kation der stündlichen Beobachtungen von den Hauptstationen
dauerte dabei fort unter dem Namen«Annales de TObservatoire Phy-
sique Central». So war vorderhand ein allgemeines System von
meteorologischen Beobachtungen in Russland gegründet. Neue
Beobachter erklärten sich bereit, mitzuarbeiten, und öffentliche
1 Dem Grafen Cancrin. D. R.
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167
Anstalten nahmen Theil an dieser Bewegung; das Departement der
Domänen versah die unter ihm stehenden landwirthschaftlichen
Schulen mit guten Instrumenten, und die Beobachtungen einiger der¬
selben sind sehr werthvoll. Hr. Wesselowskij regte deren Eifer an und
begann gleichzeitig die meteorologischen Tagebücher von privaten
Beobachtern zu sammeln, um ein allgemeines Werk über das Klima
Russlands herzustellen. Zahlreiche Tagebücher wurden auf diese
Weise vor der Vergessenheit gerettet und die Resultate vieler priva¬
ten Bestrebungen der wissenschaftlichen Welt zugänglich gemacht.
Hrn. Wesselowskij's «Klima von Russland» erschien im Jahre
1857, und weil dieses Werk noch gegenwärtig das umfassendste
und vollständigste über diesen Gegenstand ist, möge es mir erlaubt
sein, eine Uebersicht von dessen Inhalte mitzutheilen.
Da nach der Absicht des Autors das Werk ein ausschliesslich
klimatologisches sein sollte, mit der Nebenabsicht, die Resultate für
die Statistik, und namentlich die Lehre vom Einfluss des Klimas
auf den Menschen, nutzbar zu machen, so ist leider Alles, was sich
auf den Luftdruck bezieht, daraus ausgeschlossen l . Dagegen sind
ausgedehnte Tafeln gegeben über die Temperatur von 147 Stationen,
in deren Zahl 26 aus Sibirien und Russisch-Amerika sind, nebst
einer klaren Darlegung der Hauptzüge der Verbreitung der Tempe¬
ratur, und einem Anhang über die wärmende Kraft der Sonnen¬
strahlen und die Temperatur des Bodens. Auch eine Tafel über die
Zeiten des Zufrierens und des Aufganges von 140 Flüssen und Seen
wird mitgetheilt. In dieser Hinsicht war Hrn. Wesselowskij’s Arbeit
begünstigt durch die besonderen Verhältnisse der russichen Flüsse
und durch die Aufmerksamkeit, welche diesem Gegenstände hier
stets geschenkt wird. Dennoch verdanken wir die Sammlung sehr
vieler Daten nur seinen eifrigen Bemühungen. Wir werden da mit
einer ununterbrochenen Liste über den Auf- und Zugang der Newa
bei St. Petersburg vom Jahre 1706 an beschenkt, und mit Verzeich¬
nissen von 80 — 100 Jahren für ungefähr zehn andere Orte. — Der
wichtigste Theil des Werkes ist der die Winde betreffende.
Hr. Wesselowskij war der erste, welcher nach wies, dass im süd¬
lichen Russland die vorwaltenden Winde im Herbst und Winter
östliche seien, während es in dem centralen und nördlichen Theile
des Landes in diesen Jahreszeiten südwestliche sind, wie in England
und Deutschland. Diese Beziehungen der Windrichtung zu den
1 Dieses Kapitel ist gegenwärtig von Hm. Rykatschöw bearbeitet; vgl. den Litera¬
turbericht in dieser Zeitschrift 1875, Hft. I, SS. 102—110. D. R.
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/
Jahreszeiten sind mit der grössten Klarheit dargelegt, und die
neueren Daten haben Hm. Wesselowskij’s Ansichten nur bestätigt;
so überraschend dies scheinen mag, so lässt sich doch sogar dar-
thun, dass die Windverhältnisse Russlands gegenwärtig vielfach
weniger richtig aufgefasst werden, besonders von auswärtigen Me¬
teorologen.— Hierauf folgt ein Kapitel über Luftfeuchtigkeit, Bewöl¬
kung, Regen und Hagel. Die Beobachtungen waren sehr spärlich,
während doch diese Erscheinungen, weil sie sehr lokal sind,
nur gut untersucht werden können an ei ner sehr grossen Menge
von Beobachtungen. — Das letzte Kapitel des Werkes ist eben¬
falls von grosser Bedeutung; es handelt von den Aenderun-
gen im Klima und liefert überzeugende Beweise davon, dass
keine merkbaren Veränderungen in historischen Zeiten stattgefun¬
den haben. Mit Hülfe der klassischen Autoren beweist Hr. Wesse-
lowskij, dass die allgemeine Meinung, das Klima Südrusslands sei
milder geworden, keine Begründung habe. Wenn der in die Länder
der unteren Donau verbannte Ovid erstaunt war über die Strenge
des Klimas, so ist dieses völlig natürlich bei einem Südländer. Die
Donau fror damals zu, wie sie jetzt zufriert, mindestens in ihren
unteren Theilen. Die Angaben Herodot’s über Skythien sind noch
wichtiger für uns. Zu jener Zeit waren Regen und Gewitter, wie sie
es auch jetzt sind, im Sommer häufig, und dies war befremdend für
einen Griechen, welcher in seiner Heimath an regenlose Sommer
gewöhnt war; dagegen waren die Winterregen in Skythien spär¬
licher als an den Küsten des Mittelmeeres.
Herodot berichtet auch, dass Südrussland zu seinerzeit eine Steppe
war, wie es jetzt eine solche ist und wie es wahrscheinlich während
der ganzen Dauer der jetzigen geologischen Periode eine war. Wei¬
terhin liefert das Gefrieren und der Aufgang der Flüsse Hrn. Wesse-
lowskij einen Beweis dafür, dass das Klima in dieser Beziehung sich
seit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts nicht verändert habe;
wenigstens dass die Länge der Zeit, während welcher die Tempera¬
tur unter dem Gefrierpunkte steht, jetzt dieselbe ist wie früher. Ge¬
wiss sind die Schwankungen der einzelnen Jahre in dieser Hinsicht
sehr gross, und sogar die Mittel aus io- oder 20-jährigen Zeiträumen
weichen noch beträchtlich von einander ab; Nichts weist jedoch auf
eine fortschreitende Aenderung des Klimas hin. Kalten Jahren fol¬
gen warme und umgekehrt. Nehmen wir 30-jährige Mittel für
St. Petersburg, so erhalten wir folgende Zahlen *:
1 Der Vergleich der im englischen Originale angeführten Zahlen mit jenen in Hrn.
Wesselowskij’s Werk ergab eine Nichtübereinstimmung derselben; wir zogen es vor,
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169
Jahre
Zugang
Aufgang
Dauer der Eis¬
bedeckung
Eisfrei ist der
Strom
17 * 4 -«753
25,7 November
22,4 April
« 47 ,» Tage
217,3 Tage
«754—*783
*5»
»
20,4 »
« 45 ,» ■
219,4 •
1784—1813
22,0
»
»
152,* .
212,4 •
1814—1843
26,4
»
*9,5 •
« 44 ,‘ »
221,i t
1844—1873
24,0
»
22,4 •
« 50 ,* »
215,1 »
Die Düna bei Riga, von wo wir einige Beobachtungen schon aus
dem sechszehnten Jahrhundert besitzen, liefert ein ähnliches Resul¬
tat. Die mittlere Zeit des Aufgangs dieses Flusses war in 40 Jahren
des sechszehnten Jahrhunderts der 9. (9,«) April; in 91 Jahren des
achtzehnten war es der 7. (7,2) April; 54 Jahre des neunzehnten
Jahrhunderts ergaben als Mittel den 8. (8,4) April. Die Dwina bei
Archangelsk und der Dnjepr bei Kijew zeigen ebenfalls nur sehr ge¬
ringe Unterschiede zwischen diesem und dem vorigen Jahrhundert.
Der zweite Theil von Hrn. Wesselowskij’s Werk enthält ausge¬
dehnte Tabellen, welche für Meteorologen von unschätzbarem
Werthe sind. Die mittlere Temperatur, die Zahl mit wässrigem Nie¬
derschlag und die Menge des gefallenen Wassers sind daselbst für
jeden Monat der einzelnen Jahre mitgetheilt, so weit der Autor die
Daten erlangen konnte. Diese Sammlung von Beobachtungen ist
ausserordentlich wichtig für das Studium der nicht periodischen
Aenderungen in den meteorologischen Elementen. Der Auf- und
Zugang der Flüsse ist ebenfalls für jedes Jahr besonders angegeben,
und es wäre sehr wünschenswert!!, ähnliche Tabellen auch für an¬
dere Länder zu erhalten. Bis jetzt giebt es derselben sehr wenige,
und kein Land von einigermassen beträchtlicher Ausdehnung hat
Tafeln dieser Art aufzuweisen, welche sich mit jenen von Hrn.
Wesselowskij gegebenen vergleichen Hessen.
Um das Jahr 1850 begann die K. Russ. Geographische Gesellschaft
Nachrichten über das Klima des russischen Reiches zu sammeln.
Keine andere Vereinigung oder Institution hat die Möglichkeit, sich
die Mitarbeiterschaft einer so grossen Anzahl von meteorologischen
Beobachtern zu sichern, wie diese Gesellschaft, weil dieselbe im gan¬
zen Reiche bekannt ist. Es wurde eine Sammlung von topographi-
auf die Quelle zurückzugehen; da jedoch in den betreffenden Zahlen auch bei Hrn.
Wesselowskij sich Fehler zeigten, so haben wir die 30-jährigen Mittel aus den lojähri-
gen neu abgeleitet *, die letzteren stimmen, bis auf kleine Abweichungen in der Deci-
male, mit den Angaben der Tabelle der einzelnen Jahre (O ajmaarfc Poccia, npmio*.
PP« 2 53 ) überein. Ferner haben wir die jüngst abgelaufene 30-jährige Periode hin¬
zugefügt. Die Daten sind nach neuem Style angegeben.
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sehen Schilderungen angelegt, welche Angaben über das lokale
Klima und Beobachtungen über die periodischen Erscheinungen ent¬
hielten. Im Jahre 1857 empfahl ein meteorologisches Comite der
Gesellschaft die Gründung einer Zeitschrift, welche der Meteorologie
Russlands und den verwandten Wissenschaftszweigen zu widmen
sei. Die Gesellschaft nahm diesen Vorschlag an und gab unter
der Redaktion von Kämtz das «Repertorium für Meteorologie« von
1859 bis 1863 heraus; es erschienen im Ganzen drei Bände, welche
von den Fachmännern sehr geschätzt wurden. Die wichtigste Arbeit
war eine von Kämtz «über das Klima der südrussischen Steppen».
Um diese Zeit, besonders seit 1860 wurde die Ansicht allgemein,
dass das meteorologische Beobachtungssystem Russlands sich als
ein verfehltes erwiese, dass die von der Regierung gegebenen Geld¬
summen wenig zweckmässig verwendet seien, und dass das ganze
System einer Reorganisation bedürfe. Wie gewöhnlich in solchen
Fällen lag in dieser Meinung viel Wahres, aber auch ein gutes
Stück Uebertreibung. Die ungeheure Ausdehnung des Landes,
über welches die meteorologischen Stationen zerstreut waren, ver¬
hinderte deren häufige Revision, welche eine wesentliche Bedingung
für die erfolgreiche Wirksamkeit eines meteorologischen Beobach¬
tungssystems ist. Die Instrumente der Stationen wurden nicht
häufig genug mit Normalinstrumenten verglichen. Alles dieses
verringerte freilich den Werth der Beobachtungen, doch lässt die
Lage mancher Hauptstationen, wie besonders von Barnaul und
Nertschinsk, in einem Lande, dessen Verhältnisse so besonders
fremd und interessant für die Meteorologie sind, auch minder genaue
Beobachtungen werthvoll erscheinen. Andererseits war die Libe.-
ralität, mit welcher die russische Regierung den Druck der Beob¬
achtungen in extenso ermöglichte, von grossem Nutzen für die
Wissenschaft. Erst in den letzten 10 oder 15 Jahren haben wir den
grossen Werth der direkten Beobachtungen kennen gelernt, während
früher Mittelwerthe für völlig ausreichend angesehen wurden. Die
russischen Publikationen wurden nicht so geschätzt, wie sie es ver¬
dienten, weil sie ihrer Zeit voraus waren, und wir können es gegen¬
wärtig aussprechen, dass das von der russischen Regierung begrün¬
dete System der Beobachtungen und Publikationen kein Missgriff
war, sondern der Wissenschaft gute Dienste geleistet hat.
Um das Jahr 1865 wurden Versuche gemacht, dem meteorologi¬
schen Beobachtungssystem eine grössere Ausdehnung zu geben und
ein System telegraphischer Wetterberichte einzurichten. Die Mi-
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l 7 l
nister der Marine und des öffentlichen Unterrichts interessirten sich
für den Plan, allein das praktische Resultat war so gut wie Null.
Nach dem Tode Kupffer’s wurde Kämtz zum Direktor des physi¬
kalischen Central-Observatoriums ernannt. Ausgedehnte Reformen
in der Organisation des Beobachtungssystems wurden zu dieser
Zeit begonnen und von seinem Nachfolger, Hm. Dr. H. Wild, fort¬
gesetzt. Das physikalische Central-Observatorium gehört jetzt zum
Ressort der Akademie der Wissenschaften, welcher auch die Wahl
seines Direktors obliegt. Eine neue Serie von Instrumenten wurde
bestellt, am Observatorium verglichen und die verschiedenen Sta¬
tionen damit ausgerüstet. Seit 1870 ist die hunderttheilige Scala
für die Thermometer und das metrische Maass für das Barometer und
den Regenmesser angenommen, so dass gegenwärtig beinahe auf dem
ganzen Continente von Europa dieselben Maasseinheiten für die me¬
teorologischen Instrumente im Gebrauche sind. Das deutsche meteo¬
rologische System, welches unter der Leitung von Hrn. Dove steht,
bildet allein eine Ausnahme, indem in ihm die Röaumur’sche Ther¬
mometer-Scala und das alt-französische Maass beim Barometer und
Regenmesser angewendet wird. Die Form der Publikationen wurde
ebenfalls verändert; die stündlichen Beobachtungen wurden seit
1864 1 mit Ausnahme von Tiflis (und St. Petersburg) eingestellt,
und es wurde beschlossen, die drei Mal täglich angestellten Beobach¬
tungen zu publiciren, ohne dabei einen Unterschied zu machen zwi¬
schen Stationen, die von der Regierung unterhalten werden, und
solchen von privaten Beobachtern. Die ersten in dieser Weise
publicirten Annalen waren jene für das Jahr 1865; diejenigen für 1866,
1867 und 1868 waren von derselben Form; die Beobachtungen von
1870 und 1871 sind nach dem neuen System gemacht und ebenfalls
bereits publicirt, die Annalen von 1872 in Vorbereitung 2 .
Kein Beobachtungssystem in Europa besitzt eine Publikation von
solcher Bedeutung, denn es muss wiederholt werden, dass die Ori¬
ginalbeobachtungen in dem gegenwärtigen Stadium der Wissen¬
schaft von dem grössten Werthe sind. Diese Beobachtungen müssen
aber gedruckt werden, um sie völlig nutzbringend zu gestalten und
sie jedem Arbeiter auf dem Felde der Meteorologie zugänglich zu
machen. Das ist allgemein von den Fachmännern auch des übrigen
1 Im Originale steht irrthümlich 1868.
* Der Jahrgang 1872 erschien im Anfänge des vorigen Jahres (vgl. «Russ. Revue»,
1874, Hft. 2, S. 184), gegenwärtig steht die Publikation der Jahrgänge 1869 und 1873
in Bälde bevor.
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Europa anerkannt, welche ebenfalls ein derartiges System der
Publikation einführen würden, wenn sie nur von den Regierungen
die Mittel zur Bestreitung der betreffenden Ausgaben sich ver¬
schaffen könnten.
Wir haben gesehen, dass die in Russland angenommene Art der
Publikation der Beobachtungen empfehlenswerth sei. Die übrigen
Theile des Systems sind weit davon entfernt, ebenso befriedigend zu
sein. i. Es giebt zu wenig Stationen in vielen Theilen des Landes, ins¬
besondere im Norden und in Sibirien. 2. Die Stationen werden allzu
selten inspicirt und ihre Instrumente mit Normalinstrumenten ver¬
glichen. 3. Die Anwendungen der Meteorologie auf die Praxis
werden vom Physikalischen Central-Observatorium ausser Augen
gelassen. Der Nachtheil, welcher aus der zu grossen räumlichen
Entfernung der Stationen vom Central-Observatorium entspringt,
ist bereits anerkannt. Hr. Wild schlug vor, sekundäre Central-
Observatorien in den Universitätsstädten und einigen anderen
grösseren Städten des Reiches zu gründen, von deren Direk¬
toren jedem die Ueberwachung eines gewissen Landkomplexes
obliegen würde. Die Direktoren dieser Observatorien hätten diese
Stationen so oft als möglich zu inspiciren und ihre Instrumente
zu verificiren. Das Physikalische Central-Observatorium zu St. Pe¬
tersburg hätte über das System der Beobachtungen und Auf¬
zeichnungen zu bestimmen und die Beobachtungen aus allen
Theilen Russlands zu bearbeiten und zu publiciren. Es waren
solche Zweig-Observatorien für Moskau, Kasan, Charkow, Kijew,
Odessa, Dorpat, Warschau, Helsingfors, Wilna, Tiflis, Irkutsk,
Taschkent und Peking vorgeschlagen. Für Tiflis ist das Sy¬
stem durchgeführt, da der Direktor des dortigen Observato¬
riums die Controle über die Beobachtungen an den kaukasischen
Stationen ausübt, deren Instrumente etc. inspicirt und deren Beob¬
achtungen schon bearbeitet nach St. Petersburg zur Veröffent¬
lichung einschickt. Es ist zu bedauern, dass dieses System von
Centren wegen Mangels an Geldmitteln noch nicht hat völlig rea-
lisirt werden können. Die Hauptursache, warum das meteorolo¬
gische Beobachtungssystem Russlands, so vortrefflich es in manchen
Beziehungen ist, nicht wie gewünscht vervollständigt werden kann,
ist die, dass die Meteorologie in Russland noch keine Anwendung
auf das praktische Leben gefunden, und dass das Observatorium
noch nicht dafür gesorgt hat, das Publikum eingehend mit deren Prin-
cipien und deren Wichtigkeit bekannt zu machen. Dieses ist in
x.
V
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173
einem solchen Grade wahr, dass nur sehr Wenige, sogar in
St. Petersburg, eine Idee von der Existenz eines Physikalischen
Central-Observatoriums haben. Es herrscht in der That die Mei¬
nung vor, die Meteorologie bilde einen Theil der Beschäftigungen
des astronomischen Observatoriums zu Pulkowa ; bei dieser Sach¬
lage sind weit weniger Beobachter zu der Arbeit willig, welche
durch Regierungsvorschriften gefordert wird und für welche sie
flicht bezahlt werden, weil sie dabei keine bestimmte Kenntniss
davon haben, was mit ihrer Arbeit geschieht, wenn sie nach
St. Petersburg abgesandt ist. Einige der früheren Beobachter haben
es ausgeschlagen, die bedeutende Arbeit zu übernehmen, welche
mit der Einführung des neuen Systems nöthig wurde, und gewiss
sind auch Viele, welche den Männern der Wissenschaft völlig unbe¬
kannt sind, und deren mühevolle Bestrebungen zum grösseren Theile
verloren sind, wegen des Mangels einer richtigen Belehrung darüber,
was und wie sie beobachten sollten. Ein weiterer Nachtheil, den
man bei Befolgung dieses Systems erleidet, ist die schon oben ange¬
deutete Schwierigkeit, die Bewilligung der Mittel vom Staate zu
erlangen, welche so nothwendig sind zum weiteren Fortschritt der
Meteorologie sowohl als zu deren praktischer Anwendung. Weit
davon entfernt, dem Fortschritte der reinen Wissenschaft im Wege
zu stehen, können die Anwendungen derselben auf die Praxis nur
zu neuen Entdeckungen führen, indem sie die Zahl der Beobach¬
tungen ausdehnen und die Menge von Personen, welche an der
Wissenschaft Antheil nehmen, vergrössern.
Indem ich von praktischen Anwendungen spreche, habe ich
natürlich das System von Witterungs-Telegrammen und -Vorher¬
sagungen im Auge, welches gegenwärtig in den Vereinigten Staaten
in so ausgedehntem Maasse angewandt ist.
Da einige Hauptzüge in der Bewegung der Atmosphäre festge¬
stellt sind und es bekannt ist, dass in Russland die Stürme im All¬
gemeinen von West nach Ost sich fortpflanzen, wie sie es überhaupt
in mittleren Breiten thun, sind wir für die Vorausbestimmung des
Wetters weit günstiger situirt, als West-Europa, und beinahe so
günstig, wie die Vereinigten Staaten. Die grosse Zahl meteorolo¬
gischer Stationen im Westen Europa’s macht es leicht, telegraphi¬
sche Witterungsnachrichten von dort zu erhalten, gegen blosse Be¬
zahlung der Telegramme. Das norwegische meteorologische In¬
stitut hat bereits Sturmwarnungen eingerichtet, und es bedarf nur
der Errichtung von Telegraphenlinien längs den Küsten des Weissen
Meeres und des Eismeeres, um diese Warnungen auch für die Schifft
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174
ahrt und Fischerei dieser letzteren Gegenden nutzbar zu machen. Der
westliche Theil des Reiches mit dem Eismeere, demWeissen Meere,
der Ostsee und dem Schwarzen Meere würde vorwiegend abhängen
von den aus dem Auslande erhaltenen Nachrichten, während die
Eisenbahnbeamten und das zu Lande reisende Publikum vor dem
Eintritt von Schneestürmen und Regengüssen gewarnt werden
könnte auf Grund der aus dem westlichen Russland eingelaufenen
Nachrichten. Den Verkehrsstockungen auf den Eisenbahnen und
dem Verluste vieler Menschenleben, welcher auf den gewöhnlichen
Landstrassen so häufig vorkommt, könnte man auf diese Weise bis
zu einem hohen Grade Vorbeugen. Wenn die Eigenthümlichkeiten
des Klimas in Russland hinreichend bekannt sein werden, wird auch
die Landwirtschaft selbst Vortheil ziehen können aus Warnungen
vor heftigen Regen und Gewittern, welche sie alsdann gerüstet
empfangen können, und welche so einen Theil ihres verderblichen
Einflusses verlieren werden *.
1 Indem wir diese im Wesentlichen und zur Zeit, da sie niedergeschrieben wur¬
den, berechtigten Beschwerden eines der hervorragendsten Meteorologen Russlands
weiteren Kreisen auch in unserem Lande selbst bekannt geben, fühlen wir uns ver¬
pflichtet, daraufhinzuweisen, dass in diesen Richtungen im Laufe der letzten Jahre auf
die Initiative des Physikalischen Centrai-Observatoriums mehrfach wichtige Schritte
geschehen sind. Im Laufe der zwei letzten Jahre sind in Nordrussland und Sibirien
eine Anzahl Stationen eingerichtet, die zum Theil bereits ihre Beobachtungen regel¬
mässig dem Observatorium zusenden: so in ersterem in Bjelosersk, im Kloster
Walaam, denen bald wohl auch Ponjevetz folgen wird; in Sibirien in Akmolinsk,
Irkutsk, Salair (östlich von Barnaul), Semipalatinsk, Tomsk, Kainsk, Ischim, Kras¬
nojarsk und Omsk, zu denen in nächster Zeit auch Jakutsk und Narum kommen sollen.
Die sibirischen Stationen haben wir namentlich den Bemühungen des Direktors
des russischen Observatoriums zu Peking, Hrn. Fritsche, zu verdanken. Letzterer hat
auf seiner Reise von Peking nach St. Petersburg und zurück auch die beiden wich¬
tigsten, seit 35 Jahren bestehenden, sibirischen Stationen des Bergressorts, Nertschinsk
und Bamaul besucht; die uralischen Stationen desselben Ressorts so wie einige andere
sind von Hrn. Rykatschöw im Sommer 1872 inspicirt; diese Reisen im Vereine mit
einigen anderen haben dem von Hrn. Wojeikow oben sub 2 erwähnten Uebelstande
vorläufig bis zu einem gewissen Grade abgeholfen; doch ist eine Wiederholung der
Inspectionen alle 2 — 3 Jahre sehr wünschenswerth. Was nun den letzten der von
Hrn. Wojeikow erwähnten Punkte, die Anwendung der Meteorologie auf das praktische
Leben, betrifft, so ist hiefür in letzter Zeit Manches geschehen. Insbesondere müssen
wir die Errichtung eines Systems von Sturmwarnungen für die Häfen der Ostsee im
letztvergangenen Sommer erwähnen, zu welchem Zwecke das Central-Observatorium
sich mit dem St. Petersburger Börsencomite ins Einvernehmen gesetzt hat. Am 10.
(22.) October wurde die erste Sturmwarnung, sowohl an die hiesige Börse, als auch
telegraphisch an die Häfen von Kronstadt, Reval, Riga und Windau geschickt. Zu¬
gleich wurde auf dem vom Börsencomite auf Wassili-Ostrow, am Ufer der Newa,
neben dem Physikal. Central-Observatorium (23. Linie) errichteten Maste das Sturm-
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* 7 $
In den letzten drei Jahren hat dieK. Russ. Geographische Gesellschaft
sich abermals angelegentlich mit der Beförderung meteorologischer
Studien in Russland beschäftigt, und der Erfplg der ersten beiden
Jahre ermuthigt sehr zu weiteren Bemühungen. Uebrigens wünschte
die K. Russ. Geographische Gesellschaft nicht mit Gebieten sich
abzugeben, welche bereits in den Kreis der Pflichten des Central-
Observatoriums aufgenommen waren, wenngleich die Unmöglich¬
keit fiir dieses Institut, die ganze vor ihm liegende Arbeit zu leisten,
am Tage lag. Es wurde die Wahl einer Kommission aus der Zahl
der Mitglieder der Gesellschaft vorgeschlagen; diese Kommission
wurde im Anfänge des Jahres 1870 gewählt und hat etwa das zu
erledigen, was anderwärts meteorologische Gesellschaften leisten.
Ein allgemeines System von Beobachtungen über Regen und
Gewitter wurde angelegt, für dessen Ausbreitung die Gesellschaft
sehr begünstigt wurde durch ihre ausgedehnte Correspondenz im
ganzen Lande. Rundschreiben, welche die Bedeutung und die Art
der Beobachtungen erläuterten, wurden an die correspondirenden
Mitglieder, an verschiedene Schulen, an die Vorstände der Land¬
schaftsversammlungen etc. versendet. Ein billiger Regenmesser
wurde angenommen, dessen Princip einfach und dessen Benutzung
leicht zu verstehen ist. Im Frühling 1871 gab es schon etwa 60
neue Beobachter mit dem Regenmesser, obwohl alle nöthigen Vor¬
bereitungen nicht vor dem Herbst 1870 abgeschlossen waren. Ein
Jahr später war die Zahl der Beobachter auf etwa 200 angewachsen
und als ich St. Petersburg im December 1872 verliess, dauerte dies
vielversprechende Wachsthum noch fort. Der Erfolg dieser Unter¬
nehmung beweist, dass es nicht schwierig ist, zahlreiche Per¬
signal aufgehisst. Weitere Warnungen erfolgten am 19. (31.) und am 29. October
(10. November), so wie am 22. und 27. November (4. und 9. December); da die
Schifffahrt durch den Zugang der Newa bei St. Petersburg aufgehört hatte, so wurden
in den beiden letztgenannten Fällen nur die Wamungstelegramme abgefertigt, das Signal
jedoch am hiesigen Orte nicht aufgehisst. Diese Sturmwarnungen sind als durchaus ge-
langen zu bezeichnen. Mit Ausnahme der letzten erreichte der Wind seine grösste, und
zwar eine» sehr bedeutende Stärke nach der Warnung, und auch bei dieser letzten ging
ein deutlich ausgebildetes barometrisches Minimum in der erwarteten Richtung zur und
über die Ostsee, war jedoch hier nur von massigen Winden begleitet.
Zur weiteren Bearbeitung und Ausnutzung der angewandten Theile der Meteorologie
sind auf Anregung des Observatoriums von der Akademie im Verein mit den Mini¬
sterien der Marine und der Domänen zwei Kommissionen niedergesetzt worden,
welche die Entwürfe zu einem Institut fiir maritime Meteorologie und einem solchen
fiir land- oder forstwirtschaftliche Meteorologie ausarbeiten sollten; über die Resul¬
tate der Thätigkeit dieser Kommissionen ist jedoch bis jetzt noch Nichts officiell be¬
kannt geworden.
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sonen zu finden, welche willig sind für die Zwecke der Wissenschaft
zu arbeiten, auch wenn ein unmittelbares praktisches Ergebniss
nicht in Aussicht steht, vorausgesetzt nur, dass die endliche Zweck¬
mässigkeit der Ergebnisse genügend auseinandergesetzt sei.
Um dieses höchst wünschenswerthe Resultat zu erreichen, war es
erforderlich, Aufsätze meteorologischen Inhalts zu publiciren und an
die Beobachter zu versenden, deren Interesse für den Gegenstand
dadurch erweckt und unterhalten werden sollte. Dieses geschah,
indem die Geographische Gesellschaft in ihren «Iswestija» (Nr. i
und 5) derartige Artikel lieferte, von welchen alsdann Sonderab¬
drücke an alle Beobachter gesendet und überhaupt verbreitet
wurden. Als Sekretär der meteorologischen Kommission wurde
ich mit der Bearbeitung der Resultate des ersten Beobachtungs¬
jahres beauftragt, das die Zeit vom December 1870 bis zum
November 1871 umfasste. Die Ergebnisse waren besser, als man
es bei der wandelbaren Natur der wässrigen Niederschläge erwarten
konnte. Es war sogar möglich, Linien gleicher Regenmenge
(Isohyeten) nach diesen Beobachtungen für die Monate Mai, Juli,
August und September 1871 zu ziehen, der erste derartige Versuch
in Russland. Es fand sich, dass es leichter sei, Isohyeten für einen
einzelnen Monat zu entwerfen, als für Mittel verschiedener Jahre
an den verschiedenen Orten. Was die Gewitter betrifft, so war es we¬
niger leicht, allgemeine Resultate aus den wenigen Beobachtungen
des Jahres 1871 zu gewinnen; zur Entwerfung von Karten reichten
sie nicht aus. Indessen waren die Resultate in Betreff der Zugrich¬
tung der Gewitter und der Tagesstunden ihres Auftretens befrie¬
digend. Die vorwaltende Richtung war aus Südwest, nächst ihr
kamen Süd, Südost, West und Nordwest, während aus den übrigen
Himmelsgegenden die Gewitter in der That nur äusserst selten auf¬
traten. Die Tageszeit, zu welcher die Gewitter am häufigsten
waren, erwies sich als etwa drei Uhr Nachmittags. An einigen Sta¬
tionen, die 100 bis 200 engl. Meilen östlich vom Uralgebirge liegen,
zeigt sich ein zweites Maximum der Gewitterfrequenz am späten
Abend. Da die Gewitter von West nach Ost sich bewegen, so sind
diese letzteren offenbar am Uralgebirge entstanden und kommen,
ostwärts ziehend, so spät am Beobachtungsorte an; vom Ural¬
gebirge aber ist es bekannt, dass Gewitter daselbst im Sommer häufig
und stark zu sein pflegen. Ein ähnliches Verhältniss konnte für die
südwestliche Gruppe, Kijew, Podolien und Wolhynien nachgewiesen
werden; diese Gegenden haben im Westen die Karpathen, und die
Gewitter aus dieser Richtung erreichen sie in der Nacht.
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177
Die Geogr. Gesellschaft beschloss ferner, einen Band ihrer Denk¬
schriften («Sapiski») gänzlich der Meteorologie zu widmen, insbe¬
sondere auf das Klima von Russland bezüglichen Untersuchungen.
Das Motiv zu dieser Entscheidung war der Wunsch, diesen Gegen¬
stand allseitig erforscht zu sehen und ein Werk hervorzurufen, das
so auf der dermaligen Höhe der Wissenschaft stehe, wie Hm. Wesse-
lowskij’s Werk auf der Höhe derselben vor 16 Jahren stand. Es
wurde gehofft, dass die Mitglieder der meteorologischen Kommis¬
sion ihre Beiträge zur Erreichung des gewünschten Zieles liefern
würden, welches nur durch die vereinten Anstrengungen vieler
Arbeiter erreicht werden konnte. Die «Iswestija», die periodische
Publikation der Gesellschaft, sind ihrem Programme nach nicht
geeignet für meteorologische Aufsätze von bedeutendem Umfange,
da sie vornehmlich den Fortschritten der Geographie gewidmet sein
sollen. Die Sibirische Section der Geogr. Gesellschaft hat eben¬
falls eine meteorologische Kommission ernannt Viele Beobach¬
tungen aus Ostsibirien werden dort bearbeitet, und manche Förde¬
rung kann die Wissenschaft von dort her erwarten. Es giebt wenige
Länder, die so intersesant für die Meteorologie und dabei so wepig
bekannt sind, wie das östliche Sibirien; es enthält im Winter den
meteorologischen Pol, nämlich die kälteste Region der Erde; und
daneben umfasst es ungeheure Länderstrecken mit grossen Ver.
schiedenheiten im lokalen Klima.
Ein sekundäres meteorologisches Centrum zu Irkutsk ist auch
sehr wichtig für die Aufsicht über die Stationen und die Ver¬
gleichung der Instrumente, Es ist nahezu unmöglich, diese Auf¬
gaben von St Petersburg aus zu besorgen.
Es würde zu weit führen, die Bemühungen der verschiedenen
Regierungsbehörden und Gesellschaften zu Gunsten der Errichtung
von meteorologischen Stationsnetzen in verschiedenen Theilen des
Reiches aufzuzählen, um so mehr, als gegenwärtig die Nothwen-
digkeit einer einheitlichen Leitung für den Fortschritt der Wissen¬
schaft anerkannt ist. Die meisten dieser Stationsnetze sind jetzt
mit jenem des Physikalischen Central-Observatoriums verschmolzen,
indem sie dieselben Methoden und Maasse angenommen haben.
Dies ist der Fall insbesondere mit der Marine, welche meteorolo¬
gische Stationen unterhält an den Küsten des Weissen, Baltischen,
Schwarzen und Kaspischen Meeres, so wie auch an der Küste des
Stillen Oceans.
Bqm. Berua. Bd. T1I.
12
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Ein Blick auf die Resultate der Hissär’schen
Expedition.
An die mannigfachen und nicht geringen Verdienste, welche der
Chef des Generdgouvernements von Turkestan um unsere geogra¬
phische Kenntniss Von Central-Asien bisher sich erworben hatte,
reiht sich wieder ein neues. Eine aus drei Mitgliedern, den Herren
Wischniewski, Majew und Schwarz, bestehende Expedition, die
vor anderthalb Monaten ihre Aufgabe löste, hat das aus dürfti¬
gen, zum Theil in hohes Alterthum hinaufreichenden Nachrich¬
ten wenig bekannte, von keinem neueren europäischen Reisenden
erforschte Gebiet von Hissär, welches zum westlichen Ende des
oberen Flussgebietes des Amu gehört und dem Emir von Buchara
gegenwärtig unterthan ist, der wissenschaftlichen Erdkunde er¬
schossen. Während die im Jahre 1870 vom Generalgouverneur
von Turkestan der Leitung des Generals Abramow anvertraute
Expedition zum Iskeader-kul das obere Flussgebiet des Serafschän
erforschte, hat die jetzige Expedition nach Hissar das von den
westlichen Zuflüssen des Amü am rechten Ufer dürchströmte
Bergland untersucht und dasselbe durch astronomische Ortsbestim¬
mungen für die Kartographie so zu sagen erobert. Die bisherigen
Vorstellungen über diese Gegend gründeten sich theils auf Aussagen
Eingeborner, theils auf Nachrichten, die, wie schon bemerkt, aus
historischen Quellen geschöpft waren und deren wir als Einleitung
zu dem vorläufigen Bericht über die Resultate der Expedition, wie
er in Nr. 28 der «Turkestanischen Zeitung» von diesem Jahre mit-
getheilt wird, hier erwähnen wollen.
Die frühesten Berichte über das südlich vom heutigen Scheh-
rissäbs, dem alten Kisch, bis zum Amü bei Termedh, gegenüber
Balch, sich erstreckende Gebirgsland finden wir in chinesischen
Quellen. Hiuen-Thsang , ein buddhistischer Pilger aus China, ge¬
trieben von dem Verlangen, das Mutterland und die Quellen seiner
Religion kennen zu lernen, ging im Jahre 629 nach Chr. über
Transoxiana nach Indien, und zog bei dieser Gelegenheit von Ssa -
markand über Kisch, das er Kie-schoangna nennt, nach Termedh (bei
ihm Ta-mt). Seine Beschreibung dieser Landstrecke findet sich
mehr oder weniger abgekürzt in den historischen und geographi-
(■"
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179
sehen Schriften der Chinesen aus der Zeit der Thang-Dynastie, die
vom Anfang des VII. bis zum Anfang des X. Jahrhunderts über das
Mittelreich, welches schon seit dem II. Jahrhundert vor Chr. Bezie¬
hungen zu den westlichen Ländern Central-Asiens unterhalten hatte,
herrschte l . Die Araber drangen schon früh, am Ende der ersten
Hälfte des I. Jahrhunderts ihrer Zeitrechnung, in die Bergland¬
schaften des Amü-Stromes, doch gewähren die über diese Kriegs¬
züge auf uns gekommenen Nachrichten kaum einige Einsicht in
die politischen und ethnographischen Verhältnisse jener Gregenden,
am wenigsten aber in die topographischen. Wir erfahren nur, dass
die Landschaft im Norden des Amü, westlich von Termedh, Ssaghä-
niän hiess und dass sie damals einen besonderen Fürsten hatte. Erst
die beiden berühmten Geographen des X. Jahrhunderts, Istachri und
der ihm befreundete Ibn-Hauqäl\ geben uns ausführlichere Nach¬
richten über jene Gegenden, wie überhaupt über die Länder am
Oxus und Jaxartes. Auch ist hier des etwas älteren, als die
beiden erwähnten Geographen, erst in letzterer Zeit bekannt ge¬
wordenen Ibn-Dasta zu erwähnen. Sir Henry Rawlinsan hat be¬
kanntlich aus ihm die Stelle über den Lauf des Oxus mitgetheilt,
wie ich mich jedoch, nachdem ich im vorigen Jahre durch die Güte
eines hiesigen Gelehrten, des Professors D . Chwolson , dieselbe aus
der Handschrift des British Museum copirt erhielt, habe überzeugen
können, ziemlich verkürzt. Die geographische Arbeit des ebenfalls
dem X. Jahrhundert angehörenden geistvollen Moqaddessi ist noch
4 Den Bericht Hiuen-Thsang’s findet man in des verstorbenen französichen Akade¬
mikers Stanislas Julien Voyages des Pel6rins bouddhistes. Bd. II: Mlmoires sur les
contrles occidentales, traduits du sanscrit en chinois, en l*an 648, par Hioüen-Thsang,
et du chinois en frangais par Mr. Stanislas Julien. Tome premier (Paris, 1857. 8°),
pag. 22—25; ausserdem in Bd. I: Histoire de la vie de Hioüen-Thsang et des ses
voyages dans linde depuis l’an 629 jusqu’en 645, par Hoeili et Yen-Thsang, suivie
de documents et d’ 6claircissements g£ographiques tires de la relation originale de
Hioüen-Thsang. Traduite du chinois par Stanislas Julien, (Paris 1853), pag. 61 und
397 — 398« Die Nachrichten in den historischen Quellen finden wir in russischer
Uebersetzung in des Paters Hyacinth (Bitschurin) Co6pairie arta-femÄ o HapoAax* o6m-
Tanmiuci» bi» CpeAHeft A3in bt> ApeBnia BpeueHa. Bd. III, S. 246 — 247; man vergleiche
auch S. 187. Hier wird Kisch Schy , aber auch schon Küischa , Geschuanna genannt
Ferner finden sich dieselben Nachrichten über dieses Land bei einem chinesischeu Ge¬
lehrten, Matuanlin, aus dem XIII. Jahrhundert, die uns von Abel-ltemusat (Nouvelles
Me langes Asiatiques. T. I. Paris 1829. 8°, pag. 238—239) mitgetheilt sind. Vergl.
Klaproth’s Karte von Transoxiana nach chinesischen Quellen im Magasin Asiaüque.
T. L (Paris 1825. 8°.), und daselbst S. 121. Der umsichtige und vortrefflich unterrichtete
jüngste Herausgeber Marco Polo’s, H. YuU, hat die von Hiuen-Thsang gesammelten
Nachrichten über das Quellgebiet des Oxus nach dem Vorgänge von Cunningham und
Vivien de St.-Martin in einem besonderen Aufsätze einer neuen kritischen Prüfung un¬
terworfen : Notes on Hwen Thsang’s Acconnt of the Principalities of Tokkaristan, im
Journal of the Roy. Asiatic Society of Great Britain and Ireland. New Series. Vol. VI.
Part 1, pag. 92 —120, mit einer Karte. Bekannt ist desselben Verfassers Essay on
the Geography and History of the regions on the upper waters of the Oxus, als Einlei¬
tung zu der neuen Ausgabe von John Wood’s in den dreissiger Jahren unternommener
Reise zu den Oxusquellen; dieses* lehrreiche Memoire ist von Frau Olga Fedtschenko
ins Russische übersetzt und von ihrem verstorbenen Manne mit Noten begleitet, sowie
mit einer neuen Karte versehen worden. S. «Russ. Revue» 1873, Bd. III, p. 185—187.
12*
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nicht veröffentlicht, wird uns aber wohl nicht mehr lange vorent¬
halten werden und den 3 Band, der «Bibliotheca geographicorum
arabicorum», welche Professor de Goeje in Leyden herausgiebt,
bilden. Die ersten 2 Bände dieses wichtigen literarischen Unterneh¬
mens enthalten die Werke Istachri’s und Ibn-Hauqäl's. Was die noch
älteren arabischen Geographen el-Jaqiibi (aus dem Ende des IX. Jahr¬
hunderts) und Ibn-Kordabbek (aus der Mitte desselben Jahrhunderts)
über das uns hier interessirende Ländergebiet liefern, ist im Vergleich
zu den erwähnten Quellen dürftig .und besteht aus kurzen Routen¬
angaben, deren Werth durch die Unsicherheit der Lesarten der
Namen noch beeinträchtigt wird. Neues bieten uns auch die späteren
Werke der reichen arabischen geographischen Literatur nicht.
Erst im Anfang des XV. Jahrhunderts betritt ein Europäer einen
Theil des von der Hissärischen Expedition untersuchten Berglandes.
Es ist Ruy Gonzales de Clavijo , welcher als Gesandter Heinrich III.
von Castilien an den Hof Timuris bei Termedh über den Amü setzte
und von dort durch das berühmte Eiserne Thor nach Kisch und dann
nach Ssamarkand ging. Sein Itinerar auf dieser Strecke stimmt zu
den Marschrouten, welche wir in den persisch abgefassten Werken
über Timuris Geschichte (Scheref-eddin Ali Jezdi, Abdurrhessaq Ssa-
markandi und Mirchond) finden. Auch über das Land östlich von
dieser Route finden sich in diesen Werken geographische Daten,
welche von unseren Geographen nicht erschöpfend benutzt worden
sind. Dann lässt Sultan Bober , der hier im Anfang des XVI. Jahr¬
hunderts umherreiste, uns in seinen lebensfrischen Memoiren einige
Lichtblicke in die Geographie des Hissär-Gebietes thun. Aus dem
Ende desselben Jahrhunderts finden sich Nachrichten in der höchst
ausführlichen Geschichte eines kriegslustigen Herrschers von Trans-
oxiana, Abdullah-chan’s, die unter dem Titel Scheref-näme-i-schähi
von einem Hofhistoriographen in persischer Sprache abgefasst,
und deren Herausgabe von einem Mitglieds der hiesigen Akademie
unternommen ist. Abdullah-chan unternahm Feldzüge nach Hissär,
Kuläb und Badachschän. In die Mitte des XVI. Jahrhunderts
gehören auch die Irrfahrten eines Türken, der hierher verschlagen
wurde, und dessen Memoiren schon im Jahre 1815 von H. F. v. Diez .
im II. Theile seiner «Denkwürdigkeiten aus Asien» in deutscher
Uebersetzung veröffentlicht sind. Der Verfasser, Sidi Ali Kiatib
Rümi, hat sie «Spiegel der Länder» benannt. Im 10. und 11. Ka¬
pitel beschreibt er seine Erlebnisse in den Gebirgen der oberen
Flussgebiete des Amü und Serafchan. Fedtschenko hat die hier in
aller Kürze angegebenen Marschrouten in seinen Noten zu Yule’s
Essay benutzt.
Unbekannt ist dagegen eine spätere Quelle der Information über
Hissär, aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, geblieben. Es ist
ein zuerst von mir während meines Aufenthaltes in Buchara entdeck¬
tes historisches Werk, welches die Geschichte des ersten Chans von
Transoxiana aus dem Stamme Mangyt, Muhammed Rahim’s, des
Neffen des Stammvaters der jetzigen bucharischen Dynastie, Da-
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nial-bi’s, behandelt und Tarich-i-Rahim-chäni genannt wird. Rahini-
chän focht für die Suprematie seines Stammes mit mehreren ande¬
ren Usbeken-Stämmen, so auch den Jus und Kungrät in Hissär und
den Kenegäss in Schehrissäbs. Das Buch verdient wegen der in
ihm zahlreich enthaltenen ethnographischen und geographischen
Daten, sowie auch wegen der in ihm geschilderten Begebenheiten
aus einer sonst kaum bekannten Periode der Geschichte Transoxja-
nas in eine europäische Sprache übersetzt oder wenigstens im persi¬
schen Original edirt zu werden. Ein zweites Exemplar ist von Hrn.
N. P. Pietrowski , früherem Agenten unseres Finanzministeriums in
Turkestan, vor zwei Jahren nach St Petersburg gebracht worden.
Das von mir für das Asiatische Museum der Kais. Akademie der
Wissenschaften mitgebrachte Exemplar ist leider am Ende defect.
Den Schluss des Werkes bildet die Geschichte Danial-bi’s.
Wie schon oben bemerkt, ist das von unserer Expedition unter¬
suchte Gebiet von Hissär früher von keinem europäischen Rei¬
senden betreten worden. Doch haben Europäer in benachbarten
Ländern Nachrichten über jenes Bergland gesammelt, so Meyen-
dorff, Macartney (bei Elphinstone in seinem Werke über Kabul),
Burnes, Chanykow. In dem letzten Jahrzehnt wurden Hissär und
Schehrissäbs von einem Eingeborenen Indiens und Agenten der dor¬
tigen Regierung, Fais-Bachsch, auf seinen Reisen nach Ost- und
West-Turkestan besucht. Sein Bericht ist im 42. Bande der Zeit¬
schrift der Londoner Geographischen Gesellschaft von H. Yule ver¬
öffentlicht worden.
Zu dem nachfolgenden in der «Turkestani sehen Zeitung» unter der
Aufschrift «Kurze Nachrichten über die Resultate der Hissär’schen
Expedition» veröffentlichten vorläufigen Bericht gebe ich einige An¬
merkungen, die den oben angeführten älteren Nachrichten entlehnt
sind. Der Werth der letzteren wird sich erst dann heraussteilen, wenn
uns eine auf dieUntersuchungenderExpeditiongegründeteKarte und
die ausführlichen Berichte der Theilnehmer an der Expedition vor¬
liegen werden. Der jetzige Bericht, wir können es nicht ver¬
schweigen, hätte, bei all seiner Kürze, etwas deutlicher sein können.
Er giebt uns kein allgemeines orographisches Bild des untersuchten
Gebietes und berührt nur vereinzelte geographische Data.
P. LERCH.
Die Expedition erforschte den westlichen Theil des Gebirgslandes
von Hissär in zwei Richtungen: vonKarschi über Chusär 1 , Kusch-
4 Mir ist es unbekannt, woher unsere turkestanischen Geographen, so auch der un¬
genannte Verfasser des Berichtes, 1 }taaps = Husar schreiben. Die orientalischen
Quellen, angefangen von Ibn-Hauq&rs «Wege und Reiche» bis auf das «Tarich-i-Ra¬
him-chäni», geben im Anlaute des Namens immer das gutturale eh (das arabische Cha
mit dem Punkte oben). In der Zahl der 16 von Ibn-Hauqäl und Istachri aufgezählten
Gaue der Provinz Kisch (von den Arabern Kischsch geschrieben) werden ein Gau
(Rnstäk) von Chusär und ein Gau des Chusär-Fluss es (Chusär-Rudh) genannt.
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lusch, Tengi-Choram, Derbend, Slr-Ab und Lailakan nach Schir-
Abäd, und dann von Tschuschka-Chusär(am Amü) über Schir-Abad,
Lailakan, das Thal von Kudukli und Pitau nach Baissun. Hierbei
stellte es sich heraus, dass die Flüsse Chusär-Daija und Schir-Abäd-
Darja durchaus nicht jene unbedeutenden Flüsschen sind, für die man
sie bis jetzt gehalten hat; sie sind die Lebensbedingung zweier sehr
bedeutender Oasen: von Chusär und Schir-Abäd. Ausserdem hat es
sich erwiesen, dass die Ansicht Fedtschenko’s, der Chusär-Darja
habe seine Quellen in der Schlucht von Tasch-Kurgan, eine irrthüm-
liche war; denn in dieser Schlucht entspringt der Kisil-Ssu, welcher
in der Nähe des Dorfes Kara-Bagh in den Kaschka-Darja sich er-
giesst. Was den Chusär-Darja anbelangt, so wird dieser aus der Ver¬
einigung des Katta-Uru-Darja mit dem Ktschi-Uru-Darja gebildet.
Der erstere nimmt seinen Ursprung in den Gletschern des Ssengri-
Dagh-Gebirges, und letzterer in denen des Gebirges von Baissun.
Die Ufer des Katta-Uru-Darja sind am stärksten bevölkert, und
es giebt unter diesen Bergbewohnern sehr wohlhabende Leute, die
Heerden von 2—300oSchafen und 500—ioooKameelenbesitzen. Im
Sommer verlassen diese Usbeken ihre Ansiedelungen im Thale und
ziehen mit ihren Heerden höher in die Berge, wo sie in der Nähe
der Schneeregion den ganzen Sommer hindurch frisches Gras für
ihre Heerden finden. Die Ansiedelungen stehen daher im Laufe
des Sommers leer und erst mit Beginn des Herbstes fangen sie an,
sich wieder zu beleben. Zum Winter treiben die Bewohner dieser
Ortschaften ihre Heerden in die Hunger-Steppe von Karschi, wo sich
verhältnissmässig weniger Schnee befindet und wo die üppigen Sal-
solaceen den Heerden ein kräftiges Winterfutter bieten.
Die Expedition verfolgte zuerst den Weg nach Baissun. Nach¬
dem sie das breite Tschaktscha-Thal passirt hatte, sah sie die be¬
rühmte, unter dem Namen: das eiserne Thor (Busgola-chana, d. h.
Ziegenhaus, wie es jetzt von den Ortseinwohnern genannt wird), be¬
kannte Schlucht vor sich. Bis jetzt kannte man diese nur dem Namen
nach. Die einzigen Reisenden, welche uns über das Eiserne Thor ei¬
nige, aber sehr unbestimmte, Nachrichten überliefert haben, waren:
ein buddhistischer Missionär aus dem VII. Jahrhundert, der Chinese
Hiuen-Thsang, und der spanische Gesandte am Hofe Timur’s: Ruy
Gonzales de Clavijo. Beide Reisenden sprechen von dieser Schlucht
als von einer höchst merkwürdigen Naturerscheinung. Ersterer be¬
richtet, dass dieselbe durch ein zweiflügeliges, mit Eisen beschla-
dem ersten werden die Städte Ssunadsch , Nauqäd-Quraisch und Eskifaghan aufge¬
zählt Der Chusär-Rüdh ist ohne Zweifel der heutige Chusär-Darja, Nach dem an¬
geführten arabischen Geographen hatte die Provinz Kisch eine Ausdehnung von vier
Tagereisen in der Länge und ebenso viel in der Breite. Der Chusär-Fluss wird als
von der Stadt Kisch, die nach chinesischen Nachrichten (bei Pater Hyacinth HI, 247)
im Anfang des VII. Jahrhunderts erbaut sein soll, 8 Farsangen entfernt angegeben. Er
vereinigte sich mit dem Dschodsch-Rudh und Choschk-Rüdh zu einem Flusse, der nach
Afarx<f/(iränische Aussprache Nachschap , das heutige Karschi) floss. Zwischen Nas-
saf und Kisch waren drei Stationen; von letzterer Stadt bis Nauqftd-Quraisch betrug
die Entfernung 5 Farsangen, also gegen 40 Werst.
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genes und mit Glocken behängtes Thor gesperrt sei. So lange die
Kriegskunst noch auf einer niedrigen Stufe der Entwickelung stand,
konnte freilich solch ein Thor ein ganzes Heer aufhalten. Clavijo
aber, der 800 Jahre später diese Gegend bereiste, hat jenes Thor
nicht mehr vorgefunden. Er beschreibt diese Schlucht nur als eine un¬
einnehmbare Position. Der Ort aber, wo sich diese Schlucht befand,
war bis jetzt weder aus der Beschreibung des Chinesen noch des
Spaniers genau zu bestimmen 2 .
1 Hiuen-Thsang (s. Stanislas Julien’s Pel^rins bouddhistes II, 22—24), nachdem er
das Gebiet von Ssamarkand verlassen, ging, wie er berichtet, in südwestlicher Rich¬
tung 200 Li (=z 100 Werst ungefähr) und trat darauf in ein Bergland, wo der Weg
rauh war und an Abhängen vorüberführte. Man sah keine Ansiedelungen, auch kein
Wasser und kein Gras. Nachdem er in südöstlicher Richtung durch die Berge 300 Li
gegangen war, kam er an das Eiserne Thor. So nennt man, heisst es bei ihm, den
Engpass zwischen zwei parallelen Bergen, die sich rechts und links erheben und von
merkwürdiger Höhe sind. Nur ein schmaler Pfad, welcher von Abgründen durch¬
schnitten, trennt sie. Diese Berge bilden von beiden Seiten hohe Steinmauern, deren
Farbe der des Eisens gleicht. Man hat hier ein zweifliigliges Thor errichtet, welches
mit Eisen beschlagen ist. An beiden Flügeln ist eine Menge eiserner Glöckchen an¬
gebracht, und da dieser Engpass schwierig und stark vertheidigt ist, hat man ihm den
Namen gegeben, welchen er heute trägt So weit Hiuen-Thsang. Er und andere
chinesische Berichter geben das Eiserne Thor als an der nördlichen Grenze des alten
Tocharen-Reiches gelegen an, das sich von Westen nach Osten auf 3000 Li und von
Norden nach Süden auf 1000 Li ausdehnte, also das Gebiet von Hiss&r in sich begriff.
— Jaqübi kennt auch das Eiserne Thor unter dem ir&nischen Namen Der-i-ähin, was
er richtig mit dem arabischen BAb-el-hedid = eisernes Thor übersetzt. Es ist bei ihm
eine Stadt, die er in einer Reihe mit Kisch und Nachschap als im Norden von Baleh
gelegen anführt. Edrisi, nach Jaubert, giebt auch beim Eisernen Thor eine «kleine,
gut bevölkerte Stadt» an (XII. Jahrhundert). Bei Ibn-Hauqnl finden wir folgende
Marschroute von Nassaf nach Termedh, welches jetzt in Ruinen liegt und Termis ge¬
nannt wird: Nassaf \ Sunedsch , Dideki y Kendek , das Eiserne Thor % Ribäth (Herberge,
hier wahrscheinlich in der Wüste) Därenk oder Säreh , Haschim-Dscherd und Ter¬
medh. Rechnet man im Durchschnitt auf jede Station 8 Farsangen und auf jede Far-
sange 8 Werst, so beträgt die Entfernung von Nassaf bis Termedh ungefähr 450 Werst.
Von Ssamarkand bis Kisch rechnete man zwei Tagereisen und von Kisch bis Kendek
drei Stationen. — Die Geschichtsschreiber Timur’s geben folgende Marschroute zwischen
Termedh und Kisch an. Im Jahre 801 der Flucht setzte am 21. des Monats Redscheb
(30. März 1398) Timur mit seiner Armee, die er aus dem indischen Feldzuge zurück-
führte, über den Amü und blieb den 21. und 22. in Termedh. Am 23. verliess er es
und übernachtete im Dorfe Dschihänschäh^ am 24. am Orte Terki ; den 25. zog er
durch das Eiserne Thor (Qohluga J, am 26. weilte er in Dschikdalik , am 27. in Qusi-
Mundaq , am 28. in Duz-Biltschin , am 29. an einem Bache und kam am 30. in Kisch
an. Clavijo (ich benutze die zweite Ausgabe — Madrid 1782, 4 0 —, in einem Exem¬
plare, das aus der Bibliothek von Ssobolewski stammt und gegenwärtig mir gehört)
verliess Termedh (er schreibt Termit ) am Freitag den 22. August 1404, Nachmittags,
und verbrachte die Nacht in einer Ebene in der Nähe grosser Häuser. Am Sonnabend
gingen sie durch stark bevölkerte Ortschaften und übernachteten in einem Dorfe. Am
Sonntag verzehrten sie ihr Mittagsmahl in einem grösseren Gebäude, wo Timur, wenn
er diesen Vteg zog, Halt zu machen pflegte, setzten denselben Tag ihren Weg fort und
brachten die Nacht auf einer Ebene am Ufer eines Flusses zu. Am Montag wurde am
Fusse sehr hoher Berge das Mittagsbrod eingenommen; es war dort ein kleiner mit
glasirten Ziegeln geschmückter Pallast. Ueber diese Berge führte ein Engpass, das
Eiserne 7 hör. Hier wurde von Timur für die Waaren, die aus Indien kamen, Zoll
erhoben. Clavijo hörte, dass in diesem Pass früher eine eiserne Pforte gewesen wäre.
Denselben Tag zogen sie weiter und übernachteten im Freien, auf einer Berghöhe.
Am anderen Tage, nachdem sie der Mittagsruhe in der Nähe eines Nomadenlagers an
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Fedtschenko meint (s. seine Anmerkungen zu dem Werke von
Yule «Skizze der Geographie und Geschichte des Quellgebietes
des Amu-Darja»), das «Eiserne Thor» befinde sich nicht auf dem
Saumpfade von Chusär, sondern mehr nach Westen auf der Wa¬
genstrasse; die Mitglieder der obengenannten Expedition hin¬
gegen haben jetzt fest gestellt, dass das Eiserne Thor sich auf dem
Theile des Gebirgsrückens befindet, auf welchem sich die Wege
aus Schehrissäbs (die Kalta-minär-Strasse) und aus Karschi (die Chu-
sarstrasse), unweit von Derbend vereinigen 8 . Eine Wagenstrasse
nach Hissär existirt gar nicht.
In einer Entfernung von 3 Tasch 4 vor Derbend, und von dieser nur
durch den Bergrücken von Derbend getrennt, befindet sich die
Stadt Baissun. Die Stadt selbst liegt in einem hohen, stets kühlen
Bergthale, rings von Bergen eingeschlossen. Nachdem die Expedi¬
tion den Bergrücken, der von Osten die Kulturoase von Baissun be¬
grenzt, überschritten hatten, lag das breite Flussthal des Ssurchan,
eines wasserreichen Nebenflusses des Amu-Darja, vor ihnen.
Eine der wichtigsten Fragen, welche die Expedition gelöst hat,
war die: ob der Fluss Ssurchan überhaupt existire. Auf sehr vielen
Karten wird der Tupalan oder Tuplang 5 als der westlichste Zufluss
des Amu-Darja bezeichnet (wenn der Schir-Abäd-Darja, der nicht
immer bis zum Amü reicht, nicht mitgezählt wird). Zuerst erschien
er auf der Karte von Burnes, von hier ging er auf die Karte von
Chanykow und von da auf alle späteren Karten des Gebietes von
Hissär über. In der letzten Zeit bekräftigte noch Fais-Bachsch
die Annahme, dass der Tupalan ein bedeutender Fluss sei, indem
er ihn in die Zahl der fünf grossen Flüsse aufnahm, aus denen der Amu-
Darja gebildet wird 6 . Indess schon Fedtschenko bezweifelte in
seinen Anmerkungen zu dem schon angeführten Werke von Yule
die Richtigkeit dieser Annahme, hielt den Tupalan für ein sehr klei¬
nes Flüsschen und bestritt dabei die Existenz des Ssurchan durchaus,
indem er behauptete, dass ein solcher Fluss gar nicht existire.
Die Expedition hat nun aber festgestellt, dass der Ssurchan ein
grosser Fluss und einer der wichtigsten Nebenflüsse des Amu-Darja,
einem Flüsschen gepflegt hatten, wurde am Abend wieder Halt auf einer Hügelreihe
gemacht und nachdem sie eine kurze Nachtruhe genossen, von Neuem, noch in der
Mitte der Nacht aufgebrochen, worauf sie am Donnerstag den 28. August zur Messzeit
bei der grossen Stadt Kisch ankamen.
4 Wir sahen früher (Anmerk. 2) dass im X. Jahrhundert die Strasse von Karschi
(Nassaf) mit der von Schehrissäbs (Kisch) eine Station vor dem Eisernen Thor, bei
Kendek, sich vereinigte.
4 Tasch “ Farsange.
4 Im «Tarich-i-Rahim-chäni» ist dieser Fluss •Tttfalaq • oder *Tupalaq% genannt.
Gleichzeitig mit diesem Flusse wird der Fluss (Ab = Wasser) des Qara-Tagh genannt.
Rahim-chän kam mit seinen Truppen an einem Mittwoch von/#rjdr-*-£d/d(Ober-Hissnr)
zum Flusse Qara-Tagh und am Donnerstag zum Tupalaq , wo dann die Festung Ssar-i-
Dschui zerstört wurde. Am folgenden Tage ging man zur Festung Dih-i-nau (= Neu¬
dorf), welche eben so wie Ssar-i-Dschui im Bergthale Nehän gelegen war.
• Journal of the Royal Geographical Society. 1872. Vol. 42. Seite 465.
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derTupalan aber nichts anderes als ein nördlicher Zufluss desSsurchan
ist, welcher bei den Städten Ssar-i-Dshui und Ssar-i-Ossio vorbei-
fliesst. Ein anderer wichtiger Nebenfluss des Amü ist der Kaflrnehän,
der mit dem Tupalan parallel fliesst und von diesem nur durch den
Bergrücken von Baba-tagh getrennt ist.
In den Thälern des Ssurchan und des Kaflrnehän liegen alle Städte
der sogenannten Hissär’schen Provinz, mit Ausnahme der Städte:
Baissun, welche wie schon gesagt mit ihren Dörfern in einem
Bergthale liegt — und Schir-Abäd, die weit nach Süden hinter
einem breiten massigen Gebirge gelegen ist. Wenn wir hier sagen
cmassigen», so geschieht es desshalb, weil die Berge im Westen
von Hissär sich nicht in Form besonderer, sich genau abzeichnenden
Hohenzüge erheben, sondern hohe Plateaus, mit gewissermassen
durcheinander geworfenen kurzen Bergrücken bilden.
Aehnlich wie westlich von Hissär die Stadt Baissun mit ihren Dör¬
fern ein besonderes Bergthal einnimmt, nimmt die Stadt Fais-Abäd
östlich von Hissär ebenfalls ein ähnliches Bergthal ein.
Im nördlichen Theile des Gebietes von Hissär besuchte die Expedi¬
tion alle einigermassen wichtige Städte, als: Dih-i-nau, Jurtschi, Ssar-i-
Dshui, Regar, Karatagh, Hissär, Kaflrnehän, Duschämbe (am Sihdi-
Darja, einem Zufluss des Kaflrnehän). Ueber den Kaflrnehän, beim
Städtchen gleichen Namens, musste man über eine Brücke gehen,
welche jeden Augenblick einzustürzen droht. Noch mehr Schwie¬
rigkeiten machte das Durchschreiten des eiskalten Sihdi-Darja beim
Städtchen Duschämbe. Nur die Erfahrenheit der an solche Ueber-
fahrten gewohnten Einwohner ermöglichte den Uebergang, ohne be¬
sondere Abenteuer auszuführen. Ein ähnlicher Uebergang stand
später über den Kaflrnehän in seinem unteren Laufe, bei Kobädiän,
bevor.
Nachdem die Expedition die Stadt Fais-Abäd 7 , die am Flüsschen
Ilek (ein Zufluss des Kaflrnehän) in einem von drei Seiten umschlos¬
senen Thale liegt, besucht hatte, begab sie sich in das Flussthal
des Ssurch-äb, dessen Quelle noch Fedtschenko in den Alai’schen
Bergen, unter dem gleichbedeutenden Namen Kisil-ssu (rothes Was¬
ser), entdeckt hat. Nach den Aussagen urtheilsberechtigter Einge¬
borener soll der Ssurch-äb wirklich seinen Anfang in dem Alai-
Gebirge nehmen, und hat auch die Expedition den Theil des Fluss¬
thaies Ssurch-äb, über welchen Fedtschenko sehr genaue und rich¬
tige Daten gesammelt und den er in seine Karte vom oberen Amu-
Darja und von Chokand aufgenommen hatte, besucht. Nachdem
die Expedition in der Niederlassung Norak übernachtet hatte, zog
sie stromaufwärts den Ssurch-äb entlang durch eine wilde, enge
Schlucht, in welcher der zu verfolgende Weg über gefährliche und
schlüpfrige Vorsprünge führte, und überschritt den Ssurch-äb bei
der berühmten Brücke von Pul-i-Ssengin (Steinerne Brücke). Hier ist
der Ssurch-äb eingeengt von steilen, hohen Bergwänden, kaum [30
7 Nicht zu verwechseln mit Faiz-Abüd in Badachschän.
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Schritt breit, und stürzt sich mit einem furchtbaren Getöse in die
enge Schlucht hinab. Die Brücke selbst ist nur io Schritt lang und
an zwei vorspringenden Felsen befestigt. — Es muss übrigens hier
bemerkt werden, dass der Name Ssurch-äb im Gebiete vonHissär ganz
unbekannt ist. Hier wird der Fluss von den Einwohner Wachsch
genannt, aber weiter nördlich trägt er die Bezeichnung Ssurch-äb 8 .
a Im Tarich-i-Rahim-chAni ist der Fluss nur unter diesem Namen bekannt. Zwischen
ihm und dem Amü liegt, nach dieser Quelle, die Festung QurghAn-tepe, also wo der
Wachsch sich dem Hauptstrome des Amü nähert. — In den geographischen Quellen
des X. Jahrhunderts wird der Wachsch nur Wachsch-Ab genannt. Sir Henry Rawlinson
hat in der Jahressitzung der Londoner Geographischen Gesellschaft von 1872 (s. Joura.
of the R. Geogr. Society, vol. 42, S. CXCIX) aus Ibn-Dasta’s Beschreibung des Oxus
einen Auszug gegeben, den der zu früh verstorbene Fedtschenko in seinen Anmerkun¬
gen zur Uebersetzung von H. Yule’s Essay auch mittheilt. Da mir das Original dieser
Stelle Ibn-Dasta’s auch vorliegt, halte ich es nicht fUr überflüssig, das was er über das
obere Flussgebiet des Dscheihun (wie der Oxus bei den arabischen Geographen heisst)
giebt, hier zu wiederholen. Ibn-Dasta beginnt also: «Es kommt der Dscheihun aus dem
Lande Tibet von Osten her und fliesst durch das Laud Wach An Man nennt ihn dort
Wach-Ab. Dann fliesst er in die Gegend, welche oberhalb Balch, östlich von ihm liegt.
Darauf nimmt er eine Richtung von Süden nach Norden bis er zu Termedh gelangt; von
hier geht er dann zu Setnm , dann zu Amol, endlich nach Chwarizen «. Nachdem der
Autor das Delta des Dscheihun beschrieben, fährt er fort: «Und es fliessen dem Dschei¬
hun mehrere Flüsse zu; unter ihnen ein grosser Fluss, welcher Wachsch-Ab genannt
wird und aus der Gegend oberhalb des Landes der Charluchen-Türken kommt. Er
fliesst dann in*s Land FAmtr (im Original steht QAmir y Q für /*, die sich nur durch
Punkte unterscheiden; das Arabische kennt kein P), dann in’s Land AMj/(im Original
RAsb y b und / unterscheiden sich wieder nur durch Punkte), dann in’s Land der Ko -
medh (vallis Comedarum der Alten); darauf fliesst er zwischen Bergen, die zwischen
dem Gebiete von lyAschdschird und dem Gau (RustAk) des Landes Chottel , welcher
TemliAt genannt wird, liegen. In dieser Gegend (d. h. wo er zwischen Bergen fliesst)
ist eine Brücke, welche unter dem Namen « Steinerne Brücke • bekannt ist ist auch bei
Ittachri und Ibn-Hauq&l unter diesem Namen bekannt; in der Geschichte Timur’s wird
sie mit ihrem persischen — Pul-i-ssengtn — und türkischen Namen — Tasch-kbpri
—, welche dieselbe Bedeutung haben, genannt). Ueber diese Brücke geht man von
Waschdschird nach Chottel. Rechts von seinem Laufe ist das Iand Chottel und links
das Land Waschdschird. Darauf fliesst er weiter bis er an das Ende von Chottel kommt.
Er ergiesst sich in den Dscheihun beim Orte, welcher Mileh genannt wird, oberhalb
der Stadt Termedh. In dem zwischen diesen beiden Flüssen liegenden Lande Chottel
ist rechts das Gebirge, welches im Osten vom Flusse Wach-Ab berührt wird, und links
der Waschsch-Ab . Rechts vom Wach-Ab ist der von Süden an ihn sich anlehnende und
unter dem Namen Bargin bekannte Gau des oberen TocharistAn. Unter ihnen (den
Flüssen, die in den Dscheihun fallen) ist noch der Fluss, welcher RAmid (so liesst
Rawlinson — im Manuscript des Britisch Museums scheint SAmil oder SAmid zu ste¬
hen) . Er kommt aus dem Lande RAst (im Manuscript wieder RAsb ), welches zwischen
dem Anfang des Gebietes von Waschdschiod und SsaghAniAn ist. Darauf fliesst er ins
Gebiet von SsaghAniAn. In ihn ergiessen sich mehrere Flüsse, die vom Gebirge Bottam
und den Gebirgen SenAm, NihAm und Chawer kommen und Kem-rudh, NihAm-rudh
und Chawer-rudh heissen. Und es fliesst dieser RAmid bis zum Ende des Gebietes
von SsaghAniAn, dann ergiesst er sich in den Dscheihun oberhalb Termedh. Die Ge¬
birgsgegend zwischen dem Flusse RAmid und dem Flusse Wachsch-Ab wird KowAdiAn
genannt Sie gehört zur Administration von Chottel. Rechts vom RAmid , im Osten
SsaghAniAns und links von WeschA-dschird (wohl dasselbe was Waschdschird) fliessen
in den Dscheihun auch Flüsse, welche von Süden aus dem oberen TocharistAn kommen.
Sie heissen.(hier folgen Namen, deren Lesart sehr unsicher ist und die Rawl.
Farghamy Vartan und Dschilan liesst). Das sind die Flüsse, die in den Dscheihun sich
ergiessen. Oberhalb des Landes Chottel und am Wath-Ab genannten Flusse, welcher
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Die äusserste Grenze für die Reise der Expedition waren nach
Osten die Thäler Bal-Dshuan und Kuläb. (Kuläb und nicht Guläb,
wie Fedtschenko schreibt). Bal-Dshuan liegt in einem engen ge¬
wundenen Thale am Ufer eines kleinen, aber reissenden Bergflüss¬
chens, welches von den Einwohnern Ssurch-äb genannt wird. Etwas
weiter südlicher fallt in dieses Flüsschen der Kuläb-Darja, worauf
sich beide vereinigt in den Wachsch ergiessen. Das Thal von Kul¬
äb ist bedeutend breiter als das von Bal-Dshuan. Eng, beinahe
schluchtartig in seinem oberen Theile, breitet es sich in südwest¬
licher Richtung rasch aus, und geht dann in die sumpfige, mit Schilf
bewachsene und von Tigern bewohnte Niederung des Pändsh und
des unteren Wachsch über.
Die Expedition hatte Anfangs die Absicht, bis zum Punkte des
Zusammenflusses des Wachsch und Pändsch vorzudringen, um
diesen Punkt astronomisch zu bestimmen. Zu diesem Zweck begab
sie sich von Kuläb zu der am Wachsch gelegenen befestigten
Stadt Kurgan-tübe, allein schon hier machten sich bei den Mit¬
gliedern der Expedition die schädlichen Einflüsse des Klimas gel¬
tend, welchem sie bisher ausgesetzt waren. In Kurgan-tübe er¬
krankten am Fieber Hr. Wischniewski und der Dollmetscher Kas-
bekow. Zwei Kosaken und ein Dschigit lagen ebenfalls am Fieber
darnieder und phantasirten. Ausserdem litt Hr. Wischniewski
noch an Rheumatismus des Kopfes und der Füsse, Folgen einer
Erkältung, die er sich theils bei dem Durchreiten der wasserreichen
Bergflüsse, theils durch die Einwirkung der kalten, schneidenden
aus dem Lande Tibet kommt und den Anfang des Dscheihun bildet, wird Gold gefun¬
den in Körnern, die grösser als Nadelköpfe sind.
Die letzte Bemerkung Ibn-Dasta’s bringt mich auf die Vermuthung, dass dieChiwesen,
welche Peter dem Grossen vom Goldsand im Quellgebiet des Amü berichteten, ihre Nach¬
richt aus irgend welchem älteren geographischen Werke herausgelesen haben mögen.
Was nun die Nachrichtrn Ibn-Dasta’s über das Quellgebiet des Oxus betrifft, so sind
sie wohl höchst belangreich; ich glaube aber Sir Henry Rawlinson thut den andern
Geographen des X. Jahrhunderts Unrecht, wenn er jene über deren Nachrichten von der
genannten Gegend stellt. 1872 war Prof, de Goeje’s Ausgabe von Ibn-Hauqdl’s Werk
(Leyden 1873) noch nicht erschienen. Ich glaube, dass letzteres und Ibn-Dasta's Werk
in Betreff des Oxus sich vortrefflich ergänzen. Denn über den Wach-db fasst Ibn-Dasta
sich sehr kurz und erwähnt nicht seiner ersten Zuflüsse. Ferner finden sich bei Ibn-
Hauqdl mehrere sehr schätzbare Details über die Reiserouten im Quellgebiet des Oxus.
Auch stimme ich dem verstorbenen Fedtschenko bei, wenn er der Ansicht Sir H. Raw-
linson's, der Wachsch-Ab Ibn-Dasta’s sei nicht der Ssurch-Ab, entgegentritt. Sein RA-
mid scheint der jetzige Kafimehun zu sein. Moqaddessi, wie mir aus einer Copie des
Codex Sprenger Nr. 6 in Berlin bekannt ist, nennt, ausser den Zuflüssen in SsaghAnidn,
6 Zuflüsse des Dscheihun: den Fluss von Hulbuk, den BerbAn, den FArgher, den Fluss
von EndidschdrAgh, den Wachsch-Ab und den Fluss von Kowddian.
Es wäre eine lohnende Mühe, alle auf uns gekommene Nachrichten über das Fluss¬
gebiet des Oxus zusammenzustellen. Andere Arbeiten erlauben mir jetzt und für die
nächste Zukunft ein solches Unternehmen nicht. Hoffentlich wird uns von Sir Henry
Rawlinson die Fortsetzung seiner im 42. Bande des Journals der Londoner Geographi¬
schen Gesellschaft begonnenen geistvollen Monographie über den Oxus nicht mehr
lange vorenthalten! Das vorliegende Material ist bei Weitem noch nicht erschöpft,
wenn auch H. Yule’s Essay und Fedtschenko’s Zusätze zu demselben viel Werthvolles
zusammengebracht haben.
d. 18./30. August 1875. P« X*
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Winde, die aus den Bergschluchten strömen, zugezogen hatte *.
Die Expedition war daher genöthigt, ihren ersten Plan zu ändern,
und, anstatt zum Vereinigungspunkt des Pändsch mit dem Wachsch,
direkt nach Kobädiän zu reisen, mit der schwachen Hoffnung, wenn
vielleicht die Verhältnisse es gestatten, von dieser Stadt aus die Mün¬
dung des Wachsch zu erreichen. Indess verschlechterte sich in Koba-
diän derZustanddesHrn.WischniewskiderArt, dasser unmöglich wei¬
ter reisen konnte. Um keine Zeit zu verlieren, schlug Hr. Majew dem
Astronomen Hrn. Schwarz vor, mit einem Dollmetscher, drei Ko¬
saken und einigen Dschigiten nachBaissun zu reisen,um dort astrono¬
mische Beobachtungen anzustellen und den Breitengrad dieses
Ortes ganz genau zu bestimmen. Dies war um so mehr nothwendig,
als Hr. Schwarz schon auf der Hinreise in Baissun die vom Monde
bedeckten Sterne x Capricornii beobachtet hatte. Ausserdem war
Baissun der Endpunkt der ersten Abtheilung des astronomischen
Theiles der Expedition. In Kobadian blieben die Hrn. Majew,
Wischniewski, 2 Kosaken und 2 Dschigits.
Als nach einigen Tagen der Gesundheitszustand des Hrn. Wisch¬
niewski sich gebessert hatte, vereinigten sich sämmtliche Mit¬
glieder der Expedition in Baissun. Von hier traten sie den Rückweg
über Schehrissäbs und Ssamarkand auf dem Wege von Kalta-
minär an.
Am 13. Juni langte die Expedition in Schaar an, nachdem sie
40 Tage lang die Gebiete von Hissar und Kulab durchzogen
hatte. Am 16. Juni stellten sie sich dem Emir vor, der Tags zuvor,
am 15. aus Kitab in Schaar, der alten Stadt Timur’s, ange¬
kommen war.
Das Resultat dieser Expedition wird eine genaue Karte des Ge¬
bietes von Hissar und Kulab sein, die auf 14, von Hrn. Schwarz
astronomisch bestimmten Punkten basirt ist. Im Verlauf der ganzen
Reise haben die Hrn. Majew und Wischniewski Marschrouten aufge¬
nommen und täglich wurde eine Karte über die durchreiste Gegend
angefertigt, auf welche alle Ansiedelungen und andere Punkte aufge¬
tragen wurden. Ausserdem wurde während der ganzen Reise ein be¬
sonderes Marsch-Tagebuch geführt, in welchem die Entfernungen
(in Tasch) und die, mit dem Compass bestimmten Richtungen der
Wege genau verzeichnet wurden. Endlich ist die von Hrn. Majew
zusammengebrachte entomologische Sammlung Hrn. Oschanin zum
Ordnen übergeben. (Eine weitere genaue Beschreibung dieser Reise
wird fiir die nächste Zeit in Aussicht gestellt).
♦ Die Einwohner von HissAr, Karatagh, Duschämbe und anderer Bergorte tragen
den ganzen Sommer Pelz-Schlafröcke, dessen ungeachtet leiden in diesen Gegenden
sehr viele an Rheumatismus.
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Revue Russischer Zeitschriften
Journal des Ministeriums der Volksaufklärung (Journal minister-
stwa narodnawo prosweschtschenija — )KypHajn> MHHHCTepCTBa
HapOÄHarO IIpOCB'kmeHiil). Juli 1875. Inhalt:
Auszug aus dem ausführlichen Bericht des Hm. Unterrichtsministers für das Jahr
1873. — Regierungsverordnungen. — Das Hypothekensystem und seine Reform. Von
Ph. Sckmigelskij. (Fortsetzung). — Der heilige Synod und sein Verhältnis zu den
übrigen Reichsinstitutionen zur Zeit Peter’s des Grossen. Von N . Wostokow. — Die
Nowgoroder Sophien-Kasse. Von E. Prileschajtw . — Ueber die Reifeprüfungen im
Jahre 1874. — Nachrichten über die Thätigkeit und den Zustand unserer Lehranstalten,
a) Universitäten. — Brief aus Paris. Von L —r. — Abtheilung für klassische Philologie.
In coemtione, matrimonii romani forma, uter vir an femina, emisse videatur. Von E ’.
Werth . — Zur Fra^e über die allmähliche Entwickelung der Casusformen im Lateini¬
schen. Von /. ZuQctajcw.
«Das alte Russland» (Russkaja Starina — Pyccicai* Grapima). —
Herausgegeben und redigirt von M. J, Ssemewskij. Sechster Jahrgang. Heft VII. Juli
1875. Inhalt:
Archimandrit Foti, Prior des Nowgorod’sehen Georgen-KIosters, 1792 — 1838. Bio¬
graphischer Abriss. Von E . P. Kamowitsch, — "Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker:
Abriss seines Lebens und seiner literarischen Thätigkeit Briefe russischer Schriftsteller.
1817 — 1825. Von y. W. Kossow und M, W, Küchelbecker, — Erinnerungen O. A.
Przeclawski’s. Von A, S, Schischkow, — Die französische Armee vor dem Kriege mit
Russland, 1792—1808. Von M. D . — A. S. Dragomyschsky: Briefe an Frau L. J
Karmalin, geb. Welenizyn. 1859—1868. Von W, W, Stassow, — Blätter aus dem
Notizbuche der «Russkaja Starina» : I. Ein Anzeigeblatt zur Zeit Peter’s des Grossen.
Von N. S. Tichonrcnvow. 2. Die Abfertigung der Söhne russischer Kaufleute nach
England im Jahre 1766. 3. Pugatschew’sche Blätter, 1774. 4. Ein Projekt zur Ent¬
fernung der Türken vom Schwarzen Meere, 1780. 5. Zwei Befehle Kaiser Paul’s vom
Jahre 1799. 6. P er plan Figner’s, 1812. 7. Eine hydrographische Karte Russlands
vom Jahre 1842. 8. Ueber das Ende A. P. Jermolow’s, 1861. Von M % P. Pagodin .
9. Gedichte Petschorina’s. Von N, S . Tichonrawow, 10. Erzählungen und Anekdo¬
ten. — Das alte Petersburg: Neuigkeiten, Anzeigen und Verordnungen der Regierung
im Jahre 1798. — Bemerkungen zum Portrait des Archimandrit Foti. — Bibliogra¬
phische Mittheilungen über neue russische Bücher (auf dem Umschläge).
Der «europäische Bote» (B^ctheki» EBponu — Westnik Jewropy).
X. Jahrgang. 1875. Juli. Inhalt:
Michel Angelo Buonarotti als Architekt, Bildhauer und Maler, 1475—1564. Von
A, Prachow. — Pierre Josef Proudhon, Correspondence de P. J. Proudhon. Zweiter Ar¬
tikel. Von D—jew. — Deutschland am Vorabend der Revolution. Historische Stu-
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dien. XIIL Das österreichische Habsburg. XIV. Das preussische Hohenzollem. XV,
Die deutsche Einigkeit bis zur Zeit Friedrich’s des Grossen. Von S . Traczewsky. —
Aus Heine: «Lyrische Gedichte». Von A. Giljarow . — Juden und Polen in den süd¬
westlichen Gouvernements. Nach neuen Materialien für die südwestlichen Gouverne¬
ments. I.—IV. Von N. P. Dragomarow. — Wissenschaft und Literatur im heutigen
England. — Briefe aus England. Zweiter Brief. Von A Regnard. — Amerikanische
Pioniere. I.—TH. Von A. Kurbshp. — Der Emigrant. Satyrischer Roman von Jan
Lam. Von E. L. — Die ersten'Vorstellungen des Lustspiels «Verstand schafft Lei¬
den» (Pope oTb yna — Goijä ot uma), 1827—1832. Aus den Erinnerungen eines Mit¬
beteiligten. Von Af. G. — Chronik: Psychologische Kritik. Bemerkungen J. Ssama-
rin’s zu dem Werke «Die Aufgaben der Psychologie». (Schluss.) Von K. D . Kawelin .
— Rundschau im Inlande. — Pariser Briefe: IV. Charles de Rlmusat. Das Wett¬
rennen und das Spiel. Die Jubelfeier zur Erinnerung an Boieldieu. Die Beurteilung
Lafontaines. Das tragische Paris. Von E. Z—l. — Was soll man vom Spiritismus
denken? Anlässlich des Prof. Wagner’sehen Briefes. III. Von A. S, Schklarcwsky . —
Nachrichten. — Bibliographische Blätter.
«Militär-Archiv» (Wojennij Ssbornik —BoeHUMft C6opira*j>.) —
Achtzehnter Jahrgang. 1875. Nr. 7. Juli. Inhalt:
Das Isum'sche Husaren-Regiment in den Kriegen 1812, 1813 und 1814. (Eine Epi¬
sode aus der Geschichte des Regiments). Von N . Gerbcl. — Ueber Wachtposten und
Recognoscirung im Kriege. Von K. Emroth . — Eine kavaleristische Notiz. Von Ni¬
colai Gorjatschew . — Der Dienst des Adjutanten in Krieg- und Friedenszeiten. Von A.
J . Westenrieck. — Ueber die Beschäftigungen der Officiere zur Vervollkommnung in
der Theorie und Practik der Kriegsangelegenheiten. Von P. L . — Die Junkerschulen
im Jahre 1874. I. Artikel. Von • • •. — Ueber die Reitpferde der Officiere bei der
Feld-Artillerie zu Fuss. Von A. Pinjajau . — Bemerkung über den Transport mit Ka-
meelen. Von L. Af, — Bemerkungen Über die unter dem Kommando des Sadyk-Pascha
gewesene türkische Kavallerie und slavischp Legion. Von A. Tschaikowskij. —
Bibliographisches. — Militärische Umschau in Russland. — Militärische Umschau im
Auslande.
«Russisches Archiv» (Russkij Archiw — Pyccdfl ApxnBi>.) —
herausgegeben von Peter Bartenjtiu. XIII. Jahrgang. 1875. 7. Heft. Inhalt:
Lebensbeschreibung des Fürsten A. D. Menschikow, nach neu entdeckten Papieren.
I—III. Von H. W. Jessipow . — Bilder aus den kleinrussischen Familien. Materialien
zur Geschichte der Gesellschaft im XVII. und XVIII. Jahrhundert Gesammelt von A.
Ad. Lasarewsky. — Erinnerungen aus der Dienstzeit W, L. Tolstoi’s. 1847. — Moskau
im Jahre 1812. Nach neu entdeckten Papieren. I—II. Von A. A. Popow . — Papiere
des Fürsten J. W. Wassiltschikow zur Geschichte des Ssemenow’schen Regiments. V —
VI. (Briefe an den Kaiser und ein Brief an den GrossfUrsten Nicolai Pawlowitsch). —
Die Verhaftung Gribojedow’s im Jahre 1825. Aus den Erinnerungen N. fV. Schitna -
nowsky’s. — Aus den Tagebüchern Varnhagen von Ense’s. Mit einem Vorwort und
Anmerkungen. Von A. A. Tschumikow . — In Sachen der Uniirten. Bemerkungen von
L. Slowatschewskij. — Genealogische Anzeige von W ’. Z . Hertsig . — Verbesserungen.
Von J. P. Liprandy .
Y
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Russische Bibliographie.
Kossowitsch, I. Römische Alterthümer. Nach Bojesen. Warschau
8°. 122 + XV. S. (Koccobmhi, HniaTM. Phmckih apcbhocth. Ilo
Boe3eHy. BapmaBa 8 a. 122 + XV. CTp).
Chandrikoff, N. Lehrbuch der russischen Geschichte. 3. vermehrte
und verb. Ausgabe. Moskau. 8°. 296 S. (XaHAPNKOffb, H. yueÖHHn.
pyccKofl HCTOpin. Hsa- 3 -e, ncnp. h aodoji., Mocua, 8 4. 296 crp).
Beschreibung der Reise des Kaiserl. römischen Gesandten Nico¬
lai Warkotsch nach Moskau vom 22. Juli 1593. Moskau. 8®. XII +
36 + VIB S. (OnncaHie nyremecTBia bt» MocKBy nocjia pHMCKaro
HMnepaTopa, HmcoAaa BapKona, er, 22-ro Iiojih 1593 r. MocKBa.
8 a. XII + 36 + VIII exp).
Briefe Sr. Eminenz des Bischofs von Pensa und Ssaratow Inokenti’s
an die Fürstin S. S. Meschtschersky. 1817—1819. Moskau. 8°. XII
+ 77 + 1 S. (ÜHCbMa npeocBameHHaro HmioKeHTix, enncaona
neHseHcaaro h capaTOBCKaro, kt. KHsrnn-fe Co<t>in CeprkeBH-fe Me-
mepexofl. 1817—1819 r. MocKBa. 8 a. XII + 77 + 1 crp).
Russische Pilgrimme in Jerusalem. Moskau. 8°. IX + 99 S. (Pyc-
exie noiuioHHHKH bt> IepycaxHM'fc. MocKBa. 8. a. IX + 99 crp).
Gurljand, Jakob. Juristische Beurtheilung notarieller Fragen und
einige Bemerkungen aus der Praxis. Charkow. 8°. IV + 249 S.
(r ypjMHAV flitOB'b. lOpHAHHeacift pa 36 opi> HOTapiajiBHUXi. BonpocoBT.
H pa 3 HUfl 3 aM%TKH H 3 T. npaKTHKH. XapbKOBT.. 8 A- IV + 249 Crp).
Sammlung von Girkularen, herausgegeben von der Kaiserl. Kon-
trole in den Jahren 1865—1873. D. Buch. St. Petersburg. 4 0 . x -f-
LXVII4- 446 4- 40 S. (CÖopHHKb iiBpKyjiapoBT., H3AaHHbixT> no
rocynapcTBeHHOMy KoHTpoAio bt> 1865—1873 r. Kh. II. Cn6. 44.
1 4- LXVII4 446 + 40 CTp).
Normane, L Das Spectroscop und seine Anwendung. Uebesetzt
und vervollständigt von P. Krutitzky. Mit Abbildungen. St. Peters¬
burg. 8°. VI4- 88 S. u. 1 B. (Hopmurb, Jloiwiepi. CneK-rpocKom. h
ero npHM'feHeHia. Ct> H'feM. nepes. h Aon. II. KpyrHTCKift. Ct> pnc.
Cn6. 84. VI -f 88 CTp. h 1 4.
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lg2
Ssabanejew, L P. Beschreibung und Abbildung von Fischen die
in den Gewässern Russlands Vorkommen. Mit 93 Abbildungen. Mos¬
kau. 8°. I + LXXIV +19+16 S. (CatiaHteBl, A- fl. OnncaHie h
H36pa)iceHU pbi6*b; BCTptvaiomHxcÄ bt> Pocciöcicoft HMnepin. Cy
93 pnc. MocKBa. 8 a. 1 + LXXTV +19+16 cTp).
Redkin, A. Politisches Archiv. Nachschlagebuch für Zeitungsleser.
2. Lfg. Deutschland. St. Petersburg. 8°. 178 S. (PtAKHHY, A. IIojiii-
THHecKiß c6opHHK*b. CnpaBOHHax KHHra ajir HHTaTejieft ra 3 en>.
Bun. 2. TepMaHix. Cn6. 8 a. 178 crp).
Filippow, M- A. Die Gerichtsreform in Russland. III. Band. Gerichts¬
ordnung. II. Theil. St. Peterburg. 8°. VIII + 332 S. (<t>MJiMnnoBY, M. A.
CyAe6Hax pe<x>opMa by Poccin. T. III. CyAoycTpoftcTBo. H. II.
Cn6. 8 a. VIII + 332 CTp).
Tschebyschew-Dmitriew, A. Die russische Criminal-Gerichtsordnung
vom 20. November 1864. St. Petersburg. 8°. 497 S. (HetiuuiesY-
AMNTpieBY, A. PyccKoe yrojioBHoe cyAonpon 3 BOACTBO 20-ro Hoxöpa
1864 r. Cn6. 8 a. 497 CTp).
Zitowitsch, P. P. Vorlesungen über das Handelsrecht. 2. Lfg.
2. Heft. Odessa. 8°. 374 S. (I^HTOBHMY, fl. fl. üemria no TOproBOMy
npaßy. Bun. 2. TeTp. 2. OAecca. 8 a. 374 CTp).
Verhandlungen der Kijewer Naturforschergesellschaft. IV. Band.
1. Lfg. Kijew. 8°. 76 S. ( 3 anncKH KieBcicaro oömecTBa ecTecTBOH-
cnMTaTeAeft. T. IV. Bbin. 1. KieBY. 8 a. 76 CTp).
Verhandlungen der Neurussischen Naturforschergesellschaft. III.
Band. 1. Lfg. Odessa. 8°. 46 + 8 S. u. 3 B. Zeichn. ( 3 anncKH hobo-
pociftcicaro oömecTBa ecTecTBoncnbiTaTeJieft. T. III. Bbin. 1. OAecca.
8 a. 46 + 8 CTp. h 3 ji. puc).
Danenberg, K. Zur Geschichte und Statistik des Gymnasiums zu
Mitau. Mitau. 8°. XLIV + 302 S.
Des Grafen Ludwig August Mellin bisher unbekannter Original¬
bericht über das angebliche Griechengrab an der livländischen Mee¬
resküste. Mitgetheilt von G. Berkholz. Riga. 8°. 22 S.
Pharmakowskij, W. Die russische Geschichte mit Beifügung des
Nothwendigsten aus der allgemeinen Geschichte. Nach der Grube’-
schen Methode. 2. Aufl. Wjatka. 8°. 229 S. (<l>apMaKOBCKifl, B. Pyc-
cicaa HCTopix cy npncoBOKynjieHieMY HeoöxoAHMbixY CB'kA'fcHiß
H3i> HCTopin Bceoömeft. no cnocoöy Tpyöe. H 3 A. 2 -e. BaTica.
8 a. 229 CTp.)
Terentjew, A. M. Russland und England in Mittel-Asien. St. Pe¬
tersburg. 8°. XIII + 361 S. (TepoHTbeBY, A. M. Poccix h Ahtjidi by
C peAHeft A31H. Cn6. 8 a. XIII + 361 CTp.)
Herausgeber und verantwortlicher Redacteur Carl Röttgrr.
AosBOJieHo ueH3ypoio. C.-rieTep6ypn>, 22-ro ABrycra 1875 roAa.
A 1 " N
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Zur Charakteristik der Kaiserin Katharina U.
(Schluss).
Vergegenwärtigen wir uns in kurzen Zügen, in wiefern für die
allgemeine europäische Geschichte jener Zeit in Chrapowitzkij’s
Tagebuche eine Quelle ersten Ranges vorliegt.
Die polnischen Angelegenheiten erfreuten sich in jenen Jahren
nicht so sehr der Aufmerksamkeit Katharina's. Die orientalische
Frage und der Konflikt mit Schweden nehmen die Kaiserin sehr viel
mehr in Anspruch. Nur selten und ausnahmsweise ist von Polen die
Rede. Bei Gelegenheit der Reise Katharina’s in den Süden (1787)
ist allerdings der Zusammenkunft der Kaiserin mit dem Könige
Stanislaus August Ponjatowskij erwähnt, aber wir erfahren nichts
darüber, inwieweit bei diesem Gespräche politische Fragen erörtert
wurden. Nur selten (u. A. im Januar 1789, S. 232) ist der polni¬
schen Reichstage erwähnt und dabei bemerkt, wie einzelne Mag¬
naten auf denselben nicht immer zu Gunsten Russlands wirkten.
Von Interesse ist die Bemerkung Katharina’s am 7. März 1792:
einer der undankbarsten Polen sei der König Stanislaus Ponjatowskij
selbst. (S. 392). Sonst ist kaum an irgend einer anderen Stelle des
Tagebuchs der polnischen Dinge erwähnt.
Ebenso werden nur sehr selten und ausnahmsweise die Angele¬
genheit der entfernter liegenden Staaten, wie z. B. England’s oder
Spanien’s u. dgl. berührt. Von König Georg III. und dessen
Krankheit spricht, wie wir bemerkten, Katharina öfter; ebenso
beobachtet sie mit Spannung die Haltung Englands in Betreff der
orientalischen Frage. Die inneren Angelegenheiten Englands haben
für sie wenig Interesse. Hier und da wird wohl der stattfindenden
Ministerwechsel erwähnt, wie denn u. A. Katharina Anfang 1789
den Eintritt Portland’s und Fox’s ins Ministerium mit besonderer
Freude begrüsste (S. 234). Sonst ist nur die Besorgniss merkwürdig,
mit welcher Katharina einem etwaigen Bruche mit England, nament¬
lich im Frühling 1791, entgegensieht.
Bnp. Bcnxe. Bd. VU. I«
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Sehr ausführlich wird dagegen das Verhältniss Russlands zur
Pforte behandelt. Ein Kapitel der Geschichte der orientalischen
Frage in jener Zeit bildet die Reise Katharina’s im Jahre 1787, an
welcher der Geheimschreiber der Kaiserin natürlich Theil nahm und
über welche er zahlreiche, wenn auch meist ganz kurze Bemerkungen
mittheilt. Katharina’s mitunter launige Bemerkungen über die ihr
zu Ehren veranstalteten Empfangsfeierlichkeiten, Einzelnheiten über
die Reiseroute, über den Aufenthalt des Hofes und der übrigen Rei¬
senden in Kijew, über das Zusammentreffen mit Kaiser Joseph II.,
über die Reise auf dem Dnjepr und in der Krim u. s. w. sind von
nicht geringem Interesse.
Aus einzelnen Bemerkungen geht hervor, wie ungeduldig Katha¬
rina war, mit der Pforte zu brechen, das Kriegsglück zu versuchen,
mit welcher Spannung sie den Kriegsereignissen folgte, wie viel
Vertrauen sie zu den Fähigkeiten des Fürsten Potemkin hatte,
welcher im Süden den Oberbefehl führte, wie namentlich die Bela¬
gerung Otschakows die Kaiserin in eine gewaltige Spannung ver¬
setzte. Da finden sich Fragmente aus den Briefen Potemkin’s an
die Kaiserin und umgekehrt, genaue Angaben über den Ausgang
einzelner Gefechte und Schlachten, über die glänzenden Geschenke,
welche Potemkin zur Belohnung für seine Siege erhielt, allerlei Ur-
theile über einzelne Generale und Officiere, wie z. B. über Nassau-
Siegen, Paul Jonas u. A., und mancherlei höchst anziehende Details
über Russlands Beziehungen zu den Westmächten in dieser Zeit.
Weit ausführlicher ist Chrapowitzkij in Betreff des schwedischen
Krieges u.A. schon darum, weil die Gefahr, die vonSeiten Gustafs UI.
drohte, in St. Petersburg unmittelbar empfunden wurde und die
Kriegsereignisse zum Theil sogar die Umgebung der Hauptstadt
zum Schauplatze hatten. Katharina's Aufregung bei den täglichen
Vorkommnissen in Betreff dieser Ereignisse lehrt uns, wie gross die
Gefahr, wie bedenklich die Lage war. Wir können genau verfolgen,
wie mehrere Wochen hindurch die Ungewissheit Katharina quält,
ob Gustaf UI. Russland angreifen werde oder nicht, und wie sie
den lebhaften Wunsch hat, von Schweden unbehelligt zu bleiben.
Bei jeder Nachricht von den Rüstungen in Schweden horcht man
ängstlich auf. Es werden spitze Reden über Gustaf UI. geführt,
wie denn u. A. Katharina bemerkt, es liege dem Könige vielleicht
1 s. meinen Aufsatz: »die Reise Katharina*s II. nach Siidrusslaud im Jahre 1787» in
der «Russ. Revue» 1873. (Bd. II, p. 1-33 und 97—132).
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daran, Finland los zu werden, oder wie sie denn ein andermal ihn als
einen «Verrückten» bezeichnet. Die gedrückte Stimmung, in welcher
man sich befand, spiegelt sich in der Aeusserung der Kaiserin: «Es
ist wahr: Peter I. hat die Hauptstadt zu nahe (an der Grenze) ge¬
baut». (S. 97).
Katharina ist in dieser Zeit sehr thätig. Sie lässt sich Karten
vom Kriegsschauplätze geben und folgt allen Details des Feldzuges;
sie redigirt gegen Gustaf HI. gerichtetete Staatsschriften; sie sucht
sich über alle Einzelnheiten der Ausrüstung der russischen Flotte
und des Heeres zu unterrichten; sie correspondirt mit den Feld¬
herren und Admiralen. So erfahren wir denn sehr viel über den
Ausgang der Schlachten, über alle Operationen zu Wasser und
zu Lande, über die ConfÖderation von Anjala, die Stimmungen in
Schweden u. s. w. Es war eine verwickelte Lage: Katharina war
besorgt; häufig stossen wir in dem Tagebuche auf Aeusserungen
wie: «nicht heiter», «Verstimmung* u. dgl. Wie der plötzlich durch
die Verschwörung der finnischen Officiere gegen Gustaf III. herbei¬
geführte Umschwung von der Kaiserin als eine Art Rettung für
Russland angesehen wurde, zeigt ihre Aeusserung, dass sie darin
einen unmittelbaren Eingriff der Vorsehung zu Gunsten Russlands
erblickte (s. S. 118). Persönlich verhandelt nun die Kaiserin mit
den Hauptgegnern des schwedischen Königs, mit Sprengtporten
und Jägerhorn, und zieht sehr geschickt viel Vortheil aus der Span¬
nung, welche zwischen Gustaf III. und dessen Unterthanen herrschte 1 .
«Heiter», heisst eine Notiz in den Aufzeichnungen des unermüd¬
lichen Beobachters am politischen Barometer (S. 122). Katharina
bemerkt im Gespräche mit Chrapowitzkij, wie die Lage jetzt,
nachdem man von der ConfÖderation von Anjala Nachricht habe,
eine ganz andere sei, als in dem Augenblicke, da der diplomatische
Bruch mit Schweden erfolgte. Ueber das Verhalten der auf
Russlands Hülfe hoffenden finnischen Officiere ist dieses Tagebuch
geradezu Hauptquelle. Hastfehr’s Verrath u. A. wird durch das
Tagebuch entdeckt, während die historische Literatur über diesen
Punkt bisher nur einzelne Andeutungen enthielt. Ebenso erfahren
wir mancherlei über die Beziehungen Russlands zu Dänemark und
das Bündniss beider Staaten gegen Schweden, über das Einschreiten
Preussens und Englands zu Gunsten Schwedens, und die dadurch
hervorgerufene Erbitterung Katharina’s. Einzelne Sätze aus den
1 s. m. Abhandlung über die ConfÖderation von Anjala in der «Baltischen Monats¬
schrift* Jahrg. 1870.
*3
/
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Depeschen der im Auslande befindlichen russischen Gesandten wer¬
den zum Theil wörtlich mitgetheilt, ebenso manche Sätze aus dem
Briefwechsel Joseph’s II. mit der Kaiserin. Wirersehen aus diesen
Bemerkungen, wie Katharina stolz darauf war, dass Russland sein
Ansehen, seine Stellung, seine Integrität behauptete, allen Schwie¬
rigkeiten Trotz bot und seine Feinde demüthigte. So ist denn das
Tagebuch in Bezug auf diese Ereignisse so inhaltreich, wie ein Blau¬
buch und eine Zeitung zugleich. Die Rösselsprünge der Diplomatie,
die Hin- und Hermärsche der russischen und schwedischen Truppen,
die Urtheile der Kaiserin und hervorragender Staatsmänner, allerlei
Gerüchte über die Vorgänge und Entwürfe der kämpfenden Par¬
teien, hier und da genaue Angaben über die Mittel, welche den
Streitenden zur Verfügung stehen, alles dieses ist im Tagebuche
enthalten und im Mittelpunkte steht die Kaiserin, welche in den
Tagen, da der Frieden von Werelä geschlossen wurde, die Aeusse-
rung that: «Ich habe viel Sorge gehabt und Alles gelenkt wie ein
kommandirender General». Sie meinte, sie sei entschlossen ge¬
wesen, im Nothfall die letzten Reservetruppen persönlich gegen den
Feind zu führen: «Ich habe nie verzagt», sagte sie, «und hätte
nötigenfalls im letzten Bataillon-Carr6 mein Leben gelassen»
(S. 345). Mit Genugthuung meint sie: «In den schwierigen Verhält¬
nissen der letzten Jahre kann ich mit der Festigkeit meiner Haltung
zufrieden sein: das Russische Reich sieht doch dem österreichi¬
schen Hofe nicht ähnlich» (S. 353). Sie hatte allerdings Grund mit
sich zufrieden zu sein.
Von Interesse für die Geschichte Westeuropa^ endlich sind eine
Menge, die französische Revolution betreffenden Notizen in dem
Tagebuche Chrapowitzkij’s. Wir erfahren u. A., wie Katharina sich
für den Halsbandprocess des Kardinals Rohan, für die Notabein¬
versammlung, für den Streit mit den Parlamenten und für die Eröff¬
nung der Nationalversammlung interessirte, wie die Ereignisse im
Sommer 1789, u. A. der Sturm der Bastille, sie in Unruhe ver¬
setzten, wie* sie schon damals für das Leben Ludwig’s XVI. zu
zittern anfing und ihm das unglückliche Loos Karl’s I. von Eng¬
land prophezeite, nachdem sie von den Ereignissen am 5./6. Ok¬
tober in Versailles Nachricht erhalten hatte. «Was würden Boileau
und Ludwig XIV. sagen, wenn sie jetzt plötzlich wieder aufer-
stünden», ruft die Kaiserin aus (S. 316). Dann finden sich einige
kurze Angaben über Katharina's Beziehungen zu den französischen
Emigranten, welche am russischen Hofe erschienen, über die Auf-
A
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nähme, welche der Herzog von Artois daselbst fand, über die Span¬
nung, mit welcher die Kaiserin den Feldzug der Verbündeten nach
Frankreich im Herbst 1792 verfolgte. Die Nachricht von der Flucht
des Königs aus Paris erfreute sie ebensosehr, als die Verhaftung
der königlichen Familie in St. Manchould und Varennes ihr
Schmerz und Kummer bereitete. «Je n’avais qu’un moment de
joie», sagte sie bei dieser Gelegenheit (S. 366). Wir erwähnten be¬
reits, wie die Nachricht von der Hinrichtung des Königs Katharina
tief erschütterte. Als sie von der Art der Abstimmung über das
Todesurtheil hörte, bemerkte sie: «Cest une injustice criante meme
envers un particulier». Ihre Erregung spricht sich in den Worten
aus: «il faut absolute ment exterminer jusqu’au nom des Frangais»;
oder in der Aeusserung: «l*£galite est un monstre, qui veut etre roi» *.
Doch mögen diese Andeutungen über den Inhalt des Tagebuches
genügen, um einen Begriff davon zu geben, wie wir in demselben
eine der anziehendsten und reichhaltigsten Quellen über die Ge¬
schichte jener Jahre besitzen.
Wir schliessen mit einigen Bemerkungen über die Edition selbst,
indem wir die Frage zu beantworten suchen, ob und in wie weit
der Herausgeber, Hr. Barssukow, seiner Aufgabe gerecht gewor¬
den ist, und ob diese dritte Ausgabe des Tagebuches Chrapo-
witzkij’s die beiden ersteren übertrifft oder nicht.
Zum ersten Mal erschien das Tagebuch Chrapowitzkij’s gedruckt
in der historischen Zeitschrift «Vaterländische Memoiren» (Orene-
CTBeHHMü 3 anncitH), welche in den zwanziger Jahren von Paul
Sswinjin (CBHHbmn») herausgegeben wurden, in einer ganzen Reihe
von Bänden dieser Zeitschrift zerstreut, in viele Abschnitte zertheilt,
hier und da mit einigen Auslassungen. Dem Abdrucke lag die Origi¬
nalhandschrift des Tagebuches zu Grunde, wahrscheinlich dieselbe
von dem Verfasser herrührende, welche auch der dritten, jetzt von
Hrn. Barssukow veranstalteten Edition zu Grunde gelegen hat.
Bei der ersten Edition wurde Manches, das Privatleben Katharina’s
betreffende, fortgelassen. Von einem Commentar wurde bei der
ersten Edition völlig abgesehen.
Zum zweiten Mal veranstaltete Hr. Gennadi den Abdruck des
Tagebuches in der Zeitschrift der historischen Gesellschaft zu
Moskau im Jahre 1862 (HTema MocxoBCKaro OömecTBa Hcropia h
1 s. meinen Aufsatz: Katharina II. und die französische Revolution in der «Russ
Revue» 1873. (Bd. IQ).
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198
ApeBHOCTeft 1862. 2. und 3. Heft), wobei nicht die Originalhand¬
schrift, sondern zwei Abschriften zu Grunde lagen. Die Sonder¬
abdrücke dieser Edition sind bereits seit längerer Zeit ausverkauft.
Der von Hm. Gennadi verfasste Commentar bestand meist aus
ganz kurzen biographischen Notizen in Betreff der Personen, deren
in dem Tagebuche erwähnt ist, und war nicht besser und nicht
schlechter, als viele derartige Arbeiten, welche in neuerer Zeit in
Russland erschienen. Hier und da finden sich Erläuterungen nicht¬
biographischer Art, Hinweise auf die einschlagende Literatur,
literarhistorische Notizen in Betreff der Theaterstücke Katharina's
und sonstige Bemerkungen, welche in der That den Namen eines
Commentars verdienen. Indess Hess' Hr. Polenow in der Zeit¬
schrift «das Russische Archiv» (1867, S. 921 ff) eine sehr scharfe
Kritik des von Hm. Gennadi verfassten Commentars erscheinen,
der allerdings etwas flüchtig und oberflächlich zusammengestellt
war. Ausserdem wurde von Hrn. Polenow dem Herausgeber der
Vorwurf gemacht, dass er bei seiner Edition nur die ihm zu Gebote
stehenden zwei Abschriften, nicht aber die nach der Originalhand¬
schrift gedruckte Sswinjin’sche Ausgabe berücksichtigt hatte, was
allerdings eine unverzeihliche Unterlassungssünde war. Die hier und
da vorkommenden Fehler des Commentars sind relativ unbedeutend
im Vergleich mit der Nichtbeachtung der Verschiedenheit der Les¬
arten in der Originalhandschrift und in den Kopien. Hr. Polenow
findet es schmerzüch, dass mit so werthvollen historischen Quellen
so leichtsinnig und nachlässig umgegangen werde, und wir sind
geneigt ihm beizustimn\en, obgleich wir an dergleichen Erschei¬
nungen bereits genügsam gewöhnt sind. Der letzte Herausgeber
des Tagebuches, Hr. Barssukow, scheint die Entrüstung des
Hm. Polenow über Hm. Gennadi vollkommen zu theilen. Er be¬
merkt wenigstens, nachdem er der zweiten Ausgabe erwähnt hat
(S. X der Vorrede): «Ich halte es für überflüssig den Werth dieser
(zweiten) Edition zu würdigen. Eine eingehende Analyse derselben
erschien bereits im Russischen Archiv».
Uns scheint, es wäre fiir Hrn. Barssukow von Nutzen gewesen,
sich eingehender mit den zwei früheren Editionen zu beschäftigen
und sich über die Leistung Hrn. Gennadijs ein Urtheil zu bilden.
Statt so wegwerfend über die zweite Edition zu reden, hätte er
Manches aus derselben lernen können. Wir finden nicht, dass
Hr. Barssukow seine Sache irgendwie besser gemacht hätte, als
Hr. Gennadi, während es doch nahe gelegen hätte, die Ausstel-
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199
lungen des Hrn. Polenow, die er jedenfalls gelesen haben muss,
zu beherzigen.
Hr. Barssukow berichtet über die Art, wie er dazu gekom¬
men sei, eine Ausgabe des Tagebuches zu veranstalten, Fol¬
gendes. Er hatte im Frühling des Jahres 1872 von dem Fürsten
Wjasemski den Auftrag erhalten, dessen Papiere zu ordnen. Unter
anderen werthvollen Handschriften fand sich die Originalhandschrift
des Tagebuches Chrapowitzkij’s, welche der bekannte Dichter
Shukowskij in den vierziger Jahren dem Fürsten Wjasemskij ge¬
schenkt hatte. Der Letztere gestattete nun dem Hrn. Barssukow die
Herausgabe der Handschrift Auf den Rath des Fürsten wandte
sich der Herausgaber an den obengenannten Hm. Polenow mit der
Bitte, ihn bei dieser Arbeit zu unterstützen. Die Beschreibung der
Beschaffenheit der Handschrift — in zwei Bänden von 308 und
170 Seiten in prächtigem Einbande, ist sehr kurz und ungenügend.
Es findet sich im Grunde nur die Bemerkung, dass die ganze Hand¬
schrift Autograph Chrapowitzkij’s, sehr fein geschrieben sei, keine
oder so gut wie gar keine Correkturen enthalte und dass die Seiten
ganz ausgefüllt seien, ohne das der Verfasser einen Rand übrig
gelassen habe.
Seltsamerweise ist die Frage gar nicht aufgeworfen worden, ob
wir es hier mit dem eigentlichen Original, d. h. mit dem Tage¬
buche selbst, wie es allmählich entstand, zu thun haben, oder mit
einer von dem Verfasser selbst angefertigten späteren Reinschrift.
Eine solche Hesse sich, insofern sie von Chrapowitzkij herrührte,
ebenfalls als Original bezeichnen. Ob nun die beiden Bände die
erste Redaktion oder eine Kopie enthalten, muss beim Studium der
Handschrift unschwer zu ermitteln sein. Hr. Barssukow lässt uns
darüber im Dunkeln, ob er sich auch nur eine derartige so nahelie¬
gende Frage aufgeworfen habe oder nicht. So haben wir es denn
hier schon mit einer nicht zu rechtfertigenden Unterlassungssünde
des Verfassers zu thun.
Ferner ist nichts über die Berücksichtigung der früheren Edi¬
tionen gesagt, was um so näher gelegen hätte, als ja derselbe
Hr. Polenow, welcher Hrn. Gennadi so unbedingt verurtheilt, diese
dritte Edition hat besorgen helfen >.
* Diese Thatsache ist so auffallend, dass wir den betreffenden Passus aus der Vor¬
rede des Hrn. Barssukow hierhersetzen: «IlpucTynafl in» HacTomneuy H3AaHiio Ä hcb-
Htnca XpanoBHQicaro, h, no cotrhry khssa H. A. BroeMCKaro, oöpaTiuc* n> na*
rfecTHOMy nameuy yueHouy J\. B. IlojrfcHOBy, KOTOpwft ct» ÖJiarocjtnoHHOio totob-
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200
Wir können sehr zahlreiche Fälle anführen, bei denen die Lesar¬
ten der ersten und zweiten Edition differirten und dieser Unterschied
sogar den jeweiligen Inhalt und Sinn änderte, und bei denen gleich¬
wohl die Herausgeber der dritten Edition sich gar nicht die Mühe
genommen haben, die Redaktionen der früheren Ausgaben mit ihrer
Handschrift zu vergleichen. Dieser Operation hätte das Studium
der Handschriften, nach denen die verschiedenen Herausgeber ar¬
beiteten, vorausgehen, es hätte die Frage aufgeworfen und, wenn
möglich, beantwortet werden sollen, ob nicht etwa die Handschriften
in gewissem Zusammenhänge mit einander stehen, ob nicht eine der¬
selben nachweisslich das ursprünglich von Chrapowitzkij geführte
Tagebuch, ob nicht die eine derselben eine Abschrift der ande¬
ren sei und, wenn dieses der Fall, welche Verschiedenheiten des
Textes etwa der Flüchtigkeit des Abschreibens zugeschrieben wer¬
den könnten u. dgl. Von der Nothwendigkeit solcher Studien haben
indessen, wie leicht zu beweisen ist, weder Hr. Barssukow noch der
nach den obengenannten Aeusserungen des Hm. Barssukow mitver¬
antwortliche Hr. Polenow keine Ahnung. Sie thun, als gäbe es gar
keine anderen Handschriften und Editionen, als hätten sie nur die
in den Papieren des Fürsten Wjasemskij gefundene Originalhand¬
schrift mechanisch abzudrucken, während man doch wenigstens von
Hrn. Polenow erwarten konnte, dass er die von ihm vor sieben Jah¬
ren veröffentlichten Lehren und Ermahnungen in Bezug auf die zu
lösende Aufgabe, d. h. in Betreff einer solchen zu veranstaltenden
Ausgabe, in so kurzer Zeit nicht völlig vergessen werde.
Führen wir zunächst einige augenscheinliche Fehler an, welche in
der zweiten Edition sich befanden, von Hrn. Polenow scharf gerügt
wurden und sich dennoch in der dritten Edition wiederfinden, ohne
dass auch nur mit einem Worte auf die offenbar correktere Lesart
der ersten Edition hingewiesen worden wäre.
Am 8. April 1787 ist von dem ehemaligen Chan Schagin-Ghirei die
Rede. Bei Gennadi heisst es, man habe ihn zwei Mal unterstützt
(noAKp*hnjixjiH); Hr. Polenow hielt im Jahre 1867 die Lesart bei
Sswinjin «noARynajiii» — man habe den Chan zweimal bestochen —
für richtiger (s. «Russ. Archiv» 1867, S. 926); in der neuen Aus¬
gabe steht indessen trotzdem uud ohne irgend eine Erläuterung
< noAKp’fenjuuiH ».
Hocriio, Bceraa Bcrp^naeMoio bt» jhoahxi» hcthhho o6pa3osaHHbixi>, HS-baomn» corjia«
cie Ha Moto npocbßy pyKOBOjum» (sic) HSAamem» AweBHHKa, h na r;iy6oicoK) npasHa*
TCJlbHOCTblO AOJUKCH1» COOÖlUHTb, HTO nOCTOffHHO ÜOJIbSOBaJIC« ero yiCaaaHijIYH, M CBCpXl»
Toro, ero AparoivfeHHoio ÖHÖAioTexoio».
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201
Am 5. Nov. 1788 heisst es in der zweiten Ausgabe, Katharina
habe beim Hinausgehen aus der «Brillantstube» mit Jelagin gespro¬
chen (npe BMXOjrfe H3*b dpHJwiaHTOBOfi). Hr. Polenow hatte so¬
dann auf die nach seiner Ansicht correktere Lesart bei Sswinjin «6hji-
jiiapAHOft» (Billardzimmer) hingewiesen (s. «Russ. Archiv» 1867,
S. 936). Gleichwohl heisst es in der Edition Hrn. Barssukow’s wie¬
derum «6pHJuiiaHTOBöfi», obgleich es sehr nahe liegt, dass das
Billardzimmer gemeint ist.
Am 7. September 1787 heisst es bei Gennadi: «das Manifest über
den Krieg gegen die Türken unterschrieben und gedruckt am 9.».
Bei Sswinjin heisst es unter 9. September: «das Manifest über den
Krieg am 7. unterschrieben und heute gedruckt». Hr. Polenow
hielt die letztere Lesart für die richtigere, «weil Chrapowitzkij am
7. nicht notirt haben könne, was erst am 9. geschah». Bei Hrn.
Barssukow heisst es trotzdem wieder unterm 7. September: «Das
Manifest über den Krieg gegen die Türken unterschrieben, gedruckt
am 9.». Jenes Argument Hrn. Polenow’s gegen diese letztere Les¬
art ist nicht stichhaltig genug, weil es sehr wohl denkbar ist, dass
Katharina am 7. das Manifest unterschrieb und dabei beschlossen
wurde, ein etwas späteres Datum, den 9., für den Druck darauf zu
setzen. An und für sich indessen dürfte die Lesart bei Sswinjin wahr¬
scheinlich die correktere sein, und daher hätte bei der neuen Edition
auf diesen Umstand wenigstens in einer Note hingewiesen werden
müssen.
Am 16. Juni 1788 schreibt Chrapowitzkij, Katharina habe beschlos¬
sen, den Admiral Greigh mit der Flotte bei Reval «aufzuhalten»
(ocTaHOBHTb). So bei Gennadi und jetzt wieder bei Barssukow, ob¬
gleich die Sswinjin’sche Lesart «ocraBHTb» (Katharina werde Greigh
mit der Flotte bei Reval verbleiben heissen) von Hrn. Polenow für
correkter gehalten wurde.
Ebenso heisst es bei Gennadi unterm 30. Mai 1786 «mejpnca».
Hr. Polenow corrigirte nach Sswinjin «mejrac#», hat es aber ruhig
geschehen lassen, dass Hr. Barssukow die nach der Ansicht des
Hrn. Polenow falsche Lesart «mejrac*» ohne weitere Erläuterung
stillschweigend wiederholte.
Dass bei der letzteren Edition die früheren ignorirt wurden, scheint
uns ferner auch aus folgendem Umstande hervorzugehen.
Am 5. Juli 1786 schreibt Chrapowitzkij, es sei in Aussicht genom¬
menem Süden einen Landstrich zu erwerben, dessen «Areal etwa
dem Herzog von Kurland gleichkäme». Es liegt auf der Hand, dass
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s
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hier nicht der Herzog, sondern das Herzogthum gemeint ist, und
dass es sich um einen Schreibfehler handelt. Diese Vermuthung
spricht Hr. Barssukow auch in einer Notiz aus, während er im Texte
die Lesart «Herzog» abdruckt. Hätte er die früheren Editionen nach¬
geschlagen, so hätte er gefunden, dass, während bei Gennadi der¬
selbe Fehler sich findet, in der ersten Ausgabe «Herzogthum» steht.
Die bisher angeführten Verschiedenheiten zwischen der ersten
Edition und der jetzt von Hm. Barssukow veranstalteten dürfen hin¬
reichen, um die Annahme des Hm. Barssukow, dem Abdruck in den
«Vaterländischen Memoiren» habe wahrscheinlich dieselbe Hand¬
schrift zu Grunde gelegen, welche Hr. Barssukow unter den Papie¬
ren des Fürsten Wjasemskij fand 1 , als sehr voreilig erscheinen zu
lassen. Es ist Hrn. Barssukow gar nicht eingefallen, dass solche
Annahmen ohne Beweisgründe unwissenschaftlich seien, und dass
überhaupt derartige Fragen eine eingehende Untersuchung erfordern.
Dass Hr. Sswinjin und Hr. Barssukow nicht dieselbe Handschrift in
Händen hatten, scheint uns noch aus anderen Indicien hervorzuge¬
hen, auf welche wir kurz hinweisen wollen, ohne dass wir es unter¬
nähmen, die Frage von den Handschriften zu untersuchen. Hm.
Barssukow’s Handschrift scheint, so viel man aus den beiden Editio¬
nen ersehen kann, im Ganzen sehr viel mehr Abkürzungen, nament¬
lich der Eigen-, Vater- und Familiennamen, zu enthalten, als die
Handschrift des Hm. Sswinjin. In vielen Fällen ist die Art der Ab¬
kürzung eine andere. Hier und da, wenn auch relativ selten, ist in
der Handschrift Hrn. Sswinjin’s bei den Namen eine grössere Zahl
von Buchstaben ausgelassen, als in der Handschrift des Hrn. Barssu¬
kow. An einzelnen Stellen stimmt das Datum, d. h. die Angabe
von Tag und Monat, in beiden Editionen nicht überein. Unbedeu¬
tende Differenzen hier und da, z. B. eine etwas veränderte Reihen¬
folge der Wörter, Hessen sich in sehr grosser Zahl auffuhren.
Auch die Uebereinstimmung mit Hrn. Gennadi’s Edition fehlt in
sehr vielen Fällen, und dies war ja auch eher zu erwarten, da nach
der Aussage der Herausgeber Hr. Gennadi zwei Abschriften, Hr. Bar¬
ssukow eine «Originalhandschrift» besass.
Eine Eigenthümlichkeit der zweiten Ausgabe, welche in den
meisten Fällen sowohl der ersten, wie durchgängig der dritten fehlt,
ist folgende: Hr. Gennadi bemerkt, dass alle vonChrapowitzkij wörtlich
angeführten Aeusserungen der Kaiserin in den Zeichen « » einge-
1 CraHbHirb nrfejrb bt» pyxaxi» no sceft räpomvocTH t j cavyio pyronacb, no koto*
poft HanenaTaHO ■ Harne MSAaHie.
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schlossen seien, und wir haben Grund zu der Annahme, dass Hr.
Gennadi diese Zeichen schon in den von ihm benutzten Kopien des
Tagebuches vorfand. In einem solchen Falle, über den Hr. Barssu-
kow sich genauer hätte orientiren müssen, wäre es angemessener
gewesen, diese in der zweiten Edition vorkommenden Zeichen,
welche die Deutlichkeit des Inhalts sehr wesentlich erhöhen und
ohne welche die Interpretation vieler Stellen sogar nicht unbeträcht¬
liche Schwierigkeiten darbietet, beizubehalten. Allerwenigstens hätte
er dieser, die zweite Edition auszeichnenden Eigenthümlichkeiten
erwähnen müssen. Die Sache ist um so erheblicher, als in dem
ganzen Tagebuche kaum eine Seite zu finden sein dürfte, auf welcher
nicht wenigstens eine wörtlich, besser mit solchen (« ») Zeichen zu
versehende Aeusserung der Kaiserin zu finden wäre. In Hrn. Sswin-
jin’s Edition sind wenigstens hier und da die Aeusserungen Katha¬
rina^ mit solchen Zeichen versehen, während Hrn. Barssukow’s
Handschrift, wenigstens nach dem Druck derselben zu urtheilen,
keine Spur davon aufweist.
In dem Maasse, als die Namen in einzelnen Handschriften stark
gekürzt sind, ist es nicht immer ganz leicht zu errathen, welche Per¬
sönlichkeiten, deren Name etwa nur mit Anfangsbuchstaben ange¬
deutet ist, gemeint sind. Nun giebt es Fälle, in denen die verschie¬
denen Editionen bei solchen Gelegenheiten, d. h. bei der Interpre¬
tation der Namen differiren. So heisst es in der ersten Edition un¬
term 7. August 1790, Katharina habe ein Schreiben des Fürsten
Ligne beantwortet, in welchem davon die Rede gewesen, dass cK.
IL* während des Feldzuges soviel Gepäck habe, dass er 100 Pferde
bedürfe, um es fortzuschaffen, und ferner mehrere Wagen für die
Schauspieler. Hr. Sswinjin hatte es unterlassen, Vermuthungen dar¬
über anzustellen, wer hierunter eK. TI.» gemeint sei. Hr. Gennadi
hat hier statt einzelner Buchstaben vollständig ausgeschrieben
«Kh£ 3£ üoTeMKHHa». In der neuesten Edition des Hrn. Barssukow
nun finden wir zu unserem Erstaunen «Kop. np.», so dass hiernach
nicht der Fürst Potemkin gemeint ist, sondern der König von
Preussen, Friedrich Wilhelm II.
Dass bei einer so bedeutenden Verschiedenheit der Lesarten,
wenn es sich um so hervorragende Zeitgenossen der Kaiserin han¬
delt, die neuesten Herausgeber des Tagebuches, Hr. Barssukow
und Hr. Polenow, nicht mit einem Worte einer solchen Verschie¬
denheit erwähnen, dass sie es für nicht nöthig gehalten haben,
Gründe dafür anzugeben, warum sie die in der letzten Edition mit-
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getheilte Redaktion fiir die correktere halten, dass sie vielleicht eine
solche Verschiedenheit der Lesarten nicht einmal wahrgenommen
haben, zeugt von nicht geringer Leichtfertigkeit bei Veranstaltung
der Edition.
In solchen Fällen ist die Beschaffenheit der Handschrift, hier z. B.
das Maass der Originalität der Handschrift, ein nicht unwesentliches
Argument, um der einen oder der anderen Lesart den Vorzug zu
geben. Da die Herausgeber nun über die Handschrift selbst nichts
Eingehenderes mittheilen und, wie oben bemerkt, u. A. die Frage
nicht erörtern, ob wir es hier mit dem eigentlichen Tagebuche oder
mit einer Abschrift desselben zu thun haben, so sind wir bei der
Erörterung, ob hier von Potemkin oder von dem preussischen
Könige die Rede ist, auf die Interpretation des Textes angewiesen.
Wir gestehen, dass es nicht leicht ist, hier ins Klare zu kommen.
Im Jahre 1790 war Potemkin im Süden als Feldherr thätig, während
der König von Preussen in jener Zeit keinen Krieg zu fuhren hatte.
Auch der Umstand, dass der Fürst von Ligne, wie wir aus vielen
seiner Briefe wissen, gern und viel über Potemkin schrieb und den¬
selben als Sybariten tadelte, über denselben zu spotten liebte, lässt
es wahrscheinlich erscheinen, dass hier von Potemkin die Rede
ist, von dem Luxus, mit welchem Katharina’s ehemaliger Günstling
sich auch in Kriegszeiten zu umgeben pflegte. Folgende Momente
indessen lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass nicht Potemkin,
sondern der König von Preussen gemeint ist. Zunächst ist es nicht
wahrscheinlich, dass der Fürst von Ligne in einem Schreiben an die
Kaiserin ihren Feldherrn hätte lächerlich machen wollen; zweitens
ist es jener Notiz zufolge wahrscheinlicher, dass Katharina die
Nachricht von den hundert Pferden u. s. w. dem Fürsten Ligne mit-
getheilt habe und in einem solchen Falle ist nicht leicht anzunehmen,
dass Katharina den Fürsten Potemkin zur Zielscheibe ihres Witzes
gemacht habe; drittens kann ja die Kaiserin des Feldzuges erwähnt
haben, den Friedrich Wilhelm II., über welchen sie sonst in dieser
Zeit häufig spottete, ein paar Jahre zuvor in Holland mitgemacht
hatte; endlich ist die unmittelbar darauf folgende Aeusserung, der
Betreffende sei vierzig Jahr alt geworden *pour etre mene par un
parvenu» viel eher auf Friedrich Wilhelm II., als auf Potemkin zu
beziehen, weil der letztere damals (im Jahre 1790) bereits 54 Jahre,
der erstere ungefähr zehn Jahre jünger war, und weil Potemkin
selbst ein Parvenu war, während der König von Preussen sich damals
in der That von Parvenu's leiten liess, so dass unter dem in Rede ste-
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henden Parvenü Bischofswerder oder noch eher der ehemalige Pfarrer
Möllner gemeint gewesen sein kann.
Wir verweilten bei diesem Punkte, um dadurch anzudeuten, wie
etwa in solchen zweifelhaften Fällen bei Verschiedenheit der Les¬
arten der Herausgeber nach der correkteren Lesart zu suchen habe,
wie bei derartigen Gelegenheiten eine Textkritik, ein wenn auch
kurzer, den Text begleitender Commentar unerlässlich sei und —
wie von alledem sich in der von Hm. Barssukow veranstalteten Edi¬
tion nichts findet.
Entweder der Inhalt des Tagebuches gilt für unbedeutend oder
die darin enthaltenen Bemerkungen haben einen Werth. In dem letz,
teren Falle ist Exactheit, Correktheit bei der Edition die erste For¬
derung. Wir müssen wissen, von wem in dem Tagebuche die Rede
ist. Es ist -nicht gleichgültig, ob unterm 25. März 1788 die Lesart
«Potatschkin», welche in den Editionen des Hm. Gennadi und
Barssukow sich finden richtig ist oder ob die Vermuthung Hm. Po-
lenow’s (s. «Russisches Archiv» 1867,8.930), es müsse hier«Potemkin»
stehen, wie beiSswinjin auch in der That «Potemkin»’steht, Grund hat
oder nicht. Es ist nicht gleichgültig, ob der Banquier, von welchem
am 30. März 1788 die Rede ist, «Purton» heisst (Gennadi und
Barssukow) oder «Thomton» (Sswinjin). Es ist nicht gleichgültig,
ob am 28. November 1788 von dem Fürsten Prosorowskij die Rede
ist (bei Sswinjin «K. II.», bei Gennadi «Khä3ä no3opoBcxaro» oder
von dem Könige von Preussen, wie Hr. Barssukow vermuthet (K. np.
durch Hrn. Barssukow ergänzt in «Kopojix npyccicaro»). Es ist
nicht gleichgültig, ob am 29. December 1788 die Kaiserin gemeint
ist («Ex Bejm^ecTBa» bei Gennadi) oder der Grossfürst Paul («Ero
B-Ba» bei Sswinjin und Barssukow); ob am 7. Januar 1789 vom Grafen
Miloradowitsch die Rede ist (Gennadi) oder vom Grafen Dmitrijew
Mamonow (Sswinjin und Barssukow). Hätten die Herausgeber mehr
Interesse flir die Details im Tagebuche und mehr Kenntniss von
der Zeitgeschichte, so hätten sie u. A. auf folgende Verschiedenheit
der Lesart aufmerksam gemacht. In der dritten Ausgabe notirt
Chrapowitzkij am 12. September 1790, die Kaiserin habe ihm mit
Entrüstung mitgetheilt, Gustaf III. habe die Absicht, mehrere
Officiere, darunter Hastesko und Otter hinrichten zu lassen. In den
beiden früheren Editionen sind gar keine Namen der Hinzurich¬
tenden genannt, sondern nur zwei Anfangsbuchstaben «H. E.»,
wobei es naheliegt in dem *E.» den Anfangsbuchstaben von «Jäger¬
horn »(Erepropm>) zu erblicken, oder auch von »Enehjelm», welcher
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übrigens im Russischen «3HeriejiMi>» geschrieben wird. Hastesko
wurde in der That hingerichtet, Otter zum Tode verurtheilt, begna¬
digt und auf seinem Gute internirt, Enehjelm ebenfalls zum Tode
verurtheilt, aber begnadigt und ins Gefängniss gesperrt. Jägerhorn
konnte nicht bestraft werden, weil er nach Russland geflohen war.
Diese Einzelnheiten haben für die Herausgeber freilich kein Inter¬
esse. Sie haben die Verschiedenheit der Lesarten nicht gemerkt,
und auch in dem sonst von einer Menge biographischer Notizen
wimmelnden alphabetischen Register, welches stellweise den Cha¬
rakter eines Commentar’s hat, ist gar nicht erwähnt, dass Hastesko
und Otter auf der betreffenden (347) Seite Vorkommen.
Wir wollen gerecht sein und es dankbar anerkennen, wenn offen¬
bar incorrekte Lesarten der zweiten Edition in manchen Fällen bei
der dritten Edition vermieden und durch richtigere ersetzt werden.
So z. B. ist am 9. December 1788 «KoMeAÜi* (bei Barssukow und
Sswinjin) richtig als «Kommhccui* (Gennadi) falsch; am 29. Juni 1788
«rpeÖHMXi»* (Barssukow und Sswinjin) richtig, «yneÖHMxi»» (bei
Gennadi) falsch. In der zweiten Ausgabe sind am 7. Mai 1789
dreissigSchiffe erwähnt, in der dritten steht das Richtige «dreizehn*.
Das «He jierxo* der zweiten Ausgabe am 7. Mai 1793 ist offenbar
nicht correkt; in der dritten steht richtig «HeJiOBKO*. Hierund
da, wo eine fehlerhafte Interpunktion in der zweiten Ausgabe den
Sinn entstellt oder wenigstens verdunkelt hatte, findet sich in der
dritten eine correkte Interpunktion u. s. w.; aber wir glauben kaum,
dass eine solche grössere Correktheit der dritten Edition eine Frucht
sei der Vergleichung der Handschrift mit den früheren Ausgaben,
ein Ergebniss der lobenswerthen Akribie, welche Hr. Polenow vor
sieben Jahren bei dem Herunterreissen von Hrn. Gennadij Arbeit an
den Tag legte, sondern einfach die Folge des glücklichen Zufalls,
dass die Handschrift, welche sich unter den Papieren des Fürsten
Wjasemskij fand, in Bezug auf vielen Stellen correkter ist, als die
Handschriften, welche Hrn. Gennadijs Edition zu Grunde lagen.
Wir müssen ebenso gerecht sein gegen Hrn. Gennadi und aner¬
kennen, dass seine Edition in Bezug auf manche Stellen correkter
ist, als diejenige des Hrn. Barssukow. Wenn es z. B. unterm
20. April 1788 heisst, es werde bald «CojnraHCKifl KapasaHi» ch xi'fe-
6omi>» ankommen, (bei Hrn. Barssukow), so haben wir mehr Zu¬
trauen zu der Lesart bei Hrn. Gennadi «KojimracKift», weil uns ein
Ort «Ssolpino* nicht bekannt ist, wohl aber ein Ort «Kolpino*.
Am 5. September 1790 ereignet es sich, dass Chrapowitzkij im
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Gespräch mit der Kaiserin derselben bemerkt, Graf Saltikow warte
im Nebenzimmer, worauf die Kaiserin, wie in der zweiten Edition
bemerkt ist, plötzlich stille schwieg (cmojikhyjih), im Gespräch inne¬
hielt« In der dritten Edition steht «hmkim», was Hr. Barssukow
durch Hinzufügung der Vokale ergänzt zu «HMOKHyjiH», als habe
die Kaiserin bei der Meldung des Grafen Saltykow «geschnalzt».
Es liegt auf der Hand, dass letzteres nicht so nahe lag als ersteres,
und wir würden bis auf weiteres der Lesart «cMOJiiCHyjiH» den Vor¬
zug geben.
So sind wir denn nicht in der Lage, die Edition des Hrn. Barssukow
als eine vollständigere, correktere, als eine solche bezeichnen zu kön¬
nen, wie der Mitarbeiter des Hrn. Barssukow, Hr.Polenow, eine solche
veranstaltet wissen wollte. Hr. Polenow hat wiederum Veranlassung,
sein schmerzliches Bedauern darüber auszusprechen, dass man mit
so werthvollen historischen Quellen so leichtsinnig umspringe, nur
ist er leider diesmal selbst der Schuldige und müsste in dem Masse
über sich selbst zu Gerichte sitzen, als Hr. Barssukow mit seiner
Behauptung Recht hat, dass Hr. Polenow die Leitung der Arbeiten
bei der Edition (pyxoBOAHTb H3AaHieMi>) übernommen habe.
Aber Hr. Polenow hatte ja, wie wir uns erinneren, nicht bloss
die ungenügende Herausgabe des Textes durch Hrn. Gennadi zu ta¬
deln, sondern auch den Commentar, welchen, nach der Ansicht des
Hrn. Polenow, Hr. Gennadi unvollständig, incorrekt und ohne redak¬
tionellen Text angefertigt haben sollte.
Sehen wir zu, ob Hr. Barssukow mit seinem Commentar, der
denn doch wohl ebenfalls mit Hülfe des Hrn. Polenow zusammen¬
gestellt wurde, das Richtige getroffen und den Anforderungen,
welche Hr. Polenow an solche Arbeiten stellt, entsprochen habe.
Hr. Polenow bemerkt, historische, biographische und bibliogra¬
phische Notizen seien sehr nützlich, aber die Bemerkungen, welche
Hr. Gennadi als Commentar dem Tagebuche Chrapowitzkij’s beige¬
fügt habe, beständen fast ausschliesslich in einer grossen Menge
von Daten darüber, wann die in dem Tagebuche vorkommenden
Personen geboren und gestorben seien und welchen Rang sie gehabt
hätten. Solchen Commentar hält also Hr. Polenow für nicht aus¬
reichend, für nicht «derSache entsprechend» («HcnojmeHie He OTB'fc-
naerh A'hJiy», s. «Russ. Archiv» 1867. S. 921). Am Schlüsse seiner
Abhandlung fordert Hr. Polenow derl Herausgeber der zweiten
Ausgabe auf, eine neue Edition zu veranstalten und bei dem Com¬
mentar für dieselbe sich die Art und Weise zum Muster zu wählen,
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in welcher der Akademiker Grot seine Edition der Werke Der-
shawin's mit einem Commentar versehen habe. Dieser letztere Rath
ist ganz vortrefflich und man hätte auch Hrn. Barssukow keinen
besseren geben könnenf weil in der That aus den Arbeiten des
Hrn. Grot sehr viel zu lernen ist. Um so auffallender ist es, dass
Hr. Polenow, welcher doch die Arbeit des Hrn. Barssukow geleitet
haben soll, wie es scheint, den vor sieben Jahren dem Hrn. Gennadi
ertheilten Rath dem neuesten Herausgeber zu geben vergessen hat.
Wenn Hr. Barssukow nach dem Muster der Arbeiten Grot’s sein
«Erläuterndes Register* geschrieben hätte — wie ganz anders hätte
dasselbe ausfallen müssen.
Zunächst ist die Absicht der neuesten Herausgeber nicht deutlich
zu erkennen. Was wollten sie mit dem « 06 *bHCHHTejibHMß yicaaa-
Tejib* bezwecken? Es handelte sich um die Abfassung und Zusam¬
menstellung eines commentirenden Registers. Alphabetisch geord¬
net erscheinen hier Namen, welche im Tagebuche Vorkommen, mit
einigen erläuternden Bemerkungen versehen. Die Herausgeber
haben sich darauf beschränkt, nur die Namen von Personen, Orten
oder Flüssen und Theaterstücken oder anderen literarischen Erzeug¬
nissen in das Register aufzunehmen. Alle anderen Gegenstände
sind ausgeschlossen. Ausnahmsweise werden einzelne Völkerschaften,
wie z. B. «Chinesen* mit dem Commentar «ein Volk* im Register
erwähnt, während viele andere Völker, die im Tagebuche Vorkom¬
men, im Register fehlen. Von Volksschulen ist einmal die Rede
und im Register ist denn auch der «uiko^m HapOAHbia* erwähnt;
wenn aber im Tagebuche vom Sektenwesen die Rede ist, so suchen
wir im Register «pacKOJTb* vergebens; einzelner öffentlicher An¬
stalten und Behörden, wie der Assignationsbank, des Synods, des
Reichsraths ist im Register erwähnt, anderer nicht, wie z. B. des
Theaters, der Namen einzelner Regimenter, der Bezeichnungen
mancher Zweige des Finanzwesens. Es fehlte offenbar an leitenden
Gesichtspunkten, nach denen das Register zusammengestellt wurde.
Der Zufall entschied, ob etwas im Register erwähnt wurde oder
nicht, oder ob der betreffende Gegenstand im Register bloss
erwähnt oder auch mehr oder minder weitläufig erläutert werden
sollte. Eine solche Ungleichartigkeit des Commentars ist sehr
auffallend. Es ist z. B. nicht abzusehen, warum Voltaire im Register
vorkommt und Shakespeare nicht, warum Voltaire ohne allen
Commentar geblieben ist, während Grimm's Bedeutung mit
einigen Reden erläutert wird. Es ist denn doch nur Zufall, dass
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«Hogarth» im Register vorkommt, der «Don Quixote» nicht, wäh¬
rend die Dichtung Cervantes’ Katharina in ebenderselben Weise in-
teressirte, wie Moli&re’s Stück «les femmes savantes» oder^Richard-
son’s «Clarissa», welche Dichtungen im Register Vorkommen. Was
veranlasste Hrn. Barssukow, den Namen des schwedischen Officiers
«Wachtmeister* mit einem Commentar zu versehen, und die Namen
mehrerer anderer wichtigerer schwedischer Oßiciere, wie z. B. «Jäger-
horn’s», «Hastfehr’s» u. A.ohne allen Commentar zu lassen? - Warum
ist bei Gelegenheit «Boltin’s» eine mehrere Seiten lange Abhand¬
lung erforderlich gewesen, während der in ganz ähnlicher Weise
bedeutende Historiker «Schtscherbatow» ganz kurz abgefertigt
wird? — Bei Gelegenheit des Vorfalles mit «Walz» geht der Com¬
mentar so weit, dass mehrere Aktenstücke abgedruckt werden,
während des Vorfalles mit «Radischtschew» ganz kurz erwähnt wird.
Es ist eine Willkür, einzelne biographische Notizen zu sehr langen
und mit einem umfassenden gelehrten Apparate versehenen Mono¬
graphien auszudehnen, wie dies z. B. mit «Kamenskij», «Mussin-
Puschkin», «Soritsch», «Sanowitsch» u. A. vorkommt, während an¬
dere an Bedeutung sowohl in der Geschichte als auch im Tagebuche
den Ebengenannten entsprechende Personen nur eben genannt
sind, ohne allen Commentar. «Potemkin’s» ganze Biographie ist
ausführlich erzählt. In der Bemerkung über «Rumjanzow* fehlt die
Biographie völlig. Es ist sehr lobenswerth, wenn bei den Erläute¬
rungen in Betreff einzelner Personen bemerkt wird, in welchem Zu¬
sammenhänge ihre Namen im Tagebuche Vorkommen, wie dies z. B.
bei «Besborodko», «Bruce», «Wjasemskij* geschieht. Warum
ist aber in den meisten Fällen von einer solchen Art Commentar
oder Register abgesehen, wie z. B. bei «Woronzow», «Nassau-
Siegen», «Sprengtporten» u. s. w., bei denen nur die Seitenzahlen
ohne alle Erläuterung bemerkt sind. Bald ist bei den Commentaren
die betreffende historische Literatur citirt, bald nicht. So finden
sich bei einem acht Seiten langen Commentar über den einen Grafen
Mussin-Puschkin, von welchem im Tagebuch nur zweimal und in
ganz untergeordneter Weise die Rede ist, über ein Dutzend litera¬
rischer Hinweise, während der andere Graf Mussin-Puschkin, der
einige Dutzend Mal im Tagebuche vorkommt, als Befehlshaber der
russischen Truppen in Finland eine sehr grosse, wenn auch keine
sehr glückliche Rolle spielt, so gut wie ohne allen Commentar ge¬
blieben ist, als gebe es in Betreff seiner gar keine historische Lite¬
ratur. Bei «Brienne» ist Schlosser citirt, bei «Colonne», welcher
sehr eigenthümlicher Weise als «Verwalter der Staatseinnahmen»
Rom. Rem«. B4. VII.
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«4
210
(— warum nicht auch der Staatsausgaben? —) bezeichnet ist, hat
es unnöthig geschienen, sich auf Schlosser oder sonst eine derartige
Autorität zu berufen. Dazwischen ist der Commentar ein ganz ein¬
seitiger und ganz willkürlich bei Einzelnheiten stehen bleibender,
welche ausser allem Zusammenhänge mit dem Tagebuche stehen.
So werden von «Kretschetnikow» ganz unnützerweise mehrere
Anekdoten erzählt, so ist in dem Commentar zu «Dershawin» ganz
ausschliesslich von dessen Gute Swanka die Rede, ohne dass dieses
Gutes im Tagebuche erwähnt worden wäre.
Ueberhaupt nimmt der Commentar so gut wie gar nicht Rück¬
sicht auf den Inhalt des Tagebuches, verdient also gar nicht den
Namen eines solchen. Wir erfahren in den seltensten Fällen etwas
über die Situation, in welcher sich die Person, derer im Tage¬
buche erwähnt ist, gerade damals befunden, dagegen allerlei Dinge,
welche bei der Lectüre des Tagebuches gar keine oder nur unter¬
geordnetes Interesse haben oder auch sich selbst verstehen oder
ganz bekannt sind. Was soll man vom Standpunkte Hrn. Polenow’s,
welcher den Commentar des Hrn. Gennadi so streng tadelte, davon
halten, dass uns von Hrn. Barssukow sehr genau mitgetheilt wird,
wann Peter der Grosse geboren und gestorben, und dass Katharina I.
seine Gemahlin gewesen sei u. dgl. m., während z. B. der Frieden
von «Werelä», dessen doch (aufS. 343—345) sehr ausführlich im
Tagebuche erwähnt ist, nur darum im «Erläuternden Verzeichniss»
fehlt, weil zufällig der Name des Ortes «Werelä» im Tagebuche
nicht vorkommt. Wenn von «Alcibiades» die Rede, so setzt Hr. Bar¬
ssukow diesen Gegenstand als bekannt voraus, bei dem Kaiser
«Alexander I.» hält er es aber für nöthig hinzuzufügen, dass der¬
selbe 1777 geboren, am 11. März 1801 zur Regierung gekommen,
am 15. September 1801 in der Uspensky-Kathedrale gekrönt und
in Taganrog am 19. November 1825 gestorben sei. Dass «Abo»
eine Stadt in Finland sei, wird ausdrücklich bemerkt, die Lage
von Archangelsk dagegen wird als bekannt vorausgesetzt Von
«Bender» wird vorausgesetzt, dass die Leser in der Lage sind, sich
darüber belehren lassen zu müssen, dass dieser Ort eine Kreisstadt
und eine Festung in Bessarabien sei; was «Baghtschissarai» sei,
muss der Leser auch ohne Commentar wissen und daher fehlt jede
Erläuterung. Bei «Walk» findet sich die gelehrte Notiz, dass diese
Stadt 1343 gegründet sei, während bei allen anderen Städten, die er¬
wähnt sind, gar keine historischen Notizen Vorkommen. «Otscha-
kow», die Festung, von welcher monatelang im Tagebuche fort¬
während die Rede ist, dessen Belagerung und Einnahme das wich-
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211
* tigste Ereigniss des türkischen Krieges war, ist im «erläuternden«
Register nur mit den Worten «erläutert», dass es gegenwärtig eine
ausseretatmässige Stadt des Odessaer Kreises sei, wie denn über¬
haupt bei so wichtigen, d. h. in dem Tagebuche eine so grosse
Rolle spielenden Orten wie «Fredrikshamm», «Nystatt», «Ismail»,
«Kinburn», «Metschin» u. s. w. von einem Commentar völlig abge¬
sehen wurde, während zufälligerweise «Kijew» ganz angemessen, mit
Rücksicht auf das Tagebuch mit einigen Bemerkungen aus den
Briefen Katharina’s über ihren Aufenthalt daselbst versehen ist.
Warum Cagliostro im Commentar vorkommt, Saint-Germain aber,
der eine ganz analoge Bedeutung hat, nicht, ist nicht abzusehen.
Dass Hästesko und Otter auf S. 347 Vorkommen, ist im Register
vielleicht darum zu bemerken vergessen, weil ihre Namen diesmal
im Tagebuche mit lateinischen Lettern gedruckt sind; aber der
Zusammenhang, in welchem sie erwähnt sind, ist sehr wichtig.
Statt den Text des Tagebuches zu «erläutern», giebt Hr. Bar-
ssukow im Commentar dazwischen auch solche Details zum Besten,
welche in direktem Widerspruche mit dem Tagebuche stehen. Wäh¬
rend z.B. imTagebuche von «Alexejew» mehrmals erwähnt ist, seine
Ehrlichkeit sei stark zu bezweifeln, er sei bestechlich u. s. w., findet
sich im Register gerade viel Rühmens von der Ehrlichkeit dieses Man¬
nes. Während Katharina II. sich sehr schroff über gewisse recht
schlechte Eigenschaften des Metropoliten Platon lustig macht, wird
der Letztere im Register als Geschichtsforscher geschildert.
So erscheint denn der Commentar wie von Jemand verfasst, der
das Tagebuch nie gelesen, geschweige denn dasselbe herausge¬
geben habe. Das «erläuternde Register» ist nur Register und nur
ausnahmsweise erläuternd. Hr. Polenow lobt mit Recht die von
Hm. Grot verfassten Commentare zu Dershawin’s Schriften, weil
«dieselben ein lebendiges Bild jener Zeit enthalten, in deren Der-
shawin schrieb». Im Gegensätze hierzu erfahren wir aus dem von
Hm. Barssukow dem Tagebuche beigegebenen Commentar so gut
wie gar nichts über die Ereignisse, deren im Tagebuche erwähnt
ist. Kein Gegenstand ist im Tagebuche mit so grosser Ausführlich¬
keit behandelt, wie der Krieg mit Schweden 1788— 179 °* Hätte
Hr. Barssukow sich nach Hm. Grot’s Beispiel richten wollen und
können, so wäre seine erste Aufgabe gewesen, sich mit der Geschichte
dieses Krieges bekannt zu machen, aber aus der Gleichgültigkeit,
mit welcher Hr. Barssukow an den Hauptpersonen, die in diesen
Ereignissen mitspielen, u. A. an den Mitgliedern der Conföderation
von Anjala in seinem Commentar vorübergeht, lässt es wahrschein-
14*
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212
lieh erscheinen, das9 die Hauptereignisse des Krieges ihm ganz un¬
bekannt sind. Eine mit Hm. Grot*s historischer Bildung auch nur
entfernt zu vergleichende geht Hm. Barssukow ab. Er würde sonst
wohl schwerlich in dem Commentar über «Lucchesini» Hrn. Kosto-
marow als Autorität citiren oder bei Joh. Jak. Sievers ebenfalls sich
auf Hrn. Kostomarow’s Urtheil berufen, statt das klassische Werk
Blum’s anzuführen. Es ist denn doch der Unkenntniss der Ge¬
schichte der Beziehungen Russlands zu Schweden zuzuschreiben,
wenn Hr. Barssukow «Sprengtporten» erst im Jahre 1788 in russi¬
sche Dienste treten lässt, während derselbe bereits im Herbst des
Jahres 1786 in St. Petersburg erschien und russischer Oberst wurde.
Von dem bairischen Erbfolgekriege scheint Hr. Barssukow nie ge¬
hört zu haben, da er in der Notiz über den Teschener Congress,
den er fälschlicherweise in das Jahr 1778 setzt, während derselbe
erst im Jahr 1779 abgeschlossen wurde, bemerkt, dieser Congress
sei durch den Tod des Kurfürsten von Baiern veranlasst worden.
Beschränkte sich nun auch der sogenannte «Kartoffelkrieg» wesent¬
lich auf strategische Bewegungen und unbedeutende Plänkeleien, so
verflossen doch von dem Tode Maximilian Joseph ’s bis zum Frieden
sechszehn Monate, und dieser Ereignisse hätte denn doch wenn
auch mit zwei Worten erwähnt werden müssen.
Recht unterhaltend ist folgende Notiz des Hrn. Barssukow. Im
Tagebuche ist der Kriegsereignisse im Süden von Finland erwähnt
(im Sommer 1788, s. S. 107) «es seien u. A. bei Likala und Walkes
Brücken geschlagen». Im Register steht nun «Likala» ohne allen
Commentar und von tWalkes» ist bemerkt, es sei eigentlich «Walk»,
«eine Stadt im Wenden’schen Kreise des Gouvernements Livland».
Hätte der Herausgeber bei Abfassung der Notiz auch nur einen
Blick in das Tagebuch geworfen, er hätte sich überzeugen müssen,
dass gar kein Grund vorlag «Walkes» in «Walk» zu verwandeln,
und dass es ganz unmöglich war, den Kriegsschauplatz plötzlich aus
Finland nach Livland zu verlegen.
Wäre ferner Hr. Barssukow mit den Ereignissen des türkischen
Krieges (1787 ff.) auch nur einigermassen vertraut, so hätte er bei
«Kinburn» eine etwas vernünftigere Notiz gemacht, als dass «Kin-
burn 350 Werst nordwestlich von Ssimferopol liege». Die Entfer¬
nung von Ssimferopol, welches damals eine ganz unbedeutende
oder vielmehr während des Krieges gar keine Rolle spielte, ist von
gar keinem Interesse, auch ist denn nicht abzusehen, warum
Hr. Barssukow nicht bemerkte, dass etwa Odessa südwestlich oder
Balta nordwestlich von Kinburn liege u. dgl. In einer erläuternden
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213
Bemerkung über «Kinbum» hätte durchaus des blutigen Treffens
erwähnt werden müssen, welches hier stattfand. Die Notiz, dass
«Ssewastopol« <jetzt> (HMHi) eine Festung sei, ist ebenfalls auffallend:
Ssewastopol ist viel eher in dem Jahre 1787, in welchem dieses Ortes
erwähnt wird, eine Festung gewesen, als gegenwärtig. «Maria
Theresia» als «Kaiserin des heiligen Römischen Reiches» zu bezeich¬
nen ist falsch: sie war nur die Gemahlin des Kaisers, aber eine
eigentliche «Kaiserin des heiligen Römischen Reiches» hat es nie
gegeben und konnte es nicht geben. Sehr originell ist der sehr la¬
konische Commentar «eine Jungfrau» (A’fcBima) für Fräulein von Voss,
deren Verhältniss zum Könige Friedrich Wilhelm II. im Tagebuche
wiederholt erwähnt wird.
S. 347 ist im Tagebuch einer opera buffa erwähnt. Allerdings
stand in den Handschriften «onepa Byoa». Aus der Notiz im Re¬
gister geht hervor, dass Hr. Barssukow annimmt, es habe eine Oper
gegeben, deren Titel so geheissen habe, oder deren Componist ein
«Hr. Buff» gewesen sei.
S. 289 ist im Tagebuche eines Banquiers Ludwig erwähnt, welcher
der Regierung einen Entwurf zur Regulirung schiffbarer Flüsse ein¬
gereicht hatte. Im Tagebuche ist nun offenbar ein Druckfehler, in¬
dem statt «Banquier», «Bankrott» gesagt ist. In der zweiten Aus.
gäbe steht «Ludwig & Comp.» ohne das Wort Banquier oder
Bankrott. Obgleich nun das letztere Wort hier keinen Sinn hat,
wiederholt Hr. Barssukow im Commentar: «Ludwig, Bankrott, reicht
einen Entwurf ein» u. s. w. Entweder ist das Gedankenlosigkeit
oder Unkenntniss der Bedeutung des Wortes Bankrott.
Von grosser Nachlässigkeit und Unbildung, sowie von totalem
Mangel an redaktionellem Takt zeugt die unzählige, viel vorkom¬
mende incorrekte Schreibweise von Namen. So steht im Tage¬
buche ganz richtig «Tawasthus», im Commentar «TaBacnycTB»»
im Text ganz richtig «Spielmann», im Commentar «Spilmann». Ist
im Tagebuche die Schreibweise falsch, so bleibt sie im Commentar
unberücksichtigt, was ein Versäumniss ist. So heisst es «Ke$a»
statt «Kaffe», «AxTMeren>* statt «AKMeren>», «Serre-Capriob» statt
«Serre-Capriola», «Likolo» statt «Likala» u. s. w. Inconsequent ist
es, im Commentar bald «roxxaHAi»» (S. 469) bald «rorjiaHAi»* (S.
506) zu schreiben; Baron Bühler wird nicht mit zwei A geschrieben,
wie Hr. Barssukow es S. 471 thut, sondern mit einem . S. 276 darf
es nicht «Gordt» heissen, sondern «Hordt», wie auf S. 186 der zwei¬
ten Ausgabe auch ganz correkt steht. S. 471 darf Halle im Ablativ
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nicht «rajurfc» heissen, weil das Wort im Russischen sich überhaupt
nicht dekliniren lässt. Der Instrumentalis «EesöopoAKoft» (S. 529)
ist ebenfalls nicht correkt.
Endlich ist nur zu deutlich zu ersehen, dass Hrn. Barssukow die
Kenntniss des Französischen völlig abgeht. In dem Tagebuche
kommt eine sehr grosse Zahl (nahezu 300) französischer Phrasen vor.
Davon sind nicht weniger als etwa 60 mit Fehlern abgedruckt
Wenn man auch einwenden könnte, dass in jener Zeit, wo die Kaise¬
rin selbst in der französischen Orthographie sehr viele Fehler zu
machen pflegte, auch Chrapowitzkij schwerlich correktes Franzö¬
sisch wird geschrieben haben, so kommen doch immerhin sehr viele
Fehler unter allen Umständen nicht auf Rechnung des Geheimschrei¬
bers der Kaiserin, sondern durchaus auf Rechnnng des Herausge¬
bers, so z. B. S. 154 «surpendre» statt «suspendre», S. 191 «disent»
statt «disait». S. 243 «C’est des grands enfants» statt «Ce sont des
grands enfants», S. 533 «Montesquoi» statt «Montesquiou», S. 526
«Mo» statt «Mr». Aehnliche Fehler im Lateinischen. S. 342:
«Imperat non regis» statt «imperas» oder statt «regit» u. dgl.
Wir stehen nicht an, zu behaupten, dass Hm. Gennadijs Edition
diejenige des Hrn. Barssukow in vieler Hinsicht, u. A. in Bezug auf
das Französische, an Correktheit übertrifft; ja uns will scheinen,
dass der Commentar des Hrn. Gennadi sehr viel taktvoller und ange¬
messener redigirt ist, als jenes gegen 180 Seiten umfassende erläu¬
ternde Register des Hrn. Barssukow.
Einen Vorzug der Edition des Letzteren müssen wir hervorheben.
Es ist die dem Tagebuche vorausgeschickte kurze Lebensbeschrei¬
bung Chrapowitzkij’s, welcher auch ein Bildniss des Geheimschrei¬
bers in Holzschnitt beigegeben ist. Ein anderer Vorzug besteht
darin, dass auf jeder Seite des Tagebuches oben Monat und Jahres¬
zahl bezeichnet stehen, was das Nachschlagen in demselben Maasse
erleichtert, als dasselbe in den früheren Editionen, zumal bei Sswin-
jin, mit grossem Zeitverluste verbunden ist.
Als vor sieben Jahren Hr. Polenow die Edition des Hrn. Gennadi
tadelte, machte er am Schlüsse seiner Abhandlung dem Herausgeber
den Vorschlag, seine Fehler durch eine neue Edition gutzumachen.
Wir sind leider nicht in der Lage, den neuesten Herausgebern einen
ähnlichen Vorschlag zu machen. Wir wünschen, dass, falls eine
vierte Edition veranstaltet werden sollte, diese Aufgabe besseren
Kräften anvertraut werde, als denjenigen des Hrn. Barssukow und
des Hrn. Polenow. A. BRÜCKNER.
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Das rassische Geldwesen während der Finanzrer-
waltnng des Grafen Cancrin (1823—1844).
Eine finanzhistorische Studie
von
Dr. Alfred Schmidt
(Schluss.)
Dritter Abschnitt.
Gesetze und Verordnungen das Geldwesen betreffend, welche von 1823-1844
publicirt worden sind.
Die Zusammenstellung ist auf Grundlage der «Vollständigen
Sammlung aller Gesetze» (IlojiHoe coöpame saitoHOBi») geschehen.
A. Die klingende Münze.
1 8 2 4 .
Nr. 30,042*. —Den 31. August. Senatsbefehl: Ueber die Mass-
regeln gegen den Umlauf ausländischer Scheidemünze. <
Seit 1813 existirte das Verbot des Umlaufs, doch war es bisher
fast ohne Wirkung geblieben. Es sollte daher jetzt im Verlaufe von
vier Monaten die Einwechselung des Billons nach einer, dem inneren
Werthe desselben entsprechenden, festen Taxe an allen Kreisren¬
teien der Ostseeprovinzen gestattet werden. Nach Ablauf dieser
Frist sollte aber der Umlauf nochmals gänzlich untersagt und poli¬
zeilich darüber gewacht werden, dass kein Billon mehr zu Zahlungen
benutzt werde.
Nr. 30,144. — Den 9. December. Allerhöchst bestätigter Be¬
schluss des Minister-Comite: Ueber die Umwechselung des Kupfer -
geldes alten Gepräges gegen neues oder Assignaten.
Um die geheime Ausfuhr des Kupfergeldes alten Gepräges zu
unterdrücken, wurde die Einwechselung desselben während dreier
Monate an allen Staatskassen angeordnet. Nach Ablauf dieser Frist
sollte alles alte Kupfergeld, welches man im Betrage von über 2$ Rbl.
bei einer Person anträfe, confiscirt werden.
1 8 2 5 .
Nr. 30,339. — Den 11. Mai. Senatsbefehl: Ueber das Verbot
der Ausfuhr russischer Münze.
4 Die Nummern des Gesetzes in der «Vollständigen Sammlung aller Gesetze».
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216
Dieses Verbot bestand wohl schon im Allgemeinen seit 1811; es
erhielt jetzt nur noch die nähere Bestimmung, dass kein die Grenze
Ueberschreitender mehr als 50 Rbl. an Silber und 10 Rbl. an Kupfer
bei sich führen dürfe.
Nr. 30,428. — Den 21. August. Senatsbefehl: Ueber die Ver¬
längerung des Einwechselungstermins (cf. Nr. 30,144) des Kupfer¬
geldes alten Gepräges bis zum Ende des Jahres, und über die An¬
nahme desselben bei allen Abgaben- und Steuerzahlungen.
Für die entlegenen Provinzen war jener Termin von drei Monaten
zu kurz, auch befürchtete der Finanzminister, dass die Bewohner
derselben, die oft 500 Werst von einer Kreisrentei entfernt lebten
und manchmal nur wenige Rubel Kupfergeld alten Gepräges besassen,
leicht unnütze Verluste erleiden könnten.
1 8 2 6 .
Nr. 44. — Den 12. Januar. Senatsbefehl: Ueber die Erlaubnis,
das Kupfergeld alten Gepräges auch noch im Jahre 1826 anzunehmen.
Zur Erleichterung der Landbewohner wurde die Annahme noch
bei Zahlung der Abgaben, beim Kaufe des Stempelpapiers, des
Salzes und des Branntweins gestattet. In allen anderen Fällen sollte
aber nach den Bestimmungen der Verordnung vom 21. August
1825, Nr. 30,428, gehandelt werden.
Nr. 636. — Den 27. October. Allerhöchst bestätigtes Gutachten
des Reichsraths: Ueber die Verrechnung des Aufgeldes auf Silber
zum Vortheile der Staatskasse bei allen Lieferungen und Akkorden.
Der Reichsrath nahm das Projekt des Kaufmanns Subzaninow
durch, welches die Vortheile betraf, die sich dje Staatskasse im
Kommissariat- und Verproviantirungsamte verschaffen könnte, wenn
sie Korn, Materialien und Arbeit in Silber bezahlte, den Silberrubel
zu vier Rubeln, den Bancorubel zu einem Rubel acht Kopeken
berechnend.
Hierauf bezüglich entschied der Reichsrath: 1) Allen Chefs in den
Gouvernements, wo das Agio 1 anzutreffen war, vorzuschreiben: alle
Preise von Materialien, Arbeiten u. s. w. in den einzelnen Kreisen,
Städten u. s. w. in Erfahrung zu bringen, aus diesen die Durch¬
schnittspreise zu berechnen und in Assignaten anzugeben, mit Ab¬
rechnung des Agio, d. h. ohne Agio. Diese Preise sollten monatlich
dem Kriegsministerium und dem Ministerium des Innern zugestellt
werden. 2) Um die Preise herabzudrücken, sollten alle Kommissio-
1 Hierunter das Volks-Agio verstanden.
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217
näre verpflichtet werden, bei der Annahme von Arbeitern diesen
zu erklären: dass die Bezahlung ohne Abzug des Agio in Assig¬
naten von $ und io Rubeln und in Kupfergeld erfolgen würde;
3) bei Schliessung von Kontrakten über Lieferungen u. dgl. aber
sollten in denselben die Preise in Assignaten nach Abzug des Agio,
d. h. ohne Agio, angegeben werden. Dieselbe Regel sei 4) bei Füh¬
rung der Bücher, 5) bei den Quittungen, welche man von den Lie¬
feranten etc. erhielte, und 6) in den Abrechnungen, die zu leisten
seien, zu beobachten. 7) Diese Bestimmungen sollten nicht nur für das
Verproviantirungsamt und das Kommissariat gelten, sondern auch
für alle Kronsämter, an denen Käufe und Lieferungen stattfänden.
8) Alle Departements sollten darüber wachen, dass man dieser
Verordnung nachkomme. Wenn auf diesem Gebiete eine Verun¬
treuung zum Nachtheil der Kasse aufgedeckt werden sollte, so
würden sie mit der ganzen Strenge des Gesetzes dafür verantwort¬
lich gemacht werden. 9) Diese Verordnung hätte auch schon für
alle Lieferungen u. s, w., weiche für das Jahr 1827 geschlossen
würden, in Kraft zu treten.
1 8 2 7 .
Nr. 1528. — Den 11. Mai. Befehl an den Finanzminister: Uebfer
die Erlaubniss, Zahlungen für Pässe und Stempelpapiere bei den
Staatkassen in Silber nach Kurswerth zu machen.
Um die Geldzahlungen zu erleichtern und das Kupfergeld im
Umlauf zu erhalten, wird befohlen: die Zahlungen für Pässe, Seitens
der Bürger und Bauern, in Silber nach dem Kurse von 370 Kop.
für den Siiberrubel zu gestatten; desgleichen für Stempelpapier bis
zu 5 Rbl. Assignaten. — Der Kurs konnte jährlich nach dem Bör¬
senkurse geregelt werden.
Nr. 1630. — Den 20. December. Senatsbefehl: Ueber die Ver¬
schärfung der Aufsicht darüber, dass Silbermünzen in ihrem Metall-
werthe nicht vermindert würden.
Diese Verschlechterung wurde namentlich in den polnischen
Grenzprovinzen betrieben, wo Münzen kursirten, welche man durch
Abschleifung um 20 pCt. ihres wahren Werthes verringert hatte.
1 8 2 8 .
Nr. 1987.—Den 24. April. Senatsbefehl: Ueber die Prägung einer
neuen Münze äus Urafschem Platina im Werthe von 3 Rbl. Silber.
Durch Einführung dieser neuen Münze sollte dem Platina als
edlem Metalle ein besserer Absatz verschafft werden. Es sollten
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Anfangs Münzen nur aus dem Platina der Kronsbergwerke geprägt
werden; später wurde es aber auch Privatpersonen gestattet, Platina
zur Umprägung in Münze gegen Schlagschatz in den Münzhof zu
liefern. Das Werthverhältniss der Platina- zur Silbermünze sollte das
von 5 : i sein; entsprechend dem durchschnittlichen Werthver¬
hältnisse jener beiden Metalle auf dem europäischen Markte.
Die neue Platinamünze sollte an Grösse einem silbernen 25-Kope-
kenstück gleichkommen, und im Verkehr nur nach vorhergehen¬
dem Uebereinkommen angenommen werden. Die Ausfuhr dieser,
so zu sagen Hapdelsmünze und ihre Verwendung in der Industrie
wurde nicht verboten.
Nr. 2069. — Den 30. Mai. Senatsbefehl: Ueber die den Brannt¬
weinspächtern gewährte Erlaubniss, Getränke gegen grobe Silber¬
münze , nach dem im täglichen Verkehre existirenden Kurse 1 zu ver¬
kaufen.
Für das kleine Silbergeld existirte bereits diese Bestimmung, doch
glaubte man sie auch auf die grobe Münze ausdehnen zu können, da
die Annahme des Silbergeldes auf freiem Uebereinkommen beruhte.
1 8 2 9 .
Nr. 2803. — Den 5. April. Allerhöchst bestätigtes Journal des
Finanz-Comite: Ueber die Feststellung des Kurses für Silber bei der
Annahme desselben an Kronskassen, (cf. Nr. 1528).
Da der Börsenkurs für den Silberrubel von 370 Kop., wie er 1827
stand, auf 367 gesunken war, und der Staat dadurch Verluste erlitt,
so wurde der Annahmekurs nunmehr auf 365 normirt.
Nr. 2995 und 3038. — Den 16. Juni und 26. Juli. Allerhöchst
bestätigter Beschluss des Minister-Comite: Ueber die Annahme der
neuen Platinamünze bei allen Zahlungen im Privatverkehr, wie
an den Kronskassen, wo die Annahme des Goldes und Silbers ge¬
stattet ist, (cf. Nr. 1989).
Nr. 3310. — Den 30. November. Senatsbefehl: Ueber die Prä¬
gung einer Platinamünze im Werthe von 6 Rbl. Silber.
1 8 8 0 .
Nr. 3624. — Den 25. April. Senatsbefehl: Ueber die Fest¬
setzung eines verschiedenen Kurses für die grobe und kleine
Silbermünze beim Getränkeverkauf durch die Branntweinspächter.
1 d. h. nach dem Volkskurse.
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Das Gesetz Nr. 2069 hatte zu dem Missverständnis Anlass ge¬
geben, als sollte das grobe Silbergeld zu gleichem Kurse mit dem
kleinen Silbergelde angenommen werden, während es im Volks¬
verkehr zu verschiedenem Kurse Umlauf hatte; ersteres nämlich zu
3 Rbl. 70 Kop., letzteres zu 4 Rbl. Assignaten der Silberrubel. Es
wird daher in diesem Erlasse bestimmt: dass das Kleinsilbergeld
nur zum Volkskurse, die grobe Silbermünze dagegen nach freiem
Uebereinkommen anzunehmen sei.
Nr. 3669 und 3747. — Den 19. April und 24. Juni. Senatsbefehl:
Ueber die Annahme von Silber - und Kupfergeld bei den Zahlungen
der Branntweinspächter während der Pachtperiode von 1831—1833
und über die Annahme von Gold - und Silbermünze Seitens der Päch¬
ter von den Getränkekäufern.
1) Von den Pächtern sollte X U ihrer Jahrespächt in Silber entge¬
gengenommen werden können, 2) V10 derselben in Kupfer; 3) wollten
die Pächter den Betrag sub 1 statt in Silber auch in Kupfer zahlen,
so wurde ihnen dieses Verlangen unter der Bedingung, dass sie es
im Voraus für das ganze Jahr anmeldeten, gestattet. 4) Die Zah¬
lungen in Silber und Kupfer waren nicht obligatorisch, es konnte
auch daher die ganze Summe nach wie vor in Assignaten entrichtet
werden. 5) Der Kurs für die Annahme des Silbers wurde, ohne
Unterschied für grobe und kleine Münze, auf 360 Kop. Assig. für den
Silberrubel festgesetzt 6) Zu demselben Kurse mussten auch die Päch¬
ter das Silbergeld von den Getränkekäufern annehmen, 7) das Gold
dagegen nach dem St. Petersburger Börsenkurse und die Assignaten
ohne irgend welches Agio Rubel gegen Rubel.
Diese Bestimmungen galten für die Pächter in den grossrussi¬
schen Provinzen und in Sibirien. Für die Pächter in den privile-
girten Provinzen, in Odessa und im Lande der Kosaken blieb aber
die frühere Kursbestimmung von 365 Kop. Assignaten, so wie
auch die Erlaubniss, die grobe und kleine Silbermünze je nach dem
Volkskurse derselben anzunehmen.
Nr. 3909. — Den 12. September. Senatsbefehl: Ueber die Prä¬
gung einer Platinamünze im Werthe von 12 Rbl. Silber.
Nr. 3974. — Den 4. October. Senatsbefehl: Ueber die Gestattung
der freien Ausfuhr von GoldSilber- und Plaiinamünzen russischen
Gepräges.
Uebereinstimmend mit der Vorstellung des Finanzministers wurde
zu Gunsten des vaterländischen Handels das Ausfuhr-Verbot aufge¬
hoben.
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Die grösste Summe, die man ohne Anzeige ausführen konnte,
war ioo Rbl. Für Summen von ioo—2000 Rbl. mussten mündliche,
für Summen über 2000 Rbl. schriftliche Anzeigen an das Zollamt
erfolgen. Geheime Aus- und Einfuhr blieb strengstens untersagt,
desgleichen alle Ausfuhr von Kupfergeld.
18 3 1 .
Nr. 4241. — Den 5. Januar. Senatsbefehl: lieber die Annahme
von Silber und Platina an den Kronskassen in jedem Betrage.
Durch das Gesetz vom 11. November 1827, Nr. 1528, war es ge¬
stattet worden, Zahlungen anstatt in Assignaten in Silbermünze zu
festgesetztem Kurse zu machen, doch nur in beschränktem Umfange;
von nun an konnten sie aber in den angeführten Fällen zu jeder be¬
liebigen Höhe erfolgen. — Der Kurs für grobe und kleine Silber¬
münze wurde auf 360 Kop. Assig. für den Silberrubel normirt.
Anmerkung. Von 1831 an wurde am Schlüsse eines jeden
Jahres dieser Abgabenkurs für das folgende festgesetzt, er blieb
bis zum Jahre 1839 unverändert. Seit 1819 existirte ein ähnlicher
Kurs für Zollabgaben, der, schon damals auf 360 Kop. für den Silber¬
rubel festgesetzt, bis 1839 derselbe blieb.
Nr. 4614. — Den 2. Juni. Allerhöchst bestätigter Beschluss des
Minister-Comite: Ueber die Herabsetzung des Preises für Kupfer -
geld alten Gepräges..
Der Preis wird auf 30 Rbl. fürs Pud normirt, um den Verkauf
der alten Kupfermünze zu beschleunigen.
1 8 3 2 .
Nr. 5246. — Den 25. März. Befehl an den Finanzminister: Ueber
die Erhebung der Abgaben für das Recht der Branntweinsbrennerei,
den Obrock und die Kopfsteuer in den kleinrussischen Provinzen in
Silbergeld , statt in Assignaten.
Für die Jahre 1832 und 1833 wurde versuchsweise gestattet, neben
den früheren Zahlungen in Assignaten und Kupfer, auch Zahlungen
in Silber zu machen. Diese Massregel hielt der Finanzminister für
nothwendig, um dem Volke die Abgabenzahlungen zu erleichtern
und auch ein pünktlicheres Einlaufen derselben zu erreichen, wo¬
durch eine Verminderung der Rückstände erfolgen musste.
Nr. 5406. — Den 7. Juni. Senatsbefehl: Ueber die Abänderung
des alten Münzfusses für das Kupfergeld,
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221
Die Unbequemlichkeit der bis dahin in Cirkulation befindlichen
Kupfermünze, (bloss Zwei-Kopekenstücke, rpornn) und die Nothwen-
digkeit, den inneren Werth der Münze mit dem Marktpreise ihres Me-
talles in Einklang zu bringen, erheischten folgende Bestimmungen:
i) das neue Kupfergeld sollte zu 36 Rbl. aus einem Pud geprägt
werden, 2) in folgenden 4 Gattungen: io-Kopekenstücke (rpn-
bchhkh); 5 -Kopekenstücke (njrraitH); 2-Kopekenstücke (rpornn);
und i-Kopekenstücke (KOirfeßKH). 3) Alle Münze alten wie neuen
Gepräges musste überall zum Nennwerthe angenommen werden.
4) Die Ausfuhr des neuen Kupfergeldes wurde unter denselben Be¬
dingungen, wie diejenige der Gold- und Silbermünze gestattet (cf.
Nr 3974). 5) Die Ausfuhr und die Umschmelzung des alten Kupfer¬
geldes, zu 24 Rbl. aus dem Pud, über dessen Einziehung ein besonde¬
rer Erlass erscheinen sollte, blieb wie früher strengstens untersagt.
Nr. 5462. —Den 25. Juni. Senatsbefehl: Ueber die Wechselord¬
nung. In S 71 wurde bestimmt: Jede Zahlung muss in derselben
Münze gemacht werden, welche im Wechsel verzeichnet ist. Hier¬
bei versteht es sich aber von selbst: 1) dass bei internen Wechseln
die Zahlung, anstatt in Gold und Silber, in Assignaten nach Kurs
laut dem allgemeinen Gesetze nicht refusirt werden kann; 2) dass bei
ausländischen Wechseln, wenn dieselben auf ausländische Münze
lauten, die Zahlung in russischem Gelde nach Wechselkurs erfolgt;
3) dass unter «Kurs» derjenige Kurs verstanden wird, welcher am
Fälligkeitstermine des Wechsels am Orte der Zahlung an der Börse
notirt ist.
1 8 3 3 .
Nr. 5939. —Den 27. Januar. Senatsbefehl: Ueber die Prägung
einer neuen Silbermünze zu 8 /* und i 1 /* Rbl.
Diese Prägung geschah zur Erleichterung der Handelsumsätze im
Königreich Polen. Zu demselben Zwecke wurden bereits seit dem
15. October 1832 (Nr. 5678) 15-Kopekenstücke geprägt.
Nr. 6194. — Den 10. Mai. Befehl an den Finanzminister: Ueber
die Annahme von Goldmünze an den Staatskassen bei Zahlungen
von Abgaben und Steuern, und Nr. 6562, vom 8. November, über
diese Annahme überhaupt bei allen Zahlungen.
In Erwägung dessen, dass sich russische Goldmünzen in bedeuten¬
der Menge in Umlauf befanden, und dass ihre Annahme an den
Kronskassen dem Volke eine grosse Erleichterung gewähren würde,
wurde bestimmt: 1) In allen den Fällen, wo nach dem Gesetz Nr.
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S
222
4241 die Zahlungen in Silber erlaubt seien, dieselben fortan auch in
russischer Goldmünze zu gestatten, und 2) den Annahmekurs der
Goldmünze für 1834 auf 375 Kop. Assig. für den Goldrubel festzu¬
setzen, nach dem Verhältnisse des Goldwerthes zum Silberwerthe.
— Fortan wurde der Goldkurs zusammen mit dem Silberkurse am
Schlüsse eines jeden Jahres für das folgende bestimmt.
Nr. 6273. — Den 19. Juni. Senatsbefehl: Ueber den Preis und
Werth der ausländischen Gold- und Silbermünzen.
Es war zur Kenntniss des Finanzministers gelangt, dass sich der
Umlauf ausländischer Gold- und Silbermünze in mehreren Gouverne¬
ments seit einiger Zeit bedeutend verstärkt habe, und dass diese Mün¬
zen an vielen Orten zu einem ihren inneren Werth bedeutend über¬
schreitenden Kurse angenommen würden. Um nun das Publikum und
vor allen Dingen das einfache Volk vor den daraus entstehenden Ver¬
lusten zu schützen, wurde von Seiten der Regierung eine Tabelle
publicirt, die den genauen Werth der kursirenden ausländischen
Gold- und Silbermünzen angab: 1) nach ihrem Metallwerthe und
2) nach dem Kurswerthe russischer Gold- und Silbermünze; und
zwar: a) nach dem St. Petersburger Börsenkurse, b) nach dem Ab¬
gabenkurse des Silbergeldes und c) nach dem Volkskurse (npocTO-
HapoAHtift Kypci>).
1 8 3 4 .
Nr. 7015. — Den 21. April. Allerhöchst bestätigter Beschluss
des Minister-Comite: Ueber die Bestimmung, dass bei Zahlungen
die Brüche, für welche keine Münze existirt, auch nicht in Rechnung
kommen sollten.
Da seit dem 1 Juni 1832 (Nr. 5406) keine 7 *- und V^-ICop.-Stücke
jn Kupfer mehr geprägt wurden und Silbermünzen kleiner als in5-Ko-
pekenstücken nicht existirten, so sollten 1) alle Brüche, die in Silber
auszuzahlen waren, in Kupfer berechnet, und 2) alle Brüche bis zu
einem Kopeken Kupfer überhaupt nicht gerechnet werden. \Venn
also z. B. l lt Kopeken in Silber zu zahlen nachblieb, so hatte man,
da er i*U Kop. in Kupfer gleich war, nur 1 Kop. Kupfer zu zahlen.
Nr. 7032. — Den 1. Mai. Senatsbefehl: Ueber die Prägung einer
neuen Goldmünze im Werthe von 3 Goldrubeln. Diese Münze sollte
3 Rbl. Imperial oder russischer Ducaten heissen.
Dieser Befehl erfolgte, um das Reichs-Münzsystem mit demjenigen
des Königreichs Polen in bessere Uebereinstimmung zu bringen. Zu
dem gleichen Zwecke sollte auch noch eine Silbermünze zu 30 Kop.
geprägt werden (cf. auch. Nr. 5939).
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223
Nr. 7215. —Den 23. Juni. Allerhöchst bestätigtes Gutachten
des Reichsraths: Ueber die Herabsetzung des Annahmekurses
für Goldmünzen an den Kronskassen von 375 auf 365 Kop. Assig.
für den Goldrubel (cf. Nr. 6194).
Nr. 7218. — Den 23. Juni. Senatsbefehl: dass Zahlungen in aus¬
ländischer Münze nur nach beiderseitigem, freiwilligem Ueberein-
kommen der Kontrahenten gemacht werden könnten.
Es waren nämlich, hauptsächlich in Moskau, viele unvollwichtige
Ducaten betrügerischerWeise in Umlauf gesetzt worden, welche dem
gemeinen Volke, namentlich den Arbeitern, bei Zahlung als voll¬
wichtig gegeben wurden. Die Arbeiter nahmen sie auch theils aus
Unwissenheit, theils aus Noth im Werthe der vollwichtigen an. Um
diesem Verluste der Arbeiter vorzubeugen, wurde daher bestimmt:
1) dass die Strafen für Münzverschlechterung von Neuem einzu¬
schärfen seien; 2) dass Niemand gezwungen sei, ausländische Münze
anzunehmen, und 3) dass alle Fabrikherren u. s. w. verpflichtet
werden sollten, die Löhne u. s. w. nur in russischer klingender Münze
oder Assignaten auszuzahlen, es sei denn, dass die Arbeiter u. s. w.
sich speciell vollwichtige ausländische Münzen ausbedungen hätten;
4) im Falle von Klagen wegen Uebertretung dieser Bestimmungen
sollte sofort gerichtlich gegen die Uebertreter eingeschritten und ge¬
gen dieselben wie gegen Zahlungsunfähige verfahren werden, denn:
«die Weigerung, in der durch das Gesetz legalisirten Münze oder
Assignaten zu zahlen, ist im Wesentlichen nichts Anderes, als eine
Weigerung, eine eingegangene Verpflichtung zu erfüllen».
Nr. 7221. — Den 25. Juni. Senatsbefehl: Ueber die zeitweilige
Annahme ausländischer Münze an den Kreisrenteien.
Dieses sollte geschehen, um die ausländische Münze schneller aus
dem Verkehre zu ziehen. Sie wurde im Betrage von Vs der Zah¬
lung, nach einem festgesetzten, dem inneren Werthe der Münze ent¬
sprechenden Kurse bei folgenden Zahlungen angenommen: für die
Kopfsteuer, für die Berechtigung des Branntweinbrennens, für den
Obrok und für die Erhaltung der Wege- und Wassercommunicatio-
nen. Die Annahme wurde versuchsweise auf ein Jahr, vom 1. Octo-
ber 1834 bis zum 1. October 1835, anbefohlen (cf. Nr. 30,042, 1824).
Nr. 7248 u. 7260. — Den 3. und 6. Juli. Senatsbefehl: Ueber
die Annahme von Gold- t Silber -, Plalina - und Kupfermünzen an den
Kronskassen in den Zahlungen der Branntweinspächter während der
Pachtzeit von 1835 bis 1839.
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,224
Es sollten: i) nicht mehr als io pCt. der Jahreszahlung in Kupfer
gezahlt werden können, 2) in Silber oder Platina 20 pCt., aber auf
Wunsch der Pächter auch noch jene 10 pCt., anstatt in Kupfer, 3)
in russischer Goldmünze durften die Pächter in jedem Betrage zahlen,
doch wurde diese Münzgattung nur nach Gewicht angenommen,
ebenso wie in den privilegirten Provinzen das Silber. 4) Der An¬
nahmekurs war der Abgabenkurs, nach welchem auch die Pächter
verpflichtet waren, die Münze von den Getränkekäufern entgegen
zu nehmen. 5) Diese Massregeln sollten die Pächter nicht zu Zah¬
lungen in klingender Münze zwingen; es stand ihnen nach wie vor
frei, die ganze Zahlung nur in Assignaten oder in Reichsschatzbille-
ten (ÖHJieTM TocyA. Ka3HaHeflCTBa) zu entrichten.
Nr. 7442. — Den 8. October. Senatsbefehl: Ueber die Abschlies¬
sung von Geldverbindlichkeiten, sowohl zwischen Privaten allein, als
auch zwischen Privaten und der Krone, auf Assignaten, Kupfer,
Gold oder Silber nach dem Nennwerthe dieser Münzen.
«In Folge der zu Uns gelangten Klagen über die Mannigfaltigkeit
und die übermässige Steigerung des Agio bei Zahlung der Geldver¬
bindlichkeiten, welche auf «Münzkurs* (no Kypcy Ha MOHeiy) lau¬
ten, hielten Wir es für nothwendig, diese Angelegenheit mit allen
ihren Einzelnheiten dem St. Petersburger Commerzrath zur Durch¬
sicht zu übergeben, und sie darauf in einem besonderen Comite,
welches aus Mitgliedern des Reichsraths gebildet war, mit der allge¬
meinen Grundlage Unseres Münzsystems vergleichen zu lassen. Aus
den Uns in Folge dessen zugegangenen Berichten geht hervor:
1) Dass im Manifest vom 20. Juni 1810 bestimmt ist: «alle gesetz¬
lichen Papiere, Kaufbriefe, Wechsel, Kontrakte und Abmachungen
auf russische Münze auszustellen»; 2) dass alle internen Verbindlich¬
keiten auf Assignaten, Kupfer-, Silber- und Goldmünze russischen
Gepräges nach ihrem Nennwerthe lauten müssen; 3) dass sich da¬
gegen beim Eingehen von Verbindlichkeiten auf Assignaten der
Usus eingeschlichen hat, besondere Bedingungen über Zahlung
nach «Münzkurs» zu stipuliren, worunter man das Agio 1 versteht, wie
es sich am Zahlungstermin gestaltet. Auf solche Weise werden die
Preise aller Dinge, ausser den ihnen eigentümlichen und im Handel
notwendigen Veränderungen, noch anderen zufälligen, mannigfal¬
tigen Veränderungen unterworfen, deren Grund das Agio ist. Die
Folge davon ist Unbestimmtheit und Verwirrung im Betrage der
Zahlungen, verwickelte Rechnungen, Erschwerung in der Ab-
Volks-Agio.
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rechriung, und, was das Wichtigste ist, gewinnsüchtige und unge¬
rechte Wechselgeschäfte, zumal an Orten, wo das Agio nicht durch
den Börsenkurs regulirt wird, sondern durch die willkürliche Hand¬
lungsweise einiger weniger sich mit dem Wechselgewerbe befassen¬
der Personen.
Um nun diesen Missständen abzuhelfen, bestimmen Wir:
i) Dass alle inländischen Geldverbindlichkeiten, sowohl zwischen
Privatleuten, wie zwischen diesen und der Krone nicht anders als,
gemäss dem Wortlaut des Gesetzes, auf russische Münze lauten dür¬
fen: auf Assignaten, Kupfer-, Gold- oder Silbermünze, je nach ihrem
Nennwerthe. Es dürfen dabei absolut keine Abmachungen Vorkom¬
men Überzahlung nach e Münzkurs». Verbindlichkeiten mit einer der¬
artigen Abmachung werden für nichtig erklärt und sind nirgendsklag¬
bar. 2) Diese Bestimmung bezieht sich nur auf schriftliche Verbind¬
lichkeiten; Kauf und Verkauf bei contanter Zahlung bleiben vollkom¬
men frei, und sind nur abhängig von dem freiwilligen Uebereinkommen
und der mündlichen Abmachung zwischen Käufer und Verkäufer.
Für die Ablöhnung von Arbeitern aber, so wie für alle, wenn
auch mündlichen Abmachungen mit denselben gelten die Bestim¬
mungen des S 1 in ihrer ganzen Tragweite. Der Lohn muss den Ar¬
beitern genau in der Münze ausgezahlt werden, die bei ihrer An¬
nahme ausgemacht worden, nicht aber nach dem Münzkurse, wie er
sich am Tage der Ablöhnung gestaltet, d. h. ohne irgendwelche
Agioverrechnung. Im Falle von Klagen gegen Uebertretung dieser
Bestimmungen soll die Ortsobrigkeit sofort den Benachtheiligten
den schleunigsten gesetzlichen Schutz gewähren. 3) Diese Verord¬
nung tritt mit dem Tage ihrer Publikation in Kraft. Alle Verbind¬
lichkeiten, die bis zu diesem Termin geschlossen worden sind, und
welche jene erwähnten Bedingungen enthalten, bleiben jedoch in
Kraft, da sie nach beiderseitigem freiwilligem Uebereinkommen zu
Stande gekommen sind».
1 8 3 6 .
Nr. 9106. — Den 27. April. Senatsbefehl: Ueber den Preis der
sich in-Russland im Umlaufe befindenden ausländischen Gold - und
Silbermünzen , cf. Nr. 6273.
Der Werth war nach dem Abgabenkurse derselbe geblieben, nur
fielen alle Brüche ab. Nach dem Börsenkurse war der Werth für die
Goldmünze jetzt etwas niedriger (etwa um 4 Kop.), da derselbe für
den Silberrubel von 360 auf 358 Kop. Assign. herabgegangen war.
Rum. Berne Bd. VII. 15
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Nr. 9368. — Den 7. Juli. Allerhöchst bestätigter Beschluss des
Minister-Comite: Ueber die freie Aus- und Einfuhr des Kupfergeldes
letzten Gepräges (36 Rbl. aus dem Pud).
Die Ausfuhr des Kupfergeldes alten Gepräges blieb verboten.
1 8 3 8 .
Nr. 11,343. — Den 17. Juni. Senatsbefehl: Ueber die Annahme
von Gold-, Silber -, Platina- und Kupfermünze von den Branntweins¬
pächtern für die Pachtzeit von 1839—1843.
Es waren dieselben Bestimmungen wie für die vorhergehende Pe¬
riode (cf. Nr. 7248), sie wichen nur darin von jenen ab, dass jetzt in
Silber 30 pCt. und in den grossrussischen Provinzen die Hälfte dieser
Summe auch in ausländischer Gold- und Silbermünze nach Gewicht
gezahlt werden konnte.
1 8 3 9 .
Nr. 12,603. — Den 28. Februar. Allerhöchst bestätigter Beschluss
des Minister-Comite: Ueber die Annahme von klingender Münze in
jedem Betrage bei der Abgabenzahlung für die Verpflegung der
Truppen.
Nr. 12,497. —Den i.Juli: Manifest: * Ueber die Organisation des
Geldsystems ».
«Verschiedene Veränderungen in Unserem Geldsysteme, hervor¬
gerufen durch die Zeit und die Macht der Verhältnisse, haben nicht
nur zur Folge gehabt, dass den Reichs-Assignaten, ihrer ursprüng¬
lichen Bestimmung zuwider, der Vorzug vor dem Silber, der funda¬
mentalen Münze Unseres Reiches, eingeräumt worden ist, sondern
auch, dass durch eben diesen Umstand mannigfaltige, fast an jedem
Orte von einander abweichende, Agio entstanden sind.
Ueberzeugt von der Nothwendigkeit, diesen Schwankungen, welche
die Einheit und die Ordnung Unseres Geldsystems stören und ver¬
schiedene Verluste und Erschwerungen für alle Stände des Reiches
nach sich ziehen, ohne allen Verzug ein Ende zu machen, haben
Wir es, in steter Fürsorge um das Wohlergehen Unserer getreuen
Unterthanen, für gut befunden, entschiedene Massregeln zu ergreifen,
um jene Schäden zu unterdrücken und einer Wiederkehr derselben
in Zukunft vorzubeugen.
In Folge dessen verordnen Wir:
1) Die Restitution der im Manifest vom 20. Juni 1810 (II. C. safto*
hob> Nr. 24,264) enthaltenen Vorschrift: die Silber-Münze russi-
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sehen Gepräges wird von nun an und in Zukunft zur Reichs-Haupt¬
zahlmünze, und der Silber-Rubel jetziger Prägung, mit seinen be¬
stehenden Theilungen, zum unveränderlichen Haupt-Preismass (zur
Münzeinheit) alles im Reiche in Umlauf befindlichen Geldes bestimmt;
dem entsprechend sollen auch alle Abgaben und Steuern, sowie
alle Zahlungen und etatsmässigen Ausgaben seiner Zeit auf Silber
umgerechnet werden.
2. Bei einer solchen Festsetzung des Silbers als Hauptzahlmünze
verbleiben die Reichs-Assignaten, entsprechend ihrer ursprünglichen
Bedeutung, als Hülfswerthzeichen, mit einem ein für alle Mal be¬
ständigen und unveränderlichen Kurse derselben auf Silber, indem
der Rubel Silber in grober wie in kleiner Münze zu 3 Rbl. 50 Kop.
Assignaten gerechnet wird.
3. Es wird dem Willen der Zahlenden anheimgestellt, nach die¬
sem beständigen und unveränderlichen Kurse folgende Zahlungen in
Silbermünze oder Assignaten zu leisten: a) alle Kronsabgaben und
Steuern, alle Landes-, Gemeinde- und andere Abgaben, kurz alle
von der Krone festgesetzten und ihr zukommenden Zahlungen;
b) alle Zahlungen nach besonderen Taxen, wie z. B. die Getränke¬
pacht, Postgelder, Chausseegelder, Zahlungen für Salz, Stempel¬
papier, Pässe u. dgl. mehr; c) alle Zahlungen, die in den Reichs-
Creditanstalten, im Collegium der allgemeinen Fürsorge und in
privaten, von der Regierung bestätigten, Banken zu erfolgen haben.
4. In gleicher Weise werden alle Zahlungen von Seiten der Krone,
die auf Assignaten berechnet sind, nach demselben beständigen
Kurse in Silber oder Assignaten ausgeführt werden.
5. Alle angeführten Zahlungen müssen, vom Tage der Publi¬
kation dieses Manifestes an, nach dem festgesetzten Kurse erfolgen.
Der Abgaben-und Zollkurs bleibt jedoch bis zum 1. Januar 1840
unverändert zu 360 Kop. bestehen.
6. Alle Rechnungen, Kontrakte, kurz alle Abmachungen müssen
auf Silbermünze lauten.
Bei der grossen Ausdehnung des Reiches kann jedoch diese
Vorschrift nicht plötzlich im ganzen Reiche in Wirkung treten,
daher wird sie erst vom 1. Januar 1840 an in ihrer ganzen Kraft
verbindlich, und von diesem Termine an dürfen weder Gerichte
noch Makler und Notare irgendwelche Abmachungen, auf Assig¬
naten lautend, zur Einklage oder Bescheinigung entgegen nehmen.
Die Zahlungen der Verbindlichkeiten, Kontrakte u. s. w. können
jedoch ohne Unterschied in Silber oder Assignaten nach dem im
* 5 *
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funkt 2 festgesetzten Kurse berichtigt werden, und Niemandem
steht das Recht zu, die Annahme der einen oder anderen Art Geldes
nach diesem Kurse zu verweigern.
7. Die Höhe der Darlehen aus den Creditanstalten wird in Silber
bestimmt ...
8. Um dem freien Eintausch alle Wege zu eröffnen, wird den
Kreisrenteien anbefohlen, nach Massgabe ihres Kassenbestandes As¬
signaten gegen Silber und umgekehrt Silber gegen Assignaten
nach demselben festgesetzten Kurse einzuwechseln; einem Jeden,
der die Einwechselung begehrt, bis zum Betrage von 100 Rbl. Silber.
9. Ferner wird es strengstens verboten, den Assignaten irgend
einen anderen Kurs als den festgesetzen beizulegen, ein Agio auf
Silber und Assignaten zu erheben und bei neuen Abmachungen von
der sogenannten Rechnung «auf Münze »(cnerb Ha MOHeTy) Gebrauch
zu machen. Der Wechselkurs an den Börsen, so wie überhaupt alle
Notirungen in den Preiscouranten u. s. w. sind von nun an stets in
Silber zu verzeichnen, und für Assignaten darf an den Börsen über¬
haupt kein Kurs mehr notirt werden.
10. Goldmünze wird an allen Kronskassen und Creditanstalten mit
einem Zuschlag von 3 pCt. zu ihrem Nominalwerthe entgegenge¬
nommen und ausgegeben, d. h. der Imperial wird zu 10 Rbl. 30 Kop.
und der Halbimperial zu 5 Rbl. 15 Kop. gerechnet.
11. An allen Kassen wird jegliche russische Münze alten wie
neuen Gepräges angenommen; mit Ausnahme beschnittener, durch¬
stochener und angefeilter Münzen.
12. Für die augenblicklich in Umlauf befindliche Kupfermünze
gelten bis zu ihrer Umprägung auf Silber folgende Bestimmungen:
a) Es sollen 3 ] /2 Kop. Kupfer gleich 1 Kop. Silber gerechnet
werden, b) Die Kronskassen sind verpflichtet, das Kupfergeld nach
wie vor bei allen Zahlungen in jedem Betrage entgegen zu nehmen,
wenn darüber keine speciellen Bestimmungen vorhanden sind; die
Creditanstalten dürfen Kupfergeld aber nur in Beträgen bis zu 10
Kop. Silber annehmen. Privaten ist die Annahme freiwilligem Ueber-
einkommen überlassen.»
Nr. 12,498. — Den 1. Juli. Senatsbefehl: Ueber die Einrichtung
einer Depositenkasse für Silbermünze.
«In Folge einer Vorlage des Finanzministers verordnen Wir: Zur
Vermehrung der cirkulationsfähigeren Geldzeichen bei der Reichs-
Commerzbank vom i.Januaf 1840 an eine besondere Depositen¬
kasse für Silbermünze auf folgender Grundlage einzurichten:
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1. In dieser Kasse sollen Einlagen in Silber-Münze russischen Ge¬
präges zur Aufbewahrung angenommen werden.
2. Diese Einlagen sollen unangetastet und getrennt von dem Ka¬
pitale der Commerzbank, unter Verantwortung derselben, aufbe¬
wahrt werden, unter Aufsicht zweier besonderer Direktoren stehen,
die aus den Mitgliedern des Aufsichtsrathes der Reichs-Creditanstal-
ten gewählt werden, und dürfen zu Nichts Anderem verwandt wer¬
den als bloss zum Eintausch der Depositenbillete.
3. Gegen die Einlagen werden Depositenbillete im Werthe von
3, 5, 10 und 25, später aber auch von 1, 50 und 100 Rbl. Silber
ausgegeben.
4. (Ueber ihre Verfertigung).
5. Den Depositenbilleten wird ein Umlauf al pari mit der Silber¬
münze ohne alles Agio im ganzen Reiche beigelegt. Sie müssen bei
allen inländischen Zahlungen, sowohl bei denen, die zwischen Priva¬
ten und der Krone und den Creditanstalten, als auch bei denen, die
zwischen Privaten allein stattfinden, angenommen werden.
6. Bei der Präsentirung der Depositenbillete an der Commerzbank
werden dieselben sofort, ohne den geringsten Aufenthalt oder die
geringste Provision, gegen eine dem Nennwerthe der Billete ent¬
sprechende Summe Silbergeldes eingelöst.
7. (Ueber den Eintausch alter Billete gegen neue).
8—11. (Organisation der Depositenkasse).
12. Um die Thätigkeit der Depositenkasse zu beaufsichtigen,
wird ausser der internen Kontrole der Commerzbank noch eine
höhere von Seiten des Aufsichtsraths der Creditanstalten ange¬
ordnet. Dieser Aufsichtsrath hat, um die Unversehrtheit der auf¬
bewahrten Einlagen zu überwachen, alljährlich aus seiner Mitte
je einen Deputirten des Adels und der Kaufmannschaft zu wählen,
die bei den monatlichen Revisionen der vorhandenen Summen und
der Umsätze zugegen sein sollen und auch ausserordentliche Revi¬
sionen veranstalten können.
Nr. 12,536.—Den 14. Juli. Senatsbefehl: Ueber die Tabelle der
ausländischen Münzen .
Diese Tabelle wurde jetzt, auf Silber umgerechnet, publicirt.
Nr. 12,560. — Den 27. Juli. Allerhöchst bestätigter Beschluss des
Minister-Comite: Ueber die Massregeln zur Erzielung einer einheit¬
lichen Ausführung des Manifestes vom 1. Juli über das Geldsystem.
a) Alle gewöhnlichen Taxen fiir Lebensmittel-, Markt-, Durch¬
schnitts- und ähnliche andere Preise sind überall gleich in Silber zu
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notiren. b) In Buden, auf Märkten und überall wo ein öffentlicher Ver¬
kauf stattfindet, müssen alle Preise nach dem fixirten Kurse von 350
Kop. berechnet werden; ausgenommen sind nur die Fälle, wo laut
dem Manifest der Abgabenkurs von 360 Kop. bis zum 1. Januar 1840
in Kraft zu bleiben hat; sonst darf bei strengster Verantwortlich-
, keit nirgends ein anderer Kurs oder irgendwelches Agio zuge¬
lassen werden, c) Ausländische Gold- und Silbermünze, die sich in
einzelnen Gegenden in Umlauf befindet, darf keinen anderen Kurs
haben, als den in den Tabellen vom 10. October 1838 (Nr. 11,839)
und 14. Juli 1839 (Nr. 12,536) verzeichneten.
Nr. 12,867.—Den 9. November. Senatsbefehl: Ueber die Um¬
rechnung verschiedener Abgaben und Steuern auf Silber .
In Uebereinstimmung mit dem Manifeste vom 1. Juli ist die Um¬
rechnung aller Staats-Ausgaben und -Einnahmen, und überhaupt
aller von der Regierung festgesetzten Zahlungen auf Silber für gut
befunden worden.
Anmerkung. Diese Umrechnungen wurden allmählich ausgefiihrt;
sie erstreckten sich bis in das Jahr 1843 hinein. Die wichtigsten und
bei weitem die meisten wurden jedoch im Jahre 1839 erledigt
1 8 4 0 .
Nr. 13,114. — Den 26. Januar. Senatsbefehl: Ueber die gleich-
werthige Annahme der Münze alten und neuen Gepräges.
Wiederholung des Punktes 11 aus dem Manifest vom 1. Juli 1839,
weil man im täglichen Verkehr das kleine Silbergeld alten Gepräges
nicht gleichwerthig mit dem neuen annehmen wollte.
Nr. 13,757. — Den 6. September. Senatsbefehl: Ueber die neue
Kupfermünze mit Berechnung auf Silber.
Aus einem Pud Kupfer sollte Kupfermünze für 16 Rbl. Silber ge¬
prägt werden, in 3-, 2-, 1-, V 2 * und '/vKopekenstücken Silber.
1. Solange aber der Verkehr noch nicht hinlänglich für seinen gan¬
zen Bedarf an Kupfermünze, mit Kupfer neuen Gepräges versorgt
wäre, sollte das Kupfergeld alten Gepräges zu 36 und 24 Rbl. Ass.
aus dem Pud in Umlauf bleiben, und zwar zu dem im Manifeste vom
1. Juli 1839 (Nr. 12,497, Punkt 12) festgesetzten Kurse. 2. Der
Finanzminister sollte dafür Sorge tragen, dass im Verhältniss der
Ausgabe des neuen Kupfergeldes das alte aus dem Verkehr ge¬
zogen werde. Ueber die endgültige Sistirung der Umlaufsfähigkeit
des Kupfergeldes alten Gepräges sollten seiner Zeit besondere Vor¬
schriften erlassen werden. 3. Die Ausfuhr des neuen Kupfergeldes
wurde gestattet.
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18 4 1 .
Nr. 14,266. — Den 10. Februar. Allerhöchst bestätigtes Gut¬
achten des Reichsraths: Ueber die Annahme von Gold- und Silber¬
barren in die Depositenkasse.
Diese Verordnung erfolgte, um den Goldumlauf zu beschleunigen.
Silberbarren niedriger als von der 84. Probe und unter 40 Pfund,
und Goldbarren niedriger als von der 72. Probe und unter 5 Pfund
wurden nicht angenommen.
Nr. 14,521. — Den 5. Mai. Allerhöchst bestätigte Vorlage des
Finanzministers: Ueber die* Einstellung des Prägens der 3- und
iVs-Rbl., 75- und 15-Kop. Münzen mit polnischer Aufschrift.
1 8 4 2 .
Nr. 15,734. —Den 10. Juni. Senatsbefehl: Ueber die Zueignung
eines stehenden Nennwerthes der Kupfermünze alten Gepräges im
Verhältnis zum Silber.
Indem wir es für das Volk nützlich erachten, dass sich im Verkehre
nur eine auf Silber berechnete Kupfermünze befindet, und um zugleich
das auf Grundlage des Manifestes vom 1. Juli 1839 (Nr. 12,497) ein¬
geführte Geldsystem erfolgreich zu.vervollständigen, befehlen Wir:
1) dem auf Assignaten berechneten Kupfergelde alten Gepräges, bis
zu seiner vollständigen Einziehung aus dem Verkehre und seiner Um¬
prägung in neue Münze auf Silber, einen auf Silber lautenden Nenn¬
werth beizulegen; auf Grundlage dessen soll das io-Kopekenstück
gleich 3 Kop. Silber gerechnet werden, das 5-Kopekenstück gleich
1 V*, das 2-Kopekenstück gleich V2 und das 1-Kopekenstück gleich
V4 Kopeken Silber; 2) einzig und allein nach diesem Werthverhält¬
nisse soll vom 1. Januar 1843 an das Kupfergeld alten Gepräges
überall angenommen werden.
B. Die Assignaten.
1 8 3 9 .
Nr. 12,497. — Den 1. Juli. Manifest: Ueber die Organisation des
Geldsystems, cf. dies Gesetz p. 84. ff. im Punkte 2, 3 und 9, die
sich auf die Assignaten beziehen.
1 8 4 3 .
Nr. j 6,903- — Den 1. Juni. Manifest: Ueber die Einwechselung
der Assignaten und der übrigen Vertreter des Geldes gegen Credit-
billete.
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* 3 *
«Die Nothwendigkeit den Schwankungen, welche die Einheit und
Ordnung unseres Geldsystems stören, ein Ende zu machen, hat Uns
zu der Publikation des Manifestes vom I. Juli 1839 (Nr. 12,497) ver¬
anlasst. Kraft desselben ist die Silber-Münze russischen Geprä¬
ges, wie es auch früher der Fall war, als Hauptzahlmünze des Reiches
wiederhergestellt, für die Assignaten aber, als blosse Hülfswerth-
zeichen, ein beständiger Kurs in Silber festgesetzt worden.
Um jedoch eine vollkommene Uebereinstimmung des Papiergeld¬
systems mit der Münze und eine Gleichförmigkeit zwischen den Ver¬
tretern des Geldes zu erreichen, haben Wir schon damals die Noth-
wendigkeit erkannt, die Assignaten gegen andere Werthzeichen ein¬
zutauschen, die jene Münze vertreten sollen, welche als Grundmünze
des Reiches anerkannt worden ist.
Mit dieser Absicht und um die Volksgewohnheiten nicht plötzlich
zu erschüttern, wurden Anfangs verschiedene zeitweilige Massregeln
getroffen. In Uebereinstimmung mit dem Manifest sind nach seiner
Publikation alle Krons- und Privatzahlungen und -Rechnungen auf
Silber umgeändert, erst Depositen- und dann Creditbillete emittirt
und auch auf Silber lautende Kupfermünze geprägt worden.
Jetzt halten Wir den Zeitpunkt für geeignet, die Assignaten und
andere Vertreter des Geldes durch ein Werthzeichen zu ersetzen.
Der Eintausch wird allmählich, ohne Anstrengung und Verwirrung
im Verkehre zu veranstalten, vor sich gehen. Für den Eintausch
bestimmen Wir die Creditbillete , welche, dem Volke schon bekannt,
in ihrem Werthe gedeckt sind und überall einen freien Umlauf al
pari mit dem Silber haben.
Zu diesem Zwecke verordnen Wir auf Grundlage der auch im
Reichsrath bestätigten Vorlage des Finanzministers Folgendes:
1. Die in Umlauf befindlichen Reichs-Assignaten im Betrage
von 595,776,310 Rbl., welche nach dem festgesetzten Kurse
170,221,808 Rbl. 85 5 /7 Kop. Slb. ausmachen, sollen nach und nach
durch Creditbillete ersetzt werden, denen noch der Name «Reichs-
Creditbillete» gegeben wird, damit ihre Benennung ihrer jetzigen
Bedeutung mehr entspreche.
2. Die Summe der zur Einwechselung der Assignaten zu emitti-
renden Reichs-Creditbillete wird dem Betrage der ersteren entspre¬
chend in runder Zahl auf 170,221,800 Rbl. festgesetzt.
3. Von den 30 Mill. Creditbilleten, die durch das Manifest vom
1. Juli 1841 (Nr. 14,700) für die Depositenkassen und die Leih¬
banken bestimmt wurden, verbleiben 10 Mill. dem Umlaufskapital
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dieser Anstalten; 20 Mill. dagegen werden für das Reservekapital
ausgeschieden. Die Ausgabe dieser 20 Mill. im ganzen oder theil-
weisen Betrage nach Beendigung des Eintausches der Assignaten
behalten Wir Unserem eigenen besonderen Ermessen vor.
4. Die Reichs-Creditbillete, die zur Einwechselung der Assig¬
naten emittirt werden, sind in ihrem Werthe durch das ganze Ver¬
mögen des Staates und die jeder Zeit auf Grundlage der Punkte
7, 11 und 13 dieses Manifestes zu erfolgende Einwechselung gegen
klingende Münze sichergestellt.
5. (Gründung einer besonderen Expedition der Reichs-Credit¬
billete}.
6. Die Reichs-Creditbillete werden ausser in Appoints von 50 Rbl,
wie sie bereits in Umlauf sind, auch noch in Appoints von 25, 10,
5, 3 und 1 Rbl. emittirt, zur grösseren Bequemlichkeit für die im
Alltagsleben vorkommenden Zahlungen. Sollte sich ein Bedarf an
Creditbilleten in Appoints von 100 Rbl. heraussteilen, so können
auch solche in Zukunft emittirt werden.
7. Zur Sicherstellung des ununterbrochenen Eintausches der Cre-
ditbillete gegen klingende Münze wird bei der Expedition der
Billete ein beständiger Fond, in Gold- und Silbermünze beste¬
hend, gegründet. Dieser Fond muss wenigstens den sechsten Theil
der zur Einwechselung von Assignaten emittirten Creditbillete
ausmachen.
8. Der ursprüngliche Fond zur Sicherstellung des Eintausches
der gegen Assignaten zu emittirenden Creditbillete in runder Summe
von nicht weniger als 28 Vs Mill. Rbl., wird aus 14*/* Mill. Rbl*
in Gold- und Silbermünze gebildet, die bei der Eröffnung der Ex¬
pedition daselbst aus den Reichs-Reservekapitalen und aus dem Be¬
trage an klingender Münze deponirt werden, welcher dem Fond für
die im Reichsschatzamt befindlichen und fernerhin dort fiir mannig¬
faltige Zahlungen einlaufenden Depositenbillete zu überweisen ist.
9. Um eine vollkommene Einheit unter den Vertretern des Geldes
zu erreichen, werden auch die Depositenbillete allmählich aus dem
Verkehr gezogen werden. Zu diesem Zwecke wird: a) die Annahme
von Silbergeld und Barren in die Depositenkasse mit Eröffnung
der Expedition der Creditbillete sistirt; aber die ununterbrochene
Einwechselung von präsentirten Depositenbilleten bleibt an dieser
Kasse wie zuvor fortbestehen. b) Für die in das Reichsschatzamt
und in die Creditanstalten einlaufenden Depositenbillete, so wie für
die klingende Münze, welche zur Herstellung des Einwechselungs-
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*34
fond nach Punkt 8 der Expedition übergeben wird, werden Credit-
billete in demselben Betrage zurückgegeben, c) Alle in die Deposi¬
tenkasse durch Einlösung zurückkehrenden Depositenbillete werden
nach vorangegangener Revision vernichtet, d) In der Folge wird die
Depositenkasse durch einen besonderen Erlass aufgehoben und
gleichzeitig sollen Massregeln ergriffen werden, um die Einlösung
der noch vorhandenen Depositenbillete zu beendigen und dem Um¬
lauf derselben als Geldzeichen ein Ziel zu setzen.
10. Nach Massgabe der, möglicher Weise nothwendig werdenden,
verstärkten Einlösung der Creditbillete muss das Reichsschatzamt
den Fond nach Punkt 7 ergänzen.
11. Die Einlösung der Creditbillete gegen klingende Münze findet
statt: in St. Petersburg an der Einwechselungskasse der Expedition
der Creditbillete für jeden Betrag; und in Moskau an der dortigen
Abtheilung derselben Kasse, doch nur bis zu einem Betrage von
3000 Rbl. an eine und dieselbe Person.
12. Nach der Gründung von Einwechselungskassen in St. Peters¬
burg und Moskau und der gleichzeitigen Aufhebung solcher Kassen
an der Leihbank und der Depositenkasse werden die Bank und
diese Kassen verpflichtet, sich an der Bildung des Einwechslungsfond
bei der Expedition der Creditbillete zu betheiligen, indem sie dem¬
selben die Summe der ihnen zugewiesenen Creditbillete übersenden.
13. Zur Erleichterung der Einlösung der Creditbillete sind die
Kreisrenteien verpflichtet, dieselben bis zum Betrage von 100 Rbl
jeder Person gegen klingende Münze einzutauschen.
14. Die Ausgabe der Reichscreditbillete beginnt am 1. Novem¬
ber. Sie geschieht allmählich und den Umständen entsprechend
durch Ausgabe von Creditbilleten an Stelle von Assignaten bei den,
aus dem Reichsschatzamte oder den Creditanstalten zu erfolgenden
Zahlungen.
15. Gleichzeitig beginnt auch die Thätigkeit der Einlösungs¬
kassen durch Einlösung von Creditbilleten gegen klingende Münze
und umgekehrt von klingender Münze gegen Creditbillete in den
durch dieses Manifest bestimmten Grenzen.
Dagegen wird über die Einwechselung von durch Privatpersonen
präsentirten Assignaten gegen Creditbillete seiner Zeit ein beson¬
derer Erlass publicirt werden.
16. Alle bei Kronskassen gegen Creditbillete einlaufenden Assig¬
naten sind an die Expedition der Reichscreditbillete zum Zweck
ihrer Revision und Vernichtung einzusenden.
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17. Auf dass mit dem Aufhören der Annahme von Einlagen in
die Depositenkasse diejenigen Personen, welche der Bequemlichkeit
wegen cirkulationsfähigere Geldzeichen gegen klingende Münze oder
Barren verlangen, dieses Vortheils nicht verlustig gehen, wird den
Einwechselüngskasseh mit Beginn ihrer Thätigkeit, d. h. vom 1. No¬
vember, die Annahme derartiger Einlagen anbefohlen, und gegen
dieselben Creditbillete nach den für die Depositenkasse bestehenden
Regeln verabfolgt. Um den Depositären noch grössere Bequem¬
lichkeit zu gewähren, wird, ausser der Annahme von Silbermünze
und von Gold- nnd Silberbarren, auch noch die Annahme russischer
Goldmünze gestattet. Die Einlagen, welche von der Krone und Priva¬
ten gemacht werden, sollen, nachdem gegen dieselben Creditbillete
verabfolgt sind, in ihrem ganzen Betrage dem Fond dieser Billete
zugezählt und zu keinem anderen Zwecke, als bloss zur Einwech¬
selung der Billete benutzt werden.
18. Die Expedition der Creditbillete steht sammt ihrer Filiale in
Moskau auf Grund des Punktes 7 des Manifestes vom 1. Juli 1841
unter Kontrole des Conseils der Creditanstalten. Dieses Conseil wählt
ausserdem jährlich aus seiner Mitte je einen Deputirten des Adels und
der Kaufmannschaft, damit dieselben bei den monatlichen Revisionen
der in der Expedition vorhandenen Summen zugegen seien.
19. Bei den Revisionen der jährlichen Rechenschaftsberichte der
Expedition, welche nach den für alle Creditanstalten geltenden Re¬
geln zu geschehen haben, soll das Conseil jener Anstalten besonders
aufmerksam darüberwachen, dass die für den Umlauf der Creditbillete
festgesetzten Grundregeln auch auf das Genaueste erfüllt werden,
namentlich: dass die Summe der zur Einwechselung von Assig¬
naten ausgegebenen Creditbillete auch genau der Summe der ein¬
getauschten Assignaten entspricht; dass der Einwechselungsfond
den sechsten Theil der Creditbillete ausmacht, die auf Grund der
Punkte 7 und 8 dieses Manifestes zur Einwechselung der Assignaten
uud Depositenbillete ausgegeben sind, und endlich, dass die Credit¬
billete, welche gegen die in der Expedition gemachten Einlagen
und die dorthin übergebenen Depositenbillete ausgegeben worden
sind, durch einen ihrem vollem Betrage entsprechenden Fond ge¬
deckt sind.
C. Die Bankbillete.
18 3 1 .
Nr. 4704.—Den 15. Juli. Manifest: Ueber die zeitweilige Ausgabe
von Reichsschatzbilleten im Betrage von 30 Mill. Rbl. Banco.
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23 6
«Die ausserordentlichen, durch die gegenwärtigen Umstände nöthig
werdenden Ausgaben verlangen die Herbeischaffung von Mitteln, um
die Finanzumsätze zu erleichtern.
In Berücksichtigung dieses und in Uebeyeinstimmung mit der
auch vom Reichsrathe begutachteten Voclage^des Finanzministers,
halten Wir es für geboten eine zeitweilige Ausgabe von Reichs-
schatzbilleten im Betrage von 30 Mill. Rbl. Assignaten mit 4 pCt.
jährlicher Zinsen zu gestatten.
Die Ausgabe soll nach Bedarf in drei Serien erfolgen. Die erste
Ausgabe von 10 Mill. soll gegenwärtig geschehen, für die Aus¬
gabe der beiden anderen Serien muss aber jedes Mal eine besondere
kaiserliche Entscheidung eingeholt werden.
1. Jedes Billet lautet auf 250 Rbl. Assignaten, trägt jährlich
4 pCt. Zinsen, welche zur grosseren Bequemlichkeit bei Berechnun¬
gen zu 90 Kop. monatlich fürs Billet gezahlt werden, was für das
Jahre 10 Rbl. 80 Kop. oder 4,32 pCt. ausmacht.
2. (Anfertigung und Ausgabe der Billete).
3. (Eintheilung derselben in 3 Serien zu je 10 Mill. Rbl.).
4. Diese Billete werden von der Krone bei allen Zahlungen ange¬
nommen und ausgegeben, ausser bei denen an den Creditanstalten,
wo nur klingende Münze und Assignaten angenommen werden.
5. Die Tilgung dieser Billete hat im Verlauf von 4 Jahren zu erfol¬
gen, der Art dass, nach Verlauf des ersten Jahres, die Staatskasse in
den drei übrigen Jahren jährlich ein Drittel der ausgegebenen Billete
zur Vernichtung präsentirt, ohne Rücksicht auf die Serie, welcher
die Billete angehören. Ist bei der Staatskasse eine nicht genügende
Anzahl Billete in Zahlung eingelaufen, so muss sie sich den zur Ver¬
nichtung noch fehlenden Betrag durch weitere Einlösung von Bille-
ten verschaffen.
6. Die Regierung reservirt sich jedoch das Recht, auch vor Ablauf
der angegebenen Frist diese Billete durch Einlösung gegen Baargeld
von 250 Rbl. nebst dem Betrage der Zinsen aus dem Verkehre zu
ziehen.
7. (Ueber die Vernichtung der Billete).
8. 9. und 10. Ueber die Zinsen. Diese werden nie für das laufende
Jahr, sondern bloss für das abgelaufene ausgezahlt. Die Verzinsung
beginnt mit dem 1. Juli.
11. Die Billete werden nur in den Fällen bei den Kronskassen
angenommen, wenn die zu zahlende Summe nicht weniger als das
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Billet nebst den aufgelaufenen Zinsen beträgt, damit die Kassen
jeglicher verwickelten Berechnung überhoben seien».
Nr. 4747.—Den 7. August. Befehl an den Finanzminister: Ueber
die Ausgabe der 2. Serie.
Die Verzinsung wird, wie bei der 1. Serie, vom 1. Juli an gerechnet.
Nr. 4795. — Den 11. September. Befehl an den Finanzminister:
Ueber die Ausgabe der 3. Serie.
Die Verzinsungauch vom 1. Juli an gerechnet.
1 8 3 4 .
Nr. 6706. — Den 9. Januar. Manifest: Ueber die neue Ausgabe
von Reichsschatzbilleten im Betrage von 40 Mill. Rbl. Assignaten.
«Bei Unserer fortwährenden Fürsorge um Unsere augenblicklich
von Missernten heimgesuchten Provinzen hören Wir nicht auf, alle
nur möglichen Mittel darauf zu verwenden, um ihre gegenwärtige
Lage zu erleichtern und ihre Existenz zu sichern. Aber Steuer¬
nachlässe und grosse Geldhilfsleistungen, so wie die Vertheuerung
verschiedener Kronsbedürfnisse, fordern eine Verstärkung der Staats¬
mittel, daher ist für den Moment die Emission von 2 Serien (IV. und
V.) für 20 Mill. nothwendig».
Die Bestimmungen sind ganz dieselben wie bei der Emission vom
Jahre 1831, cf. Nr. 4704. Die Verzinsung zählt vom 1. Februar.
Nr. 6960 und 7275. — Den 6. April. Befehl an den Finanzminister:
Ueber die Ausgabe der VI. und am 13. Juni der VII. Serie.
Die Verzinsung wird auch bei diesen beiden Serien vom 1. Fe
bruar an berechnet.
1 8 3 5 .
Nr. 7887.—Den 21. Februar. Senatsbefehl: Ueber den Eintausch
der als Kaution deponirten Reichsschatzbillete gegen Billete der
Leihbank.
Nr. 8109.—Den 2. Mai. Senatsbefehl: Ueber den Eintausch der
Reichsschatzbillete der drei ersten Serien gegen Assignaten, da ihre
Umlaufszeit laut Manifest vom 13. Juli 1831(^.4704) am i.Juli
1835 ablaufen sollte.
1 8 3 9 .
Nr. 12,185. — Den 29. März. Senatsbefehl: Ueber die Emission
drei neuer Serien Reichsschatzbillete.
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238
Die Umlaufszeit der 1834 emittirten Serien (IV.—VH.) lief am
1. Februar 1840 ab, die Tilgung der ganzenSumme von4oMill. konnte
aber in Folge verschiedener nicht von der Regierung abhängenden
Umstände nicht stattfinden. Wegen ihrer besonderen Brauchbarkeit
zumal für den Verkehr mit entlegeneren Theilen des Reiches, war
nämlich die Zahl der in die Kronskassen eingehenden Biilete in den
letzten Jahren eine ganz unbedeutende gewesen. Daher hatten in
den Kronskassen nicht mehr als 10 Mill. Rbl. angesammelt wer¬
den können, von denen bereits 8,100,000 Rbl. vernichtet worden
waren, der Rest aber noch vernichtet werden sollte.
Diese neuen 3 Serien (VIII. IX. X.) wurden zur Einwechselung
der 30 Millionen übriggebliebener Biilete der letzten 4 Serien be¬
stimmt. Es stand jedoch jedem Inhaber früherer Biilete frei, diese
gegen Baargeld statt gegen neue eingelöst zu erhalten. Die Ein¬
wechselung erfolgte nur an der Hauptstaatskasse. Im Uebrigen
galten dieselben Bestimmungen wie bei der Emission von 1831, Nr.
4704, nur liefen die Zinsen vom 1. Februar 1840 und die Tilgung
war dieses Mal in 6 Jahren auszuführen.
1 8 4 0 .
Nr. 13,383. — Den 19. April. Senatsbefehl: Ueber die neuen
Serien der Reichsschatzbillete.
«Um die cirkulationsfähigen Geldzeichen zu vermehren, und die
Umsätze der Reichskasse zu verstärken, haben Wir es für gut be¬
funden, eine Emission von 4 neuenSerien der Reichsschatzbillete an¬
zubefehlen. Die Ausgabe hat nach Massgabe des wirklichen Be¬
dürfnisses zu geschehen; jede Serie im Betrage von 3 Mill. Rbl. Silb.
Die 3 ersten Serien, die jetzt ausgegeben werden, tragen vom 1. Mai
1840 an Zinsen».
Die Bestimmungen blieben dieselben, wie bei den früheren Emis¬
sionen, nur lautete das einzelne Billet jetzt auf 50 Rbl. Silber und
trug monatlich 18 Kop. Zinsen.
Nr. 14,045. — Den 13. December. Befehl an den Finanzminister:
Ueber die Emission der vierten neuen Serie.
18 4 1 .
Nr. 14,700. — Den 1. Juli. Manifest: Ueber die Emission von
Creditbilleten im Betrage von 30 Mill. Rbl. Silber.
«Zur Erleichterung der Umsätze der Reichs-Creditanstalten und
zur gleichzeitigen Vermehrung der cirkulationsfahigeren Geldzeichen
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halten Wir es für geboten, eine neue Art der letzteren, die in ihrem
vollen Werthe gedeckt seien, zu gründen, und erlassen in Ueberein-
stimmung mit dem Gutachten des Reichsraths Nachstehendes:
1. Sechs Wochen nach der Publikation dieses Manifestes werden
die Lombarde in St Petersburg und Moskau und die Reichsleihbank
dazu berechtigt, Darlehn inCreditbilleten, zu SoRbl.Silb. das Billet,
gegen Verpfändung von unbeweglichem Eigenthum zu gewähren.
2. Es werden 30 Mill. Rbl. Silb. zur Emission bestimmt. Von
dieser Summe erhält der Lombard in Moskau 15 Mill., der in St. Pe¬
tersburg 8 Mill. und die Leihbank 7 Millionen.
3. Die Creditbillete werden durch das ganze Vermögen der Reichs-
Creditanstalten und ausserdem durch die jeder Zeit zu erfolgende,
ununterbrochene Einlösung derselben gegen klingende Münze nach
dem Punkt 5 dieses Manifestes in ihrem Werthe garantirt.
4. Die Creditbillete erhalten al pari mit der Silbermünze Umlauf
im ganzen Reiche.
5. Die Einlösung der Creditbillete gegen klingende Münze oder
Assignaten geschieht nach Wunsch an den beiden Lombarden und
der Leihbank auf jede beliebige Summe und ohne Rücksicht auf die
Ausgabestelle des Billets. Die Lombarde und die Leihbank müssen,
um eine ununterbrochene Einlösung zu sichern, bei jeder Ausgabe
von Billeten, gleichviel in welcher Summe, nicht weniger als den
sechsten Theil der ausgegebenen Billete in klingender Münze in
einer zu diesem Zwecke besonders errichteten Kasse deponiren.
6. Auch in den Kreisrenteien können die Billete gegen klingende
Münze eingelöst werden, aber nicht in höherem Betrage als für
100 Rbl. durch eine Person.
7. (Ueber die Controle.)
8. (Ueber den Eintausch alter Billete.)
9. (Verschickung mit der Post.)
10. Die Aus- und Einfuhr der Creditbillete ist verboten.
11. (Ueber die Bestrafung der Nachahmung dieser Billete.)
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Ein Besuch auf Hochland,
Wer die Zarenstadt an der Newa von der Seeseite her erreicht,
wird auf seiner Fahrt, etwa eine halbe Tagereise bevor der Dampfer
zur Rhede Kronstadts gelangt, eine Felseninsel erblickt haben,
deren nicht unansehnliche Grösse ihn veranlasst haben mag, nach
deren Namen zu fragen. Als solcher wird ihm Hochland ange¬
geben, und beiläufig dürfte er wohl auch erfahren, dass am 17. Au¬
gust 1788 dort eine Seeschlacht zwischen Schweden und Russen
stattgefunden, deren Ausgang jedoch unentschieden geblieben. Im
Uebrigen wird man die Insel, obschon sie mit Leuchtthürmen ver¬
sehen, für die Schifffahrt als höchst gefährlich bezeichnen; nebenher
wird wohl auch erwähnt werden, dass die hinter jenen unnahbaren
Gestaden wohnhafte Bevölkerung einen wesentlichen Erwerb im
Schmuggel und im Handel mit gestrandeten Gütern finde.
Mit diesen Einzelheiten begnügt sich die. Mehrzahl Derer, die
Hochland nur dem Namen nach kennen. Gleichwohl hat die Insel
eine durch ihre Eigenthümlichkeit höchst anziehende Natur, und
trägt eine in ebenso eigenthümlichen Verhältnissen lebende Bevöl¬
kerung, der man im Ganzen weder Tüchtigkeit noch Redlichkeit
absprechen darf, wovon man wohl hinlänglich überzeugt wird, wenn
man Land und Leute aus eigenem Augenschein kennen gelernt *.
Wer dies unternehmen will, begebe sich von Fredrikshamn aus
auf eines der hochländischen Fahrzeuge, die man dort fast beständig
am Ufer antrifft. Die Fahrt geht unmittelbar südwärts, wo man nach
einigen Stunden Segelns, drei in Nebel gehüllte Spitzen am Hori¬
zont gewahrt. Mit abnehmender Entfernung heben sie sich immer
höher aus den Wogen, und wenn der Dunstkreis plötzlich gewichen,
unterscheidet man drei hohe Berge. Näher hinzu gelangt, findet
1 Hochland gehört zum Wiborg’schen Gouvernement. Seine Bewohner stammen
von Einwanderern ab, welche vor mehreren Jahrhunderten aus einem Sprengel an der
Küste bei Fredrikshamn auf die Felseninsel hinauszogen. Für ihre gerichtlichen Ange¬
legenheiten sind die Hochländer an die nächsten Kreisbezirke des finländisthen Fest¬
landes gewiesen.
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24t
man die drei Gipfel durch einen niedrigen Landstrich vereinigt, und
nun hat man das langgestreckte, bergige Hochland vor sich. Beim
Einlauf in die Bucht, welche die See an der Nordseite der Insel
bildet, eröffnet sich eine wahrhaft entzückende Aussicht. Im Hinter¬
gründe die granitgrauen, hohen Berge, denen zu Füssen ein Gürtel
von dunklem, melancholischem Nadelgehölz sich ausbreitet, und
zwischen diesem und dem klaren Spiegel des Meerbusens liegt eine
Fläche gelblich-weissen Ufersandes. Es tagt: das Feuer in den drei
hochgelegenen Leuchtthürmen erlischt, während die Sonne mit
ihren ersten Strahlen die Reize der fesselnden Landschaft noch an¬
ziehender macht. Diese noch besser zu gemessen, begiebt man sich,
nachdem man aus dem Boot gestiegen, auf den hohen Pohjaskorkia
(wörtlich Nordhöhe). Ueberall sieht man Granithöhen und Nadel¬
holz mit einander abwechseln. Auch an den Höhenabhängen wachsen
mässig weit von einander Kiefern und Tannen; nur hier und da
schimmert die weissstammige Birke, und tiefer in den Klüften zittert
das Laub der Espe. Wild durch einander geworfene Felsblöcke er¬
scheinen bisweilen wie im Hinabrollen nach den häufig sumpfigen
Thalniederungen begriffen, wo ein Zwergwald von Nadelhölzern
grünt. Stattliche Kiefern erhoben sich einst auf dem Boden Hoch¬
lands, doch erlagen die Riesen einem heftigen Sturme im Jahre 1824.
Zwischen den Höhen eingekeilt, leuchten einige grüne Flächen
hervor, — das sind die Wiesen Hochlands. Gedüngt und zweimal
im Sommer abgemäht, geben diese Felder einen nur ungenügenden
Ertrag an Futter, obwohl jeder Hausstand nur eine Kuh oder
höchstens deren zwei zu ernähren hat. Vergeblich späht das Auge
nach einem wogenden Getreidefeld; von beackertem Land gewährt
es nur hier und da zwischen den Dörfern Strecken mit Kartoffel¬
saaten, die aus dem dürren Sande einige Nahrung zu ziehen suchen.
Vier Stunden braucht ein kräftiger Mann, um die Insel in ihrer
ganzen Länge von blos elf Werst zu durchschreiten. Keinen ge¬
bahnten Weg giebt es da, nur einen schlichten Fusssteig, bei den
Bergkämmen bloss an den durch Tritte abgenutzten Flechten
kenntlich. Die steilen Abhänge entlang von Stein zu Stein hüpfend,
kommt man später durch sumpfiges Waldgebiet oder geht es über
Flächen mit losem gelben Sand, der den Schritt nicht weniger
hemmt als das klappernde Geröll, das man auch in reichlich langen
Strecken zu durchwandern hat. Schweift auch der Blick von diesen
grauen und düstern Einöden bisweilen zu kleinen lieblichen Binnen¬
seen, deren Wogen die lothrecht emporragenden Felsufer umspielen
Ross. Revue, Bd. VII.
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und auf deren blauen Fläche den Kranz der Tannen am Strande
spiegelt, so zeigt doch dies Alles mehr als hinlänglich, das Frucht¬
barkeit dem Boden Hochlands nicht zu Theil geworden.
Und dennoch ist es bewohnt, und Hunderte kräftiger Füsse wan¬
dern tagtäglich auf all den ungebahnten Pfaden. An der Ostküste
der Insel liegen zwei Dörfer, zusammen mit der dicht dabei gele¬
genen Insel Tytärsaari (Tochterinsel) an tausend Einwohner zählend.
Einige Steinwürfe seitwärts von dem Dorfe, das seine sechzig Holz-
gebäude längs dem Ufer der Bucht ausbreitet, bei der wir gelandet
erhebt sich die Kirche Hochlands, einfach aus Holz gezimmert,
aber schmuck und freundlich, und dicht daneben das Pfarrhaus,
bei dessen Fenster der aus dem Tannendickicht hervorrauschende
. Bach seinen Weg über die Sandfläche ins Meer hinaus sucht.
Wie ist der Unterhalt einer eigenen Pfarre möglich, und wie kön¬
nen, so fragt man sich weiter, so viele Menschen ihr Auskommen
auf der kleinen öden Insel finden, da sie sich überall als eine un¬
fruchtbare Klippe ausweist, der man höchstens festen Boden zum
Anbau und zum Wohnen abgewinnen kann. Eben nur dies verlangt
der Hochländer von seiner Heimath. Sein Ackerfeld ist das offene
Meer, der Pflug dazu seine schnellsegelnde Jale , und der Schuppen
am Strande das Gelass für seine Jahresernte.
Ausschliesslich auf die See angewiesen, findet sie der Bewohner
Hochlands in der nächsten Nähe nicht sonderlich ergiebig. Mit
einem bedeutenden Aufwand an Kräften und beharrlicher Arbeit
zwingt er ihr kaum mehr, als Heringe ab, denn an den kahlen Ufern
dieser Insel kommen die sonst in der Ostsee und dem finnischen
Meerbusen reichlich vorhandenen übrigen Fische nicht vor. Dem
Hochländer müssen die Heringe zu Korn verhelfen, durch sie ver¬
schafft er sich Kleidung und besoldet er seine Geistlichen und den
Schullehrer für seine Kinder.
Von höchster Bedeutung ist deshalb für den Bewohner Hochlands
die Zeit des Heringsfanges. Während dem dazu verwendeten Früh¬
sommer gestaltet sich sein Leben auch ganz abweichend von dem
übrigen Theil des Jahres. Häufig beginnt dieser Fang schon im
Laufe des Mai. Nachmittags um 4 Uhr begiebt sich beinahe die
ganze Einwohnerschaft in Ruderbooten a uf einen der am weitesten
ins Meer hineinragenden Uferspitzen der Insel, wo gelagert und der
Einbruch der Nacht abgewartet wird. Die Frauen hüllen sich in
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Pelze und Decken, als Kopfkissen kleine Fässer mit Dünnbier 1 be¬
nutzend, und entfalten sofort das dort allgemeine, bewunderns-
werthe und für jene Verhältnisse überaus wohlthuende Talent,
überall und zu jeder beliebigen Zeit ungehindert einschlafen zu
können. Um ein Feuer, das bei eintretendem Dunkel angezündet
worden und dessen flammender Schein das abendliche Bild be¬
leuchtet, lagern die Männer im traulichen Geplauder, an dem auch
der brodelnde Kessel mit den siedenden Kartoffeln sich betheiligt.
Während dieDämmerung allmählich zugenommen und die wärmende
Gluth mit hellerer Flamme leuchtet, zeigt sich auf der ruhigen See¬
fläche ein eigenthümliches Gekräusel. Es ist ein Heringszug, der
gegen die Landspitze herangeschwommen kommt. Auf einen Ruf
entfaltet sich das regste Leben auf der Klippe. Aus den bisher
regungslosen Hüllen blicken die sonnengebräunten Gesichter der
Frauen und Mädchen hervor; die Männer legen ihre Pfeifen fort,
und in wenigen Augenblicken steht Alles bei den Netzen. Fiel der
erste Wurf glücklich aus, so folgt ihm ein zweiter und dritter;
andernfalls wird wiederum einige Stunden gewartet, um danach das
Glück aufs Neue zu versuchen. So vergeht die Nacht. Gegen den
Morgen geht es heimwärts: die Einen mit frohem Muth und vollem
Boot, die Anderen ohne Beute, doch mit der Hoffnung auf besseren
Erfolg beim nächsten Mal. Um die Nordspitze der Insel rudernd,
erreichen die Fischer alsbald ihr Dorf. Bei jedem Hause befindet
sich am Ufer eine besondere Vorrichtung, deren Zweck jetzt beim
Landen der Fischerboote erklärlich wird. Nach dem Wasser zu
neigen zwei parallele Balken, mit dem einen Ende an den Boden
befestigt und durch mehrere Querstangen von gleicher Länge mit
einander verbunden. Auf dieser abschüssigen, gleichsam aus hinab¬
rollenden Balken und Klötzen gebildeten Brücke werden sämmt-
liche Fahrzeuge, sogar die Jale, aus dem Wasser gezogen; denn
nur auf dem festen Ufer sind die Fahrzeuge vor der heftigen Bran¬
dung geschützt.
Nachdem die Boote mit ihrem silberglänzenden Inhalt durch
einige kräftige Griffe ans Land befördert worden, beginnt längs dem
ganzen Dorfstrande ein emsiger Reinigungsprocess, wobei nicht nur
die Erwachsenen ihren Arbeitstribut zu entrichten haben, sondern
1 Ein dem russischen Kwas nicht unähnliches Getränk, am nächsten vielleicht dem
Gebräu an Geschmack und Farbe gleichkommend, welches den Bewohnern und
Besuchern Thüringens als Lichtenhainer begannt bt.
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auch die Jüngeren, bis zu acht Jahren herab, ihre kleine Finger
gewöhnen müssen, auf die dem Fischer eigenthümliche Weise den
Heringen die unedleren Theile geschickt zu entreissen. Mit dieser
Verrichtung, an die das Einsalzen und Einlegen der Heringe in
Fässchen unmittelbar sich anschliesst, wird bis zur Mittagsstunde
fortgefahren, dann wird gespeist und geruht, bis es zum Nachmittag
wieder an die Netze geht, um den Fang an geeigneter Stelle fort¬
zusetzen. Für die so Tag um Tag sich häufende Arbeit genügt es
bisweilen nicht an den eigenen einheimischen Leuten. Eine Menge
Esten kommen daher zur Fangzeit nach Hochland, gegen einen
gewissen Beuteantheil an der nöthigen Arbeit der Fischer sich
betheiligend.
Ist der Sommer unter solchen Beschäftigungen bis zur Hälfte vor¬
gerückt und die Zahl der gefüllten Heringsfässer Woche um Woche
gewachsen, so werden die Jalen segelfertig gemacht, getheert und
ins Wasser geschoben. Aus den Schuppen werden die Herings¬
fässer hervorgerollt und zugleich mit dem Reiseproviant an Bord
geschafft. Nun geht es hinüber nach Estland, wo der Hering
gegen Korn eingetauscht werden soll. Nach zurückgelegter Fahrt
über das Meer, die durchschnittlich gegen 8—io Stunden Segelns
währen kann, werden an der flachen, sandigen Küste Estlands die
ZeltQ aufgeschlagen. Aus den umliegenden Gegenden eilen die
Leute herbei, und bald ist der Platz in einen förmlichen Jahrmarkt
verwandelt. Die hier verbrachte kurze Zeit des Sommers gilt
dem Hochländer für die angenehmste, und ungern verzichtet jeder
auf die Mitfahrt, den die Umstände zum Verweilen daheim nöthigen,
wo ihm auch der Fischfang kaum genug für den täglichen Bedarf
einträgt. Mit Ungeduld sehnt er die Heimkehr der Abgereisten
herbei, und wenn die anberaumte Frist herannaht, wird täglich die
Höhe Purjekallio (wörtlich Segelberg) besucht und der südliche
Horizont fleissig mit dem Fernrohre durchspäht. Kommen die Er¬
warteten in Sicht, so eilt man ins Dorf, um die freudige Kunde von
Haus zu Haus mit Blitzesschnelle zu verbreiten. Endlich sind die
weissen Segel der Jalen am Einlauf zur Bucht zu sehen und bald ist
in jeder Hütte ein Fest gerichtet. Von dem Mitgebrachten werden
zunächst einige Flaschen «Kümmel* entkorkt, dann altbackne rus¬
sische Weizenbrote aufgestellt und hart gesottene Eier als beson¬
derer Leckerbissen unter den beim Gelage Anwesenden vertheilt.
Während man sich hieran gütlich thut, giebt es auch die Hülle und
Fülle zu fragen und zu erzählen. Freudestrahlend gedenken die
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Jüngeren der Wonnezeit, und wie wohl sie sichs haben sein lassen
jenseits des Meeres, wo es täglich frisches Fleisch gab, ein auf
Hochland höchstens einmal im Monat vorkommender Genuss, und
an Eiern ein beständiger Ueberfluss, dass solche beim Theekochen
m «Samowar» und im Kessel, wo die Grütze siedete, immer mit
gekocht werden konnten. Die Aelteren besprechen sich ihrerseits
über den Ausgang des Tausches, über die Schicksale der estni¬
schen Freunde u. dgl. Den Sinn voll angenehmer Erinnerungen
geht man der bevorstehenden Arbeitszeit entgegen.
Zunächst wird das mitgebrachte Korn auf ausgebreiteten Segeln
am Strande getrocknet, dann nach Högfors am Kymmenefall 1 zum
Vermahlen befördert. Die Daheimbleibenden besorgen indess die
Math auf den kleinen Wiesen. Für das Heu giebt es hier keine
Scheunen, es wird zusammengescharrt und durch Weidenruthen zu
Garben gestaut, auf Stangen in die Häuser getragen, nicht selten auf
den unwegsamsten Pfaden. Daran aber wird der Hochländer früh¬
zeitig gewöhnt: schon das zehnjährige Kind sieht man so mit einer
seinen Kräften angepassten Bürde dahinschreiten. Doch reicht Hoch¬
lands eigener Heuvorrath keineswegs für den heimischen Viehstand
aus, der Bedarf verlangt noch einigen Zuschuss, den man, nach der
Heimkehr von der Mühle, aus Fredrikshamn anzuschaffen pflegt.
Bei der nämlichen Gelegenheit wird an den Sägewerken von Kotka
Halt gemacht, um die Jale, gegen den geringen Preis von 12 bis
2oFmk. (4—6 Rbl. Silber), mit Sägeabfällen und Bretterstümpfen zu
Brennholz anfüllen zu lassen. Seinen eigenen Wald hat der Hoch¬
länder noch nicht plündern gelernt.
Wenn die Erntezeit dem Landmann die angestrengteste Som¬
merarbeit bringt, rüstet der Hochländer seine Jale aufs Neue und
begiebt sich wieder hinaus auf sein geliebtes Meer. Längs der insel¬
reichen Küste Finlands, häufig bis nach Helsingfors und Reval,
dehnt er seine Frachtfahrten aus, in solchem freien Leben einen
Reiz findend, der ihm über alles Behagen des Festlandsbewohners
geht, da er dessen beschwerlichere Arbeit nicht zu leisten ver¬
möchte. Gegen Ende des Sommers kehren die Jalen von den
Frachtfahrten heim, denn ini September beginnt die Zeit des herbst¬
lichen Heringsfanges, der alsdann nicht an der heimatlichen Küste,
sondern an einigen gepachteten Felsklippen, in der Nähe vom
finnischen Festlande stattfindet. Im October ist dieser Fang beendet,
worauf die zweite Reise nach Estland vorgenommen wird.
1 Gegen 20 Werst westlich von Fredrickshamn gelegen.
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246
Von dort zurückgekehrt, gehen die Jalen nicht mehr in die See,
deren freie Wogen der scharfe Winter bändigt, seine harte, schwere
Eisdecke über sie ausbreitend. Aber auch dann bleibt der Hoch¬
länder nicht beim warmen Ofen hocken; auch dann noch ist er
bemüht, dem Meere seine Schätze abzutrotzen. Er versieht sein
Boot mit Schlittenpchienen, nimmt gehörigen Speisevorrath mit und
begiebt sich auf den Seehundsfang. Mitten auf der gefrorenen See
verbringt er an 6 bis 8 Wochen in einem kleinem offenen Boot, den
Stürmen und der Kälte ausgesetzt; und doch ist er froh, wenn er
für seine Mühe 10 bis 12 erlegte Seehunde als Ersatz heimbringen
kann. Bei dieser Jagd sind ihm die Thiere von besonderem Nutzen,
deren Hochland in gehöriger Menge besitzt, — die hinter jedem
Zaun, vor jedem Hofthor oder Verschlag mit gefletschten Zähnen
alle Vorübergehenden stets laut anbellenden Hunde. Hinter den Eis¬
stücken erspäht der Hund ein Junges, dass er seinem Herrn bringt.
Dieser befestigt das Thierchen an die Klaue eines eisernen Doppel¬
hakens, an den ein langes Seil gebunden ist, und setzt es an den
Rand einer im Eise ausgehauenen Oeffnung. In ihrer Angst um das
Junge kommt die Seehündin bald herbei und sucht das Thierchen
zu sich ins Wasser hinabzuschieben; dabei aber geräth sie selbst in
die andere Klaue, womit das Eisen versehen ist- Sofort bringt der
Hochländer die Gefangenen in seine Gewalt.
Einen weitaus ergiebigeren Ertrag, als aus dem beschwerlichen,
mit eben so vielen Gefahren wie Entbehrungen verknüpften See¬
hundsfang, bezieht der Hochländer durch das Lootsenwesen. Hierbei
ist fast jeder Mann dort einen Theil seines Lebens beschäftigt
gewesen. Nach Kotka, Fredrikshamn, Wiborg, ja sogar bis nach
Kronstadt lootst er die fremden Schiffe, und legt dann in einem
kleinen Boot, auch die 100 Werst aus dem letztgenannten Kriegs¬
hafen, allein den Heimweg gefahrlos zurück. An der Nordspitze
der Insel, wo ein gefährliches Riff sich in die See erstreckt, ist von
der russischen Marine eine Rettungsstation angelegt, an welcher
zwölf von Hochlands seetüchtigsten Männern angestellt sind. Bei
ertönendem Nothsignal eilen sieben Mann, korkumgürtet, in rothen
Hemden und mit blanken Hüten, ans luftgefüllte Boot, das alsbald
über die rasenden Wogenkämme hinweggleitet. Wenn auch nicht
unter eigener Flagge thätig, hat der Hochländer doch selbst dem
Fremdling in den Gefahren beizustehen, die diesen an den Ufern
seiner Heimatinsel treffen können.
Vermittelst seiner rastlosen Thätigkeit bringt es der Hochländer
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247
zu einem Einkommen, das ihm das Behagen einer angenehmen
Häuslichkeit ermöglicht. Sein Haus baut er sich mit auffälliger
Raumverschwendung. Durch die Hausthür betritt man eine grosse
Vorstube, ihr zur Rechten sind einige kleinere Zimmer mit beson¬
derem Ausgang, und einen solchen hat auch die Küche, die fast fn
keinem hochländischen Hausstande fehlt. Die allgemein herrschende
Sauberkeit und Reinlichkeit erhöht nicht wenig den anmuthenden
Eindruck, den man von der ganzen Behausung empfängt. Zwar
giebt es keine Tapeten, aber statt dessen sind die Bretterwände sorg¬
fältig gescheuert. Häufig leuchtet dem Eintretenden auch sein
eigen Bild entgegen, denn der Hochländer hat grosse Vorliebe für
Spiegel, womit bei Hochzeitsfesten ganze Wände bekleidet zu sein
pflegen. Vielfach wird ihm dies Hausgeräth durch Schiflbrüche
zugeführt. Als Wirth ist der Hochländer gastfrei und freigebig,
obschon hieran sich die Forderung knüpft, seinerseits eben so reich¬
lich bewirthet zu werden, wenn er zu Gast kommt. Der Besuchende
erhält seinen Platz an dem mit einem säubern Tuch bedeckten Tische
in der Wohnstube, wo der Hausherr die Unterhaltung pflegt, bis
die Tochter oder Hausfrau mit den dampfenden Kaffetassen er¬
scheint, denen jedoch kein Gebäck beigegeben, da nur bei ganz
besondern Festtagen die an Bastschnüren gereihten Kringel zum
Vorschein kommen, wie solche an den finländischen Jahrmärkten
feilgeboten werden. Auf den Kaffe folgen einige Gläser Portwein,
Kirschwein oderauch einfach «das reine Korn», mit einigen Tropfen
«Rigaer Balsam» hübsch bunt gefärbt. Den Zuspruch dieser Waaren
beim Gaste zu fördern, hat der Hochländer eine reiche Auswahl von
Benennungen 1 für die verschiedenen zu trinkenden Gläser, von
denen das erste' dem Willkommen gilt, die folgenden, reichlich
wiederholt, dem Behagen im Hause, das man ohne Abschiedstrunk
selbstverständlich nicht verlassen darf. — Wer Gelegenheit hat, an
den Mahlzeiten des Hochländers sich zu betheiligen, wird bei dessen
Speisekarte die Verlegenheit der Wahl nicht zu erleiden haben.
Alltäglich, zu fast jeder Mahlzeit giebt es Hering, wobei nur die
Art der Zubereitung wechselt, und darin allerdings entfaltet der
hochländische Hausstand eine gewisse Geschicklichkeit. Bisweilen
wird dies Einerlei durch scharfgesalzenes Fleisch unterbrochen*
und wenn Milch gereicht wird, bekommt man sie meist nur in
Glässern knapp zugemessen, höchst selten dagegen in der so
* In finnischer Sprache der einzigen auf Hochland gebräuchlichen.
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schmackhaften Form als Setzmilch. Zum Abend giebt es gewöhnlich
Thee, der direkt aus Russland bezogen worden. Reichhaltiger fallt
die Tafel aus an grossen Festtagen oder bei den Gelegenheiten, wo
Angehörige und Nachbarschaft zur Theilnahme an gemeinsamer
Arbeit, wie solche namentlich beim Anfertigen der Aussteuer oder
auch sonst vorkommt, hinzugezogen werden. An Sonntagsnach¬
mittagen finden häufig in dem geräumigen Vorplatz eines grösseren
Hauses Tanzvergnügen statt, die jedoch, wie es wohl geschah,
ganz ausgesetzt werden müssen, wenn die Quinte auf der einzigen
Geige gesprungen und der Schaden mehrere Wochen hindurch ohne
Abhülfe bleibt. Alsdann greift man wohl zu den auch sonst an
schönen Abenden im Freien gebräuchlichen Fangspielen, von denen
man sich nicht abhalten lässt, sogar dann nicht, wenn der Wind
sich schärfer erhebt und mit den aus der Brandung empor¬
spritzenden Tropfen die erhitzte Wange kühlt. Auffallender Weise
ertönt nie Gesang von den Bergen Hochlands; es ist, als ob er
durch das dort unablässige Hundegebell und das rollende Getöse
der Wogen, das schon bei der Wiege jedes hochländischen Kindes
ertönt, nicht zur Entfaltung gelangen könne.
Am Dorfstrande, wo die Jugend ihre Spielplätze hat, pflegen die
Männer Hochlands an milden Sommerabenden sich zu versammeln
rauchend und plaudernd, die Hände auf dem Rücken, lehnen sie an
die Thüren der Häuser oder Gelasse, die Blicke der See zuge¬
wandt. Man sieht es diesen Gestalten an, dass ihr mit vielfachen
Gefahren und Entbehrungen verbundenes Leben sie zu kräftigen
und besonnenen Männern geschult. Doch auf der See allein, zumal
wenn es gilt Fassung und Gevvandheit den gereizten Elementen
gegenüber zu bewahren, lernt man die Stärke ihrer Arme und die
Besonnenheit in ihrem Wesen erst recht schätzen. Keinen grossem
Unterschied giebt es, als den Hochländer schwerfälligen Schrittes
auf dem Festlande einherkommen und behend wie ein Eichhörnchen
an dem Tauwerk seiner Jale umherklettern zu sehen. Rühmlich ist
auch die Bereitwilligkeit, womit die Leute dort einander helfen,
obschon es um die nachbarliche Eintracht nicht immer zum Besten
steht. Durch das Schicksal gänzlich auf einander hingewiesen, ver¬
mögen auch sie, wie gar oft die am nächsten zusammen Gehörenden,
nicht die Zwietracht von sich fern zu halten. Gerichtlicher Beistand
wird angerufen, um sich von dem Schimpf zu entledigen, den man
durch ein Schmähwort eines Gefährten erlitten zu haben glaubt;
und den Nachbarn, der es sich beikommen Hess, einen fremden
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Hofraum zu überschreiten, ist man fähig, vor dem Richter zu
belangen.
Zweier Dinge wegen aber steht der Hochländer in bösem Ruf:
wegen des Schmuggels und des Beuterechts, das er an gestran¬
deten Fahrzeugen üben soll. Beiden Vorwürfen giebt sein Ver¬
halten einige Stütze, doch wäre es ungerecht, desshalb ein völliges
Verdammungsurtheil über ihn zu sprechen.
Die Schmuggelthätigkeit des Hochländers gehört eigentlich einer
reichlich längst vergangenen Zeit an, wo er in diesem Geschäfts¬
zweige keineswegs der vielseitigsten Concurenz ermangelte. In
dunkeln stürmischen Herbstnächten, wo die Zollwächter gern Schutz
in einem Hafen suchten, wurde manches Fässchen Branntwein zu den
estnischen Freunden hinübergeschafft. Auf etwaige Anfrage hin,
wurde die Ladung einfach für Ballast erklärt. Der an den näm¬
lichen Gestaden herrschende hohe Zoll für Salz hat diesem wich¬
tigen Nahrungsartikel manche auf Schleichwegen beförderte Ladung
von Hochland aus zugeführt. Das Abenteuerliche solcher Fahrten
dürfte, zusammen mit den geschäftlichen Vortheilen, nicht wenig
zum Betrieb dieser Unternehmungen beigetragen haben, die mit
zunehmender Wachsamkeit seitens der Zollbedienung den eigen-
thümlichsten Aufwand an Verschlagenheit und Erfindungsgabe
veranlassten. So sollen bisweilen, nachdem man die estnische Küste
erreicht, die wohlverschlossenen Salzfässer in die Tiefe am Ufer
versenkt worden sein, um später bei günstiger Gelegenheit hervor¬
geholt und in sicheres Verwahr gebracht zu werden. Auch diese
List wurde von den spähenden Wächtern entdeckt, und noch lange
behielten die Hochländer einen Grimm gegen den Gefährten, der
durch seine Achtlosigkeit den Argwohn und die Strenge der Zoll¬
wächter verschärft hatte. Hat man, so wie der Hochländer, von
Kindheit an die Fahrten dbr Grossväter und Väter mitgemacht und
sich' an den, wenn auch noch so geringfügigen, Schleichhandel¬
geschäften irgend betheiligen müssen, so wird man in solchem Thun
schwerlich Anderes, als die Ausübung eines Rechtes erblicken,
dessen man sich ohne Scheu und Bedenken bedienen darf. Um den
Schmuggel als ungebührlich und unehrenhaft zu betrachten, ist ein
Bildungsstandpunkt oder doch eine Gediegenheit sittlicher Ueber-
zeugung erforderlich, wie sie sich wohl in gegenwärtiger Zeit noch
nicht allgemein bei den Volksschichten vorfinden dürfte, zu welchen
die Bewohner Hochlands ihrer Kulturbeschaffenheit nach gehören.
Uebrigens steht das Vorwalten des fraglichen Missstandes bekanntlich
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in genauester Beziehung zu gewissen staatsökonomischen Verhält¬
nissen, mit deren naturgemäss erforderlichen Regelung es von selbst
verschwindet.
Ebenso wird der Hochländer beschuldigt, die bei seiner Insel vor¬
kommenden Schiffbrüche erbarmungslos zu seinem Vortheil auszu¬
beuten. Geglaubt wird nämlich, dass wenn die rasenden Herbst¬
stürme seinem heimatlichen Ufer die Trümmer eines gestrandeten
Schiffes zuführen, pflege er'wie ein Raubvogel hinaus zu eilen, um
sich Alles anzueignen, was er von dem durch Sturm und Wogen
schwer heimgesuchten Fahrzeug nur irgend erbeuten könne. Aller¬
dings bringt das Heranschwimmen einer losgelösten Schiffsplanke
dem Bewohner Hochlands eine Aufforderung, seine Jale rasch zu
besteigen, und kühn gleitet er damit über die schäumenden Wellen
hinweg zur Stelle, wo Noth und Gefahr obwalten. Ein Anlass mit,
sein Leben so aufs Spiel zu setzen, giebt ihm wohl die Aussicht,
Einiges von den durch die empörten Fluten umhergeworfenen Ge¬
genständen lieber für sein Haus zu bergen, als es, an dem harten
Felsufer zerschellt, verloren gehen zu lassen. Gleichzeitig aber
gehorcht er auch einem edleren Gefühl, das er hinlänglich dann wie
sonst häufig genug bewährt, in der dem Schiffbrüchigen geleisteten
Hülfe. Der Besatzung manches verunglückten Schiffes hat sein
Haus die gastlichste Freistatt geboten, wie es auch andererseits,
obschon in Folge der dem hochländischen Seemann eigentüm¬
lichen Gewandtheit weniger oft, vorgekommen, dass die Gefahr
diejenigen mit zum Opfer nahm, welche von Hochland herbei¬
geeilt waren, den in Seenoth befindlichen Fremden Beistand zu
leisten. Manche zu diesem Zweck hinausgeeilte Jalc wurde nach
vorübergegangenem Sturm leer umliertreibend gefunden, zum deut¬
lichen Zeichen, ein wie gefährliches Grab derer lauert, die sich auf
die den Hochländern so sehr verdachten «Kaperfahrten» begeben.
Gewähr für dauernden Erwerb bieten aber weder Schmuggel noch
Ausübung des Strandrechts. Soweit derlei irgend vorgekommen,
kann es lediglich nur als Ausnahme gelten,, und darf bei einer rich¬
tigen Beurtheilung der Hochländer eben so in Betracht genommen
werden, wie etwa die als zu hoch verschrienen Preise, womit
Besucher der Insel ihren Bedarf an Lebensunterhalt und Obdach
dort zu vergüten haben. Die höchst unzureichenden Hülfsquellen der
Insel selbst erklären zur Genüge diese angebliche Uebertheuerung, die
auch keineswegs aus einer Neigung, den Fremden zu prellen, ent¬
springt, da eine solche Verdienstweise einen so regen Fremdenver-
*
i'
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2$I
kehr voraussetzt, wie er auf Hochland niemals eintreten kann. Durch¬
gängig sichere und geregelte Existenz hat Arbeit zu ihrer nothwen-
digen Voraussetzung, und gerade dieser Forderung genügt der
Hochländer so vielfach und unverdrossen, dass ihm die ehrenhafte
Anerkennung gebührt für die redliche und mannhafte Weise, wie
er bei einer kargen Natur, mitten in sturmbewegter See um sein
Dasein kämpft. RICHARD SlEVERS.
Der asiatische Handel Russlands im Jahre 1873.
Von
Fr. Matthäi.
Die letzte Ausgabe der officiellen russischen Handelstabellen be¬
handelt zum ersten Male den asiatischen Handel Russlands ganz in
derselben Weise wie den Handel Russlands über die europäische
Grenze, und gestattet daher auch eine eingehendere und verglei¬
chende Beurtheilung der das östliche Handelsgebiet Russlands be¬
herrschenden und berührenden Verhältnisse.
Vom Jahre 1867 an, in welchem die orenburgische und westsibi¬
rische Zolllinie aufgehoben und daher der Handel nicht nur mit
W T estsibirien, sondern auch mit Buchara, der Kirgisensteppe und
später mit Taschkent in den inneren Handel Russlands einbezogen
wurde, gestaltete sich der Entwickelungsgang des russisch-asiati¬
schen Handels in allgemeinen Umrissen wie folgt:
Waaren-Ausfuhr Waaren-Einfuhr
aus Russland nach Asien: aus Asien nach Russland:
im Jahre
Rbl.
Zunahme od. Abnahme im
Vergleiche 10m Vorjahre
Rbl.
Zunahme od. Abnahme im
Vergleiche mm Vorjahre
1867.
. 8,005,152
—
15 , 584,431
—
1868 .
. 8,909,843
+ 11 pCt.
16,498,329
4 “ 5*8 pCt.
1869 .
• 7 , 934,376
-11 »
17 , 863,776
+ 8 »
1870 .
• 8 , 379.234
+ 5,6 »
20,510,011
+14,8 »
1871 .
. 8,904,026
+ 6 »
15.929,946
-22,3 »
1872.
• 9 , 331,700
+ 5 •
19,235,261
+ 20,7 »
1873 • • 9,757.056
Im Vergleiche z.J. 1867
+ 4,5 *
+ 21,8 »
20 , 957,923
+ 9 »
+27,6 »
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252
Gold und Silber in Geld und Barren wurden
im Jahre
aus Russland nach Asien
ausgeführt:
aus Asien nach Russland
eingeführt:
1867.
. . 2,096,263 Rbl.
290,588 Rbl.
1868.
• • 2,363,094 »
441,226 »
■1869 .
• • 1 . 523,917 »
3 r 4 , 7°7 »
1870 .
. . 1,002,148 »
410,581 »
i—•
00
*-*
. . 1 , 339,156 »
252,557 »
1872.
. . 2,163,205 »
69,855 .
1873 •
. . 1,508,970 »
653,825 »
Im Ganzen hat demnach, mit nur einzelnen und kurzen Unterbre¬
chungen, der russisch-asiatische Handel bis zum Jahre 1873 e * ne nor '
male und steigende Entwickelung aufZuweisen, und steht es zu erwar¬
ten, dass mit der Befestigung des russischen Einflusses in Central-
Asien auch der russische Handel in dem letztgenannten Länderge¬
biete immer mehr zur Geltung gelangen werde. Unter den Zollge¬
bieten, welche für den russisch-asiatischen Handel von Bedeutung
sind, nehmen die des Kaukasus und das von Kjachta den ersten
Platz ein. Das Astrachan’sche Zollamt ist von geringerer Bedeutung.
Es wurden 1873 Waaren nach Asien ausgeführt:
über die kaukasische Grenze für 5,238,485 Rbl.
» Kjachta.» 3,561,182 »
* Astrachan.» 957*389 »
Es wurden im gleichen Jahre aus Asien eingeführt:
über die Zollämter des kaukasischen Gebietes. . für 7,826,790 Rbl.
» das Zollamt von Kjachta. * 11*567,795 *
» » » * Astrachan. » 1,562,112 *
und über die Handelsplätze am Flusse Amur . . » 1,226 »
Ausfuhr aus Russland Uber die asiatische Grenze.
1. Lebensmittel für 904,923 Rbl.; darunter: Getreide für 725,283
Rbl. (vorzugsweise Mais — für 592,458 Rbl.), Vieh für 78,335 Rbl.,
Thee für 22,6ioRbl., Zucker für 13,994Rbl., Tabak für 12,259Rbl.
und Fleisch für 10,386 Rbl.
2. Rohstoffe und Halbfabrikate für 4,234,511 Rbl.; darunter als
Hauptposten: Rohseide für 1,821,<>74 Rbl., rohe Schafwolle für
748,047 Rbl., Leder für 609,456 Rbl. (Häute für 305,589 Rbl., Juch¬
ten für 235,936 Rbl. und bearbeitetes Leder für 67,931 Rbl.), Höl¬
zer (Palm- und Nussholz) für 324,345 Rbl., unbearbeitete Metalle für
286,163 Rbl. (Eisen für 214,361 Rbl. und Kupfer für 50,515 Rbl.),
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*53
Rohbaumwolle für 160,946 Rbl., Holzmaterial für 64,622 Rbl. und
Farbewaaren für 64,343 Rbl.
3. Fabrikate und Erzeugnisse der Industrie und der Gewerbe für
3,713,740 Rbl.; darunter als Hauptposten: Tuch für 1,546,106 Rbl.,
Baumwollenwaaren für 1,075,605 Rbl., VVollenwaaren(ausserTuch)für
457,504 Rbl., Metallwaaren für 217,384 Rbl., Lein- und Hanfwaaren
für 108,577 Rbl., Glas- und Porzellangeschirre für 105,793 Rbl., Pa¬
pier für 72,910 Rbl., Seidenstoffe für 69,625 Rbl. und Stearinlichte
für 68,542 Rbl.
4. Verschiedene Waaren für 892,136 Rbl.; darunter: Pelzwerk für
775,169 Rbl., Pferde für 67,205 Rbl., Kurzwaaren für 19,807 Rbl.
5. Apothekerwaaren für 11,746 Rbl.
Die Ausfuhr nach Asien des Jahres 1873 war im Vergleiche zu
der des Jahres 1872 um 4,5 pCt. gestiegen. Erhöht hatte sich die
Ausfuhr nachstehender Artikel: Wollenwaaren incl.Tuch (+ 422,631
Rbl.), Baumwollenwaaren (+ 214,992 Rbl.), Leder (-f 110,128 Rbl.),
unbearbeitete Metalle (+ 108,482 Rbl.), Lein- und Hanfwaaren
(+ 55»°54 Rbl.), Metallwaaren (+ 69,138 Rbl.), Pelzwerk (+ 262,155
RbL), Zucker (-f- 1,320 Rbl.), Holzwaaren (+ 41,167 Rbl.), Apothe-
kerwaaren (4- 8,226 Rbl.).
Gesunken dagegen war die Ausfuhr von Rohbaumwolle (—464,027
Rbl.), von Schafwolle (— 59,819 Rbl.), von Zucker (— 99,120 Rbl.),
von Getreide (— 301,989 Rbl.), von Vieh (— 2,004 Rbl.), von Farbe¬
waaren (— 14,722 Rbl.).
Einfuhr nach Russland Uber die asiatische Grenze.
1. Zollfreieingefiihrte Waaren für 1,534,510 Rbl. (um 434,150 Rbl.
weniger als 1872). Die Haupteinfuhr dieser Kategorie bildeten nach¬
stehende Waaren: Rohbaumwolle 135,967 Pud für 605,352 Rbl.,
Hausthiere verschiedener Art, Pferde etc. für 308,030 Rbl., Getreide
631*613 Pud für 236,546 Rbl., rohe und gesalzene Häute 55,083
Pud für 150,894 Rbl.
2. Lebensmittel für 13,541,601 Rbl. (für 3,362,457 Rbl. mehr als
1872); darunter: Thee 693,698 Pud für 10,821,302 Rbl., Früchte
und Gemüse für 1,135,910 Rbl., Kolonialwaaren für 403,566 Rbl.
(darunter Raffinadezucker für 363,124 Rbl.), Reis für 342,016 Rbl.,
Fische für 294,774 Rbl., Tabak 30,366 Pud für 272,422 Rbl. und
Getränke für 136,543 Rbl.
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2$4
3. Rohstoffe und Halbfabrikate für 1,299,650 Rbl. (um 197,494
Rbl. weniger als 1872); darunter: bearbeitetes Leder für 117,858
Rbl., Pelzwerk für 203,122 Rbl., Rohseide für 224,838 Rbl., Schaf¬
wolle für 34,211 Rbl., Baumwollengarn für 49,971 Rbl., unbearbei¬
tete Metall^ für 135,667 Rbl., Farbewaaren für 303,008 Rbl., Che¬
mikalien für 27,304 Rbl. und Olivenöl für 46,589 Rbl.
4. Erzeugnisse der Fabrikindustrie und der Gewerbe für 4,582,162
Rbl. (um 1,007,774 Rbl. weniger als 1872); darunter als Hauptposten:
Fayance- und Porzellanwaaren für 22 047 Rbl., Glaswaaren incl.
Spiegel für 61,711 Rbl., Metallwaaren für 154,448 Rbl., Maschinen-
und Apparate für 88,101 Rbl., Tischler- und Drechslerarbeiten für
55,310 Rbl., Papierwaaren für 33,908 Rbl., Lederwaaren für 73,100
Rbl., Lein- und Hanfwaaren für 50,338 Rbl., Seidenstoffe für 260,393
Rbl., Wollenstoffe für 357,977 Rbl., Baumwollenwaaren für 2,137,165
Rbl., verschiedene asiatische Gewebe für 948,793 Rbl., Zündhölz¬
chen für 31,722 Rbl.
Im Vergleiche zum Jahre 1872 war 1873 die Einfuhr gestiege?i:
von Thee um 3,291,901 Rbl., von Früchten um 62,405 Rbl., von
Vieh um 55,788 Rbl., von Fischen um 51,379 Rbl., von Farbewaaren
um 36,815 Rbl. und von Metallwaaren um 24,662 Rbl.
Dagegen war im genannten Jahre die Einfuhr gesunken: von Baum¬
wollenwaaren um 1,576,467 Rbl., von roher Baumwolle um 454,160
Rbl., von Leder und Lederwaaren (incl. Häuten) um 263,428 Rbl.,
von Wollenstoften um 300,763 Rbl., von Zucker um 161,079 Rbl.,
von Seidenstoffen um 137,223 Rbl., von Tabak um 133,427 Rbl.,
von Baumwollengarn um 44,762 Rbl., von Getreide um 30,033 Rbl,
von Pelzwerk um 10,962 Rbl., von Wolle uni 8,035 Rbl., von Roh¬
seide um 1,955 Rbl.
Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, dass die nicht unan¬
sehnliche Steigerung des asiatischen Importhandels hauptsächlich
auf Rechnung der vermehrten Thee-Einfuhr zu setzen ist. Dagegen
hatte der Import von für die russische Industrie sehr wichtigen Hülfs-
stoffen und anderen asiatischen Fabrikaten, wie z. B. von Baum¬
wolle und Baumwollenfabrikaten, von Rohleder etc. sehr erheblich
nachgelassen.
Durch die aus Asien nach Russland importirten Waaren erzielte
die russische Regierung eine Zolleinnahme von 3,403,589Rbl., ausser
ioo,504Rbl., welche durch einen Zuschlag von 5 pCt. zum Zoll für die
über Kjachta eingeführten chinesischen Waaren eingekommen sind.
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Russlands Handelsverkehr mit den einzelnen Staaten Asiens.
I. Die asiatische Türkei.
+ od. — im Vergleiche zu 1872
Rbl. Rbl. pCt.
Ausfuhr aus Russland.für 2,520,982 — 1,031,163 = 29
Einfuhr aus der asiatis. Türkei. » 5,062,637 — 1,212,748 = 19
Mehr Einfuhr als Ausfuhr ... für 2,541,655 Rbl.
oder ca. 100,8 pCt. 1872: 79 pCt.
Die Hauptausfuhrposten aus Russland nach der asiatischen Türkei
bildeten auch* im Jahre 1873: Getreide für 570,454 Rbl. (— 19,684
Rbl.), darunter 100,593TschetwertMais für 505,283Rbl., 2372Stück
Ochsen und Kühe für 23,701 Rbl. und 10,024 Stück Kleinvieh für
35,610 Rbl. (— 6,043 Rbl.), 14,939 Pud Rohseide für 935,464 Rbl.
(4- 27,812 Rbl.), 11,491 Pud Schafwolle für 140,677 Rbl. (+ 25,810
Rbl.), 24,009 Pud (— 57,174), Rohbaumwolle für 142,757 Rbl.
(— 481,322 Rbl.), 42,852 Stück Rohhäute für 226,977 Rbl. (J- 31,751
Rbl.), Nuss- und Palmholz für 121,472 Rbl., Farbewaaren für 26,123
Rbl. (+ 1,265 Rbl.), Holzmaterial für 60,419 Rbl., Wollenwaaren für
62,558 Rbl. (+42,546 Rbl.) und Pferde 1,901 Stück für 60,905 Rbl.
Die Haupienifuhrartikel aus der asiatischen Türkei nach Russland
bildeten: Getreide 432,314 Pud für 143,638 Rbl. (—28,504 Rbl.),
Vieh für 134,933 Rbl. (—22,093 Rbl.), Raffinadezucker 25,932 Pud
(—20,961) für 223,689 Rbl. (— 174,325 Rbl.), Tabak 28,932 Pud
(— 16,531) für 260,971 Rbl., Thee 5,835 Pud (—2,893) für 196,428
Rbl., div. Weine für 73,590 Rbl., Leder für 30,655 Rbl., Pelzwerk
für 17,181 Rbl., Lein- und Hanfgarn für 19,002 Rbl., Schienen für
52,438 Rbl., Farbewaaren für 45,733 Rbl. (— 29,088 Rbl.), Chemi¬
kalien für 27,265 Rbl., Olivenöl für 43,341 Rbl., Fensterglas für
40,433 Rbl., Arbeiten aus Schmiedeeisen für 48,045 Rbl, Eisen¬
draht für 69,566 Rbl., Lokomobilen und Dampfmaschinen für 73,000
Rbl., Schuhwerk für 51,110 Rbl., Stoffe, Tücher und Bänder aus
Seide für 64,666 Rbl. (— 32,770 Rbl.), Wollenfabrikate verschiede¬
ner Art für 236,162 Rbl. (— 265,322 Rbl.), Baumwollenwaaren für
2,086,458 Rbl. (—516,794 Rbl.), Zündhölzer für 31,722 Rbl. und
Südfrüchte für 75,048 Rbl. (— 27,940 Rbl.).
Im Allgemeinen zeigt der Handel zwischen Russland und der asia¬
tischen Türkei im Jahre 1873 eine nicht unerhebliche Abnahme, in¬
dem der Gesammthandel dem Werthe nach um 2,243,911 Rbl. oder
um nahe an 30 pCt. gesunken ist, ohne dass sich eine specielle Ur¬
sache nachweisen lässt.
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256
2. Persien.
-f- oder — im Vergleiche zu 1872
Ausfuhr aus Russland für 1,819,516 Rbl. + i26,i37Rbl. od. 7 pCt.
Einfuhr aus Persien » 4,293,908 » —631,065 » » 12,8/
Mehr Einfuhr als Ausfuhr 2,473,392 Rbl 3,231,594 Rbl.
oder 135,9 pCt. 1872: 190 pCt.
Die Hauptausfuhrartikel aus Russland nach Persien waren 1873 :
Getreide 18,920 Pud für 43,250 Rbl. (—376,202 Rbl.), Rohbaum¬
wolle 3,568 Pud für 18,189 Rbl., Häute 2,905 Stück für 15,234 Rbl.,
Farbewaaren 6,347 Pud für 38,220 Rbl. (— 13,151 Rbl.), unbearbei¬
tete Metalle 101,040 Pud (+66,125 Pud) für 279,820 Rbl., Nafta
32,203 Pud füri2,32oRbl„ Schreibpapier 22,735 Ries für 72,910 Rbl.,
Holzwaaren für 19,368 Rbl., Baumwollenwaaren für 388,735 Rbl.
(+ 54,558 Rbl.), Lein- und Hanfwaaren für 27,553 Rbl., Seidenstoffe
für 69,525 Rbl. (— 12,953 Rbl.), Wollenstoffe für 303,160 Rbl.
(+ 97,171 Rbl.), Metallwaaren für 168,761 Rbl. (+ 97,119 Rbl.), Por¬
zellan- und Glaswaaren für 105,664 Rbl., Stearinlichte 6,584 Pud für
68,542 Rbl. und Pelzwerk für 16,640 Rbl. (—49.205 Rbl.). Eine
Ausfuhr russischer Tuche nach Persien, die in früheren Jahren von
Bedeutung war, hat auch im Jahre 1873 nicht mehr stattgefunden.
Die Haupteinfuhrartikel aus Persien nach Russland bildeten: Ge¬
treide 199,289 Pud für 92,836 Rbl., Baumwolle 134,787 Pud
(— 78,297 Pud) für 593,928 Rbl., Hausthiere für 59,073 Rbl., Reis
445,123 Pud für 336,836 Rbl, Früchte und Gemüse verschiedener
Art 608,502 Pud für 1,034,943 Rbl. (+ 73,299 Rbl.), Fische 775,732
Pud für 270,619 Rbl. (+ 53,438 Rbl.), Tischlerholz für 40,049 Rbl.,
Leder für 86,945 Rbl., Pelzwerk 9,228 Pud für 140,525 Rbl.
— 52,287 Rbl.), Rohseide für 86,472 Rbl. (—38,819 Rbl.), Farbe¬
waaren 64,020 Pud für 257,275 Rbl. (+ 66,067 Rbl.), Seidenstoffe für
195,068 Rbl. (— 103,217 Rbl.), Wollenwaaren für 93,421 Rbl. (—44,22 7
Rbl.) und Baumwollenwaaren für 753,197 Rbl. (— 84,451 Rbl.).
3. Chiwa.
Der Handel Russlands mit Chiwa beschränkte sich im Jahre 1873
nur auf einen, wenn auch im Vergleiche zum Vorjahre etwas gestei¬
gerten, im Allgemeinen aber doch sehr geringen Importhandel. Im
Jahre 1872 hatte Russland nach Chiwa wenigstens noch für 4,286
Rbl. Waaren abgestzt, während es aus letztgenanntem Staate für
16,555 Rbl. Waare einführte. I m Jahre 1873 bezog Russland nur
aus Chiwa Waaren im Werthe von 17,896 Rbl. Dieselben bestan¬
den in 605 Pud Baumwolle für 3,025 Rbl., in 34 Pud Rohhäuten für
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*57
92 Rbl., in 86 Pud Rohseide für 6,795 Rbl., in 37 Pud Schafwolle für
222 Rbl., in Wollenstoffen für 1,874 Rbl. und in fertigen Kleidungs¬
stücken fiir 6,556 Rbl. Aus diesen Angaben ist zu ersehen, dass
trotz der späteren politischen Erfolge Russlands dieses letztere noch
voraussichtlich bedeutende Anstrengungen machen muss, um hin¬
sichtlich seines Handels mit Chiwa zu nur einigermassen nennens-
werthen Resultaten zu gelangen. Gegenwärtig allerdings sind die
Chancen für Russland weit günstiger, und sind es vornehmlich die
commerciellen Erfahrungen des Jahres 1873, welche Russland ver¬
anlasst haben mögen, auch in Berücksichtigung seiner materiellen
Interessen Ordnung in seine Beziehungen zu Chiwa zu bringen.
4. China.
-f- — ■ Teigkicb am Jahn 1812
Ausfuhrnach China für 3,561,182 Rbl. + 735,951 Rbl. = 26 pCt.
Einfuhr aus China > 11,569,021 » + 3,554,016 » =44 »
Mehr Einfuhr aus China;8,007,839 Rbl. 5,189,774 Rbl.
als Ausfuhr dorthin | oder 225 pCt. 1872: 184 pCt.
Die Hauptausfuhrartikel Russlands nach China bestanden in nach¬
stehenden Waaren: Schweine 1,110 Stück für 14,407 Rbl., Weizen
2,363 Tschetw. für 23,915 Rbl., Thee 1,523 Pud für 15,110 Rbl. (? d.
Verf.), bearbeitetes Leder und Juchten 67,078 Stück für 302,048 Rbl.
(+9,758 Rbl.), Hörner 91,188 Stück für 71,010 Rbl., Baumwollen-
waaren für 684,396 Rbl. (+ 161,286 Rbl.), Leinenwaaren für 59,127
RbL, Tuch 514,005 Arschin (-f 23,663 Arschin) fiir 1,546,066 Rbl., Me-
tallwaaren fiir 39,727 Rbl., Pelzwerk fiir 747,992 Rbl.(+ 300,823Rbl.).
Der Haupteinfuhrartikel aus China besteht selbstverständlich in
Thee, dessen Import nach Russland sich im Jahre 1873 auf 687,719
Pud im Werthe von 10,917,582 Rbl. gehoben hatte, demnach gegen
das Vorjahr, das ebenfalls bereits schon eine bedeutend stärkere
Thee-Einfuhr aufzuweisen hatte, um 190,434 Pud oder dem Werthe
nach um 3,651,678 Rbl. Der eingeführte Thee bestand in 9,605
Pud Blüthenthee, grünen und gelben Thee für 309,951 Rbl., in
271,129 Pud schwarzen Thee für 5,721,051 Rbl. und in 406,985 Pud
Ziegelthee für 4,586,580 Rbl. Ausser diesem Thee wurden noch
folgende Artikel in einem etwas grösseren Verhältnisse aus China
nach Russland eingeführt: Häute 40,865 Pud für 122,596 Rbl.,
Haüsthiere für 114,024 Rbl., Zucker 12,930 Pud für 135,662 Rbl.,
Rohseide für 126,558 Rbl., Drechslerarbeiten für 15,410 Rbl., Wol-
lenwaaren für 23,851 Rbl., Baumwollenwaaren fiir 306,966 Rbl.
(+ 34,234 Rbl.) und kleine Galanteriewaaren 970 Pud für 44,107 Rbl.
Bus. Birw. Bd. YlL ..
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258
Nach europäischen Staaten wurden über die asiatische Grenze
Russlands exportirt: nach England Waaren für 280,248 Rbl. und
nach Frankreich für 1,575,128 Rbl. Die Ersteren bestanden in Nuss¬
und Palmholz 1 (für 202,873 Rbl.), in Mais für 70,675 Rbl. und inWol-
lenwaaren für 6,700 Rbl.; die Letzteren in Fleischwaaren für 7,880
Rbl., in Mais für 16,500 Rbl., in 10,756 Stück unbearbeitetem Leder
für 63,378 Rbl., in 20,020 Pud Rohseide für 880,150 Rbl. und in
61,889 Pud Schafwolle für 607,220 Rbl.
Dagegen importirten nach Russland über die asiatische Grenze:
Preussen Waaren im Werthe von 12,723 Rbl. (Uhren für 10,905 Rbl.,
Goldwaaren und Kleider), Frankreich für 400 Rbl. und Oesterreich
für 1,338 Rbl. (wissenschaftliche Gegenstände).
Die für die Ausfuhr und Einfuhr aus Asien bedeutendsten Zoll¬
ämter habe ich bereits im 4. Hefte des III. Jahrganges der «Russi¬
schen Revue» Seite 378 angeführt.
In den Zollämtern auf der asiatischen Grenze wurden im Jahre 1873
für 24,789 Rbl. Waaren confiscirt , darunter Baumwollenstoffe für
14,763 Rbl. und Zucker für 1,038 Rbl.
Transitgüter wurden durch das kaukasische Gebiet 1873 geführt:
a) von Europa nach Persien für 2,643,164 Rbl. (4- 665,298 Rbl. oder
+ 33 pCt. gegen 1872), und zwar vorzugsweise Zucker für 1,286,608
Rbl., Manufakturwaaren für 1,225,975 Rbl. undThee für 28,288 Rbl. ;
b) asiatische Waaren nach Europa für 522,673 Rbl. ( - 17,198 Rbl.),
darunter Seide für 423,765 Rbl.,Seidencocons für 22,053 Rbl.,Seiden¬
raupeneier für 21,700 Rbl. und Manufakturwaaren für 20,053 Rbl.
Handelsschiffe liefen in die russisch-asiatischen Grenzhäfen im
Jahre 1873 ein: 1,767 Schiffe (—144 Schiffe) von 89,702 Lasten
(—7,270 Lasten), und von dort aus 1,662 Schiffe (—241 Schiffe) von
83,924 Lasten (—9,711 Lasten).
Von den mit Ballast eingelau- Von den mit Waaren eingelau-
fenen Schiffe waren
Lasten
fenen Schiffen
waren
Lasten
russische ....
160 von 11,255
russische . . .
. 672 von 56,161
englische ....
18
» 4.773
englische . . .
4
»
970
deutsche ....
3
» 610
deutsche . . .
1
»
414
österreichische .
12
* 3.244
österreichische
• 3
»
383
griechische . . .
4
» 76 5
griechische . .
1
•
125
türkische ....
372
» 5.920
türkische . . .
• 436
4,412
persische ....
16
> 122
persische . . .
• 65
»
548
"'v
1 Unter der Bezeichnung Palmholz ist dickes Buchsbaumholz, wie solches im Kau-
sus gewonnen wird, zu verstehen, Anm. d. Verf.
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259
Von den hier aufgezählten eingelaufenen Schiffen kamen
aus russischen Häfen .
. . . 37 mit Ballast und 35 mit Waaren
» holländischen * .
... I »
» » — .
» französischen » .
... I *
» » 3 *
* türkischen » .
. . . 490 »
» »621 »
» persischen » .
... 56 »
• » 5 2 3 •
Von den 1,662 ausgelaufenen Schiffen gingen
304 mit Ballast und 165 mit Waaren
in russische Häfen
— » > •
26 » »
» englische »
— » * »
3 »
> französische »
1 » » »
— » .
» griechische »
250 * » »
560 * »
• türkische »
66 » » «
*
*
00
0 *
» persische »
In die Häfen des Schwarzen Meeres liefen ein 512 Schiffe von
23,827 Lasten mit Ballast und 626 Schiffe von 29,700 Lasten mit
Waaren, in die des Kaspischen Meeres 73 Schiffe von 2,862 Lasten
mit Ballast und 556 Schiffe von 33,313 Lasten mit Waaren. Obgleich
die Gesammtzahl der ein- und ausgelaufenen Schiffe sich im Ver¬
gleiche zum Jahre 1872 verringert hatte, so hatte sich doch die
Zahl der mit Waaren eingelaufenen um 11 vermehrt, auch hatte
sich im Verhältnisse zur Schiffszahl der Lastengehalt der Schiffe
gehoben.
Was schliesslich den Personenverkehr über die russisch-asiatische
Grenze anbelangt, so trafen Überdieselbe in Russland ein 31,136
Personen und reisten aus Russland 25,104 Personen, so dass mehr
zu- als ausgereist waren 6,032 Personen. Unter den Angereisten
befanden sich 18,163 Perser, 4,711 Russen, 7,448 Türken, 480
Preussen, 118 Griechen, 60 Franzosen, 50 Engländer, 34 Italiener,
20 Oesterreicher, 20 Bucharen, 8 Chiwesen, 7 Belgier, 5 Schweizer,
4 Dänen, 4 Amerikaner, 3 Moldauer, 1 Turkmene; unter den Abge¬
reisten 11,596 Perser, 9,310 Russen, 3,415 Türken, 586 Griechen,
76 Preussen, 45 Franzosen, 21 Oesterreicher, 19 Engländer, 18 Ita¬
liener, 7 Schweizer, 3 Amerikaner, 3 Moldauer, 2 Belgier, 2 Chiwe¬
sen und 1 Buchare. Es reisten daher weniger über die asiatische
Grenze ab, als zugereist waren: 6,567 Perser, 4,033 Türken, 404
Preussen, 31 Engländer, 19 Bucharen, 16 Italiener, 15 Franzosen,
6 Chiwesen, 5 Belgier, 4 Dänen, 1 Amerikaner und 1 Turkmene.
Dagegen waren mehr aus- als zugereist*. 4,599 Russen, 468 Grie¬
chen, 2 Schweizer und 1 Oesterreicher.
/
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i 6 o
Kleine Mitthel hingen.
(Ueber die Wirksamkeit der städtischen Communal-
Banken im Jahre 1874 ] .) Am i. Januar 1874 befanden sich im
russischen Reiche überhaupt 251 städtische Communal-Banken, zu
denen im Laufe des Jahres 1874 noch 16 neue hinzutraten, so dass
am 1. Januar 1875 im Ganzen 267 Communal-Banken in Thätigkeit
waren. Von diesen hatten 210 Banken ihre Berichte für das abgelau¬
fene Jahr (1874) eingesandt.
Der Umsatz dieser Banken betrug im Ganzen 582,820,730 Rbl.,
von welchen umsetzten die Bank in:
Charkow .... 99,990,000 Rbl. I Ssaratow .... 11,507,000 Rbl.
Skopin.35,360,000 * Tambow .... 11,085,000 »
Pensa.18,172,000 * ' Ssuschkin’sche in
Woronesh . . . 17,253,000 * 1 Tula.11,002,000 *
Jelez.15,406,000 * Nishnij Nowgorod 10,898,000 >
93 Banken erzielten einen Umsatz von 1,000,000 — 10,000,000 Rbl.
60 • * » * » 500,000— 1,000,000 *
39 * » » * > 100,000 — 500,000 »
9 » * * » * weniger als 100,000 *
Das Grundkapital belief sich im Ganzen auf 14,344,622 Rbl. 2 und
zwar haben: 2 Banken ein Grundkapital von über 500,000Rbl. 8
34
45
42
87
100,000—500,000
50,000—100,000
25,000— 50,000
10,000— 25,000
Einlagen wurden gemacht für die Summe von 54,333,538Rbl. 4 , von
denen in: 2 Banken
über 3,000,000Rbl. 5 einge
ragen wurden,
11
»
* 1,000,000 »
IO
*
von 500,000—1,000,000 *
80
*
* 100,000— 500,000 *
46
*
* 50,000— 100,000 »
27
*
* 25,000— 50,000 *
22
*
* 10,000— 25,000 »
6
*
weniger als 10,000 •
6
*
gar nichts
* Nach den im «üpaB. B-kcni.» publicirten officiellen Mittheilungen. Wir verweisen
zugleich auf den im St. Petersburger Kalender für 1872 und in den daraus abgedruck¬
ten «Statist, u. and. wissensch. Mittheilungen aus Russland*, V Jahrgang, veröffent¬
lichten Artikel von P. Schwanebach: Russische Banken und Creditanstalten. D. Red.
* Ausserdem besitzen diese Banken noch einen Reservefond von 2,481,022 Rbl.
3 Charkow 860,000 und Skopin 757,500 Rbl.
* Hierzu kommen noch die zum 1. Januar 1874 verbliebenen 53,970,248 Rbl., so
dass die Totalsumme der Einlagen 108,303,786 Rbl. betrug.
4 Charkow 6,720,000, Skopin 3,243,000 Rbl. Mit den Resten des vorigen Jahres
betrugen die Einlagen am I. Januar 1875 in der Bank von Charkow 8,894,000, in
• l '1^^8,528,000 Rbl.
A -
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Disconiirt wurden Wechsel im Ganzen für 160,5 22,405 Rbl., und zwar
machten das grösste Discontogeschäft die Banken von Skopin für
9,841,000 Rbl. und von Charkow für 9,514,000 Rbl. Dann kommen:
Jelez.mit 4,583,000 Rbl.
Irkutsk ... » 4,197,000
Tambow . . » 3,847,000
Nishnij-Nowgorod 3,571,000
Ssuschkin'sche
in Tula . . • 3 > 553 >°°o
Orel. » 3,314,000
29 Banken discontirten
34 *
99 »
13 »
17 » »
3 » »
Ssaratow . . . mit 3,151,000 Rbl
Pensa .... * 2,784,000 »
Kaluga. ... » 2,448,000 »
Twer. » 2,387,000 »
Rybinsk ... » 2,085,000 »
Jelisawetgrad * 2,060,000 »
Rostow a. Don » 2,005,000 »
.... über 1,000,000 Rbl.
von 500,000—1,000,000 *
» 100,000— 500,000 »
» 50,000— 100,000 *
» 10,000— 50,000 »
» weniger als 10,000 »
Die Darlehn gegen Werthpapiere, Werthsachen (Mobilien) und
Immobilien erreichten im Ganzen die Höhe von 39,946,917 Rbl., und
zwar verabfolgten Darlehn die Bank von:
Charkow.8,601,000 Rbl. Ssumy.1,648,000 Rbl.
Woronesh.1,981,000 * Jelisawetgrad . . 1,136,000 »
Pensa.1,877,000 »
11 Banken verabfolgten . 500,000—1,000,000 Rbl.
SO
»
»
. 100,000—
500,000
»
43
»
»
. 50,000—
100,000
»
43
»
»
. 25,000—
50,000
»
23
»
»
. 10,000—
25,000
»
3 i
»
»
weniger als
10,000
»
4
»
»
gar nichts.
Die Rein-Einnahmen dieser Banken betrugen im Ganzen 10,693,225
Rbl., und zwar erzielten die grössten Rein-Einnahmen:
Charkow eine Einnahme von 968,000 Rbl.,
Skopin » » » 787,000 » ferner:
Woronesh ....
321,000 Rbl. Jelisawetgrad . . .
147,000 Rbl
Irkutsk.
305,000
> 1 Ssamara.
i4i,ooo
»
Jelez.
303,000
» i Stawropol.
142,000
»
Rjasan.
252,000
» ! Alexandrin'sche in
Tambow.
237,000
» : Tula.
141,000
Pensa.
202,000
» Rostow am Don . .
139,000
»
Ssaratow.
192,000
» Twer.
122,000
»
Jarosslaw.
189,000
» Bjelgorod.
119,000
»
Orel.
185,000
» Rybinsk.
116,000
»
Ssuschkin'sche i.Tula 182,000
» ! Jekaterinenburg . .
115,000
»
Kaluga.
181,000
» Koslow.
107,000
»
Nishnij-Nowgorod
175,000
» ; Wladikawkas . . .
103,000
>
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262
25 Sanken hatten eine Rein-Einnahme von. . 50,000—100,000 Rbl.
41 » * » » » . . 25,000— 50,000 »
74 » » » » » . . 10,000— 25,000 »
43 » » » » » weniger als 10,000 »
2» »» » »»»i ,000 1 »
Die Reingewinne dieser Banken wurden verwandt: a) zur Zahlung
der Zinsen für die effectuirten Einzahlungen, b) zur Bestreitung der
Verwaltungsunkosten, c) zur Vergrösserung sowohl des Grund¬
ais auch des Reserve-Kapitals, und endlich d) zu wohlthätigen und
städtischen Zwecken. In sämmtlichen Banken betrugen die:
zu zahlenden Zinsen.6,824,401 Rbl. (ca.6pCt.)
Verwaltungsunkosten. 754,196 »
dem Grundkapital wurden zugeschrieben 1,541,230 >
» Reservekapital » » 329,453 »
zu wohlthätigen und städtischen Zwecken
wurden verausgabt.1,243,945 >
* Im Ganzen 10,693,225 Rbl.
Für den letzteren Zweck hatten verwandt:
1 Bank (Skopin).135,000 Rbl.
1 » (Ssamara). 51,000 »
3 Banken (Jelez, Rjasan u. Tambow) zwischen 30,000—50,000 »
10 > (Woronesh, Irkutsk, Kaluga, Kolomna, Kremen tschug,
Nishnij-Nowgorod, Rostow am Don, Ssaratow,
Tomsk und Jarosslaw Beträge von 20,000—30,000 »
14 * » » 10,000—20,000 »
36 » » » 5,600—10,000 »
95 » » » 1,000— 5,000 »
25 » » »weniger als 1,000 »
25 * ... gar nichts.
Ein Vergleich mit Berichten für die Jahre 1866 bis 1873 incl. er-
giebt, dass sämmtliche Operationen der Banken von Jahr zu Jahr
einen immer grösseren Umfang nehmen. Besonders ist dieses aus
den Berichten derjenigen Banken zu ersehen, die einen grösseren
Wirkungskreis haben, wie z. B. bei den Banken von Charkow, Sko-
pin, Pensa, Woronesh, Jelez, Ssaratow, Tambow, der Ssuschkin’schen
Bank in Tula und der Bank zu Nishnij-Nowgorod.
Im Jahre 1866 stand die Bank von Kasan an der Spitze sämmt-
licher Banken mit einem Umsätze von 6 Millionen Rbl.; im Jahre
1867 war sie aber schon von der Bank von Skopin überflügelt, welche
einen Umsatz von über 7 Millionen Rbl. erzielte. — Im Jahre 1868
hatte die Bank von Skopin schon einen Umsatz von 13V2 Millionen,
die von Charkow über 12 Millionen, Kasan und Ssaratow über 6 Mill.
1869 hatte Skopin.über 26,500,000 Rbl.
Charkow.13,000,000 *
Ssaratow, Kasan, Bogorodsk und Orel 6,000,000 »
4 Die von Belebejew (Gouv. Ufa) und Tschembary (Gouv. Pensa), wobei übrigens
zu bemerken, dass erstere am 4. December und letztere am 23. October vorigen Jahres
erst eröffnet wurden.
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1870: Skopin.über 27,000,000 Rbl.
Charkow. > 20,000,000 »
und 9 Banken.'. . » 6,000,000 »
1871: Skopin. » 32,500,000 »
Charkow. > 30,500,000 »
und 10 Banken. » 6,000,000 »
1872: Skopin.35,000,000 »
Charkow.56,500,000 »
und 14 Banken.über 6,000,000 »
1873: trat an die Spitze Charkow mit.93,500,000 »
Skopin hatte.40,000,000 »
und 16 Banken.über 6,000,000 »
1874: Charkow % . 99,990,000 »
Skopin.35,360,000 »
und 18 Banken.über 6,000,000 »
In ähnlicher Progression stiegen im Laufe dieser Jahre auch die
Einlagen ;
1866 hatte Kasan die grösste Summe von Einlagen aufzuweisen,
und zwar.. . . 750,000 Rbl.
1867: Kasan. 1,940,000 »
Skopin. 1,442,000 >
Ssaratow. 885,000 *
Orel. 859,000 »
Rjasan. 754,000 »
1868: 2 Banken (Skopin und Charkow) . . über 2,000,000 »
1 Bank (Tula). » 1,000,000 »
5 Banken.zwischen 500,000—1,000,000 »
1869: I Bank (Skopin).über 2,000,000 »
I » (Charkow). » 1,000,000 *
9 Banken.zwischen 500,000—1,000,000 *
1870: 1 Bank (Skopin).über 2,000,000 >
4 Banken (Woronesh, Pensa, Ssara¬
tow und Charkow .... > 1,000,000 »
9 » .zwischen 500,000—1,000,000 »
1871: 1 Bank (Skopin).über 2,000,000 »
3 Banken (Woronesh, Charkow und
Ssuschkin’sche in Tula) . » 1,000,000 »
13 » .zwischen 500,000—1,000,000 »
1872: 1 Bank (Charkow).über 4,000,000 »
1 » (Skopin). » 3,000,000 »
2 Banken (Woronesh und Tambow) » 1,000,000 »
20 » .zwischen 500,000—1,000,000 »
1873: 1 Bank (Charkow).über 6,000,000 »
1 » (Skopin). » 3,000,000 »
5 Banken (Woronesh, Jelez, Irkutsk,
Nishnij-Nowgorod u. Rjasan) » 1,000,000 >
17 * .zwischen 500,000—1,000,000 »
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18742 1 Bank (Charkow).über 6,000,000 RbL
1 » (Skopin). » 3,000,000 »
11 Banken. » 1,000,000 »
10 » .zwischen 500,000—1,000,000 »
Das Disconto-Geschäft nahm im Laufe dieser Jahre einen ähnlichen
Aufschwung. Es discontirten:
1866 die Bank von Kasan.über 2,000,000 Rbl.
» » Orel. » 1,000,000 »
» » Skopin. 984,000 •
7 Banken zwischen .... 300,000—600,000 ■
1867: Kasan und Skopin jede . . . über 2,000,000 »
Orel., . . . . ■ 1,000,000 »
7 Banken von.300,000—600,000 »
1868: Kasan und Skopin jede . . . über 2,500,000 »
6 Banken. » 1,000,000 *
33 » .von 200,000—800,000 »
1869: Skopin . . ,. 4,500,000 »
4 Banken.über 2,000,000 »
9 » . » 1,000,000 »
51 » zwischen . . . 200,000—900,000 »
1870: Skopin .über 5,600,000 »
2 Banken (Kasan u. Charkow) * 3,000,000 *
4 3 . • 2,000,000 »
11 » • 1,000,000 »
67 » zwischen . . . 200,000—900,000 *
1871: Skopin.über 6,500,000 •
2 Banken (Kasanu.Charkow) » 3,000,000 »
5 » . » 2,000,000 *
12 • * 1,000,000 »
62 » .von 200,000—900,000 »
1872: Charkow.über 8,500,000 »
Skopin. » 7,000,000 »
2 Banken (Kasan u. Ssaratow) » 3,000,000 »
7 3 . 3 2,000,000 »
20 » » 1,000,000 »
85 » ...... von 200,000—900,000 •
1873: Charkow.beinahe 9,500,000 »
Skopin.über 8,000,000 »
8 Banken (Woronesh, Kasan, Jelez,
Tambow, Irkutsk, Ssaratow,
Pensa und Orel.über 3,000,000 »
4 Banken.• 2,000,000 »
21 • » 1,000,000 >
99 » .von 200,000—1,000,000 »
1874: Charkow und Skopin jede . . über 9,500,000 »
2 Banken (Jelez und Irkutsk) » 4,000,000 •
11 » * 2,000,000 *
29 * » 1,000,000 *
34 » . , . . • von 500,000—1,000,000 »
'x
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In Betreff der Darlehn sind die Banken von Pensa und Jelisawet-
grad diejenigen, bei denen im Jahre 1866 die grössten Darlehn gemacht
wurden und betrug die Summe derselben nicht voll 400,000 Rbl.
Es verabfolgten dann Darlehn:
1867: die Bank von Ssaratow.für 7i8,oooRbl.
» » Pensa. * 616,000
■ » Jelisawetgrad. * 551,000
• » Skopin und Charkow jede » 508,000
3 Banken (Charkow, Tulau.Ssaratow) jede über 1,000,000
1868:
1869:
1870
1871:
1872
1873:
1874
13
5
15
5
20
4
26
» .zwischen 200,000—900,000
» (Pensa, Rybinsk, Ssaratow, Tula und
Charkow.über 1,000,000
» .zwischen 200,000 —700,000
* (Woronesh, Pensa, Ssaratow, Char¬
kow und Alexandrin’sche Bank
in Tula). . . . ,.über 1,000,000
* .zwischen 200,000—1,000,000
» (Woronesh, Pensa, Ssaratow und
Charkow).über 1,000,000
» .zwischen 200,000—1,000,000
I Bank (Charkow).über 2,500,000
4 Banken (Woronesh, Pensa, Ssaratow und
Alexandrin’sche in Tula . über 1,000,000
30 » zwischen 200,000—1,000,000
1 Bank (Charkow).7,7 50,000
4 Banken (Woronesh, Kasan, Pensa und
Ssaratow).über 1,000,000
30 » zwischen 200,000—1,000,000
1 Bank (Charkow).über 8,500,000
4 Banken (Pensa, Woronesh, Ssumy uud Jeli¬
sawetgrad .über 1,000,000
11 » zwischen 500,000—1,000,000
Nach den Versatz-Objekten geordnet, wurden versetzt:
1. Werthpapiere :
Rbl.
1869: in i5iBankenfür 12,120,000
1870: »179 » ■ 15,079,000
1871:» 176 » » 16,139,000
2. Waaren
Rbl.
414,000
Rbl.
1872: ini92Bankenfiir 19,923,000
1873: » 203 * > 25,066,000
1874: » 206 * » 27,525,000
1869: in 151 Banken für
1870:
1871:
l 79
176
375,000
574,000
1872: ini92ßankenfür
1873: * 203
1874: * 206 * *
Rbl.
475,000
749,000
816,000
3. Werthsachen und nicht dem Verderben ausgeseLte Gegenstände:
1869: in iSiBankenfür
1870: »179 • »
1871: • 176 > *
Rbl.
355,000
385,000
482,000
Rbl.
1872: in i92Bankenfür 722,000
1873: * 203 » » 764,000
1874: * 206 » » 709,000
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*66
4. Gebäude:
Rbl. Rbl.
1869:in iSiBankenfür 2,804,000 1872:in I92ßankenfiir 4,828,000
1870: » 179 * » 3,090,000 1873: » 203 » * 5,826,000
1871: » 176 » » 3,629,000 1874: » 206 * » 7,227,000
5. Ländereien , im Weichbilde der Städte gelegen , in welchen sich die
Banken befinden :
Rbl. Rbl.
1869: in i5iBankenfiir 288,000 1872: in I92ßankenfür 104,000
1870: » 179 » > 78,000 1873: » 203 » » 393,ooo
1871: » 176 » » 86,000 1874: * 206 » » 130,000
6 . Ländereien in den Kreisen jener Gouvernements gelegen , in welchen
' sich die Banken befinden .
Rbl. Rbl.
1869: in iSiBankenfür 2,177,000 1872 : in I92ßankenfür 2,338,000
1870: >179 » * 2,742,000 1873: * 203 • * 2,484,000
1871: * 176 » » 2,589,000 1874: » 206 » » 3,537>°oo
Hinsichtlich der Summen, welche von den erwähnten Banken zu
Communal * und wohlthätigen Zwecken verwandt wurden, ergiebt sich
Folgendes:
1866 hatte nur die Bank von Kasan zu diesem Zwecke 19,000 Rbl.
verausgabt, von welchen 6000 Rbl. zur Erhaltung des Hospi¬
tals für Arbeiter und 10,000 zur Errichtung einer Commerz¬
schule beigetragen wurden.
1867 hatten schon 3 Banken (Skopin, Ssaratow und Rjasan), jede
19,000 Rbl., zu ähnlichen Zwecken beigesteuert, und 4 Ban¬
ken je 10,000 Rbl. ausgegeben.
1868 hat die Bank von Skopin allein zum Besten der Stadt über
65,000 Rbl. verausgabt.
4 Banken (Kasan, Rjasan, Ssaratow
und Tula).20,000—30,000 Rbl.
9 Banken.10,000—20,000 »
15 » .bis 10,000 »
1869: die Bank von Skopin.125,000 »
3 Banken (Krementschug, Rjasan und
Ssaratow).20,000—30,000 *
14 Banken.10,000—20,000 »
87 » .- . . 1,000—10,000 »
1870: 1 Bank (Skopin). 54,000 »
6 Banken (Bjelgorod, Kasan, Irkutsk,
Rjasan, Ssamara und Ssaratow . 30,000—50,000 *
1 Bank (Jelisawetgrad).20,000 »
12 Banken.10,000—20,000 »
104 » . 1,000—10,000 »
1871: 1 Bank (Skopin).58,000 »
2 Banken (Rjasan und Ssamara) . . . 30,000—50,000 »
6 » (Berdjansk, Woronesh, Irkutsk,
Rostow a. Don, Ssaratow, Stawropol 20,000— 30,000 »
1871: 13 Banken.10,000—20,000
105 » . 1,000—10,000
1872: 1 Bank (Skopin).68,000
2 Banken (Ssamara und Stawropol) . 30,000—50,000
10 ■ (Woronesh, Jelez, Irkutsk,
Kamyschin, Kaluga, Nishnij-Nowgo-
rod, Rostow am Don, Rjasan, Ssara-
tow und Tambow.20,000—30,000
17 Banken .10,000—20,000
120 * . 1,000—10,000
1873: I Bank (Skopin).72,000
1 * (Charkow) .52,000
3 Banken (Jelez, Kaluga, Ssamara) . . 30,000—50,000
8 » (Bogorodsk, Bjelgorod, Jeli-
sawetgrad, Irkutsk, Rostow am Don,
Ssaratow, Rjasan und Tambow . . 20,000—30,000
16 Banken. .'.10,000—20,000
126 * . 1,000—10,000
1874: 1 Bank (Skopin).,.135,000
1 » (Ssamara). 51,000
3 Banken (Jelez, Kaluga, Ssamara) . . 30,000—50,000
10 » .20,000—30,000
14 » .10,000—20,000
36 * 5,000—10,000
95 » . 1,000— 5000
Rbl.
>
(Haushalt der Stadt St. Petersburg für das Jahr 1874. *)
Einnahmen.
A. Gewöhnliche : Rbl. Kop.
1) Von städtischen Besitzungen und Pachtungen . 476,847 26V2
2) Immobilien-Steuer..'. . . 1,506,389 61
3) Abgaben der Gewerbetreibenden. 670,582 83
(Handelsscheine, Scheine d. Droschkenkutscher, Fuhrleute etc.)
4) Handelssteuer.,.*. 695,779 84 V*
(Von Hötels, Restaurants, Verkaufsläden [146,020 Rbl. 50
Kop], Badstuben etc.)
5) Indirekte Steuern. 482,357 65
(Steuer von dem angeführten Getreide; für das Stempeln
der Maasse u. Gewichte; Brückenzoll von den die Brücken
passirenden Schiffen; Abgaben von den Dampfböten und
Transportschiffen [Lichterfahrzeuge]; Abgaben bei der
Ausfertigung notarieller Dokumente [306,605 Rbl. 9*/*
Kop.]; für das Einschreiben der Pässe etc.)
1 Nach dem Jahresbericht der Stadtverwaltung.
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Rbl. Kop.
6) Hülfs-Einnahmen.*. 63,439 i8 3 /4
(Von verschiedenen Behörden fUr den Unterhalt derStrassen-
laternen bei den Gebäuden, die diesen Behörden gehören.
Von der Reichsrentei für den Unterhalt des Alexander-
Parks etc.)
7) Zufällige Einnahmen. 133,113 42V4
(Strafgelder; für ausgestellte Bauscheine etc.)
8) Zurückerstattete Summen. 36,058 07
(Von den Hausbesitzern fiir Strassenpflaster, welches für
Rechnung derselben ausgefiihrt war; Rückzahlungen der
Ochta’sehen Gemeinde ä conto der von ihr gemachten
Anleihe.)
Summa der gewöhnlichen Einnahmen 4,064,567 88
B. Aussergew'öhnliche Einnahmen
106,080 50*/*
1)
2)
3)
C. Einnahmen aus den städtischen Kapitalien:
Aus dem Kapital, welches sich
aus dem Verkauf städtischer Rbl. Kop.
Baustellen gebildet hat . . x . 120,295 03
Aus den Fonds der Troitzki-
schen Getreide-Magazine . . 200,545 08
Aus dem städtischen Reserve¬
kapital 1 .. 461,655 09V4
782,495 20 l /4
Summa sämmtlicher Einnahmen . . . 4,953,143R.59K.
Ausgaben: Rbl. Kop.
1) Für Schuldentilgung. 24,264 94
(Die Stadt schuldet dem Comite der Allgemeinen Fürsorge
400,000 Rbl,)
2) Unterhalt der städtischen Verwaltung. 57°>553 30*/»
3) » der Polizeiverwaltung. 52,974 9 1
4) » der Adress-Expedition. 19,862 36
5) * der St. Petersburger Stadthauptmann¬
schaft und der Polizei . 984,315 0872
6) Unterhalt der Feuerwehr . . .. 175,182 62V1
7) » der Gensdarmerie-Division. 117,415 64V2
8) » der Friedens- und anderer Gerichte . 243,901 • 58
9) » des städtischen Gefängnisses .... 72,072 44
10) » des Hauses für zahlungsunfähige
Schuldner.- I 5 i 737 53
1 In Folge einer Allerhöchsten Verordnung vom 9. December 1821 ist aus den un-
verausgabt gebliebenen jährlichen städtischen Einnahmen ein besonderer Reservefond
gebildet worden, und kann dieser nur zu gemeinnützlichen Zwecken verwandt werden
Am 1. Januar 1874 betrug dieses Kapital... . 1,449,972 Rbl. 6o*/< Kop.
Im Laufe des Jahres kamen hinzu. 25,27 0 » 74V» •
1,475,243 Rbl. 34 3 /i Kop.
wurden verausgabt *.. 461,655 » 09*/* »
Blieb zum 1. Januar 1875.1,013,588 Rbl. 25*/» Kop.
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269
11) Für Pensionen und einmalige Unterstützungen Rbl. Kop.
der städtischen Beamten. 9,693 95
12) Für verschiedene Bauten.1,204,790 50
13) » Beleuchtung der Stadt. 381,587 05
14) Unterhalt der dem Militärressort übergebenen
Kasernen. 40,915 67
15) Unterhalt der Kasernen und anderer Gebäude
in der St. Petersburger Festung. 18,694 33
16) Unterhalt der Kommandantur und der Haupt¬
wachen . 19,912 56
17) Quartiergelder und Einquartierungsgelder • . . 85,796 66
18) Unterhalt der Erziehungsanstalten. 54,614 27
19) » wohlthätiger Anstalten . . .. 279,105 50
20) Unterstützungen anderer Ressorts. 41,241 27
21) Ausgaben zu Zwecken der Gouvernements-
Landschaft . 69,768 —
22) Zufällige Ausgaben. 108,845 23
(Unter diesen 50,000 Rbl. für die Nothleidenden im Gou¬
vernement Ssamara.)
23) Ausgaben, die erstattet werden müssen .... 1,200 —
24) Extraordinäre Ausgaben. 320,840 II
(Errichtung des Admiralitätsquais, des Preobrashenskischen
Kirchhofes etc.)
Summa sämmtlicher Ausgaben 4,9i8,285R.52K.
(Ueber Flachs- und Hanfproduktion in Russland) ! . Im
17. Jahrhundert war Archangel die einzige Hafenstadt Russ¬
lands, die einen direkten Export-Handel, und zwar fast ausschliess¬
lich mit England, betrieb. Im Jahre 1665 wurden von hier aus für
600,000 Rbl. Hanf, Flachs, Flachsgespinnste, Seile und Talg ausge¬
führt. Pskow und Nowgorod, die zu jener Zeit ebenfalls einen
grossen Handelsverkehr besassen, konnten ihre Waaren nur über
Narwa— welches damals zu Schweden gehörte — ausführen.
Nach der Gründung von St. Petersburg erliess Peter der Grosse
im Jahre 1713 einen Befehl, dem zufolge sämmtliche Hauptausfuhr¬
artikel als: Flachs, Hanf und Talg nur aus dem St. Petersburger
Hafen verschifft werden durften. Von den übrigen zur Ausfuhr
bestimmten Artikeln konnte nur ein Drittel aus Archangel, der Rest
aber musste aus St. Petersburg exportirt werden. Zugleich wurde
sowohl der Ein- als Ausfuhrzoll für den Hafen von Archangel be¬
deutend erhöht, für den Hafen von St. Petersburg aber bedeutend
ermässigt.
In Folge dieser Massregel veränderte sich die Richtung der
damaligen Handelswege vollständig, d. h. sie wurden vom Weissen
1 Nach Mittheilungen desHrn v.Klopstahi in dem Jahresberichte der St. Petersburger
Stadtverwaltung pro 1874 ( Orten» Ct. IleTepÖ. ropOACKoi ynpaubi).
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270
zum Baltischen Meere gelenkt, und in St Petersburg centralisirte
sich fast der ganze derzeitige auswärtige Handel Russlands, denn
Riga führte damals nur Waaren aus, die aus Polen und Lithauen
kamen; Reval und Pernau handelten nur mit örtlichen Produkten
oder mit solchen, die aus Pskow und Ssmolensk zugeführt wurden.
Auf diese Weise wurde St. Petersburg der Hauptstapelplatz für
den zur Ausfuhr bestimmten Flachs und Hanf und behauptete diese
Stellung bis auf die jüngste Zeit, wo das von Jahr zu Jahr wach¬
sende Eisenbahnnetz diesem Handel wiederum eine andere Rich¬
tung gab.
Die Region, welche den in den Handel kommenden Flachs
liefert, umfasst folgende Gouvernements — im Nordosten: Wologda,
Wjatka, Kostroma, Jarosslaw und Wladimir; im Westen*. Livland,
Kurland, Pskow und theilweise Witebsk, Wilna, Grodno, Minsk,
Mohilew, Ssmolensk, Twer und Nowgorod.
Die Region des Hanfbaues bilden die Gouvernements Central-
Russlands: Orel, Kursk, Tschernigow, theilweise Ssmolensk, Kaluga
und Tula.
Lein- und Hanf ‘Samen; zum Zweck der Oelgewinnung, wird in
den südlichen, am Schwarzen und Asow’schen Meere gelegenen
Gouvernements gezogen. Indess ist es sehr schwer, eine genaue
Grenze zwischen diesen Regionen zu ziehen, denn es kommen Ge¬
genden vor, wo sowohl Flachs als auch Hanf zu gleicher Zeit für
den Handel angebaut wurden.
Aus den nordöstlichen Gouvernements kommt nur ein kleiner
Theil des dort angebauten Flachses in den Handel, der grösste Theil
desselben wird in den örtlichen Fabriken und von der Hausindustrie
verarbeitet, und nur der Ueberschuss wird in die Häfen desWeissen
und Baltischen Meeres ausgeführt. Das Letztere ist der Fall im Gou¬
vernement Wologda, das seinen Flachs zu Wasser auf der nördlichen
Dwina nach Archangel sendet; dann in den südöstlichen Theilen des
Gouvernements Wjatka, so wie in Theilen von Kasan und Nishnij-
Nowgorod, von wo der Flachs auf der Kama und Wolga nach
Rybinsk geht.
Die Gouvernements Jarosslaw, Wladimir und Kostroma hingegen
versenden fast gar keinen Flachs, sondern verspinnen ihn auf den
örtlichen Fabriken. Besonders zeichnet sich in dieser Hinsicht das
Gouvernement Jarosslaw aus. Das Kirchdorf Welikoje ist der Central¬
markt für den Flachshandel dieses Gouvernements, und* es werden
hier jährlich an 50,000 Pud Flachs verkauft, der grösstentheils zur
Anfertigung des im Handel unter dem Namen «Jarosslaw'sche Lein¬
wand« bekannten vorzüglichen Leinen verarbeitet wird. Ein nur sehr
geringer Theil des hier producirten Flachses geht über Wologda
nach Archangel und die^Wolga entlang nach St. Petersburg.
Aus dem Gouvernement Wladimir, wo die Stadt Melenki und das
Kirchdort Fominki (Kreis Gorochowetz) die Hauptmärkte für Flachs
sind, werden jährlich an 500,000 Pud in die Hafenstädte des Balti¬
schen Meeres versandt.
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/
271
Im Gouvernement Kostroma sind die Märkte von Kostroma, Ne-
rechta, Kineschma und Plessy die Centralstellen für den Absatz
des Flachses.
Im Ganzen kommen aus den nordöstlichen Gouvernements in
den Handel: an Flachs und Flachsheede über i x k Millionen Pud,
an Flachssamen gegen i Million Pud, zusammen für den Betrag von
über 4 Millionen Rbl.
In den westlichen flachsbauenden Gouvernements befinden sich
fast gar keine Spinnereien, daher denn auch der dort gezogene
Flachs fast ausschliesslich ausgeführt wird.
Im Gouvernement Pskow sind die Hauptmärkte für Flachs:
Pskow, Ostrow, Opotschka, Holm, die Dörfer Ssolzy und Petschory,
aus denen jährlich 1,700, OCX) Pud für gegen 7 Millionen Rbl. Flachs
theils nach St. Petersburg, Narwa, Reval, Riga, Pernau, theils direkt
in das Ausland ausgeführt wird.
Der nordwestliche Theil des Gouvernements Ssmolensk und das
ganze Gouvernement Twer setzen den Flachs in St. Petersburg ab.
In ersterem liefert die Stadt Gshatsk gegen 450,000 Pud verschie¬
dener Flachs-und Hanfprodukte. In letzterem liefern Koljasin—50,000,
Twer—130,000, Subzow—300,000, Rshew — 600,000 Pud. Alle
diese Märkte entsenden ihren Flachs nach St. Petersburg ent¬
weder direkt zu Wasser, oder übergeben ihn in Twer der Nikolai-
Eisenbahn.
Das Gouvernement Nowgorod liefert nach St. Petersburg jährlich
gegen 150,000 Pud Flachs.
Nach dem zu urtheilen, was aus sämmtlichen Häfen des baltischen
Meeres verschifft wird, kann man annehmen, dass aus den west¬
lichen Gouvernements zwischen 18 bis 20 Millionen Pud Flachs für
den Betrag von gegen 35 Millionen Rbl. in den Handel kommen.
Was den Hanfbau anbelangt, so wird dieser am stärksten in den
Gouvernements Central-Russlands betrieben. Der Absatz findet eben¬
falls nach St. Petersburg und Riga statt, und nur ein sehr geringer
Theil wird in den Gouvernements Twer, Jarosslaw, Nishnij-Nowgo-
rod, Rjasan zu Segeltuch, Stricken und Tauen verarbeitet. Die grös¬
sten Hanfmärkte befinden sich im Gouvernement Orel, und zwar in
den Städten: Orel, Mzensk, Bolchow, Brjansk, Trubtschewsk. Auf
dem Pokrow'schen Jahrmarkt beim Kloster Ssewsk, unweit Brjansk,
versammeln sich nicht nur sämmtliche Hanfhändler der Umgegend,
sondern er wird auch von den Agenten der Hafenstädte besucht.
Vor Eröffnung der Eisenbahnen wurden allein in der Stadt Orel über
I Million Pud Hanf zu Wasser verladen. Aber nach Eröffnung der
Eisenbahnen nimmt die Versendung zu Wasser von Jahr zu Jahr
immer mehr ab und steigt in demselben Maasse die Beförderung
per Bahn.
Im Gouvernement Kursk sind die Märkte für Hanf in: Dmitrijew,
L’gow, Rylsk und Kursk. Alle diese liefern indess nicht mehr als
400,000 Pud. jährlich.
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Im Gouvernement Tula centralisirt sich der Hanfhandel in Bjelew,
wo gegen 420,000 Pud verladen werden.
Im Gouvernement Rjasan sind: Ssaposhkow, Skopin, Bochulow,
Bortz; in Kaluga — Ssuchinitschi, Meschtschowsk und Mossalsk;
in Twer — Subzow, Rshew; in Ssmolensk — Rosslawl, Bjeloe und
Porjetschie; in Mohilew — Kopys, Bychow, Sklow und Mohilew; in
Tschernigow — Klimowitschi, Potschet und Pogar — die wichtigsten
Märkte für den Handel mit Hanf.
Im Ganzen kommen aus diesen Gouvernements gegen 4,800,000
Pud Hanf und Hanfwerg in den Handel. Von diesen wurden circa
1,400,000 Pud per Nikolai-Bahn, der Rest aber zu Wasser verladen.
Seit Eröffnung aber der Orel-Witebsk-Riga-Bahn wird ein grosser
Theil auf diesem Wege versandt.
Was die Preise für Flachs und
Hanf anbelangt, so schwanken
dieselben sehr, je nach den Häfen,
Jahren und der Qualität.
Für Flachs waren die Preise
von den 30-er bis Ende der 40-er
Jahre stets im Fallen, so in St. Pe¬
tersburg von 33 Rbl. 35 Kop. bis
30 Rbl. 50 Kop., in Riga von 30
Rbl. 33 Kop. bis 27 Rbl. 43 Kop.
Von den 50-er Jahren an fingen
sie wieder an zu steigen, und be¬
sonders stark war diese Steigerung
in den letzten Jahren. Zu bemer¬
ken ist hierbei, dass dieses Stei¬
gen in Archangel und Riga stär¬
ker war als in St. Petersburg.
In Betreff der Preise für Hanf
ist ein solches periodisches Fallen
nicht beobachtet worden. Im Ge-
gentheil waren die Preise stets im
Steigen begriffen. So kostete 1832
—1841 in St. Peterburg und Riga
ein Berkowetz (=: 10 Pud) Hanf
22—23 Rbl., 1862—64 schon 31 —
33 Rbl. und 1864—74 stieg er auf
35—40 Rbl.
In den Jahren 1674—1856
waren die Preise die folgen¬
den:
für 1 Berkowetz (= 10 Pud)
Flachs
Rbl. Banco
Hanf
Rbl. Banco
1674
7
»*/»- 3
1710
II —-20
9
1724
io—15
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IO — I5
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1795
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1803
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43
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172
97
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155
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, * 5 °
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Rbl. Silber
65
Rbl. Silber
1842
30
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1848
25
24
1851
33
24
1856
29
27
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«73
Von 1857 bis 1873 kosteten in
im Jahre
St. Petersburg
Rig*
Vrrhan
gel
St.
Petersburg
Riga
ein Berkowetz Flaehs
ein Berkowetz Hanf
1. Sorte
2. Sorte
3. Sorte
Ohne Angabe
der Sorten
1. Sorte
2. Sorte
3. Sorte
DhoeAngabe
d ft Sorten
R.
K.
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K.
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K.
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\ bis
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—
3 »
—
—
—
1
38
1
45
—
4 i
-
—
—
In dieser Tabelle sind übrigens nicht alle Schwankungen der Preise
angegeben, so z. B. waren in der Jahren 1866 bis 1873 die niedrig¬
sten Preise der niedrigsten Sorte von Flachs und Hanf folgende:
fUr Flachs filr Hanf
In St. Petersburg von 38 bis 67 Rbl. von 25 bis 45 Rbl.
» Riga. » 29 » 90 » » 30 bis 47 »
Es ist mithin hinsichtlich der Preise für diese Artikel stets die
Qualität, und besonders beim Flachs, zu berücksichtigen.
Baas. Rme. Bd. VIL x g
/
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274
Im auswärtigen Handel des Russischen Reiches nehmen Flachs
und Hanf die zweite Stelle ein, und ist die Entwickelung dieser Aus¬
fuhr aus folgender Tabelle zu ersehen, in der nur die Jahre des
Krimkrieges ausgelassen sind.
1717—17x9
89,108
613,437
1726
299,424
1,206,932
1749
$01,643
1,318,928
Im Durchschnitt
1758—1760
547.831
1,936,043
1778—1780
899,205
2,741,637
1790—1792
1,115,686
3,102,211
1800—1804
1.353.150
3,170,325
1805—1809
1,836,410
3,491,834
1814—1816
1,207,909
2,654,995
1817—1821
1.382,531
2,552,030
1822—1826
1,8x2,624
2,803,989
1827—1831
2,308,676
2,353,460
1832—1836
2,150,530
2,865,048
1837—1841
2 , 735 ,HO
3,035.632
1842—1846
3,120,555
2,649,097
1847—1853
3,728,885
2,884,965
1857—1861
3,839,676
3,079,905
1862—1866
4,784,604
3,169,169
1867—1868
4,956,967
2,891,394
1869
5,974,024
3,129,154
1870
10,381,449
3,285,123
1871
6 , 455 , 474 *
2,857,928 1
1872
7,238,837
3,790,080
1873
9,041,480
3,776,270
1 Matthäi , der au sw. Handel Russlands («Russ. Revue», 1873, Bd. III., p. 32) be¬
ziffert nach den officiellen Handelstabellen den Export von Flachs im Jahre 1871 : auf
9,015,049 Pud und von Hanf auf 3,651,924 Pud; es müssen also diese beiden in vor¬
liegendem Artikel aufgeführten differirenden Zahlen auf einem Irrthum beruhen. D. R.
Hanf
Pud
F 1 a c h 8
Pud
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Literaturbericht.
3 aM«Hamx Ha Cjiobo o nojiicy Hropeirfe. Runs* IlatJia Tlcmpoeuxa BnaeMcrcato.
Bemerkungen rum Igorlied vom Fürsten Paul Petrowitsch fVjasemskjj. St. Petersburg
1875, XLVI + 517 + 105. 8 f .
Dieses reichhaltige Werk, die Umarbeitung und Erweiterung
eines zuerst im Moskau'sehen Journale «BpeMeHHHKi» 06m. HCTopia
h ApeBHocTefl» 1851 erschienenen Aufsatzes, bietet vielmehr, als
der bescheidene Titel Bemerkungen verspricht. Der Leser findet
darin nicht nur einen sprachlichen und sachlichen Commentar über
das merkwürdige epische Gedicht aus dem XII. Jahrhundert (die
russische Chronik vom Jahr 1185 berichtet über den im Liede besun¬
genen Heereszug), sondern auch viele andere umfassende Unter¬
suchungen, wie z. B. über den Zustand der Literatur und Gelehr¬
samkeit zu jener Epoche in Europa überhaupt und besonders in
Russland, namentlich über die damalige Bekanntschaft mit der klas¬
sischen Literatur; über den Zusammenhang der altklassischen und
mittelalterlichen Literatur mit der altorientalischen; über die Ver¬
breitung mythologischer Begriffe und ganzer Sagen vermittelst ge¬
heimer Sekten und geheimer Wissenschaften verschiedener asiati¬
scher und europäischer Völker; über die wichtige Rolle, welche
Südrussland von jeher bei diesem internationalen Ideenaustausch ge¬
spielt hat; über die Warägerfrage; über die Existenz von Schulen
in Altrussland u. s. w., u. s. w. Gestützt auf sehr ausgedehnte Bele¬
senheit und Erudition, spricht der Verfasser über alle diese und
noch viele andere Fragen ganz selbstständig und originell. Durch das
ganze Werk weht ein frischer Hauch von ungekünsteltem Enthusias¬
mus und jugendlicher Begeisterung für das Vaterland, für seine
Vergangenheit und Gegenwart und für die literarischen Denkmäler
des russischen Volkes. Ein Eingehen in die Einzelnheiten des
reichen Inhalts dieses Werkes kann nicht die Aufgabe dieser biblio¬
graphischen Notiz sein; doch als Beweis für die Aufmerksamkeit,
mit welcher wir das Buch gelesen, mögen hier einige Punkte kurz
berührt werden.
Zur Bestätigung der Ansicht des Fürsten Wjasemskij über Ver¬
breitung und weiteste Ausdehnung ein und derselben Elemente in
verschiedenen gnostischen, kabbalistischen und sonstigen Schriften
und geheimen Gesellschaften — könnten wir mehrere Beweise und
Beispiele anführen; wir beschränken uns aber auf ein Beispiel, und
i8 #
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276
zwar das Allerneueste: Im April dieses Jahres theilte der bekannte
französische Akademiker Haureau dem Institut eine Abhandlung
mit über die mittelalterlichen Erzählungen von Visionen. Bei dieser
Gelegenheit machte ein anderes Mitglied des Instituts, Joseph Deren-
bourg , die Bemerkung, dass fast alle von Haureau angeführten
Anekdoten sich in den kabbalistischen Schriften wiederholen *. Die
Identificirung indessen der Form des Namens Achilles in der von
Miklosich herausgegebenen slavischen Sage über den Trojanischen
Krieg (AuHJieemb = Acileesch) mit dem Olam acilluth (die unmit¬
telbar von Gott emanirte Welt) der Kabbalisten (Register p. 36 f.) —
ist aus sprachlichen und sachlichen Gründen unzulässig.
Die (p. 110) angeführte Polemik zwischen Pogodin und Chwolson
über die Ludsana [cd ist arabischer Artikel) ist jetzt ganz gegenstands¬
los, denn es ist auf Grund einer in Paris und London befindlichen arabi¬
schen Handschrift nachgewiesen worden, dass die richtige Lesart
jenes Namens Kujebana (= Kiewer) ist *. Uebrigens haben die
Hm. Akademiker Dom und Brosset schon in einer Sitzung der phi¬
lologischen Gesellschaft im April 1869 die Deutung Chwolson’s
abgewiesen ®.
Sehr interessant ist der Nachweis (p. 224—237) des Zusammen¬
hanges zwischen dem Igorliede und der Alexandersage und die scharf¬
sinnige Erklärung der räthselhaften Kapuaü (Karnaj) und äjiä (jlia)
durch den arabischen (und überhaupt mohammedanischen) Beinamen
Alexanders desGrossen Dsul-Kamajn (der Zweihörnige), wie er schon
in der achtzehnten Sure (Kapitel) des Korans benannt wird. Dieser
Beiname ist dem Mohammed wohl aus Daniel (Kap. VIII) mitgetheilt
worden, wo von dem zweigehömten Widder (baal ha-Keranajim) die
Rede ist, und welche Prophetie schon sehr früh auf das macedoni-
sche Reich bezogen wurde. Die Vorstellung von den Jadschudsch
und Madschudsch hat schon Geiger von der jüdischen im Talmud ab¬
geleitet 4 . Ob aber nicht noch eine alte himjarische (südarabische)
Sage in die mohammedanische mit eingeflochten ist — darüber
wurde vor 20 Jahren in Deutschland sehr ausführlich verhandelt 5 .
Vor zehn Jahren suchte Referent nachzuweisen, dass der Talmud
Nachrichten hat über Alexanders Zug nach dem Kaukasus 6 .
4 Acadlmie des Inscriptions et Beiles Lettres. Comptes rendus des slances de
l’annäe 1875. quatri&me serie, T. III, Paris 1875. P* 94 : *M. Haureau lit un
memoire sur les Ruits (T apparitions da ns les sertnons du moyen äge. Apr&s cette lec-
tnre M. Derenbourg fait remarquer que presque toutes les anecdotes dont il vient d’ltre
qnestion se retrouvent dans les 6crits cabalistiques«.
* )Kypt<ajrw Muh. Hap. ripoca., April 1872, p. 227—233; vgl. ^Russische Revue*
Band II, p. 295. IV, 470.
* Myp* «furb Muh. Hap. Ilpoca., August 1869, p. 352.
4 A. Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? Eine von der
Kgl. Preuss. Rheinischen Universität gekrönte Preisschrift. Bonn 1833, p. 74.
6 Zeitschrift der deut. morgenländ. Gesellschaft, B. VÜI - IX, 1854—1855.
? Cfopmun» craTeft no esp. ucropin ■ airrepaTypt, caaaaiai 06% Aaexc. Maxe*.
*77
Zur Identification der Sagen über die Centauren und den Kitowras
(KuTOBpacb, Reg. p. 46) bemerken wir, dass Kuhn auch die indi¬
schen Gandharven mit den Centauren vergleicht l , was jedoch neuer¬
dings aus lautlichen Gründen als unzulässig erklärt worden ist 2 . Eine
Schrift vom Prof. Wesselofsky über die Sagen vom König Salomon
und dem Kitowras ist uns bloss dem Titel nach bekannt
Zu der Nachricht des Cinnamus 8 über die persischen Lehren bei
den Chalisiern (p. 232) ist zu bemerken, dass die Sache noch auf
sehr schwachen Füssen steht, denn an einer anderen Stelle heisst es
bei demselben Schriftsteller, dass die Chal\s\er mosaische Gesetze beob¬
achten (Mojoaixot? SietdYovxai vojxoic) 4 , so dass es sehr möglich ist,
dass an der zuerst angeführten Stelle 'Eßpatot statt üspaoti zu lesen
ist. Schlözer’s Vermuthung, dass der griechische Schriftsteller den
Mohammedanismus, von welchem er keinen klaren Begriff gehabt
habe, meine 6 — ist für einen byzantinischen Notarius aus dem XII.
Jahrhundert (Cinnamus schrieb um 1180) ganz unwahrscheinlich.
Hr. P. Lerch glaubt, dass der Name Chalisier aus Charismür ent¬
standen ist. Allenfalls ist an der Identität des Erstem mit der alt¬
russischen Benennung des Kaspischen Meeres Xeajuicctcoe MOpe
(Chwalisskoje more) nicht zu zweifeln, wie unter Andern auch Bie-
lowski angenommen hat®.
Was die sogenannte chaldäische Sibylle , die angebliche Tochter des
Berosus , anbetrifft (p. 309, 391—392), so glauben wir, dass ihr Ur¬
sprung und Verhältniss zum armenischen Geschichtsschreiber Moses
von Chorene und zu anderen Autoren unlängst in den Abhandlun¬
gen der orientalischen Abtheilung der russisch-archäologischen
Gesellschaft vollkommen und genügend aufgeklärt worden sind 7 , wo
auch nachgewiesen ist, dass die Identificirung des Zerwan mit Kronos
theils aus philologischen, theils aus geographischen Zusammenstel¬
lungen entnommen ist 8 .
Der Nachweis, den der Verfasser geliefert, dass die Slaven im Mit¬
telalter ihre Genealogie von den Dardaniern ableiteten, erklärt uns
den räthselhaften Umstand, dass der Pseudo-Josephus (aus dem X.
Jahrhh.) die Slaven von den Dodanim abstammen lässt 9 .
Aber genug mit diesen Einzelnheiten! Wir wollen nur noch be¬
merken, dass es im Allgemeinen dem Fürsten Wjasemskij besser als
* Zeitschrift fUr vergl. Sprachkunde, Band I, p. 513 ff.
* A. Fick, Die Spracheinheit der Indogermanen, 1873, P- 1 S3 i vgl. Preller, Griechi¬
sche Mythologie, 3 Aufl. von Plew, Band II, Berlin 1875, p. 16.
8 Ioanni Cinnami Historiarum libri III, ed. Bonn, p 257.
1 Cinnamus ibid. p. 107; sollte er Ueberbleibsel der Chazaren im Sinne haben?
3 Schlözer, Sammlungen zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen, Göttingen
«79Si P- «86-
• Aug. Bielowski, Monumenta Historiae Polonica, T. I, Leopoli 1864, p. 578.
7 TpyAM boctohh aro OTA-fcJieHia Hiniep. Pye. Apxeoa. 06m., Band XVI, St. Peters¬
burg 1872, p. 357-37°*
8 TpyAM daselbst, p. 353, 466—467.
• Vgl. TpyAM boct. oTA'h/i'b, Band XVII, 1874, p. 302—303.
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278
allen seinen Vorgängern 1 gelungen ist, das Igorlied als einen Ring
in der grossen Kette der Weltliteratur einzureihen, und als den
grossen epischen Dichtungen der altklassischen und mittelalterlichen
Nationen ebenbürtig hinzustellen. Man kann in dieser und jener
Frage anderer Meinung sein als der geehrte Verfasser; man mag
diese oder jene seiner historischen und philologischen Conjecturen
nicht annehmen — aber man muss ihm Gerechtigkeit widerfahren
lassen, dass er überall eine ungewöhnlich reiche Belesenheit in der
einschlagenden gelehrten Literatur entfaltet, überall geistreich und
anregend ist, so dass für jeden Gelehrten und jeden Gebildeten über¬
haupt die Lektüre des Werkes sehr empfehlenswerth sein wird. Für
Lehrer der russischen Literatur dürfte die grosse Menge von Paral¬
lelen zum Igorliede aus occidentalischen und orientalischen Quellen
besonders nützlich und angenehm sein. — Dem Werke sind bei¬
gegeben: 1) Die Apotheose Homer’s nach einer neapolitanischen
Vase. 2) Die Abbildung einer Scene aus der russischen Sage von
dem Zarensohn Iwan (Cica3Ka 061, HßaH'h IlapeBHH'fe). 3) Geogra¬
phische Karte des arabischen Schriftstellers Idrici . 4) Geographi¬
sche Karte des persischen Astronomen Tuci. 5) Plan einer tatari¬
schen Manoeuvre auf ihren Raubzügen in Südrussland (nach Beau¬
plan. 6 ) Ein Theil der catalanischen Weltkarte (Mapa mondi, vom
Jahre 1375). 7) Ein alterthümliches Werkzeug zum Fischfang. 8)
Facsimile von zwei Blättchen aus der erwähnten Sage von dem Za¬
rensohn Iwan. Ein sehr ausführliches Register von Hrn. Barssukow
(Mitgliede der Archäographischen Kommission), wo der Autor noch
manche interessante Nachträge zufügen konnte, macht die Benutzung
des Werkes sehr bequem. A. H.
Revue Russischer Zeitschriften
Journal für Civil- und Criminal-Recht (Journal grashdanskawo i ugo-
lownawo PräWa — )KypHajn> rpa>K«aaHCKaro h yroJiOBHaro npaßa)
V. Jahrgang. 1875. Heft 4. Juli-August. Inhalt:
Gesetze und Verordnungen der Regierung. — Bemerkungen Über Fragen, die aus
einer Konvenüon, bei Uebergabe zur Aufbewahrung, entstehen. Von P. Markow. —
Die Kassationspraxis in Kriminalprocess Fragen für das Jahr 1872. Von K ’. Arsenjrw.
— Ueber Feuerversicherungs-Uebereinkunft. Von A. Brandt . — Das Volksgericht
und das Völkerrecht. (Anlässlich der Frage über die Reorganisation des Bezirksge¬
richts.) Von J . Orschansky. — Ueber die Anwendung des Artikels 818 des Krimi¬
nalgesetzbuches. Von A. von Baison. — Ueber die russische Advokatur. «Die So¬
phisten des XIX. Jahrhunderts» von Eugen Markow. «Bemerkungen über die russi¬
sche Advokatur» von K. K. Arssenjew. Von S. Platonow .
1 Auch fine deutsche Uebersetzung führt Fürst Wjasemskij an; sie erschien unter dem
Titel: Das Lied vom Heereszuge Igor’s, übersetzt von Pastor Sederholm, Moskau 1825.
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279
Der «europäische Bote» (B'fccTHHKt Eßponbi — Westnik Jewropy).
X. Jahrgang. 1875. August. Inhalt:
Der Emigrant. Satyrischer Roman von Jan Lam. Schluss. Von E. L. — England
und seine Ansicht über Russland im XVI. Jahrhundert. Nach neuen Aktenstücken.
I.—X. Von J. W . Tolstoy. — Pierre Josef Proudhon. Correspondence de P. J.
Proudhon. Zweiter Artikel. VIII“XIV. Von D—jew. — Amerikanische Pioniere.
TII. Von A . Kurbsky . — Paolo und Franceska. Aus Dante. Von A. Orlow. —
Deutschland am Vorabend der Revolution. Historische Studien. XVI. Der Fürsten¬
bund und die deutsche Politik Russlands. XVII. Napoleon I. und die Februar-Revolu¬
tion. XVni. Sadowa und Sedan. Von A. S. Traczewsky. — Das Gribojedow’sche
Moskau in Briefen der M. A. Wolkow an die W. J. L&nskaja. Schluss. Die Jahre
1817 und 1818. Von M. P. Sswistunow. — Die Neu-Celtische und Provenzal’sche
Bewegung in Frankreich. I—IV. Von M. P. Dragomarow . — Chronik: Unser Argo¬
naut. Anlässlich der neuen Artikel und der neuen Ideen des Hrn Ljubimow im «Pye-
emift BtCTHark». Von IV. N. — Rundschau im Inlande. — Correspondenz aus Ber¬
lin: die Finanzielle Schwierigkeit und die Opposition. Die Wahlen in Baiern. Von K. —
Correspondenz aus London: Die Arbeiterklasse und die englische Gesetzgebung. Von
R . — Pariser Briefe: V. Die Ueberschwemmuog. I—VI. — Nachrichten. — Biblio¬
graphische Blätter.
«Militär-Archiv» (Wojennij Ssbornik —BoeHnuft CöopHHin».) —
Achtzehnter Jahrgang. 1875. Nr. 8. August. Inhalt:
Ueber die Begebenheiten auf dem rechten Flügel der alliirten Hauptarmee in der
Epoche vom 25. —30. August 1813. (Aus den Memoiren des Prinzen Eugen von Wür-
temberg, Commandeur des 2. preussischen Corps.) — Ueber die Art und Weise der
Verwaltung der Truppen im Kriege und während der Schlacht. Von N. Wolsky. —
Ueber militärische Aufnahmen. Von N. D. Artamonow . — Die Junkerschulen im Jahre
1874. 2 - Artikel. Von * **. — Erwiderung auf die Bemerkung des Doctor Seland.
Von N. Archiptrw . — Ueber den Dienst der Donischen Kosaken. (Aus den Memoiren
des General-Adjutanten J. J. Krasnow.) Von Al. J . Krasnow . — Tag und Nacht in
Ssewastopol. Scenen aus dem Sch lachten leben. (Aus den Memoiren eines Artilleristen.)
Von P. Babcntsckikow. — Bibliographie. — Militärische Umschau in Russland. —
Militärische Umschau im Auslande.
«Das alte Russland» (Russkaja Starina — PyccKan C/rapHHa). —
Herausgegeben und redigirt von M. J. Ssemcwskij. Sechster Jahrgang. Heft VIII.
August 1875. Inhalt:
Archimandrit Foti, Prior des Nowgorod 1 sehen Klosters, 1792—1838. Biographischer
Abriss. Kap. VI—X. (Schluss.) Von E. P. Kamowitsch. — Tagebuch W. K. Küchel¬
becker 1 s, 1831 —1832. Von J . IV. Kossow. — Das St. Petersburger Findelhaus unter
der Verwaltung von J. J. Betzky. Eine historische Untersuchung von A. P. Pjatkowsky .
Kap. VI. — Memoiren von Iwan Stepanowitsch Shirkowitsch, 1795—1848. Kap. IX
—XI. Von S. D . Karpow . — Alexander Nikolajewitsch Serow, 1820 — 1871. Abriss
seines Lebens und seine Briefe. Von W. IV. Stassow. — Feldmarschall Paskewitsch
während der Zeit des Krimkrieges, 1854 — 1855. Historischer Abriss. Aus dem Deut¬
schen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von N. K. Schilder . — Die Explo¬
sion des Pawlow’schen Forts in Ssewastopol am 29. August 1855. Von P. IV. Alabin.
— Das Denkmal Alexander’s I. im Dorfe Ponisow, 1816. Von P. Ssuchodolsky. —
Bibliographische Mittheilungen über neue russische Bücher (auf dem Umschläge).
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28b
Russische Bibliographie.
Martinow, N. und J. Victorowsky. Militärgerichtsordnung. Erläutert
und vervollständigt von N. Martinow. Warschau. 8°. VIII + 421 +
II S. (MaprWHOB'b, H. n BüKTOpOBCKlif, H. BoeHHocy4eÖHbitt ycraBi».
Ci> pa3i>acH. h 4on. H34. H. MapTbiHOBa. Bapmaßa. 8 4 VIII +
421+II CTp.)
Ff ti sch enko, A. P. Eine Reise nach Turkestan. II. Band. 6. Lfg.
Zoogeögraphische Untersuchung. III. Theil. 1. Heft. St. Petersburg.
8*. IV + 66 S. und 13 Bogen Abbildungen ((DeAHBHKO. A fl. IlyTe-
mecTßie bt» TypxecTain». Bbin. 6. T. II. 3ooreorpa<t>nqeciciji iiacjrfc-
40BaHi5i. H. III. PaKoo6pa3HMH (Crustacea). 06pa6oTajn> B. yjibH-
hhht». TeTp. t. Cn6. 4 4. IV + 66 CTp. h 13 ji. puc.).
Regel» A. Descriptiones plantarum novarum et minus cognitarum.
Fasciculus III. (Cn6. 8 4. 17 CTp.)
Ssolowjew. S. Die Geschichte Russlands von der ältesten Zeit.
Band XVIII. Die Geschichte Russlands während der Reorganisa¬
tions-Epoche. VI. Bd. 2. Aufl. Moskau. 8°. 385 S. (ConoBbee'b, C.
HcTopia Poccin Cb ApeBH'fcfluiHX'b BpeMem>. T. XVIII. McTopia
Poccin bt> suoxy npeo6pa30BaHia. T. VI. H34. 2. Mocxßa. 8 4.
385 CTp.).
Basili, K. Syrien und Palästina unter türkischer Herrschaft, in histo¬
rischer und politischer Beziehung. 2 Bände. 2. Aufl. St. Petersburg.
8°. XXIV + 408 und 346 + II S. Mit einer Karte. (Ba3NüiN K. Cnpia
H IlaJieCTHHa HOÄT> TypeUKHMT> DpaBHTeJIbCTBOMT» BT> HCTOpHHe-
ckomi» h no4HTmiecKOMT> OTHomeHiHx*b. 2 t. H34. 2. Cn 6 . 8 4.
XXIV + 408 h 346 4- II CTp. h 1 xapTa).
Ssmimow, S. Die Amu-Darja Expedition in der Arlo-Kaspi-
gegend. Botanische Untersuchung. St. Petersburg. 8°. 30 S. (Cmtp-
MOB*, C. M. AMy-4apbHHCKaa 9Kcne4HuiH bt> Apajio-KacniöcKOMT>
icpai?. BoTaHHqecxix H3CJrfe40BaHiH. Cn6. 8 4. 30 erp ).
Liwanow, Th. W. Reiseführer durch die Krim, nebst einer histori¬
schen Beschreibung der dortigen Merkwürdigkeiten. Moskau 8°.
66 + 6 4- 59 + 4 + 127 + 39 + 6 + 95 + 11 + 25 + 39 S. (Jim-
HOB* 0. B. IIyTeB04HTe4b no KpuMy ct» hctophhcckhmt» onnca-
HieMi> 40CT0npHM'feHaTejibH0CTeft KpuMa. Mocscßa. 8 4. 66 + 6 +
59 + 4+127 + 39 + 6 + 95 + 11 +25 + 39 CTp.).
Materialien zu einer Beschreibung des Ssaratowschen Gouverne-
nements. Herausg. vom dortigen statistischen Comite, unter der
Redaction von N. Woskoboinikow. 1. Lfg. Saratow. 4 0 . 70 + 25 +
17 S. (MaTepia-Hbi kt> onncaHiio CapaTOßcxofl ryöepHin. H34. ryö.
CTaT. k— Ta, no 4 *B pe 4 . H. BocKoöoftHHKOBa. Bbin. I. CapaTOBi.
4 4 . 70 + 25 + 17 CTp.).
I
Herausgeber und verantwortlicher Redacteur Carl Röttgrr.
4o3BOJieHo ueHaypoio. C.-rieTep6ypre», 15-ro CenT«6p* 1875 roja.
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Otto Anton Pleyer,
der erste förmlich accreditirte österreichische Diplomat am russischen Hofe.
1692—1719.
Vorbemerkung. Einleitung. Pleyer’s Ankunft und erster Aufenthalt in Moskau.
Pleyer als geheimer österreichischer Agent. Pleyer als Sekretär. Pleyer als Bericht¬
erstatter. Pleyer als Resident. Schluss.
Professor Ernst Herrmann bemerkt in dem Vorwort zu der von
ihm herausgegebenen Relation Otto Pleyer’s vom Jahre 1710, dass
«schon an und für sich der authentische Ausdruck einer nur elf Jahre
vor dem Nystädter Frieden noch so dürftigen diplomatischen Ver¬
bindung zwischen Oesterreich undRussland wohl beachtet zu werden
verdient* l . Es dürfte somit nach den Worten dieses um die Ge¬
schichte Russlands hochverdienten Historikers als eine lockende
Aufgabe erscheinen, den ersten Fäden der festgeregelten diploma¬
tischen Verbindung der beiden grossen Ostmächte nachzugehen.
Um so lockender wird die Aufgabe, als die geschichtlichen Zeug¬
nisse über diesen Gegenstand es erlauben, jene Fäden bis in ihre
ersten Anfänge zurück zu verfolgen, und sie in den Lebensschick¬
salen einer Persönlichkeit zu innerer Zusammengehörigkeit zu ver^
binden.
An Otto Anton Pleyer’s Erscheinen in Russland knüpfen sich die
ersten dürftigen Versuche einer ständigen Vertretung Oesterreichs
bei diesem Nachbarstaat, entwickeln sich während seines mehr als
fünfundzwanzigjährigen Aufenhaltes daselbst zu festgeregelten
Formen und brechen mit seiner Abberufung auf Jahre gewaltsam
wieder ab.
Erweckt Pleyer schon als der erste förmlich accreditirte öster¬
reichische Gesandte am russischen Hof unser Interesse, so bean¬
sprucht er es wohl in weit höherem Grade als Verfasser zahlreicher
diplomatischer Relationen. Der von Herrmann edirte Bericht
Pleyer’s vom Jahre 1710 reiht sich in eine Fülle geschicht¬
lichen Stoffes ein, welchen wir der Feder dieses Geschäftsmannes
verdanken.
1 Dr.E. Herrmann, Zeitgenössische Berichte zur Geschichte Russlands, Leipzig 1872.
Buss. Berne. Bd. VII. fo
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282
Als N. Ustrjatow , der bekannte Verfasser der Geschichte der
Regierung Peter’s des Grossen, das geheime Staatsarchiv zu Wien
durchsah, zogen diese Papiere seine besondere Aufmerksamkeit auf
sich; von allen Pleyer’schen Berichten hat er nach seiner Mitthei¬
lung Auszüge gemacht und die wichtigsten derselben — nicht
weniger als 180 auf 760 Seiten in Folio 2 — sich wörtlich aus¬
schreiben lassen. Aus diesem umfangreichen historischen Material
sind (in den Beilagen zu dem oben erwähnten Werke) jedoch nur
61 Relationen vollständig publicirt. Sie sind sämmtlich dem ge¬
heimen Staatsarchiv zu Wien entnommen* und stammen aus den
Jahren 1696—1706. Mit diesem Jahre hört das eigentliche Werk
Ustrjalow's auf, indem der sechste Band die von dem Hauptwerke
völlig unabhängige Biographie des Kronprinzen Alexey enthält,
diesem Bande sind daher bis auf zwei vollständig mitgetheilte Rela¬
tionen Pleyer’s nur Bruchstücke, welche sich auf Alexey beziehen,
beigefügt.
Der bei weitem grösste Theil der Pleyer’schen Berichte harrt mit
dem durch den Tod des Verfassers unterbrochenen Hauptwerke
somit noch der Veröffentlichung.
Was den positiven historischen Inhalt dieser Berichte betrifft, so
kann sich der vorliegende Aufsatz mit einer detaillirten Unter¬
suchung über die Glaubwürdigkeit derselben nicht befassen. Die
Darstellung des Lebens Otto Anton Pleyer’s will zunächst einen
Beitrag zur Geschichte der diplomatischen Verbindung der beiden
grossen Ostmächte geben und nur insofern auch zur Kritik seiner
Relationen dienen, als die Feststellung der äusseren Lebensum¬
stände des Verfassers wesentlich die Beantwortung der Frage in
sich schliesst, in wie weit er gut unterrichtet sein konnte. Eine ein¬
gehende Zergliederung der Dokumente nach ihrem Werthe für die
Zeitgeschichte erscheint jetzt schon darum unthunlich, weil, w^
schon bemerkt, der grössere und vermuthlich werthvollere Theil
desselben sich noch der Untersuchung entzieht. Zur Charakte¬
ristik der Pleyer’schen Berichte im Allgemeinen sei es mir gestattet,
auf das Urtheil des Mannes zu verweisen, der neuerdings am Sorg¬
fältigsten die Geschichte Peter’s des Grossen behandelt und am
Vollständigsten die in Rede stehenden Schriftstücke als historische
Quelle zu Rathe gezogen hat. «Es ist leicht», sagt N. Ustrjalow in
der seinem Werke vorausgeschickten Besprechung der Quellen, sich
1 H, ycmpxAoes, Hcropi* napCTBOBaH» Ilerpa Bejuivaro 1858— 1859, I, Ein¬
leitung, p. 84.
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283
vorzustellen, wie werthvoll bei ihrer zeitgenössischen Frische, bei
der Sorgsamkeit und Gewissenhaftigkeit des Beobachters diese
Nachrichten sind # *.
Nachdem sich zuerst N. Ustrjalow eingehender mit der Person und
den Berichten Otto Anton Pleyer’s beschäftigt, machte Dr. M. Pos¬
selt in seinem 1866 erschienenen Werke über Franz Lefort auf ihn
aufmerksam und theilte genauere Angaben über seine Ankunft und
ersten Aufenthalt in Moskau mit. Die Nachrichten, welche E. Herr¬
mann in seiner oben erwähnten Schrift hauptsächlich nach Mitthei¬
lungen von Noordens über das Leben Otto Pleyer’s giebt, sind un¬
vollständig und grossentheils irrig; neuerdings hat dann Professor
A. Brückner in seiner Kritik der Relationen Vockerodt’s und Pleyer’s
einen kurzen Lebensabriss dieses ersten förmlich accreditirten öster¬
reichischen Diplomaten am russischen Hof geliefert 4 ».
Das von Pleyer hier entworfene Bild weiter auszuführen, will der
vorliegende Artikel versuchen, doch muss auch hier auf eine voll¬
ständig zusammenhängende Darstellung verzichtet werden, weil nur
das bereits gedruckte Material benutzt werden konnte und die
Lückenhaftigkeit desselben eine gleichmässige Behandlung des
Stoffes nicht ermöglichte.
Einleitung.
y Die officiellen Verhandlungen mit fremden Mächten waren bis
gegen das Ende der Regierung des Zaren Alexey ausschliesslich
durch ausserordentliche Gesandte geführt worden. Den ersten Ver¬
such einer ständigen Vertretung in Russland machte Schweden,
welches bereits in den Jahren 1631—1645 einen Residenten in Mos¬
kau hielt \ Erst viel später stellten sich aus anderen Ländern stän¬
dige Vertreter ein, zunächst noch ohne einen officiellen Charakter
unter dem Namen von Kommissären oder Agenten. Die rasch stei¬
gende Bedeutung, welche man dem internationalen Verkehr in
Russland beimass, war auch auf die Stellung dieser Agenten von
wesentlichem Einfluss: als Minister-Residenten oder einfach als
Residenten werden sie von ihren Regierungen förmlich accreditirt.
* ibid.
1 A. BptncHep-b, KpimwecKiji H ÖMÖ^iorpa^Bwecii* sairfeTicu (yKypxsun» Mmhh-
crepCTBÄ HapoAwaro IlpocrfemeHia 1873, p. 218) und »Zur Geschichte Peter’s des
Grossen« («Russ. Revue», Band II. 1875, P* *56).
1 C. CoJOBbem», Hcropii Poechi IX, 182 und 268.
19*
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284
1672 begegnen wir dem ersten dänischen, 1678 dem ersten nieder¬
ländischen Residenten 9 .
Doch auch diese officielle Vertretung ging weniger aus politi-
_ sehen als aus merkantilen Bedürfnissen hervor; dem politischen
Treiben, der grossen politischen Strömung, welche damals den euro¬
päischen Westen durchzog, blieb Russland nach wie vor fremd.
Eine Aenderung trat erst nach dem Tode des Zaren Feodor
Alexejewitsch ein. Weitere internationale Aussichten eröffnen sich,
gleiche Ziele und Bestrebungen vereinigen Russland mit abendlän¬
dischen Staaten und bahnen eine stetige Verbindung des Ostens mit
dem Westen an: das Jahr 1684 bezeichnet die ersten Anfänge
der russischen Allianz mit Polen und dem deutschen Kaiserreich.
Fassen wir das Verhältniss zu letzterer Macht näher ins Auge,
so lässt sich nicht verkennen, dass dieses Mal ein Bündniss mit
Russland dauernde, greifbare Interessen für Oesterreich in sich
schloss. Der fortdauernde Kampf mit dem noch nicht entnervten
Osmanenthum nöthigte den deutschen Kaiser um so mehr sich nach
weiterer Hülfe gegen diesen furchtbaren Feind umzusehen, als das
Reich gleichzeitig im Westen den schmählichsten Uebergriffen aus¬
gesetzt war. Ein Angriff im Rücken der Türkei musste der erwünsch¬
teste Ableiter der drohenden Gefahr sein, und nur von Russland
konnte Oesterreich solche Hülfe erwarten.
Mit dem politischen Interesse verband sich das religiöse. Oester¬
reich, die Vormauer gegen den herandrängenden Islam, war zu¬
gleich der Vorkämpfer des Jesuitismus. Noch lebte in jener Zeit
glühender Hass gegen den Katholicismus im russischen Volke fort;
der Zar Michael verbot, auch nur katholische Söldner zu werben,
und erst sein Nachfolger gestattete Bekennem dieses Glaubens den
Aufenthalt in Russland. Die Duldung ihrer Religion war an das
Verbot, einen Priester zu halten, geknüpft.
Russland zum Abschluss eines Offensiv-Bündnisses gegen die
Türkei zu bewegen und die freie Ausübung des katholischen Kultus
zu erwirken, war die Aufgabe, mit welcher Kaiser Leopold die
Grossgesandten Johann von Zierowskij und Sebastian von Blutnberg
im Anfang des Jahres 1684 betraute. Sollte aber ein Bündniss zu
Stande kommen, so musste allem zuvor zwischen dem treuen
Alliirten Oesterreichs, dem Königreich Polen, und Russland eine
offene Verständigung erzielt, der zwischen beiden Mächten beste-
* M. Posselt, Franz Lefort, I, 187—190.
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285
hende Waffenstillstand in einen festen Frieden umgewandelt werden.
Trotz aller darauf bezüglichen Bemühungen ist dieses den öster¬
reichischen Gesandten nicht gelungen, und damit musste, so wenig
man es im Uebrigen an freundschaftlichen Versicherungen, fehlen
liess, selbstverständlich auch der Abschluss einer russisch-öster¬
reichischen Allianz aufgegeben werden 8 . Glücklicher waren die
Gesandten in Bezug ihrer zweiten Aufgabe, indem auf ihr Ansuchen
die russische Regierung zwei katholischen Priestern den dauernden
Aufenthalt in Moskau gestattete 4 .
Wie viel Oesterreich an einem Bunde mit Russland lag, beweist
der Umstand, dass bereits am Anfänge des folgenden Jahres der
erste Stallmeister der früheren Gesandtschaft, Johann Ignatius Kurz,
als Courier nach Moskau geschickt wurde, um nochmals — freilich
wiederum vergeblich — die Vermittelung des Kaisers Polen gegen¬
über anzubieten 6 .
Nach langen Verhandlungen war endlich im April 1686 der ewige
Friede mit Polen feierlich beschworen, und damit zugleich auch die
Garantie für das Zustandekommen des seit zwei Jahren geplanten
Bündnisses gegeben. Die Anerkennung des Besitzes von Ssmo-
lensk und Kijew war der Preis, um welchen Russland jetzt zur Krieg¬
führung gegen die Türkei bestimmt wurde. Noch in demselben Jahre
ging eine russische Gesandtschaft über Warschau nach Wien, um
mit Polen und Oesterreich die gewünschte Allianz nun thatsächlich
abzuschliessen.
Damit waren die Interessen Russlands in das Netz europäischer Ver¬
wickelungen mit hineingezogen und in stetiger Wirkung und Gegen¬
wirkung verflechten sich seine Beziehungen mit dem Westen.
Aber für die Festigung des Bundes wäre als nothwendigster Kitt
vor allem Erfolg im Kriege erforderlich gewesen, und dieser blieb
aus. Die beiden russischen Unternehmungen gegen die Krim in den
Jahren 1687 und 1689 scheiterten völlig, und auch Oesterreich erlitt
nach dem glänzenden Feldzuge von 1688 auf 1689 schwere Ver¬
luste. Diese Vorgänge erweckten unter den Alliirten bald gegen¬
seitiges Missvergnügen. Russland namentlich glaubte sich, als es
von Friedensverhandlungen zwischen Oesterreich und der Pforte
hörte, zurückgesetzt, und war wohl nicht ohne Grund von der
Uneigennützigkeit der österreichischen Freundschaft nur sehr wenig
überzeugt.
* n&MjrTHHKit AHiuiOMaTHMecKHx-b cHomeHitt. VII, I—3. — 1 ibid 551. — * Ilav.
VI, 896-899.
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y
286
Es galt, das erschütterte Vertrauen auf politischem Gebiete in
Russland wiederherzustellen, es galt aber auch den inzwischen
empfindlich getroffenen Katholicismus wieder aufzurichten.
Von der russischerseits abgegebenen Erklärung, katholische
Priester in Moskau dulden zu wollen, hatte der Kaiser unverzüglich
Gebrauch gemacht, und zwei Jesuiten mit dem vorerwähnten Johann
Kurz dorthin gesandt. Durch das Geld und die Fürsprache des Habs¬
burgers unterstützt, traten sie mit ihren Bekehrungsbestrebungen
immer dreister hervor und zogen dadurch bald die allgemeine Auf¬
merksamkeit wie den allgemeinen Unwillen auf sich. Vor Allem
wurde die russische Geistlichkeit durch das Treiben der Jesuiten er¬
bittert, und sie setzt im Octoberi689 bei den Zaren in der That den
Befehl zu ihrer Ausweisung, welche freilich mit Rücksicht auf den
Kaiser in schonendster Form erfolgte, durch 6 . Keinen Augenblick
gab jedoch die katholische Gemeinde, an deren Spitze der einfluss¬
reiche General Patrick Gordon stand, die Hoffnung auf, wiederum
Priester ins Land zu'ziehen. Bereits im Januar 1690 reichen alle an¬
geseheneren Katholiken in Moskau eine Schrift mit der Bitte, katho¬
lische Geistliche berufen zu dürfen, an die Zaren ein 1 ; hülfesuchend
wenden sie sich gleichzeitig nach Wien und hier war man ent¬
schlossen, sich mit allem Ernst ihrer anzunehmen.
In der zu den angegebenen Zwecken abgeordneten Gesandtschaft
begegnen wir zum ersten Male dem Namen Otto Anton PleyeSs, und
aus diesem Grunde scheint es geboten, etwas genauer auf sie ein¬
zugehen.
Im April des Jahres 1691 traf der kaiserlich-ungarische Kammer¬
rath als österreichischer Internuntius in Moskau ein. 8 Deutlich wurde
ihm schon beim Empfang das gegen seine Regierung eingewurzelte
Misstrauen zu fühlen gegeben. Indem er die Erfolglosigkeit der kai¬
serlichen Waffen im verwichenen Jahre durch die ungünstigen äusse¬
ren Umstände entschuldigte, jeden Gedanken an einen Separatfrie¬
den aufs Entschiedenste in Abrede stellte, von den umfassendsten Rü¬
stungen zum bevorstehenden Feldzuge meldete, suchte er die Zaren
von der Freundschaft und Bundestreue seines Herrschers zu überzeu¬
gen. Aber man traute seinen Worten ebenso wenig, wie den schrift¬
lichen Verheissungen des Kaisers selbst, und behandelte den Internun¬
tius nach wie vor mit der grössten Geringschätzung. Abgesehen von
den mannigfachenFormverletzungen und persönlichen Kränkungen (so
• rian. vn., 572—S74. — 1 ibid. 946. — # ibid. 888 und 689—691.
287
sah Kurz sich genöthigt, die ihm zu seinem Unterhalt angewiesene
Summe von 70 Rbl. wöchentlich als beleidigend zurückzuweisen, da
er doch früher in geringerem Range mehr erhalten hätte 9 ) wurde er
über einen Monat hinaus gar nicht einmal zu Verhandlungen vorge¬
lassen. Man kam den ganzen Sommer über keinen Schritt vorwärts.
Da trat plötzlich ein Umschwung ein.
Am 19./8. August 1691 hatte der Markgraf von Baden in der gros¬
sen Entscheidungsschlacht auf den Ebenen von Szalankemen den
glänzendsten Sieg errungen, und durch diesen Schlag das weit über¬
legene türkische Heer fast völlig aufgelöst. Die gewisse Nachricht
von diesem überraschenden Erfolge beseitigte alle Zweifel an öster¬
reichische Doppelzüngigkeit und liess den Werth der österreichi¬
schen Freundschaft auch am russischen Hofe in ganz anderem Licht
erscheinen.
Je zurückhaltender man sich bisher gegen Kurz verhalten, um so
bereitwilliger kam man jetzt allen seinen Forderungen entgegen.
Was die vom Kaiser gewünschte Mitwirkung der russischen Zaren
am Kriege gegen die Türken anlangte, so konnte der österreichische
Gesandte freilich keine zeitlich festbestimmte Zusage erhalten; im
Uebrigen aber erklärten die Zaren, treu an der Freundschaft mit
Leopold festhalten und nach Kräften rüsten zu wollen. 10 Zugleich
Hessen sie es an den freundschaftlichsten Beweisen im Einzelnen nicht
fehlen. Vor Allem aber kam diese günstige Stimmung den Katholi¬
ken zu gut.
Kurz war, wie oben bemerkt, auch die nachdrückUche Unter¬
stützung des Katholicismus zur Aufgabe gemacht worden.
Nach der für ihn so glücklichen Wendung fiel es nicht schwer,
auch in dieser Beziehung bedeutende Zugeständnisse zu erlangen.
Anfangs zwar wollte man nur einen Priester — nur ja keinen Ordens¬
geistlichen, geschweige denn einen Jesuiten — zulassen, doch er¬
reichte Kurz, nachdem er nicht ohne Mühe die Bedenken der russi¬
schen Regierung beseitigt, dass dem Weltgeistlichen zur Unter¬
stützung ein zweiter Priester sich in Moskau aufhalten dürfte, und
dass es dem in seinem Gefolge befindlichen Dominikaner gestattet
würde, einstweilen daselbst zu bleiben. Freilich war an diese Erlaub¬
nis die Warnung geknüpft, dass, wenn auch nur ein Jesuit unter
dem Priesterrock ins Land käme, alle katholischen Geistlichen sofort
ausgewiesen werden würden.
• ibid. p. 778. — 40 ibid. 895—900.
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288
So konnte der Internuntius zufrieden auf seine diplomatischen
Erfolge zurückblicken. Reich beschenkt kehrte die Gesandtschaft
am 22. September 1691 heim u . «Die Neuigkeit,», schrieb der hol¬
ländische Resident van Keller, «von dem durch die Armeen der
Christenheit über die Türken errungenen Siege kam für diesen Ge¬
sandten zu sehr gelegener Zeit, denn sie hat nicht wenig dazu bei¬
getragen, ihm vor seiner Abreise eine günstige Antwort zu ver¬
schaffen, so dass der genannte Herr, mit Geld überhäuft und einer
glänzenden Bewirthung sich erfreuend, mit seiner Mission sehr be¬
friedigt zurückkehren konnte»'.
Unmittelbar an diese Gesandtschaft knüpft sich PleyeSs dauernder
Aufenthalt in Russland.
Pleyeris Ankunft und erster Aufenthalt in Moskau.
Ueber Otto Anton Pleyeris Herkunft und Familienbeziehungen
sind wir nur sehr dürftig unterrichtet. Früh ist wohl der Vater
gestorben, da die Mutter mit dem mehrerwähnten Joh. Ignatius Kurz
eine zweite Ehe einging. Pleyer selbst nennt sich öfter den Stiefsohn
des Hrn. Kurtius und wird auch in den russischen Berichten bei
seinem ersten Auftreten in Moskau als solcher bezeichnet. Der
kaiserlich-ungarische Kammerrath Kurz war, wie wir gesehen haben,
von seiner Regierung vielfach zu diplomatischen Diensten verwandt
worden; er hat auch seinen Stiefsohn in das diplomatische Leben,
den späteren Beruf, eingeführt. Als ein nicht ganz untergeord¬
netes Glied der letzten österreichischen Gesandtschaft begleitete
Pleyer seinen Stiefvater und brachte mit ihm ein halbes Jahr in
Russland zu.
Seinem späteren Wirken muss dieser erste Aufenthalt am zarischen
Hof ausserordentlich förderlich gewesen sein.
An der Hand seines Stiefvaters lernte er schon damals die lei¬
tenden Persönlichkeiten, die Gebräuche und Sitten, die Natur des
Landes kennen, in welchem er fünfundzwanzig Jahre fast ununter¬
brochen gelebt und gewirkt hat. Die vielen kleinen Hindernisse,
welche Kurz Anfangs zu überwinden hatte, Zwistigkeiten in Betreff
des Ceremonials, Schwierigkeiten im Verkehr, waren schon be¬
sonders geeignet, Pleyer einen tieferen Blick in die eigenthüm-
lichen Verhältnisse des Zarenhofes zu gestatten. Dann ist er wohl
44 Kurz erhält 400 Rbl. IlaM. VIL, 890 und 922.
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289
auch bei den meisten Verhandlungen persönlich zugegen ge¬
wesen, da er nächst Kurz die angesehendste Persönlichkeit in der
Gesandtschaft war n .
Die mannigfach sich berührenden Beziehungen zwischen dem
alten Kaiserstaat und der jung emporstrebenden Zarenmacht, vor
Allem jenes, schon früher hervorgehobene Doppelinteresse Oester¬
reichs in Russland — die Stellung zur Türkei und der Schutz der
Katholiken — wiesen die habsburgische Regierung darauf hin, einen
festeren, stetigeren Zusammenhang mit dem Hofe ihres grossen
östlichen Nachbars zu suchen, sie erkannte die Nothwendigkeit,
auf eine dauernde Verbindung hinarbeiten zu müssen, und in dieser
Erkenntniss konnte sie die jüngste Gesandtschaft nur bestärken.
Kurz selbst wohl dürfte ihr zugeredet haben, den Schritt zu thun
welcher hernach zur Errichtung einer ständigen Vertretung am rus¬
sischen Hofe führte.
Der Kaiser hatte, wie Adam Stille, der von der russischen Regie¬
rung erkaufte österreichische Dolmetscher, aus Wien meldete, un¬
mittelbar nach Empfang des Gesandtschaftsberichts Johann Kurz
befohlen, seinen Sohn Pleyer auf eine neue Fahrt nach Moskau vor¬
zubereiten. Dort sollte dieser sich mehrere Jahre aufhalten, um
nach gründlicher Erlernung der russischen Sprache als kaiserlicher
Dolmetscher dienen zu können i8 .
In der That verhielt es sich also und noch im Herbst des Jahres
1692 sehen wir Pleyer auf dem Wege nach dem Zarenhof.
Ueber seine Reise und Ankunft daselbst sind wir auf das Genaueste
aus russischen Akten unterrichtet.
Es dürfte hier der Ort sein, zuvor in der Kürze auf ein Moment
aufmerksam zu machen, welches mit dem Aufenthalt Pleyer’s in
Russland aufs Engste verbunden erscheint: Unmittelbar an sein
Eintreffen knüpft sich die Wiederbelebung des Katholicismus, mit
ihm dringen wiederum die Jesuiten in das Land, in Folge seiner
Abberufung in die Heimat erfolgt auch ihre Ausweisung.
Die von Kurz ausgewirkte zarische Erlaubniss, dass es zwei öster¬
reichischen Priestern nicht verwehrt sein sollte, in Moskau ihr Amt
zu versehen, hatte in der kaiserlichen Hofburg die grösste Freude
erregt. Höchst störend war jedoch die Klausel, dass unter keinen
11 In der Liste des Gesandtschaftspersonals steht Pleyer als »Aamieftepi»» obenan.
(IlaM. VII, 641); er erhält auch abgesehen von Kurz das grösste Gastgeschenk, d. h.
60 Rbl. Sein Name wird sehr verschieden geschrieben; häufig heisst er Bleyer.
f * na«, vu, 965.
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390
Umständen Jesuiten dazu bestimmt werden dürften. Die streng
jesuitische Partei, welche durch den Pater Wolf den alternden
Kaiser Leopold beherrschte, war nicht gewillt, auf das weite Mis¬
sionsgebiet zu verzichten oder es auch nur einem anderen Orden zu
überlassen. Nie um Mittel verlegen, waren auch jetzt die Jesuiten
entschlossen, trotz der zarischen Drohung zwei Glieder ihres Ordens
nach Russland zu entsenden.
Pleyer wird der Auftrag zu Theil, die verbotene Waare nach
Moskau zu geleiten und der Kaiser selbst giebt zu diesem frommen
Schmuggel seinen Namen her, indem er in seinem Brief an die
Zaren die beiden Jesuiten als Weltpriester bezeichnet, welche ge¬
mäss der früheren Vereinbarung den augenblicklich in Moskau wei¬
lenden Dominikaner ablösen würden u .
Im September 1692 machte sich Pleyer mit seinen geistlichen
Genossen auf die Reise nach der russischen Residenz.
Das damals in Russland geltende strenge Kontrolsystem verlangte
von jedem Ankömmling ein genaues Protokoll über Herkunft, Beruf,
Zweck der Reise etc. Pleyer selbst wurden, nachdem er sich durch
das Schreiben des Kaisers an die Zaren legitimirt hatte, keine wei¬
teren Hindernisse in den Weg gelegt, um so entschiedener aber
verweigerte der zarische Statthalter Golowin die Weiterbeförderung
der beiden Priester. Auf Pleyer’s Versicherung, dass die Sendung
zweier Geistlichen schon in der früheren Gesandtschaft ausdrücklich
gestattet wäre und dass er sich laut kaiserlichen Befehls von seinen
Gefährten nicht trennen dürfte, stellte Golowin ihm frei, entweder
ohne sie zu fahren, oder aber mit ihnen auf den näheren Bescheid
seiner Regierung zu warten. Natürlich wählte er das Letztere.
Die Lage war bedenklich genug, denn entlarvte man die angeb¬
lichen Weltpriester, so konnte auch Pleyer sicher sein, zurückge¬
schickt zu werden. Um die in Moskau weilenden Freunde von der
drohenden Gefahr zu benachrichtigen und sie zur Verwendung bei
Hofe anzuspornen, schickte Pleyer mit dem Courier des Statthalters
zwei Briefe nach Moskau, vor Allem an das einflussreiche Haupt der
dortigen Katholiken, den General Gordon, und wohl dessen Für¬
sprache war es zu danken, dass bereits nach zwei Wochen die zari¬
sche Erlaubniss mit dem Befehl zur unverzüglichen Weiterbeför¬
derung der ganzen Gesellschaft eintraf. Sofort brach Pleyer auf
und langte am 17. November 1692 in der Residenz an l5 . Er und
iA ibid 966. Für das Folgende cf. na*. VII, 955—958. — IS Gordon's Tagebuch,
n, 388.
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291
seine Begleitung — im Ganzen sind es acht Personen — wurden im
grossen Gesandtschaftshof, wo auf Allerhöchsten Befehl eine be¬
sondere Wohnung für sie hergerichtet war, pläcirt. Einige Tage
darauf wurde er dann vor das Gesandtschaftsministerium berufen,
um hier seine Vollmachten und Botschaften abzuliefern. Anfangs
widerstrebte er, sich in Abwesenheit der Zaren seines Auftrages
zu entledigen, (er habe Befehl, nur «vor den hocherlauchten Augen*
das Schreiben seines Herrschers zu übergeben), ging indessen den¬
noch darauf ein, weil er die Angelegenheit nicht aufhalten wollte,
zumal ihm für die nächsten Tage eine Audienz bei den Zaren ver¬
sprochen wurde 16 .
Kaiser Leopold empfiehlt in seinem Brief angelegentlichst die
beiden Priester und seinen getreuen Unterthan Otto Pleyer,
welcher, um in Zukunft die Fortführung der guten Beziehungen zwi¬
schen den beiden Höfen zu erleichtern, sich in Moskau zum Dol¬
metscher ausbilden werde, und hierauf hin erhält Pleyer die Frei¬
heit, zu gehen oder zu bleiben, wo es ihm beliebt; — hinzugefügt
ist die naive Weisung, er möge in der Vorstadt zurückgezogen leben,
«auf ungehörigen Plätzen sich nicht herumtreiben* 17 . Nicht er¬
sichtlich ist, ob ihm später die versprochene Audienz bei den Zaren
zu Theil geworden ist.
Hiermit war Pleyeris öffentliche Rolle ausgespielt. War er bis
dahin gewissermassen als Vertreter seines Kaisers angesehen und
auch vollständig danach behandelt worden, ja hatte er sogar den
Anspruch auf eine persönliche Audienz bei den Zaren erheben
können, so trat er jetzt, nachdem er sich seiner Beglaubigungs¬
schreiben entledigt hatte, völlig vom öffentlichen Schauplatz ab.
# Für die russische Regierung war er officiell nur ein gewöhnlicher
Privatmann.
Dank seinem früheren Aufenthalt, Dank den Beziehungen seines
Stiefvaters Kurz und denen seiner Regierung wurde es Pleyer
wesentlich erleichtert, sich in den neuen Verhältnissen zurecht
zu finden.
Oesterreich hatte bereits damals am russischen Hofe ergebene
Anhänger in sämmtlichen dort wohnenden Katholiken. In dem römi¬
schen Kaiser verehrten diese den Schutz- und Schirmherrn ihres
Glaubens, an ihn direkt wandten sie sich mit ihrem allerunterthänig-
sten Dank, sie beteten für den glücklichen Fortgang der kaiserlichen
,# IlaM. VII, 970-972. — 17 ibid 971.
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292
Waffen, sie traten auch fiir die Verfechtung der politischen Inter¬
essen Oesterreichs ein. «Wier zweifeln nicht», schrieb im December
1692 der Schotte Gordon an seinen Freund Kurz, «dass Ew. Hoch¬
wohlgeboren uns die fernere Gnade Sr. Römisch-kaiserlichen Ma¬
jestät verschaffen werden, wodurch die Ehre Gottes, die Ehre und
Ausbreitung der katholischen Religion und das Seelenheil der Katho¬
liken befördert wird, welches alles durch die Gnade Sr. Römisch-
Kaiserl. Majestät hier gegründet und befestigt wird» ,8 ; 1694
spricht derselbe von den «feindlichen Anfällen, die wir bisher durch
göttlichen Beistand und die Klugheit unseres durchlauchtigsten Mo¬
narchen glücklich und muthig entfernt und vereitelt haben» 19 . Der
15. November, der Namenstag des Kaisers, wird alljährlich in der
deutschen Sloboda feierlich begangen, seit dem Jahre 1691 findet
an diesem Tage regelmässig Gottesdienst statt, man trinkt auf des
römischen Kaisers Gesundheit 20 . Höchst charakteristisch ist es,
dass Gordon bei seiner Firmelung den Namen des Kaisers — Leo¬
pold annimmt, während sein Sohn Theodor — nach dem römischen
König — den Namen Joseph erhält 2I .
Der erfolgreichste Vermittler zwischen dieser fernen, österreichisch
gesinnten Genossenschaft und dem Kaiserhof war Pleyer’s Stief¬
vater, Johann Ignatius Kurz, Erbherr auf Dernberg 28 , gewesen.
Mit den hervorragendsten Katholiken in Moskau war er in nahe per¬
sönliche Beziehungen getreten. So namentlich eben mit Gordon.
Häufig hat er in dessen Hause verkehrt, er war der Gevatter von
Gordon’s Sohn Peter 28 und mit Vergnügen erinnerte sich später der
General seines «gefälligen und Jedermann höchst angenehmen Um¬
gangs». Nach der Trennung wurde zwischen Beiden eine eifrige
Korrespondenz unterhalten, die politischen und besonders die reli¬
giösen Fragen werden hier besprochen, schätzenswerthe Mitthei¬
lungen über private Verhältnisse, die für uns von besonderem Inter¬
esse sind, weil hier häufig auch Pleyer’s gedacht wird, werden aus¬
getauscht 24 . Auch mit anderen Persönlichkeiten, wie mit dem pol¬
nischen Residenten Downant und dem Generalmajor Menezes, dessen
Sohn er 1691 zur Erziehung nach Deutschland mitnahm, war Kurz
befreundet. Mit Gordon sahen auch die übrigen Katholiken'in ihm
den wärmsten Förderer ihrer Wünsche an der kaiserlichen Hofburg.
18 Gordon III, 328. — 48 ibid. 352. — 80 ibid. m, 80. — 81 ibid. 203. — 88 ibid.
III. 346. — 88 ibid. 306. — 84 5 Briefe Gordon’s an Kurz aus den Jahren 1692 — 1694
sind in den Beilagen zu seinem Tagebuche gedruckt.
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293
Es war natürlich, dass auch Pleyer sich dieser österreichisch-katholi¬
schen Partei anschloss, dass er bei ihr Rath und Unterstützung
suchte und fand. Besonders scheint sich Gordon, der ihn unmit¬
telbar nach seiner Ankunft besuchte und ihm nach seiner Entlassung
aus dem Gesandtschaftshof auch eine Wohnung besorgte, seiner ange¬
nommen zu haben. «Ich werde», schrieb Gordon am 13. December
1692 in Betreff Pleyer’s dessen Stiefvater, «ihm nicht ermangeln
auf alle Art, so viel ich nur kann, zu dienen».
Pleyer, der einstweilen von dem polnischen Residenten Georg
Downant aufgenommen war, dachte ernstlich daran, hier seinen
dauernden Aufenthalt zu nehmen, und gab es erst auf Gordon’s drin¬
gendes Abrathen auf 25 . Möglicherweise hat er sich schon jetzt bei
dem Generalmajor Menezes, dem nächst Gordon angesehensten Ka¬
tholiken, eingemiethet; jedenfalls aber hat er — von wann an, muss
dahingestellt bleiben — bis zum December 1694 dort gewohnt 26 .
Das Haus, schreibt Gordon im December 1692 an Kurz, sei zwar
theuer, aber sein Stiefsohn habe dort Gelegenheit, «die Sprache und
Sitten dieser Nation besser zu lernen als an irgendeinem anderen
Ort». Und darauf vor allem Anderen musste es Pleyer ankommen.
Still und zurückgezogen lebt er seinen Wissenschaften, die Erlernung
der slavonischen und russischen Sprache bildet selbstverständlich
seine wichtigste Aufgabe, «er arbeitet beständig und kommt immer
weiter 27 .
Obgleich Pleyer sich eng seinen Glaubensgenossen anschloss, so
war er doch nicht gewillt, in allen Dingen ihrer Meinung beizupflich¬
ten, am wenigstens, sich von den Jesuiten beherrschen zu lassen.
Noch war seit seiner Ankunft kein volles Jahr verflossen und schon
sehen wir ihn in einem heftigen Zwist mit den katholischen Priestern
und dem polnischen Residenten 27 . Was der Grund zu dem erbit¬
terten Streit, den Gordon vergeblich beizulegen suchte, war, erfah¬
ren wir nicht, nur soviel erhellt, dass er von beiden Parteien mit gros¬
ser Leidenschaftlichkeit geführt wurde. Eine der jesuitischen An¬
schuldigungen scheint Pleyer’s Umgang betroffen zu haben, doch sah
auch Gordon, der sich übrigens für keine der streitenden Parteien
offen entschied, hierin nichts Tadelnswürdiges. Um so bestimmter
scheint sich Kurz auf die Seite seines Stiefsohnes gestellt zu haben,
wenigstens erachtete es Gordon für nöthig, ihm gegenüber sein Be¬
dauern darüber auszusprechen, dass die Priester ihn durch den Streit
** Gord., HI, 326. — 16 ibid. 354—355. — 17 ibid. 346.
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294
mit Pleyer beleidigt hätten 28 . Für uns hat diese ganze Angelegen¬
heit nur als ein erwünschter Beitrag zur Charakteristik Pleyer’s Bedeu¬
tung: mitten in jenen neuen Verhältnissen wahrt er mannhaft seine
Selbstständigkeit gegen einflussreiche, vielvermögende Anfeinder.
Fragen wir nun, welche Stellung nimmt Pleyer ein, was soll er
eigentlich in der zarischen Residenz, so läge die Vermuthung nahe,
dass seine wirkliche Aufgabe nicht in der von ihm sowohl wie von
seinem Kaiser angegebenen Ausbildung zum Dolmetscher zu suchen
sei, dass er diese Bestimmung nur als Deckmantel für weitere Ziele
und Bestrebungen benutzt habe.
In Folge der engen Verbindung Pleyer’s mit dem Jesuitismus hält
Posselt es für nicht unwahrscheinlich, «dass er zum «Jesuiten-Orden
gehörte und sein Aufenthalt zu Moskau einen anderen, als den ange¬
gebenen Zweck hatte» 29 , doch weisst kein Umstand, keine Notiz in
Pleyer's späteren Berichten darauf hin, dass er sich zum Jesuiten-Or-
den gezählt hätte, während gerade die eben erwähnte Differenz mit
den Paters zeigt, wie wenig er innerlich mit denselben überein¬
stimmte.
Entschieden zu verwerfen ist die Mittheilung von Noordens, Pleyer
sei «als angesehener Geschäftsmann» in Moskau ansässig gewesen 30 .
Er befand sich förmlich in österreichischem Staatsdienst, der öster¬
reichischen Regierung allein gehörte seine Arbeit, von ihr allein
empfing er auch die zu seinem Unterhalt jiothwendigen Mittel.
Die ihm zuertheilte Aufgabe bestand Anfangs in nichts Anderem,
als ausschliesslich in der Erlernung der russischen und slavonischen
Sprache, in der Vorbereitung zum Dolmetscher. Dafür spricht unter
Anderem auch der Umstand, dass zunächst ein, wenn auch längerer
so doch nur zeitweiliger Aufenthalt Pleyer’s in Moskau in Aussicht
genommen war, dass man, wie es scheint, schon im Sommer 1694
an seine Rückberufung gedacht hat 31 . Dann aber traten Verhält¬
nisse ein, die das fernere Verbleiben Pleyer’s am russischen Hofe
wünschenswerth machten, die zur wesentlichen Aenderung seiner
Stellung führten.
M ibid. 352. — ,# Franz Lefort, 228, Anmerk. — 90 E. Herrmann a. a. O., Vor¬
wort VII. Am 21. Dec. 1694 bittet er, «dass ihm sein Jahrgeld vermehrt werde, weil
er von dem bisherigen nicht anständig leben und mit den Wissenschaften sich ruhig be¬
schäftigen kann» (Gord HI, 355). Diese und ähnliche Bemerkungen schliessen doch
wohl die Annahme, Pleyer sei je Geschäftsmann gewesen, aus. — 11 ibid. 353.
Ä
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Pleyer als geheimer tfsterreichischer Agent.
Der Internuntius Kurz war mit dem Versprechen baldigen aktiven
Eingreifens gegen die Türken aus Moskau entlassen und noch immer
war dieses Versprechen unerfüllt geblieben. Der vorwärtsstrebende
junge Zar Peter wünschte energischen Krieg, hatte aber bisher davon
abstehen müssen, theils wegen der Untauglichkeit des russischen
Heeres, theils, weil die streng nationale, altrussische Partei diesen
seinen Absichten aus allen Kräften entgegen arbeitete. Erst im Laufe
des Jahres 1694 gewannen die Kriegspläne festere Gestalt und noch
im December desselben Jahres konnte Gordon seinem Freunde in
Wien die zuversichtliche Hoffnung mittheilen, dass im kommenden
Sommer nun auch russischerseits etwas zum Besten der Christenheit
unternommen werden würde* 2 . — Es musste der österreichischen
Regierung daran liegen, durch regelmässige Berichte über den Ernst
und die Tragweite der russischen Rüstungen und — wenn es zur
Aktion käm£ — über den Verlauf derselben orientirt zu werden.
Als Pleyer im Jahre 1694 um Verlängerung seines Aufenthaltes
und Vermehrung seines Gehalts nachsuchte, beschloss man in Wien,
«ihn in Moskau subsistiren zu lassen und der Moskowitischen Armee
zu folgen, um Alles zu berichten, was sowohl bei der Armee als
sonsten in Moskau fürgeht» 3S . Hierin lag fortan seine eigentliche
Aufgabe, über die wir um so weniger im Zweifel bleiben, als er
selbst sich wiederholt klar und deutlich darüber äussert. So z. B.
reiste er im Jahre 1694 mit Peter nach Archangel, «umb bcti 3 a rifc{|en
*off afljeit in geljeimb et©a§ ju consideriren" 84 und will auch ferner
„gatij genau observiren, ©a§ fiefc no<$ ©eiter ereignen ©irb uttb baboit in
aflet eljl 3 UIeruntert^önig(l benad&rid&tigen" 35 .
Aus dem Angeführten ist ersichtlich, dass Pleyer in keiner formel¬
len Beziehung zum russischen Hofe stand, sondern von seiner Re¬
gierung nur als geheimer Agent benutzt wurde. Vorherrschend sollte
er — wie aus seinen Berichten hervorgeht — den militärischen Ope¬
rationen, den inneren und äusseren politischen Verhältnissen seine
Aufmerksamkeit zu wenden. Trotz dieses äusserlich rein privaten
Charakters ist er aber von der russischen Regierung vermuthlich doch
immer als eine halbofficielfe Persönlichkeit angesehen worden —
wenigstens erscheint es überaus schwierig, seine stetige, nahe Ver¬
bindung mit den höchsten Kreisen anders zu erklären.
M Gordon 1 II, 355. — M Posselt H, 228. — ai yerp. II, 568. — M ibid. 582,
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296
Der Zar Peter erlaubte ihm «ad latus» zu sein 88 , und wir sehen
ihn daher bei allen grösseren Unternehmungen persönlich gegen¬
wärtig. Nicht wenig mag ihm auch nach dieser Seite hin die Für¬
sprache Gordon’s, Menezes und anderer angesehener Katholiken
förderlich gewesen sein, und dann mochte seine ganze Vergan¬
genheit, die Art, wie er mit dem Hofe von Moskau in Berührung
gekommen war, dabei mitspielen: bereits im Jahre 1691 erschien
er als kein ganz untergeordnetes Glied einer österreichischen Ge¬
sandtschaft, wurde dann, ofFiciell beglaubigt, als Träger kaiser¬
licher Briefe an die Zaren geschickt und als zukünftiger öster¬
reichisch-russischer Diplomat der russischen Regierung gewisser-
massen vorgestellt. Bei den freundschaftlichen Beziehungen der
beiden Mächte lässt es sich in der That wohl verstehen, dass er hier
eben anders als ein gewöhnlicher Privatmann angesehen worden ist.
Dieser Umstand ist von wesentlicher Bedeutung für den Werth
seiner Berichte, er setzte ihn in die Lage, zunächst aus der eigenen
Beobachtung über viele wichtige Unternehmungen genaue, reichhal¬
tige Nachrichten zu schöpfen.
Ueber die erste Zeit seines Aufenthalts in Moskau als österreichi¬
scher Agent, wie wir ihn^wohl nennen dürfen, können wir nur wenig
entnehmen, da er aus Furcht vor Entdeckung seiner geheimen Kor¬
respondenz seine Berichte bis zum Jahre 1697 an seinen Stiefvater
Kurzadressirte 37 und diese, wie es scheint, leider verloren gegangen
sind. Seine erste gedruckt vorliegende Relation ist vom 4. Januar
1696 datirt und enthält die sehr ausführliche Beschreibung des ersten
Asow’schen Feldzuges 38 ; er selbst spricht später von diesem Schrift¬
stück als von seinem «compendiosen Diarium», welches er durch
einen nach Hamburg reisenden Kaufmann dem Kaiser überschickt
habe.
Um den Hof im Auge zu behalten, war er im Sommer 1694 mit
dem Zaren nach Archangel gereist und ist dort auch auf der See mit
ihm umhergesegelt. Auch den koshuchow’.«?chen Manövern, von
denen es meint, dass sie, „obgleich bic SRuffen e§ wenig bermerfeten, bie
33orboten ber jefc gef dienen unb fünfftigen gelbjügen" wären, hat er im
Herbst desselben Jahres beigewohnt.
Vor Asow ist Pleyer während der ganzen Dauer der Belagerung,
d. h. vom Juli bis zum October 1695, zugegen gewesen und hat nun
hier alle wichtigeren militärischen Ereignisse Tag für Tag in seinem
Diarium aufgezeichnet.
*• Posselt II, 226. — iT ycTp. III, 632. — 88 ibid. II, 568—582.
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597
Nachdem Peter den General Gordon bereits im März 1^95 nach
Tambow vorausgeschickt hatte, machte er selbst sich mit einem
Theile des Heeres im April auf den Weg, fuhr zu Schiff bis Zarizyn
und marschirte von dort mit den unter dem Oberbefehle der Gene¬
rale Lefort und Golowin vereinigten Truppen nach Panschin am
Don. Erst bei Tscherkask vereinigte sich diese grosse Armee mit
der dritten, von Gordon befehligten. Pley er hat, wie aus mehr¬
fachen gelegentlichen Bemerkungen hervorgeht, den Weg bis
Tscherkask mit dem Zaren zurückgelegt l9 . Besonders anschaulich
schildert er den mühseligen Marsch von Zarizyn bis Panschin. Von
Tscherkask an aber tritt der General Gordon mit seiner Division in
dem Diarium ganz in den Vordergrund, Pleyer hat sich seit dieser
Zeit unzweifelhaft an Gordon’s Seite befunden 40 . Letzteres ist von
Interesse in Ansehung des Werthes der Pleyer’schen Aufzeichnung
für die Geschichte des Asow’schen Feldzuges, dieses ersten kriege¬
rischen Unternehmens des jungen Zaren.
Pleyer hat wesentlich aus denselben Gesichtspunkten, mit der¬
selben Parteifärbung geschrieben wie Patrick Gordon, dessen Tage¬
buch bekanntlich die Hauptquelle für dieses Ereigniss bildet, und
wenngleich Ersterer sich weit weniger einseitig zeigt als Letzterer,
auch Mittheilungen über die anderen Heerkörper, den Zaren u. s. w.
macht, so bildet sein Diarium doch nur eine — freilich nicht werth¬
lose — Ergänzung des Gordon’schen Tagebuches 4l . Nächst der
eigenen Anschauung verdankt er wohl seine Kenntnisse zumeist
eben diesem seinem militärischen Gönner, was einerseits die Zuver¬
lässigkeit seines Berichts erhöht, andererseits aber den Werth dessel¬
ben wegen der Uebereinstimmung mit dem Tagebuch des Generals
herabdrückt; eine Beurtheilung des Feldzuges von anderen Gesichts-
99 S. z. B. p. 569. Peter, berichtet Pleyer, sei bis Zarizyn gefahren, „aflwo mir bit
gbrige oon allen flattern nerföictte Vtannföaft gefunben* etc.
40 Dieses erhellt aus mehrfachen Bemerkungen, so z. B. „ben 6**“ JJuli fatlt an bie
pbrige unter fcerrn (Beneralleforte unb art^emon TOtjajlomfr fte&enbe armee" (p.
572\ am 5. August „fölageten (die Feinde) bie unfrtgen (d. h. die Soldaten Gor-
don’s) mit grof&en Serluft wiber fturttcftb nach biefen bie anbern generale wiberumb
anfangeten ju ftürmen* (p. 576) etc.
41 lieber Lefort urtheilt PI. ungünstig; nach Posselt (II, 237) hat Ersterer vor der
Campagne an ihn geschrieben. A. Theiner hat in seinen «Monuments historiques etc.»
p. 358 den Auszug aus einem Briefe Lefort’s »scritta al signor Beyer» herausgegeben.
Zu -Beyer» fügt nun Posselt in Klammern hinzu: «unstreitig Pleyer». Dieser kann
jedoch unmöglich gemeint sein. Der Brief ist ausserdem der Nunciatura di Polonia
entnommen und Theiner spricht in der Inhaltsangabe von dem •general Beyer».
Rum. Revue. Bd. TU.
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298
punkten aus wird um so mehr vermisst, als wir diesen beiden
Quellen keine dritte entgegenzusetzen haben. Die Absendung der
Relation verzögerte sich, weil Pleyer durch eine lebensgefährliche
Krankheit einen Monat lang in Tscherkask zurückgehalten wurde.
. Als Peter im folgenden Jahre abermals vor Asow zog, folgte Pleyer
wiederum dem Heere, ohne dass wir von den geringsten Schwierig¬
keiten hören, die ihm in den Weg gelegt worden wären, und blieb
daselbst bis zur glücklichen Eroberung der Festung 42 . Die Nach¬
richt von dem Fall Asow’s erhielt durch ihn die österreichiche Re¬
gierung früher, als selbst der in Wien befindliche russische Gesandte
Nefimonow, welchem der Kommissär Hase am 9. September 1696
zu dessen nicht geringem Erstaunen mittheiltf, dass von Pleyer
ein genauer Bericht über die Einnahme Asow's eingelaufen wäre 4S .
Inzwischen hatten sich nämlich wieder intimere Beziehungen
zwischen den beiden Höfen angesponnen. Der feste Entschluss zu
nachhaltiger Kriegsführung bestimmte einerseits den Zaren, sich
von Neuem der österreichischen Bundeshülfe zu versichern, und trieb
andererseits auch Oesterreich, dessen Waffen in den Jahren 1695
und 1696 keineswegs glücklich gewesen waren, zum näheren An¬
schluss an seinen Bundesgenossen. Für den Zaren kam es ausser¬
dem noch besonders darauf an, dass er zu den weiteren militärischen
Operationen hinreichend mit tüchtigen Ingenieuren, deren Mangel
im verflossenen Feldzug ausserordentlich empfindlich hervor ge¬
treten war, versehen wäre, und diesen Freundschaftsdienst erwartete
er von Kaiser Leopold.
Im December 1695 wurde daher der Sekretär Nefimonow nach
Wien gesandt, um — wie die geheime Instruktion vorschrieb — den
österreichischen Hof zu europäischer Kriegführung anzutreiben und
die Bundesverträge auf der alten Basis, doch auf möglichst kurze
Zeit, zu erneuern 44 . Zwar wurde der Wunsch des Zaren in Betreff
der Ingenieure, welche am 9. Juli 1696—wenige Tage vor dem
Fall der Festung — in Asow eintrafen 45 , bald erfüllt, doch zogen
sich Anfangs die Verhandlungen langsam hin und scheinen erst
rascheren Fortgang genommen zu haben, als durch Pleyer die Nach¬
richt von der Eroberung Asow's eingelaufen war. Mit der ge¬
wünschten Erneuerung des Bundesvertrages auf drei Jahre kehrte
Nefimonow im April 1697 heim 4 \
41 ycrp in, 632.
45 Gordon, m, 51.
43 rian. vin, 256—257. — 44 itam. vn, 1008 1009. —
44 riaM. vn, 1279.
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Aehalich wie im Jahre 1691 die russische Regierung durch die
Kunde vom Siege bei Szalankemen zum freundschaftlichsten Entge¬
genkommen gegenüber der österreichischen bewogen wurde, so hatte
jetzt der Erfolg der russischen Waffen den Wiener Hof dem Mos-
kau’schen genähert. Der unzweideutigste Ausdruck für das lebhafte
Streben nach einer intimeren Verbindung mit dem Eroberer von
Asow liegt unstreitig darin, dass gerade jetzt in dem österreichischen
Hofkreise die Errichtung einer ständigen Residentschaft in Moskau
ins Auge gefasst und ernstlich in Betracht gezogen worden ist. —
Im December 1696 wurde Nefimonow mitgetheilt, dass der Kaiser
gesonnen sei, nach Abschluss des Bündnisses gemäss der Sitte aller
christlichen verbündeten Herrscher einen Residenten nach Moskau zu
schicken, damit dieser sich während der ganzen Dauer der Allianz
daselbst aufhalte. Auch die Person filr diesen neuen Posten war be¬
reits damals ausersehen, es war, nach der Mittheilung des russischen
Gesandten, Christoph Ignatius von Guarient, der Sekretair der frühe¬
ren Zierowskischen Gesandtschaft. 47 .
Guarient traf im April des Jahres 1698 in Moskau ein, um in der
That in Russland zu bleiben , den russischen Heeren zu folgen und
überhaupt das Interesse seiner Regierung beim verbündeten Hof
während der Dauerndes Krieges zu wahren 48 . Seine Bestimmung aber
wurde schon dadurch hinfällig, dass der Zar Peter, welcher sich zur
Zeit der Ankunft der österreichischen Gesandtschaft noch im Auslande
befand, für das laufende Jahr gar keinen Feldzug gegen die Türkei
beabsichtigte, dass es sonach gar keine Heere gab, denen er hätte
folgen können.
Als Guarient dem zarischen Winke, sich reisefertig zu machen,
nicht Folge leistete, weil sein Kaiser ihm einen dauernden Aufenthalt
geboten hätte, wurde ihm im September nochmals mitgetheilt, dass
alle Angelegenheiten bereits vollständig erledigt seien, dass sein ferne¬
rer Verbleib ganz nutzlos wäre und dass er sich daher zur Abreise
rüsten möge. Deutlich genug war damit ausgesprochen, dass man
russischerseits von einer österreichischen Residentschaft noch nichts
wissen wollte, und trotz seines Widerstrebens musste Guarient sich
jetzt zur Heimkehr entschlossen. Der erste Versuch einer ständigen
Vertretung Oesterreichs in Russland war völlig gescheitert 48 .
4T ibid. 1256—1257. — ibid. 480. — 4# Bemerkenswerth ist, dass Daisa, der
päpstliche Nuntius in Polen, Guarient (unter dem «residente Cesareo» kann kaum ein
Anderer gemeint sein) bereits als «kaiserlichen Residenten in Moskau» bezeichnet (A.
Theiner a. a. O. p. 380).
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3oo
Pleyer ist, wie wir sehen, bei diesem ersten Versuch gar nicht be¬
rücksichtigt worden. Dass er bei der Besetzung der Residentschaft
vorläufig ganz übergangen wurde, dürfte weniger daraus zu erklären
sein, dass man in Wien mit seinen Berichten unzufrieden war, als
vielmehr daraus, dass er überhaupt noch als politisch zu unerfahren
für einen solchen Posten gelten musste. Verschiedene Umstände
deuten darauf hin, dass er sehr jung nach Russland gekommen ist,
und in der That wäre es auffallend gewesen, wenn die österreichische
Regierung ihn schon damals (December 1696) zu ihrem Vertreter
am Zarenhofe berufen hätte, ihn, der noch gar keinen officiellen
Posten bekleidet, der vor erst vier Jahren den Auftrag erhalten hatte,
sich zum Dolmetscher auszubilden, der jetzt nur als geheimer Agent
fungirte. Wie gering sein Ansehen selbst im Jahre 1698 doch noch
war, erhellt aus der unbedeutenden Rolle, die er bei der Gesandt¬
schaft Guarient’s spielt. Zwar verhandelte er mit den russischen Be¬
amten wegen des Logis und Unterhalts 60 , aber bei der feierlichen
Audienz wird seiner gar nicht gedacht, die Credentialien lässt sich
Guarient nicht von ihm, dem Dolmetscher von Beruf, sondern von
seinem Sekretair und dem Pater Franz Löffler vortragen 61 .
Erst ganz allmählich scheint sich Pleyer aus der Aufgabe des Kor¬
respondenten in die des Agenten hineinzuarbeiten; nach der Gua-
rient’schen Sendung tritt er zunächst ganz in den Hintergrund, bis
die erhöhte Bedeutnng der allgemeinen politischen Lage auch die
Bedeutung seiner Stellung und Person emporhebt und ihn zum wirk¬
lichen Diplomaten heranreift.
Schon durch das abwehrende Verhalten der russischen Regierung
gegenüber der österreichischerseits geplanten Residentschaft locker¬
ten sich die freundschaftlichen Bande zwischen den beiden Reichen
und wurden durch den Carlowitzer Frieden (1699) ganz gelöst.
Oesterreich benutzte sein durch den glänzenden Sieg bei Zenta er¬
rungenes Uebergewicht, um für sich die günstigsten Bedingungen
zu erwirken, ohne auch nur im Mindesten für die Interessen seiner
Alliirten ernstlich einzutreten. Jede der verbündeten Mächte ver¬
handelte mit der Pforte abgesondert, der Zar Peter musste sich mit
einem zweijährigen Waffenstillstand auf Grund des Status quo be¬
gnügen. Die österreichische Freundschaft hatte die Probe schlecht
genug bestanden.
Da trat das Ereigniss ein, welches die Blicke ganz Europa’s zu
gespannter Aufmerksamkeit auf den Norden lenkte, welches die völ-
50 riaM. ix, 709. — “ ycrp. m, 624.
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lige Umgestaltung der europäischen Verhältnisse, die dauernde Er¬
hebung Russlands zur Grossmacht herbeiführte — der Ausbruch des
nordischen Krieges. Von nun ab trat Russland immer mehr ins po¬
litische Getriebe, in Moskau wurde ein stetiger, lebendiger Gedanken¬
austausch mit den fremden Mächten unterhalten, nach allen Seiten
entfaltete sich hier die grösste Rührigkeit auf diplomatischem Gebiete.
Es ist nicht zu verkennen, dass diese Vorgänge auch auf die Stel¬
lung Otto Pleyeris, des officiell anonymen, in der That aber längst
durchschauten österreichischen Agenten von bedeutendem Einfluss
waren. Er selbst fühlt die Bedeutung seiner Lage, sucht seine Be¬
ziehungen zu erweitern, besonders am Hofe die Fäden seiner Ver¬
bindungen fortzuspinnen; in guten Bekannten und angesehenen
Freunden findet er sichere Quellen für seine Angaben, immer häufi¬
ger gewahren wir in seinen Schriftstücken Berufungen auf fremde
Mittheilung. So citirt er in Betreff der Zusammenkunft Peteris mit
August dem Starken vor Riga im Jahre 1701 einen Vertrauten «so
selbst mitgewesen» 5a , 1702 einen seiner guten Bekannten, welcher,
vom Zaren nach Holland geschickt, seinen Brief zur Weiterbeförde¬
rung mitnahm 58 , ebendaselbst einen Anderen, der über geheime
Verhandlungen mit dem polnischen Fürsten Massalskij und über
Empörungsgelüste im Süden des Reiches gewisse Nachricht hat, im
Februar 1703 schliesst er seiner Relation sogar „eine Copiam Bel) Don
bem ©jörfföen Brief, fo Don $ier an bie respublic Don Sßoljlen $ent aBge*
föicft toitb, toelge i<$ Don einem bertrauten gfreunbe in rufftfö Befommen unb
jelbige Don toort ju toort in8teutf<$ bBerfefcet $üBe" 54 . Ueber die Um¬
triebe Peter Linksweileris, des Dolmetschers beim russischen Ge¬
sandten in Wien, erhält er im Februar 1702 Aufklärung vom jungen
Grafen Scheremetjew 88 , und schon seit dem Jahre 1701 behauptet er,
mit dem Premierminister Golowin in guter Bekanntschaft zu stehen 58 .
Wir sehen, Pleyer hatte bereits bedeutende Verbindungen in Mos¬
kau. Freilich war er seines bisherigen wärmsten Fürsprechers, des
Generals Patrick Gordon, der zum Leidwesen aller Katholiken im
Herbst des Jahres 1699 gestorben war, beraubt. Schon aber konnte
Pleyer dieses Berathers entbehren, bald sehen wir ihn heimisch in
seinem Beruf, sicher in seiner Haltung, zum Theil schon jetzt in der
Rolle des Vermittlers zwischen den beiden grossen Ostmächten.
Dieses zeigt sich sowohl in seinen Beziehungen zu Privatpersonen
wie zu den Botschaftern auswärtiger Mächte.
ycrp. IV, 2 p. 555. - “ ibid 595. — M ibid. 605. - M ibid. 570. —
*• ibid. 560.
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302
Der Obrist Kragge, welcher aus österreichischem Dienst in russi¬
schen übergetreten war und vergeblich um die Erlaubniss zur Rück¬
kehr nachgesucht hatte, wendet sich (Dec. 1699) an Pleyer mit der
Bitte, er möge seinen «betrübten Zustand» dem Kaiser darlegen und
von ihm seine Befreiung auswirken, sieht ihn also gewissermassen
als Mittelsperson zwischen sich und seinem Kaiser an 57 . Ein ande¬
res bemerkenswerthes Beispiel bietet uns das Hülfegesuch eines un¬
glücklichen österreichischen Hafners, der aus Livland 1702 nach
Moskau geschleppt war und hier, obgleich er nach seiner Behaup¬
tung nie Waffen geführt hatte, in harter Gefangenschaft gehalten
wurde. Auf seine Klage begiebt Pleyer sich zum Feldmarschall
Scheremetjew, um von ihm die Befreiung des Oesterreichers zu er¬
langen: „et rnÖdjte bodj", sucht er ihn zu überreden, „biefen.menfdjen
aufs biefer mifetablen gefangenfdjaft, barinnen er faß $unger3 berge^en muß,
entlaßen", zumal er nicht in den Waffen angetroffen und „&abfetli<$et,
alfo eines freunbS Untertan fe$e". Pleyer’s Bemühungen sind erfolglos
„unb", fügt er nicht ohne Ingrimm hinzu, „lüftet re<$t beb tenen Muffen
ex inferno nulla redemptio" 58 . Dieser Vorfall zeigt, dass man Pleyer
als geeignetsten Vertreter österreichischer Unterthanen in Moskau
ansah, dass aber auch er selbst sich schon als solcher fühlte, indem
er sich direkt mit dem Chef der livländisch-russischen Armee in Re¬
lation setzte.
Mit einigen Vertretern fremder Mächte hat Pleyer, noch bevor er
eine amtliche Stellung einnahm, auf recht vertrautem Fuss gestanden.
So erzählt ihm der Sekretär des sächsischen Gesandten von dem
Kampfe beim Uebergang der schwedischen Armee über die Düna 59 ,
der dänische Gesandte schüttet ihm in bitteren Klagen über die ihm
am russischen Hofe widerfahrende Nichtachtung sein Herz aus 60
(1701), besonders charakteristisch aber ist das von ihm dargelegte
Verhältniss zu dem königlich-sächsischen Residenten, dem Grafen
Königseck. Pleyer berichtet am 10. Mai 1703 von dessen Tode mit
einem kurzen, flir jenen nicht gerade ehrenvollen Nachruf, in wel¬
chem er dem Grafen besonders Doppelzüngigkeit und Falschheit,
unter der auch er zu leiden gehabt habe, zur Last legt: „bann na$*
bem et", schreibt Pleyer, „mi<$ bot&ero bet bertrauli<$en (Korrespondenz
}toif$en ißra unb ba* (des) $etm ©rafen Don ©ttattmann in SBatfdjau,
au$ bet unberfälfc&ten gueten 3nteHlgettj mit mit in 2tnfel>en
bet $o<$en Allianz jmif($en 6tut. f. unb f. Blatt. unb feinen
ftbnig berfi<$ert, beffen beg ben $o$e8 intresse, et eine* g(ei$ be«
47 V crp, III, 645. — M ycrp. IV, 2 p. 603. - M ibid. 566. - 60 ibid. 567.
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303
onbent gmau mit observiren toolle, Bat er mir-meine Brief BeftenS ju
BefleOen offeriret" 01 . Nach Pleyer hat also der Graf Königseck, der
officielle Vertreter der polnisch-sächsischen Regierung, zu ihm sich
freundschaftlich gestellt, weil damals Sachsen und Oesterreich freund¬
schaftlich standen, d. h. er sieht in sich den Repräsentanten Sach¬
sens, in Pleyer gewissermassen den Oesterreichs.
Vor Allem hat die russische Regierung selbst dem geheimen
Beobachter eine Stellung eingeräumt, welche über die einer gewöhn¬
lichen Privatperson entschieden hinausging. So hat Pleyer im Au¬
gust 1700 der Abschiedsaudienz, die Peter dem dänischen Gesandten
bewilligte, persönlich beigewohnt, ist somit zu einer Feierlichkeit von
ganz officieller Bedeutung zugelassen worden — eine Bevorzugung,
die uns um so mehr überraschen muss, als der Zar hier in seiner
Gegenwart Dinge zur Sprache bringt, welche auch sonst für mass¬
gebende Kreise geheim blieben 0S .
Dann aber hat der Premierminister Golowin Pleyer direkt als Ver¬
mittler zwischen der russischen und österreichischen Regierung be¬
nutzt, noch bevor er einen amtlichen Charakter erhalten hatte. Es
geschah in einer Angelegenheit, welche, wie es scheint, in Moskau
bedeutendes Aufsehen erregte.
Korb, der Sekretär des Gesandten von Guarient, hatte nach seiner
Rückkehr aus Russland das bekannte «Diarium itineris in Mosco-
viam*, die Beschreibung seines Aufenthaltes daselbst, in Wien mit
kaiserlicher Erlaubniss 08 drucken lassen. Diese Schrift, welche die
russischen Zustände und die leitenden Persönlichkeiten nicht gerade
im vortheilhaftesten Licht erscheinen liess, hatte Peter Linksweiler,
der russische Dollmetscher und Agent in Wien, dem daselbst anwe¬
senden Gesandten Golizyn in die Hände gespielt und sofort berichtete
nun dieser tiefgekränkt an seine Regierung (1701); eine ganz be¬
sondere Beleidigung seiner Regierung sah er ferner darin , dass ge¬
rade Guarient, den er zum Autor des Diariums, zum ärgsten Schmä¬
her Russlands stempelte, zu einer neuen Gesandtschaft nach Moskau
in Aussicht genommen war, was man, wie er im April 1702 an den
Kanzler Golowin schrieb, auf keinen Fall sich bieten lassen dürfe 04 .
Mit Entrüstung vertheidigte sich Guarient nicht nur Golowin und
dem Vicekanzler Schafirow gegenüber wider die leugnerische An-
schwärzung, sondern wandte sich auch an den Zaren selbst mit der
Versicherung, ihm wäre die ganze Affaire so nahe gegangen, dass
er trotz seiner vollkommenen Unschuld an dem Aergerniss, welches
61 ibid. 607. — •* ibid. 539. — 63 y<rrp, I, 63, Anm. 74. — 64 ibid. 328—329.
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3<>4
dasBuch seines Sekretärs hervorgerufen hätte, die ihm von Neuem an¬
getragene Würde eines Gesandten an den zarischen Hof ausgeschlagen
habe 64 . In der That unterblieb die beabsichtigte Gesandtschaft.
Pleyer hatte in dieser Zeit einen schweren Stand in Moskau. Ihm
fiel die Aufgabe zu, nicht nur Guarient, der den Premierminister auf
ihn als auf seinen Sachwalter verwiesen hatte 65 , sondern auch seine
Regierung, der es nicht wtnig verdacht wurde, dass „man foI^eS bu<$
in ttnen offentli^ (atte lagen in $rudt auSge(en", zu vertheidigen. Der
Stimmung des russischen Hofes gab der Kanzler Golowin nun Otto
Pleyer gegenüber Ausdruck, er berief ihn bereits im Jahre 1701 66 zu
sich und verlangte von ihm, dass er die ganze Angelegenheit seiner Re¬
gierung zur Kenntniss brächte und von ihr das unverzügliche Verbot
des genannten Buches auswirkte. „Serotoegen", schrieb Pleyer mitBe-
zug hierauf im Mai 1702, „mit ber bießge ^verniet JRinißer £err ©olotoin
fdfoon ofterd gefaget, baf$ idfo es (inaufjfd&reiben mbd&te, foofern foM&eS bu$ unb
barin befcbrtebene Statt beS (Sjaren, ber ^ßrinjef{innen unb ber SRinißern
(eben unb ßten culpirung ni$t mit too((gefa(Ien unb guet(eißung beS fatrf.
(offS gebrudet toere toorben, man fold^eS 33u<( au& ben 33u<$Iaben toeggenom-
men au# ferneres na#jubruden unb ju berlaufen berbiet(en mbdjte" 67 .
Pleyer’s Bemühungen, diesen unangenehmen Zwischenfall beizule¬
gen, scheiterten an den gehässigen Mittheilungen, welche von der
russischen Gesandtschaft in Wien ausgingen und den alten Streit
immer wieder von Neuem aufwärmten. „3Baß man", schrieb Pleyer,
,afl(ier faß f#on bergeffen unb i$ bur# ade erßnnli#e guete explication
mannen aus ben ßn rebe", das werde durch die Umtriebe und Ohren-
bläsereien Peter Linksweiler’s immer wieder aufgeschürt. Ueber
diesen lassen sich sowohl Guarient wie Pleyer in den heftigsten Aus¬
drücken aus. Letzterer namentlich weiss nicht oft genug „bon biefc
lofe menf#", der das zarische Ministerium wider ihn anhetze, der „auf
aufmidlung toiber baS (o(e tal)ferli#e SRinißerium" fortwährend herein¬
schreibe, zu berichten.
Ob die durch Pleyer erfolgte russische Forderung ih Betreff des
fcorb’schen Buches österreichischerseits erfüllt ist, muss dahingestellt
bleiben. Einen Misston mehr in der Stimmung der beiden Mächte
hinterliess die ganze Affairej „eS toill faß aD(ier ein SRi&trauen getreuer
freunbbrüberli#er lieb 6mr. f. unb !. TOatt. gegen ben ßaren ba* aus ber-
fpttret loerben", meldete Pleyer im Mai 1702 61 .
#s y<rrp. IV, 2 pag. 210. — 66 Pleyer schreibt am 25. Mai 1702, „roeI$eS auf
beS SRinißri befebl febon oergant) eneS 3 abt-berietet habe*. (ycTp. IV, 585).
- 67 yexp. iv, 2,585.
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305
Ueberblicken wir nun das bisherige Leben und die Thätigkeit Otto
Anton Pleyer’s, so dürfte aus dem Vorliegenden die obengeäusserte
Ansicht gerechtfertigt erscheinen, dass der österreichische Agent,
obgleich ihn die russische Regierung formell nur als Privatmann
betrachten konnte, re vera immer als halbofficielle Persönlichkeit
angesehen worden ist Ein gewöhnlicher Privatmann, an dem man
kein anderes Verdienst erblickte als das, österreichischer Unterthan
zu sein, hätte wohl schwerlich in so nahe Beziehungen zum Hof, ja
zum Zaren selbst treten können, am allerwenigsten aber hätte man
einen solchen zu diplomatischen Auseinandersetzungen mit einer
auswärtigen Macht herangezogen.
Gab einerseits der Ausbruch des nordischen Krieges Pleyer eine
erhöhte Bedeutung, so erschwerte dieser Krieg andererseits wesent¬
lich die ihm zugewiesene Aufgabe. Die militärischen Vorgänge,
über welche der österreichische Hof gewiss vor Allem orientirt sein
wollte, waren in tiefstes Geheimniss gehüllt, aufs Strengste war es
verboten, darüber aus dem Lager hinauszuberichten, Anfangs war
es auch den fremden Ministern, wie viel mehr Pleyer, verwehrt, dem
Zaren zum Heere zu folgen. Nur ungewisse Gerüchte drangen vom
Kriegsschauplatz nach Moskau, man tappte hier, was die militäri¬
schen Ereignisse betraf, im vollständigsten Dunkel umher.
In dieser allgemeinen Unsicherheit konnte auch der österreichi¬
sche Berichterstatter trotz seiner Bemühungen gar keine festen
glaubwürdigen Erkundigungen einziehen, und häufig begegnen uns
daher* in seinen Relationen Klagen gerade über diesen Uebelstand.
*$Bö 9 bie Seitungen unb Gegebenheiten bot riga unb narwa betreffet", mel¬
dete er unter Anderem im September 1700, „»itb mönböröuf ge»i§cte
unb nähere na$rh|t loben, aff) bon |ier fann gefdjrieben »erben, »eilen ba
etwafe flueteS, man aO|ier ni$t genugfamb, ia »iber alle möglidjfeit gro|
ma$et, bad fölimme aber auf alle »ei§ verborgen |altet* 68 .
Mit dem Misserfolge der russischen Waffen wurde dieses Verheim¬
lichungssystem immer lästiger; man erfuhr nichts aus dem Lager in
Moskau, aber auch nach aussen wurde die Verbindung gesperrt,
aller Verkehr abgeschnitten. Fast ein ganzes Jahr lang war Pleyer
ohne Nachrichten aus der Heimat geblieben, weder von seinen
Eltern und Freunden noch sonst von Jemand aus Wien hatte er et¬
was erfahren — „mit einen »ort", schilderte er im Februar 1702 voll
Verzweiflung diesen Zustand, # ,»it leben an$iet aniejo al 8 in bet »ilbeflen
»fiftenetj, ba man bon nid)t 9 |öret, »a§ in ber »eit gef($ie|et, ban feine $ojt
abgehet nodj anfommet".
M yerp. IV, 2. 541.
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Dabei befand sich Pleyer seit dem Ausbruch des grossen Krieges
in der ärgsten pecuniären Bedrängniss: ihm war der volle Gehalt
von zwei Jahren bis zum Februar 1702 ausgeblieben — sei es in
Folge der Nachlässigkeit österreichischer Finanzverwaltung oder der
erschwerten Verbindung. Dieses Factum bedarf keiner Illustration,
leicht lässt sich ermessen, wie bitter er darunter gelitten hat, wie
schwer es ihm geworden sein muss, in einem Lande, wo die Kredit¬
verhältnisse noch auf der niedrigsten Stufe der Entwickelung standen,
auch nur seine Existenz zu fristen. „JBbrigenö", schrieb er am 19.
Februar 1702 „fo fatjle i$ bor Slot, fatrf. unb fön. Statt, ©nabentgron ju
btro füegen aderunt'rtljänigß treugegorfambfl bittenb unb flegenb, (Emt. fat)f.
unb fön. Statt, »ollen allergnebigfl belieben einet goigloblidjen goffammer aOet>
gnebigft anjubefeglen, mit meine fdgon j»et)iügrige berffoffenc unb artnotg aus»
(lönbige ißenfion geteinjufdgiden, bann obmoglen f»r. fagf. unb fön. Statt.
btr»idgen«8 3 agt ben 15 . Warft) burdg ein Decretum berfelben f$on aller¬
gnebigfl anbefogten gaben, mit meine rüdflönbige §u bejahen, fo gab idg bocg
big biefe @tunb nidgt® erhalten, »oburcg idg in baS eugerte (Elenb unb notg
aOgiet fdgon gerätsen bin, ban idg midg flünblidg mit neuen unb meuteren
fcgulben beloben mug, baburdg aber nidgt »enig berginbert »erbe €»r. fagf.
unb tön. Statt, bienft nadg nottutft ju betfegen, »eilen idg inbeffen fanm junt
täglichen Unterhalt bie mittel ju »egen bringen tann" M .
Und auch in Betreff seiner Hauptaufgabe, der regelmässigen und
sicheren Beförderung seiner Korrespondenz, hatte Pleyer mit den
grössten Schwierigkeiten zu kämpfen. Denn abgesehen davon, dass
die Post höchst unregelmässig abging, mitunter ganz stockte, lebte
er in der steten Furcht, dass seine Briefe erbrochen und unterschla¬
gen würden. Um sich vor dem Vorwurf der Nachlässigkeit sicher
zu stellen, sehen wir ihn fortwährend auf diese Eventualität hinwei-
sen: (Srot. Ä. unb ft. Wagt. »oglen nitgf etroa in ctmanglung einer listigen
correspondenz ein bngnab auf midg »erfen, fonbern biefen irrasionablen
gieggen lattbgebtaudg bet etbtedgmtg bet brief bor meine aHeruntertganigffe
entfdgulbfgung alletgnabigp annemben" 70 . Die Schweden, welche Polen
besetzt hatten, seien gar nicht, meint er später einmal, die Ursache
der Unsicherheit des Briefverkehrs, diese sei vielmehr in den Russen
selbst zu suchen, „»eilen bie bluffen fotooH biefer (d. h. der fremden
Minister) alg anberer Privatpersonen brief aufgalten, erbredgen, gbetlefen,
»egferfen, unb alfo gleidgfatnb baS comercium hum&nam ju fperten fdgei«
nen, fi<$ aber bet) anbern göffen unb nationen auger allen credit feien" 71 .
•• ibid. 574. - ,0 ycrp. ni, 638. - 11 yctp. iv, 2.655.
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307
Pleyer war ausserdem bis zum Jahre 1703 in der unangenehmen
Lage, gar keine Schritte zur Sicherung seiner Korrespondenz thun
zu können, er konnte sich mit seinen Beschwerden weder an die
Minister noch an eine andere Autorität wenden, da er nach damali¬
gen Anschauungen zu seinem Briefverkehr gar nicht berechtigt war,
denn nur officielle Personen durften Briefe ins Ausland beförden
lassen.
Er war gleichsam ein weit vorgeschobener Vorposten ohne Uni¬
form, aber auch ohne Gewehr; entdeckte man seine geheime Thä-
tigkeit, so konnte er, wie er selbst auch andeutet, ebensowohl als
Spion erschossen wie als unnützer Korrespondent nach Hause ge¬
schickt werden. Dass weder das Eine noch das Andere geschah, ver¬
dankte Pleyer eben nur dem Umstande, dass damals zwischen dem
russischen und österreichischen Hof freundschaftliche Beziehungen
walteten. Schon lange war er ja erkannt, man drückte aber ein Auge
zu und liess ihn ungestört gewähren,
Mit seiner Entdeckung wurde freilich seine ganze Sfellung total
verändert. Konnte er durch geheime Beobachtung in der That oft
unbefangener sich unterrichten, unbemerkter auch wichtigere Vor¬
gänge erkundschaften, so war von solchen Vortheilen doch schon
lange nicht mehr die Rede. Aus dem geheimen Beobachter war ein
geheim Beobachteter geworden. Er fühlte nur die Nachtheile einer
officiellen Stellung, ohne irgend einen Vortheil seiner faktisch nicht
officiellen zu geniessen.
Aber auch der russischen Regierung musste es mit der Zeit unbe*
haglich werden, den Kundschafter einer fremden Macht stetig zur
Seite zu haben, einen Kundschafter, den sie für nichts verantwort¬
lich machen konnte, den die österreichische Politik, falls er sich
irgendwie compromittirte, ohne weiteres desavouirt hätte; sie musste
Klarheit haben, besonders in einer Zeit, wo der ganze europäische
Norden von den schwankenden Geschicken eines furchtbaren Krie¬
ges in Spannung gehalten wurde. Von der russischen Regierung
ging daher auch die Initiative aus, jener Zwitterstellung Pleyer's ein
Ende zu machen.
Pleyer als Sekretär.
Im Juni des Jahres 1701 beschied der Premierminister Golowin den
österreichischen Agenten zu sich, um ihm im Namen des Zaren mit-
zutheilen, dass man, nachdem seine geheime Thätigkeit als Kor-
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308
respondent bekannt geworden sei, seinen ferneren Aufenthalt in
Moskau in der bisherigen Stellung nicht länger dulden werde. Zwar
habe man sonst nichts gegen die Fortführung einer Korrespondenz,
„bennodj abet", fahrt Pleyer in seinem Bericht hierüber fort, „fo fege
feiner ßgariftgen SRqeflätt SJefegl baß wofern i$ nocg länger gier DerMeiben
tooDe, i<g mit einem Caractere, e£ möge au<g fein, wa$ e8 immer wolle, bon
3 gro ßugf. unb Äönigl. SJtatt. berfegen teeren möcgte; — wofern ober @mt.
f. unb {. SJtatt. mitg mit einem Caractere gu berfegn aflergnäbtgp ni<gt belie¬
ben tooQe, fomöcgte man mi<g auc^ nur teieber revociren* 7i .
Die russische Regierung, welche sich vor erst drei Jahren Guarient
gegenüber so entschieden gegen eine ständige Vertretung erklärt
hatte, tbat jetzt selbst den ersten Schritt zu einer solchen, und dass
Pleyer nicht mehr als gern auf dieses Ansinnen einging, ist sehr be¬
greiflich: aus jeder Zeile leuchtet hervor, dass es ihm weit mehr als
der russischen Regierung um die Erfüllung des zarischen Verlangens
zu thun war. Aufs Wärmste befördert er den Plan im weiteren Ver¬
lauf seines Berichts, nicht nur, damit er „mit gemiffen respect brt) benett
frembben ministris erffeinen fönnte unb biefetben negotien genauer penetri-
ren", oder weil er persönlich vor allen nachtheiligen Folgen dadurch
geschützt werde, sondern auch, weil einerseits die ganze politische
Constellation, der Krieg mit Schweden, das Schicksal Polens 71 ,
andererseits die Interessen des Katholicismus dringend einen ofificiel-
len Repräsentanten erheischten, könnte doch gerade, was den letz¬
teren Punkt betrifft, Niemand irgendwie der Kirche oder den patri-
bus missionariis zur Hand stehen.
Bei diesem Befürworten scheint er freilich auch nicht wenig vom
eigenen Ehrgeiz, von dem sicheren Bewustsein der von ihm geleiste¬
ten wichtigen Dienste, von der wohlverdienten Belohnung seiner
bisherigen Mühen getragen zu sein. Manche schwere Reise habe
er bereits gemacht, „burdj mßpenegen unb gig unb fttlte gu mager unb }U
fanb burcg faß bie bornembfie örtger be$ rei<g$ in gemacg unb ungetnacg*, so
viel als möglich habe er sich Kenntniss über Land und Leute ver¬
schafft und dieses Alles habe er Ä unermütgete8 Peiß" „gut Qbservirung
geut ober morgen etwa P<g ereignenben gogeS Interesses" @r. Ä. unb St. TOa-
jepät berritgtet". Der Kaiser möge ihm, ist seine inständige Bitte,
Gnade widerfahren lassen, ihm einen wenn auch noch so geringen
Charakter verleihen und „babur<g Don allen eitoa fonP entpegenben ungeil
ober ftgimpf aDetgnäbigP befdgfltmen".
Tf ycrp. IV, 2, 560. Die Relation ist datirt vom 24 Juni. — 79 Pleyer drückt sich
hierüber sehr bezeichnend aus: „hingegen wegen bet Cron Voglen unb bevfelben
abfegen bei iejigen Coojunctaren adgier autg einige gehanten f4weben 1 '.
v
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3<>9
DasVerlangendesrussischenZarenwie die Bitte des Agenten fanden
Anfangs bei der österreichischen Regierung gar keine Zustimmung.
Unruhig drängte Pleyer, indem er nochmals betonte, es wäre dem
Zaren gar nicht nach dem Sinn, „büß cd mit großen c&ractere unb patt*»
auffüßrung gtfdjeljete, fonbem berlongete bilhneßr, baß iemanb mir mit einem
creditiv belferen toere, feinen offentli^en fiatt unb geprangt matytt, fonbem
meßrer alß incognito ßiec lebete* 74 , vergebens machte er darauf auf¬
merksam, dass er „f(ßon no<$ jum Oftern bon bem SWinijho #ert ©olobin
(wiewohl noch der Zeit sehr freundlich) ermaßnet" sei, dass man ihm
die Korrespondenz ganz und gar verbieten und ihn einfach weg¬
schicken könnte 75 .
Zwei volle Jahre hat man in Wien mit der Entscheidung der be-
regten Frage gezögert, und auch da wurde dem Wunsche der russi¬
schen Regierung und dem Pleyer’s nur in bescheidenstem Umfange
entsprochen. Im Juni 1703 erhielt der bisherige geheime Agent
Otto Anton Pleyer den Charakter eines kaiserlich-österreichischen
Sekretärs am russischen Hofe 75 .
Fragen wir nach den Motiven für das jedenfalls nicht zufällige
Zögern des Wiener Hofes, so dürfte die Antwort einerseits in Be¬
denken gegen die Person Pleyers, andererseits in den allgemeinen
politischen Verhältnissen au suchen sein.
Dass man in Wien etwas an ihm auszusetzen hätte, hat jedenfalls
Pleyer selbst gefürchtet. Wiederholentlich verwahrt er sich gerade
seit dieser Zeit gegen den Vorwurf einer Vernachlässigung seiner
Pflichten, namentlich auch gegen etwaige Anfeindungen und Ver¬
leumdungen, die er in erster Linie dem mehrerwähnten Peter Links¬
weiler, der ihn überall anschwärze, überall ihm zu schaden suche,
zuschreibt. Besonders ergrimmt ist er über denselben, wohl weil die¬
ser beim Kaiser um die Residentenstelle in Moskau angehalten
hatte* 11 . Pleyer sieht in ihm seinen natürlichen Gegner und greift, um
den Rivalen aus dem Felde zu schlagen, selbst zu der nicht gerade
ritterlichen Waffe, ihn auch in seiner religiösen Ueberzeugung — frei¬
lich wohl mit gutem Grund — zu verdächtigen 17 . Ueberhaupt ver-
räth die Art und Weise, in welcher sich Pleyer bei seiner Regie¬
rung bewirbt, einen Zug von etwas kleinlicher Selbstsucht, wenn
auch seine Auslassungen über Linksweiler in sofern an Gehässigkeit
verlieren, als dieser nach dem übereinstimmenden Urtheil Guarient’s,
des Paters Wolf und namentlich auch Patkul’s in der That eine intri¬
gante, nichtsnutzige Person war.
T4 ycrp. IV, 2, 570. — 7S ibid. 584. — Tf ibid. 610. — 77 xbid. 570.
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3to
War auch die Furcht Pley er*s, dassLinksweiler ihm vorgezogen wer¬
den könnte, völlig unbegründet — denn diesem war der Zutritt zum
Hof verboten und schon im October 1701 sah sich daher der Fürst
Golizyn genöthigt, von seiner Regierung einen anderen Dolmetscher
auszubitten — so lässt sich sein Argwohn, dass man in Wien an sei¬
ner Person etwas auszusetzen fände, keineswegs mit gleicher Sicher¬
zurückweisen ; es hat vielmehr den Anschein, als wenn man hier in
der That an seinen Fähigkeiten gezweifelt, ihm eine würdige Reprä¬
sentation nicht zugetraut hätte. Die im Jahre 1702 von Neuem in
Aussicht genommene Sendung Guarient’s, zum Theil doch wohl auch
Linksweiler’s Bewerbung um die Residentschaft in Moskau, endlich
die überaus geringe Kompetenzeinräumung, welche schliesslich dem
Sekretär gemacht wurde, sind Umstände, welche auf letztere An¬
nahme hindeuten dürften. Ob man speciell mit seinen Berichten un¬
zufrieden war, oder ob Gründe anderer Art ihn zunächst ungeeignet
erscheinen liessen, kann natürlich nicht entschieden werden, um so
weniger, als sich ja eine Unzufriedenheit seiner Regierung nur ver-
muthen, nicht behaupten lässt.
Die Bedenken der österreichischen Regierung bezogen sich aber
höchst wahrscheinlich nicht allein auf die Besetzung, sondern vor¬
nehmlich auch auf die Creirung des neuop Postens, der Wiener Hof
hat Anfangs eine nähere Verbindung mit dem Moskau'schen, die Er¬
richtung einer ständigen Vertretung daselbst überhaupt wohl gar
nicht gewollt und der Grund fiir diese Abneigung ist ohne Frage in
den politischen Constellationen zu suchen. Ein flüchtiger Blick ge»
nügt, um die in den beiden ersten Jahren des nordischen Krieges
erfolgte völlige Umgestaltung der politischen Situation zu erfassen.
Dänemark war vom Schwedenkönig bewältigt, Sachsen bereits
empfindlichst getroffen, Russland mit einem Schlage niedergewor¬
fen — vielleicht auf immer. Letzteres wurde nicht nur von Karl XD.,
sondern auch von den Alliirten Russlands geglaubt, hielt doch auch
der kühn fortstrebende Zar betäubt inne und dachte doch auch er
nach der Schlacht bei Narwa ernstlich an Frieden. Zum Vermittler
zwischen ihm und seinem Sieger wurde der deutsche Kaiser auser¬
sehen und um diesen zu der ihm zugedachten Rolle zu vermögen,
traf im Mai 1701 der Fürst Golizyn, auf dessen Ankunft man schon
seit dem Februar durch Pleyer vorbereitet war, in Wien ein 18 .
n Er sollte nach der geheimen Instruktion (YcTp. IV, 2. p. 19) incognito reisen,
Keinem von seiner Mission etwas mittheilen, in Wien sich erst Aber die Situation
prientiren und namentlich erforschen, wer der einflussreichste Mann wäre, um diesen
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3*1
Der russische Gesandte hatte der österreichischen Regierung
gegenüber einen schweren Stand; man begegnete ihm mit der aus¬
gesprochensten Nichtachtung und gab ihm unverhohlen zu ver¬
stehen, dass auch hier das Zarenreich seit der Niederlage bei Narwa
jede Bedeutung eingebüsst habe. Russland, klagte der Fürst, werde
von Allen verachtet, den missgünstigsten Gerüchten wie z. B. einer
furchtbaren Niederlage bei Pleskau, der Flucht des Zaren, der Wie¬
dereinsetzung Sophien’s etc. schenke man vollen Glauben, der
Minister Kaunitz, von dem Alles abhinge, wolle mit ihm nicht einmal
reden, man spöttle nur über die Russen 79 .
Auch Pleyers Relationen aus dieser Zeit dürften nicht gerade dazu
beigetragen haben, die Anschauungen über die Bedeutung Russlands
in Wien umzustimmen. Zwar berichtete er fortwährend von eifrigen
Rüstungen, kleinen Siegen in Livland u. dgl. m., aber dazwischen
schoben sich doch häufig genug beunruhigende Mittheilungen über
die innere Lage Russlands. Durch eine deutsche Leibwache, heisst
es im Bericht vom 19. Februar 1702, wolle Peter sein „re 6 e 0 if$e 8
Soll im 3<*um galten", die Unlust am Kriege sei allgemein, die Kosa¬
ken hätten sich wiederholt ,,toibettoertig" ctjciflt 80 .
In diese Zeit nun fiel Pleyer’s Bitte um Verleihung eines Charak¬
ters. Man unterschätzte gerade damals aufs Irrthümlichste Russlands
Bedeutung; mit dem halb barbarischen, verachteten Reich scheute
man sich jetzt mehr als je in eine nähere, festgeregelte Verbindung
zu treten, und darin liegt wohl das hauptsächlichste Motiv für die
zögernde Zurückhaltung der österreichischen Regierung in Bezug
auf das vom Kanzler Golowin gestellte Verlangen.
Eine Aenderung in dem Verhältniss beider Höfe scheint erst
durch die überraschenden Erfolge Karl’s XIL in Polen und durch die
Sendung Patkul’s hervorgerufen worden zu sein. In Moskau sah man
die Untauglichkeit des bisherigen Gesandten in Wien ein und schickte
daher, jedoch ohne Golizyn abzuberufen, im September 1702 Patkul
an den Kaiserhof, «dem Centrum aller europäischen Pläne und An¬
schläge», damit er hier ein festes Defensiv- und Offensiv-ßündniss
gegen Schweden betreibe. Allein die auch hier herrschende Furcht
vor Karl XIL und der grosse spanische Erbfolgekrieg, welcher zu
weiteren Aktionen der österreichischen Regierung völlig die Hände
dann zu gewinnen (ein schlagender Beweis Air die Unbehülflichkeit der russischen Poli¬
tik). Dem Kaiser sollte er eröffnen, dass der Zar ihn im Kriege gegen Frankreich unter¬
stützen werde, wenn nur zuvor der nordische Krieg beigelegt wäre.
79 ycrp. IV, 2. 197—200. - ®° ibid. 572.
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312
fesselte, Hessen audi ihn nur verschlossene Thore finden; seinen
Bemühungen, den Wiener Hof wenigstens zur geheimen Theilnahme
zu bewegen, setzte man gleichfalls nur schöne Worte, keine binden¬
den Zusagen entgegen 81 .
Die immer deutücher sich ausprägende Energie Peter's in der
Fortführung des Krieges und das immer bedenklichere Vorrücken
der Schweden nöthigten indessen doch Oesterreich, den Blick wie¬
derum aufmerksamer auf Karl's XII. gedemüthigten grossen Gegner
zu richten, sich mit der russischen Politik wieder näher in Verbin¬
dung zu setzen. Patkul gegenüber liess man die bisherige Nichtach¬
tung ganz fallen, auch Golizyn’s Klagen über schlechte Behandlung
verstummten allmählich, den russischen Premierminister Golowin
suchte man durch Erhebung zum Grafen zu gewinnen 88 — einen
weiteren Schritt zur Wiederanknüpfung freundschaftlicherer Bezie¬
hungen haben wir endlich in der Ernennung Pleyer's zum öster¬
reichischen Sekretär am russischen Hofe zu sehen.
Diese erste ständige Vertretung Oesterreichs in Russland war frei¬
lich nur eine sehr nothdürftige und trug im Ganzen wohl nur in sehr
geringem Masse zur Erleichterung des Verkehrs zwischen den bei¬
den Mächten bei.
Welche Stellung Otto Pleyer als kaiserlicher Sekretär in Moskau
einnahm, welche Kompetenzen ihm zustanden, welche Ansprüche er
an die russische Regierung machen konnte, lässt sich nicht sicher
feststellen. Später avancirte er allerdings wahrscheinlich direkt zum
Residenten, jedenfalls aber hat er als Sekretär noch bedeutend unter
den Residenten, ebenen fft rm BJinijhriS, to>el<$e mit ben creditivis berfe^en
ttnb olfo bem Cjarm in ba* läget unb fiberalfyin folgen bBrffen", gestanden.
Letzteres war Pleyer verwehrt.
Nach Posselt überUeferten die Residenten in einer Audienz beim
Zaren ihre Kreditive und konnten dann mit dem Vorstande der Ge-
sandtschaftbeshörde officielle Geschäfte betreiben. Pleyer hat in An¬
lass seines neuen Titels weder eine Audienz erhalten, noch ist ihm
ein Kreditiv, welches den Sekretär zu officieller Geschäftsführung
ermächtigt hätte, ausgestellt worden. Er bekam in Bezug auf sein
Sekretariat nur ein «an sich allein lautendes Rescript, nicht aber ein
ordentliches Schreiben an Seine Czarische Majestät». Die Kopie die¬
ses kaiserlichen Rescripts lieferte er nach Vorweisung des Orginals
an die Gesandtschaftsbehörde ab und reichte einige Monate darauf
84 ibid. 258—266. — “ Am 14. Juli 1703 dankt Golowin dem Grafen Kaunitz,
ibid. 282.
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313
nach dem wohlmeinenden Rath Golowin’s «pro meliori esse* von
sich aus ein «memoriale* an den Zaren selbst ein.
Die österreichische Regierung hatte also, wie wir sehen, mit der
russischen direkt wegen dieser ersten ständigen diplomatischen Ver¬
tretung gar nicht verhandelt; einseitig hatte sie von sich aus den
geheimen Agenten zum Sekretär ernannt, ihm allein überliess sie
es, sich auf seinem neuen Posten Geltung zu verschaffen, und nur
der an ihn ergangene Auftrag, förmlich dem Moskau’schen Hof seine
Ernennung zur Kenntniss zu bringen, gab der ganzen Angele¬
genheit eine officielle Färbung.
Hieraus lässt sich entnehmen, dass Pleyer’s Stellung keine sehr
bedeutende sein konnte. Im Februar 1702 hatte er nochmals den
Nutzen einer förmlichen Accreditirung betont, und nachdrücklich auf
das Verlangen des Zaren hingewiesen, „böjj iemonb nur mit einem
creditiv betfe&en feere, feinen öffentlichen Patt unb geprange ma<$ete, fonbern
mehret als incognito f)\ex lebete, aud) etfea fd&ott on ben ©jarifd&en hoff feö6
beffer befonnt unb moll gelitten feere, bamit ber ßjor feiner gefeobnljeit na<b
mit i$mincognito rnöd&te umbge^en unb in fei$tigern fa$en negotiren
fönnte, o$ne bajjiemanb bonbenen auÄlänbifc^en SDlinipern al^ier etfeaS
bauon feufcten" 83 ; aber man hatte hierauf keine Rücksicht genommen,
der hier hervorgehobene Hauptvortheil, die Möglichkeit mit dem
Zaren geheim zu verhandeln, war jedenfalls ausgeschlossen. Weder
mit Zusagen noch Anfragen konnte Pleyer amtlich allein von sich
aus an die russische Regierung gehen, nur wenn er für den ein¬
zelnen Fall eine specialisirte Vollmacht erhielt, konnte er officiell
mit voller Rechtsgültigkeit verhandeln und abschliessen. Seine haupt¬
sächlichste Aufgabe bestand vermuthlich nach wie vor darin, als
politischer Korrespondent seine Regierung über die Vorgänge in
Russland zu unterrichten, sie zu warnen, wenn eine Schädigung
ihrer Interessen drohte, und nöthigenfalls in besonderen Vorkomm¬
nissen zwischen den beiden Höfen als Vermittler zu fungiren.
Ob mit seiner Ernennung zum Sekretär eine Gehaltserhöhung
verbunden war, erfahren wir nicht.
Pleyer mag sich ziemlich sichere Hoffnungen auf einen höheren
Charakter gemacht und trotz seines allerunterthänigsten Dankes eine
gewisse Enttäuschung und Missstimmung empfunden haben. Denn
noch vor Ablauf eines Jahres, am 28. Februar 1704, erklärte er,
dass sein bisheriger Charakter wegen „erntangelnben creditiv uub autho-
M ycTp. iv, 2. p. 569.
Boa«. Ben». Bd. VII.
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tu
ritet" doch völlig unzulänglich wäre, man möge ihn daher „mit einem
creditiv unb mehrerer authoritaet alletgnäbigft belferen" 84 .
Als Grund für dieses Verlangen führte er namentlich die Umtriebe
eines angeblichen französischen Agenten an, von dessen muthmass-
lichen Plänen er schon seit dem März 1703 mit grosser Aufregung
wiederholt berichtet hatte. Seine Besorgnisse wurden zwar durch
die Abreise des Franzosen bald zerstreut, trotzdem aber, meinte er
in seiner Relation vom Februar 1704, dürfe man sich der Furcht
nicht entschlagen, dass der russische Hof sich doch noch durch
französisches Gold verblenden lassen könnte, besonders weil der
„auf ben $ö<$jten ©ipffl" gekommene Menschikow leicht zu erkaufen
sei und sich schon so wie so gegen die österreichische Regierung
„ungeneigt" verwenden lasse. „Sollen ber ganzen6(rijten$eit l)ö<bjt na<$*
^eilige machinationen botjubauen", bemüht sich keiner der fremden
Minister, ihm aber fehle die Macht dazu, wenn er nicht mit aus¬
reichender Autorität und einem Kreditiv versehen würde. „$ann
fönn i<$", fährt er fort, „mi<$ fünftig bei) ben attyiefigen ©jarifd&ett SRini*
fterio befto na$trücf(i$er insinuiren, mi<$ ben Goaren befto öffterS praesen-
tiren-unb-benen nad&tljeiligen folgerungen befto e$r betbauen".
Einen Anderen hereinzuschicken wäre misslich sowohl wegen der
allgemeinen Unsicherheit, als auch wegen der grossen Reisekosten;
man könnte es mit Wenigem abthun, wenn man seinen Gehalt
erhöhen und ihm ein Kreditiv zusenden würde 8ß .
Indessen hielt man auch dieses Wenige für überflüssig und Pleyer
hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach bis zu seiner ersten Reise
nach Wien im Jahre 1710 mit seiner bisherigen Stellung begnügen
müssen.
Obgleich der österreichische Sekretär sich in Folge seiner ge¬
ringen Befugnisse vielfach behindert fühlen musste, obgleich er
s. z. B. daran schwer zu tragen hatte, dass ihm jetzt das verwehrt
war, was allen übrigen Vertretern fremder Mächte, was früher ihm
selbst als Privatmann gestattet war, nämlich dem Heere zu folgen,
so wurde ihm doch auch seine Aufgabe wesentlich erleichtert. Denn
abgesehen davon, dass er zu seiner Korrespondenz jetzt das volle
Recht beanspruchen durfte, so war es schon an und für sich ein
nicht zu unterschätzender Vortheil, direkt mit dem Zaren selbst
und seinen Ministern verkehren zu können 86 . Uebrigens sah er
84 ibid. 603. — 84 ibid. 623-624. — 86 Dass er Zutritt zum Zaren gehabt hat,
geht aus der oben citirten Bemerkung, dass er mit erhöhter Autorität si$h desto
Öffterd dem Zaren präsentiren könnte, hervor.
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3*5
schon im Jahre 1704 die ausdrückliche Erlaubniss Peter’s, sich ins
Lager begeben zu dürfen, (von guten Freunden hatte er gehört,
dass dieser gnädigst seiner gedacht habe), für vollständig ge¬
sichert an 87 .
Seine Stellung als Sekretär dürfte überhaupt Bekanntschaften und
nähere Verbindungen mit hochstehenden Persönlichkeiten gefördert
haben. S. z. B. hatte er im August 1703 mit Patkul ein längeres
Gespräch, mit dem Feldmarschall Ogilvy, dem er im Interesse des
Kaisers im Lager behülflich sein zu können glaubt, korrespondirt er.
Obgleich Pleyer nicht berechtigt war, von sich aus ofliciell For¬
derungen an die russische Regierung zu stellen, so gab doch der
ihm ertheilte Charakter seinen Wünschen gewiss mehr Nachdruck
als früher. Bezeichnend ist ein Vorfall, über welchen er am 8. No¬
vember 1704 berichtet: durch gute Freunde habe er vernommen,
dass die in Russland weilenden französischen „baganten" auf ihren
Zusammenkünften über alle Massen schimpflich von Oesterreich
geredet hätten; „alfe ljab fährt er fort, „fold&eS nfl<$ bem Iager
geidjriebm unb burd) guete Seut baljin gebracht, bafe eine specification oller
allljift fi<b auföaltenben ftanjofen unb i^reS Aufenthalts urfa$ ju erforfdjen
begehret toorben, ba eS »oll auf eine reformation börffte angefeljen fein, ju
»eldher aübereit an einigen ber anfang ift gemalt »otben" 8B . Dieses Ein¬
greifen Pleyer’s spricht einerseits deutlich das Unzureichende seiner
officiellen Stellung aus, da er sich an gute Freunde und nicht an das
russische Ministerium (mit dem er wohl verkehren, von dem er
aber nichts im Namen seiner Regierung fordern konnte) wandte,
zeigt aber andererseits, wie weit bereits sein Einfluss reichte.
Bis zum Jahre 1707 scheint Pleyer ununterbrochen in Moskau
gelebt zu haben. Von der im Herbst des Jahres 1704 beabsichtigten
Reise zum Heer stand er ab, weil der Zar selbst bald nach Moskau
zurückkehren sollte und ausserdem auch der baldigen Ankunft des
ausserordentlichen österreichischen Gesandten Fürsten Porcia entge¬
gengesehen wurde. Diese Sendung, welche auch Pleyer’s Anwe¬
senheit erfordert hätte, unterblieb jedoch, obgleich der Zar Peter
sie schon seit dem Jahre 1703 mit grösster Spannung erwartete.
Im folgenden Jahre (1705) mag Pleyer von seiner Reise zum Lager
durch eine „Üöbtlidje Iranfljeit", welche ihn auch auf mehrere
Wochen zur Einstellung seiner Korrespondenz nöthigte, abgehalten
worden sein.
97 ycrp. 637. — 99 ibid. 638.
31 *
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3i6
Bis zu diesem Zeitpunkt war es möglich, dem Leben und der
Wirksamkeit Otto Pleyer’s im Zusammenhänge zu folgen, und ver¬
missten wir auch manche schärfere Angabe, musste Manches nur
Vermuthung bleiben, so gewährten doch seine eigenen Berichte die
sichere Stütze, welche uns die wichtigsten Veränderungen in seiner
äusseren Stellung, seine Entwickelung vom diplomatischen Schüler
zum charakterisirten Staatsbeamten erkennen liess. Dieser Stütze
müssen wir von nun an entbehren, auf Jahre fehlt uns jede Kunde
von Pleyer, nur spärliche Streiflichter fallen ferner auf seine Person
und gestatten uns vorübergehend einen flüchtigen Blick auf Einzeln-
heiten aus seinem Leben — auf eine zusammenhängende Dar¬
stellung seiner weiteren Schicksale muss von hier ab verzichtet
werden.
Neben einigen Ereignissen des Jahres 1710, die der dankens-
werthen Publikation E. Herrmann’s zu entnehmen sind, ist uns Nä¬
heres nur über den Ausgang der diplomatischen Thätigkeit Pleyer’s
bekannt. Die Relation vom 24. December 1706 schliesst die fort¬
laufende Reihe der bei Ustrjalow veröffentlichten Berichte des
österreichischen Sekretärs, sei es daher gestattet, hier auch diese
Seite der Wirksamkeit Pleyer’s kurz ins Auge zu fassen.
(Schluss folgt).
Die Lederindustrie in Russland.
Von
Prof. M. Kittara.
Ein Reich wie Russland, welches eine Bevölkerung von über
85 Millionen Einwohner besitzt, muss selbstverständlich über einen
grossen Viehstand verfügen, und in der That findet man in den statis¬
tischen Angaben aus dem Jahre 1871 folgende Zahlen verzeichnet:
Pferde. 20,107,000
Hornvieh. 28,545,000
Schafe, einfache . . . 50,645,000
» feinwollige . 14,103,000
Ziegen. 1,330,000
Schweine. 11,649,000
126,379,000
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317
Wenn man die Bevölkerung Russlands auf 85,550,000 berechnet,
so ergiebt sich für das Verhältniss des Viehstandes zur Bevölkerung
folgender Procentsatz. Es kommen auf 100 Einwohner:
Pferde.23,5
Hornvieh :.33,3
Schafe.7 5,7
Ziegen. 1,5
Schweine.13,6
Nach den statistischen Daten aus den Jahren 1869 bis 1871 be¬
steht im Auslande auf 100 Personen der Bevölkerung folgender
Procentsatz:
Pferde . . .
Oesterreich
7
Ungarn
14
Grossbrittanien
8
Preussen
9
Verein. Staat
22
Hornvieh . .
36
34
30
38
26
Schafe . . .
24
97
IOI
79
73
Schweine . .
12
28
13
17
65
Wie man sieht, nimmt Russland in Hinsicht der Pferde die erste
Stelle ein, in Betreff der übrigen Hausthiere steht es nirgends an
letzter Stelle. Wenn unser Hornvieh nicht die erste Stelle be¬
hauptet, so kommt es daher, weil Russland einerseits mit der furcht¬
baren Plage der Viehzucht — der Viehseuche zu kämpfen hat,
andererseits aber, weil die Landwirthschaft bei dem grösseren Theil
der Bevölkerung noch nicht die gebührende Entwickelung erhalten
hat. In dieser Hinsicht bleibt von der Zukunft noch viel zu er¬
warten.
Was die Schafzucht betrifft, so herrscht die Zucht der einfachen
Schafe, namentlich der asiatischen Arten, vor. Die Technik ist in
den letzten zwanzig Jahren in der Bearbeitung der Wolle dieser
Schafe so weit fortgeschritten, dass Produkte, die früher weder im
inneren noch im asiatischen Handel bekannt waren, geliefert werden,
aber die Schafzucht der asiatischen Arten selbst hat die Kultur noch
nicht berührt.
Die oben angeführten Zahlen der Verhältnisse zwischen dem
Viehstand und der Bevölkerung sind gleichmässig berechnet, ob¬
gleich die Vertheilung gar nicht gleichmässig ist und eben kein
Land in diesem Falle so viele Abweichungen aufzuweisen hat, wie
Russland. So ist die Pferdezucht besonders in Sibirien stark ent¬
wickelt, wo fast auf jeden Menschen ein Pferd kommt; dann kommen
die östlichen und südöstlichen Gouvernements; die dritte Stelle be¬
haupten die centralen Gouvernements, wo zugleich auch das Fuhr-
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3i8
wesfcn sehr entwickelt ist; die an Pferden ärmsten Gouvernements
sind die südlichen und südwestlichen, die Weichselländer (Königreich
Polen), Finland und der Kaukasus.
Wenn die südlichen und südwestlichen Gouvernements, so wie
der Kaukasus, an Pferden arm sind, so nehmen sie die erste Stelle
in Hinsicht des Hornviehs ein. Sibirien, an Pferden reich, ist auch
an Hornvieh reich; dann folgen die baltischen Provinzen, Finland,
die nordöstlichen Gouvernements, die Weichselländer und die nörd¬
lichen Gouvernements. Die centralen Gouvernements sind die
ärmsten.
Die feinwolligen Schafe, die 22 pCt. der Gesammtzahl bilden,
sind namentlich in Neu-Russland concentrirt, d. h. in den Gouver¬
nements: Jekaterinosslaw, Taurien, Chersson und in Bessarabien;
dann folgen die Weichselländer und darauf die kleinrussischen und
südwestlichen Gouvernements. Die letzte Stelle nimmt der Land¬
strich der «schwarzen Erde» ein, d. h. die Gouvernements: Woro-
nesh, Tambow, Ssaratow, Ssamara, und auf der andern Seite:
Minsk, Grodno und Estland.
Die einfachen Schafe sind auf die südöstlichen Gouvernements
im Kaukasus und in Sibirien vertheilt. Sibirien bietet ein bemerkens-
werthes Beispiel der Vereinigung des Reichthums an Pferden, Horn¬
vieh und einfachen Schafen, namentlich den Steppenarten, dar.
Dann folgen in Hinsicht der einfachen Schafe Finland und darauf
die centralen Gouvernements. Am wenigsten zählt man Schafe in
den nordöstlichen, den nördlichen Gouvernements und in den
Weichselländern.
In den statistischen Daten des Jahres 1871 sind die Rennthiere,
Hunde, Kameele nicht in Betracht gezogen, über welche der Leser
in der Tabelle der Lederfabriken nähere Angaben finden wird.
Diese kurzen Angaben über die russische Viehzucht erschienen
nothwendig für die folgende Darstellung der Vertheilung der Leder¬
industrie. *
Diese Lederindustrie gehört zu den ältesten und bedeutendsten
Industriezweigen in Russland; sie bildet den Betriebsgegenstand
nicht nur vieler grossen Fabriken, sondern ist auch ein Bestandtheii
der Hausindustrie.
Nach den Angaben der Haupt-Intendantur zählte man im Jahre
1872 12,939 grosse und kleine Lederfabriken. Sie produciren
10,264,218 Häute im Werthe von 47,535,723 Rbl. Diese Produk¬
tion ist im russischen Reich folgendermassen vertheilt;
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Zahl der verar¬
beiteten Häute.
Produktionswerth.
Europäisches Russland . .
... 7,922,817
37 , 752,381 Rbl.
Weichselländer.
• • • 897.833
3,651,040 »
Finland.
... 172,088
631,271 »
Kaukasus.
. .. 199.115
945777 *
Sibirien.
... 1,072,365
4 , 555.754 »
Hieraus folgt:
1) Wenn der Viehstand in Russland 126,379,000 Köpfe beträgt,
die Zahl der verarbeiteten Häute aber 10,264,218, so ist das jähr¬
liche Procent der zur Verarbeitung kommenden Häute gleich 8,12.
In Wirklichkeit ist der Procentsatz aber grösser, da ein Theil der
rohen Häute, besonders von Kälbern, ins Ausland geht.
2) Der Durchschnittswerth einer jeden verarbeiteten Haut ist für
ganz Russland gleich 4 Rbl. 63 Kop.
In den verschiedenen Theilen des Reiches aber spricht sich dieser
Werth in folgenden Zahlen aus:
Europäisches Russland . . .
. 4
Rbl. 76 Kop.
Weichselländer.
• 4
» 06 .
Finland.
• 3
» 66 .
Kaukasus.
• 4
» 74 »
Sibirien..
• 4
» 25 .
Obgleich der Begriff des Durchschnittswerthes einer jeden bear¬
beiteten Haut ein sehr bedingter ist, da sowohl die Art der Viehzucht,
als auch die Art des Handels mit Rohhäuten darauf von Einfluss ist,
so können die angeführten Zahlen nichtsdestoweniger einen an¬
nähernden Werthmesser der Produktion abgeben.
Auf den Lederfabriken Russlands werden verschiedene rohe Häute
verarbeitet, welche wir in den erklärenden Tabellen zu folgenden
Typen geordnet haben: I. Sohlleder, welches das Bin.dsohlleder,
das Riemenleder u. s. w. in sich begreift; II. Juchtenleder, nament¬
lich von Kühen; III. Ochsen- und Kalbleder, das Rindleder einge¬
rechnet; IV. Rosshäute; V. Leder von Lämmern, Ziegen, so wie
von Rennthieren, Seehunden, Kameelen, Schweinen, Hunden und
anderen Thieren.
Es ist nicht uninteressant die Summe dessen zu ziehen, was und
wie viel in Russland und in einzelnen Theilen des Reiches verarbeitet
wird; es ergeben sich folgende Zahlen:
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320
-
Sobl-
Leder.
Juchten-
Leder.
Ochsen- u.
Kalbleder.
Ross-
Leder.
Ziegen-
Leder.
Lamm-
Leder.
Europ. Russland . -
Weichselländer. . .
Finland.
Kaukasus.
Sibirien . t . . T . .
1,360,78a
116,780
*2,573
76,747
I 12.209
2,719,07a
117,682
53,470
*8,495
437,676
1,264,074
4*5,438
61,869
*9,i55
49,*3o
580,339
14,629
500
18,570
351,375
2,510
1,700
2,160
*,737,175
220,794
32,476
84,118
252,620
1,689,091
! 3,446,395
1,819,665
614,038
367,74s
*
N
00
W
Wenn man das Sohlleder, Juchtenleder, sowie das Ochsen- und
Kalbleder in eine Kategorie zusammenfasst, da sie alle aus Hornvieh¬
häuten verarbeitet werden, so erhält man 6,853,151 Häute, die aus
28,545,000 Köpfen des gesammten in Russland existirenden Horn¬
viehs gewonnen werden, was 24,03 pCt. ausmacht Von 20,107,000
Pferden werden zur Verarbeitung von Rosshäuten — 614,038 ver¬
wandt, was 3,05 pCt. bildet. Von 64,780,000 Schafen werden zur
Bearbeitung von Schaffellen — 2,427,283 Stück benutzt, was 3,75
pCt. ergiebt, und endlich dienen von 1,330,000 Ziegen — 367,743,
= 27,65 pCt., zur Produktion des Ziegenleders.
Sohlleder.
Es wird vornehmlich als Sohle bei Fussbekleidungen gebraucht
und aus Büffel-, Stier-, Ochsen- und grösseren Kuhhäuten fabricirt.
Mit der Entwickelung der Mechanik in Russland hat man diese Sorten
von Rohhäuten auch zur Verarbeitung des Leders für Maschinen¬
riemen zu benutzen angefangen. Das beste Rohmaterial liefern die
tscherkassischen Häute (im Süden Russlands), dann die sibirischen.
Es werden auch rohe, gesalzene Häute aus Süd-Amerika und Austra¬
lien eingeführt, aber nur in geringer Zahl, und daher nur den an den
Häfen liegenden Lederfabriken zugänglich.
Die Fabrikation des Sohlleders ist auf die verschiedenen Theile
des europäischen Russland folgendermassen vertheilt:
Es produciren:
241,999 Häute
70,839 •
50 bis 60,000 »
40 bis 50,000 »
30 bis 40,000 »
20 bis 30,000 *
die Gouvernements:
St. Petersburg,
Perm,
Moskau, Rjasan, Twer und Kursk,
Jekaterinosslaw, Woronesh, Kaluga undKijew,
Kasan, Tschernigow, Orel und Chersson,
Jarosslaw, Wjatka, Ssaratow, Wolhynien und
Orenburg,
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321
to bis 20,000 Häute Ssmolensk, Witebsk, Poltawa,Livland, Nishnij-
Nowgorod, Wladimir, Podolien, Nowgorod
und Pskow,
5 bis 10,000 • Tambow, Ssamara, Wologda, Tula, Charkow,
Pensa und Grodno.
Ein jedes von den übrigen Gouvernements producirt weniger als
5,000 Häute.
Man theilt das Sohlleder nach der Fabrikation in zwei Gruppen:
Stierleder, welches aus gröberen Stierhäuten fabricirt wird, und
Bindsohlleder, welches aus weniger groben Stücken verarbeitet wird.
Sie unterscheiden sich dadurch, dass in der ersten Gruppe das Haar
von den rohen Fellen ohne Kalk und ausgelaugte Asche entfernt
wird, während dies in der zweiten Gruppe gerade der Fall ist.
Das Stierleder theilt man in folgende Sorten: Kornsohle,
Sch weissgarsohle, Vitriolsohle, Wladimir'sche Sohle und Gras¬
nelkensohle.
Die Komsokle bildet die älteste, einheimische Sorte, welche noch
bis jetzt in Russland die vorherrschende ist. Das Unterscheidende
der Fabrikation besteht darin, dass die rohen Häute, nachdem sie
geweicht und von dünnen Häutchen, Fetttheilen. u. s. w. gereinigt
worden sind, bei +15 0 R. der Wirkung einer Art Hefenteigs,
d. h. einer Mischung alter Eichenlohe mit Roggenmehl ausgesetzt
werden. Wenn sich die Haare ein wenig abzutheilen anfangen, wer¬
den sie mit einem stumpfen Schabeisen entfernt.
Die gereinigte Haut wird dem Schwellen unterworfen, d. h. sie
wird in Korn gelegt, in eine gut durchgekochte Brühe aus Roggen¬
mehl, wo sie, ungefähr zwei Mal des Tages umgelegt, bei 25 0 R. so
lange verbleibt bis die Haut genügend aufgetrieben ist. Darauf
kommt sie direkt in die Gerberei-Bottiche, wo sie mit Lohe, vor¬
nehmlich Eichenlohe, bestreut wird.
Je nach der Grösse der Haut wird die Lohe von vier oder fünf
Eichen dazu verwandt.
Man unterscheidet zwei Sorten Kornsohlen: die im Winter und
die im Sommer getrocknete Sohle. Die Letztere wird wegen ihrer
klaren rothbraunen Farbe höher geschätzt. Die Fabrikation der
Kornsohle hat sich bis jetzt in der früheren primitiven Weise erhal¬
ten und hat sich weder in der Art des Gerbens, noch in der Bear¬
beitung der Häute vervollkommnet. Daher ist das äussere Ansehen
der Haut sehr unschön; sie ist unegal, zusammengezogen, von dun¬
kelbrauner, schmutziger Farbe, oft mit Schimmel bedeckt; die
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linke, fleischige Seite ist nicht abgeschabt; nichtsdestoweniger wird
diese Sohle in Folge der Anwendung von Korn bei der Verarbei¬
tung Kornsohle genannt und wird als Sohlleder sehr geschätzt,
sogar anderen Sorten vorgezogen, namentlich wenn es inwendig
eine gewisse Härtung besitzt, die ihm eine besondere Festigkeit ver¬
leiht. Besonders gut ist diese Sohle für steinige und bergige Ge¬
genden.
Schweissgarsohle. Peter der Grosse fand die Lederfabrikation auf
niedriger Stufe der Entwickelung vor und verschrieb aus dem Aus¬
lande deutsche Meister, schickte sie in das Innere und begründete
in Moskau eine besondere Schule zum Unterricht in der Lederfa¬
brikation. Diese deutschen Lehrer führten nun die Fabrikation der
Schweissgarsohle bei uns ein, welche dieselbe Bestimmung hat wie
die Kornsohle.
Das Wesentliche dieser Fabrikation besteht in Folgendem: die
rohen oder aufgeweichten Häute werden von den Fetttheilen u. s.w.
gereinigt und dann an einem feuchten Orte bei + 14—16 0 R.
aufgestapelt, dabei wird die eine Hälfte der fleischigen Seite der
Haut mit Salz bestreut und die andere Hälfte darüber gebreitet.
Auf die zusammengelegte Haut wird eine zweite gelegt, dann eine
dritte u. s. w. bis zu 1 7 * Arschin Höhe; daneben ein zweiter Hau¬
fen, dann ein dritter, und dabei Alles mit Matten bedeckt, damit es
sich besser durchwärmt. Ein solcher aufgestapelter Haufen wird ein
Mal am Tage umgelegt, damit die Erwärmung gleichmässig vor sich
gehe. So liegen die Häute 9 bis 10 Tage, und wenn bei irgend einer
von den Häuten die Haare locker zu werden anfangen, wird dieselbe
herausgenommen und der weiteren Verarbeitung übergeben, d. h.
dem Prozesse des Scheerens der Haare, des Spülens und dann des
Schwellens in der Eichenlohe. Die Häute gehen durch 8 Bottiche
mit Lohe hindurch, mit der ganz schwachen Eichenlohe anfangend
und in die stärkeren übergehend. In jedem Bottich bleiben die Häute
24 Stunden, darauf werden sie 10 Täge lang in dem 9. Bottich, in
welchem frisches Wasser und ein wenig Lohe ist, gehalten, und
werden von hier in die Gerb-Gruben versetzt; dazu giebt man die
Lohe von drei oder vier Eichen, je nach der Grösse der Haut. Die ge¬
trocknete Schweissgarsohle kommt darauf direkt in den Handel.
Viele Fabrikbesitzer haben bereits Bronce-Rollen zum Glätten und
Planiren % der Häute eingeführt, und es giebt auch solche Fabriken,
welche den Berendorf sehen Lederhammer besitzen.
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3*3
Auf der letzten Internationalen Ausstellung in London im Jahre
1874, die speciell der Lederindustrie gewidmet war, trat als Reprä¬
sentant der russischen Schweissgarsohle die Firma Brussnitzin und
Söhne (Fabrik in Petersburg — Tschekuschi Nr. 21 und 32) auf.
Diese, im Jahre 1847 gegründete, Fabrik hat in technischer Einrich¬
tung viele der Veteranen übertroffen; sie besitzt 3 Dampfmaschinen
von zusammen 40 Pferdekräften, ferner zwei BerendorPsche Le¬
derhämmer und fünf Bronce-Rollen zum Glätten der Häute; zwei
Mühlen zum Zerreiben der Weidenrinde und einen Mühlstein für
die Nüsse. Eine Brdval’sche Presse trocknet die Lohe, welche sodann
als Brennmaterial zum Heizen verbraucht wird. Im Jahre 1874 hat
diese Fabrik 120,000 Häute verarbeitet, die kleinen Stücke mit ein¬
gerechnet; sie verfügte über 200 Arbeiter, lieferte dem Kriegs¬
ministerium ca. 250,000 Paar Sohlen und machte einen jährlichen
Umsatz von 900,000 Rbl.
Die Vitriol-Sohle oder Spiritus-Sohle ist seit nicht mehr dann 20
Jahren in Moskau eingeführt und unterscheidet sich in der BearbeL
tung von der vorhergehenden nur dadurch, dass die Lohe, in welche
die von den Haaren befreite Haut gesetzt wird, einen Züsatz von
Vitriol-Oel erhält Spiritus-Sohle wurde sie nur im Anfänge ge¬
nannt, um das Geheimniss zu wahren.
Der Gebrauch der Schwefelsäure ist auf der bekannten Thatsache
der Mitwirkung der Säuren überhaupt .zu einer raschen Verbindung
der Gerbsäure mit dem Faserstoff der Haut begründet, — und in der
That lässt sich die Vitriol-Haut leichter gerben als die Schweissgar-
Haut. Es ist nur schade, dass bei dieser für die Haut gefährlichen
Bearbeitung die Schwefelsäure nicht durch die unschädlichere Salz¬
säure ersetzt wird, oder noch besser durch die Weinsteinsäure oder
die Oxalsäure.
Im äusseren Ansehen unterscheidet sich die Vitriol-Sohle ein
wenig von der Schweissgarsohle; die Narbenseite ist nicht ein¬
farbig, sondern von den verschiedenfarbigen Abdrücken der groben
Rinde gewöhnlich bunt.
Die Wladimir'sche Sohle. Unter diesem populären Namen ist eine
Sohle bekannt, welche von der Gesellschaft der Wladimir'schen
Lederfabrik verfertigt wird, die der Art der Bearbeitung nach
einzig in Russland dasteht und sowohl in Hinsicht ihrer Grösse, als
auch in Hinsicht der Einrichtung sehr bemerkenswerth ist. Das
Eigentümliche der Bearbeitung besteht in Folgendem: die Häute
werden, um das Haar zu entfernen, nach dem System Delbut
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3*4
in sogenannten Schwitzkammern der Wirkung feuc fatwam ier Luft
ausgesetzt, wo sie ausgehängt werden und bei einer Temperatur
von + 20—26° R. 24 bis 36 Stunden verbleiben, bis die Fleisch¬
seite der Haut sich soweit durchwärmt hat, dass sich die Haare
leicht ausziehen lassen.
Das Schwellen der durchwaschenen Häute und die erste Beizung
geschieht durch die Lohe, nach dem System Knoderer, in sich dre¬
henden Fässern, worauf die Häute, nachdem sie die Reihe der
Fässer durchgemacht haben, mit faseriger Lohe bestreut werden.
Man giebt dazu die Lohe von drei oder vier Eichen. Der letzte
Prozess der Verarbeitung besteht entweder in dem Glätten durch
Bronce-Rollen, wenn dieHäute fürs Kriegsministerium bestimmt sind,
oder durch mechanische Hämmer für den Privatverkauf. Die Fabrik
ist im Jahre 1861 gegründet, befindet sich in St. Petersburg (Wassili-
Ostrow, Tschekuschi) und trägt den Namen Wladimir’sche Fabrik
zu Ehren S. K. H. des Grossfürsten Wladimir Alexandrowitsch^ sie
verfügt über eine Dampfmaschine von 23 Pferdekräften, hat 525 Bot¬
tiche für die Brühen und die Gerblohen; 64 sich drehende Fässer
nach ddm System Knoderer (7 Fuss im Durchmesser, 8 Fuss lang);
4 Dampfhämmer zur Verdichtung der Häute, die nach dem System
Swidersky in Leipzig vervollkommnet sind, zwei Br^vaPsche Pressen
zum Trocknen der Lohe für den Heizbedarf, zwei Mühlen nach dem
System Norton und zwei nach dem System Thomson zum Zerreiben
der Faserlohe; vier Trockenöfen nach dem System Krel und Ssobol-
tschikow. Die Fabrik betheiligte sich an der Ausstellung in London
im J. 1874 undproducirt nach den dem Ausstellungs-Komite mitge-
theilten Angaben im Jahre 40,000 Sohlenhäute, 4000 Riemenhäute
und 3000 Bindsohlhäute, im Ganzen für 1,200,000 Rbl. Man ge¬
braucht die lokale Weidenfaserlohe und verbraucht davon im Jahre
gegen 400,000 Pud, durchschnittlich 2 Pud 6 Pfund auf die Haut;
diese Oekonomie im Gerbstoff wird durch die Auslaugung und
den regelrechten Gebrauch der Lohe erlangt. Die Rohhäute sind
entweder tscherkassisch, oder aus Rio-Grande, Buenos-Ayres, oder
Pemambuco. Die Waare kommt in ganzen Stücken und durchschnit¬
ten in den Handel; der äusseren Bearbeitung und den inneren Eigen¬
schaften nach entspricht dies Leder den ausländischen Fabrikaten.
Die Fabrik liefert dem Kriegsministerium für die Armee schon
seit 8 Jahren 400,000 Paar Sohlen jährlich.
Grasnelkensohle . Die Grasnelke ist schon lange bekannt,
wurde aber bis jetzt als ein zu starker und die Haut verzehrender
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3 2 5
Stoff für untauglich zum Gerben gehalten. In den letzten io Jahren
hat sich die Meinung ein wenig geändert; man gebraucht jetzt
die Grasnelke nicht nur in den Fabriken, welche in der Nähe der
Orte, wo diese Wurzel, eine Pflanze aus dem Geschlecht der Sta-
ticeen (Statia tatarica), zu Anden ist, gelegen sind, sondern trans-
portirt dieselbe auch längs der Wolga stromaufwärts bis nach Kasan.
Die Fabrikation unterscheidet sich von der Sch weissgarsohle nur
durch die Benutzung eines anderen Gerbstoffes. Die Grasnelke,
welche zuweilen über i Arschin Höhe erreicht, wird bei den Fabriken
wie gewöhnliches Brennholz aufgestapelt, und braucht wegen der
dicken Rinde nicht vor dem Regen geschützt zu werden. Je nach
dem Bedarf wird sie auf besonderen Maschinen zerchnitten und
dann der Lohe beigemischt. Die Gerbsäure der Grasnelke ist so
stark, dass das Gerben der Häute in 36 Tagen vollendet werden
kann.
In der russischen Abtheilung der Londoner Internationalen Aus¬
stellung im Jahre 1874 befand sich eine mit der Grasnelke gegerbte,
von Hrn. Iljin ausgestellte, Sohle. Die Fabrik des Hm. Iljin in
Rostow am Don verfügt über eine Dampfmaschine von 6 Pferde¬
kräften und producirt jährlich gegen 27,000 Sohlenhäute.
Bindsohlleder . Hierzu werden die weniger grossen Häute ver¬
wandt, da diese Bindsohlleder hauptsächlich zur Fabrikation der
dünnen Damensohlen benutzt werden, wobei weder besondere
Dicke noch Dauerhaftigkeit verlangt wird. Doch kommt es auch
vor, dass zum Bindsohlleder die besten, grossen Häute ausge¬
wählt werden: das ist der Fall, wenn diese Häute zu Ma¬
schinenriemen verarbeitet werden. Umgekehrt werden zum Bind¬
sohlleder auch sehr kleine Kuhhäute benutzt, wenn dasselbe zum
Material für kleine Gegenstände bestimmt ist, wie z. B. Patron¬
taschen, Riemen u. s. w. Der Unterschied dieses Leders vom
Sohlleder besteht darin, dass die rohen oder trocken aufge¬
weichten Häute, nachdem sie natürlich gereinigt sind, der Ope¬
ration des Laugens unterworfen werden, d. h. entweder werden
die Häute, wie in Kasan, in ein Gemisch von Kalkmilch mit Asche
oder in ausgelaugte Asche enthaltende Bottiche gelegt, oder wie in
St. Petersburg in reine Kalkmilch, wo sie bei beständigem Umlegen
so lange bleiben bis die Haare sich frei abzutheilen beginnen. Darauf
wird das Haar auf die gewöhnliche Weise abgepöhlt, die Haut vom
Kalke gereinigt und mit faseriger Lohe bestreut; wenn das Leder
als Sohlenersatz für leichte Fussbekleidung oder für kleine Gegen-
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_326 _
stände bestimmt ist, so werden drei Eichen dazu gegeben und be¬
müht man sich auch die Häute im Froste zu trocknen. Die Fabrik¬
besitzer glauben, dass der Frost die Gerberei der Häute vollende,
wahr ist jedoch, dass das Trocknen im Winter dem Leder eine hel¬
lere Farbe verleiht, die mehr gesucht und geschätzt ist, als dieje¬
nige des im Sommer getrockneten Leders, welches immer eine stark
röthliche Farbe hat; ausserdem ist es nöthig beim Trocknen im
Sommer für die Häute eine vierte Eiche zu verwenden, was direkt
eine unnütze Ausgabe für die Fabrikbesitzer bildet. Das für leichte
Fussbekleidung, Taschen u. s. w. bestimmte Bindsohlleder wird
in leichter Weise mit einem Gemisch von Theer und Fischthran ein¬
geschmiert. Dieses, wie man hinzufügen muss, für die Fabrikanten
sehr vortheilhafte Leder ist für den Verkäufer sehr unvortheilhaft,
da man sich leicht in der Güte desselben trügen kann; nicht gut
durchgegerbtes Leder ist nicht dauerhaft.
Wenn das Bindsohlleder für Maschinenriemen u. s. w. bestimmt ist,
wo die helle Farbe des Leders gar nicht von Nöthen, sondern die in
Wahrheit gute Qualität eines vollkommen lohgaren Leders verlangt
wird, so werden vier ganze und sogar fünf Eichen gegeben. Darauf
wird die Haut gut verdichtet, stark mit Talg gesättigt, in Streifen ge¬
schnitten, und dann in dieser Form zur Verfertigung von Maschinen¬
riemen abgeben, die mit weissgarem Leder durchnäht, oft auch mit
Kupfer vernietet werden.
In der russischen Abtheilung der Londoner Ausstellung vom
Jahre 1874 war das Bindsohlleder durch die Firma Brussnitzin und
Söhne, von welcher wir schon gesprochen, und durch die Fabrik
des Hrn. Behne in St. Petersburg (der auch Schweissgarsohlen aus¬
gestellt) repräsentirt.
Das Bindsohlleder, die Streifen für die Riemen, so wie dieSchweiss-
garsohle waren auf derselben Ausstellung noch von der Fabrik des
Hrn. Hausch in St. Petersburg exponirt, dessen Leder im Handel
eine sehr gute Reputation geniesst. Die Fabrik ist im Jahre 1862
gegründet, sie producirt jährlich gegen35,000Häute im Betrage von
517,000 Rbl. und besitzt 70 Arbeiter (nach den Angaben des Aus-
stellungs-Komites).
Nicht uninteressant sind die Zahlen der verarbeiteten Quantität der
verschiedenen Sorten Sohlenleder; wir geben dieselben für das euro¬
päische Russland, wo sie ziemlich genau bestimmt sind.
Im Jahre 1871 producirte man:
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Kornsohlen.321,660 Häute
Schweissgarsohlen. . 224,014 »
Vitriol-Sohlen .... 60,158 »
Wladimir'sche Sohlen 40,000 •
Bindsohlen.628,065 »
Der Durchschnittswerth des Sohlenleders ist in folgenden Zahlen
ausgedrückt:
im europäischen Russland 5—20 Rbl. pro Haut,
in den Weichselländern . 7—30 » » »
in Finland.40—75 Kop. pro Pfund,
im Kaukasus. 5— 9 Rbl. pro Ochsenhaut,
» .12—15 » pro Büffelhaut,
in Sibirien. 5—14 » pro Haut.
Es ist begreiflich, dass je grösser und schwerer die Haut ist, sie
desto theurer wird, wesshalb man das Sohlleder in grosses Leder —
von 40 und mehr Pfund 1 — in mittleres von 35, und in kleineres —
von 31 Pfund eintheilt
Meist wird es stückweise verkauft, indem man Grösse und Ge¬
wicht in Betracht zieht; an manchen Orten, wie z. B. in Finland
wird es auch zerschnitten pfundweise verkauft.
Weiches Jachten- (oder auch Jnften-) Leder.
Wenn von dem Sohl- und Bindsohlleder Dicke, Dichtigkeit,
Festigkeit, Schwere verlangt wird, so muss das weiche Leder ganz
anderen Anforderungen entsprechen: es muss im Allgemeinen weich,
dehnbar, leicht sein. Diesem Zwecke entsprechen die Häute jun¬
ger Kühe und Kälber verschiedenen Alters, die immer dünner, zarter
und leichter sind, als die Häute alter Ochsen und Kühe der grösse¬
ren Arten. Unter gelten Häuten versteht man die Häute der Kühe,
die schon gekalbt haben; hierher gehören auch die Häute jähriger
Ochsen, welche zum Schlachten bestimmt sind; die jüngeren Kühe
und Ochsen aber, die das Alter der Kälber schon überschritten haben,
geben das sogenannte Rindleder, welches bei der Fabrikation des
weichen Leders den gelten Häuten beigefügt wird. Das aus dem
aufgezahlten Rohmaterial verarbeitete Leder, das Ochsen- und Kalb-
1 Im Handel wird ausser dem Gewichte noch die Länge des Rückgrats in Be¬
tracht gezogen, wobei eine grosse Haut nicht weniger als 2 1 /* 2 */* Arschin, eine
mittlere z'U-z'tt Arschin und eine' kleine 2 —2 1 /* Arschin lang ist.
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leder ausgeschlossen, ist bei uns und im Auslande unter dem tatari¬
schen Namen des gelten Juchtenleders (zum Unterschied von dem
Ross-Juchtenleder) bekannt. Der seit alter Zeit bestehende Ruf dieses
Leders im Auslande, welches schon im XVI. Jahrhundert in einer
Quantität von 100,000 Pud ausgeführt wurde (nach dem Zeugniss
von Kilburder) hängt nicht nur von der hohen Qualität der Haut
ab, sondern vom Geruch des Birkentheers und Fischthrans, wo¬
mit das Juchtenleder getränkt wird.
Für das beste gelte Rohmaterial hält man das sibirische, Perm’sche,
Wjatka’sche und Kasan’sche. In den centralen, aber noch mehr in
den südlichen und Steppen-Gouvernements ist es besonders reich an
Blattern, hervorgebracht durch den Stich der Bremse (Oestrus bori),
welche ihre Eier in den Rücken der Thiere legt, aus welchen sich
die Raupen entwickeln und die dicke Haut durchfressen.
Die Vertheilung der Produktion im europäischen Russland zeigt
folgende Tabelle:
Quantität der Häute: Gouvernements:
von 200 bis 300,000 Häuten Wjatka, Kasan, Perm und Twer,
• 100 » 200,000 » Orel, Moskau, Woronesh, Nishnij-
Nowgorod, Ofenburg und Ssaratow,
» 50 » 100,000 » Kursk, Witebsk, Ufa, St Petersburg,
Ssmolensk und Kostroma,
» 25 » 50,000 » Kaluga,Tschernigow,Wladimir,Char¬
kow, Rjasan, Pskow, Tula, Wolhy¬
nien, Poltawa, Ssamara, Ssimbirsk
und Jarosslaw,
» 10 > 25,000 • Kijew, Tambow, Wologda, Livland,
Minsk und Podolien.
Ein jedes von den übrigen Gouvernements producirt weniger als
10,000 Häute Juchten.
Bei den Juchten wie beim Sohlleder unterscheidet man mehrere
Sorten, doch ist die Fabrikation bei allen dieselbe und der Unter¬
schied besteht nur in der letzten Bearbeitung. Das Charakteristi¬
sche der Fabrikation besteht in Folgendem: die rohen oder aufge¬
weichten Häute kommen entweder in einfache Kalklauge oder in
Aschenlauge, und bleiben in dem Bottich mit der Lauge so lange
bis die Haare sich leicht zu lösen anfangen. Darauf werden die
Haare auf gewöhnliche Weise entfernt und die Häute dann oft wie¬
der in die Bottiche zum Schwellen geworfen; dann werden die Häute
entweder in Messendem Wasser gespült oder in stehendem ge-
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stampft — in Trommeln, Stampfen — und dann zertheilt, d. h, die
Fleischseite wird gereinigt, geglättet und die Narbenseite mit einem
Quaderstein gewalkt, indem die Häute dazwischen immer mit
den Füssen oder der Stampfe gestampft, in den Trommeln ge¬
spült werden u. s. f., um die Asche und den Kalk nach Möglich¬
keit zu entfernen. Durch diese Sorgfältigkeit in der Fabrikation
unterscheidet sich dieses Leder von dem Bindsohlleder, wo sich
der ganze Prozess oft nur auf das Reinigen der Fleischseite und
die Spülung beschränkt. Eine folgende Operation hat dann den
Zweck, den Kalk endgültig fortzuschaffen und die Haut zum erfolg¬
reichen Gerben vorzubereiten; sie besteht darin, dass in einem
sogenannten Mehlbrei-Bottich bei + 20 0 R. ein Brei aus Hafer¬
mehl und warmem Wasser bereitet wird, in welchen die Häute
auf 6 bis 7 Stunden hineingelassen werden, wobei sie beständig um¬
gelegt werden; hier entwickelt sich die Gährung und die Essigsäure
sondert die letzten Kalktheile ab. Dies ist die älteste und allgemein
gebräuchlichste Art, doch giebt es auch Fabriken, welche auf andere
Weise den Kalk herausziehen und die Häute weichen, indem sie
Hundekoth oder Taubenmist (faule Brunnen) anwenden.
Das Gerben der Juchtenhäute beginnt niemals gleich mit dem Be¬
streuen der faserigen Lohe. Diesem Prozess geht die Bearbeitung
mit schwacher Eichenlohe vorher, die gewöhnlich in den freien Loh-
Bottichen vorgenommen wird; in den, in ihrer Einrichtung vervoll-
kommneten Fabriken, deren es bei uns nicht viele giebt, sind Appa¬
rate mit sich drehenden Rührschaufeln eingeführt, mit welchen nicht
nur das vorläufige Gerben ausgeführt wird, sondern auch der ganze
später in das Bestreuen mit faseriger Lohe übergehende Gerbpro¬
zess. Die Methode, die Häute mit Schwefelsäure zü behandeln, die
beim Sohlleder gebräuchlich, ist leider an einigen Orten auch
in die Juchtenfabrikation eingedrungen, und hat in der Regel so
schlechte Folgen, dass im Juchtenleder beim Liegen jede Verbin¬
dung zwischen den einzelnen Fasern aufhört und es seine Festigkeit
verliert. Die gegerbte Haut wird, nachdem sie gewaschen ist, als
weisses, rothes und schwarzes Juchtenleder sortirt.
Weisse Juchten. Hierzu werden die besten Häute mit möglichst we¬
nigen Fehlern an Fleisch- und Narbenseite (d. h. mit der kleinsten
Zahl von Blattern, Einschnitten u. s. w.) ausgewählt; sowohl aus
dem Grunde, weil durch das Fehlen der Farbe alle Fehler der Nar¬
benseite sichtbarer sind, als auch daher, weil dies Leder hauptsäch-
Rntf. Berne. Bd. VU. 22
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_ 33 ° _
lieh zur Fussbekleidung der Armee verwandt wird, wo solche Fehler
bei der Entgegennahme des Leders nur mit grossen Einschränkungen
zugelassen werden. Die Bearbeitung des weissen Juchtenleders nach
dem Gerbprozess besteht darin, dass die Fleischseite der Häute mit
Birkentheer und Seehundsthran eingeschmiert wird und darauf die
Häute getrocknet werden.
Das rothe Juchtenleder wird auf dieselbe Weise bearbeitet} es wird
jedoch, nachdem es trocken geworden ist, mit einer Auflösung von
Quassia bestrichen und an der Narbenseite mit rothem Sandelholz
gefärbt.
Bei dem schwarzen Juchtenleder werden nach dem Gerbprozess
die gewaschenen, aber noch nicht getrockneten und mit fettigen
Substanzen bestrichenen Häute an der Narbenseite mit einer Auflö¬
sung von Quassia, dann mit einer fast kochenden Auflösung blauen
Sandelholzes und darauf, zur Festigung der Farbe, mit einer Auflö¬
sung von Eisenvitriol übergossen. Doch vermeiden viele Fabriken
diese gefährliche Festigung und gebrauchen einen Aufguss von
Kwas mit gerostetem Eisen, d. h. essigsaures Eisenoxyd. Die ge¬
färbten Häute werden auf der Fleischseite sogleich nach der Fär¬
bung mit einem Gemisch von Birkentheer und Seehundsthran be¬
strichen, im Verhältniss von l /a Pfunde des einen und des anderen pro
Haut; wenn jedoch das sogenannte Theerleder verfertigt wird, dann
mit einem Gemisch von je i Pfund Theer und Thran. Die bestriche¬
nen Häute werden dann getrocknet.
Die letzte Bearbeitung der eben aufgezählten Juchten-Sorten ist fast
überall dieselbe und enthält eine lange Reihe von Manipulationen,
welche nur in Einzelnheiten von einander abweichen, und namentlich
nur in der letzten Form, die vom Handel und zum Theil von lokalen
Gebräuchen bedingt wird. Das Ziel dieser Manipulationen ist, das
Leder weich und egal zu machen, und kann auf folgende Vorgänge
zurückgeführt werden: Nachdem die Häute getrocknet sind, werden
sie mit Wasser benetzt, damit sie weicher und zur Bearbeitung
geeigneter werden, und dann auf einer stumpfen Reckbank gewalkt.
Das ist die erste Manipulation der Erweichung, darauf werden die
Häute mit einem Hobel behobelt, wobei die unnütze Dicke der
Haut abgenommen wird, und dann auf einer scharfen Reckbank
gewalkt. Diese zwei Operationen wechseln wiederholt mit einan¬
der ab, bis die Haut sich egalisirt und so weich wird, dass man ihr
die letzte gewünschte Form geben kann, was durch walzen mit-
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telst Krispelholz erreicht wird, durch das Glätten der Narben¬
seite mit Glas, Stein oder Eisen, wobei die Narbenseite je nach
Wunsch grob oder fein chagrinartig erscheint, oder erbsenartig, oder
gekerbt mit sich deutlich kreuzenden Linien, oder mehr oder weni¬
ger glatt und glänzend. Nach Beendigung der Schlussoperation
werden die Häute gewöhnlich leicht mit Seehundsthran oder Talg
eingeschmiert, mit Ausnahme des Sattelleders. Das schwarze Theer-
leder wird an der Narbenseite stark mit einem Gemisch von Theer
und Fett eingeschmiert.
Ueberhaupt muss man beachten, dass die Häute, welche stück¬
weise in den Handel gebracht werden, nur mässig mit Fett gesättigt
und gut gehobelt werden; wenn sie jedoch nach Gewicht vericauft
werden, so werden sie zur Vergrösserung desselben stark mit Fett
getränkt und wenig gehobelt.
Die weissen Juchten sind, wie oben erwähnt, hauptsächlich für die
Fussbekleidung der Armee bestimmt; an der Narbenseite glatt wird
diese Sorte in den sibirischen und uralischen Fabriken bearbeitet;
fein chagrinirt in den Gouvernements Kasan, Wjatka, Perm; grob
chagrinirt im centralen Russland. Ausserdem werden die weissen Juch¬
ten zu Patrontaschen verwandt, zu lackirten Helmen, zu verschieden
geformten Riemen für die Armee, zu den Satteldecken bei der Kaval¬
lerie, zum Pferdegeschirr, zu Koffern und zu vielen anderen Zwecken;
sie werden auch von den Lackfabriken zur Herstellung einer Reihe
verschiedenartiger lackirter Leder (für die Equipagen) gekauft; die
dünne, abgetheilte, gewöhnlich gefärbte Schicht wird aber von den
Buchbindern benutzt, ferner als Hut- und Mützenfutter u. s. f., und
sogar als leichte Fussbekleidung.
Das rothe Juchtenleder, gewöhnlich chagrinirt, wird meist zu ver¬
schiedenen Zwecken nach Asien verschickt, zu Kavallerie-Riemen
verwandt, in bedeutender Menge ins westliche Europa ausgeführt,
wo verschiedene kleine Gegenstände daraus verfertigt werden, durch
welche namentlich Wien berühmt ist. Der eigenthümliche Geruch
des Juchtenleders stammt aus derMischungvonBirkentheerund Fisch-
thran, womit, wie oben erwähnt, dasselbe eingeschmiert wird.
Die schwarzen Juchten werden entweder geglättet und dann
für Pferdegeschirre, Koffer, für Equipagen u. s. w. verwandt,
oder mit grob chagrinirter Narbenseite herstellt, und dienen dann
zu denselben Zwecken, mehr aber noch der niederen männlichen
und weiblichen Bevölkerung zur Fussbekleidung, oder sie gehen mit
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sich kreuzenden parallelen Linien auf der Narbenseite wesentlich in
den asiatischen Handel.
Auf der Londoner Internationalen Ausstellung des Jahres 1874
nahmen mehrere Repräsentanten der verschiedenen Sorten Juchten¬
leders Theil; der erste Platz gebührt unstreitig der Firma S. E. Ale-
xandrow und J. J. Alafusow in Kasan. Die Gründung der Fabrik
ist im Anfang dieses Jahrhunderts vor sich gegangen; sie gehörte
damals P. J. Kotelow, der Saffianleder aus Ziegenhäuten verarbei-
beitete, für welches einst der Kjachta’sche Thee in so bedeutendem
Grade eingetauscht wurde. Im Jahre 1840, als der Handel mit China
zu sinken anfing, begann die Fabrik die Produktion von Juchten und
Sohlen. Im Jahre 1858 ging sie in die Hände einer Aktiengesell¬
schaft, unter der Firma «Gesellschaft der Kasan’sehen Lederfabriken»
über, im Jahre 1861 aber erwarb sie Alafusow, der Repräsentant
der jetzigen Firma. Im Verlauf dieser langen Zeit hat sich die Fabrik
immer mehr und mehr ausgebreitet, und ist von ihrem jetzigen Be¬
sitzer zu bedeutender Grösse und zu bemerkenswerther technischer
Vollkommenheit hinaufgehoben worden. Sie verfügt über Dampf¬
maschinen von 45 Pferdekräften, wird mit Dampf gehetzt, besitzt
eine Gasanstalt und ein ganzes Netz von Wasser zuführendenRöhren,
485 Bottiche zum Laugen und Gerben und 60 Färbefässer mit sich
drehenden Mechanismen, 12 zum Spülen bestimmte mechanische
Trommeln. Sie besitzt die neuesten Maschinen zum Recken, Ho¬
beln und hydraulische Pressen. Zum Zerreiben der faserigen Lohe
und der Steinnelke existiren Schneide- und Stampfmaschinen,
ferner Apparate zum Färben und zur Zubereitung der Fette zum
Schmieren, Dampftrockenböden und eine, mechanische Woll-
wäsche.
Wir glauben behaupten zu können, dass das Etablissement von
Alafusow seiner Einrichtung nach, in Hinsicht der Bearbeitung des
Juchtenleders, eine Konkurrenz mit ähnlichen Fabriken Europa’s
ehrenvoll bestehen kann; es giebt keine Vervollkommnung in mecha¬
nischer Hinsicht, welche auf dieser Fabrik nicht angewandt wurde,
welche an der Grenzscheide zwischen Europa und Asien steht,
wohin sogar der einfache Transport der Maschinen mit so grossen
Schwierigkeiten und so enormen Geldunkosten verbunden ist. Bestän¬
dige Arbeiter hat die Fabrik gegen 400 Mann, temporäre gegen 150.
Dip Fabrik verarbeitet nach den Angaben des Londoner Ausstel-
lungs-Komites für das Jahr 1873 gegen 150,000 Juchtenhäute, gegen
’S
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333
30,000 Häute verschiedener geringer Sorten und gegen 5,000 Soh¬
lenhäute, im Ganzen 185,000 Häute. Das Rohmaterial wird auf den
lokalen Märkten und in den benachbarten Gouvernements gekauft
und auf Flössen auf der Wolga aus den Gouvernements Ssaratow,
Astrachan und aus dem Kaukasus herbeigeschafft. Frische Roh¬
häute und gefrorene gelangen nur in geringer Zahl, nicht mehr als
'/io der ganzen Menge, auf die Fabrik, die übrigen werden ge¬
trocknet und gesalzen gekauft. Jährlich werden 180,000 bis 220,000
Stück Weiden- und Eichenlohe und andere verschiedene Sorten
verbraucht; 5000 bis 8000 Pud Grasnelken und gegen 4000 Pud
Sandbeere. Die Grasnelke und die Sandbeere werden zum Ver¬
stärken der Lohe gebraucht. Die Juchtenhäute werden 4—5 Monate
gegerbt, das Bindsohlleder 5—7 Monate, das Sohlleder 10—14
Monate. Niederlagen besitzt die Fabrik ausser in Kasan noch in
St. Petersburg, Moskau, Rostow am Don, in Odessa und im Kau¬
kasus. Das rothe Juchtenleder geht über St. Petersburg nach Deutsch¬
land, Oesterreich und Italien, über Asow in die Türkei, Aegypten
und Persien. Der jährliche Produktionswerth beträgt 1,350,000 Rbl.
Bei der Fabrik existiren Wohnungen für die Arbeiter, gemeinsamer
Mittagstisch und eine Schule.
Auf derselben Internationalen Ausstellung im Jahre 1874 hatte
das rothe Juchtenleder noch einen anderen Repräsentanten, den älte¬
sten Producenten, Hrn. Ssawin, dessen Fabrik sich in der Stadt
Ostaschkow im Twerschen Gouvernement befindet. Aus den Mitthei¬
lungen des Ausstejlungs-Komites erfahren wir, dass diese Fabrik
im Jahre 1750, also vor 125 Jahren gegründet ist, sie verarbeitet
jährlich gegen 200,000 Häute. Sie verfügt über Dampfmaschinen
von 120 Pferdekräften, 100 Bottiche zum Laugen, 15 Trommeln zum
Waschen und 400 Bottiche zum Gerben, eine Maschine zum Zer¬
reiben der Rinde und hydraulische Pressen zum Trocknen der Lohe
zum Zweck der Heizung. Gerbmaterial verbraucht sie jährlich
gegen 250,000 Pud. Arbeiter besitzt sie 700, sowie* ein Hospital und
eine Schule.
Die Vertheilung der verschiedenen Juchtensorten im europäischen
Russland ergiebt sich aus folgender Tabelle:
Juchten, weisse . . . 922,284 Häute
» schwarze . . 1,457,959 9
» rothe . n . . 229,455 »
» gelte. *
» lackirte . . . 27,000 »
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334
Die folgende Tabelle enthält die Produktionsthätigkeit in den ein-
zelnen Gouvernements:
Quantität: Gouvernements:
280,000 Häute Juchten Wjatka,
250,000 »
150 bis 200,000 »
100 » 150,000 »
50 » 100,000 »
25 » 50,000 »
10 » 25,000 »
Kasan und Perm,
Twer und Orel,
Nishnij-Nowgorod, Orenburg, Ssara-
tow und Woronesh,
Witebsk, Kostroma, Kursk, Moskau,
Pensa, St. Petersburg und Ufa,
Wladimir, Wolhynien, Kaluga, Pol-
tawa, Pskow, Rjasan, Ssimbirsk, Tula,
Charkow, Tschernigow und Jarosslaw,
Wologda, Kijew, Livland, Podolien,
Ssamara und Tambow.
Ein jedes von den übrigen Gouvernements producirt weniger als
10,000 Häute jährlich.
Den Preis des Juchtenleders zeigt folgende Uebersicht:
im europäischen Russland von 4 bis 12 Rbl. pro Haut,
in den Weichselländern . » 5 » 12 » » •
in Finland. » 30 bis 75 Kop. pro Pfund,
im Kaukasus. » 4 » 11 Rbl. pro Haut,
in Sibirien. » 4*7» » »
Wie man sieht, ist der Unterschied zwischen dem niedrigsten und
höchsten Preise für ein und denselben Landstrich ziemlich be¬
deutend; das hängt wesentlich von der Qualität und der Färbung ab.
Der Preis einer jeden Juchtensorte richtet sich nach Grösse und
Gewicht. Beispielsweise waren für weisse Juchten in St Petersburg
die Preise in der letzten Zeit folgende: das dreihäutige Juchtenleder,
d. h. 3 Häute auf 1 Pud, kostet 28 Rbl. pro Pud, oder 8 Rbl
83®/4 Kop. pro Haut; die Länge des Rückgrats beträgt hierbei
2*/i — 3 Arschin. Das mittlere vierhäutige Juchtenleder, 4 Häute
auf 1 Pud, kostet 26 Rbl. (6 Rbl. 9V2 Kop. pro Haut); das Mass
beträgt 2 l l %— 2 1 /* Arschin. Feines Juchtenleder, fünfhäutig (5
Häute auf 1 Pud), kostet auch 26 Rbl. pro Pud (5 Rbl. 20 Kop.
335
Ochsen- nnd Kalbleder.
Unter Ochsen- oder Jährlingsleder versteht man das Leder
einjähriger Kälber, unter Kalbleder aber das Leder junger Kälber.
Die Produktionsart ist dieselbe wie beim Juchtenleder, nur dass in
den Gerbbottich statt 70—80 Juchtenhäute, 100— 200 Kalbhäute
gelegt werden, selbstverständlich geht auch der Gerbprozess rascher
vor sich. Es wird, wie beim Juchtenleder, weisses, schwarzes und, wenn
auch selten, rothes Jährlings- und Kalbleder verarbeitet Die Narben¬
seite ist gewöhnlich nach der Verarbeitung glatt, zuweilen aber auch
chagrinirt und lackirt.
Es wurden 246,346 Jährlingshäute und 1,055,068 Kalbhäute pro-
ducirt.
Die einzelnen Gouvernements verarbeiten:
Quantität: Gouvernements:
330,000 Häute St Petersburg,
160,000 » Moskau,
50 bis 100,000 » Witebsk, Kasan, Nishnij-Nowgorod und Twer,
25 « 50,000 » Orel, Perm, Ssimbirsk, Ssmolensk, Wjatka,
Kostroma und Tula,
10 • 25,000 » Wladimir, Kaluga, Kijew, Kursk, Nowgorod,
Pskow, Tambow, Tschernigow und Estland,
5 9 10,000 » Ssaratow, Rjasan, Podolien, Wologda, Woro-
nesh, Grodno und Kurland.
Ein jedes von den übrigen Gouvernements producirt weniger als
5,000 Häute jährlich.
Der Preis des Jährlings- und Kalbleders ist:
Jährlingsleder Kalbleder
Rbl. Kop. Rbl. Rbl. Kop. Rbl. K.
im europäischen Russland von — 90 bis 6 von — 40 bis 3 —
in den Weichselländem . • 2 40 > 5 • — 75 » 3 —
in Finland. »-» — » — 50» 3 —
im Kaukasus. » 2 — »4 9 — 80» 225
in Sibirien. » 3 — » 4 » 1 — » 350
Als Beispiel für das Jährlingsleder führen wir folgende Preise im
Gouvernement Ssmolensk an: bei derselben Grösse der Haut kostet
rothes Jährlingsleder 2 Rbl. 80 Kop., weisses 1 Rbl. 85 Kop.,
schwarzes 1 Rbl., Seitenfutter in Stiefeln (die schlechteste Sorte)
90 Kopeken.
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33 $
Bossleder»
Die Häute grosser Hengste werden als Sohlleder (Rosssohle)
verarbeitet, bei welchen die hinteren Schenkeltheile sehr dicht und
fest erscheinen, so dass sie der Bestimmung deß Sohlleders voll¬
kommen entsprechen. Die Häute der weniger starken Pferde liefern
die sogenannten schwarzen und weissen Rossjuchten (im Königreich
Polen Hamburger Juchtenleder genannt), welches in der Anwendung
mit dem gelten Juchtenleder konkurrirt, jedoch immer weniger hoch
geschätzt wird (bis zu i Rbl. pro Haut). Die rohe Rosshaut wird
auch zu Bindsohlleder und in der Weissgerberei verwandt. Die
Haut der Füllen giebt auch eine Art Jährlings- und Kalbleder ab. Die
Fabrikation des Rossleders ist dieselbe wie die der vorgenannten
Sorten von Hornvieh.
Die Produktion vertheilt sich im europäischen Russland folgender-
massen;
80 bis 90,000 Häute Woronesh, Nishnij-Nowgorod und Twer,
50,000 » Orel,
25 » 50,000 » Kursk nnd Ssaratow,
10 * 25,000 • Witebsk, Wjatka, Jekaterinosslaw, Orenburg,
Perm, Ssmolensk, Ufa, Charkow und Tscher-
nigow.
5 » 10,000 » Kasan, Kijew, Kostroma, Moskau, Poltawa,
Tambow und Jarosslaw.
Ein jedes von den übrigen Gouvernements pfoducirt weniger als
5,000 Häute jährlich.
Preis des Rossleders:
Füllenleder
Juchtenleder
Rosssohlleder
Rbl. Rbl.
Rbl. Kop.
Rbl. Rbl. Rbl.
im europ. Russland
von 1 bis 3
von 3 —bis
6 von 6 bis 8
in den Weichselländ.
—
* 3 50 *
II —
in Finland.
—
* 5 — *
6 —
in Sibirien.
—
» 2 50»
5 —
Bock- und Hammelleder.
Bock- (und Ziegen-) Häute, so wie Hammel- (und Schaf-) Häute
dienen als Rohmaterial für die verschiedensten Lederfabrikate. Der
Praxis folgend theilen wir sie in folgende Sorten: 1. Saffian aus
Ziegenhäuten für Kjachta, 2. gewöhnliches Saffianleder, 3. ge-
337
gerbtes Schafleder. Rohe Lammhäute werden auch zu Hand¬
schuhleder, zu Sämischleder und Schafleder verarbeitet, doch
fehlen uns leider darüber genauere Mittheilungen.
i) Saffian aus Ziegenleder für Kjachta. Dieses einst «ausländi¬
sches* genannte Leder wurde in grosser Menge gleich dem Miseritz-
kischen Tuch gegen Thee in Kjachta eingetauscht. Aber seit die
Chinesen das russische Silber und Gold kennen gelernt haben und
der Thee in grosser Menge zur See nach Russland importirt wird,
ist die Fabrikation dieses Leders bedeutend gefallen. Die Nachfrage
nach dem glatten Ziegensaffian hat sich im Innern Russlands, wo er
zur Fussbekleidung verwandt wird, in bedeutenderem Grade erhalten.
Da die Ziegenhäute, namentlich der grösseren Böcke und Ziegen,
sehr stark sind, so werden sie der stärksten Lauge unterworfen, um
die Haare zu entfernen; dazu nimmt man die beste Sorte ausgelaug¬
ter Ulmen- und Espenasche, übergiesst sie mit heissem Wasser,
fügt dann verhältnissmässig wenig frisch gelöschten Kalk hinzu, und
mit dieser Lauge werden die Felle übergossen, nachdem sie im Bot¬
tich mit der Fleischseite nach oben sorgfältig ausgebreitet worden
sind. Nach einigen Tagen beginnen die Haare abzufallen und dann
folgen die gewöhnlichen Operationen, das Abpöhlen der Haare, die
Beschneidung der fleischigen Theile, u. s. w. Dies Alles wird im
Wechsel mit sorgfältigem Spülen und Stampfen der Häute ausge¬
führt. Nach dem Spülen kommt das Schwellen der Häute, welches
in einer warmen Auflösung von Hundekoth vor sich geht und grös¬
sere Aufmerksamkeit fordert, sowohl in der Bereitung der Auflösung,
in der keine Stücke enthalten sein müssen, als auch in dessen Be¬
nutzung. Die geschwollene Haut erhält eine bemerkenswerthe Zart¬
heit, Dehnbarkeit, und dann wird sie im Wasser von gewöhnlicher
Temperatur abgekühlt, von wo sie dann in Wasser mit thauendem
Eis umgelegt wird. Damit wird das Schwellen des Ziegenhäute be¬
schlossen.
Das Gerben der Häute geht auf folgende Art vor sich: eine jede
Haut, mit der Narbenseite nach aussen, wird in der Form eines
Sackes zusammengenäht; durch eine frei gelassene Oefinung wird
der Gerbstoff in denselben hineingeschüttet, zur Hälfte aus Sandbee¬
ren und feinster Weidenlohe bestehend, darauf wird Eichenlohbrühe
hineingegossen, die Oeffnung zugebunden und die Häute in grosse
mit demselben Gerbstoff gefüllte Gefässe gelegt (wobei oft noch Eis
zugelegt wird). Die in die Säcke gefüllte Lohbrühe sickert durch
die dicke Haut hindurch; die Säcke müssen mehrere Mal von Neuem
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ii »
gefüllt (iö bis 20 Mal) und, je nach Bedarf, auch Gerbstoff beigefügt
werden. Die Felle werden sehr rasch gegerbt und in einigen Tagen
der ganze Prozess zu Ende geführt, worauf die Säcke wieder aufge¬
trennt werden und der Gerbstoff abgespült wird.
Die gegerbten Häute werden mit einem Aufguss von rothem San¬
delholz, eine jede Haut einzeln, gefärbt; die Haut wird mit der Nar¬
benseite nach oben gelegt] und zu einer Rolle zusammengedreht,
dann wird in den Trog der Aufguss von Sandelholz hineingegossen
+45 bis6o°R., so dass daran gewöhnte Hände es kaum aushalten kön¬
nen. Die Haut wird in der Färbe auseinander und zusammengedreht;
diese Operation nimmt man drei Mal vor, und giesst beim letz¬
ten Mal Eisenvitriol zu. Die gefärbten Häute werden getrocknet
und zur letzten Bearbeitung übergeben, d. h. sie werden geknetet,
geglättet und ihnen die letzte Form gegeben, d. h. entweder die
kreuzweise Reifung des Maroquins für die Chinesen, oder die glatte,
glänzende Oberfläche, wie man dieselbe in Russland hochschätzt.
Der Ziegensaffian wird an der Narbenseite mit Leinöl bestrichen,
an der Fleischseite aber mit Kreide belegt.
2) Gewöhnliches Saffianleder wird grösstentheils aus Hammel- und
Schafhäuten, vornehmlich von Merino-Schafen, gearbeitet. Das
Charakteristische der Fabrikation besteht darin, dass von den auf¬
geweichten Häuten die Haare durch Erhitzen in Badstuben entfernt
werden, wo, wie in den Schwitzkammern der Wladimir’schen Fabrik,
die Fleischseite sich so weit lockert, dass die Haare frei abgehen;
dann werden sie auf gewöhnliche Weise abgepöhlt. Auf einigen Fa¬
briken wird das Haar, um es besser zu erhalten, durch Bestreichen
mit Schwefel-Arsen an der Fleischseite entfernt. Für die niedrigeren
Sorten des Saffianleders, welche keine helle Färbung verlangen,
wird das Haar durch die Wirkung des Kalkes entfernt, entweder
durch Kalk allein, oder mit Asche, ganz so wie beim Kalb- und
Juchtenleder. Das Saffianleder wird in Buchen geschwellt und zu¬
erst durch Begiessen, dann durch Beschütten, wie weiches Leder
gegerbt; darauf wird es gefärbt und an der Narbenseite bearbeitet.
Die Fabrikation der farbigen Saffiane kann bei uns nicht mit
Deutschland und Frankreich wegen des Mangels an Kenntnissen
in der Färbekunst konkurriren; nichtsdestoweniger bestehen viele
Fabriken, und unter ihnen sehr bedeutende. Als Repräsentant dieses
Zweiges gilt bei uns die Fabrik A. Bachruschin, welche über Dampf¬
maschinen von 14 Pferdekräften, Maschinen zum Zerreiben der
Rinde, zum Zersägen der Häute, über Wasserpumpen und Maschi-
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339
nen für die Wäsche der Wolle etc. verfügt. Diese Fabrik bietet ein
interessantes Beispiel der Verbindung von Leder- und Tuchfabrika¬
tion: in dem einen Flügel des Gebäudes sind in der unteren Etage
die Maschinen zur Verarbeitung des Leders, in der oberen Etage die
Webstühle und Spinnstuben zur Herstellung des Tuchs. Der Preis
des Letzteren ist I Rbl. 50 Kop. bis 2 Rbl. 50 Kop, pro Arschin
und wird von den Käufern sehr geschätzt, weil die Rohhäute beim
Entfernen der Haare nicht mit Kalk bearbeitet werden, der das
Haar stark verdirbt. Die Fabrik liefert auch Sohl- und Juchtenleder.
3) Schafleder aus Häuten von Merino- und gewöhnlichen Scha¬
fen wird eben so bearbeitet wie das feine gelte Leder, d. h. die Felle
werden mit Kalk gelaugt, wodurch das abgepöhlte Haar aber seine
Güte verliert. In dem Dorfe Klintzy, im Ssurash’schen Kreis des Gou¬
vernements Tschernigow, werden jährlich über 350,000 Häute von
Merino-Schafen verarbeitet; die Wolle kommt dann auf die Tuch¬
fabriken in Klintzy, deren Tuch, wenn auch nicht immer so doch
sehr oft, durch den Einfluss des Kalkes während des Laugens der
Häute sich durch seine schlechte Qualität auszeichnet.
4) Hammelleder , aus Hammelfellen ohne Entfernung der Haare
bearbeitet, wird zu Pelzen, Fellmützen, Fellkragen u. s. w. benutzt.
Man theilt es nach der Gattung der Schafe, sowie nach der Art der
Bearbeitung in verschiedene Sorten; die billigste ist das unge-
gerbte Leder in saurer Verarbeitung; höher steht das Hammelleder,
welches mit Eichensaft bestrichen wird, und noch höher das ge¬
gerbte (lohgare) Hammelleder, welches in den Bottichen verarbeitet
worden ist; besonders guten Ruf haben unsere Lammfelle und die
Romanow’schen Schafpelze.
Die Vertheilung aller aufgezählten Arten zusammengenommen
ergiebt sich im europäischen Russland aus folgender Tabelle:
Quantität der Häute:
Gouvernements:
1,062,600 Häute
Moskau,
388,460 »
Tschernigow,
264,105 »
Kasan,
147,300 »
Nishnij-Nowgorod,
25 bis 50,000 »
Wjatka, Orel und St. Petersburg,
20 » 25,000 *
Kijew und Kursk,
10 » 20,000 >
Tambow,
5 » 10,000 *
Wolhynien, Kurland, Podolien, Pskow
und Ssaratow,
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340
rbis 5,000 Häute Wilna, Witebsk, Kowno, Kostroma,
Orenburg, Perm, Ssimbirsk, Twer,
Chersson und Jarosslaw.
Die übrigen Gouvernements produciren weniger als 5000 Häute.
Die Preise sind:
im eorop.Russland
in d. Weichselländ.
in Fiiil and.
im Kaukasus . . .
n Sibirien.
Ziegenleder
Saffianleder
Hammelleder
Schafleder
,R.
K.
R.
K.R.
K.
R. K. R. K.
R.
K.jB. K.
R. K.
I
20 bis
3
-
—
80 bis
I 50 — 40 bis
1
—,— 60 bis
1 —
I
20 •
2
-
1
50 »
2 —' — 30 »
1
-- 40 .
— 90
I
— »
1
50
—
50 »
- 75 —50 •
—
75 ,— 50 *
- 75
—
75 •
2
50
—
70 »
1 50'- 40 »
—
60!— 60 .
1 10
I
— »
3
—
—
—
- 1 - 70 »
1
7 °j-
—
Ungegerbtes Leder.
Das Handschuh- und feine Sämisch-Leder, welches in Russland
verarbeitet wird, erreicht nicht jene Höhe der Entwickelung, auf wel¬
cher es sich bei Vervollkommnung in technischer Einrichtung befin¬
den könnte; die Hauptmenge des zu Handschuhen verwandten Le¬
ders wird aus dem Auslande importirt, wohin umgekehrt unser Roh¬
material ausgeführt wird.
Das Sämisch-Leder, welches zu Militär-Handschuhen, Bandagen,
Matratzen etc. verwandt wird, ist aus Elen- und Rennthierhäuten
verarbeitet und von sehr guter Qualität.
Weissgares Leder.
Weissgares Komleder , das älteste und verbreitetste in Russland,
unterscheidet sich dadurch in der Fabrikation, dass die rohen Häute
der Wirkung einer warmen Brühe aus Roggenmehl und Salz so lange
unterworfen werden, bis das Haar sich zu lösen anfangt; dann wird
dieses Haar abgepöhlt und die von den Haaren gereinigte (gelte, Ross¬
oder andere) Haut auf ungefähr zwei Wochen wieder der Wirkung
derselben Brühe unterworfen, indem Quassia beigefügt wird; darauf
werden die Häute getrocknet, mit Hülfe des flüssigen Komsaftes
(aus derselben Brühe) angefeuchtet, mit einem Gemisch von See¬
hunds- oder Fischthran mit Theer, zuweilen mit Fastenöl, be¬
strichen und endlich getrocknet.
Nach dieser Operation wird die Haut entweder zwischen zwei
vertikalen Messern gehobelt, wodurch sie als ganzes weissgares
Rindleder in den Handel kommt, oder sie wird in Riemen zer-
V
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34i
schnitten, und dann ein jeder Riemen mit einem scharfen Messer
an der Fleisch- sowie an der Narbenseite behobelt. Es ist begreiflich,
dass das Leder in dieser Form höher geschätzt wird.
Ueberhaupt wird das weissgare Kornleder, obgleich es sehr ver¬
breitet ist, der Güte nach als gewöhnliches L„eder geschätzt.
Deutsches weissgares Leder , seit Peter dem Grossen bei uns einge¬
führt, unterscheidet sich von Ersterem dadurch, dass die rohen
Häute, um die Haare zu entfernen, mit Kalk bearbeitet, nach dem
Abpöhlen der Haare mit Quassia getränkt und getrocknet, dann
feucht gemacht, mit Fischthran und Talg bestrichen und darauf,
wie oben erwähnt, behobelt oder in Riemen zerschnitten werden.
Diese Sorte des weissgaren Leders ist dem äusseren Ansehen nach
schwer vom Kornleder zu unterscheiden, wird aber von den Kennern
weniger geschätzt.
Geschabtes weissgares Leder wird, was Dauerhaftigkeit betrifft, für
die beste Sorte gehalten; unterscheidetsichin derFabrikation dadurch,
dass die rohen, frischen oder gut aufgeweichten Häute garnicht
weiter verarbeitet werden, sondern die Haare mit Hülfe besonderer
stumpfer Schabeisen gleich abgepöhltr werden. Die weitere Bear¬
beitung ist dieselbe wie früher. Sie werden mit einem Gemisch von
*/a Pfund Seehundsfett und i Pfund geschmolzenen Fleischfettes
bestrichen.
Kalmückisches weissgares Leder gilt in Russland als das vorzüg¬
lichste, besonders für Riemen und übertrifft alle anderen Sorten
(Weissgarleders) an Festigkeit.
Das Eigenthümliche der Fabrikation besteht darin, dass man die
Haut ohne jede vorläufige Bearbeitung mit den Haaren in Riemen
schneidet, und darauf mit einem scharfen Messer die Haare von der
Narbenseite abschabt, ebenso die Fleischseite. Darauf werden die
zerschnittenen Riemen stark mit reinem Talg oder mit Beifügung
vonFischthran gesättigt, drei und mehr Riemen zusammen gedreht, an
einem Haken aufgehängt und unten mit Lasten beschwert. Die
Riemen dehnen sich aus, drehen sich mehr zusammen oder drehen
sich los, je nach der Schwere der Last, d. h. sie federn sich, wie der
technische Ausdruck lautet, wenn nöthig, wird die Fettsättigung
wiederholt. Aus den breiten Riemen werden dann schmale von
bemerkenswerther Festigkeit verfertigt. Diese Art weissgaren Leders
ist die theuerste und geachtetste in Russland; daraus werden die
kleinen Riemchen verarbeitet, durch welche sich das Pferdegeschirr
der eigenen Eskorte Sr. Majestät des Kaisers ausgezeichnet.
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342
Alle diese Sorten weissgaren, in Russland verfertigten Leders,
waren auf der Internationalen Londoner Ausstellung des Jahres 1874
von dem bedeutensten Fabrikanten dieses Leders G. P. Kurikow in
St. Petersburg exponirt. Die Fabrik des Hm. Kurikow producirt
nicht nur v/eissgares ^eder, sondern auch Bindsohlleder, Kalb-
und Sämisch-Leder; aus den Lederüberresten wird Leim verarbei¬
tet. Bei der Fabrik existiren grosse Werkstätten für Sattel- und
Pferdegeschirrbearbeitung, so wie tür Ammunitions-Gegenstände und
Gegenstände für Hospitäler. Der Jahresumsatz der Fabrik erreicht ge¬
gen 900,000 Rbl. Bei der Fabrik bestehen Tischler- und Drechsler¬
werkstätten, eine Giesserei, eine Schmiede und eine Schlosser-
Werkstatt; auf derselben sind gegen 700 Arbeiter beschäftigt.
Uebersicht der Lederfabrikation in Russland nach den GouVernements.
Nach den Daten der Haupt-Intendantur aus dem Jahre 1871 zusammengestellt.
Gouvernements
U ß
• 3.8
1-s
N £
Zahl der
verarbeite¬
ten Häute
Produk¬
tionswerth
in Rubeln
Gouvernements
Zahl der
Fabriken ^
1
Zahl der
verarbeite¬
ten Häute
Produk¬
tionswerth
in Rubeln
Europäisches
Mohilew . . .
20
12,672
54,920
Russland .
Moskau. . . .
45
1,438,010
3,396,795
Archangel . .
75
15.776
81,674
Nishnij-Now-
Astrachan . .
12
7.480
42,501
gorod . . .
*47.
447,520
981,960
Bessarabien .
7
2,000
14,050
Nowgorod . .
60
35,824
* 7*,733
Wilna ....
28
11,158
70,704
Olonez ....
163
13,622
57,*86
Witebsk . . .
75
193,516
839,029
Orenburg. . .
20
141,800
1,170,500
Wladimir. . .
28
69,750
446,140
Orel.
96
3*5,610
1,947,101
Wologda. . .
17
35,250
240,800
Pensa.
69
23,444
526,092
Wolhynien . .
162
91,149
548,564
Perm.
353
355,208
*,865,390
Woronesh . .
7457
259,189
*,514,5*3
St. Petersburg
IO7
648,461
4,475,027
Wjatka. . . .
201
409,343
1,980,736
Podolien . . .
**5
43.522
253 , 9*5
Grodno. . . .
65
19,556
94,754
Poltawa. . . .
405
53,450
448,375
Jekaterinoslaw
14
57,000
661,500
Pskow ....
39
74,005
385,780
Kasan ....
89
644,945
2,464,965
Rjasan ....
30
110,680
855,2öS
Kaluga ....
50
121,505
967,342
Ssamara . . .
5 »
38,046
204,63a
Kowno ....
31
8,197
39,490
Ssaratow . . .
280
176,387
870,605
Kijew‘ t . ....
56 117,010
866,490
Ssimbirsk. . .
126
37,3*7
201,12:
Kostroma . .
26
*32,325
716,905
Ssmolensk . .
36
130,800
580,51c
Kurland . . .
IO
18,200
1 55.525
Taurien. . . .
2
! 5,000
45 , 6 o<
Kursk ....
643! 218,203
1,677,013
Twer .
90
425.59°
1,9414.2!
Livland ....
5
1 33.450
• 138,036
Tambow . . .
56
63,405
237,2a
Minsk.
12
i
, 4,»85
*4,525
Tula.
16
60,125
409,951
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343
h c
•8 8
Zahl der
Produk-
ij a
-S 2
Zahl der
Produlc-
Gouvernements
2'S
verarbeite-
tionswerlh
Gouvernements
verarbeite-
tionswerth
•s-g
Nä
ten Häute
in Rubeln
c* ^
ten Häute
in Rubeln
fa.
21
86,740
561,740
St. Michel . .
28
25,635
99,586
larkow . . .
254
65.332
499,734
Nyland....
34
35,628
142,422
icrsson. . .
12
46,500
486,350
Tawastehus .
18
12,165
67,010
schernigow.
240
510,82 51,077,628
Uleaborg. . .
9
3*,* 5 <>
95,685
rosslaw. . .
20
82,350
5 >o, 93 »
»tland. . . .
Weichsel -
8
22,810
59 , 7*8
Kaukasus .
Baku.
56
15.003
44,32*
länder .
Daghestan . .
3
9,050
8,550
r arschau . .
71
563.895
2,528,091
Jelissawetpol.
38
44,925
96,021
alisch. . . .
7 2
76,031
378,757
Kuban-Gebiet
30
28,300
198,100
jeletz....
21
10,620
59,>30
Stawropol . .
19
27,900
254,450
Dmsha . . .
iublin....
39
52
17.093
16,990
* 19,253
118,470
Terek-Gebiet
Tiflis.
6
10
10,450
44,600
85,3*0
172,700
otrkow. . .
120
128,759
160,435
Eriwan ....
60
19,067
85,825
otzk ....
40
*1,358
50,500
Sibirien .
adom....
3 «
56,240
292,507
suwalki. . .
32
8,580
57.614
Akmollinsk-
edletz . . .
57
27,537
165,188
Gebiet. . .
20
62,900
406,980
rfossfürsten-
tum Finland.
Jenisseisk. . .
Baikal-Gebiet
Irkutsk ....
II
I
II
* 3,779
13.300
42,800
44,190
70,750
194,092
bo . . ' . .
f asa.
11
22
7,760
23,901
82,570
110,273
Ssemipala-
tinsk-Gebiet
II
65,860
395,050
fiborg. . . .
5
6,189
30.045
Tobolsk . . .
153
1,136,096
3, *52,433
uopio. . . .
8
29,720
73,680
Tomsk ....
! 5
I 69,930
292,259
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Ueber Handel und industrielle Thätigkeit
der Stadt Kasan.
Eine statistische Skizze
von
I. T. Ssolowjew l .
Detailhandel. — Engros-Handel. — Handel der Kleinkrämer. — Fabriken und
Werkstätten. — Handwerke. — Gesammt-Resultat.
I. Der Detailhandel.
Dieser centralisirt sich auf: i) dem Heumarkte, 2) dem Trödel¬
märkte, 3) dem Fisch- und Fleischmarkte, und 4) auf dem Markte
an der Mündung der Kasanka in die Wolga.
1. Der Heumarkt.
Hier werden täglich verkauft: für Rubel
Heu. 40—50
Pferde, Kühe, Schafe, 10—15 Stück.300—700
Gebackenes Brod, Mehl, Hafer etc. 50— 70
Holzgeschirr aus den Läden und direkt vom Producenten 300—400
Steingutwaaren. 3— 5
Verschiedene Früchte.-. 8— 15
Thee, Zucker, Tabak u. dgl. aus den Krambuden. 30—40
Pferdegeschirre und Lederwaaren. 15— 24
Die Einnahmen der Branntweinschenken, Wirthshäuser
und Einfahrten, die sich auf dem Markte befinden,
betragen. 75—120
Bei diesem Handel sind ca. 100 Personen betheiligt, was also bei
einem Umsatz von 800—1400 Rbl. auf jede 8—14 Rbl., oder durch¬
schnittlich 11 Rbl. ergeben würde. Veranschlagt man den Reinge¬
winn mit 30 pCt. (was auch in Wirklichkeit anzunehmen ist), so
würde im Durchschnitt der tägliche Gewinn eines jeden Händlers
3 Rbl. 33 Kop. betragen.
Nach den •Haubcru H. I\ O.»
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$45
2. Der Trödelmarkt.
Der tägliche Umsatz beträgt: für Rubel
Verkäufer von gebackenem Brod (12 Personen). 60— 80
Kwas 1 und Kisslij-Schtschi* (8 Personen). 15— 20
Verkauf von Speisen (15 Personen, meistens Frauen). . . 42— 60
Verkauf von billigen Galanteriewaaren (Tataren und Rus¬
sen, im Ganzen an 10 Verkaufstischen). 45—70
Verkauf alter Bücher. 15— 20
» alter Kleider etc. 25— 40
In 3 Buchhandlungen. 15— 18
• 4 Geschirrbuden. 28— 70
» 2 Buden mit alten Möbeln. 8— 14
» I Papierbude. 15— 25
» IO Buden mit alten, aber noch tragbaren, Kleidern. . . 120—160
» 5 Buden mit Mützen und in 4 mit Schuhwerk. 95 —150
Demnach beträgt der tägliche Umsatz des Trödelmarktes 480 bis
700 Rbl. Dieser Umsatz auf die mittlere Durchschnittszahl von 120
Händler vertheilt, würde einen Umsatz von 4 Rbl. bis 5 Rbl. 85 Kop.
oder im Mittel von 4 Rbl. 92 Kop. ergeben, von dem der Reinge¬
winn, ebenfalls mit 30 pCt. angenommen, auf jeden Händler pro Tag
1 Rbl. 47 Kop. ausmachen würde.
Der tägliche Durchschnittsgewinn auf dem Trödelmärkte ist also
für einen Händler um 1 Rbl. 86 Kop. geringer als der auf dem Heu¬
markte. '
3. Der Fleisch- und Fischmarkt.
Ueber den Gang und den Umfang dieses Zweiges werden die
nachstehenden Ziffern, obgleich sie nur annähernd in runden Zahlen
gegeben sind, genügend orientiren können; sie sind hier für den
täglichen Umsatz gegeben.
In den Fleischbuden fehlt es nie an Käufern, so dass, wie die Ver¬
käufer selbst eingestehen, kein Tag vergeht, an welchem nicht 10,
15 bis 20 Rbl. einkommen. Es giebt sogar Zeiten, die sich jährlich
wiederholen, wie z. B. vor den grossen Feiertagen, als Weihnachten,
Ostern, oder vor dem Beginn der grossen Fasten, wo die tägliche
Einnahme 60—70 Rbl. beträgt. Man kann daher, ohne einen Feh¬
ler zu begehen, die mittlere Tageseinnahme jeder Fleischbude mit
23
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' billige Nationalgetränke.
Bus. Berns. Bd. VII.
346
20 Rbl. beziffern, was bei den vorhandenen 25 Buden eine tägliche
Einnahme von 500 Rbl ausmachen würde.
Von den 50—60 Gemüsehändlern nimmt jeder ca. 2—3 Rbl. ein,
was auf die Durchschnittszahl von 55 Gemüsehändler ca. 110—165
Rbl. ergeben würde.
Mit dem Verkaufe von Wassermelonen und Aepfeln befassen sich
ungefähr 20 Personen, die einen Umsatz von 2, 3 bis 4 Rbl. machen.
Die Durchschnittseinnahme mit 3 Rbl. berechnet, ergiebt eine Ein¬
nahme von 60 Rbl.
Die tägliche Durchschnittseinnahme der 30 Mehl - und Getreide -
handlungen kann wenigstens mit 200 Rbl. veranschlagt werden.
Die 30 Verkäufer von Speisen für die niederen Volksklassen, von
Milch, Schmand und Eiern setzen 68—80, ja selbst 100 Rbl. um,
so dass die tägliche Durchschnittseinnahme mit 80 Rbl. angenommen
werden kann.
Wachs und Wachslichter werden für 5 — 8 Rbl. in jeder der 3 Bu¬
den verkauft, also zusammen für 15—24 Rbl., für Thee, Zucker, Ta¬
bak, Seife und verschiedene Beleuchtungsgegenstände werden in 5
Buden für 50—100 Rbl. abgesetzt.
Wein, Branntwein und Uquere werden in den 2 Läden und 2 Nie¬
derlagen für 50—120 Rbl. und ausserdem in den 6 Trinkhäusern für
30 Rbl. verkauft, sowie in den Bierhallen für 8—20 Rbl. Bier und
Meth verschenkt, so dass im Ganzen eine Durchschnittseinnahme
von 130 Rbl. erzielt wird.
An Holzgeschirr wird für 8—10 Rbl.;
an Zündhölzchen und verschiedenen Kleinigkeiten (durch 10 Tata¬
ren) ungefähr für i 1 /*—2 Rbl., zusammen also 15—20 Rbl.;
Heu, Theer, Kreide, sowie Hafer in den 4 in der Georgienstrasse
gelegenen Einfahrten zusammen für 30 —40 Rbl. verkauft.
2 Handlungen von Eier und Schmandbutter setzen für 7—12 Rbl.
Waare ab.
12 Verkäufer von frischem Kohl und Sauerkohl erzielen einen Ab¬
satz von 30—40 Rbl.
3—4 Verkäufer von billigen Musikinstrumenten und verschiedenen
Kleinigkeiten zusammen ungefähr 7— 10 Rbl.
Die Einnahme der Fischhändler beläuft sich auf wenigstens 300
Rbl. täglich.
Im Ganzen kann man annehmen, dass der tägliche Umsatz sich auf
ca. 1600 Rbl. beläuft. Da sich nun aber auf diesem Markte unge¬
fähr 250 Verkäufer befinden, so würde ein Jeder ungefähr 6 Rbl. 50
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347
Kop. einnehmen, was einen Reinertrag, — k 30 pCt. gerechnet —,
von 1 Rbl. 95 Kop. ergeben würde.
Der Reingewinn dieser Händler wäre mithin um 1 Rbl. 38 Kop.
geringer als der des Heumarktes.
Der tägliche Umsatz dieser beiden Märkte aber verhält sich um¬
gekehrt: auf dem Heumarkte beträgt er 1100 Rbl., auf dem Fisch-
und Fleischmarkte aber 1600 Rbl.
4. Der Handel an der Mündung der Kasanka.
Der Verkehr beschränkt sich hier auf Wirthshäuser, Schenken,
Garküchen, Barbierstuben und Buden mit verschiedenen Kleinigkeiten.
Es befinden sich hier ungefähr 15 Wirthshäuser , von denen jedes
täglich gegen 10 Rbl. einnimmt, was in den 5 Navigationsmonaten,
während welchen die Landungsstelle sich hier befindet, 1500 Rbl.
pro Wirthshaus ausmachen würde.
Die Schenken , gegen 30 an der Zahl, sind beständig stark besucht
und haben daher eine den Wirthshäusern gleiche Einnahme, d. h.
ebenfalls 1500 Rbl. pro Schenke für die ganze Navigationszeit.
Was die Garküchen anbelangt, so sind es unsaubere, feuchte Lo¬
kalitäten, in denen die Arbeiter nicht nur speisen, sondern auch ihr
Nachtlager nehmen. Die Speisen, die hier verabfolgt werden, sind:
eine schlechte Kohlsuppe mit frischem oder gesalzenem Fleische,
das in beiden Fällen gewöhnlich schlecht ist; alsdann Buchweizen-
Grütze mit ranziger Butter oder Oel (letzteres während der Fasten),
oder die Arbeiter begnügen sich mit Kwas, zu dem sie weisses oder
schwarzes Brod geniessen.
Solcher Garküchen sind an der Mündung gegen 10, von denen
jede 4—5 Rbl. täglich einnimmt, im Ganzen also 40—50 Rbl.
Barbierstuben giebt es hier gegen 8, mit einer Tageseinnahme von
je 1—1 l /i Rbl., im Ganzen also 8—12 Rbl.
Buden mit verschiedenen Waaren , als: Zitz, Wollenzeuge, Thee,
Zucker, Tabak etc. giebt es gegen 50. Diese nehmen täglich 3—5
Rbl. ein, im Durchschnitt also 4, und im Ganzen 200 Rbl.
Ausserdem werden an der Mündung noch Citronen, Wassermelo¬
nen, Aepfel, Grünigkeiten, Fleischpasteten (Piroggen), Milch, Eier
etc. von ca. 80 Händlern feilgeboten, und haben diese eine Gesammt-
einnahme von 80—160 Rbl. täglich.
Es ist anzunehmen, dass auf dem Markte an der Mündung der
tägliche Umsatz sich auf ca. 1100 Rbl. beläuft, was auf 190 hier
23*
/
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handeltreibende Personen vertheilt, eine Einnahme von ca. 5 Rbl. 90
Kop. & Person ausmachen würde. Rechnet man auch hier den
Reingewinn mit 30 pCt., so würde das ä Person 1 Rbl. 77 Kop.
ergeben.
II. Der Engroe-Handel.
Es werden im Durchschnitt jährlich verkauft:
Pud Für Rubel
Verschiedenes Getreide . . ,.28,0c»,000 15,000,000
Thee aus Kjachta und Kanton. 110,000 3,500,000
Ziegel-Thee. 97,500 150,000
Zucker. 300,000 2,400,000
Salz.2,000,000 1,000,000
Baumwollen-, Wollen- u. Seidenzeuge, Tuch 65,000 3,000,000
Rauchwaaren. — 600,000
Galanterie-, Gold- und Silberwaaren. — 800,000
Tabak und Cigarren. 10,000 300,000
Gewöhnlicher Blatter-Tabak.. 150,000 400,000
Droguen. 175,000 2,000,000
Eingemachte Früchte und Konditorwaaren . 310,000 1,120,000
Spiritus. — 320,000
Glas- und Glaswaaren. — 247,000
Fische (aus Astrachan). 500,000 700,000
Butter. 52,000 378,000
Lein-, Hanf-, Raps- und Sonnenblumen-Oel 70,000 506,000
Kristallsachen aus der Fabrik von Lawin . . — 25,000
Rohhäute. 342,000 1,208,000
Gusseiserne Waaren. 238,000 857,000
Gefrorenes Fleisch. 27,000 128,000
Pech und Theer. 203,000 126,000
Schreibpapier. 10,000 I 3 , 5 °°
Kameel-Wolle. 30,000 150,000
Kirgische Schafwolle und Pferdehaare . . . 53,000 440,000
Russische gewaschene Schafwolle. 10,000 62,000
Schaffelle ca. 1,000,000 Stück. — 600,000
Frisches Fleisch. 30,000 160,000
Brennholz gegen 70,000 Kubik-Faden ... — 520,000
Holzwaaren. — 180,000
Geschmolzener Schaf- und Rindertalg. . . . 102,000 501,000
Pottasche. 103,000 180,000
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340
Pud
Für Rubel
Wachs.
30,500
720,000
Kerosin.
. . . 31,000
135.000
Honig.
. . . 45,000
248,000
Flachs, Hanf- und Filzwaaren..
... —
87,500
An dem Engros-Handel betheiligen sich an 50 Kaufleute erster
und 1200 Kaufleute zweiter Gilde, im Ganzen also 1250, die einen
Gesammtumsatz von ca. 53,516,000 Rbl. haben.
dl. Der Handel der Kleinkrämer (MeJio'iHfaui aaBHi) und Straesenverkauf.
Kleinkrätner befinden sich in Kasan an 200, von denen Jeder einen
Jahresumsatz von 600—1200 Rbl. macht. Strassenverkäufer: solche,
die an einem Tisch oder grösseren Brett (JIoTorb) verkaufen, an 300,
mit einem Umsatz von 250—300 Rbl. jährlich pro Person, und end¬
lich gegen 2800 Personen, die kleine Galanteriewaaren, Seife, Nüsse,
Aepfel, Weintrauben etc. feilbieten, mit einem Jahresumsatz von 180
bis 280 Rbl. pro Person.
Der jährliche Gesammtumsatz dieser 3,300 Krämer beläuft sich
von ca. 700,000—1,000,000 oder imMittel jährlich auf ca. 876,000 Rbl.
IV. Fabriken und Werkstätten.
Jährliche Produktion
Pud fUr Rubel
Die Stearinfabrik von Krestownikow lieferte:
Stearin und Margarin.
Seife.
Olein.
Glycerin.
Die Albumin-Fabrik hat bis zum Jahre 1873
producirt:
Albumin.
Eierseife.
5 Seifensiedereien.
setzen ihre Produkte (Eier-, weisse und
andere Sorten Seife) theils am Platze,
theils in Nishnij-Nowgorod ab.
5 Talglicht-Giessereien.
gegen 35,000 Pud werden nach St. Pe¬
tersburg versandt, der Rest in Kasan
und auf den Jahrmärkten verkauft.
172,000
160,000
18,000
15,000
1,400,000)
750,000)
25,000
60,000
2,400,000
100,000
100,000
360,000
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350
5 Talgsiedereien.
wird Alles am Platze verkauft.
11 Saffian-Gerbereien, die an 700,000 Stück
(oder 56,000 Pud) Felle bearbeiten, liefern
Leder zu Schuhwerk.
Die rohen Fälle werden auf den Jahr¬
märkten von Bugulma, Menselinsk u. A.
angekauft.
22 Ledergerbereien bearbeiten an 300,000
Felle (225,000 Pud) und liefern Leder. . .
Das Leder wird in Moskau, Nishnij-Now-
gorod und in Süd-Russland abgesetzt.
8 Schaffellgerbereien, wo an 110,000 Felle
bearbeitet werden, liefern an Leder ....
Die rohen Felle werden au9 Ssemipala-
tinsk, Petropawlowsk, Orenburg und
Troitzk bezogen.
11 Kürschner bearbeiten an 10,000 Pud roher
Felle und liefern Rauchwaaren für.
Die rohen Felle werden aus Irbit, Men¬
selinsk, Ssimbirsk, Wjatka, Orenburg,
Troitzk, Petropawlowsk und Astrachan
bezogen. Abgesetzt wird die fertige
Waare nach Nishnij-Nowgorod, Moskau,
in die südwestlichen Gouvernements
und nach Leipzig. Für die Bearbeitung
der Felle erhalten die Arbeiter an Lohn
ca. 30,000 Rbl.
Die Flachsspinnerei von Alafusow, Alexan-
drow & Co. arbeitete im Jahre 1870 mit
5,900 Spindeln und 650 Arbeitern. Sie
liefert Waare für.
An Flachs bezieht sie gegen 70,000 Pud
aus den Gouv. Kasan, Wjatka und Perm.
10 Leimsiedereien liefern Leim.
Der Absatz findet grösstentheils nach
Nishnij-Nowgorod statt.
2 Tuchfabriken liefern Soldatentuch.
Jährliche
Pud
40,000
25,000
97.500
10,000
10,000
4.500
Digitized by
Google
Produk tion
ftlr Rubel
200,000
1,050,000
1 , 200,000
120,000
225,000
345.000
70,000
66,000
Jährliche
Pud
3 Zitzfabriken, in der Stadt gelegen,. 8,500
In der nächsten Umgebung der Stadt befin-
den sich noch einige Zitzfabriken, deren
Besitzer in der Stadt selbst wohnen. Diese
Fabriken liefern. 30,000
Abgesetzt wird die Waare theils nach
Moskau, theils nach Sibirien.
2 Fabriken von Baum wollen watte liefern. . . 5,000
Sie beziehen die Baumwolle aus Oren-
burg und Petropawlowsk.
1 Reepschlägerei, die an getheertenund unge-
theerten Tauen und Stricken liefert .... 3,000
Den erforderlichen Hanf liefert das Gou¬
vernement Kasan. Die fertige Waare
geht nach Nishnij, Rybinsk u. Ssaratow.
1 Matten-Fabrik. Das Rohmaterial bezieht
sie zu Wasser aus den oberen Wolga-Ge¬
genden und zu Lande aus den Gouverne¬
ments Wjatka, Ufa, Orenburg und Kasan.
Sie producirt:
Doppelmatten.Stück 100,000
Einfache Matten. » 1,700,000
Kleine Säcke. » 1,000,000
Getreide- und Mehl-Säcke.... » 300,000
Säcke geringerer Qualität.... » 50,000
Borkstücke. » 50,000
Baststricke. » 1,200,000
Basteln.Paar 40,000
SämmtlicheProdukte werden theilweise am
Platze, theilweise inSsaratow, inNishnij,
Astrachan und Rybinsk abgesetzt.
10 Graupenmühlen liefern Graupen. 160,000
2 Makaroni-Fabriken. 6,500
2 Malzdarren. 50,000
4 Bier- und Meth-Brauereien.Eimer 50,000
31 Branntwein-Niederlagen setzen ab 40-grä-
digen Branntwein.Eimer 450,000
Der 80-grädige Spiritus wird meistens
Produktion
für Rubel
250,000
300,000
50,000
37.ooo
30,000
238,000
60,000
75,000
19,000
15,000
18,000
4,000
200,000
20,000
37i5°o
150,000
1,500,000
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352
Jährliche Produktion
Pud fUr Rubel
aus Wjatka und Kasan bezogen; der
Absatz findet am Platze selbst und in
den unteren Wolga-Gegenden statt.
4 Mineralwasser-Anstalten. — 60,000
Absatz am Platze und auf den Wolga-
Dampfern.
5 Wachslicht-Giessereien. 10,000 300,000
12 Ziegeleien.Stück 15,000,000 150,000
1 Eisengiesserei und mechanische Fabrik n
Ssweschnikow. — 100,000
10 Wagen-Fabriken. — 100,000
Die Mühlen von Kasan liefern an 640,000 Säcke
des besten Griesmehls.3,200,000 4,500,000
Der Absatz findet statt: theils am Platze,
theils nach St. Petersburg, Moskau, Perm,
Wjatka, Ustjug-Welikij und Archangel.
Ausser diesen Fabriken befinden sich noch in
Kasan verschiedene kleine Fabriken, mit
einer Produktion von.
Die Gesammtzahl aller Fabriken beläuft sich
sammteinnahme (mit Ausschluss
15,085,000 Rbl. beläuft.
— 40,750
auf 100, deren Ge-
der Albumin-Fabrik) sich auf
Die mittlere Jahreszahl der Arbeiter, die auf diesen Fabriken be¬
schäftigt sind, ist bei der
Tuchfabrikation.600
Talgsiedereien. 25
Talglichtgiessereien. 90
Seifensiedereien. 40
Stearinlichtgiessereien. ... 250
Gerbereien. 90
Nankingfabriken. 38
Wagenfabriken. 40
Ziegelarbeiter.190
Glockengiesserei. 5
Gusseisenfabrik. 15
Chemischen Fabrik . ... 20
Kalbleder-Gerbereien .... 10
Flachsspinnerei.650
Schaffell-Gerbereien. 5
Mattenfabrik. 50
Wattefabrikation. 53
Makaronifabrik. IO
Malzdarre. 15
Leimsiedereien. 30
Saffian-Gerberei.275
Bier- und Meth-Brauereien . 25
Branntwein-Niederlagen. . . 25
Filzfabrikation. 30
Wachsbleichen. 35
Stärkemehlfabrikation.... 4
Stellmacher. 15
Digitized by
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353
Die Gesammtzahl der Arbeiter beläuft sich auf 2,635. Der Lohn,
den Jeder von ihnen bezieht, beträgt von 70—200 Rbl. jährlich.
V. Die Handwerke.
Es sind folgende Handwerke vertreten:
Anzahl der Mittlere Zahl der
Handwerker
Jahreseinnahme
Rubel.
Bäcker.
. . IOO
200 — 300
Brodbäcker (xjrfcÖHHKT») . . .
.. 82
320 — 400
Fleischer.
. . 20
450 — 500
Konditoren.
. . 24
800 —1000
Kuchenbäcker.
.. 10
150 — 200
Sbitenverkäufer 1 .
. . 25
bis 120
Schneider.
. . 400
120 — 25O
Schuster.
• • 350
140 — 280
Frauen-Schuster.
. . 160
150 — 280
Modistinnen.
. . 50
50 — IOO
Rauchwaarenarbeiter.
. . 120
300 — 500
Kürschner.
. . 300
220 — 360
Fassbinder.
. . 50
150 — 200
Glaser.
.. 70
120 — 180
Pferdegeschirr-Arbeiter . . .
.. 50
250 — 300
Blechschläger.
.. 80
250 — 350
Tischler.
.. 200
8
1
O
ir»
Saffianstrümpfe-Arbeiter (für
die
Tataren).
• • 35
200 — 3OO
Handschuharbeiter.
• • 15
250 — 300
Ofensetzer.
. . 100
120 — 25O
Zuschneider.
. . 10
180—200—300
Schornsteinfeger.
8
80 — 120
Strassenpflasterer.
. . 20
ISO — 200
Maler.
. . 15
350 — 500
Heiligenbilder-Maler.
• • «5
320 — 480
Graveure .
. . 20
250 — 35 °
Optiker.
. . 20
400 — 500
Lampenfabrikanten.
• • '5
450 — 600
4 Sbiten (C6htcht>) ein Aufguss auf Salbei mit Zusatz von Lorbeerblättern etc., mit
Syrup verslisst ist es ein beliebtes Volks-Getränk, bei dem es den Thee ersetzt.
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354
Anzahl der Mittlere Zahl der
Handwerker Jahreseinnahme
Rubel.
Steinhauer. 120 400 — 500
Anstreicher. 40 350 — 400
Dachdecker. 40 350 — 500
Zimmerleute. 320 400 — 600
Stuckaturarbeiter.. 120 250 — 320
Schlosser. 56 300 — 500
Drechsler. 10 350 — 450
Barbiere. — 150 — 250
Zinnarbeiter. 70 180 — 300
Rossärzte. 54 140 — 250
Instrumentenmacher. 42 800 —1000
Schmiede. . . 1. 180 180 — 200
Holzsäger. 100 250 — 350
Silberarbeiter. 40 300 — 400
Mit dem Umnähen alter Kleider
Beschäftigte, zum Verkauf
auf dem Trödelmärkte. ... 15 3SO — 500
Im Ganzen beschäftigten sich mit verschiedenen Handwerken
3,706 Personen, die zusammen eine Einnahme von ca. 1,123,700 bis
1,323,200 Rbl. oder im Mittel 1,223,450 Rbl. haben.
VI. Gesammt-Resultat.
Aus den angeführten Daten ergeben sich folgende Resultate:
a) Für den Detailhandel.
Jihiiieber
Dmiati
AnaU 4tt
Binfler
Der RfiMrtisg
i 30 pCt. toi
BM. gerechnet.
DnkMbilli-
Btiipräi
eiiei fiidlen.
1. Auf dem Heumarkte ....
401,500
IOO
120,450
1204
2 . » » Trödelmärkte . . .
215,350
120
66,605
538
3. » » Fisch- und Fleisch¬
markte.
593,125
25O
177,937
712
4. An der Mündung.
168,750
190
50,625
216
660
Hieraus wäre zu ersehen, dass wenngleich der Reingewinn im
Ganzen für die Händler auf dem Fisch- und Fleischmarkte auch
grösser ist als für die auf dem Heumarkte, jeder einzelne der Er-
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355
steren einen geringeren Ertrag erzielt als einer der Letzteren, indem
hier nur ioo, dort aber 250 Handeltreibende an dem allgemeinen
Reinerträge participiren. Somit nimmt in Hinsicht der Rentabilität
des Handels die erste Stelle der Heumarkt, die zweite der Fisch- und
Fleischmarkt, die dritte der Trödelmarkt und die letzte der Handel
an der Mündung ein.
Selbstverständlich sind die hier angeführten Zahlen nur annähernd
richtig, doch geben sie jedenfalls ein richtiges Bild davon, wie sich
der Handel an diesen einzelnen Stellen zu einander verhält.
b) Der Engros-Handel.
Die Einnahme sämmtlicher 1250 Engrosissten beträgt 53,516,000
Rbl., von denen also auf Jeden durchschnittlich 42,813 Rbl. fallen.
c) Die Kleinkrämer und Strassenverkäufer
erzielen eine Gesammteinnahme von 699,000 bis 1,054,000 Rbl., die
sich auf 3,300 Personen vertheilt.
d) Die Fabriken
haben eine Gesammteinnahme von 15,085,000 Rbl., was für jeden
der 100 Fabrikanten eine Durchschnittseinnahuie von 150,850 Rbl.
repräsentiren würde.
e) Der Umsatz der Handwerker
beläuft sich auf durchschnittlich 1,223,450 Rbl.
Die Anzahl aller Personen, die sich mit Handel, Industrie und Ge¬
werbe beschäftigen, und die Einnahmen, die sie jährlich erzielen, be-
Ziffern sich demnach:
Anzahl
Durchschnittliche
Jahreseinnahme
1) Detailhandel.
. 660
1,378,725
2) Engros-Handel. . . .
53,516,000
3) Fabriken..
15,085,000
4) Handwerker.
.3706
1,223,450
5) Kleinkrämer und Strassenverkäufer 3300
876,500
In Summa 9016
72,079,675
Rechnen wir für jede dieser 9,016 Personen einen Familienstand
von 5 Personen, so ergiebt sich, dass 45,080 Personen, also fast die
Hälfte der Bewohner von Kasan (die Gesammtbevölkerung beträgt
93,000) von Handel, Industrie und Gewerbe lebt — ohne die Arbei-
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/
356
ter mitzurechnen, welche in den Fabriken und Werkstätten beschäf¬
tigt sind.
Wenn auch die aufgeführten Zahlen nicht absolut genau sind, so
sind sie doch mit Gewissenhaftigkeit aus erster Hand gesammelt und
werden nicht weit von der Wirklichkeit entfernt sein.
Kleine Mittheilungen.
(Uebersicht der Ergebnisse der letzten Volkszählung
in Kijew am 2 . Mai 1874 ). Ein Referat in den «Nachrichten
der Kaiserlichen Geographischen Gesellschaft» giebt darüber fol¬
gende Mittheilungen:
Die Zahl sämmtlicher Gebäude, sowohl Wohngebäude als anderer
Gebäude, beträgt in der Stadt und in den Vorstädten 19,867; eigent¬
liche Wohngebäude giebt es in der Stadt und in den Vorstädten
10,669. Den ersten Platz, was den Anbau der Höfe betrifft, nimmt
der Schloss-Stadttheil ein, in welchem durchschnittlich 4,79 Gebäude
überhaupt und 2,91 Wohngebäude auf jeden Hof kommen; in den
Vorstädten nimmt der Stadttheil Ssolomenka in Hinsicht des An¬
baues der Höfe den ersten Platz ein, in welchem auf jeden Hof
3,46 Gebäude und 1,49 Wohnhäuser kommen.
Das vorherrschende Material, aus welchem die Häuser gebaut
sind, ist Holz. Hölzerne Häuser bilden 64,68 pCt., gemischte, d. h.
aus Holz und Stein, 14,75 pCt., steinerne 12 pCt. und Lehmhütten
8,57 pCt.
In der Stadt sind nur in 1,764 Höfen die Gebäude versichert, in
den Vorstädten in 402; im Ganzen auf 22,908,925 Rbl. Es ergiebt
sich, dass sehr viele Gebäude nicht verassekurirt sind, in der Stadt
mehr als */«, in den Vorstädten weniger als *k der ganzen Zahl
der Höfe.
In der Stadt liegen nur 490 Höfe (9,11 pCt.) in durchweg gepfla¬
sterten Strassen, 1,256 Höfe (23,3 pCt.) an nur in der Mitte ge¬
pflasterten, die übrigen aber (67,62 pCt.) an gänzlich ungepfla-
sterten Strassen. Ueberhaupt kann man sagen, dass mehr als */3
sämmtlicher Höfe in Kijew an ungepflasterten Strassen liegen, und
nur l /n an durchweg gepflasterten.
Was die Wohnungen betrifft, so zählt man derselben in der Stadt
und in den Vorstädten 21,203 62,297 Zimmern. Auf jeden Hof
in der Stadt kommen 3,53 Wohnungen, in den Vorstädten aber
2,23. Bewohner hat jeder Hof in der Stadt 19,96 pCt., in den Vor¬
städten 10,46 pCt. Die Durchschnittswohnung in der Stadt enthält
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357
3,15 Zimmer, in den Vorstädten aber 2,05. Aus der Gesammtzahl
der Wohnungen haben 46,73 pCt. auf die Strasse oder in Gärten
hinausgehende Fenster, 39,19 pCt. aber in den Hof, 14,08 pCt.
endlich haben Fenster, die in geschlossene Räume (Korridore, Galle-
rien) hinausgehen, also sowohl Luft als Licht entbehren.
Interessant sind die Daten in Betreff der Zahl der Oefen: man
zählte in der Stadt und in den Vorstädten 44,156 Oefen, was durch¬
schnittlich etwas über zwei Oefen für jedes Quartier ergiebt und
ungefähr zwei Oefen für drei Zimmer.
Diese Zahl der Oefen macht es möglich, den Bedarf an Heiz¬
material in Kijew annähernd zu bestimmen. Wenn man als Basis
der Rechnung die Norm bestimmt, welche vom Gesetz für den
Verbrauch des Holzbedarfes in der Armee festgesetzt ist, so ergiebt
es sich, dass der Bedarf an Brennmaterial in den fünf Wintermonaten
durch 58,875 Kubikfaden Brennholz gedeckt werden kann, in den
übrigen sieben Sommermonaten, nach derselben Norm, 14,817 Kubik¬
faden für die Bereitung der Nahrung erforderlich sein werden.
Folglich ist der jährliche Bedarf an Holz gleich 73,691 Kubikfaden.
Wenn man den Durchschnittspreis des Holmes im Jahre 1874 auf
15 Rbl. 50 Kop. pro Kubikfaden festsetzt, so ist jene Quantität der
Bevölkerung von Kijew 1,142,210 Rbl. zu stehen gekommen. Um
diesem jährlichen Bedarf an Brennholz entsprechen zu können, muss
man jährlich gegen 2,400 Dessjatinen guten Waldes aushauen; um
demselben aber in 40 Jahren genügen zu können, müsste man offen¬
bar nicht weniger als 96,000 Dessjatinen oder 923 Quadratwerst
eines mit Wald bedeckten Landstriches aushauen.
Die jährliche Durchschnittszahlung für die Wohnung, bestehend
aus 4,82 Zimmern, ist 410 Rbl., der durchschnittliche Preis für das
Zimmer 85 Rbl.; in den Vorstädten kostet die jährliche Miethe einer
Wohnung aus 2,63 Zimmern 104 Rbl. 38 Kop., des Zimmers aber
39 Rbl. 35 Kop. Monatswohnungen aus 2,12 Zimmern in der Stadt
kosten 7 Rbl. 80 Kop., ein Zimmer aber 3 Rbl. 78 Kop.; in den
Vorstädten kommt eine solche Wohnung aus 1,54 Zimmern 3 Rbl.
37 Kop. zu stehen. *
Vom grossem Interesse sind die Angaben in Betreff des jähr¬
lichen Preises einer Wohnung für einen Menschen in den verschie¬
denen Theilen der Stadt. Wenn man die Zahl der Zimmer in den
Wohnungen, die am Tage der Zählung bewohnt waren, in Betracht
zieht, ferner die Zahl der Einwohner beiderlei Geschlechts (mit
Ausnahme der gratis Wohnenden) und den jährlichen Ertrag einer
jeden Wohnung, so ergiebt es sich, dass eine Wohnung jedem Woh¬
nenden zu stehen kommt: im Schloss-Stadttheil — 71 Rbl., im Alt-
kijew’schen Stadttheil — 59 Rbl. 22 Kop., im Podol’schen — 37 Rbl.
31 Kop., im Lybed’schen — 28 Rbl. 95 Kop., im Lukjanow'schen
Quartal — 14 Rbl. 29 Kop., im Flachen Stadttheil — 14 Rbl.
16 Kop., im Petscherkischen— 13 Rbl. 80 Rop., im Kurenew*-
schen — 6 Rbl. 72 Kop. Der jährliche Durchschnittspreis in der
Stadt beträgt— 22 Rbl. 17 Kop., in den Vorstädten aber 12 Rbl.8oKop.
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35»
Was die Zahl der Einwohner betrifft, so zählt man derer inKijew und
seinen Vorstädten 127,251; in der Stadt allein, ohne Vorstädte,
116,774, so dass die Bevölkerung in der Stadt 91,77 pCt. oder
9,177 auf 10,000 Einwohner ausmacht, die Bevölkerung der Vor¬
stadt aber 8,23 pCt. oder 823 auf 10,000 Einwohner.
In Hinsicht des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern in Kijew
und in seinen Vorstädten finden wir ein bedeutendes Uebergewicht
auf der Seite der männlichen Bevölkerung; 71,848 männlichen
Geschlechts und 45,503 weiblichen Geschlechts, d. h. die Männer
bilden 56,47 pCt., die Frauen aber 43,53 pCt., so dass das Ueber¬
gewicht der männlichen Bevölkerung über die weibliche 16,471 be¬
trägt, d. h. fast 13 pCt. der Gesammtbevölkerung oder auf 100
Frauen 130 Männer K
In dieser Hinsicht stimmen die Daten aus Kijew in bemerkens-
werther Weise mit denen aus St. Petersburg überein, wo nach der
Zählung vom 10. December 1869 die männliche Bevölkerung
56,56 pCt. bildet, die weibliche aber 43,44 pCt. der Gesammtbevöl¬
kerung. Das Uebergewicht der Männer über die Frauen ist nament¬
lich im Petscherskischen Stadttheil gross, wo auf 100 Frauen 297
Männer kommen, d. h. wo die Männer 74,84 pCt. und die Frauen
25,16 pCt. bilden.
Es ist begreiflich, dass dies bedeutende Uebergewicht der Männer
über die Frauen hier durch folgende Ursachen bedingt wird:
a) durch die Concentrirung des Heeres in diesem Theile der Stadt,
und b) dadurch, dass sich hier das Kloster befindet. Wenn man
sich diesen Umstand entfernt denkt, so würde das Verhältnis auf
die für Kijew allgemeine Norm herabsinken.
Wenn man das Verhältnis der beiden Geschlechter in den verschie¬
denen Lebensaltern inBetracht zieht, so ergiebtsich,dass indem Alter
der vollen Geschlechtsreife — von 20 bis 35 Jahren — dies Ver¬
hältnis am meisten unproportionirt ist; so kommen in dem Alter von
20 bi 25 Jahren auf 100 Frauen fast 200 Männer; im Alter von
25 bi 30 Jahren auf 100 Frauen — 164 Männer; von 30 bi 35
Jahren auf 100 Frauen fast 155 Männer, und nur im ersten Lebens¬
alter von 1 bis 5 Jahren überwiegt die weibliche Bevölkerung die
männliche.
Nach den Ständen vertheilt sich die Bevölkerung folgender-
massen: erbliche und persönliche Edelleute — 19^693, Welt¬
geistliche — 2,883, Mönche — 623, erbliche und persönliche Ehren¬
bürger — 1,420, Kaufleute — 4,362, Kleinbürger — 41421,
Bauern — 22,342, Soldaten, Unterofllciere und deren Fami¬
lien — 29,451, Ausländer — 2,449, verschiedene Klassen — 2,607.
Die erste Stelle nehmen also die Kleinbürger ein, welche fast Vt der
1 Wir geben die Zahlen, wie wir dieselben im Original vorgefunden haben, obgleich
sich in denselben offenbar Druckfehler eingeschlichen haben, denn 71,848 Einwohner
männlichen Geschlechts und 45,503 Einwohner weiblichen Geschlechts ergeben eine
Gesammtrahl von 117,351 Einwohner und nicht 127,251; ebenso beträgt das Ueber¬
gewicht der männlichen Bevölkerung über die weibliche nicht 16,471, sondern 26,345.
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359
ganzen Bevölkerung ausmachen; dann folgen die Soldaten mit ihren
Familien — gegen und dann die Bauern — gegen l /e; überhaupt
bilden die niederen Stände 8 /* der ganzen Bevölkerung (74 pCt.).
Wenn man das Verhältniss der verschiedenen Stände in Betracht
zieht, so ergiebt sich, dass eine Person geistlichen Standes auf 36,29
Personen der Bevölkerung, 1 Edelmann auf 6,46 Personen, 1 Kauf¬
mann auf 29,17 Personen kommt; wenn man jedoch die Geistlichkeit,
Edel- und Kaufleute zusammenfasst, so kommt 1 Person aus diesen
Ständen auf 4,62 der Gesammtbevölkerung. Was den Geburtsort
betrifft, so findet man im Ganzen mehr nicht in Kijew geborene,
als in Kijew geborene Einwohner ; das Minimum beträgt 53,48 pCt.
bei den persönlichen Ehrenbürgern, und das Maximum 97 pCt. bei
der Geistlichkeit. Eine ziemlich beträchtliche Zahl in Kijew geborener
Einwohner finden wir unter den Kleinbürgern—43,14 pCt., unter
den Kaufleuten und persönlichen Edelleuten — 28* /* pCt., unter
den erblichen Ehrenbürgern über 36*/* pCt., unter den Soldaten und
Unterofficieren über 21 pCt. und unter den erblichen Edelleuten
über 22 pCt.
In den Vorstädten finden wir verhältnissmässig mehr in Kijew
geborene Einwohner, als in der Stadt: in der Stadt 27,93 pCt., in
den Vorstädten 32,93 pCt., so dass die Vorstädte weit mehr die
Kijcw'sche Bevölkerung repräsentiren als Kijew selbst. Das
grösste Kontingent zu den nicht in Kijew geborenen Einwohnern
stellen die südrussischen Gouvernements, welche 45,52 pCt. geben,
und mit den eingeborenen Kijewern 73,85 pCt. ausmachen; ein
bedeutendes Procent bilden auch die Ankömmlinge aus Grossruss¬
land (13,28 pCt.), und dann die Westrussen (8,27 pCt.).
Unter der Zahl der Einwohner, welche das heiratsfähige Alter
erreicht, finden wir fast 47,100 Verheirathete oder Verwittwete, so
dass unter den Frauen */& unverheiratet bleibt, unter den Männern
aber fast l k; dafür bilden aber die Wittwer 735 der ganzen Bevöl¬
kerung, die Wittwen aber l /n.
Was die Sprache betrifft, so gebrauchen 8 /io der Bevölkerung die
russische Sprache und deren Dialekte, l /io sprechen Hebräisch,
1 /i5 Polnisch und l /so Deutsch.
Der literärischen Sprache (?) bedienen sich 49,32 pCt, der klein¬
russischen 39,26 pCt., der grossrussischen 9,91 pCt. und der weiss¬
russischen 1,51 pCt.
Zur griechisch-rechtgläubigen Kirche gehören 77,48 pCt., dann
folgen die Juden— 10,85 pCt., ferner die Katholiken 8,18 pCt.,
die Protestanten 2,15 pCt.; die übrigen Bekenntnisse bilden ein
ganz unbedeutendes Procent.
Des Lesens und Schreibens Kundige bilden nur 37,50 pCt.; unter
den Männern 45,23 pCt., unter den Frauen 27,50 pCt. Das grösste
pCt. der des Lesens und Schreibens Kundigen finden wir in dem
Alter von 7—14 Jahren — ein wenig schmeichelhaftes Resultat für
die Einwohner Kijews.
Wenn man die Konfessionstabellen und die Tabellen über die des
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3 &>
Lesens und Schreibens Kundigen mit einander vergleicht, so findet
man die Protestanten an erster Stelle (über */*) als die Gebildetsten,
denen folgen die Katholiken (etwas weniger als 8 /a), ferner die Juden
( a /§), die Grieschisch-Rechtgläübigen (*//») und die Altgläubigen
(etwas weniger als */*)•
Höhere Bildung haben 6,13 pCt. der Bevölkerung erhalten,
mittlere 20,84 pCt., niedere 18,91 pCt. und Primärunterricht 54, npCt.
Einwohner, welche höhere und mittlere Bildung empfangen haben,
giebt es im Ganzen 7,735, d. h. 6,11 pCt.
Für die einzelnen Stände erhalten wir in dieser Hinsicht folgendes
Procent: unter den privilegirten Ständen finden wir des Lesens und
Schreibens Kundige 93,59 pCt. aus der Gesammtzahl der den
Ständen Zugehörenden, unter den Kaufleuten 85,7 pCt., den Klein¬
bürgern 40,20 pCt., den Bauern 34,10 pCt., den Soldaten und
Unterofficiren 46,70 pCt., den Ausländern 76,14 pCt., unter den
Uebrigen 37,12 pCt.
So sind also 60 pCt. der Kijew’schen Kleinbürger und fast 2 /a der
Bauern des Lesens vollkommen unkundig.
(Die Bevölkerung des Gouvernements Wladimir in
den Jahren 1796 — 1874 .) In dem Protokoll der Jahresversamm¬
lung des Statistischen Komites des Wladimir'schen Gouvernements
finden wir folgende Angaben über den Zuwachs der Bevölkerung
des Gouvernements Wladimir: Die Bevölkerung betrug im Jahre
1796 gegen 9131073 Einwohner,
1819 » 1,000,9i4Einw., Zuwachs in 21 J. um 87,838 od. 0,4 pCt.
1852 » 1,184,586 » » » 35 » » 183,672 » 0,5 »
1859 » 1,222,599 » » » 7» » 38,013 » 0,4 »
1868 » 1,239,166 » » » 9» » *6,567 * 0,1 *
1874 » 1,260,620 » * » 6» » 21,454 * 0,3 »'
Literaturbericht.
Bemerkungen tu dem Referat von tV. K. über meine Abhandlung: «La distribution de
la pression atmospherique dans la Russie d’Europe*. Von M. Rikatscheff\
Im ersten Hefte des laufenden Jahrgangs der «Russischen Re¬
vue*» ist ein Referat von W. K. über meine Abhandlung «La distri¬
bution de la pressisn atmospherique dans la Russie d’Europe» (Re¬
pertorium für Meteorologie von H. Wild. V. IV, Nr. 6) erschienen.
1 Bd. VI. S. 102 —iiq,
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Da das Referat einige Bemerkungen enthält, welche zu unrichtigen
Vorstellungen Veranlassung geben könnten, so halte ich es für noth-
wendig, Einiges auf dieselben zu erwidern und damit die fraglichen
Punkte klar zu stellen.
In der erwähnten Arbeit habe ich alle Barometerhöhen auf die
der Breite von 45 0 entsprechende Schwere reducirt. Hr. W. K. be¬
merkt nun dazu: «Diese Reduktion ist streng wissenschaftlich;
praktisch hat sie keine sehr grosse Bedeutung und ist als neue Fehler¬
quelle bedenklich». Es genügt nun meines Erachtens, einen Blick
auf die Tabelle I meiner Abhandlung (S. 24) zu werfen, um zu er¬
kennen, dass diese Korrektion eine sehr bedeutende ist; während sie
nämlich für Kem + 1,2 Mm. beträgt, ist sie für Lenkoran — 0,4 Mm.;
die Korrektion variirt also auf dem von mir betrachteten Beobach¬
tungsgebiete um 1,6 Mm. Da aber die Differenz zwischen dem
grössten und kleinsten Normaldruck im ganzen europäischen Russ¬
land nicht grösser ist als 7 Mm., so beträgt somit die Korrektion
wegen der Schwere 23 pCt. des Maximalunterschiedes im Normal¬
druck auf der Karte der jährlichen Isobaren. Eine solche Grösse
kann also jedenfalls nicht als praktisch mibedeutend bezeichnet wer¬
den, wie ich übrigens bereits auf S. 11 meiner Abhandlung ausdrück¬
lich hervorgöhoben habe. Dass aber diese Korrektion gar als neue
Fehlerquelle bedenklich sein solle, kann Hrn. W.K. offenbar nicht Ernst
gewesen sein. Bei einem solchen Raisonnement müsste man ja alle
Werthe immer unkorrigirt lassen, und z. B. auch das Barometer nicht
auf o° reduciren, da diese Reduktion jedenfalls verhältnissmässig viel
grössere Fehlerquellen in sich schliesst, als die Schwere-Korrektion.
Hr. W.K. hätte mit demselben Recht, wie bei der Schwere-Korrektion
auch die Anbringung der Reduktion auf o° überhaupt als überflüssig
bezeichnen können, da die Barometer durchweg in Wohnzimmern
beobachtet werden, wo die Mittel-Temperaturen vom Norden bis
zum Süden kaum um mehr als io° differiren, was für die Barometer¬
stände nur eine Differenz von 1,2 Mm. in den Reduktionsgrössen
auf o° bedingt 1 .
1 Während Hr. W. K. es hier für überflüssig findet, eine ganz sichere Korrektion, die
zwischen — 0,4 Mm. bis -f- 1,2 Mm. variirt anzubringen, macht er 7 Zeilen früher die
Bemerkung, dass «für die südlichsten Theile des Reiches, wo die tägliche Periode des
Barometers stärker sein muss, eine solche Berücksichtigung (Zurückführung der Mittel
verschiedener Stundenkombinationen auf wahre Mittel) wünschenswerth erscheine». Nun
haben wir aber ftir das ganze südliche Russland keine einzige Station, für die man den
täglichen Gang des Barometers kennt, ausser Tiflis im Kaukasus. Für die Kombination
von 6h, 2h und 10h und von 7h, xh und 9h erhält man aber für Tiflis als grösste Korrek¬
tion für einige Wintermonate etwas über 0,1 Mm. Die grösste Korrektion, die man zu¬
folge der Bemerkung des Hm. W.K. anzubringen hätte, wäre somit o,2Mm.; wobei zu
dem noch zu berücksichtigen ist, dass sie, weil nur aus den Beobachtungen des hoch
gelegenen Tiflis abgeleitet, für alle tiefer gelegenen Stationen als unsicher betrachtet
werden muss. Dagegen ist zu bemerken, dass jedenfalls die Schwere-Korrektion, nicht
bloss als die grösste, sondern auch als weitaus die sicherste von allen, die maa gewöhn¬
lich bei der Reduktion des Barometers anbringt, anzusehen ist.
Bum. Beroe. Bd. VII. * .
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3Ö2
Den Fehler ferner in der für die Konstruktion der Isobarenkarte
benutzten Zahl des Barometerstandes in Upsala, auf welchen Hr.
W. K. hinweist, habe ich schon in einer Anmerkung zu meiner Ab¬
handlung im «Repertorium» angegeben, und es sind nur einige Sepa¬
rat-Abdrücke meiner Abhandlung ohne diese Bemerkung vertheilt wor¬
den.— Hr.W.K. erklärt weiterhin die Uebereinstimmung der Barome¬
termittel von Nikolajew und Odessa als ein zufälliges Resultat der
Verschiedenheit der Jahrgänge und der wahrscheinlich etwas zu hoch
angenommenen Korrektion in den Jahren 1866—69, weil nämlich die
absolute Richtigkeit der Resultate für Nikolajew vorausgesetzt , das zu
Odessa in den letzten Jahren angewandte Barometer eine Korrektion
von — 0,8 Mm. zu haben scheine. Hierauf habe ich zunächst zu be¬
merken, dass allerdings nicht bloss dieses, sondern alle in meiner
Abhandlung enthaltenen Resultate bloss zufällige geworden wären,
wenn ich meine Angaben überhaupt auf blossen Schein, auf Wahr¬
scheinlichkeiten und unbewiesene Voraussetzungen hätte stützen wol¬
len. Der wahre Sachverhalt aber ist der, dass nur für die Jahre
1870—72 die Korrektion des Barometers in Odessa unbekannt war
und daher von mir gleich Null angenommen worden ist; die ganze
für diesen Ort in Rechnung gebrachte Periode umfasst aber 17 Jahre,
von welchen also nur für 3 die Korrektion unbekannt war, während
sie für die übrigen 14 Jahre vollkommen bekannt und angebracht
war; wäre also auch in der That die Korrektion fiir jene 3 Jahre
statt 0,0, wie ich angenommen habe, 0,8 Mm. gewesen, wie Hr,
W. K. meint, so würde dies doch im Endresultat nur eine Aenderung
von etwas über 0,1 Mm. bedingen, somit die Uebereinstimmung
zwischen den zwei Stationen nicht erheblich beeinträchtigen. Eine
Verschiedenheit der benutzten Jahrgänge kann aus demselben
Grunde diese Uebereinstimmung auch nicht zufällig bedingt haben,
davon 19 benutzten Jahrgängen in Nikolajew und den 17 in Odessa
14 beiden gemeinschaftlich sind.
Weiter macht der Referent die Bemerkung, dass ihm die für den
normalen jährlichen Barometerstand angenommenen Werthe in Staw-
ropol etc. zu niedrig gegriffen scheinen, und es kommt ihm nicht mo-
tivirt vor, den hohen Luftdruck der transwolga’schen Steppen von
jenen des Central-Kaukasus durch einen Streifen niedrigeren Druckes
in Cis-Kaukasien zu trennen, da hierzu alle Daten fehlen. Hierauf
haben wir vorerst zu erwidern, dass, wenn wir, wie es Hr. W. K.
vorschlägt, einen höheren Werth für Cis-Kaukasien angenommen
hätten, dann eben so gut ein anderer Referent hätte sagen können,
es sei die Trennung des verhältnissmässig niedrigen Druckes in Niko¬
lajew, Odessa etc. von jenem in Lenkoran und Baku unmotivirt.
Wir glauben aber, dass wir in diesem schwierigen Falle das Einzige
gethan haben, was man rationell thun konnte. Da für Stawropol und
seine Umgebungen unmittelbar kein bestimmter absoluter auf das
Meeresniveau reducirter Werth des Barometerstandes anzugeben
war, so suchten wir einen wahrscheinlichen Werth dafür aus den Da¬
ten der 4 nächsten absolut bestimmten Stationen zu ermitteln, von
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3Ö3
welchen Astrachan nach NO, Nikolajew-Odessa 1 nach NW,
Tiflis und Lenkoran nach SW liegen; Redutkale haben wir dabei
nicht berücksichtigt, obschon es nahe an Stawropol liegt, weil die
Isobaren hier eine sehr deutliche lokale Anomalie zeigen (hätten wir
auch diesen Punkt in Rechnung gezogen, so wäre übrigens der ge¬
fundene Barometerstand für Stawropol noch kleiner ausgefallen). Für
den Mittelpunkt zwischen Nikolajew-Odessa und Astrachan bekom¬
men wir den Barometerstand 762A ^ 76 ^° =y62j2. Für den Mittel¬
punkt zwischen Lenkoran und Tiflis haben wir 763,05. Stawropol
liegt aber sehr nahe auf der Linie, welche diese zwei Mittelpunkte
verbindet, und so findet man durch leneare Interpolation für dasselbe
den Werth: 762.8. — Immerhin bleibt dieser Werth und damit der
betreffende Theil der Isoboren unsicher, was wir übrigens auch auf
unserer Karte durch Punktiren desselben angedeutet haben.
Am Ende seines Referats führt Hr. W. K. noch die Sätze auf,
welche ich als Resultat meiner Arbeit am Schlüsse derselben zusam¬
mengestellt habe, und macht dann gegen Satz 3—5 Einwendungen,
welche sich eigentlich genauer auf folgende Stelle meiner Abhand¬
lung beziehen. Auf S. 53 derselben sagte ich nämlich, dass man,
wenn sogar die Spannkraft der Dämpfe von dem Barometerstand
abgezogen, also nur der Druck der trockenen Luft betrachtet werde,
immer noch das unerwartete Resultat finde, es entspreche der kal¬
ten Luft im Norden ein kleinerer Druck, als der warmen im Süden.
Hr. W. K. bemerkt nun hierzu, dass man nach den Untersuchungen
von Larnont und Hann beim Abzug der Spannkraft des Wasser¬
dampfes vom Barometerstand nach der Dalton’schen Annahme
(einer unabhängigen Wasserdampf-Atmosphäre) das Gewicht dieser
Wasserdämpfe 4 l /s Mal grösser setze, als es wirklich sei. «Wir kön¬
nen uns danach», fährt der Referent fort, «nicht wundern, wenn
Hr. Rikatscheff findet, dass nach Substraktion der Wasser¬
dampfspannung vom Barometerstände die Differenz, also der soge¬
nannte Druck der trockenen Luft, nicht seiner Erwartung entspricht,
wonach dieser Rest in einem umgekehrten Verhältnisse zur Höhe
der Temperatur stehen müsste». Wir aber, und ich denke auch der
Leser des Vorigen, müssen uns wundern, wie Hr. W. K. aus dem
Obigen diesen Schluss hat ziehen können. Hätte ich nämlich, wie
Hr. W. K. zufolge den Untersuchungen von Larnont und Hann es
zu fordern scheint, nicht die ganze Wasserdampfspannung, sondern
bloss 7 » derselben von den Barometerständen abgezogen, so würde
ja offenbar der Druck der trockenen Luft im Norden gegenüber dem
im Süden verhältnissmässig noch kleiner geworden sein, also noch
weniger meiner Erwartung, dass er der Temperatur umgekehrt pro¬
portional sei, entsprochen haben.
4 Nikolajew und Odessa liegen so nahe, dass wir immer den Mittelwerth aus den
Barometerständen für beide Orte benutzt haben.
24»
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364
Am Schlüsse bemerkt endlich noch Hr. W. K.: «In der Dar¬
stellung unseres Autors müssen wir indessen auch noch gegen
eine Ausdrucksweise protestiren; welche derselbe allerdings mit vie¬
len Anderen, speciell auch mit Prof. Dave, gemein hat, welche aber
zu schweren Missverständnissen Anlass geben kann* Er stellt näm¬
lich stets dem Druck der trockenen Luft die Elasticität der Wasser -
dämpfe gegenüber. In beiden Fällen handelt es sich um einen Druck,
welcher direkt erzeugt ist, nicht durch die Spannkraft der betreffen¬
den Gase, sondern durch deren Gewicht; die Spannkraft wächst nun
zwar, bei gleichbleibender Temperatur, dem Druck proportional, in¬
dessen hängt sie auch von der Temperatur ab; der Druck der At¬
mosphäre steht aber in keiner direkten Abhängigkeit von deren Tem¬
peratur, sondern nur von dem Gewichte, resp. der Masse der Luft,
und nach Dalton würde eben dieses selbe für die einzelnen Bestand¬
teile der Luft gelten».
Hierzu haben wir zu bemerken, dass bekanntlich Druck, Spann¬
kraft, Elasticität, Expansivkraft der Gase nur verschiedene Bezeich¬
nungsweisen einer und derselben Eigenschaft derselben sind, und
man daher streng genommen nicht sagen kann «der Druck wird
durch die Spannkraft erzeugt», oder «die Spannkraft wächst mit dem
Druck». Der Druck oder die Spannkraft eines permanenten Gases
nimmt vielmehr nach dem Mariotte'schen Gesetze proportional mit
seiner Dichtigkeit zu, und zwar gleichviel, ob die grössere Dichtig¬
keit durch Kompression des Gases in einem Cylinder, etwa vermit¬
telst eines herabgedrückten Kolbens oder in der freien Atmosphäre
durch Kompression in Folge des Gewichts der darüber lastenden
Luftschichten erzeugt wird. Die Zunahme des Druckes oder der
Spannkraft eines Gases mit der Temperatur nach dem Gay Lüssac-
schen Gesetz aber bezieht sich bekanntlich nur auf ein abgeschlosse¬
nes Gasvolumen und ebenso gilt auch nur für ein Solches, dass das
Gewicht unabhängig ist von der Temperatur; in der freien Atmosphäre,
wo eine ungehinderte Ausdehnung stattfinden kann, können daher
selbstverständlich die letzteren Gesetze im Allgemeinen nicht in Be¬
tracht kommen. Diese Verhältnisse scheinen uns so einfach und
klar, dass wir mit dem besten Willen nicht einsehen können, wie sie
zu schweren Missverständnissen führen können. Wohl aber fürchten
wir, dass die obige Darstellungsweise dieser Verhältnisse durch Hrn.
W. K. geeignet sein dürfte, solche Missverständnisse bei Laien zu
erzeugen, und glaubten daher ganz besonders für die Leser dieser
Zeitschrift eine kurze Rektifikation auch dieses Punktes geboten.
M. Rikatscheff.
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Eapettcxax XpacrovaTÜi, ct» cfcun>iraxa Ha rpaMManucy TeaeHiyca ■ rjiaccapiem» eupef
cxo-pyccnun», cocraaneHHaa npo*eccopon» JC. Koccoeunems.
Hebräische Chrestomathie mit Verweisungen auf die Gesenras’schef (und Ewald’sche)
Grammatik, nebst einem hebräisch-russischen Glossar, von Professor C. Kosso-
wic %. St Petersburg 1875, XVI -|- 362. 8°.
Im IV. Bande (S. 283—4) dieser Zeitschrift (Jahrg. 1874) wurde
die russische Bearbeitung der hebräischen Grammatik von Gesenius-
Rödiger kurz besprochen. Als nothwendige Ergänzung zu jener
Grammatik ist jetzt vom Professor Kossowicz die unter obigem Titel
angeführte Chrestomathie erschienen. Die Wahl der Texte der hei¬
ligen Schrift für das Lesebuch, welche Wahl theils nach den Chre¬
stomathien von Heiligstedt und Brückner, theils aber auch selbst¬
ständig stattgefunden hat, ist eine sehr gelungene. So eignet sich
unter den neu hinzugekommenen Lesestücken z. B. das Gebet König
Salomo's (I. Könige, Cap. VIII; Chrestom. p. 113—127), welches
von einem solch erhabenen allgemein-menschlichen Standpunkte
geschrieben ist, wie nur selten Aehnliches im Alten Testament vor¬
kommt, ganz vortrefflich zur Lectüre in den geistlichen Seminarien,
für welche das Buch zunächst bestimmt ist. Die die Lesestücken
begleitenden Anmerkungen sind sachgemäss und halten sich in der
Mitte zwischen trockener grammatischer Analyse und weitschwei¬
figen homiletischen und theologischen Auslassungen. In dem Glossar
verfolgt der Verf. dieselbe Methode, welche er hin und wieder auch
in der Grammatik angewandt hat; er hebt nämlich sehr oft die
Verwandtschaft der hebräischen (semitischen) und arischen (indo¬
germanischen), speciell noch der slavischen Wurzel hervor. Im
Laufe des XVI.—XVIII. Jahrh. herrschte bei vielen Sprachgelehrten
die irrige Meinung, als sei die hebräische Sprache die Urquelle
aller Sprachen der Erde *. Natürlich musste auch das Slavische
dasselbe Schicksaltheilen; so z. B. versuchte Frenzei im XVII. Jahrh.
das Slavische vom Hebräischen abzuleiten 2 . Dasselbe that der
bekannte russische Schriftsteller Tredjakowski im XVIII. Jahrh.
Auch unser Jahrhundert hat zwei solcher Versuche aufzuweisen:
vom Censor Wolf Tugendhold in Wilna 8 und von S. Rosenberg , der
kürzlich diesen Gegenstand in einem hebräischen Werkchen be¬
rührte. Eine andere semitische Sprache, die chaldäische (aramäi¬
sche), wurde ganz mit der Slavischen identificirt, ebenso wie die
Chaldäer selbst zu Slaven gemacht wurden, und zwar von keinem
Anderen als dem berühmten Orientalisten und Professor zu Göttingen
1 Theodor Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. München 1869.
p. 229, 244, 290 f.
* A. Frenzei, De originibus linguae Sorabicae ex Hebraea illustratae. Bautzen 1693, 4°,
* Semitische Nachklänge in den slavischen Sprachen. Wilna 1848, 4*.
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366
Johann David Michaelis , gegen den sich Schtözer erhob in seiner
Abhandlung über die Chaldäer (im VIII. Bande des «Repertoriums
für biblische und morgenländische Literatur», von Eichhorn, 1781).
Die Auseinandersetzung Michaelis’, wie er zu dem in seinem Spici -
legium geographiae Hebraeorutn exterae ausgesprochenen Satze: « Die
Sprache der Chaldäer war slavonisch und die Chaldäer waren
Slaven» gekommen ist, dürfte interessant sein für den Zustand der
Kenntniss des Slavischen in Europa in der zweiten Hälfte des XVTO.
Jahrh.; wir führen sie daher an in extenso (mit Beibehaltung der Or¬
thographie) :
«Ich fragte nehmlich andere Gelehrte», erzählt Michaelis f ,
«zu welcher Sprache ihnen die nomina propria Nebucadnezar,
Schessbazar u. s. f. zu gehören schienen? Der erste Hr. Prof.
Büttner, hielt es für Slavisch, und gab von Nebucadnezar aus
dem Slavischen eine Derivation (ob richtig, oder unrichtig, darüber
kann ich, weil ich kein Slavisch verstehe, nicht urtheilen). Ich fragte
den Fürsten Czartorinsky [sic], der mir erlaubet, auch in gelehrten
Sachen an ihn zu schreiben, und der sehr viel Einsichten hat: hier
fragte ich ihn eigentlich als einen, dessen Muttersprache die Polni¬
sche, ein Dialect der Slavischen ist. Seine Antwort war viel zwei¬
felhafter, ob er gleich von Nebucadnezar sagte, es könnte aus dem
Slavischen erklärt werden, nur stimmte seine Erklärung mit der
vorigen nicht völlig überein. Dis Urtheil machte mich behutsamer,
als ich vielleicht sonst gewesen seyn möchte: ich protestirte (S. 91
und 94 des Spicilegit) ich erzähle blos was andere gesagt hätten,
da ich selbst kein Slavisch verstände, nur müsste man, (S. 92) wenn
man allenfalls die Sprache für Slavisch halte, bey der grossen Zu¬
sammenkunft mehrerer Sprachen auf einem dort bemerkten Asiati¬
schen Gebürge, Wörter, die aus fremden Sprachen wieder in das
Slavische gekommen sein könnten, nicht ausschliessen. Die letzte
hatte sonderlich seine Beziehung darauf, dass ich klar im Chaldäi-
schen Daniels Wörter fand, die im Armenischen und Persischen Vor¬
kommen. Hiezu kam noch, dass gebohrne Ungarn, die damahls den
Daniel bey mir hörten, die Wörter Sarblan und Hadabraja in der
Ungrischen Sprache fanden, aber auch in der Slavonischen, und sie
könnten nicht ausmachen, welche Sprache sie von der andern be¬
kommen hatte, denn beide Völker wohnen in Ungarn beysammen,
und haben hiedurch viel Wörter von einander angenommen, und
gemein. Auch auf diesen Umstand sähe ich, enthielt mich des ent¬
scheidenden Tons, und redete in dem mir so natürlichen zweifelnden,
Auch den berühmten Weltumsegler und Kenner so vieler Länder,
in denen Slavisch geredet wird, Hm. Förster, fragte ich: dieser
war. ganz für die Slaven, und S. 95 — 103 liess ich seinen Brief ab-
drucken. Gegen diese Meinung ist nun Hm. Schlözer’s Schrift
haupsächlich gerichtet, und hier werde ich, nicht als Parthey,
4 Orientalische und exegetische Bibliothek von Johann David Michaelis, XVII.
Theil, Frankfurt am Main 1781, p. 71- 73, 83—86.
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367
sondern als Beystehender und* Zuschauer recensiren können: ur-
theilen? das wäre mir wol wegen Unkunde der Slavischen Geschichte
nicht möglich, denn auf die älteste Wohnung dieses Volks kommt
hier alles an, ob es aus Asien, aus Gegenden am schwarzen Meer,
nach Europa gezogen ist, oder zuerst und ursprünglich im östlichen
Deutschland gewohnt, und sich von da aus in spätem Zeiten gegen
Osten ausgebreitet hat. Aber nun kommt es auf die Gegend an, in
denen die Chaldäer zuerst gewohnt haben, ehe sie in südlichere
Länder ausbrachen» u. s. w, u. s.. w.
«Die letzte Frage, die mich nun eigentlich nicht angehet, wirft
Hr. Schlözer mit den Worten auf: ob Nebucadnezar ein Wende
gewesen. Er ist sehr gegen den Satz, dass die Chaldäer ein Sla-
visches Volk seyn, und ihre Spräche Slavisch. Die aus wenigen etwan
auch in der Slavisöhen Sprache befindlichen Wörtern, oder nomtnibus
propriis , genommenen Beweise, hält er nicht für hinlänglich, und so
kamen sie mir auch vor, darum erzählte ich im Spicilegio was an¬
dere gesagt hatten, zweifelhaft. Die Wörter, deren Aehnlichkeit
mir am stärksten auffiel, hatte die Slavonische Sprache mit der
Ungrischen gemein, sie bewiesen also nichts mehr für die Slavische
als für die Ungrische. Aber der Hauptgrund der Abneigung des
Hrn. Prof. Schlözer gegen eine Slavische Sprache der Chaldäer,
um dessen willen er gerade diese allein abweiset, ist historisch: er
glaubt nicht, dass die Slaven aus Asien gekommen sind, wie manche
annehmen, sondern sie sind ihm ein ächt-Europäisches Volk, dessen
ältester Sitz Ost-Deutschland jenseits der Elbe war, von der Ostsee
fast bis zum Adriatischen Meer: und von diesem haben sie sich
nachher so weit gegen Osten ausgebreitet. Hier bin ich nun in der
Slavischen Geschichte, die eine weitläufige Lecture erfordert, viel
zu unbewandert, als dass ich urtheilen könnte, bis wir von Hrn.
Schlözer eine Slavische Geschichte haben, von der wirklich etwas
schon gedruckt ist*.
«Das Golius und Pococke das, sonderlich bei Abulfaragio häufig
vorkommende Siklab (d. i. Slaven) durch Chalybes übersetzen, wo¬
durch vielleicht einige bewogen seyn oder werden könnten, das
Vaterland der Scythen am Osten des Schwarzen Meeres zu suchen,
erinnert Hr. Schl., S. 37, 38, 60, erklärt es aber für einen Fehler,
weil an allen den Stellen, die er in Abulfaragius nachgeschlagen
habe, das Volk wahre Slaven, sonderlich Russen, oder doch
Scythen bedeute. Allerdings ist es sehr zweifelhaft, ob Siklab je
Chalybes bedeutete, und an den meisten Orten ist diese Ueber-
setzung gewiss falsch; eben darum habe ich mich in meiner Ab¬
handlung von den Chaldäern nirgends darauf berufen: allein so
ganz gewiss kann ich doch dem Worte die Bedeutung nicht ab-
sprechen, bis wir den Arabischen Geuhari 1 haben. Aus dem nahm
oder übersetzte Golius sein Wörterbuch ordentlich: wenn er nun
4 Dschauhari, Verfasser eines geschätzten arabischen Lexicons unter dem Titel Sihah*
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schreibt Siklab Chalybes, gens scythica; pec. septentrionalis. Slavi,
Russi et similes (man merke also, er leugnet die übrigen Bedeu-
tungen nicht), so fragt sich, hat er auch das erste, Chalybes, aus
Geuhari? und was stand da im Arabischen?».
«Aber die erinnert mich doch an einer Stelle Abulfaragii, die
Hr. Prof. Schlözer übersehen zu haben scheint, und die man ge¬
rade zu für den Satz, die Chaldäer sind Slawen, anführen könnte.
S. 67 schreibt er, zur Zeit Manassis hätten die Slawen über Palästina
gehirr sehet l . Kann man hier an andere als Chaldäer denken? ist
diese Stelle nicht entscheidend für den Satz, den Hr. Schl, be¬
streitet? -Meiner Meinung nach nicht; denn wenn auch hier
von den Chaldäern die Rede ist, so nennet sie Abulfaragius nur
darum Slaven, weil sie vom Norden, der zu seiner Zeit der Sitz der
Slaven war, kamen, nicht weil er etwan aus Nachrichten wusste,
sie seyn vom Slavischen Stamm. Ueberhaupt hört dieser grosse
Mann, wie schon S. 80 gesagt ist, auf, zuverlässig zu seyn, wenn er
von der Abstammung auswärtiger Völker redet, z. E. Ketura,
Abrahams Frau, ntacht er zur Türkin, die Römer zu Aleman-
niern u. s. f.»
Abgesehen von all diesen halbwissenschaftlichen oder ganz un¬
wissenschaftlichen Arbeiten haben auch in neuerer Zeit mehrere
Philologen von Fach der Frage über die Verwandtschaft der semi¬
tischen und arischen Sprachen ihre ernste Aufmerksamkeit ge¬
widmet. Wir nennen hier Julius Fürst, Franz Delitzsch , Lagarde,
Olshausen, Ewald, Lepsius , Bunsen, Lassen , Max Müller, Ascoli,
Rudolph von Raumer , Steinthal und Benfey, welche mehr oder
weniger für die Verwandtschaft sind, Pott, Renan, Nöldeke,Schleicher
und Fr. Müller, die gegen jene Verwandtschaft auftreten. Im Jahre
1873 noch beschäftigten sich mit dieser Frage Grill 2 und weit ein¬
gehender und gründlicher Friedrich Delitzsch*, welche beide, insbe-
sonders Letzterer, sich für die Verwandtschaft aussprechen. Speciell
für das Slavische, soviel uns bekannt ist, sind in neuerer Zeit keine
Vergleiche angestellt worden. Wie wichtig aber unter den euro¬
päischen Sprachen gerade das Slavische, namentlich dass Russische,
in dieser Beziehung ist, zeigen die Worte eines bekannten Sprach¬
forschers: «Die Slaven stehen in ihrem wichtigsten Repräsentanten
— den Russen — in einem der wesentlichsten Zweige oder vielmehr
der Grundlage der Kulturentwickelung, in der Sprache — sogar fast
1 Nicht ganz genau, im arabischen Texte heisst es: die Slaven herrschten bis tum
Lande Palästina.
* Ueber das Verhältnis der indogermanischen und der semitischen Sprachwurzeln
in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft, Band XXVII. 1873,
p. 425-460.
9 Studien über indogermanisch-semitische Wurzelforschung. Leipzig 1873. Nach
dem Fürsten Wjasemskij ( 3 airfe'iaHifl Ha Cüobo o nojixy Hroperfc, St Petersburg 1875,
p. 352) soll sich jetzt der ru^sis^e Bischof Porphyrius ebenfalls mit dieser Frage be¬
schäftigen.
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noch auf der Stufe desSanskrit» *. Es ist also höchst wünscheftswerth,
dass ein gründlicher Kenner des Slavischen, weil selbst Slave, wie
Prof. Kossowicz, diese Frage gründlich untersuche. Freilich konnte
in dem Glossar zur Chrestomathie nur ein kleiner Theil dieser Ver¬
gleichungen nachgewiesen werden. Wollen wir hoffen, dass in
der Bearbeitung eines grossen hebräisch-russischen Wörterbuches
der Verf. diesem höchst interessanten Thema einen weit ausge¬
dehnteren Raum gönnen wird. Die russische geistliche Synode, in
deren Auftrag Hr. Prof. Kossowicz die hebräische Grammatik und
die Chrestomathie ausgearbeitet hat, würde sich durch den fernem
Auftrag an denselben Gelehrten, auch ein Wörterbuch nach der¬
selben Methode auszuarbeiten, nicht nur um die vaterländische Lite¬
ratur, sondern auch um die allgemeine Sprachwissenschaft ein
grosses Verdienst erwerben. A. H.
Hosea et Joel Prophetae, ad fidem codicis Babylonici Petropolitani edidit Hermanns
Strack . Petropoli MDCCCLXXV (Lipsiae, I. C. Hinrichs), photo-lithographirt
in Querfolio. (Pieis8Mark).
Der im vorigen Jahre verstorbene Karäer Abraham Firkawitsch
fand im Jahre 1839 in Tschufut-Kale einen hebräischen Codex der
letzten Propheten, der sogleich die besondere Aufmerksamkeit der
Fachmänner auf sich lenkte, und ungeachtet der verschiedenen mehr
oder minder ausführlichen Mittheilungen aus dem Texte* und über
den wissenschaftlichen Werth des Codex 8 war das Interesse und die
Wissbegier der Gelehrten eher gesteigert als zufriedengestellt. Der
Codex ist wirklich der bedeutendste Fund, den man seit Jahrhunder¬
ten auf dem Gebiete der alttestamentlichen Textkritik und der he¬
bräischen Grammatik gemacht hat. Wir berühren hier die Haupt¬
punkte seiner Bedeutung. Aus der Masora (textkritischen Noten
zum Alten Testament) wusste man, dass die Juden zwei verschiedene
Redaktionen des Alten Testamentes einst hatten, von denen die Eine
den Ostländern (Babyloniern), die Andere den Westländern (Palästi¬
nensern) gehörte; aber in der gelehrten Welt war bis jetzt bloss die
letztere Redaktion, die palästinische, genau bekannt, denn alle Ma-
nuscripte der Bibel, welche man in Europa besass, hatten nur die
Lesearten der westländischen Redaktion. Der von Firkowitsch ge¬
fundene Codex stellte uns zum ersten Male einen biblischen Text
1 Benfey, Orient und Occident, Band I, p. 4.
* Die bedeutendste Mittheilung aus dem Texte war bis jetzt das lithographirte Facsi-
mile vom Propheten Habakuk bei Pinner, Prospectus der der Odessaer Gesellschaft ge¬
hörenden Manuscripte, Odessa 1845, 4 0 .
* Am Ausführlichsten von Pinsker, Einleitung in das babylonisch-hebräische Punk¬
tationssystem, Wien 1863, 8°.
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3 70
dar, welcher nach der ostländischen (babylonischen) Redaktion ge¬
schrieben ist: Grund genug, um hohes Interesse bei Theologen und
Exegeten zu erregen! Auch die masoretischen (textkritischen) Be¬
merkungen am Rande dieses Codex bieten dem Specialisten sehr
viel des Belehrenden und Interessanten. Die Fachgelehrten, welche
sich speciell mit der hebräischen Grammatik befassen, wurden aber
noch mehr überrascht, als in diesem Codex sich ihnen ein neues
Punktations- und Accentationssystem des Hebräischen vorstellte,
von dem sie bis dahin gar keine Ahnung hatten, indem das neue
System von dem bisher bekannten schon äusserlich sich dadurch
unterscheidet, dass die Vokalzeichen und die Accente über den Kon¬
sonanten statt unter denselben stehen. Zweimal streifte die euro¬
päische Gelehrsamkeit dem neuen Punktations- und Accentations¬
system hart vorbei, aber ohne es zu entdecken. Das erste Mal in
dem Berichte des französischen Missionärs, des Paters Gaubil, über
die chinesischen Juden in Kai-fung-fu, wo es heisst, dass der Pater
bei jenen Juden ein Exemplar des Pentateuchs zu sehen bekam, das
man ihm vorhin geheim gehalten hatte: unter den Buchstaben soll
nichts gestanden haben, über ihnen aber Punkte und Accente, die
der Pater sonst nie gesehen hatte 1 . Da die Sache bis dahin uner¬
hört und desshalb unglaublich war, so suchte Johann David Michae¬
lis die sonderbare Nachricht dahin zu erklären, dass Gaubil bloss die
sogenannten Taggin (coronulae), welche die Juden über gewisse Buch¬
staben setzen, gesehen habe*. Derselben Meinung folgte auch
Johann Gottfried'Eichhorn # . Die zweite Nachricht fand der bekannte
italienische Bibelkritiker De-Rossi in einem Epigraph des Codex Nr.
12 seiner Sammlung hebräischer Handschriften, welche in der latei¬
nischen Uebersetzung lautet: «Targum hoc cum punctis suis.de-
scriptum est ex codice, qui allatus est e regione Babylonis, et puncta
supeme habebat regionis Assyriacae. Mutavit autem illa R. Nathan
fil. R. Machir .... correxitque illum et disposuit ad punctationem
Tiberiensem» 4 . Aber, wie gesagt, es fehlte der Schlüssel zum Ver¬
ständnis solcher Nachrichten, und daher war der in der Krim ge¬
machte Fund eine wahre Entdeckung. Und da der neuentdeckte
Codex fast auf jeder Seite wie für die Textkritik, so auch für die
Grammatik des Belehrenden viel bietet 5 , so war natürlich mit Ex-
* Lettres Idifiantes et curieuses 6crites des Missions Itrang&res par quelques Missio-
naires de la Compagnie de J6sus. T. XXXI. Paris 1744, p- 357 *
9 J. D. Michaelis, Orientalische und,exegetische Bibliothek, Theil IX. Frankfurt am
Main 1775, p. 43.
* Eichhorn, Einleitung in das Alte Testament. 4. Ausgabe. Band. U. Göttingen
1823, pag. 580.
* Mss. Codices Hebraici Biblioth. J. B. De-Rossi, vol. I, Parmae 1803, p. 8, coL 2.
Das hebräische Original dieses Epigraphs ist von Luzzatto mitgetheilt worden in Polak’s
Oesterscfu Wandclingen^ Amsterdam 1846, p. 24, und danach bei Pmsker , Einleitung
p. 1 (wo fehlerhaft 42, statt 24).
* Die neuentdeckte Punktation unterscheidet sich von der bisher bekannten nicht
bloss durch die äussere Form, sondern auch durch die innere Structur, so s. B. fehlt da
der Segol (E-Laut) u. dgl.
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37i
cerpten und Bruchstücken nichts geholfen, es musste der ganze Co¬
dex diplomatisch genau edirt werden. Daher wurde in gelehrten
Kreisen freudig die Nachricht begrüsst, dass auf Vorstellung des
Direktors der Kaiserlichen Oeffentlichen Bibliothek, Hm. J. Delja -
nozu, und des Adjunkt-Direktors, Hrn. A. Bytschkow , Se. Kaiserliche
Majestät eine genügende Summe für die facsimilirte Herstellung
dieses Codex bewilligt hat. Diese Herstellung wurde anvertraut der
Leitung des Hrn. Dr. Hermann Strack aus Berlin, eines Gelehrten,
welcher sich durch seine Schrift Prolegotnena critica in Vetus Testa -
tnentum Hebraicum (Lipsiae 1873) vortheilhaft bekannt gemacht.
«Die gründliche Sachkenntnis (heisst es in den Theologischen Stu¬
dien und Kritiken von Riehm , Jahrg. 1874, p. 192) und gewissenhafte
Genauigkeit, mit welcher in dieser Schrift ein umfassendes Material
revidirt ist, lässt ihn (den Dr. Str.) als den rechten Mann erscheinen,
um jene Schätze für die Wissenschaft zu heben» l .
Die photo-lithographirte Ausgabe, von der nun ein Theil uns vor¬
liegt, und die in kurzer Frist, wie der Editor in einem Nachworte
meldet, ganz erscheinen wird, erforderte zu der gründlichen Sach¬
kenntnis und der gewissenhaften Genauigkeit noch eine riesige Ge¬
duld und Ausdauer. Man bedenke, dass auf jedem der 224 Perga¬
mentblätter des Codex, abgesehen von den Buchstaben, mehrere
Hunderte von Pünktchen und verschiedenartigsten Strichlein in den
verschiedensten Stellungen zu einander und den Buchstaben sich be¬
finden j alle diese mussten genau untersucht werden, ob sie ursprüng¬
lich, wegkorrigirt oder hineinkorrigirt waren, in letztem Falle, ob
von erster oder späterer Hand, und dann erst musste für die genaue
Wiedergabe und deutliche Bezeichnung dieser Verhältnisse in der
Photo-Lithographie gesorgt werden. Wir können nun versichern,
dass dies Alles von Hrn. Dr. Strack aufs Glänzendste vollführt wor¬
den ist, so dass diese Ausgabe ebenso zur Ehre der sie veranlassen¬
den Behörde der Kaiserlichen Oeffentlichen Bibliothek, wie zu der
des geehrten Editors selbst gereichen wird.
Die Sonder-Abzüge der beiden genannten Propheten sind im In- .
teresse der Gelehrten veranstaltet worden, denen die Anschaffung
des ganzen splendid ausgestatteten Codex nicht gut möglich sein
sollte. Der Editor hat daher im Nachworte eine kurze Auseinander¬
setzung des neuen Punktations- und Accentationssystems zur Orien-
tirung beigegeben. A. J.
1 Vgl. auch die Bemerkungen von A . Geiger in der Zeitschrift der deut. morgenl.
Gesellschaft, Bd. XXVIII, 1874, p. 148 f., 487 f., 675 f.
/
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Revue Russischer Zeitschriften
Journal des Ministeriums der Volksaufklärung. (Journal minister-
stwa narodnawo prosweschtschenija — )KypHajn> MmmcTepcTBa
HapOÄHarO IIpOCB'femeHiR). August 1875. Inhalt:
Auszug aus dem allerunterthänigsten Bericht des Hr. Ministers der Volks-Aufklä¬
rung fiir das Jahr 1873. — Regierungsverordnungen. — Der Kampf zwischen den Ver¬
tretern der grossrussischen und der Ideinrussischen Richtung in Grossrussland am Ende
des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts Von S. Ljubimow. — Der heilige Synod
und seine Beziehungen zu den andern Reichsinstitutionen in der Zeit Peter’s I. Von
N. Wostokow. — Die Sophienkasse in Nowgorod. Von E. Prileschajew. — Ueber
eine slavische Handschrift in der öffentlichen Bibliothek zu Parma. Von Th. Buss-
lajew. — Kritik und Bibliographie: Vollständiger Kurs der kaufmännischen Buchhal¬
tung von P. I. Reinbott. Angezeigt v. W. T-rg. — Theorie der Rechnungsführung
beim Handel nach einem neuen System Von Th. Jeserskij . Angezeigt von demselben .—
Bericht über die Kaiserliche öffentliche Bibliothek im Jahre 1873, erstattet vom Direk¬
tor /. Deljanow. — Index zum Marinejournal (Mopcroft CöopHuxi») von 1848 — 1872,
von /. Petrow. — Eins unserer süddeutschen Gymnasien. Von Direktor K. v. Schmid .—
Auszug aus dem Jahresbericht des Nikolai-Hauptobservatoriums. — Nachrichten Über
die Thätigkeit und den Zustand unserer Lehranstalten: a) das historisch-philologische
Institut — Rede beim Schlussakte des Kaiserlichen historisch-philologischen Instituts.
Von A. Snamenskij . — Ueber die Reifeprüfungen im Jahre 1874. — Brief aas Paris.
Von L-L-r. — Abtheilung für klassische Philologie: Zur Frage über die allmähliche
Entwickelung der Wunschformen im Lateinischen. Von /. Zujetajew . — Bemerkung
zu Caes. B. G. VIL Von /. Meier . — Kritische Bemerkung zu Cic. Tusc. 2. in. Von
R. Voigt . — Ueber die Lektüre des Cornelius Nepos in der dritten Gymnasialklasse.
Von /. Meier. — Bibliographie: Callimachea edidit Otto Schneider. Angezeigt von
M. — Fasti Censorii quos composiut et commentariis instruxit Carolus de Boor. Ange¬
zeigt von M.
-September 1875. Inhalt:
Auszug aus dem allerunterthänigsten Bericht des Hr. Ministers der Volksaufklärung
für das Jahr 1873. — Regierungsverordnungen. — Iwan Possoschkow. Von A. Bruck¬
ner . — Der Kampf zwischen den Vertretern der grossrussischen und der kleinrussischen
Richtung in Grossrussland am Ende des 17. und am Anfänge des 18. Jahrhunderts.
Von S. ljubimow. — Eins von unsern süddeutschen Gymnasien. Von Direktor K. v,
Schmid. — Der erste Kongress der russischen Juristen in Moskau. — Nachrichten über
die Thätigkeit und den Zustand unserer Lehranstalten: a) Universitäten; b) niedere
Schulen. — Abtheilung fiir klassische Philologie: Zur Frage über die allmähliche Ent¬
wicklung der Wunschformen im Lateinischen. Von /. Zujetajew. - Ueber die Anwen¬
dung der Resultate der vergleichenden Sprachwissenschaft auf den Unterricht in der
Grammatik der alten Sprachen. Von F. Gelbke .
«Das alte Russland» (Russkaja Starina — Pycocaa OrapHHa). —
Herausgegeben und redigirt von M. J. SsemewskiJ . Sechster Jahrgang. Heft IX.
September 1875. Inhalt:
M. J. Lermontow: i)Der Maskenball. Drama in fünf Acten, nach nicht veröffent¬
lichten Handschriften. Von P L Jcfrcmow . 2) Skizzen, Gedichte und Briefe Lermon-
tow's aus den Jahren 1831 —1841. Von P . A . Jefremow. 3) Erinnerungen an Lermon¬
tow. Von y. y. Kostenetxky. 4) Bemerkungen zu den Portraits Lermontow’s. Von
P.A. ye/remaw. — K. Th. Rylcjew: 1) Briefe seiner Eltern, 2) Denkschrift über seinen
Dienst in den Jahren 1813 — 1821. Von P. A. yefremow. —Das Tagebuch W. K.
Küchelbeckers, 1833—1834. Von y. IV. Kosow. — Die letzten Tage aus dem Leben
A. L. Puschkin’s, 1837. Erzählung eines Augenzeugen. — Sendschreiben J. A. Odo-
jewsky’s an seinen Vater. — N. W. Gogol und seine nicht veröffentlichten Briefe aus den
Jahren 1835 — 1842. Von W. S. Schewyrew . Mit einem Vorworte und Anmerkungen
von Professor O. Th. Müller. — Erinnerungen O. A. Pneclawskts : Die Censur in
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373
früherer Zeit Mein mühevolles Leben. Erzählungen des Akademikers Z. A. Sserja-
kow. — W. N. Karasin, Gründer der Charkower Universität. 1803. — Blätter aus dem
Notizbuche der «Russkaja Starina»: 1) Verfügung des Kaisers Alexander I. über den
Obersten de Witte, 1808. 2) Ein Zug aus dem Leben des Metropoliten Gabriel. Von
G. y, Kusminsky. 3) Der Metropolit Seraphim und der Fanatiker Ljams. 4) Der
Archimandrit Foti und die Gräfin Orlow. Von y. y. Europäus. 5) Die Ermordung
des Feldmarschall Grafen M. Th. Kamensky im Jahre 1811. Eine Zeitung aus der
Hölle. Von JV. y. Lcstwiiin . — Bibliographische Mittheilungen über neue russische
Bücher (auf dem Umschläge).
Der «europäische Bote» (BtcTHHiT» Eßponu — Westnik Jewropy).
X. Jahrgang. 1875. September. Inhalt:
Ein Album. Gruppen und Portraits. III. Von W % Krestowsky. (Pseudonym).— Türke*
stan und die Turkestaner. I. Von M. 7 'erent/ew . — Pierre Josef Proudhon. Correspon-
dance de P. J. Proudhon. Dritter Artikel. Von D-jcw. — Die Neu-Celtische und Pro-
venzalsche Bewegung in Frankreich. IV—VI. Schluss. Von M, P. Dragomanow ,—
Die Cholera in Tambow im Jahre 1830. Nach Schilderungen von Augenzeugen. Von
y. Jakunin. — Der Konservatismus bei den Römern. «Ueber den Konservatismus in
der römischen Jurisprudenz*. Ein Versuch zur Geschichte des römischen Rechts.
S. Muromzew. I— III. Von W . y. Herier . — Notizen eines Gemeinen im ersten Jahre
der allgemeinen Wehrpflicht I -V. Von W. P. — ln Neapel. Reisenotizen. Von y. Z.
Minqjew . — Chronik: Die Universitätsfrage in Deutschland. I—IV. Von M. S. — Tage¬
buch eines französischen einjährigen Freiwilligen. Von L. P. —Rundschau im Inlande.—
Rundschau im Auslande. — Pariser Briefe: VI. Romane von Goncourt. — Biblio¬
graphische Blätter.
«Militär-Archiv» (Wojennij Ssbomik. —BoeHHbiß C6opHmci>.) —
Achtzehnter Jahrgang. 1875. Nr. 9. September. Inhalt:
Drei Jahre aus der Kriegsgeschichte und der russischen Herrschaft im Kaukasus
(1806, 1807, und 1808). Erster Artikel. Von N. Dubrowin . — Ueber die gegenwär¬
tige Bedeutung, Ausbildung und Verwendung der Kavallerie. Von Markow. — Die
Verpflegung der Truppen in Kriegs- und Friedenszeiten bei der russischen und aus¬
ländischen Armee. Erster Artikel. Von M. Hasenkampf, — Ueber den detaillirten Ab¬
gang der Untermilitairs von den Kompagnien der Armee-Infanterie. Von A. y. —
I) Ueber den Nutzen bei Einführung der auf mechanischem Wege angefertigten Huf¬
eisen in der Kavallerie und Artillerie. Von F . y. — Einige historische Bemerkungen
über die frühere Militair-Organisation in Bosnien und der Herzogowina. Von A.
Tschaikowsky . — Der Frühling von 1868 in Central-Asien. Erinnerungen eines Kosa-
ken-Ofliziers. Von A. P. Ch-n. — Bibliographisches.— Militärische Umschau in Russ¬
land. — Militairische Umschau im Auslande.
«Russisches Archiv» (Russkij Archiw — PyccKifl ApxHBt.) —
herausgegeben von Peter Bartenjew. XIII. Jahrgang. 1875. 9. Heft. Inhalt:
Moskau im Jahre 1812. Nach neuentdeckten Papieren IV. Von A, A. Popow. —
Lebensbeschreibung des Fürsten A. D. Menschikow. Nach neu entdeckten Papieren.
(Der schwedische Krieg. 1706- 1709). Von H. IV. yessipow. — Notizen über die
Martinisten; vorgestellt der GrossfUrstin Katharina Pawlowna durch den Grafen Ro-
stop sch in im Jahre 18II. — Ueber unsere Frage der Leibeigenschaft im achtzehnten
Jahrhundert. (Als Antwort an H. Th. Karpow.) Von O . Th . Müller . — Die erste Aus¬
bildung Peter’sdes Grossen. Von A r . P. Asfrow. — Die Heldenthat des Bürgers Jeras-
siroow. Von H. N. Alexandrow . — Der Urgrossvater Lermontow’s. Von G. P. Dani -
lewsky. — Ergänzende Notizen über die ersten Schicksale Menschikows. «Ein Jeder hat
sein eigenes Paradies». Ein altes Gedicht von S. A. Nejelow. Mitgetheilt von A. G.yer-
moloiv. — Ein nichtveröffentlichles vierzeiliges Gedicht Puschkins. Mitgetheilt von
A . P. Barsukow. — Systematisches Inhaltsverzeichnis des Graf Woronzow’schen
Archivs.
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374
Rassische Bibliographie.
Smiretschansky, K. Sammlung historisch-statistischer Aufsätze zur
Kunde der Pskow’schen Eparchie. I. Historischer Abriss des IX.—
XVII. Jahrhunderts. Herausgegeben vom Pskow’schen statistischen
Komite. Pskow. 8°. II + 232 S. (CNMpewaHCKik, K cbmu ,. Hctophko-
CTaTHCTH^lecKitt cöopHHKi> cB'kA'kHift o IIcKOBCKoft enapxin. I. Hc-
TopHqecKift o^epKi». IX — XVII b. H3a. IIck. ryö. ctbt. k—T a.
riCKOBT». 8 Ä. II + 232 CTp.).
Qudim-Lewkowttsch, P. Historische Entwickelung der Kriegsmacht
in Russland bis zum Jahre 1708. Kritische Beurtheilung der Cam¬
pagne von 1708. St. Petersburg. 8°. 196 S. und drei Karten. (ryAun*
JldBMOBim, fl. HcTopnqecKoe pa 3 BHTie BoopyaceHHuxi» chat> bt»
Poccin äo i7o8r. KpHTHHecKift paaöopt KaMnaHin 1708 r. Cn6.
8 ä. 196 CTp. h 3 Kap tu).
Schensehin, K. Die Kriegskunst Napoleon’s I. verglichen mit der
Kriegskunst der Jetztzeit. St. Petersburg. 8°. XII + 257 S. mit 8 Ta¬
feln und 6 Plänen. (llleHimnrb, Kan. BoeHHoe H3KycTBo HauojieoHa I,
bt> napajuiejib ci> coBpeMeHHUMi» ero cocTOXHieMi». Cn6. 8 a. XII
+ 257 h 8 Taöji. h 6 njiaHOBT> h Kaprb).
Murawjew, A. N. Briefe über den Muhammedanismus. Zweite ver¬
mehrte Auflage. Kasan. 12°. VI + 155 S. (MypaBbeBV A. H. üucbMa
o MaroMeTaHCTB'fe. Ü 3 A. 2-e, Aon. Ka3aHb. 12 a. VI + 155 erp.)
Sagorowsky, A. Historischer Abriss der Anleihe nach russischem
Recht bis Ende des XIII. Jahrhunderts. Kijew. 4 0 . 78 S. (3aropoa-
cKÜf. A* HcTopnnecKiä onepKb 3aftMa no pyccKony npaßy ao KOHua
XIII ct. KieBb. 4 a. 78 CTp.).
Stepanow. J. Versuch einer Theorie derjVersicherungs-Konvention.
Kasan. 8°. XXII + 203 S. (CTenaHOBb, H. Onurb Teopift CTpaxo-
Baro Aoroßopa. Ka3aHb. 8 a.) XXII -f 203 crp.).
Pljuzinsky, A. Kursus der Fortifikation in Junkerschulen. St. Peters¬
burg 8°. XX + 244 S. mit einer Tabelle Zeichnungen. (flMIlNNCKH, A.
Kypcb 4>OpTH<l>HKauiH K)HKepCKHXl> yHHAHm*b. Cn6. 8 a. XX + 244
CTp. H I Jl. HepT.).
Middendorff, A. Sibirische Reise. Band IV. Uebersicht der Natur
Nord- und Ost-Sibiriens. Theil 2. Dritte Lieferung. Die Eingebore¬
nen Sibiriens. (Schluss des ganzen Werkes). St. Petersburg. 4 0 . VII
und 1395 — 1615 S. mit 16 Karten.
Schpilewsky, M. Das Polizeirecht, als selbstständiger Zweig der
Rechtswissenschaft. Odessa. 8°. 196 S. (lUmtiieBCKil. Mmx. IIoau-
ueftcKoe npaBO, Kaiti> caMocTOHTejibHaa oTpacju» npaBOB'hA'hHia.
OAecca. 8 a. 196 CTp.).
LjapWewsky, N. Geschichte des Notariats. I. Band. Moskau. 8°.
X-f- 310 S. und eine Tabelle. (JlanNABBCHÜi, H. HcTopia HOTapiaTa.
T. I. 8a. X 4 - 310 CTp. h 1. A.).
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375
Murawjew - Meschtschersky. Die gegenwärtige Praxis der russischen
Landwirthschaft in ihrem ganzen Umfange und ihre Anwendung auf
den Boden Russlands. Moskau. *4°. 516 + 120 + 14 7 S. (MypaBbOBO-
MeuiepCKiff. CoBpeMeHHax apaKTsnca pyccxaro cejibcxaro xo 3 aftCTBa
bo Bcfext ero BHAax-b h npHM'hHeüiax'b noiBaMi» Poccin. Ob
pnc. MocKBa. 4 a, 516 + 120 + 147 crp.).
Tumanow, H. Nachschlagebuch der Feldfortifikation und der Mili¬
tärkommunikation für Sapeur-Offiziere. St. Petersburg. 8°. VIII -i- 86
+ 254 +211+ XVII S. und 30 Bog. Zeichnungen. (TytfaHOBb, T. kh.
CnpaBOHHax KHHra no nojieBoft <i>opTH<j>HKai*iH h no soeHHbiMb co-
o6n;eHixMi> äaa canepHbixb o<x>imepoBb. Cn6. 8 A VIII -f 86 + 254
+ 211 + XVII crp. h 30 ji. nepT.).
Tumasow, N. Kursus der Geschichte der alten Welt. (Osten). Kijew.
8°. 484 + III S. (TyncoBb, H Kypcb HCTopin ApeBHaro Mipa. (Boc-
toki>). Kießb. 8 a. 484 - 1 - III cTp.).
Wocel, J. E Die älteste Schlachtgeschichte der Slaven im Allge¬
meinen und der Czechen ins Besondere. Uebersetzt aus dem Czechi-
schen von N. Saderatzky. Kijew. 8°. 341 S* (BoueJlb, fl. E. ÄpeBirfcä-
inaa öuTOBax HCTopia caaBXHb Booßme h nexoßb bt> ocoÖchhocth.
IlepeB. ci» qeiucKaro H. 3 aAepai*icaro. Kießb. 8 a. 341 CTp.).
Petrow, N Eine Beschreibung der Handschriften des kirchlich-ar¬
chäologischen Museums an der geistlichen Akademie in Kijew. I.
Lieferung. Kijew. 8°. 280 + 2 S. (fleTpoBb, H. OnncaHie pyKonnceft
uepxoBHo-apxeoJiorHHecKaro My 3 ea npn xieBcxoö AyxoHoft axaAeMiH.
Bun. I. Kießb. 8 a. 280 f- 2 CTp.).
Popow, A. Erster Nachtrag zur Beschreibung der Handschriften und
des Kataloges geistlicher Schriften der Bibliothek A. J. Chludow’s.
Moskau. 4 0 . 94 + 5 S. (flonoBb, AüApofl. IlepBoe npnöaBAeme kt>
onncaHiio pyKonnceft h xaxajiory KHHrb uepxoBHOft neaaTH önöAio-
TexH A. H. XjiyAOBa. MocKBa. 4 ä- 94 “h 5 CTp.).
Tschuprow, A. Das Eisenbahnwesen. Seine ökonomischen Einzeln«
heiten und seine Beziehungen zu den Interessen des Landes. Mos¬
kau. 8°. IV + 352 S. (Hynpoßb, A )Kejrfc3HOAopo»cHoe xo3aftcTBo.
Ero 3 Kohom HHecKiH ocoöeHHocTH b ero OTHomeHia Kb HHTepecaMb
CTpaHU. MocKBa. 8 a. IV + 352 crp.).
Ssergejewsky, N. D. Ueber das Geschworenengericht. Jarosslaw. 8°.
92 -f- 1 S. CeprteBCKiU, H. A- O cyA'fe npncaxcHbixb. -HpocjiaßAb.
8 a. 92 + 1 CTp.).
Regely E. Alliorum adhuc cognitorum monographia. St Petersburg.
8°. 266 S.
Rathlef, Georg. Das Verhältniss des livländischen Ordens zu den
Landesbischöfen und zur Stadt Riga im dreizehnten und in der er¬
sten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts. Dorpat. 8°. I + 152 s.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Carl Röttger.
AoaBOJieHO ueiwypoK). C.-rieTepÖyprb, 17-ro Oimräpx 1875 toar.
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/'
Im Verlage der Kaiserlichen Hofbuehhandlnng H. Scbmitzdorft
(Carl Röttger), Newsky-Prospekt Nt 5, sind erschienen und sowohl
von ihr direkt, als auch durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
DIE GEMÄLDESAMMLUNG
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Bistram, Baron Nicolans. Die rechtliche Natur der Stadt - wpd
Landgemeinde. Eine, von der Juristenfacultät der K. Universität
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Diese gründliche und bedeutende Arbeit behandelt in vergleichen¬
der Weise, — indem sie das Geschichtliche, Positive und Kritische
mit einander verbindet — das Gemeindewesen in Frankreich,
Deutschland, England und Russland. Nachdem erst im allgemeinen
Theile der Schrift Begriff und Wesen der Gemeinde und die damit
zusammenhängenden Fragen (Selbständigkeit der Gemeinde, Ge¬
meindeämter, Communalsteuer etc.) in den Bereich der Betrachtung
gezogen sind, folgen im besondern Theile: Gemeindebezirk und
Gemeindebürgerrecht — Vertretung und Behörden — Gemeinde-
Gut und Haushalt — Kirche und Schule — Bauwesen — Gesundheits*,
Handels- und Gewerbe-Polizei — Armenpolizei und Armenpflege
— Rechtspflege (Friedensrichter und Geschworene) — etc. Einen
besonderen Werth verleiht dem Buche die beständige eingehende
Rücksichtnahme auf die einschlägigen russischen Verhältnisse.
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Die Karte selbst ist in russischer Sprache, der erläuternde Text in rassi¬
scher und deutscher Sprache gedruckt.
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Zar Geschichte der didaktischen Literatur in
Bassland im achtzehnten Jahrhundert.
Die Geschichte des Zeitalters Peter’s des Grossen stellt uns den
Prozess der Europäisirung Russlands dar. Insofern der Schritt vom
Orient zum Occident ein gewaltiger war, musste ein solcher Ueber-
gangszustand längere Zeit in Anspruch nehmen. In der geistigen
Atmosphäre begegnen verschiedene Strömungen einander: daher
geht es nicht ohne gewaltsame Stürme ab. Die fortschrittlichen
Tendenzen der Regierung werden meist von dem Volke entschieden
abgelehnt. Nur ausnahmsweise sehen wir in den Massen eine ge«
wisse Vorliebe für ausländische Kultur. Es macht dann einen um
so eigenthümlicheren Eindruck, wenn wir wenige Jahre vor Peter
dem Grossen einem Erlass der Regierung begegnen, in welchem die
Unterthanen vor dem Tragen ausländischer Kleidungen, vor dem
Nachahmen westeuropäischer Moden gewarnt werden K So be¬
gegnen wir der Alternative von Orient und Occident, vom Natio¬
nalen und Kosmopolitischen nicht bloss in den officiellen Kreisen,
sondern auch im Publikum. Das Volk, um dessen Geschicke es
sich handelte, hat lange Zeit hindurch sich weder für das Eine noch
für das Andere entschieden und ist oft inconsequent gewesen. Es
hat in kurzer Zeit eine grosse Zahl Fremdwörter in seine Sprache
aufgenommen und doch wiederum oft genug die ausländische Bil¬
dung voll Verachtung von sich weisen wollen. Es hat gegen das
Bartscheeren protestirt, da es doch das Tabakschnupfen annahm.
Es hat in den durchgreifenden Reformen Peter’s einen Verrath an
der Nation, in der Einführung der Staatsmaschinerie, welche im
Westen üblich war, die Ankunft des Antichrist^ erkennen wollen,
und ist doch andererseits den hochfliegenden Plänen Peter’s gefolgt,
oder hat dieselben gar durch seine Gefügigkeit und Anstelligkeit
gefördert. Wenn aber das russische Volk hie und da halb naiv, halb
• s. d. Vollständige Gesetzsammlung, Nr. 607 im Jahre 1675.
Rom. Berne Bd. VII.
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378
verrennt, sich den Einflüssen vom Westen hat entziehen wollen, so
hatten doch letztere Macht genug, um alle Schranken des Vorur-
theils und Aberglaubens zu durchbrechen.
Eine solche Mischung entgegengesetzter Elemente tritt uns dann
auch in der didaktischen Literatur in der ersten Hälfte des acht¬
zehnten Jahrhunderts entgegen. Wir beabsichtigen in der folgenden
Abhandlung diese verschiedenartigen Strömungen an einzelnen
Beispielen zu veranschaulichen. Es ist ein denkwürdiger Abschnitt
in der Geschichte der Pädagogik, welchen wir damit berühren. An
der Hand einiger didaktischer Schriften, welche zum Theil längst
vergessen, zum Theil erst in neuester Zeit wieder entdeckt und
veröffentlicht wurden, gedenken wir einen Einblick zu thun in die
Geschichte der Ideen jener Zeit.
Die pädagogische Literatur in Russland vor dem achtzehnten
Jahrhundert hat nur wenige Erzeugnisse aufzuweisen. Dahin gehört
u. A. jene um das Jahr 1125 verfasste «Ermahnung Wladimir Mono-
mach's», in welcher der greise Fürst, der den Tod herannahen fühlt,
seinen Kindern ein Bild seines Lebens und Strebens entwirft und
ihnen gute Lehren giebt. Er empfiehlt ihnen Frömmigkeit, Mildthä-
tigkeit, Bescheidenheit im Verkehr mit älteren Leuten, Wohlwollen
im Verkehr mit Geringeren, Mässigung im Reden, Demuth und
Ehrfurcht vor den Geistlichen. Er zeigt ihnen, wie vergänglich alles
Irdische sei; er lehrt sie, wie sie sich in Kriegszeiten zu verhalten
hätten: tapfer und unermüdlich; er rühmt die Gastfreundschaft,
die Sorge für die Kranken und Schwachen. Den Ehemännern wird
Liebe zu den Frauen empfohlen, doch so, dass die Frauen nicht die
Herrschaft gewinnen über die Männer.
So kurz diese Betrachtungen sind, so verschiedene Gebiete werden
doch in denselben berührt. Da wird denn z. B. die Kenntniss fremder
Sprachen gepriesen, oder die Bemerkung gemacht, dass der Nach¬
mittagsschlaf von Gott verordnet sei l . Ferner erzählt der Alte von
den vielen Reisen, welche er in seinem Leben unternommen habe,
und von den vielen Gefahren, denen er ausgesetzt gewesen sei *.
Er zählt die Friedensschlüsse auf, welche er zu Stande gebracht, und
die wilden Pferde, welche er eigenhändig gebändigt habe. Dann
kommen Jagdgeschichten der abenteuerlichsten Art. Sehr lebendig
ist die Schilderung, wie oft und gefährlich der Fürst von wilden
1 Cn&Hbe een» Ott. Sora npacyacACHo noJiyAHe.
* Eine ähnliche Statistik der Reisen liefette Karl V. in seinen Memoiren.
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Thieren verwundet worden sei; nie habe er sich Ruhe gegönnt; in
allen Handtirungen sei er selbst erfahren gewesen; dass er so viel
habe leisten können, rechne er nicht sich zum Ruhme an, sondern
erblicke darin den Segen Gottes, der ihn zu allerlei guten Werken
tüchtig gemacht habe u. s. w.
So der Inhalt derjenigen pädagogischen Schrift des Mittelalters,
welche am bekanntesten ist, am meisten gelesen wurde. Es giebt
dann noch einige andere Schriften ähnlichen Inhalts. Die geistliche
Literatur ist reicher an derartigen Erzeugnissen, als die weltliche.
Epochemachend in der Geschichte der weltlichen pädagogischen
Literatur ist der «Domostroi», welcher im fünfzehnten oder sechs¬
zehnten Jahrhundert entstand und eine lange Zeit hindurch das wich¬
tigste Laienbrevier war. In einer besonderen Abhandlung haben wir
auf den Inhalt und Charakter dieser Schrift hingewiesen 2 . Dieselbeist
ein Erzeugniss der öffentlichen Moral jener Zeit: die religiösen Er¬
mahnungen oder eigentlich Verhaltungsregeln, die im Tone einer
geschäftlichen Instruktion geschriebenen geistlichen Lehren, die
Betonung des Aeusserlichen, Formellen, Konventionellen, der Mangel
einer tieferen Moral, die mönchische, düstere Weltanschauung, un¬
zählige Vorurtheile — zeigen uns die intellectuellen und ethischen
Bestrebungen und Bedürfnisse jener Zeit. Es fehlt nicht an Beweisen,
dass die Anschauungen des «Domostroi» namentlich in den tieferen
Schichten des Volks Wurzel gefasst hatten. Wir erblicken darin
einen Spiegel der Zustände des XV. und XVI. Jahrhunderts. Die
pädagogischen Grundsätze damals sind abstossend streng und
unfreundlich. Nicht das Gefühl der Pflicht und der Selbstverant¬
wortung wird gelehrt, sondern nur unbedingter Gehorsam, sklavi¬
sche Unterwürfigkeit. Höhere, geistige Interessen fehlen. Eine harte
Behandlung der Kinder, Körperstrafen u. dgl. sind das Arcanum
aller Erziehungskunst. Heiterkeit, froher Lebensgenuss, Kunst und
Poesie sind nirgends erwähnt und entsprechen auch nicht dem aske¬
tischen Geiste, in welchem einzelne Partien des Buches geschrieben
sind. Von einer Strebsamkeit auf geistigem Gebiete, von Lern¬
begierde findet sich keine Spur. Wie auf dem Gebiete der Wirt¬
schaft, soweit dasselbe im «Domostroi» berührt wird, die Produk¬
tion so gut wie völlig mit Stillschweigen übergangen wird, wie alle
darin erwähnten Erscheinungen mehr den Eindruck des Zuständ-
1 Neuerdings wieder gedruckt ist die «lloyneme Bji&AHMipa Monouaxä* in Aristow*s
€ Chrestomathie für Russ. Gesch.*. Warschau, 1870. S. 851—857.
* «Russische Revue«, Bd. IV. S. I—29.
25*
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S*>
liehen als des Werdenden haben, so fehlt denn auch der Begriff einer
geistigen Entwicklung, Vervollkommnung. Der Orient ist genügsam,
apathisch, unhistorisch.
Es ist die Aufgabe der Regierung gewesen, mit diesen Zuständen
und Anschauungen abzurechnen. Es galt durch Reformbestrebungen
im Sinne der westeuropäischen Kultur aufzuräumen mit dem starren
Formalismus, dem beschränkten Aberglauben, der Passivität und
Trägheit auf allen Gebieten. Die Fürsten geben in ihrem Wesen, in
ihrer Haltung und Handlungsweise ein Beispiel antidomostroischer
Gesinnung. Demetrius (1605— 1606) spottet über die geistige Unbe-
holfenheit seiner Bojaren, stellt ihnen die Nothwendigkeit vor, Stu¬
dien zu machen, Sprachen und Wissenschaften zu lernen, empfiehlt
ihnen Reisen ins Ausland als Mittel solcher Ausbildung, wie er denn
selbst durch geistige Regsamkeit, Wissensdurst, Vielseitigkeit aus¬
gezeichnet war. Selbst der Zar Alexei Michailowitsch (1645—1676)
mit seiner Vorliebe für die im «Domostroi» verpönte Jagd mit abge
richteten Vögeln und Hunden, mit seinen theatralischen und musi¬
kalischen Aufführungen, denen er gern beiwohnte, mit seinen per¬
sönlichen Beziehungen zu einzelnen, schon ganz unter westeuropäi¬
schen Einflüssen stehenden Männern (z. B. Matwejew) durchbricht
die Anschauungen früherer Zeit, obgleich er im Wesentlichen als
der Typus eines Fürsten von altem Schlage, als ein Vertreter des
orientalischen ancien r£gime in Russland auftritt. Unvergleichlich
rücksichtsloser bricht Peter der Grosse mit dem alten Wesen. Seine
Rührigkeit und Vielgeschäftigkeit, seine Strebsamkeit und unver¬
wüstliche Arbeitskraft, sein vielseitiges Geschick für technische
Handtirung, wie sein warmes Interesse für Fragen der Wissen¬
schaft , das Gefühl der Pflicht und Verantwortlichkeit, das ihn be¬
seelt, die ausgelassene Heiterkeit und Lebenslust, die stets sich er¬
neuende Spannkraft für allerlei Unternehmungen und Genüsse, die
unerbittliche Strenge, mit welcher er seine Genossen, sein Volk in
diesen Strudel völlig neuen Lebens mit fortriss: — dies Alles steht
in direktem Widerspruch mit dem «Domostroi».
Ein solcher Zuchtmeister, ein so gewaltiger Pädagog begann
damit, Russland beim Westen in die Schule zu schicken. Man weiss,
wie sauer es den Lernenden wurde, in dieser Richtung vorwärts zu
gehen. Der Kampf des Alten mit dem Neuen entbrannte. Diese
Alternative begegnet uns auf dem Gebiete der praktischen Politik,
wie auf dem Gebiete der Literatur.
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3 **
Es mag von Interesse sein, diese zwei verschiedenen Richtungen!
auch auf dem Gebiete der pädagogischen Literatur zu verfolgen.
Indem wir auf das Wesen und den Charakter, so wie auf den Inhalt
einiger pädagogischer Werke aus dem Zeitalter Peter’s des Grossen
eingehen, haben wir Gelegenheit wahrzunehmen, wie die Welt
des «Domostroi» und die moderne europäische Kultur einander
gegenüberstehen.
Iwan Possochkow.
IwanPossoschkow, ein Bauer und Techniker, verfasste am Anfang
des achtzehnten Jahrhunderts mehrere zum Theil recht umfassende
Schriften, in denen vorwiegend religiöse und nationalökonomische
Fragen behandelt wurden. Ueber das Maass der Verbreitung dieser
Schriften ist es sehr schwer sich eine Vorstellung zu machen. Von
einigen derselben haben sich mehrere Abschriften erhalten. In Ge¬
schichtswerken wird erst während der zweiten Hälfte des acht¬
zehnten Jahrhunderts Possoschkow’s als eines beachtenswerten
Schriftstellers erwähnt. Ein Paar kürzere Abhandlungen wurden in
den Jahren 1793 und 1815 herausgegeben. Das Hauptwerk Possosch-
kow's «Ueber Armuth und Reichthum» erschien im Drucke, von
M. Pogodin herausgegeben, im Jahre 1842 K Es folgte sodann im
Jahre 1863 die Edition einer recht umfangreichen Schrift über das
Sektenwesen. Endlich erschien im Jahre 1873, von A. Popow entdeckt
und herausgegeben, die «Väterliche Ermahnung an meinen Sohn»,
(Moskau 1873, XV und 246 Seiten) und diese letztere bietet für un¬
sere Zwecke ein hervorragendes Interesse.
Der Herausgeber war so glücklich gewesen, diese Handschrift von
einem Büchertrödler käuflich zu erwerben. Da der Name des Ver¬
fassers in derselben nirgends genannt war, musste die Autorschaft
zunächst festgestellt werden. Folgende Gründe veranlassten Hm. Po¬
pow zu der Annahme, dass der Verfasser dieser Schrift kein An¬
derer sei, als Possoschkow. Es stellte sich eine Aehnlichkeit heraus
zwischen der Handschrift in dem neuentdeckten Manuskript und den
Handschriftproben, welche wir notorisch von der Hand Possosch-
f In mehreren in der «Baltischen Monatsschrift» in dem Jahre 1863 erschienenen
Abhandlungen habe ich das Leben und die Schriften Possoschkow’s zum Theil einge¬
hender behandelt.
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kow*s besitzet*. Ein Zweites Argument war der Umstand, dass der
unbekannte Verfasser seinen Sohn «Nikolai» nennt, während von
PosSoschkow’s Sohne bekannt ist, dass er diesen Namen führte.
Drittens ist in der «Väterlichen Ermahnung» wiederholt von einer
anderen Schrift desselben Verfassers die Rede, in welcher wir jene
gegen die Sektiker ^gerichtete Schrift erblicken müssen, und die
Autorschaft Possoschkow’s bei dieser letzteren istkonstatirt. Viertens
finden sich in dem notorisch von Possoschkow herrührenden Haupt¬
werk «Armuth und Reichthum» wiederholt Hinweise auf diese bis
zur Edition des Hm. Popow völlig unbekannte Schrift «Väterliche
Ermahnung», von welcher der Verfasser des Hauptwerkes bemerkt,
er habe dieselbe für seinen Sohn verfasst und empfehle deren Ver¬
breitung zum Nutzen und Frommen der russischen Jugend. Diesen
Argumenten des Hrn. Popow für den Beweis der Autorschaft
Possochkow’s fügen wir noch hinzu, dass eine zum Theil wörtliche
Uebereinstimmung zwischen einzelnen Stellen der «Väterlichen
Ermahnung» und anderen Schriften Possoschkow's, eine Ueberein¬
stimmung der Druck- und Schreibweise auch an solchen Stellen,
wo das Ausschreiben der Schriften Possoschkow’s etwa durch einen
fremden Autor an und für sich nicht wahrscheinlich erscheint,
jeden Zweifel daran beseitigt, dass Possoschkow der Verfasser der
«Väterlichen Ermahnung» gewesen sein müsse.
Hr. A. Popow setzt die Abfassung dieser Schrift in die Zeit vor
dem Jahre 1706. Die Gründe, welche derselbe für diese Behauptung
beibringt, sind keineswegs stichhaltig. Wir haben vielmehr Grund,
die Abfassung der Schrift in die Jahre 1715—1719 zu setzen, und
zwar sind es folgende Umstände, welche uns dazu veranlassen Der
Sohn «Nikolai», für welchen Possoschkow die «Väterliche Ermah¬
nung» schrieb, war im Jahre 1725, wie aus einem Aktenstück her¬
vorgeht, noch minderjährig, konnte also frühestens im Jahre 1707
geboren sein. In der Schrift ist der *Zarin Katharina Alexejewna»
erwähnt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dieses Epitheton schon
vor dem Feldzuge des Jahres 1711 gebraucht worden wäre, da erst
in Folge der grossen Krisis am Pruth Katharina zu einer officiellen
höheren Stellung gelangte. Ausserdem ist von den «Zarewitschs»
die Rede (ohne dass ihre Namen genannt würden), für welche der
Sohn beten solle. Nun gab es vor dem Jahre 1715 nur einen Zare¬
witsch, nämlich den Sohn Peter’s, Alexei. Im Jahre 1715 wurden
sodann Peter’sSohn Peter geboren, welcher 1719 starb, und AlexePs
Sohn Peter, welcher 1727 starb. Alexei selbst endete sein Leben
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tjii. fis kann ?dso nur ln den Jahren 1715 bis 1719 von Zarewitsch*
die Rede sein *.
Possoschkow hat demnach sein Werk «Väterliche Ermahnung»
einige Jahre früher verfasst, als seine inhaltreichste und anziehendste
Schrift «Ueber Armuth und Reichthum», welche er in den Jahren
1721—1724 kurz vor seinem im Jahre 1727 erfolgten Tode schrieb.
Es liegt ausserhalb unserer Aufgabe, den Gesammtinhalt dieser
«Väterlichen Ermahnung» oder dieses «Testamentes», wie man es
richtiger übersetzen müsste, zu reproduciren. Der Charakter des
Werkes ist ein vorherrschend geistlicher. Man wäre fast versucht, in
dem Verfasser einen Kirchenfiirsten, Dorfgeistlichen oder gar einen
Mönch vorauszusetzen, nicht aber einen Laien, dessen praktische
Lebensstellung, Vorliebe für Technik und Wirthschaft, vielseitige
Geschäftserfahrung noch mehr Beachtung verdienen, als die un¬
gewöhnliche Bibelfestigkeit oder die Kenntniss der Kirchenväter.
Doch ist dies Betonen geistlicher, kirchlicher Momente, religiöser
Stimmungen, dogmatischer Fragen zu wichtig und in die Augen
fallend, zu charakteristisch flir den Mann, die Lebenskreise, aus
denen er stammte, und seine ganze Lebensanschauung, als dass wir
nicht auf diese Seite seiner schriftstellerischen Thätigkeit hinzu -
weisen verpflichtet wären.
Sein ganzes Leben hindurch hat Possoschkow den Angelegen¬
heiten der Kirche eine besondere Aufmerksamkeit zugewandt. In
einem Schreiben an den stellvertretenden Verwalter des Patriarchen¬
amtes, Stephan Jaworski, hatte er schon in den ersten Jahren des
Jahrhunderts auf den Mangel an Bildung bei den Geistlichen, auf die
Stumpfheit und Unwissenheit in Betreff der Religion bei den Laien
hingewiesen, und mancherlei Mittel zur Abstellung solcher Miss¬
stände beantragt 8 . In dem umfassendsten seiner Werke «der
Spiegel» hatte er sodann (in den Jahren 1706—1709) ein streng¬
theologisches, dogmatisches, gegen die Ketzer (den Raskol) ge¬
richtetes Plaidoy er geliefert; in anderen kleineren Gutachten, welche
wahrscheinlich ebenfalls an Stephan Jaworski gerichtet waren, und
deren noch nicht herausgegebene Handschriften sich im Besitze der
1 Ich habe diese Fragen von der Autorschaft Possoschkow 1 s und der Zeit der Ab¬
fassung der Schrift ganz eingehend in einer besonderen Abhandlung erörtert; s. «Pyc-
exift BhcTHarb* 1874, Augustheft.
1 Darüber Handschriften in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften zu
St. Petersburg, sowie einzelne Abschnitte in dem ersten Bande der von M. Pogodin
herausgegebenen Schriften Possoschkow’s.
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3&4
St- Petersburger Akademie der Wissenschaften befinden, eiferte er
sehr gründlich gegen die Sektirer, schlug eine Reihe grassinqui¬
sitorischer Massregeln gegen dieselben vor und erörterte die Noth-
wendigkeit der Gründung von geistlichen Schulen und Akademien,
so wie der Verbreitung gemeinverständlicher, rechtgläubiger reli¬
giöser Schriften im Volke. In seinem letzten Werke *Ueber Armuth
und Reichthum» widmete er den geistlichen Angelegenheiten ein
ganzes Kapitel und wiederholt in demselben zum Theil die bereits
früher gemachten Vorschläge. Bei allen derartigen Gelegenheiten
giebt er eine grosse Zahl von Bibelstellen zum Besten, legt eine
merkwürdige theologische Belesenheit an den Tag und wagt sich
sogar auf das Gebiet philologischer Interpretation.
Possoschkow gesteht in einer seiner Schriften, er sei in seiner
Jugend ebenfalls ein Sektirer gewesen. Um so glühender ist sein
Hass gegen seine ehemaligen Glaubensgenossen. Kein Scheltwort
ist ihm zu stark, keine administrative Massregel zu grausam, wenn es
gilt, mit dem«Raskol» aufzuräumen. In blindem Fanatismus schmäht
er die «Gotteslästerer». Ebenso wuthschnaubend geisselt er die An¬
sichten und Sitten der Lutheraner.
Schon der Titel des an den Sohn gerichteten Werkes und die
einleitenden Worte charakterisiren den Geist der Schrift. Es heisst
da: «Väterliches Testament an meinen Sohn mit einer durch gött¬
liche Schriftstellen bestätigten Sittenlehre. Im Namen des Vaters
und des Sohnes und des heiligen Geistes, des allerhaltenden Gottes,
der Alles geschaffen hat. Ich biete diesen meinen Nachlass meinem
lieben Sohne dar. Ich bitte Dich, mein lieber Sohn, um Gottes
Willen mit allen Deinen Kräften an deinem Schöpfer festzuhalten,
seinen heiligen Geboten zu folgen und meine väterlichen Ermah¬
nungen nicht zu verwerfen*.
Das Werk ist in mehrere Kapitel getheilt. Kap. i. Ueber das
Jünglingsalter. Kap. 2. Ueber das eheliche Leben. Kap. 3. Ueber
die Grundsätze des weltlichen Lebens. Kap. 4. Ueber das Gebet.
Kap. 5. Ueber das bürgerliche Leben. Kap. 6. Ueber die Geschäfte
der Beamten und Richter. Die ersten vier Kapitel, also über die
Hälfte des Buches, haben einen durchaus geistlichen Charakter. In
den zwei letzten werden die verschiedenen Berufsarten besprochen,
der Beruf eines Landmanns, eines Sklaven, eines Handwerkers,
eines Kaufmanns, eines Officiers, eines Bettlers, eines Schreibers,
eines Beamten, eines Richters.
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3*5
Religion.
An vielen Stellen wird die Rechtgläubigkeit gepriesen. An Schmä¬
hungen gegen Luther, welchem allerlei Laster und Unsauberkeiten
angedichtet werden, ist kein Mangel. Die Reformation in Deutsch¬
land wird als ein Erzeugnis der Weltlust dargestellt: die Pro¬
testanten hätten gar keine Wunderthäter; es handle sich bei ihnen
nur um Tanzen und Hüpfen ganze Nächte durch, um Musik und
Trinkgelage und Kartenspiel. Wunderlicher Weise wird nicht bloss
Luther als von der römischen Kirche, sondern Calvin als von der
lutherischen Kirche abgefallen bezeichnet (S. 5). Beide werden
«höllische Wölfe» genannt. Von Luther und dessen Anhängerinnen
werden unglaublich schmutzige Dinge erzählt (S. 30, 31, 33). Sehr
eifrig tadelt Possoschkow, dass Luther den Gebrauch des Fastens
abgeschafft habe. Seine Anhänger werden desshalb mit den Mord¬
winen, d. h. mit den Heiden verglichen. Dieser «Hund», heisst es,
habe Christum verrathen, alle Gebote der Apostel mit Füssen ge¬
treten ; alle Gebote Luther’s aber seien Gottes Gebot wider¬
sprechend. Luther, der «Allerweltsnarr» *, der Ketzer aller Ketzer
oder der Erzketzer (<i>eTHJib <i>eTHJioBHHT>) habe nur darum Anhänger,
weil die Menschen nicht vernünftig genug seien, seine Ketzerei als
solche zu begreifen. Possoschkow meint, dass wenn die Lutheraner
mit ihrer Behauptung, dass sie nach Gottes Wort lebten, Recht
hätten, sie damit hätten anfangen müssen, Luther zu verbrennen,
statt aus Fleischeslust seinen Lehren zu folgen und den breiten
Weg zu wandeln, welcher zum Verderben führt (S. 48) 2 .
So tolerant man in den meisten Fällen von Seiten der Regierung
gegen Andersgläubige in Russland zu sein pflegte, so erbittert und
leidenschaftlich treten oft die Vertreter der Staatskirche gegen Ka¬
tholiken und Protestanten auf. In der Regel war, schon wegen des
Nationalhasses gegen die Polen und ferner in Folge der Gefahr,
welche von Seiten der Jesuiten drohte, der Hass gegen die Katho¬
liken stärker als der Hass gegen die Lutheraner. Die Letzteren
hatten in Moskau schon im siebenzehnten Jahrhundert Kirchen,
während die Katholiken bei ihren Bestrebungen Kirchen zu bauen,
1 S. 45 «»cecirfiTHbift Ayparb» vielleicht auch mit «der sehr weltlich gesinnte Narr»
zu übersetzen.
* Sehr ausführlich und an mehreren Stellen wohl acht- oder zehnmal wird Luthem
und seinen Anhängern die Unterlassung gewisser Waschungen zum Vorwurf gemacht.
Es ist ein echt orientalischer, alttestamentlicher Zug, dass auf das Formelle solcher
Waschungen so viel Gewicht gelegt wird.
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386
auf grosse Schwierigkeiten stiessen. In einzelnen Fällen aber ver¬
folgte man die Protestanten, wenn sie den Verdacht erregt hatten,
für ihren Glauben Propaganda machen zu wollen. Ueber die Ver¬
schiedenheit der Glaubensbekenntnisse herrschten übrigens dazwi¬
schen wohl sehr dunkle Begriffe, wie denn u. A. Marina Mnischek,
die Gemahlin des Demetrius, in einem officiellen Schreiben eines
Kirchenfursten als Lutheranerin bezeichnet wird. Zu Possoschkow’s
Zeit wurde Petern nachgesagt, er habe die protestantische Partei
«zu favorisiren gesucht», während die russischen Geistlichen den
Protestantismus «von Herzen hassten» l , und allerdings Hess es
u. A. der bereits oben erwähnte Chef der russischen Kirche, Stephan
Jaworski, welcher manche geistliche Schriften veröffentlichte, nicht
an einer Blumenlese von gegen Luther gerichteten Schimpfwörtern
fehlen. In einer Predigt (v. J. 1698) nennt er Luther «ein vom hölli¬
schen Gift gesättigtes Gewürm», «einen dreifach verfluchten Ketzer»,
weil Luther die Ehe nicht für ein Sakrament halte, u. s. w. Ä . Wir
wissen, das Possoschkow mit Stephan Jaworski in Verkehr stand
oder wenigstens einige Schreiben an ihn richtete. Sie waren Gesin¬
nungsgenossen.
Warnt Possoschkow seinen Sohn vor der Ketzerei der Luthe¬
raner, so schweigt er auffallenderweise in der «Väterlichen Er¬
mahnung» von den Gefahren, welche das russische Sektenwesen
dem Sohne bieten mochte. Dagegen betont er sehr energisch die
Verehrung, welche man der rechtgläubigen Geistlichkeit schulde.
Schon in dem «Spiegel» hatte er von der grossen Macht gesprochen,
welche dem geistlichen Stande von den Aposteln gegeben worden
sei, so dass ohne die Vermittelung dieses Standes kein Heil möglich
sei («Spiegel» S. 45). Daher ermahnt er denn seinen Sohn, die Geist¬
lichen, selbst bescheidene Dorfpopen, zu ehren. Dass dies nicht
allgemein geschah, ist aus der Aeusserung zu ersehen, wie einer
schlechten Sitte zufolge reiche Leute den Geistlichen eine weniger
ehrenvolle Stelle bei Tische anzuweisen pflegen, als sie selbst ein¬
nehmen: dieses zeuge von grossem Unverstände, auch der ge¬
ringste Mönch sei als ein Apostel Christi, als ein Vater zu ehren,
mit den besten Speisen zu bewirthen, wenn man Gottes Zorn ver-
1 Vockerodt, in Hermann’s «Russland unter Peter dem Grossen». Leipiig 1872,8. 20.
* Andere Epitheta sind: «nepaii* epeciapxo, öoroMepsiri* ÖJiiosHcpito, rayxii
acnuAe» u. dgl. s.Pekarski »«aysa u jnrrepaTypa npu IleTpkBeJiMKOMT,». St Petersburg
1862, II. S 4.
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meiden wolle. Dem Sohne wird anempfohlen, wenn er in eine Ge¬
sellschaft komme und einen Geistlichen unten am Tische sitzen
sehe, denselben mit einiger Demonstration auszuzeichnen, dessen
Segen zu erflehen und einen noch bescheideneren Platz einzu¬
nehmen, als der Geistliche einnehme. Das respektvolle Benehmen
soll sich auch auf betrunkene Geistliche erstrecken: die ihnen von
Gott verliehene Gabe des heiligen Geistes habe keinen Antheil an
dem Rausche, und nur in den allerseltensten Fällen gehe der Mönch
dieser Gabe verlustig. Im Prinzip hält Possoschkow die Geistlichen
so hoch, dass selbst an äusserem Ansehen Niemand vom Gefolge
des Zaren sich mit ihnen vergleichen könne. Es scheint ihm nicht
genug, wenn der Sohn seinen Beichtvater wie einen Vater ehre: er
verlangt, der Sohn solle sich demselben gegenüber als ein Sklave,
als der geringste aller Menschen fühlen (S. 66). Eine solche Auf¬
fassung ist eben bedingt durch die Ueberzeugung, dass Gott den
Geistlichen die Schlüssel des Heils gegeben habe. Daher ist vor
jeder Unternehmung, insbesondere aber vor jeder noch so kleinen
Reise der Segen des Geistlichen einzuholen (S. 66). Sehr naiv be¬
merkt er S. 173, indem er dem Sohne räth, auch Bettlern, welche
häufig eine religiöse Verehrung genossen, bei Tische die leckersten
Bissen vorzusetzen, es seien ja die Bettler die Repräsentanten
Gottes und es müsse ja Gott kränken, wenn er sähe, dass die Bettler
schlecht behandelt würden, ebenso wie ein Sklavenbesitzer es nicht
gleichmüthig ansehen könne, wenn seine Sklaven in seiner Gegen¬
wart leckerer speisten, als der Herr selbst
%
Man sieht, dass die religiösen AnschauungenPossoschkow’s durch¬
aus denen des «Domostroi» entsprechen. Es scheint ihm darauf
anzukommen, der Vorsehung gegenüber aus Zweckmässigkeits¬
gründen den Standpunkt einer gewissen konventionellen Höflichkeit
einzunehmen. Durch die Courtoisie gegen Geistliche und Bettler
hofft er Vortheile zu erlangen, wie man wohl Hofbeamten schmei¬
chelt, um sich bei dem Fürsten in Gunst zu setzen.
So ist es denn halb kindlich, halb kleinlich, dass Possoschkow
seinen Sohn, falls derselbe beim Schreiben eine neue Feder pro-
bircn wollte, davor warnt, irgendein geistliches Wort oder einen
Spruch, wie z. B. «Gott segne mich» zu schreiben, weil solche Fetzen
Papier nachher leicht mit Füssen getreten würden oder dgl.; man
müsse vielbesser etwas ganz Unbedeutendes schreiben, z.B.«Versuch
der Feder». Bemerkenswerth ist, dass das Schreiben eines geist«
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3*8
liehen Spruches beim Versuchen einer neu angespitzten Feder als
eine weitverbreitete Unsitte bezeichnet wird (S. 214).
So gut wie unmittelbar aus dem «Domostroi» entlehnt sind die
Verhaltungsregeln für das Benehmen beim Gottesdienste. Ueber
die Art und die Zahl der Verbeugungen verbreitet sich Possoschkow
sehr ausführlich, ferner über das zeitige Abnehmen des Hutes,
wenn man sich einer Kirche nähere, oder wenn das Sakrament
getragen werde. Im letzteren Falle wird das Aussteigen aus dem
Wagen anempfohlen und das Niederknien «im Schmutze» (rpaaHO
nomioHBCb 40 seMjcii). Ganz genau ist die Zahl der Verbeugungen
bemessen, welche man beim Vorübergehen an den verschiedenen
Heiligenbildern zu machen und welche Worte man dabei zu sprechen
habe (s. das Reglement S. 105). In der Kirche, heisst es weiter,
solle man unbeweglich stehen, ohne sich einen besonderen Platz aus¬
zuwählen, an die Wand dürfe man sich nicht anlehnen, ebensowenig
sich auf einen Stock stützen, wenn letzteres nicht durch Alter oder
Krankheit geboten werde. Ueberhaupt gilt es für Sünde, einen Stock
oder eine Waffe in die Kirche zu nehmen: alles Dieses müsse an der
Thüre einem Diener zur Aufbewahrung gegeben werden. Ganz
widerwärtig erscheint dem Verfasser die Sitte der «Deutschen»,
mit Hellebarden in der Kirche zu sein, dem Gottesdienste sitzend
beizuwohnen und gar keine Verbeugungen zu machen. In der
Kirche, heisst es ferner völlig übereinstimmend mit den Lehren des
«Domostroi», dürfe man nicht unvorsichtig spucken, sich schnäuzen
oder dgl. Sehr unerquicklich ist die detaillirte Ausführung dieser
Vorschriften, die dem Possoschkow sehr wichtig erscheinen.
In der Kirche, fährt Possoschkow fort, soll Jedermann bescheiden
sein, Niemand stossen und drängen, beim Fortgehen sich nicht über
die Menge erheben, weil vor Gott Arme und Reiche gleich seien.
Ferner Soll man die Mädchen und Frauen in der Kirche nicht an-
blicken, nicht auf ihre Schönheit achten: dadurch werde die Wir¬
kung aller Gebete zu nichte gemacht. Sehr genau sind die Vor¬
schriften, welche beim Stiften von Kerzen vor die Heiligenbilder zu
beobachten sind. Possoschkow ist höchlichst entrüstet darüber, dass
dem Bilde des Heilandes oft weniger Verehrung gespendet wird,
als dem Bilde vieler Heiligen. In einer gewissen Abstufung soll
durch die Zahl der Kerzen Christus etwas mehr ausgezeichnet
werden, als die Mutter Gottes, diese etwas mehr, als die Bilder der
Heiligen. Aehnliche Abstufung findet beim Küssen der Heiligen¬
bilder statt. Auf dem Bilde des Heilandes sollen die Füsse geküsst
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werden, auf denjenigen der Heiligen die Hände. Man soll ferner
keinen Unterschied machen zwischen alten und neuen» besser und
schlechter gemalten Heiligenbildern: über den Werth des Bildes
entscheide lediglich der Name des zu Verehrenden. Will man be¬
sonders prächtig mit Gold» Silber und Edelsteinen geschmückte
Heiligenbilder mehr achten als einfache, oder von berühmten Mei¬
stern gemalte Bilder ganz 'besonders verehren, so erscheint dies
schon als eine Art Götzendienst (S. uo—113).
Es macht einen eigentümlichen Eindruck zu sehen, wie Possosch-
kow seinen Sohn vermahnt, auch solche Heilige zu ehren, welche
von Anderen vernachlässigt werden, als habe man gewissermassen
ihnen gegenüber ein Unrecht gut zu machen. Wird dem Sohne ein
Sohn geboren, so soll das Kind den Namen des Heiligen erhalten,
welcher an jenem Tage gefeiert wird. Entsprechen nun jenem Tage
die Namen mehrerer Heiligen, so soll der Sohn sein Kind nach
demjenigen Heiligen benennen, dessen Name wegen des wunder¬
lichen Klanges weniger beliebt ist. Es sei, meint Possoschkow
tadelnswerthe Nichtachtung der Heiligen: Ssosont, Dorimedont,
Akila, Sseliwan, Ewlampij, Jermogen, Orest u. s. w., ihre Namen
nur darum nicht zu brauchen, weil sie seltsam klingen. In einer
solchen Rücksichtnahme auf derartig zurückgesetzte Heilige müssen
wir nicht so sehr einen Ausdruck der Billigkeit oder Höflichkeit,
als vielmehr das Gefühl erblicken, dass man in jener Zeit der Für¬
bitte der Heiligen zu eigenem Besten und Frommen zu bedürfen
meinte. Alle äusseren kirchlichen Verrichtungen, wie Possosch¬
kow sie seinem Sohne vorschreibt, zeugen von einer gewissen Be-
sorgniss, durch die Unterlassung derselben das Heil zu verscherzen.
Man kann eben ohne die Hülfe der Heiligen, wie ohne die Hülfe der
Geistlichen den Gefahren, welche der Teufel darbietet, nicht ent¬
gehen. Der Teufel, heisst es S. 67, ist so fein und durchdringlich
von Beschaffenheit, dass er auch durch Eisen hindurchkriecht, in
den Menschen kann er auch ohne alle Oeffnung gelangen. Wer nun
seines Beichtvaters Gebote nicht befolgt, oder nicht zeitig seine
Sünden bekennt, den überwindet der Teufel ohne Mühe. Hier er¬
zählt Possoschkow eine Geschichte, wie Jemand dem Rathe seines
Beichtvaters entgegen ins Einsiedlerleben ging, aber eben weil der
Segen des Geistlichen fehlte, schlug ihm sein Beginnen zum Unheil
aus und er erlag den Angriffen des Teufels. Hierauf wird der Kampf
des Geistlichen mit dem Teufel sehr körperlich und handgreiflich
geschildert. Alle Ketzerei und alles Schisma, meint Possoschkow,
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39*
komme lediglich von der Nichtachtung der geistlichen Väter. Nie¬
mand soll sich auf die eigene Kraft verlassen: er wird in einem
solchen Falle unfehlbar eine Beute des Teufels. Wer sterbend das
Abendmahl empfangt, dessen Seele können «dieDämone im luftigen
Fegefeuer» (AeMOHHHa B03AyuiHbixT> MUTapCTBaxi») nichts anhaben
u. dgl. m. (S. 74).
Dass der Begriff des Pharisäerthums nach modernem Sprach¬
gebrauch mit demjenigen der Scheinheiligkeit Zusammenfalle, weiss
Possoschkow nicht. Ihm erscheint gerade die Haltung und Hand¬
lungsweise der Pharisäer nachahmungswerth. Luther's Eifer gegen
die Werkheiligkeit gilt ihm als eine arge Ketzerei (S. 100). Gerade
auf die guten Werke wird viel Gewicht gelegt. Daher die Ausführ¬
lichkeit, mit welcher von Kniebeugungen und Fasten geredet wird.
Die Pharisäer fasteten zweimal wöchentlich, also soll auch Possosch-
kow’s Sohn zweimal wöchentlich fasten. Mittwochs und Freitags
soll er nicht einmal Fisch essen dürfen. Ja wo möglich soll er die
Pharisäer im Fasten übertreffen.
Possoschkow verlangt, der Sohn solle den zehnten Theil seiner
Einnahme für geistliche Zwecke verwenden, d. h. an Kirchen
und Klöster schenken oder Almosen spenden. Ja es sei sehr zweck¬
mässig, noch etwas mehr als 10 pCt., etwa 15 pCt oder dgl. zu
opfern (S. 138), weil man auf diese Weise die Pharisäer an Werk¬
heiligkeit überbiete. Gleichviel ob die Einnahme gross oder klein
sei: ein Zehntheil mindestens muss unter allen Umständen geopfert
werden. Possoschkow selbst giebt zu, dass Viele, die in den Strassen
betteln, zumal die Krüppel, sehr wohlhabend seien und zu Hause
nicht bloss reichliche Vorräthe von Lebensmitteln, sondern auch
Geld besässen (S. 140), aber dennoch empfiehlt er dem Sohne,
Almosen zu geben und zwar blindlings, ohne Untersuchung des
wirklichen oder angeblichen Nothstandes. So z. B. wird S. 174
folgendes Verfahren als sehr zweckmässig empfohlen. Wenn man
Morgens ausgeht, so muss man mit der Hand in die Börse fahren
und die ersten drei Münzen, gleichviel ob sie gross oder klein sind,
zu Almosen bestimmen. Diese muss man denjenigen Bettlern,
welche man zuerst erblickt, geben. Dabei ist alle Wahl ausge¬
schlossen. Sind die ersten Bettler, denen man begegnet, auch
gesund, kräftig und augenscheinlich weniger bedürftig, so muss
man ihnen auch dann das Almosen geben, wenn man inzwischen
etwas fernerstehend ganz gebrechliche, wirklich bedürftige Arme
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39i
erblickt hat. Aus dem Hause gehen und kein Almosen spenden, ist
nicht rathsam.
Es ist dies genau der,Standpunktes «Domostroi», in welchem
so gut wie mit dürren Worten gesagt ist, dass Almosen an Arme
und Gefangene als gutverzinsliche Kapitalanlage zu betrachten
seien *.
Possoschkow giebt seinem Sohne verschiedene Rathschläge in
Betreff der Frömmigkeit, je nach der Lebensstellung, welche der¬
selbe einst einnehmen werde. Ist der Sohn ein Landmann, so soll
er Sonntags auch dann nicht arbeiten, wenn man ihm hohen Lohn
verspricht, sondern zur Kirche gehen. Giebt es indessen wirklich
Arbeit, welche keinen Aufschub leidet, so mag man arbeiten, aber
nicht um Geldlohn, sondern die Arbeit als einen Gottesdienst an-
sehen* (S. 177 und 204).
Der «Domostroi» hatte gegen mancherlei Zauberei geeifert, welche
offenbar heidnischen Ursprungs war; ebenso warnt Possoschkow
seinen Sohn, falls derselbe ein Bauer werde, davor, an Wahrsagerei
zu glauben. Damit werde, heisst es (S. 205), der Erfolg aller guten
Werke zu nichte gemacht, und solche böse Dinge könnten Einem
leicht ewige Höllenstrafen zuziehen. Ebenso solle der Sohn, falls
er ein Krieger werde, durchaus nur auf die Gnadenmittel der Kirche
vertrauen und nicht auf allerlei ZaubermitteL Weil das Leben eines
Kriegers stets in Gefahr sei, müsse derselbe stets zu sterben bereit
sein. Am Schärfsten perhorrescirt Possoschkow die Sitte des Tra¬
gens von Amuleten. Werde ein Krieger, welcher ein Amulet trage,
getödtet, so könne er geradezu als ein dem Teufel geweihter Schaf¬
bock angesehen werden: seine Seele ist unrettbar dem Verderben
Preis gegeben. Ebenso eifert Possoschkow (S. 174) gegen die Un¬
sitte, in Krankheitsfällen die Hülfe von Zauberern in Anspruch zu
nehmen, welche die Heilung nur mit Hülfe des Teufels bewerkstelli¬
gen. Verschlucke man die Arzenei, welche solche Heilkünstler ge¬
ben, so könne man damit auch den Teufel selbst verschluckt haben,
womit denn entschieden sei, dass man um so sicherer selbst eine
Speise des Teufels werde.
So glaubt denn Possoschkow an allerlei Teufelsspuck und schlägt
den Einfluss der bösen Mächte sehr hoch an. Ihm erscheint das
f s. meine Abhandlung über den «Domostroi» in der <Russ. Revue«, Bd. IV. S. II.
* Auch gegenwärtig ist es Sitte, an Feiertagen, wenn die Feldarbeit keinen Aufschub
leidet, die Tagelöhner nicht mit Geld zu bezahlen, sondern mit Lebensmitteln, beson¬
ders aber mit Branntwein.
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ganze Leben als ein fortgesetzter Kampf gegen die teuflischen Ge¬
walten. Der Gegensatz zwischen dem Heidnischen und Christlichen
hatte seit der Einführung der von Byzanz überkommenen Lehre
nicht aufgehört, und bis auf den heutigen Tag ist der Glaube an
Heilung auf dem Wege der Besprechung, durch den Hokuspokus
von Charlatans im Bauernstände sehr verbreitet.
Was nun den Glauben an Amulete anbetrifft, welche man u. A.
in Kriegszeiten zur Abwehr von Gefahren zu tragen pflegte, so war
derselbe zu jener Zeit auch im Westen sehr verbreitet. In der Zeit
des dreissigjährigen Krieges waren einzelne Soldaten mit Namen be¬
kannt, welche nach ihrer eigenen Behauptung und nach dem Glau¬
ben ihrer Kameraden «fest» oder «gefroren» waren. Es gab dar¬
über sogar Sagen in Menge. Bezauberte sollten die auf sie abge¬
feuerten Kugeln ruhig aus dem Busen gezogen haben. Man hielt sie
aber für dem Teufel verfallen. Viele Soldaten trugen allerlei unter
beinahe nicht zu erfüllenden Dingen angefertigte Gegenstände
auf der Brust. Auch sicher treffende Kugeln und Schwerter mussten
unter besonderen abergläubischen Erfordernissen gefertigt sein. Der
Teufel und die Kirche spielten dabei ihre seltsam vermischten Rol¬
len: so musste man z. B. das Abendmahl unter Anrufung des Teu¬
fels nehmen u. dgl. Für verzaubert galten im dreissigjährigen Kriege
Tilly’s und Wallenstein’s Leiber und Gustaf Adolfs Schwert *. Der
Serbe Krishanitsch, welcher in seinen Schriften in vieler Beziehung
die «Deutschen» tadelt, sagt ihnen nach, dass sie mehr als alle an¬
deren Völker Zauberei und allerlei Teufelsspuck trieben, erwähnt
ebenfalls des Zauberschwertes, welches Gustav Adolf getragen haben
solle, und bemerkt dazu, dass das Beispiel des schwedischen Königs
zeige, wie dergleichen nie ein gutes Ende nehme *. Der ungewöhn¬
liche Erfolg eines Demetrius am Anfänge des siebenzehnten Jahr¬
hunderts, oder eines Stenka Rasin in der zweiten Hälfte desselben,
wurde von dem grossen Haufen der Zauberei zugeschrieben. Eines
der verbreitetsten Schimpfwörter, deren sich die Regierung Wassi-
lij’s gegen Demetrius bediente, war «Hexenmeister» 8 . Von Stenka
Rasin wurde erzählt, er habe die Kanonen von Zarizyn auf wunder¬
bare Weise zum Schweigen gebracht, er könne durch die Luft flie¬
gen u. s. w. 4 . Nur Wenige mochten an der Möglichkeit oder Wahr-
1 Henneam-Rhyn, Kulturgeschichte. II 137.
* Pycacoe rocyAapcTuo bt» noJtOBMHt XVII rbaa. II. 255.
1 Petrejus, Historien und Bericht von dem Grossfiirstenthum Moskau. Leipsig 1620.
S. 354—355-
* Kostomarow, Stenka Rasin (russisch). S. 59 und 91.
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scheinlichkeit solcher Wunder zweifeln; die Meisten aber hielten der¬
gleichen für eine arge Sünde. Schon der «Domostroi» hatte vor
Wahrsagerinnen und Zauberern gewarnt: sie befanden sich, von dem
Standpunkte dieser Schrift aus betrachtet, auf einer Stufe mit Gift¬
mischern 1 .
Was nun die Krankheiten anbetrifft, so gelten sie nach der An¬
schauung des «Domostroi» als gleichbedeutend mit Strafen Gottes,
und dagegen konnte also in erster Linie nur Reue und Busse heilend
wirken. Der eDomostroi» warnt eben auch vor Zauber mittein, und
empfiehlt Heilung durch Gebet, wunderthätige Bilder und geweihtes
Wasser. Possoschkow theilt im Wesentlichen diese Ansichten,
empfiehlt aber dabei seinem Sohne doch gegen Krankheit den Rath
eines Arztes einzuholen. Für die Behauptung, dass die regelrechte
Heilkunde von Gott eingesetzt sei, beruft sich Possoschkow auf Je¬
sus Sirach und bemerkt hierzu, dass man den Arzt gut bezahlen
müsse. Sehr rationell räth er seinem Sohne, sogleich beim Beginn
der Krankheit energisch einzugreifen und nicht eine Verschlimme¬
rung der Krankheit abzuwarten: ein kleines Feuer könne man im
Keime ersticken, während eine grosse Anzahl von Menschen nicht
mit einem grossen Brande fertig zu werden vermöchten. Ausser¬
dem wird eine zweckmässige Diät, Mässigkeit im Essen und Trinken
als die oft wirksamste Heilmethode empfohlen. Aber auch die Er¬
haltung der Gesundheit, des Lebens erscheint dem Possoschkow als
eine Art religiöser Pflicht. Das Leben ist eine fortgesetzte Arbeit
zur Erlangung des Seelenheils, und da darf denn kein Augenblick
ungenützt vergehen, ohne dass u. A. durch Gebete die Wahrschein¬
lichkeit, den Angriffen des Teufels zu entgehen, in etwas vermehrt
würde. Das Kreuzschlagen hilft gegen den Teufel. Denkt man in
entscheidenden Augenblicken an Gott, so erlangt man leichter Ver¬
gebung der Sünden. Es ist der Teufel, welcher in seinem Interesse
unausgesetzt thätig und, auf alle schwachen Augenblicke lauernd,
eine gewisse Zerstreutheit beim Gebete zu bewirken im Stande ist,
und diese Zerstreutheit gefährdet die Wirksamkeit des Gebetes,
stellt das Seelenheil in Frage (S. 95). Es handelt sich nicht darum,
die Gebete herzuplappern, sondern im Geiste dabei zu sein, eine Be¬
hauptung, für deren Unterstützung dem Possoschkow* ein Citat aus
Chrysostomos nöthig erscheint, sowie eine Anzahl von Bibelstellen
hierbei angeführt werden. Auch auf die Zahl der Gebete kommt es
an. Man muss dieselben oft wiederholen. Für alle verschiedene
1 AoMoerpoft, S. 67 und 73.
Bus. Bme. B4. VIJ. 2 6
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Veranlassungen sind besondere Gebete vorgeschrieben, jedes Hei¬
ligenbild verlangt eine besondere Anrede. Es spielt auf diese Weise
gerade beim Gebete eine gewisse Etikette eine grosse Rolle. Das
savoir faire in geistlichen Angelegenheiten gilt für entscheidend Es
handelt sich um eine gewisse Dressur in allen dahineinschlagenden
Fragen. Der Formalismus beherrscht die ganze Auffassung von diesen
Dingen. So geht Possoschkow’s Verehrung der Bücher, welcheer nur
als geistliche Bücher auflasst, so weit, dass er dem Sohne verbietet,
sich beim Lesen auf dieselben zu stützen, oder irgend «eine weltliche
Sache* auf ein Buch zu legen oder zu stellen. Ein Buch müsse ebenso
heilig gehalten werden, wie ein Heiligenbild. Trägt man ein Buch,
so darf man es nicht in die Hosentasche, oder in eine niedriger
gelegene Rocktasche legen, sondern in die Brusttasche u. s. w.
Es erscheint dem Possoschkow als ein Gräuel, wenn Menschen so
leichtfertig sind, etwa einen Leuchter, damit derselbe höher stehe,
auf ein Buch zu stellen. Ein solcher Frevel scheint ihm nur dadurch
möglich, dass die Menschen nicht ahnen, wie sie Gottes Namen da¬
durch vernichten. Es ist eine mechanische, kleinliche, naive Auf¬
fassung von den Beziehungen des Menschen zu Gott, wenn solche
Vorschriften, wie z. B., dass man nicht bis in die unmittelbare Nähe
der Kirche reiten oder fahren dürfe, sondern schon in einiger Entfer¬
nung absteigen müsse, gegeben werden; wenn der Rath ertheilt wird,
in müssigen Augenblicken oder auf Reisen nicht unthätig zu sein,
sondern Psalmen, Bibelsprüche, Gebete u. s. w. herzusagen (s. S.
170 und 171). Possoschkow räth dem Sohne, derselbe solle mit
seiner Gemahlin die ersten zwei Nächte nach der Hochzeit ausschliess¬
lich mit Gebeten verbringen. In der ersten Nacht handle es sich da¬
rum, die Dämonen zu verjagen, in der zweiten darum, den heiligen
Patriarchen die Ehre zu geben, welche ihnen gebührt. So sind die
Mittel beschaffen, welche jeder Ehe eine gesunde Nachkommen¬
schaft sichern. Durch ein würdiges Betragen, durch Gebete und
Kniebeugungen der Ehegatten wird Gott veranlasst, dieselben vor
allem Bösen zu bewahren (S. 27—30).
Man weiss, wie manche Reformen Peter’s des Grossen als baare
Ketzerei aufgefasst wurden. Das Bartscheeren galt als ein Verstoss
gegen die Satzungen der Kirche, die Verlegung des Jahresanfangs
von dem 1. September auf den 1. Januar wurde als eine «dem römi¬
schen Gotte Janus» dargebrachte Huldigung, mithin als ein Rückfall
in das Heidenthum angesehen, Perückenstöcke, deren sich die russL
gehen Beamten bedienten, galten als Götzen, welche die Regierung!
üerehren hiess.
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Possoschkow, obgleich in vielen anderen Stücken ganz unbedingt
ein Anhänger Peter’s, war den Perücken nicht hold. In den anderen
Schriften Possoschkow’s wird dieses Gegenstandes nie erwähnt, um
so öfter kommt derselbe in der c Vermahnung an den Sohn» darauf
zu sprechen, und zwar wiederum in Verbindung mit religiösen Lehren
und kirchlichen Vorschriften. So scheint es ihm gleich sündlich, ob
man in der Kirche mit einer Mütze, oder mit einem Hute, oder mit
einer Perücke auf dem Kopfe versehen sei. Es scheint ihm entsetz¬
lich, dass sogar beim Anblick des Allerheiligsten die Perücke nicht
abgelegt werde, während doch auch die Priester bei gewissen Mo¬
menten des Gottesdienstes ihr Haupt entblössten. Dadurch werde
das Sakrament vernichtet. Eine Perücke, meint Possoschkow, sei
schlimmer als einHut oder eine Mütze, weil die Letzteren aus Wolle
oder Thierhaaren gemacht würden, während man sich bei der An¬
fertigung von Perücken der Haare von Menschen und zwar vorzugs¬
weise der Haare von todten Frauen, oder von Frauen von zweifel¬
haftem Rufe bediene. Den ausserhalb alles Christenthums stehen¬
den Lutheranern (S. 150) zieme es vielleicht Perücken zu tragen,
nicht aber den Rechtgläubigen; daher räth Possoschkow seinem
Sohne (S. 161), nie eine Perücke zu tragen, sondern sich mit dem
eigenen Haupthaar zu schmücken. Ebensowenig, wie man an einem
Fasttage ein Fleischgericht, welches die Form eines Fisches habe,
essen dürfe, habe man ein Recht, eine Perücke nicht für etne ebenso
den Vorschriften der Kirche widersprechende Sache zu halten, als
eine sonstige Kopfbedeckung, wenn man dieselbe in der Kirche auf¬
behalten wollte (S. 166). Den Lutheranern freilich, fahrt Possosch¬
kow entrüstet fort, erscheine gar nichts als Sünde, weder Blut essen,
noch am Charfreitag Hochzeit halten, noch nach dem Essen zum
Abendmahl gehen, aber Luther sei ja auch nichts besser als Muha-
med. Die Rechtgläubigen dagegen müssten alles Mögliche für Sünde
halten, und seien sich sehr wohl bewusst, dass sie keinen Tag und
keine Stunde ohne Sünde seien, dass sie unaufhörlich Busse thun
müssten u. s. w.
Eine sehr lebhafte Entrüstung Possoschkow's erregt die Lehre
Kopernikus’, dass die Erde sammt ihren Planeten sich um die Sonne
bewege. Gott habe, meint Possoschkow, die Erde als das Schwer¬
ste und die Sonne als das Leichteste geschaffen: schon daraus allein
ersehe man, wie unsinnig die Behauptung sei, dass die Erde in vier¬
undzwanzig Stunden viele Millionen Werst um die Sonne sich be¬
wege. Durch solches faule Geschwätz, behauptet er, werde das
*6*
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Wort Gottes und die Schöpfung Gottes verunehrt: Moses habe Alles
sehr deutlich erzählt, dass Gott erst am vierten Tage die Sonne, den
Mond und die Sterne geschaffen habe, aber Kopernikus, der es Gott
gleich thun wolle wolle das, was Gott dem Moses offenbart habe,
vernichten. Für Alles dieses werden die Lutheraner verantwortlich
gemacht, (s. S. 156 und 157).
Possoschkow’s keineswegs freisinnige Ansichten in Bezug auf
astronomische Fragen theilte derselbe mit vielen Zeitgenossen. Es
galt bei Vielen für Ketzerei, sich mit derartigen Studien zu befassen.
Als die Kinder des Zaren Alexei Michailowitsch in der Astronomie
unterrichtet wurden, machte ein Geistlicher, Namens Lazarus, dem
Zaren zum Vorwurf, dass derselbe «Philosophen bei sich halte, wel¬
che die Erscheinungen des Himmels und der Erde erläuterten und
die Länge der Schweife der Sterne mit einer Elle messen wollten *.
Kometen waren den Zeitgenossen Possoschkow's nicht so sehr Ge¬
genstand wissenschaftlicher Forschung, als ein Symptom drohenden
Unheils zur Strafe für allerlei Sünden.
Es ist sehr begreiflich, dass Possoschkow bei solcher Intoleranz
gegen die Lutheraner, wie gegen Andersdenkende überhaupt, sehr
energisch protestirt gegen die Sektirer in Russland. In mehreren an
Stephan Jaworskij gerichteten Schreiben, welche zum Theil noch
nicht herausgegeben sind, so wie in seinem Hauptwerke «Ueber
Armuth und Reichthum» hat er das Sektenwesen einer gründlichen
Besprechung unterzogen. Die Schrift «der Spiegel» ist ausschliess¬
lich diesem Gegenstände gewidmet. In der an den Sohn gerichteten
«Ermahnung» wird die Frage vom Sektenwesen nur gelegentlich
berührt, und zwar nicht in den Abschnitten, welche religiösen Fra¬
gen gewidmet sind, sondern in dem Abschnitt über die Laufbahn
eines Beamten oder Richters, zu welcher der Sohn sich möglichen¬
falls entschliessen werde.
Hier ist nun davon die Rede, wie man mit verschiedenen Verbre¬
chern zu verfahren habe. Es werden im Allgemeinen sehr strenge
Massregeln empfohlen. Am wenigsten aber, meint Possoschkow,
dürfe man die Ketzer schonen. Alle Gottesleugner müsse man so¬
gleich nach der Folter zum Galgen, oder zum Richtbeil, oder zum
Scheiterhaufen führen, ohne ihnen etwa eine Frist zur Reue und Busse
zu gestatten. Jeder Aufschub gefährde das Heil anderer Seelen,
* Hier im Russischen ein Wortspiel: «Konepmiici» Bory cynepmiKi>».
• s. Schtschapow’s Werk über das Sektenwesen, Pyccititt pacaojn. crapoodpaACTia,
Kasan 1859. S. 94.
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welche leicht verführt werden könnten, und dann habe der nachsich¬
tige Richter vor Gott für diese verlorenen Seelen zu verantworten.
Die Raskolniks müssen scharf verhört werden, und wenn sie sich als
gefährliche Dissidenten entpuppen, sind sie einer grausamen Folter
zu unterwerfen, damit sie ihre Verführer angeben; sodann muss
man nach zwei oder drei Tagen die Folter in noch stärkerem Masse
wiederholen, sie sodann verbrennen, auch ihre Knochen in Staub
verwandeln, und diesen Staub in tiefe Sümpfe werfen, damit eine
Verehrung der Reliquien solcher angeblicher Märtyrer durch ihre
Schüler unmöglich sei. Alle Diejenigen aber, welche für diese Ver¬
brecher Bürgschaft leisteten, müssen sehr streng bestraft werden.
(S. 234 und 235).
Wir sehen an solchen Proben der kirchlichen und religiösen An¬
sichten Possoschkow’s, wie dieselben in seiner Schrift «Testament
des Vaters an den Sohn» zum Ausdruck gelangen, dass man damals
noch mehr als heute unter dem Einflüsse mittelalterlicher Verfol¬
gungssucht, mittelalterlicher kirchlicher Tyrannei stand. Man em-
fand nicht, dass die Vertheidigung des Christenthums in der Sicher¬
stellung des Wesens der Religion, und nicht in der Vertheidigung
ihrer Aussenwerke bestehen müsse. Man war im Götzendienste
des Dogmas befangen. Glauben und Aberglauben berühren
einander. Göttliche Wunder und Zauberei erscheinen als gleich¬
artig. Dieselben Ansichten, welche Possoschkow entwickelte,
finden sich in etwas früherer Zeit auch im Westen. Dem Glauben
an Magie und Hexerei im Volke entsprechen als Rivalsystem die
Begriffe der mittelalterlichen Theologie. Gegen die Wirkungen
der Zauberei glaubte man mit den talismanischen Wirkungen des
Weihwassers u. dgl. m. helfen zu können. Die Geistlichkeit ver¬
mehrte die Talismane ins Unendliche. Heilige erzeugten früher mit
derselben Leichtigkeit Regen, wie später die Hexen. Heidnischer
Glaube trat in die christlichen Dogmen über, und mit fast jedem
Theile des römisch-katholischen Glaubens vermischen sich Spuren
des Heidenthums. Der Glaube, dass das um den Hals gehängte
Evangelium Johannis, ein Rosenkranz, eine Reliquie genüge, um
die Anstrengungen der Bosheit des Teufels zu vernichten, ist im
Wesentlichen nicht verschieden von den Amuleten, welche die
Krieger zu tragen pflegten, um hieb- und stich- und schussfest zu
werden. Thomas von Aquino sprach die Ueberzeugung aus, dass
Krankheiten und Ungewitter nur vom Teufel herrührten. Noch
Luther war der Ansicht, dass gewisse Insekten und Reptilien nicht
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ä
von Gott, sondern vom Teufel geschaffen seien. Noch in dem Zeit¬
alter Possoschkow’s sind in verschiedenen Ländern Hexen verbrannt
worden. Wenn ein Mann, wie Bodinus, im Westen die Ueberzeugung
hatte, dass die Hölle von 7,405,926 Teufeln bevölkert sei, so
braucht man sich nicht zu wundern, wenn im «Domostroi» oder in
Possoschkow’s Schriften so viel von Teufeln die Rede ist Eis war
eine finstere Weltanschauung, welche uns in diesen Schriften ent¬
gegentritt. Der Mensch, von allen Seiten bedroht, kann seiner
Existenz kaum einen Augenblick froh werden. Fast allen Menschen
war ein unsägliches Leiden nach dem Tode in Aussicht gestellt. Die
Phantasie beschäftigte sich vorzugsweise mit Bildern von den Qualen,
welche die Verstorbenen im höllischen Feuer zu erdulden hätten. Die
Kirche war eine einsame Arche auf einem grenzenlosen Meere des
Verderbens.
Possoschkow muss seine Schrift verfasst haben, als sein Sohn,
Nikolai, noch ein Knabe war. Er liefert eine EIncyklopädie der
Berufsarten in der Voraussetzung, dass der Sohn eine derselben
wählen werde. Da muss es uns denn Wunder nehmen, dass wir
unter den einzelnen Abschnitten dieser Partien des Buches, in
welcher u. A. von den Pflichten des Landmanns, des Kaufmanns,
des Handwerkers die Rede ist, einen Abschnitt über das Berufs¬
leben eines Geistlichen oder eines Mönchs vermissen. War auch
Possoschkow selbst seiner Lebensstellung zufolge ein Laie und nicht
ein Geistlicher, ein Kaufmann, Techniker, Gutsbesitzer, Lieferant
der Krone, Finanzbeamter und nicht ein Mönch, so war denn doch
seine Bildung eine vorwiegend geistliche. Andere als geistliche
Bücher wird er schwerlich je gelesen haben. Einem solchen Vater
musste es bei dem Gedanken an den künftigen Beruf des Sohnes
wahrscheinlich, ja fast wünschenswerth erscheinen, dass der Sohn
sich die geistliche Laufbahn wählen möge. Und das ist denn auch
der Fall gewesen.
In seinem letzten und bedeutendsten Werke, in der Schrift «über
Armuth und Reichthum*, erwähnt Possoschkow mehrmals seines
für den Sohn verfassten «Väterlichen Testaments». S. 18—20
finden sich Ausführungen darüber, welche Rathschläge Possoschkow
seinem Sohne gegeben habe für den Fall, dass er ein Geistlicher würde.
Possoschkow schlägt in seiner Schrift «über Armuth und Reichthum»
vor, das «Testament» drucken zu lassen, damit alle Diejenigen,
welche sich dem geistlichen Stande widmen wollen, daraus ersehen
können, wie ein Geistlicher sein Amt zu versehen habe, wie ein
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Kirchenfurst seine Pflichten erfüllen, gegen die Sektirer Vorgehen
müsse, wie die Examina der sich dem geistlichen Berufe Wid¬
menden einzurichten seien, u. s. w.
In der von Hm. A. Popow herausgegebenen Schrift findet sich nun
nichts dergleichen. Da jedoch nicht daran zu zweifeln ist, dass das
•Testament» eben jenes Werk ist, dessen Possoschkow als seines
eigenen in dem Buche «über Armuth und Reichthum» erwähnt, so
muss jene Nichtübereinstimmung des von Possoschkow in Bezug auf
das geistliche Berufsleben Angeführten mit dem Inhalte der vorlie¬
genden Edition durch die Annahme erklärt werden, dass in der
Abschrift des «Testaments» jenes Kapitel über das Berufsleben des
Geistlichen fehlte. Das Buch war, wie wir wissen, durch die Hände
verschiedener Besitzer gegangen. Einer derselben mochte den
Abschnitt über die Geistlichkeit weggeschnitten haben, wie denn
u. A. an einer Stelle (S. 189) der Abschnitt über die Handwerke
mitten in einem Satze abbricht, so dass die Schrift unvollständig
erscheint, und an einer anderen Stelle (S. 176) beim Brochiren der
Handschrift ebenfalls etwas weggeschnitten worden ist.
So sind wir denn nicht im Besitz dieses Kapitels, können aber den
Inhalt desselben als übereinstimmend mit den sonstigen Schriften
Possoschkow’s in Bezug auf die Pflichten der Geistlichen voraus¬
setzen, und u. A. erfahren wir denn aus dem Kapitel über die Geist¬
lichkeit in dem Werke »über Armuth und Reichthum» sehr genau,
was Possoschkow über diesen Punkt dachte. Wir wissen, dass er
mit grosser Energie eine sittliche und intellektuelle Hebung des
geistlichen Standes anstrebte, der Unwissenheit der Geistlichen die
Schuld an den Miss^tänden in dem religiösen Leben des Volkes zu¬
schrieb, und auch in ökonomischer Beziehung die Geistlichen besser
zu stellen empfahl. Sehr strenge Massregeln beantragte er in Betreff
des Schulzwangs, der Examina und Disputationen. Ebenso scharf
trat er gegen die Trunksucht der Geistlichen auf. Sie seien bisher
nicht wahre Hirten gewesen: sie müssten sich auf ihre Pflichten be¬
sinnen, mehr Sorgfalt auf ihre Bildung sowohl, wie auf ihr äusseres
Auftreten verwenden, in jeder Beziehung würdig und Achtung gebie¬
tend vor dem Volke erscheinen u. s. w.
Pädagogik und Moral.
Bei einer so vorwiegend theologischen Weltanschauung, wie die¬
selbe in Possoschkow repräsentirt ist, muss es als selbstverständlich
gelten, wenn seine Ansichten über das Erziehungswesen durchzogen
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sind von kirchlichen Grundsätzen, wenn er der Ueberzeugüng ist, dass
alle Erziehung einen vorwiegend geistlichen Charakter haben müsse.
Schon im zartesten Alter müssten die Gedanken des Kindes auf
Gott hingelenkt, müsse die Furcht Gottes in dem Kinde entwickelt
werden, meint Possoschkow. Höchst entrüstet erzählt er, wie
sehr viele Eltern in Russland in der leichtsinnigsten Weise das
Seelenheil ihrer Kinder aufs Spiel setzen, indem sie dieselben in
einem Alter, wo sie noch nicht zu sprechen vermögen, allerlei
Possen lehren. Der Vater lehre das Kind, wie es die Mutter schelten
und auf die Wangen klopfen, die Mutter unterweise das Kind, wie
es den Vater verspotten, am Barte zupfen, und in Gegenwart an¬
derer Menschen allerlei unziemliche Scherze treiben solle. Dass ein
Vater, wenn sein Kind ihn am Barte fasst, sich darüber ergötzt,
erscheint dem Possoschkow als Thorheit und Sünde. Ein so kurzes
Vergnügen der Eltern verderbe die Seele der Kinder fUr alle Zeit.
Dass alles Dieses möglich sei, dass die Kinder so früh schon Zoten
reissen lernen u. dgl., schreibt Possoschkow dem schwachen Ein¬
flüsse der Geistlichkeit zu. Die ersten Eindrücke und Richtungen,
meint Possoschkow, seien für ein Kind entscheidend. Wer so schlecht
erzogen sei, endige oft am Galgen, oder in Trunksucht, oder komme
sonst auf unheilvolle Weise um. Es sei besser, gar keine Kinder zu
haben, als dieselben, wenn man sie hat, so unsinnig zu erziehen. Zu
allererst müsse man einem Kinde von Gott reden, es vor Gottes
Zorn warnen: Gott sehe Alles, wenn das Kind schimpfe, oder
schlage, oder die Zunge zeige, und werde es zur Strafe todtschlagen.
Von den Tataren will Possoschkow gehört haben, dass sie ihre
Kinder schlagen, auch ohne dass sie etwas Schlechtes begangen
hätten, nur damit die Kinder sich fürchten lernten. Vor allen
Dingen müsste man, fährt Possoschkow fort, die Kinder in ihren
religiösen Pflichten unterweisen, ihnen die Bilder der Heiligen
zeigen. Je mehr ein Kind gestraft werde, ein desto besserer
Mensch werde es. Die alten Heiligen hätten stets gerathen, die
Kinder unbarmherzig zu prügeln. Niemand soll seinem Sohne freien
Willen lassen, sondern man muss ihm «die Rippen brechen», so
lange er jung ist. Spielt man mit einem Kinde, so verdirbt man es.
Je ärger man es strafe, desto mehr Freude erlebe man hinterdrein an
demselben. Possoschkow braucht den Ausdruck: «dem Sohne oft
Wunden auferlegen».
Für die Unerlässlichkeit solcher Misshandlungen der Kinder beruft
sich Possoschkow auf Autoritäten wie Jesus Sirach und Salomo. Er
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40 t
hätte sich mit noch mehr Recht auf den «Domostroi» berufen
können, dessen Ansichten für Possoschkow massgebend waren *.
Die Zahl der den Kindern ertheilten Stockschläge erscheint ihm
als ein guter Massstab für die Liebe der Eltern zu den Kindern.
Alle Heiterkeit soll, den Anschauungen des «Domostroi» und
Possoschkow’s zufolge, aus dem Verkehr der Erwachsenen mit den
Kindern verbannt sein. Die Grämlichkeit und Härte der pädagogi¬
schen Grundsätze jener Zeit haben für uns etwas Abstossendes.
Ausdrücklich wird gesagt, man dürfe weder selbst mit dem Kinde
spielen, noch dasselbe mit anderen Kindern spielen lassen. Für jedes
unnütze Wort, das geredet werde, müsse beim jüngsten Gericht
Rechenschaft gegeben werden. Aller Scherz und Witz gilt für
Sünde. Auch in der Schule, heisst es weiter, dürfe dem Sohne
nicht im Geringsten der freie Wille gestattet werden; auch da müsse
er stets unter der Aufsicht eines Greises oder einer alten Frau sich
befinden, welche ihn keinen Augenblick, weder am Tage noch in
der Nacht aus den Augen lassen, damit er nicht durch schlechte
Gesellschaft irgendwie verdorben werde (S. 54—55).
So ist denn alle Erziehung nur mehr eine äusserliche Zucht. Es
gilt nicht so sehr eine Gesinnung zu entwickeln, als vielmehr allen
Willen zu brechen. Es handelt sich nicht so sehr darum, nach dem
Guten zu streben, als gegen das Böse zu kämpfen. Der Grundzug
der Anschauung ist auch hier wie in anderen Stücken der Pessimis¬
mus, ein Voraussetzen des Schlechten, Misstrauen.
Eine solche Auffassung dürfte am ehesten durch die Rohheit und
Unsittlichkeit jener Zeit zu erklären sein. Den Ausländern, welche
in Russland reisten, fiel der Egoismus der Scherze an der Tafel, die
Unsittlichkeit im Verkehr der Geschlechter unter einander, die Un¬
sauberkeit der Puppentheater auf, an denen sich nicht bloss Männer,
sondern auch Frauen und Kinder ergötzten. Da musste man zu¬
nächst daran denken, durch eine Art klösterlicher Zucht, durch
äusseren Zwang die heranwachsende Generation vor so verderblichen
Einflüssen zu bewahren. In Betreff der Gefahren verschiedener Ver¬
führung ist Possoschkow ausserordentlich umständlich, und schildert
sehr genau, in welcher Weise durch die strengste Aufsicht, durch
Ermahnungen und Strafen man die den Zöglingen drohende Gefahr
1 s. z. B. folgende Parallelstelle: «Domostroi* 48: pamd Boaaara*ni; Hakasya
A*fcTii m» IOHOCTH noicoion» tu na erapocTb tboio». Possoschkow: «ysacTMTb cuny
paHbi, Aa Ha nocjrfcAoirb bOdoeceJiaTcx o
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eiiligermassen reduciren könne. Der Sodomiterei werden sehr aus¬
führliche Betrachtungen gewidmet, und wir können daraus auf die
Verbreitung dieses Lasters schliessen (S. 8 u. io, 55.). Auch sollen
Knaben und Mädchen nie mit einander spielen dürfen. Wenn der
Sohn sich den Mädchen nähert, und mit ihnen heiter ist (ci> mojeo-
AHijaMH öy^erb myTHTb), so soll man ihm «die Rippen brechen»,
damit er rein bleibe an Leib und Seele.
Es werden ferner einige spartanische Grundsätze bei der Erziehung
empfohlen. Aller äussere Schmuck, kostbare Kleider, verschiedene
Zierrathen sollen den Kindern vorenthalten bleiben. Ebenso sollen
alle Süssigkeiten verbannt sein. Die Kinder sollen an grobe Spei¬
sen (cypoßbje äah) gewöhnt werden, schon weil diese der Gesund¬
heit zuträglicher seien, als die Leckereien. Auch vor geistigen Ge¬
tränken soll man die Kinder bewahren, am meisten aber vor auslän¬
dischen Weinen, welche der Gesundheit besonders nachtheilig seien.
(S. 57 u. 58). Bei diesen letzteren Rathschlägen sind übrigens nicht
nur pädagogische Gesichtspunkte für Possoschkow massgebend ge¬
wesen, sondern noch mehr national-ökonomische, merkantilistische,
deren Erörterung ausserhalb unserer gegenwärtigen Aufgabe liegt.
Was nun die Unterrichtsgegenstände anbetrifft, welche Possosch¬
kow seinem Sohne empfiehlt, so erfahren wir auch aus diesem Stu¬
dienplan, dass die Ausbildung einen vorwiegend geistlichen Charak¬
ter haben müsste. Vor Allem wird das Studium der kirchenslavi-
schen, griechischen und lateinischen, auch wohl der polnischen
Sprache empfohlen. Der Zweck ist ausschliesslich die Lektüre geist¬
licher Bücher (S. 8). Ferner wird auf das Rechnenlernen «bis zur
Division» Gewicht gelegt, sowie auf das Zeichnen. Bei dem letzteren
Gegenstände verweilt Possoschkow ausführlicher, weil er selbst in
technischen Fertigkeiten wohl bewandert war, die Messkunde be¬
herrschte, und mit allerlei Instrumenten wohl umzugehen verstand.
Er meint, beim Zeichnen müssten den Lernenden die Proportionen
anschaulich gemacht werden: Das nütze nachher bei den verschieden¬
sten Gelegenheiten. Täglich muss nach Possoschkow's Ansicht ein
gewisses Pensum im Zeichnen und Lesen aufgegeben werden. Der
Lernende dürfe nie müssig sein (S. 56). Sehr hübsch ist der S. 170
ertheilte Rath: «Wenn Du ein Buch liesest, so lies nicht schnell, son¬
dern mit grossem Fleiss; halte stets Tinte und Papier bereit, und
wenn Dir etwas gefällt, so schreibe es aus mit genauer Angabe des
Buches, des Kapitels, der Zeile. Willst Du dann im Gespräche mit
einem Anderen ein göttliches Wort anführen, so kannst Du ein sol-
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ches Citat leicht in Deinem Papier finden, und behältst es besser in
Deinem Gedächtniss: sq bringt denn ein solches Verfahren sowohl
Dir als Anderen Nutzen».
Man sieht, dass Possoschkow recht viel über pädagogische Fragen
nachgedacht haben muss. In seinem Schreiben an Stephan Ja-
worskij, welches sich handschriftlich in der Bibliothek der Akademie
der Wissenschaften zu St. Petersburg befindet, spricht er ausführlich
über die Ausbildung der Geistlichen, macht einige Bemerkungen
über den Unterschied zwischen dem russischen und lateinischen Al¬
phabet, beantragt die Gründung von Akademien, sowie die Errich¬
tung zahlreicher Schulen in vielen Städten. Die Hauptlehrgegen¬
stände sollen Grammatik und Rhetorik sein. Ueber die Wahl der
Lehrer finden sich manche gute Winke. Doch ist der ausschliess¬
liche Zweck aller Schule das Bedürfnis der Kirche. Von einer
weltlichen Bildung, von einer speciellen Vorbildung für ein weltliches
Berufsleben finden sich in seinen Ansichten über 'das Schulwesen
nur wenige Spuren. Auch hier wie sonst erscheint die Religion nicht
bloss als das Wichtigste, sondern als das allein Wichtige.
Sehr eindringliche Lehren giebt der Vater seinem Sohne in Be¬
treff einer gewissen Mässigung beim Reden. Aller Schimpfreden
soll er sich enthalten, demüthig und bescheiden im Benehmen mit
Anderen sein (S. 15). Beim Reiten soll der Sohn Acht geben, dass
Niemand von ihm beschädigt, in den Schmutz gedrängt, oder mit
Koth bespritzt werde; ja selbst ein Huhn überreiten, ist Sünde, weil
es von Gott geschaffen ist. Also auch hier wiederum ist das Motiv
für eine solche Ermahnung nicht Mitleid als solches, sondern ein re¬
ligiöses Gefühl der Abhängigkeit von Gott. Auch werden für alle
solche Verhaltungsregeln Bibelstellen in grosser Anzahl citirt. Weil
Gott die Bäume wachsen lässt, soll der Sohn nicht leichtsinnig einen
Baum abhauen. Bei diesen Lehren kommen dann allerdings zu den
religiösen Motiven noch national-ökonomische hinzu. Die von Peter
dem Grossen zum Zwecke des Forstschutzes erlassenen zahlreichen
Verordnungen werden nicht ohne Wirkung auf Possoschkow geblie¬
ben sein. Daher verweilt er denn bei diesem Gegenstände etwas
länger, indem er verlangt, der Sohn solle, wenn er nur wenig Holz
brauche, den Stamm unversehrt lassen und sich an einigen Zweigen
oder am Windbruch genügen lassen, kein Nutzholz oder Brennholz
verwenden u. dgl. Allgemein human erscheint die Ermahnung, die
Saatfelder Anderer zu schonen, nicht über gesäetes Gras zu reiten,
überhaupt Niemandem wissentlich oder absichtlich einen Schaden
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zuzufugen. Indessen vergisst er nicht zu bemerken, dass die Barm¬
herzigkeit Gott'wohlgefällig sei (S. 17—18).
Beim Essen wird Mässigkeit empfohlen; allzufrüh am Tage eine
Mahlzeit einzunehmen, gilt für der Gesundheit nachtheilig. Im Gegen¬
sätze zur makrobiotischen Wirkung des massigen Essens wird auf
die Sterblichkeit unter den der Trunksucht Ergebenen hingewiesen.
Um nicht als Leckermaul (cjiacTOJiK>6eui>) zu erscheinen, muss man
in Gesellschaft nicht lange in der angebotenen Schüssel nach einem
guten Stücke umhersuchen, sondern das erste beste Stück nehmen.
Einem Gebote Jesus Sirach’s zufolge soll man mit dem Essen warten,
bis der Wirth oder ein angesehener Gast zu schmausen angefangen
hat. Es gilt auch hierbei, Gottes Gebote streng zu befolgen. Ob es
sich nun um das Lieben der Feinde, um das Unterdrücken der Rach¬
sucht handelt, welche Tugenden S. 144 empfohlen werden, oder
um nicht allzu spätes Aufstehen (S. 97), es wird nach Möglichkeit
alles Dieses auf göttliche Vorschriften zurückgeführt.
Wie im cDomostroi» das Ausüben mancher Tugend in gewissem
Sinne Sache der Berechnung ist, so sucht auch Possoschkow seinen
Sohn durch die Aussicht auf Lohn zum Guten zu bekehren. Indem
er ihn ermahnt, nicht nach weltlichem Gut zu trachten, weil mässiges
Vermögen der Seele heilsamer sei als grosser Reichthum, stellt er
ihm doch in Aussicht, dass Gott, wenn der Sohn nur tugendhaft sei,
auch für sein leibliches Leben Sorge tragen werde. Im Himmel aber,
da werde, so meint Possoschkow, der Tugendhafte im Beisein aller
Engel von Gott gelobt werden, und reicher und berühmter sein, als
die irdischen Fürsten (S. 144). Indem er den Sohn ermahnt, niemals
sich etwas Fremdes anzueignen, stets seine Schulden zu bezahlen,
auch ohne gemahnt zu werden, alle Zahlungstermine einzuhalten
u. s. w., bemerkt er, dass, wer so thue, von allen Leuten gelobt werde,
und den Ruf eines rechtschaffenen Mannes geniesse. Indessen
wird gleich darauf doch freundliches Grüssen, Leutseligkeit mit Nie¬
drigergestellten empfohlen, «nicht um gelobt zu werden, sondern
weil man auch innerlich wahrhaft demüthig und bescheiden sein
müsse». (S. 145).
Eine eigentümliche Inkonsequenz fällt bei folgenden Lehren auf.
S. 147 ff. ist in sehr würdiger Weise von der Liebe zur Wahrheit
die Rede: man solle auch dann die Wahrheit, und nur diese reden,
wenn dies Nachtheil bringe. Lieber sterben, als lügen, meint Po¬
ssoschkow. Wer für die Wahrheit stirbt, kann der Märtyrerkrone ge¬
wiss sein und ist glücklich zu preisen, während der Lügner unfehlbar
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eine Beute des Teufels werden muss. Damit wollen nun die Aus¬
führungen auf S. 193 nicht stimmen, denn aus denselben geht her¬
vor, dass Soldaten als Kriegsgefangene ganz systematisch die Un¬
wahrheit reden müssen, Ueber die Stärke der Truppen, denen der
Kriegsgefangene angehört, über die Vorräthe an Schiessbedarf und
Lebensmitteln u. s. w. sollen unter Umständen durchaus lügenhafte
Aussagen gemacht werden. Von den anderen Kriegern soll der Kriegs¬
gefangene sagen, sie seien alle in vielen Schlachten erprobt und alte,
erfahrene Soldaten, von sich dagegen soll der Kriegsgefangene, auch
wenn er im Dienste erfahren ist, sagen, er sei eben erst in das Heer
eingetreten 1 u. dgl. m. Eine solche Moral ist nicht ekle ideale, doch
dürften im Alten Testament Analogien für eine solche Auffassung
anzutreffen sein. Die Laxheit einer solchen entspricht derselben
kindlichen Naivetät oder Unreife, wie die Liebe zur Tugend mit der
Aussicht auf Belohnung. Es ist eben nicht völlig reine selbstlose
Menschenliebe, welche den Sohn Possoschkow’s veranlassen soll
(S. 171), Jedem zu helfen, dessen Wagen im Schmutze steckt, Jedem
auszuweichen, dem er auf einem schmalen Wege oder auf einer
schmalen Brücke begegnet, Jedem beizuspringen, welcher von Räu¬
bern angefallen ist — alle diese Lehren schliessen mit der Phrase:
«für eine solche Tugend wird Gott Dich in dieser und jener Welt er¬
heben und berühmt machen».
Ehe und Berufsleben.
Der «Domostroi» verbreitet sich sehr eingehend über die Stellung
der Frau, über deren Pflichten und über die Pflichten des Mannes
als Zuchtmeisters der Frau. Ohne auf diese Fragen so umständlich
einzugehen, behandelt Possoschkow in seiner an den Sohn gerichte¬
ten Schrift die Ehe, namentlich die Eheschliessung in eigentüm¬
licher Weise. Er ertheilt zunächst seinem Sohne einige Rathschläge
in Betreff der Wahl einer Gattin. Dies wird ebenfalls als eine reli¬
giöse Angelegenheit bezeichnet. Die Braut soll nicht von angesehe¬
nerem Geschlecht sein, als der Bräutigam; auch soll sie nicht reicher
sein, weil sonst der Mann geringschätzig behandelt werden kann.
Nicht der Mann soll durch die Frau Ehre geniessen, sondern umge¬
kehrt die Frau durch den Mann. Am Meisten hat man bei der Wahl
der Braut zu achten auf Demuth, Verstand, und vor Allem auf Fröm¬
migkeit, da diese letztere, die Gottesfurcht, der Anfang aller Weis-
1 n 9% CJiOBftxi. npasAu hi imjiui He ofosBAstt; ho cxuoiob rosopa am» aojtk
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heit ist. Ueber die religiösen Pflichten der Ehegatten spricht dann
Possoschkow ausführlicher. Auf Schönheit meint er, sei nicht so
sehr zu achten, indessen komme es ja auch oft vor, dass körperliche
Schönheit zugleich mit Seelenadel angetroffen werde, wofür denn
mehrere Beispiele aus dem Alten Testamente angeführt werden.
Wunderlich klingt die Mahnung, der Sohn solle doch nicht um zwei
oder drei Jungfrauen zu gleicher Zeit sich bewerben, «denn sie ist ein
Mensch wie Du, und nicht ein Pferd. Man kann, wenn man das Geld
dazu hat, mehrere Pferde kaufen; wenn man aber an drei Jungfrauen
zugleich Gefallen findet, dann kann man sie doch nicht alle nehmen».
Es folgen sodann Winke, wie man gelegentlich die Braut zu Ge¬
sichte bekommt, ohne zunächst formell um ihre Hand angehalten
zu haben. Sei das Wort einmal gegeben, so dürfe man nicht zurück.
Vor aller Zauberei bei der Hochzeit wird dringend gewarnt, weil
alles Teufelswerk Gottes Einfluss ausschliesse (S. 20—25). Ueber
eine ehrsame und wohlanständige Hochzeitsfeierlichkeit spricht Po¬
ssoschkow sehr ausführlich, über die Auswahl der Gäste, welche
man einladen müsse, über frühere bei Hochzeiten übliche heidnische
Gebräuche, welche man vermeiden müsse. Die ersten Tage und
Nächte der Ehe müssen unter Gebet und Beobachtungen allerlei
religiöser Gebräuche verbracht werden. Viele der dahin gehörenden
Rathschläge sind unmittelbar aus dem Alten Testament entlehnt; es
sind orientalische Satzungen, welche einen ebenso hygienischen wie
kirchlichen Charakter haben (s. S. 28—33), wobei wiederum den
Lutheranern die ärgsten Dinge nachgesagt werden (s. S. 59 u. 60).
Der Frau wird einiger Einfluss, einige geistige Bedeutung einge¬
räumt. S. 70 warnt Possoschkow seinen Sohn vor allzugrosser
Eigenmächtigkeit bei Entschliessungen und räth ihm, ohne den
Rath der Frau nichts zu unternehmen, da sie ihm von Gott nicht als
Dienerin, sondern als Gehülfin durch Vermittelung der Kirche ge¬
geben sei. Wer die Frau nicht achtet, der achtet auch Gott nicht:
ja die Frau sei keine einfache Gehülfin, sondern dem Manne gleich
(He npocTyio noMomHmeio, ho üoaoöhok)). Dass indessen alles
Dieses wiederum mehr religiöser Formalismus ist, als ein eigentliches
Sittengesetz, erweisst sich aus folgender Bemerkung: auch wenn
die Frau einfältig, geistig unvermögend (MajiOMbicJieHHa) ist, muss
man, bloss um Gottes Gebot äusserlich Genüge zu leisten, ihren
Rath hören. Gicbt sie dann einen unsinnigen Rath, so wird Gott,
in Berücksichtigung der Folgsamkeit des Mannes, demselben die
Fähigkeit geben, klar zu erkennen, was Noth thut. Verlässt sich
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aber der Aiann zü sehr auf die eigene Kraft, so muss er unfehlbai*
straucheln.
Mehr hat Possoschkow im Grunde in Bezug auf das eheliche Leben,
dem ein besonderer Abschnitt (S, 25—31) gewidmet ist, nicht zu
sagen. Er bewegt sich zum Theil in Gemeinplätzen und citirt das
Schriftwort: «Wo zwei oder drei versammelt sind* u. s. w.
Es ist einigermassen auffallend, dass Possoschkow, welchem der
«Domostroi» ohne Zweifel bekannt war, so gar nicht der Haushal¬
tung, der Pflichten des Hausherrn und der Hausfrau erwähnt. In
dem Masse, als er sonst den ökonomischen Fragen eine besondere
Aufmerksamkeit zuzuwenden pflegt, musste man erwarten, dass er
die Führung des Haushalts, Küche und Keller besonders ausführlich
besprechen werde. Doch findet sich in den Schriften Possoschkow’s
so gut wie nichts über diesen Gegenstand. Im «Domostroi» sind
diesen weltlichen Dingen neben den religiösen Fragen sehr umständ¬
liche Betrachtungen gewidmet. Possoschkow’s Schrift ist in noch
eminenterem Masse religiös und kirchlich als der «Domostroi«.
Indessen hat denn doch Possoschkow in dem letzten, sehr umfas¬
senden Theile seiner Schrift, dem «bürgerlichen Leben* eine Reihe
von sehr instruktiven Betrachtungen gewidmet. Es wird darin
das Verhalten des Sohnes in verschiedenen Berufsstellungen be¬
sprochen.
Einleitungsweise ertheilt der Vater dem Sohne allerlei allgemeine
Verhaltungsregeln, welche sich auf das Geschäftsleben beziehen.
So heisst es z. B. S. 145: «Wenn Dir eine Angelegenheit des Zaren
anvertraut ist, so kümmere Dich weiter gar nicht um dein Haus¬
wesen oder um sonst Etwas, sondern nur um das Dir aufgetragene
Geschäft. Alle gemachten Auslagen schreibe pünktlich an, . . .
es müssen stets zwei Bücher geführt werden, eines für das Notiren
der Ausgaben und Einnahmen, und ein Anderes für alle Agenda»
u. s. w. Diese Rathschläge werden später wiederholt, wobei die
schlimmen Folgen des Nichteinschreibens sehr eingehend geschil¬
dert werden. Das Abfassen einer Tagesordnung, eines Verzeich¬
nisses der zu erledigenden Geschäfte ist ein Gedanke, welcher in
Possoschkow den tüchtigen Geschäftsmann, den gewissenhaften
Beamten erkennen lässt. Er will Klarheit in allen Geschäften,
Pünktlichkeit und Zeitersparniss. Nicht Viele mochten in jener Zeit
so von Pflichtgefühl beseelt sein, wie Possoschkow.
Possoschkow hat die allerverschiedensten Lebensstellungen, in
denen sein Sohn sich befinden werde, für möglich gehalten. Er selbst
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Wfcr ein Sauer, hatte aber am wenigsten sich mit dem landwirt¬
schaftlichen Gewerbe beschäftigt. Er war wohlhabend und konnte
es für wahrscheinlich halten, dass sein Sohn nicht leicht in eine ganz
untergeordnete oder völlig abhängige Stellung gerathen werde.
Dennoch spricht er recht ausführlich von der Möglichkeit des Ver-
armens, und giebt für diesen Fall dem Sohne allerlei Rathschläge,
wie er sich als Tagelöhner, oder als Sklave, oder als Bettler ver¬
halten solle.
Ist der Sohn in der Lage, sich als Tagelöhner verdingen zu
müssen, so solle er nicht verzweifeln, sondern auf Gott vertrauen,
fleissig arbeiten, . pflichttreuer sein als sonst Tagelöhner zu sein
pflegen, und dies Alles nicht um des zeitlichen, sondern um des
ewigen Lohnes willen. An den Lastern, der Trunksucht, der Spiel-
wuth seiner Genossen, der anderen Arbeiter, soll er keinen Theil
haben, sondern die faulen Arbeiter zur Arbeit anhalten, ohne sie
jedoch dem Herrn zu denunciren. An Festtagen soll sich der Tage¬
löhner in die Kirche begeben und noch mehr als an anderen Tagen
sich eines tugendhaften Wandels befleissigen.
Ist der Sohn nicht im Stande, sich mit seiner Hände Arbeit als
Tagelöhner zu erhalten, so muss er sich in die Sklaverei verkaufen.
Da ist dann Demuth die erste Pflicht. Ein Sklave muss seinen
Herrn ehren, mit den anderen Sklaven in Frieden leben. Früherer
besserer Tage, da er noch im Wohlstände war, darf er nicht ge¬
denken. Auch einem bösen Herrn, welcher die Tugend seines
Sklaven nicht achtet, muss man gehorchen. Der nach Aegypten
verkaufte Joseph wird als Muster eines Sklaven gepriesen. Keine
Arbeit soll man als zu schwer zurückweisen; nur wenn der Herr von
dem Sklaven unsittliche Handlungen verlangt, z. B. Raub oder
Diebstahl, dann soll der Sklave den Gehorsam verweigern, aber mit
milden Worten. Scheltworte und Schläge des Herrn, wenn derselbe
auch ein Trunkenbold oder Wüstling ist, müssen geduldig hinge¬
nommen werden. Trotz Allem muss der Herr Anderen gegen¬
über gelobt werden. Hat man sich als Sklave für eine gewisse
Zeit verdungen, so darf man den Dienst auch dann nicht vor dem
Termin verlassen, wenn die Behandlung oder die Nahrung schlecht
sind. Findet der Sklave etwas, das dem Herrn gehört, so soll er
es nicht für sich behalten, sondern gewissenhaft abliefem. Für alle
solche gute Handlungen wird Gottes Lohn nicht ausbleiben
(s. S. 176—185)
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Die Pflichten eines Bettlers bestehen lediglich in Gebet und
Gottesdienst. Er soll nicht daran denken, Vermögen zu erwerben,
oder eine noch so geringe Summe etwa für seine Bestattung zu er¬
sparen. So wird denn das Bettlerleben als ein Beruf aufgefasst. Die
Almosen, welche ein Bettler erhält, werden als sine der Vorsehung
gegenüber kontrahirte Schuld angesehen. Diese Schuld wird durch
religiöse AJebungen ausgeglichen. Erhält der Bettler ein Stück
Brod, so muss er drei Kniebeugungen oder Fussfalle machen; für
jeden viertel Kopeken sechs Fussfalle, für einen halben Kopeken
deren zwölf u. s. w. Geschieht es nicht, so wird in jener Welt an
den Bettler ein Anspruch erhoben werden, dem er vielleicht nicht
gerecht zu werden vermag. Ein Bettler darf keine Hütte haben; er
darf anderen Bettlern keine lästige Konkurrenz machen, nicht mehr
bitten, als er zum nothdürftigsten Lebensunterhalt bedarf; die
Sorge für den anderen Tag muss ihm ganz fremd sein; mehr als ein
Kleid darf er nicht besitzen, erhält er mehr Geld, als er im Au¬
genblicke braucht, so muss er den Ueberschuss fortgeben, oder
Lichte in die Kirche stiften. Zu den Pflichten eines Bettlers gehört
Gewissenhaftigkeit im Sprechen der vorgeschriebenen Gebete für die
Mitglieder der zarischen Familie, im Beobachten aller kirchlichen
Gebräuche u. s. w.
Solche Anschauungen stehen im Widerspruche mit den in Betreff
der Bettler herrschenden Einrichtungen und Ansichten in den mo¬
dernen Kulturstaaten. Possoschkow ist hier der Vertreter des
Orients, wo es von Bettlern wimmelt, und wo der Bettler als solcher
eine gewisse religiöse Bedeutung hat. In der Bezeichnung «yöorift»
liegt der Beweis, dass dieses auch in Russland der Fall ist. Während
allmählich in der Regierungszeit Peter’s gegen das Bettlerunwesen
Massregeln ergriffen wurden, also eine moderne Auffassung Raum
gewinnt, ist Possoschkow noch in dem Ideenkreis einer früheren
Zeit befangen.
Was nun die eigentlich geschäftlichen Rathschläge anbetrifft, so
fallen dieselben in dem Abschnitt über das Leben des Landmannes
am Dürftigsten aus. Der ehemalige Bauer Possoschkow hatte für die
technische Seite der Landwirtschaft offenbar nur ein geringes In¬
teresse. Daher beschränkt er sich in diesem Kapitel auf Gemein¬
plätze und nichtssagende* Wiederholungen über die Bedeutung der
Sonntagsfeier und andere religiöse Pflichten. Dass der Sohn, falls er
Bauer werde, keinen Verkehr haben solle mit Räubern, ist eine
Lehre, welche durch den Umstand erklärt wird, dass die Bauern sehr
Kum. herao. Bd. >11. 27
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häufig als Hehler mit den Strolchen und allerlei gefährlichem Gesin¬
del solidarisch waren, ein Umstand, den Possoschkow in seinem spä¬
teren Werke «über Armuth und Reichthum» einer eingehenden Er¬
örterung unterwirft. Die Frohnarbeit soll gewissenhaft ausgefiihrt
werden; vom Nachbarn sollen weder Erbsen noch Rüben gestohlen
werden; die Reisenden müssen gastfreundlich bewirthet werden,
ohne dass ihnen dafür zu hohe Preise berechnet würden. Hat ein
Bauer nichts an sonstigen Lebensmitteln, so mag er dem Wanderer
einen Trunk «Kwass» anbieten, wofür Gott entgelten werde. Schliess¬
lich wird noch vor allerlei Zauberei und Wahrsagerei gewarnt, eine
Mahnung, welche freilich für jeden Anderen ebensd gut passen
würde, wie für einen Bauer.
Possoschkow war selbst Techniker. Er lieferte Waffen für die
Krone, fertigte Prägstöcke an, war beim Münzwesen beschäftigt,
hatte eine Branntweinbrennerei u. s. w. Daher widmete er dem
Handwerk und Fabrikwesen auch eine grössere Aufmerksamkeit.
Dieses lag um so näher, als auch Peter der Grosse, merkantilistischen
Grundsätzen folgend, eine Menge Verordnungen in Betreff der In¬
dustrie erliess.
Indessen sind die Lehren, welche Possoschkow seinem Sohne für
den Fall, dass derselbe ein Handwerk treiben werde, giebt, nicht so
sehr technischer als ethischer Natur. Es wird vor Allem grosse Ge¬
wissenhaftigkeit bei der Wahl des Materials empfohlen, aus welchem
die verschiedenen Industrie-Erzeugnisse angefertigt werden, sowie
eine gewisse Sorgfalt bei der Ausführung von Bestellungen. Der
Handwerker oder Fabrikant müsse mit seinem Zeichen auf der Waare
für die Güte derselben verantworten. Sei dann die Waare schlecht,
so setze man sich der gerichtlichen Verfolgung aus. Die Warnung
vor dem Gebrauche fremder Stempel auf der eigenen Waare deutet
vielleicht auf ein häufiges Vorkommen dieses Vergehens in damali¬
ger Zeit. Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit werden so dringend ein¬
geschärft, dass man vermuthen muss, Unpünktlichkeit und allerlei
Betrug seien an der Tagesordnung gewesen. Der Sohn, bemerkt
Possoschkow, solle doch nur ja die in Aussicht gestellten Termine
bei Ausführung von Bestellungen einhalten, als Goldschmid keine
anderen Metalle den edlen beimischen, alles «ohne Falsch» (6ea*b
eajibmHBCTBa) machen. Besondere Sorgfalt müsse ein Waffen-
schmid an wenden. Sei das Material, aus welchem eine Flinte ange¬
fertigt sei, schlecht, so könne das Gewehr springen und den Inhaber
verletzen oder tödten, und in einem solchen Falle sei der gewissen-
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lose Waffenschmid als Mörder anzusehen. Für den Fall, dass der Sohn
ein Maler werde, giebt Possoschkow allerlei Regeln zum Besten über
die beim Anfertigen von Heiligenbildern zu beobachtenden Propor¬
tionen. Ueber diesen Punkt spricht er denn in ähnlichem Sinne in
seinem späteren Werke «über Armuth und Reichthum». Es scheint
ihm gottlos, dass die Heiligenbilder in so pfuscherhafter Weise, ohne
alle Kenntniss der Verhältnisse des menschlichen Körpers, gemalt
werden. Er beantragt die Zusammenstellung eines Lehrbuchs, nach
welchem die Maler sich stets richten könnten. Es erinnern diese
Bestrebungen an Albrecht Dürer's «Vier Bücher von der mensch¬
lichen Proportion» (1528).
In dem Abschnitt über den Kaufmannsstand (S. 189—192) wird
so gut wie ausschliesslich über die Tugend der Ehrlichkeit gespro¬
chen. Man müsse Wort halten, auch wenn es im Augenblick mit
einem materiellen Verlust verbunden sei, man müsse ehrlich sein in
Schütt-, Getreide- und Ellenmassen, alle Waare reichlich und ge¬
wissenhaft abliefem, ohne der schlechten Waare durch allerlei Künste
ein vortheilhafteres Ansehen zu geben. Kleine Kinder, welche in
den Kaufladen kommen, dürfe der Kaufmann nicht an Geld oder
Waare betrügen. Alle diese Regeln werden in dem späteren Haupt¬
werk Possoschkow’s weiter ausgeführt. Sie mochten den damali¬
gen Verhältnissen entsprechen. Bezeichnend für den ethischen Ho¬
rizont Possoschkow’s ist es, dass erstens die Furcht vor Strafe,
und zweitens die Aussicht auf Lohn den Handwerker und Kaufmann
veranlassen müsse, ehrlich zu sein. «Lügst Du», heisst es, «so
kommst Du in die Hölle» u. dgl., und dann wieder wird der Vortheil
einer guten Reputation sehr genau geschildert. Ja selbst den ma¬
teriellen Vortheil, den man bei gewisserhafter Ehrlichkeit momentan
einbüsse, ersetze Gott stets doppelt und dreifach. Das sind kauf¬
männische Gesichtspunkte, welche uns in ähnlicher Weise auch im
«Domostroi» begegnen.
Possoschkow war nie Militär gewesen, aber ein guter Schütze und
ein tüchtiger Kenner guter Waffen. Er hatte eine Art Höllenma¬
schine oder Mitrailleuse erfunden, und ein Modell derselben für
Peter den Grossen angefertigt; er hatte in einem Schreiben an den
Bojaren Golowin bereits im Jahre 1701 sehr wesentliche Fragen des
Militärbudgets und des Heerwesens eingehend erörtert; er hatte
endlich oft genug die Rohheit der Soldateska empfunden, und von
manchen Offizieren, welche er in seinem Hauptwerke namhaft macht,
allerlei Misshandlungen erfahren. Ein Theil seines an Peter den
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Grossen gerichteten Memoire's «überArmuth und Reichthum» ist
den das Heerwesen betreffenden Fragen gewidmet. Er musste es
für möglich halten, dass sein Sohn die militärische Laufbahn ergrei¬
fen werde, und für einen solchen Fall stattet er ihn mit einigen guten
Rathschlägen aus. Auch hier herrschen die allgemeinen Vorschrif¬
ten über Frömmigkeit, Demuth, Bescheidenheit vor. Ein verräthe-
rischer Soldat, meint Possoschkow, sei ewigem Verderben geweiht,
ein räuberischer Soldat, welcher die Civilbevölkerung kränke oder
ausplündere, reize Gottes Zorn. Sehr hübsch ist die Ermahnung,
dass bei Einquartirung der Soldat seinen Gastgeber möglichst milde
und rücksichtsvoll behandeln solle. An dem Beispiel eines Soldaten,
Namens Kulnow, welcher sich in den Tschigirinschen Feldzügen
hervorgethan hatte, zeigt Possoschkow, wie ungewöhnliche Tapfer¬
keit im Felde sehr wohl vereinbar sei mit grosser Milde und Gemüths-
Weichheit im Frieden. Gebet, Sittenreinheit, Liebe zur Wahrheit,
strenge Beobachtung der Fasten stehen dem Krieger wohl an. Fer¬
ner muss der Soldat sein Gewehr gut behandeln, sauber halten, ge¬
wissenhaft sich üben im Schiessen, damit nicht unnützerweise Muni¬
tion verloren gehe. Diesen national-ökonomischen Gesichtspunkt
betont Possoschkow auch sehr nachdrücklich in seinen anderen das
Heerwesen betreffenden Schriften. Als Offizier soll der Sohn sich
noch mehr wie in der Eigenschaft eines Soldaten davor hüten, die
Nichtmilitärs zu kränken. In diesem Punkt soll ein Offizier gegen
seine Untergebenen unerbittlich streng sein. Schütze man die Un-
bewaffneten vor der Rohheit der Krieger, so könne man sicher auf
Lohn von Gott rechnen. Ebenso erscheint es als vortheilhaft fin¬
den Offizier, wenn er die Kriegsbeute der Soldaten sich nicht ge¬
waltsam oder unrechtmässiger Weise aneignet, indem Gott es ihm
in jener Welt hundertfältig vergelten werde. Auch denjenigen Ge¬
nossen, mit welchen man verfeindet sei, müsse man beispringen,
wenn man sehe, dass sie in Gefahr seien, in Kriegsgefangenschaft zu
gerathen, oder im Kampfe mit dem Feinde zu erliegen u. s. w.
(S. 192—204).
Am Ausführlichsten behandelt Possoschkow den Beruf eines
Richters, Beamten oder Schreibers. Er hatte offenbar in seinem
Leben vielfach Gelegenheit gehabt; die Unsittlichkeit der damaligen
Bureaukratie, die Bestechlichkeit der Richter kennen zu lernen und
den materiellen Schaden zu beurtheilen, welcher aus solchen Män¬
geln für das Publikum erwachsen musste. Um so eindringlicher
schärft er seinem Sohne für den Fall, dass er eine Beamtenlaufbahn
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Wahle, ein, er solle das Interesse des Volkes und Staates im Augd
behalten, den Werth der Zeit schätzen, gewissenhaft seine Pflicht
erfüllen, das richtige Mass Strenge und Milde kennen.
Ein Schreiber muss früh in das Lokal der Behörde kommen und
spät fortgehen, fleissig sein, nicht unnötigerweise seine Arbeit
unterbrechen, gegen seine Vorgesetzten zuvorkommend sein. Sind
Arbeiten bis zu einem gewissen Termin zu vollenden, so muss man
die Zeit einhalten. Auf die Kollegen darf man sich nicht zu sehr
verlassen, sondern ihnen ein Vorbild geben, wie sie pünktlich,
nüchtern und sorgfältig arbeiten sollen. Sparsamkeit im Verbrauch
von Papier wird schon aus merkantilistischen Gründen empfohlen,
weil so viel Geld für Papier aus dem Lande gehe.
Hat ein Beamter über einen Rechtsfall ein Gutachten abzugeben,
so muss er alle Kraft aufbieten, die Sache nach allen Richtungen hin
zu beleuchten, ganz objektiv verfahren, sich nicht bestechen lassen*
Für letzteres Vergehen wird mit Höllenstrafen gedroht. Ein Richter
sei in der glücklichen Lage, Gott zu gefallen, wenn er die Gekränkten
schützt und gerecht urtheilt. Durch Gebet soll er sich täglich auf
seine Berufsthätigkeit vorbereiten. Sehr genau schildert Possosch-
kow, wie man Verhöre anzustellen, unter den streitenden Parteien
in civilrechtlichen Fällen Vergleiche herbeizuführen suchen müsse.
Nirgends, bemerkt er, werde so viel gelogen, wie bei Zeugenaus¬
sagen: daher müsse der Richter den Leuten ins Gewissen reden,
manche Zeugen unter vier Augen verhören u. s. w. Ueber die An¬
wendung der Folter, die Brandmarkung und die Anwendung der
Todesstrafe folgen sodann sehr lehrreiche Ausführungen, welche
uns über die Rechtsanschauungen, sowie über die Kriminalstatistik
jener Zeit zu unterrichten geeignet sind. Sehr hübsch sind die
Bemerkungen, dass es einem Richter stets zur Ehre gereiche, wenn
die Zahl der Prozesse abnehme, dass der schleppende Gang der
Justiz den Volkswohlstand schädige, dass ein Vorgesetzter seine
Untergebenen rücksichtsvoll behandeln, ihnen Zeit ersparen müsse,
dass manche Angelegenheiten kollegialisch behandelt werden müssten
u. s. w. (S. 208—246).
Man sieht, dass diese letzten, die Beamtenlaufbahn betreffenden
Abschnitte, welche umfangreicher sind als die vorhergehenden über
die anderen Berufsarten, bei Weitem inhaltreicher und vielseitiger
gehalten sind, als die sonstigen Partien des «Testaments». Sie haben
einen weltlicheren Charakter, sie treten aus den dem «Domostroi»
entsprechenden Anschauungen in das praktische Leben. Die tech-
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tusche, rein geschäftliche Seite des Berufs wird mehr betont, als
die religiöse. Es sind nicht so sehr mönchisch-asketische Gesichts¬
punkte die massgebenden, als fachmännische. Es weht in diesen
Betrachtungen über die Pflichten eines Beamten oder Schreibers ein
frischerer Luftzug, während in den übrigen Theilen der Schrift eine
dumpfe Klosterluft herrscht. Wir haben Grund zu der Annahme,
dass auch die Abschnitte über Industrie und Handel ausführlicher
geschrieben wurden, als sich dieselben in der von Hrn. I^opow ent¬
deckten und herausgegebenen Handschrift darstellen. Zu einer
solchen Annahme veranlasst uns erstens die Ausführlichkeit und
grössere Vielseitigkeit, mit welcher Possoschkow dieselben Stoffe
in anderen Schriften behandelt, und zweitens die unverhältniss-
mässige Kjirze der Kapitel über den Beruf des Kaufmanns, des
Handwerkers, des Soldaten u. s. w. im Vergleich mit der Länge
der Abschnitte Uber die Beamtenlaufbahn (O npiuasHuxi, no-
pjuucax-b).
Dem sei, wie ihm wolle: im Wesentlichen sehen wir Possoschkow
in seinen Ermahnungen an den Sohn in den Anschauungen einer
früheren Zeit befangen. Er lehnt sich an die Lehren des «Domostroi»
an. Wir erfahren aus dieser Schrift Possoschkow’s nicht, dass
er ein gelehriger Schüler Peter's des Grossen war, dass er zu
den Wenigen gehörte, welche die Intentionen des genialen Auto¬
kraten zu würdigen wussten und viele Reformen mitthätig unter¬
stützten. Während er in manchen anderen seiner Schriften, insbe¬
sondere in den meisten Kapiteln seiner Schrift «Ueber Armuth und
Reichthum» für den Fortschritt eintritt, sehr einschneidende Re¬
formen befürwortet, und hier und da als sehr liberal und progressis-
tisch erscheint, tritt er in seinem für den Sohn geschriebenen
«Testament» als ein Vertreter des ancien regime auf, indem er hier
nur ausnahmsweise und ganz flüchtig weltliche Stoffe behandelt,
und vorwiegend geistliche, kirchliche Gesichtspunkte betont So
macht denn dieses Werk einen durchaus unmodernen Eindruck. Es
ist ein rückwärts gewandter Blick ins Mittelalter. Die darin, ent¬
haltene Pädagogik und Didaktik stellt sich als eine überlebte, ana¬
chronistische dar. A. Brückner.
(Fortsetzung folgt)«
Digitized by ijOOQle
Otto Anton Pleyer,
der erste fBnnlieh aecreditirte Österreichische Diplomat am russischen Hofe.
1692 - 1719 .
(Schluss).
Pleyer als Berichterstatter.
Das umfangreiche Material aus der Feder Pleyer's ist auf etwas
mehr als 150 Seiten in Gross-Octav in den Beilagen zum 2. bis 4.
BandeUstrjalow’s zusammenhängend niedergelegt; wie schon in der
Vorrede bemerkt wurde, hat der Verfasser der Geschichte Peter’s
des Grossen uns die wichtigeren Relationen, diese aber in extenso
mit der OrthogVaphie Pleyer’s, publicirt. Dem zweiten Bande ist die
ausführliche Beschreibung des ersten Asow’schen Feldzuges beige¬
fügt, der dritte Band enthält 4 Berichte aus dem Jahre 1697, und
nach einer Lücke von zwei Jahren drei Berichte vom December 1699
bis zum März 1700 (im letzten meldet Pleyer zuerst von dem bevor¬
stehenden Bruch mit Schweden), den bei Weitem grössten Theil fin¬
den wir im 2. Theil des 4. Bandes; es sind auf 120 Seiten nicht we¬
niger als fünfzig Dokumente, die ohne eine längere Unterbrechung
den nordischen Krieg von seinem Ausbruch bis zum December 1706,
wo er ja mit del- Bewältigung Sachsens in eine neue Phase trat, be¬
gleiten. An die 26 Relationen Pleyer’s als österreichischer Sekretär
reiht sich noch seine Denkschrift aus dem Jahre 1710, die gewisser-
massen den Schlussstein zu jenen bildet, die desshalb bei der Betracht
tung Pleyer’s, als Verfassers dieser historischen Dokumente, mit zu
Grunde gelegt sei.
Bis zum Ausbruch des nordischen Krieges wusste man in Europa
kaum viel mehr über Russland, als dass sich hier eine Umgestaltung
der alten Verhältnisse vorzubereiten begann; nur dunkel ahnte man,
dass die noch rohen Kräfte des weiten Reiches, geleitet von dem
festen Willen eines hochbegabten Herrschers, entscheidend in die
Geschicke eingreifen könnten; man suchte die bisher unbekannte
Grösse, welche doch schon in Rechnung gebracht werden musste,
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naher zu bestimmen, und zu dem Zweck ja war Pleyer von der Öster¬
reichischen Regierung in die ferne Zarenresidenz ausgesandt worden.
Wie nun verhielt dieser sich zum Gegenstand seiner Beobachtung,
zu Russland selbst?
Zunächst mag es gestattet sein, zu bemerken, dass Pleyer sich
äusserlich in seinem neuen Aufenthaltsort — abgesehen von zufälli¬
gen Unannehmlichkeiten — offenbar wohlgefühlt hat, (denn sonst
hätte er sich wohl schwerlich um ein weiteres Verbleiben daselbst
so eifrig bemüht) und andererseits scheint auch er vom russischen
Hof nicht ungern gesehen zu sein. Nicht ohne Eitelkeit spricht er
selbst im Februar 1702 von sich als von „ientöitb, bet fd&on an ben
(Sjatifdfcen Ijoff tuafe bejfer belannt unb tuofl gelitten tuere" 59 , und ist hierauf
auch nichts zu geben, so zeigen doch auch andere Umstände, dass
er bei Hof nicht persona ingrata gewesen ist: das ganze Verhalten
der russischen Regierung ihm gegenüber war, wie wir gesehen haben,
durchaus entgegenkommend, der Kanzler Golowin unterstützte ihn
mit seinem wohlmeinenden Rath, auch der Zar selbst Hess später
gelegentlich durchblicken, dass ihm Pleyer’s Persönlichkeit in der in
Rede stehenden Zeit ganz genehm gewesen sei 90 .
Im Auslande waren damals die irrthümlichsten Ansichten über
Russland verbreitet, die ungeheuerlichsten Erzählungen fanden gläu¬
bige Hörer, im Allgemeinen wurden die Russen als rohe Barbaren
verabscheut, und dieses war auch in Wien lange die vorherrschende
Stimmung. Der russische Gesandte Golizyn und Linksweiler haben,
wie es scheint, in Pleyer den Urheber jener gehässigen Gerüchte,
welche den Wiener Hof in seiner Geringschätzung Russlands be¬
stärkten, gesehen 91 , aber gewiss mit Unrecht — nie hat dieser geflis¬
sentlich ungünstige Nachrichten verbreitet, nie absichtlich die Miss¬
stimmung Russland gegenüber genährt. Von dem Vorwurf blinder
Voreingenommenheit ist Pleyer vollkommen freizusprechen; beson¬
ders deutlich tritt das Streben nach möglichst objektiver Darstellung
hervor, wenn wir seine Berichte mit den ebenfalls bei Ustrjalöw
(Band III) gedruckten Relationen Guarient’s, aus denen unschwer
parteiische Missgunst zu erkennen ist, vergleichen. Ebensowenig
freilich lassen sich Sympathien für das russische Volk bei Pleyer
entdecken, auch er hat als gebildeter Ausländer russischer Rohheit
gegenüber das Gefühl * entschiedener Ueberlegenheit, und eine ge¬
wisse Vornehmheit fl , mitunter geradezu Geringschätzung der Russen
#Ä yerp. iv, 2.569. — *° y C Tp. vi, 547. — Äl yerp. iv, 2.200. — •* s. z. b.
Herrmann, p. 123, wo PI. über die Gespräche rassischer Offiziere spöttelt.
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4i?
spricht sich auch wohl aus; aber nie sucht er das Ungünstige mit
Vorliebe hervor, nie tadelt er, um zu tadeln. Nur höchst selten fin¬
den vfjr in seinen Berichten härtere Ausdrücke wie oben (S. 306) in
Betreff der Brieferbrechung, oder wie die Bemerkung: „uttb
re$t ben Muffen ex inferno nulla redempüo".
Allerdings hat auch er in den ersten kritischen Jahren des nordi¬
schen Krieges durch seine Berichte nicht gerade dazu beigetragen,
das Ansehen Russlands in Oesterreich zu erhöhen, am wenigsten aber
lag dieses in seiner Absicht, vielmehr trug die ganze Situation in der
That durchaus den Charakter des Schwankenden an sich. Die krim-
schen Tataren, schrieb er im December 1702, würden sich zu den
rebellischen Kosaken schlagen, es würde „aller apparenz na<$ bie Sei«
grobiföe $>orbe nid)t lang fid) fäumen", auch drohe ein Bruch mit der
Pforte, was um so gefährlicher sei, als die Festungen Taganrog und
Asow unzureichend besetzt wären, und die besten Truppen gegen
die Schweden kämptten 9a . Auch vom Hauptheere theilte er öfters
Beunruhigendes mit: stetige Widersetzlichkeiten hätte der Zar zu
überwinden, immer drückender würden die Lasten, unter den ver¬
schiedensten Zeichen äussere sich die Unlust am Kriege 91 . Dagegen
hebt aber Pleyer gebührend auch das Gute hervor, die eifrigen Rüs¬
tungen, die kleineren Siege, namentlich die entschlossene Haltung des
Zaren selbst: öffentlich habe dieser sich dahin verschworen, „entroeber
fein ganjen Sanb ju öerlie$ten ober er mujj ba8 ganje ^ngermarmfanb fambt
Slarma unb Dfirpt miber^aben ober ®ott mu| tyn r^enber oon ber todt »eg«
netnmen" 96 . Pleyer giebt, wie wir sehen, nicht nach einem bestimm¬
ten Gesichtspunkt eine einseitige Auslese von Thatsachen, sondern
theilt eben unbefangen alle wichtigeren Vorgänge mit.
Wahrte Pleyer in Bezug auf Russland im Allgemeinen die reser-
virte Haltung des Beobachters, so that er es auch in Hinsicht auf die
innerhalb des Reiches kämpfenden Richtungen.
Eng hatte er sich von vornherein an die Katholiken in Moskau an¬
geschlossen und neigte, wie diese, offenbar zu der Reformpartei. Mit
Nothwendigkeit waren ja alle Ausländer auf die Seite Peter’s hinge¬
wiesen, in ihm mussten sie den Hort ihrer religiösen Ueberzeugung,
den Schirm ihrer persönlichen Sicherheit verehren; Gut und Leben
schien durch den Hass der altrussischen Partei, durch die Erbitterung
des gemeinen Volkes gefährdet. Mehrfach hatte Pleyer Veranlas¬
sung von der bedrohlichen Stimmung, die gegen die Ausländer
93 ycTp IV, 2 , 595—597- — #< *bid 57*. — ,s ibid. 582 .
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4t$
herrschte, zu berichten, so noch in seiner letzten Relation Vom 24.
Dezember 1706: wegen des Friedens zu Altranstädt, schrieb er, sei
Alles so bestürzt »unb bet gemeine SRann auf biefeeutf$en alfo erbittert,
bafe man eine 9 tebe 0 ion fa(t tfig(i$ befolgtet, »eilen fle SSn§ öffentli^ Ser»
rftt^er feigen, gewijs ift eS, ba| lein tinb in SRutter leib foQe gefront werben".
War es selbstverständlich, dass Pleyer schon im Hinblick hierauf
sich an die Partei des Zaren anlehnte, so lag eine weitere Nöthigung
dazu in politischen Gründen; denn nur von dort her war kräftige
Kriegführung gegen die Türken und später nachhaltiger Widerstand
gegen das täglich steigende Uebergewicht Karl XU. zu erwarten.
Beides lag im Interesse seiner Regierung. Besonders sind es daher
auch die Verbesserungen Peter’s auf dem Gebiete des Heerwesens,
welche Pleyer’s Lob hervorrufen®*; auch verkennt er die Schwierig*
keiten nicht, welche jenerbei seiner Kriegführung zu überwinden hatte.
Schon 1697 schrieb er in Bezug hierauf: „®u$ bemerkt rr (Peter)
allgema$ bie faumfeligleit in Setfertigung ber friegSpreparatorien attyiet,
inbente bie tufift&en beim nid^t einer ju finben, ber jum frieg fo er au<b no$
fo notljmenbig ober nujli^ier were ben geringen (uft bette fonbern fo e* an
i^nen gelegen were, ber frieg nit&f aOein ni<!)t angefangen weniger fortgefejei
werben fölte; allein ber ©jat felbet, gegen beffcen ßrengigleit bie berrn f<$on
beginnen }u jittem ein freub in frieg fisten jeiget, ba$ero wir tyn auch erntet
all man fonjt bet$offet, fefcen börffen"® 7 .
Dennoch aber waren, wie es scheint, die Sympathien Pleyer’s für
die petrinische Richtung nur mehr äusserlicher Natur, wir sehen ihn
von einem tieferen Interesse für die Bestrebungen Peter’s erfüllt, seine
Hinneigung zu ihm wurzelte eben wohl mehr in der Nothwendigkeit
als in innerer Ueberzeugung, mit einem Wort — Pleyer blieb immer
Oesterreicher, verfolgte in Moskau nur österreichische Interessen,
beurtheilte, was man ihm ja keineswegs verdenken kann, die Vor*
gänge in Russland ausschliesslich nach österreichischem Massstabe.
Ueber die Reformen selbst spricht er sich daher nur selten aus j ist
von Verbesserungen die Rede, so werden in der Regel neben dem
Zaren Ausländer als Urheber derselben genannt ® 8 ; charakteristisch
ist, dass er es Peter nicht wenig verargt, wenn dieser seine Unter*
thanen den Ausländem gleichstellt: „SJnb betfpfltet man", schreibt er
im December 1699, „olgema$ eine getingfööjung bet Sufclfinbet beb ben
** Herrmann, im. — ** y«p. III, 637 . — ** S. z. B. auch a. a. O. Herrmann,
133 .
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ffjftrttt, htbeme et; fo falb eht ruf% t>on einem Ku|(flnbet etmafs gcfe$en unb
fette« nad()affet, toan e« fäon ni<$t fo guet, bennodfr faget, jle$c ba, meine
ruffcen Kimen biefe« eben fo guet"
Den Fürsten Menschikow hasst Pleyer, weil dieser sich Oester¬
reich feindlich zeigt, gegen ihn — es ist einer der seltenen Fälle —
erlaubt er sich wohl auch härtere Ausdrücke, spricht von dessen
„giftigen einblofen" und beschuldigt ihn unmässigen Geizes. Bei der
Beurtheilung der einflussreicheren Persönlichkeiten am russischen
Hofe zieht er in seinem Bericht vom Juni 1710 ausschliesslich die
beiden Fragen in Betracht, ob der Betreffende der kaiserlichen Par¬
tei oder ob er der katholischen Religion geneigt sei 100 ; beides fällt
meist zusammen.
"Die Berichte Pleyer’s tragen in jeder Hinsicht den Charakter ein¬
fachster, unbefangenster Wiedergabe des Beobachteten. Gewissen¬
haft berichtet er seiner Regierung, was er gerade in Erfahrung ge¬
bracht hat, seine eigene Ansicht über das gemeldete Ereigniss lässt
er in der Regel nicht verlauten; höchst vereinzelt finden wir (mit
Ausnahme seines Berichts vom Juni 1710) eine Beurtheilung hervor¬
ragender Persönlichkeiten, noch seltener Reflexionen — Pleyer
bleibt im strengsten Sinne des Wortes Berichterstatter .
Die Einfachheit der Darstellung lässt mitunter eine tiefere Auflas¬
sung vermissen, man fühlt doch wohl, dass er noch ausserhalb des
Kreises der treibenden Kräfte am russischen Hofe stand, und dieses
war unfraglich schon durch seine Stellung als bloss charakterisirter,
nicht accreditirter Diplomat bedingt.
Auch nach einer anderen Seite mussten daher seine Berichte an
Werth verlieren, nämlich in Bezug auf die Kriegsgeschichte. Pleyer
durfte Anfangs nicht den Heeren folgen (ob er es später gethan hat,
wissen wir nicht), und war demnach bei seinen Mittheilungen über
das Heer auf die unsicheren Gerüchte, die spärlich und entstellt nach
Moskau gelangten, angewiesen. Ueber die Ereignisse auf dem
Kriegsschauplätze bieten daher seine Relationen nur wenig, dagegen
enthalten sie vielfach Belehrendes über die Stimmung, welche in Be¬
treff des Krieges in Moskau herrschte; sie zeigen, wie schon gele¬
gentlich bemerkt wurde, mit welcher Unlust sich das Volk am
Kriege betheiligte, auf wie lockerem Boden der Reformbau Peter’s
damals noch stand.
99 ycxp. III, 643. — 100 Herrmann, 136 137,
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Vor Allem aber wandte Pleyer den diplomatischen Vorgängen
seine Aufmerksamkeit zu; mit grösster Gewissenhaftigkeit vermel¬
det er alle eintreffenden Gesandtschaften, auch über geheime Missio¬
nen weiss er öfters näher zu berichten, werthvolle Notizen bringt er
über die Beziehungen Russlands zu fremden Mächten, namentlich
zur Pforte, zu Polen-Sachsen, zum Königreich Preussen 101 . Berührt
Pleyer auch hier nur mehr äusserlich die Thatsachen, so entschädigt
dafür die grosse Gewissenhaftigkeit, mit der er alles Bemerkenswer¬
there aufzeichnet; alle seine Angaben tragen das Gepräge pflicht¬
schuldiger Treue, und es kann nur höchlichst bedauert werden, dass
für die Publikation des grösseren und vermuthüch weit werthvolleren
Theiles seiner Berichte zur Zeit noch gar keine Aussicht vorhan¬
den ist.
Pleyer als Resident.
Der Sieg Peter's des Grossen bei Poltawa hatte mit einem Schlage
die politische Lage des ganzen europäischen Nordens umgestaltet.
Als Herr über denselben trat an die Stelle des kleinen Schwedens
ein kolossales Reich, ungemessen in seiner Ausdehnung, ungemessen
in seinen Hülfsquellen, an die Stelle eines mit den europäischen Ge¬
schicken bereits vielfach verschlungenen Volkes ein von europäi¬
scher Geschichte, von europäischer Kultur fast gar nicht berührter
Stamm, an die Stelle eines starrköpfigen, tollkühnen Abenteurers
eine rücksichtslos durchgreifende, ihrer Ziele sich bewusste Herr¬
schernatur. Diese Veränderung wurde alsbald im Auslande ge¬
spürt; das Gefühl von Unsicherheit und ein ungewisses Misstrauen
in die Pläne und Absichten des russischen Hofes scheint sich bei den
meisten Nachbarstaaten festgesetzt zu haben.
Die Bedeutung, welche Russland sich durch die Schlacht bei Pol¬
tawa in Europa errang, spiegelte sich bezeichnend auch in der Per¬
son seines Herrschers ab; die Ideen Peter’s, sein äusseres Verhalten
zeigten von jetzt ab eine ganz andere Färbung 10 *, mit seinen gewal¬
tigen Erfolgen stiegen in gleichem Masse auch seine Hoffnungen —
das Gewonnene sättigt den Ehrgeiz nicht, sondern reizt ihn nur
noch mehr.
Es war natürlich, dass auch die österreichische Politik verdoppelte
Aufmerksamkeit den Vorgängen am russischen Hofe zu wandte.
,w Für diese Verhältnisse ist Pleyer der hauptsächlichste Gewährsmann C. von Noor¬
den’s in seinem bekannten Werk «Europäische Geschichte im 18. Jahrhundert».
,0 * Ein treffendes Bild dieser Umwandlung giebt Pleyer (Herrmann, 129).
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421
Da war es denn vor Allem nothwendig, ein treues Gesammtbild
von dem Wesen und Charakter der russischen Regierung zu erhal¬
ten, um darin gewissermassen eine feste Operationsbasis für die zu
beobachtende Taktik zu besitzen. Wem aber sollte die Aufgabe
zufallen, dieses zu zeichnen? Es lag nahe genug, an Pleyer zu den¬
ken, der ja bereits über 15 Jahre mitten in jenem Leben zugebracht
hatte.
In der That wurde er nach Wien berufen, wo er wohl in den ersten
Monaten des Jahres 1710 anlangte los , damit er hier «einem Hoch-
löbl. Kays. Ministerio von der gegenwärtigen moskowitischen Re¬
gierungsbeschaffenheit einige Nachricht allerunterthänigst ertheilen
sollte». Diesem Aufträge sich unterziehend, reichte er im Juni 1710
eine längere Denkschrift ein, in welcher er die Landesverwaltung,
die Polizei, das Staatsministerium etc. kurz charakterisirt; ausser¬
dem bespricht er eingehender die beiden Fragen, welche im Augen¬
blick besonders das österreichische Ministerium interessirten, näm¬
lich die Curialien und das «exercitium religionis catbolicae». Vor
Allem kam der erste Punkt in Betracht, denn gerade damals, als
Pleyer sich in Wien befand, verhandelte gleichzeitig in Moskau der
österreichische Gesandte Graf von Weltzeck über die Installirung
eines ständigen, förmlich accrediärten Vertreters am russischen
Hofe 104 . Nicht wenig lag es der österreichischen Regierung daran,
günstige Bedingungen in der beregten Frage zu erlangen; wie der
deutsche Kaiser die höchste Würde der Christenheit beanspruchte,
so sollte auch sein Vertreter vor denen der übrigen Herrscher durch
ehrenvollere Formen, durch ein höheres Cermonial ausgezeichnet
werden. Zu diesem Zweck müsse man, räth Pleyer, den Kanzler
Golowkin und den Vizekanzler Schafirow zu gewinnen suchen, was
am Besten durch Gnadenbezeugungen und einige Präsente, „fo tym
ober in ber b($ften @e$eimb, um iljn für 9 teib unb 93etfolgung$unglücf ju
6ttoo$ren, mflfjie brigebra<$t ©erben 1 ', zu erreichen wäre, und dazu wie¬
derum eigne er sich vor allen Anderen „©egen aHejett gehabten guien
Access, SBelannifd&aft unb geflogener öfterer Sonberfation"; man möge ihn
,w Pleyer ist jedenfalls erst im Jahre 1710 nach Wien aufgebrochen, da er bei der
Audienz des englischen Gesandten Withwort, welche am 5. Februar 1710 stattfand
(Cojiosberb, XVII, 60) zugegen war (Herrmann, 121).
104 Herrmann, 139. Dass bereits Pleyer, wie Herrmann S. VH. mittheilt, in einer
«bis zum Jahre 1710 ergebnisslos gebliebenen Verhandlung über die Opportunität,
einen förmlich accreditirten österreichischen Gesandten nach Russland zu senden», ge¬
standen hat, habe ich nicht entdecken können.
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422
daher schleunig zurückexpediren, „e$e ber #ett @raf bon SBetyecf feilte
üftegociation fo toeit gebracht hätte, bafj er eine enbli<$e tmb umüiberrufttdfre
Stnttoort no<$ ni<$t erhalten haben möchte 105 ".
Man könnte in der Sendung Weltzeck’s eine Zurücksetzung
Pleyer’s, in seiner Selbstempfehlung, als der zur Uebergabe der Ge¬
schenke geeignetsten Person, Eitelkeit, in seiner Bitte um schleunige
Rücksendung, Furcht vor dem Verlust seines bisherigen Postens er¬
blicken, doch nöthigt uns ein Umstand zu einer wesentlich anderen
Beurtheilung: es unterliegt kaum einem Zweifel, dass Pleyer nicht
mehr als Sekretär, sondern als Resident nach Russland zurückgekehrt
ist, dass seine Berufung zu dieser Stellung bereits feststand, als er
im Juni 1710 jene Denkschrift einreichte, dass somit die Verhandlun¬
gen, welche Weltzeck mit der russischen Regierung fiihrte, lediglich
seine zukünftige Residentschaft betrafen.
Spätestens seit dem Jahre 1711 wirkt Pleyer am russischen Hof
als kaiserlicher Resident 108 .
Ob er die Ankunft des Grafen Weltzeck abgewartet hat oder nicht,
lässt sich nach den vorliegenden gedruckten Quellen nicht entschei¬
den, vermuthlich aber hat er sich, weil ja die Sache drängte, und ein
ferneres Verbleiben in Wien völlig nutzlos gewesen wäre, noch im
Jahre 1710 nach Russland aufgemacht.
Die österreichische Regierung hatte, entsprechend der erhöhten
Bedeutung, welche sie den Vorgängen in Russland von nun ab bei-
mass, auch ihren bisherigen Vertreter mit höherer Würde, ausge¬
dehnteren Kompetenzen ausgestattet und ihn damit erst zum Ver-
104 ibid. 139.
404 Folgende Gründe sprechen fiir diese Annahme: 1711 wird ein kaiserlicher Resi¬
dent in Moskau erwähnt (Ssolowjew XVII, 99), 1713 ist Pleyer urkundlich in Moskau,
1718 fungirt Pleyer als kaiserlicher Resident. Eine Hindeutung, dass Pleyer vor 1711
Resident geworden, sehe ich schon in der Wendung, welcher Peter sich in seinem
Briefe (vom 17. Juli 1718) an Karl VI. bedient: Pleyer habe sich immer feindselig ge¬
zeigt seit der Zeit, •als ihm schon jener Charakter eines Residenten verliehen war »
(Ustrj. VI, 547). Die Allgemeinheit dieser Form könnte daraufhinweisen, dass Pleyer
nicht von Karl VI., sondern von Joseph I., also vor dem Jahre 1711 zum Residenten
ernannt ist Entscheidend ist ein Auspruch Pleyer’s selbst: die Uebergabe der Ge¬
schenke an Schafirow, sagt er in seiner Denkschrift (Herrmann, 139), könnte er am
Unvermerktesten besorgen, „b q i<& in attbere« Caract er e lommenbe, für mich jelbjl
feine ®unjl inüfünftig beffer au erwerben (gleich n>ie e* auch oon anberen ftiaifhrU
au gefebehen pflegt) mitgebra^t hätte". Halten wir diese Notiz mit den Obigen zu¬
sammen, so kann unter dem andern Charakter füglich wohl nur der des Minister-Resi¬
denten gemeint sein.
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4*3
treter im vollen Sinne des Wortes erhoben, ihm konnte jetzt daher
auch der wichtige Auftrag zu Theil werden, intimere Beziehungen
zum russischen Hof anzubahnen, ein festes Schutz- und Trutzbünd-
niss zwischen Oesterreich und Russland zu betreiben.
Pleyer wurde russischerseits seine Aufgabe nicht leicht gemacht,
in seiner neuen Stellung wurde er nichts weniger als zuvorkommend
aufgenommen, namentlich hat ihn der Zar selbst mit ausgesuchter
Geringschätzung behandelt Erst nach langem Umherlaufen erlangt
Pleyer endlich die feierliche Audienz, in seiner Rede wird er durch
den Befehl, er möge sich kürzer fassen, unterbrochen, ohne ein Wort
zu erwidern, entfernt sich der Zar, das angebotene Bündniss wird
ausgeschlagen ,07 .
Wiederholt haben wir bereits die mannigfachsten Wandlungen in
dem Verhältniss zwischen der österreichischen und russischen Re¬
gierung wahrgenommen, auch jetzt ist eine vollständige Verän¬
derung in den Beziehungen beider Höfe eingetreten: Oesterreich
bedarf Russlands, der Kaiser wirbt um die Freundschaft des Zaren,
der Zar weist den Kaiser zurück. Unwillkürlich drängt sich bei dem
hier geschilderten Empfange des kaiserlichen Residenten in Moskau
der Vergleich mit dem des zarischen Gesandten Golizyn 1701 in
Wien auf; es mochten damals gerade zehn Jahre verflossen sein,
wir sehen jetzt eine ganz ähnliche Scene sich abspielen, nur sind
der Schauplatz und die Rollen gewechselt, in Moskau bemüht
sich ein österreichischer Gesandte vergeblich um russische Freund¬
schaft
Von den im Wiener Staatsarchiv befindlichen Schriften Pleyer’s
aus den Jahren 1707 —1719 sind leider nur die den Kronprinzen
Alexej betreffenden von Ustrjalow im sechsten Bande seiner Ge¬
schichte Peter’s veröffentlicht Das erste schriftliche Denkmal
Pleyer*s, welches uns hier vorliegt, ist ein Theil seines Berichts vom
10. Juni 1713. Es folgen noch mehrere kleine Bruchstücke, doch
lässt sich aus dem hier niedergelegten Material wenig für die Person
des Schreibers entnehmen, nur bei dem 1715 erfolgten Tode der
Kronprinzessin Charlotte, der Schwester der Kaiserin Elisabeth, hat
Pleyer eine gewisse Rolle gespielt l08 .
Bis zum Jahre 1713 scheint sein Wohnort wieder Moskau ge¬
wesen zu sein; der letzte von hier datirte gedruckte Bericht ist der
107 CojioBberk XVH, 99. — 108 Pleyer’s Antheil an diesem Ereigniss schildert das
kürzlich erschienene Buch «Die Kronprinzessin Charlotte von Russland». Bonn 1875•
/
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424
vom 19. August 1713, alle späteren Relationen sind aus St. Peters¬
burg geschrieben ,09 .
Die Persönlichkeit Pleyeris entzieht sich wegen der Lückenhaf¬
tigkeit der bisherigen Publikationen fast ganz unserer Beobachtung,
bis sie uns im Jahre 1718 in scharfem, hellem Licht entgegentritt —
als kaiserlicher Resident in St Petersburg steht «Pleyer mit im Vor¬
dergründe der österreichisch-russischen Verwickelungen, die hier zum
ersten Male zu einem feindlichen Aneinanderstoss der beiden
Mächte zu führen drohen.
Immer mehr war das Einvernehmen zwischen Russland und
Oesterreich erkaltet; dasSchalten und Walten desZaren in Deutsch¬
land, besonders die unbarmherzige Aussaugung Meklenburgs, hatte
schon längst den Unwillen des deutschen Kaisers hervorgerufen
und mit der Zeit immer mehr gesteigert. Russland wurde von
Oesterreich gefürchtet, beneidet und, wenn es ging, geschädigt.
Zum offenen Ausdruck gelangte die bisher versteckte feindliche
Gesinnung durch die Betheiligung des österreichischen Hofes an
der Flucht des Kronprinzen Alexej — gehässig mischte Karl VI.
sich hiermit direkt in die inneren Angelegenheiten des russischen
Zaren.
Selbstverständlich hatte Pleyer als Repräsentant seiner Regierung
hierbei eine hervorragendere Bedeutung. Gegen ihn richtete sich
1718 der volle Groll des Zaren, der ihn der Mitwissenschaft an den
verbrecherischen Plänen seines Sohnes, «des offenen Völker¬
rechtsbruches» beschuldigte, und seine unverzügliche Abberufung
verlangte.
Um Pleyeris Betheiligung an den vorliegenden Verwicklungen
feststellen zu können, ist es erforderlich, zunächst das Verhältnis
zwischen Oesterreich und Russland in der beregten Frage kurz ins
Auge zu fassen.
Im September des Jahres 1716 war der Kronprinz Alexej, statt
sich dem Wunsche des Zaren gemäss nach Mecklenburg zum Heere
zu begeben, nach Wien aufgebrochen, um sich auf immer der ver-
,0# Golikow (Atom« IleTpa Be;iararo V, 406—409) und W. Coxc (Reise durch
Polen, Russland etc, übersetzt von Pezzl I, 416) schreiben einen interessanten Brief
vom Jahre 1715 irrthümlich dem kaiserlichen Gesandten zu. Der Brief ist vielmehr
von einem Gesandten an das Staatsministerium seines Königs geschrieben (Büsching,
Mag. IU , 185).
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425
hassten Aufsicht des Vaters zu entziehen; glücklich führte er sein
Vorhaben aus, unerkannt, unverfolgt langte er im November in
Wien an. All Dieses geschah, wie nach dem von Ustrjalow beige¬
brachten .reichen Material nicht zu bezweifeln ist, mit Wissen und
Gutheissen seines Schwagers, Kaiser Karl VI. ll °; dieser liess auch
den Prinzen, mit der Versicherung nachdrücklichen Schutzes gegen
den Vater, unverzüglich im tiefsten Incognito auf die tyroler Berg¬
feste Ehrenberg geleiten.
Rasch war die Flucht des Kronprinzen bekannt geworden, von
der Hauptstadt aus theilte sich die Aufregung dem flachen Lande,
dem Heere mit, überall regten sich Sympathien für Alexej, dem
Zaren lag Alles daran, des Flüchtlings wieder habhaft zu werden.
Für den Augenblick wusste Niemand, wohin er sich gewandt hätte.
Bald aber scheint man doch auf die richtige Spur gekommen zu
sein, im Februar 1717 erfuhr der russische Resident Wesselowskij
(er befand sich seit 1715 beim Wiener Hof), dass der Prinz sich in
kaiserlichen Landen befände, im April hat er auch den Aufent¬
haltsort, Ehrenberg, erkundschaftet; als Alexej im Mai 1717 im
tiefsten Geheimniss weiter nach Neapel aufbricht, folgen ihm auf
den Fersen die russischen Spürer nach.
Den russischen Anfragen und Vorstellungen, Bitten und Forde¬
rungen gegenüber hatte bisher die österreichische Regierung sich
den schlecht verhüllten Anschein gegeben, als wüsste sie vom Prinzen
gar nichts; man liess den Residenten wohl auch ganz ohne Antwort,
wich ihm unter den verschiedensten Vorwänden aus, die Briefe des
Zaren blieben unberücksichtigt — jetzt aber war die ganze Ange¬
legenheit nicht mehr zu cachiren. Immer heftiger wurde das Drängen
Peter’s, immer bestimmter seine Sprache, schon drohte er offen mit
der Kriegserklärung.!
Die österreichische Regierung sah sich zu einer offenen Entschei¬
dung genöthigt, sie hatte die Wahl zwischen der Auslieferung
Alexej’s und einem Kriege mit Russland. Letztere Eventualität,
welche ernstlich in Betracht gezogen wurde — man verhandelte be¬
reits mit England wegen eines Bündnisses gegen Russland — fand
der Kaiser doch zu bedenklich, er beschloss einzulenken. Karl VI.
erklärte, dass er den Prinzen zwar nie zur Rückkehr zwingen werde,
wohl aber wolle er nach Kräften dahin wirken, dass dieser sich frei¬
willig dazu entschlösse.
1,0 Alexej hatte Charlotte von Braunschweig-WolfenbÜttel, die Schwester der Kai¬
serin Elisabeth geheirathet.
Ban. Beim«. B4. TH.
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4*6
Und dieses Versprechen war ehrlich gemeint; Oesterreich musste
es in der That darum zu thun sein, sich des unbequemen Gastes auf
eine schickliche Weise wieder zu entledigen, und daher unterstützte
es aufs Eifrigste die Bemühungen der russischen Unterhändler
Tolstoj und Rumjanzow, die sich im August 1717 mit der kaiser¬
lichen Erlaubniss nach Neapel begaben, um den Prinzen zur Rück¬
kehr zu bewegen. Der schwache Alexej, der sich jetzt auch von
Oesterreich im Stich gelassen sah, konnte nicht lange widerstehen,
er ergab sich in sein Schicksal und erklärte sich zur Rückkehr bereit;
am 4. Oktober 1717 schrieb er aus Neapel seinem Vater den Unter¬
werfungsbrief.
Durch dieUmstände genöthigt, hatte die österreichische Regierung
endlich dem Wunsche des Zaren gewillfahrt, doch Hess sich auch
jetzt noch das innere Widerstreben unschwer erkennen. Peter hin¬
gegen empfand lebhaft die hierbei ihm angethane Kränkung; er
suchte nach Vergeltung und fand in dem ofticiellen Vertreter
Oesterreichs, Otto Pleyer, das willkommene Objekt, an welchem er
seinen Unwillen auslassen konnte.
Am 18. März 1718 verlangte der russische Zar die augenblick¬
liche Abberufung des österreichischen Residenten, weil dieser in
seinem Bericht vom n. Januar 1717 viele Lügen und Verleum¬
dungen ausgesprengt, und damit sein Einverständniss mit gewissen
russischen Unterthanen offenbart hätte; trotz dieses Völkerrechts¬
bruches sei ihm kein Leid geschehen, vielmehr wolle er, der Zar,
sich mit seiner unverzüglichen Entfernung begnügen, jedenfalls
aber werde man mit ihm über keine Angelegenheit mehr ver¬
handeln M1 .
Der von Peter I. erwähnte Brief, welcher für Pleyer so verhäng-
nissvoll werden sollte, war vom Vicekanzler Schönborn dem Prinzen
Alexej nach Ehrenberg übermittelt, von hier bei seiner Unter¬
werfung in russische Hände gefallen und wurde nun als eine Haupt-
waflfe gegen Pleyer ausgenutzt. Sehen wir uns das vielerwähnte
Schriftstück, um uns über die Schuld des Verfassers zu orientiren,
etwas genauer an. Eine nicht zu verkennende Unruhe, berichtet
Pleyer, sei durch das Verschwinden des Kronprinzen in St. Peters¬
burg hervorgerufen, „unterf<$ieMidje gro&e §ertn" hätten heimlich
bereits zu ihm und anderen Fremden geschickt, und gefragt, ob sie
in ihren Briefen keine Nachricht von ihm hätten, auch zwei seiner
111 ycrp. VI, 489.
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427
Bedienten seien zu ihm gekommen j gerüchtweise erzählten die
Einen, dass er von zarischer Mannschaft in ein Kloster gebracht
wäre, die Anderen, dass er sich heimlich in österreichischen Landen
aufhalte. In Mecklenburg hätte sich eine grosse Verschwörung
gegen den Zaren gebildet, sei aber bereits entdeckt worden, auch
im Lande sei man zu einem Aufstande sehr geneigt, die Unzufrie¬
denheit sei allgemein. Was Peter selbst betrifft, so sagt er von
ihm nur, dass er Alexej zur Abdankung gezwungen haben soll,
dass er nicht hatte leiden wollen, dass jener noch «Kronprinz» ge¬
nannt werde.
Im Ganzen entsprechen diese Angaben der allgemein herrschenden
Stimmung, namentlich sind auch die letzten über das Verhältnis
vom Vater zum Sohn durchaus wahrheitsgemäss; ziehen wir noch
den Umstand in Betracht, dass Pleyer Alles nur gerüchtweise, in
sehr vorsichtigen Ausdrücken meldet, so kann fiiglich der Vorwurf
Peter’s auf Verletzung des Völkerrechts kaum gerechtfertigt
erscheinen.
Nicht grundlos bezeigte daher auch der Prinz Eugen dem russi¬
schen Residenten in Wien seine Verwunderung darüber, dass der
Zar sich desswegen so bitter über Pleyer beschwere, weil dieser nach
dem Recht aller Residenten nur das, was er von anderen Leuten ge¬
hört, seinem Hof berichtet hätte. Wenn der Kaiser, erklärte ihm
darauf hin Wesselowskij, Pleyer nicht abriefe, so werde sein
Monarch selbst ihm den Weg nach Hause weisen, — eine Aeusse-
rung, die der Prinz Eugen «mit nicht geringem Kopfschütteln» (<*>y*o-
BanieMi») aufnahm 118 .
Mit der definitiven Entscheidung konnte man vorläufig noch
die russische Regierung hinhalten; was aber sollte ferner ge¬
schehen?
In Betreff Pleyer’s wurde vom Kaiser im Anfang Mai 1718 eine
Konferenz berufen; sie sprach ihn zunächst frei von aller Schuld,
und erklärte in Folge dessen auch seine Abberufung nicht für ge¬
boten. Andererseits aber lag es auf der Hand, dass durch die Er¬
klärung des Zaren die Stellung Pleyer’s in St Petersburg unhaltbar,
dass sein fernerer Aufenthalt am russischen Hofe völlig zwecklos
wäre, und daher beschloss der Kaiser nach dem Gutachten der Kon¬
ferenz, jenem die Weisung zukommen zu lassen, dass er selbst
«nach einigen Monaten» um seinen Abschied ansuchte, dem Zaren
M ycTp. vi f 490.
a$*
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428
erwiderte er kurz, dass er in der Relation seines Residenten nichts
Kompromittirendes erblicke, da er ja nur nach dem Beispiel aller
auswärtigen Vertreter seinem Hofe berichtet hätte 11S .
Es macht einen eigenthümlichen Eindruck, dass die Persönlich¬
keit, um welche sich der ganze Streit drehte, zunächst gar nicht
handelnd auftritt, dass sie vermuthlich erst nach Monaten von den
über sie geführten Verhandlungen in Kenntniss gesetzt worden ist,
dass sie wohl ebensowenig von dem ihr zur Last gelegten Vergehen
eine Ahnung hatte. Ohne das Vorhergegangene wäre freilich der
verhängnisvolle Brief vom n. Januar 1717 auch russischerseits nie
als ein Bruch des Völkerrechts angesehen worden.
Anfangs hat Peter, wie es scheint, Pleyer in dem Verdacht ge¬
habt, dass er als Mitbeteiligter die Fäden der Flucht Alexej’s anzu¬
spinnen geholfen, dass er — und darauf deutet der Zar offen in
einem späteren Brief hin — mit einem Theil der in dem Prozess
Verwickelten im Einverständnis gestanden habe. Der Kronprinz
selbst wird in Betreff seiner Beziehungen zu jenem befragt, auf die¬
selbe Sache hin werden Al. Rikin, der Hauptbetheiligte bei der
Flucht, und Abraham Lopuchin gefoltert; Ersterer sagt aus, dass er
mit Pleyer weder korrespondirt noch gesprochen, Letzterer, dass er
überhaupt keinen Umgang mit ihm gehabt habe, und in der That
spricht nichts dafür, dass der kaiserliche Resident auch nur entfernt
in die Pläne des Prinzen eingeweiht gewesen wäre.
Am 20. Februar 1718 hatte Pleyer bei Peter dem Grossen eine
Audienz, wohl die letzte, welche ihm überhaupt am russischen
Hof bewilligt worden ist 114 . Die Missstimmung des Zaren mag er
schon hier empfunden haben, aber erst am 30. Mai 1718 wird ihm
vom Vicekanzler Schafirow officiell erklärt, dass er nicht mehr bei
Hofe erscheinen dürfe> d. h. die russische Regierung erkannte ihn
nicht mehr als Residenten an ll5 .
Gleichzeitig erfolgten erneuete, heftige Beschwerden über ihn,
schärfer wurde die Forderung seiner Abberufung wiederholt, neue
Klagen gesellten sich zu den früheren: Allem, was Pleyer von den
russischen Ministern erfahre, gebe, er eine falsche Auslegung, theile
/diese sofort allen fremden Vertretern, besonders aber dem hanno¬
verschen und niederländischen mit, dazu stände er im heimlichen
Einverständniss mit ungetreuen Unterthanen und bestärke diese
durch falsche Vorspiegelungen sehr in ihrem bösen Vorhaben.
ibid. 494 und 496. — 1,4 ibid. 215.
_ ns
ibid. 235.
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429
Mit diesem Briefe ordnete Peter zum Austrag der ganzen Ange¬
legenheit im Spätsommer 1718 den Baron Loewenwolde nach
Wien ab 116 .
Inzwischen waren von Pleyer selbst bedenkliche Nachrichten über
die Situation in St. Petersburg eingelaufen, sie Hessen deutlich er¬
kennen, dass man hier eventuell auch zu rücksichtslosestem Vor¬
gehen gegen den kaiserlichen Vertreter entschlossen war, dass
dessen Lage sich bedrohlich genug gestalten konnte.
Allgemeinste Aufregung rief namentlich das gewaltsame Ver¬
fahren der russischen Regierung gegen den niederländischen Re¬
sidenten, Jacob de Bie, der mit Pleyer in besonders intimem Verkehr
stand, hervor. In zwei Relationen vom 15. und 18. Juli 1718 machte
Pleyer ausführlich hierüber Mittheilung ll1 .
Am 13. Juli 1718 wurde de Bie zum Vicekanzler Schafirow be¬
rufen; während ihn hier der Kanzler Golowkin mit den heftigsten
Vorwürfen wegen seines Berichtes über den Tod, oder wie dieser
es dargestellt hatte, über den Mord des Kronprinzen überschüttet,
wird seine Wohnung mit Soldaten besetzt, die Fächer werden auf¬
gerissen, alle Briefschaften und Schriften fortgenommen und in die
zarische Kanzlei gebracht; de Bie selbst wird Arrest in seiner
Wohnung auferlegt, jeder Umgang mit ihm verboten. Dieser Vor¬
gang erregte natürlich bei allen Repräsentanten auswärtiger Mächte
die grösste Sensation, zumal Schafirow de Bie zu verstehen gegeben
hatte, er könne froh sein, weriÄ der Zar ihm nicht den Kopf ab-
schlagen lasse. Es half wenig, dass Schafirow Allen, bis auf Pleyer,
die Gründe zu diesem Vorgehen anzeigte, dass er das Verfahren
entschuldigte, rechtfertigte, dass er durch die ausdrückliche Erklä¬
rung, man werde das Völkerrecht heilig halten, die Stimmung zu
beschwichtigen suchte.
Nichtsdestoweniger versammeln sich am folgenden Tage alle Ge¬
sandten, um gemeinsam zu berathschlagen, wie sie sich diesem Ge¬
waltstreich gegenüber verhalten sollten. Freilich müssen sie bald
gewahr werden, wie wenig sie von sich aus zur Wahrung ihrer Rechte
thun könnten, sie beschliessen daher, weil hier der «puren Gewalt»
gegenüber ein schriftlicher Protest wenig frommen würde, Mitthei¬
lung vom Geschehenen an ihre Höfe zu machen, und von dort die
ferneren Verhaltungspläne zu erwarten.
Pleyer speciell berührte der ganze Vorfall um so näher, als bei
dieser Gelegenheit auch die schärfsten Aeusserungen über ihn gefallen
lfi ibid. 546—549. — m ibid. 541—546.
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A
430
waren; Golowkin hatte die falsche, feindliche Gesinnung, welche er
de Bie vorhielt, in erster Linie auf den Einfluss Pleyer’s zurückge¬
führt; in heftigster Erbitterung hatte er sich über den intimen Ver¬
kehr des Niederländers mit jenem ausgelassen. «Euer Vertrauter*,
rief der Kanzler de Bie zu, «das ist dieser verdammte Verleumder
(cet infame calomniateur) Pleyer, der kaiserliche Resident, und glau¬
ben Sie, dass wir nicht wissen, welche Intimität zwischen Ihnen bei¬
den herrscht?» 118 Die hierin sich aussprechende Erbitterung zeigt
klärlich, wessen Pleyer sich zu vergewärtigen hatte, wenn neue An¬
reizungen hinzukämen, und es war daher begreiflich, wenn in ihm
Furcht vor einem ähnlichen Auftreten Raum gewann, wenn er schon
Tags darauf gemeinsam mit dem gleichfalls in die Affaire verwickel¬
ten hannoverschen Residenten, dem bekannten Weber, alle seine
Papiere verbrannte.
Durch eine heimliche Gelegenheit konnte Pleyer seine Regierung
von dem Gesehenen benachrichtigen und sich von ihr die Weisung
zu den ferneren Massnahmen erbitten, zumal er gerade am ehesten
sich eines ähnlichen «Despects» versehen dürfte: in der ersten Re¬
daktion eines Manifestes über den Tod des Kronprinzen wäre auch
sein Name genannt, allerlei Korrespondenzen wolle man ihm jetzt
noch andichten, überhaupt wäre die Lage bedenklich, auch die kürz¬
lich erfolgte Ermordung eines österreichischen Couriers käme ihm
jetzt „suspect unb misterios öor, tociflcn toeber tnörbet no$ bad gerbigfte
kopier gefunben toitb".
Dieser Bericht traf etwa einen Monat vor der Sendung Loewen-
wolde’s in Wien ein, und konnte schwerlich zu einer nachgiebigeren
Stimmung beitragen. Deutlich spiegelte sich in den jetzt in Aussicht
genommenen Massnahmen der gesteigerte Groll und Unwille gegen
Russland ab. Es wurde beschlossen, für die in zarischen Manifesten
enthaltenen lügnerischen Hinweise auf den Wiener Hof, für die
grundlose Beleidigung des Residenten, für die wahrscheinlich höhe¬
ren Orts befohlene Ermordung des Couriers Boulange Genugthuung
zu verlangen, jetzt aber Pleyer abzuberufen, ohne einen Anderen an
dessen Stelle zu setzen, ihn jedoch für den unverschuldeten Verlust
seines Postens schadlos zu halten. Den russischen Residenten Wes-
selowskij, welchem, so lange er keine angemessene Genugthuung ge¬
boten hätte, der Zutritt zum Hof versagt wurde, betrachtete man ge-
wissermassen als Geissei für Pleyer, ihn ersah man sich zum Objekt,
1,8 ibid. 557. Relation de Bie's an seine Regierung.
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43 1
an welchem man für jeden jenem etwa zustossenden «affront» Ver¬
geltung üben kannte, er sollte zurückgehalten werden, bis Pleyer
sich in voller Sicherheit befände 119 .
Von der Vertheidigung war der österreichische Hof zum Angriff
fortgeschritten, von seinem Standpunkt aus war er nicht mehr der
Beleidiger, sondern der Beleidigte. Energisch hatte man sich seines
Beamten an der fernen Zarenresidenz angenommen, sorglich waren
alle Mittel zur Wahrung seiner Ehre und seiner persönlichen Sicher¬
heit in Betracht gezogen worden, es v*ar dafür gesorgt, dass kein
Makel an seiner Amtsführung haften bleiben konnte, ehe man sich
österreichischerseits zu einem Nachgeben entschloss. Dieses war
jetzt freilich durch die in Aussicht genommene Abberufung Pleyer’s
dokumentirt, und damit war auch der Ausgleich gegeben; es war
aber ein Ausgleich, der auf beiden Seiten die tiefste Missstimmung
hinterlassen musste.
Als gegen Ende September der russiche Gesandte Baron Loewen-
wolde, welcher nach einer späteren officiellen Nachricht nur Pleyer’s
wegen geschickt wurde, mit einem Briefe Peter’s in Wien anlangte,
wurde im Ganzen das obige Programm eingehalten 12 °. Im Uebrigen
glaubte die von Neuem in dieser Sache zusammengetretetene Kon¬
ferenz nicht, dass es zwischen beiden Mächten bereits so weit gekom¬
men wäre, dass zur Wiederherstellung des gegenseitigen Einver¬
nehmens eine dritte Macht zur Vermittelung herangezogen werden
müsste, obgleich jetzt jede Korrespondenz mit dem Zaren als aufge¬
hoben anzusehen sei — ein deutlicher Beweis, wie weit sich bereits
die ganze Angelegenheit verschärft hatte. In seiner kurzen, ziem¬
lich schroff gehaltenen Antwort an Peter den Grossen verwahrt sich
Karl VI. gegen die in den officiellen Manifesten gemachten Ausfälle
auf die österreichische Regierung; in Betreff der anderen Punkte,
namentlich in Betreff Pleyer’s, verweist er auf das dem russischen
Gesandten mündlich Mitgetheilte 181 .
Es ist das letzte Schriftstück, welches in dieser Affaire zwischen
den beiden Höfen gewechselt worden ist, und nur wenige abgerissene
Notizen gestatten uns einen Blick in die weiteren Schicksale Pleyer’s.
Wahrscheinlich hat der kaiserliche Resident durch den zurückkeh¬
renden Baron Loewenwolde seine Abberufung erhalten, da er be¬
reits am 16./5. Januar 1719 aus Memel nach Wien schreibt 1 **. Jeden-
41# ibid/567—568. — iwo H. Bacmeister, Beiträge zur Geschichte Peter’s des Gros¬
sen HI, 154. — 1,1 ibid. 569—570. — m ibid. 269, Anm, 19, CojQBbeß-b. XVII, 269,
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432
falls müssen wir annehmen, dass er aus St. Petersburg von Wien aus
abberuf 'en, und nicht etwa so von der russischen, wie wenig später
Wesselowskij von der österreichischen Regierung fortgeschickt ist.
Hierauf weist schon die Resolution des Kaisers hin, aber auch son¬
stige Nachrichten über seine Rükkehr lassen eine andere Deutung
kaum zu l23 . In einem von Peter dem Grossen selbst unterschriebenen
und geränderten Entwurf zu einem Manifest, das den ganzen hier
geschilderten Konflikt behandelt, heisst es, dass Pleyer, nachdem die
russische Regierung bereits % «das Schreiben Sr. K. M. überdessen
Zurückberufung empfangen hatte», «doch zur Besorgung seiner Ange¬
legenheiten noch viele Monate» in St. Petersburg geblieben; und dann
«nach eigenem Gefallen, als er selbst wollte», zurückgereist wäre 124 .
Um Pleyer jedweden Makel einer Amtsvernachlässigung zu
nehmen, liess der Kaiser abermals eine Konferenz zusammentreten,
damit sie über das Verhalten seines Residenten in Russland abur-
theile. Diese spricht ihn am 21. März 1719 von allen gegen ihn er¬
hobenen Anschuldigungen frei, und bestimmt ihm den vollen Gehalt
eines Residenten, bis er einen neuen Posten erhalte ,25 . So ver¬
wandelte sich für ihn die äusserlich wie eine Schmach aussehende
Abberufung aus seinem bisherigen Wirkungskreise in eine Ehre,
die den Gekränkten reichlich für das Vorgefallene entschädigen
musste.
Eine noch grössere Genugthuung aber ward ihm durch das Ver¬
fahren der österreichischen Regierung gegen Wesselowskij, den bis¬
herigen russischen Residenten in Wien.
Kaum hatte man erfahren, das Pleyer sich in Sicherheit befände,
so wurde am 4. Februar 1719 Wesselowskij folgender kaiserlicher
Erlass mittgetheilt: Weil dem Residenten Pleyer der Zutritt zum
Hof verwehrt worden, so gehe daraus hervor, dass man in St. Pe¬
tersburg einen kaiserlichen Vertreter nicht für nöthig erachte; dess-
halb befände es auch der Kaiser für gut, ihn, Wesselowskij, vom
Hofe zu entfernen; binnen acht Tagen möge er das österreichische
Gebiet verlassen. Diese Weisung wurde in schärfster Form durch¬
geführt. Trotz seines Protestes musste Wesselowskij ohne Ab¬
schiedsaudienz und ohne das übliche Geschenk Oesterreich innerhalb
der festgesetzten Frist verlassen ,26 . Gleichzeitig wurden auch
123 cf. y<rrp. VI, 595 und A. TypreHbeBt, Historica Rossiae Monumenta II, 338,
«II motivo etc.» — iM H. Bacmeister a. a. O. III, 154—155. — 1,8 ycTp. VI, 567.
— 120 CojioBbesi» XVII, 272, TypreHbeBi», 338.
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die russischen Agenten Ress aus Breslau und Bushy aus Wien
verwiesen ltl .
Es war dieses eine Genugthuung für die Pleyer widerfahrene Be¬
leidigung, doch jedenfalls nicht ohne den starken Beigeschmack
einer im Ganzen kleinlichen Rache.
Auch Peter’s Antwort hierauf war ähnlicher Art, indem er die
seit fast 30 Jahren in Russland geduldeten Jesuiten noch im April
1719 aus seinem Reiche vertrieb. Mit Pleyer waren sie ins Land
gekommen, mit ihm mussten sie es auch verlassen. Es geschah
übrigens nicht, weil diese sich irgendwie vergangen hatten, vielmehr
ist der Grund ihrer Ausweisung einzig und allein in dem eben ge¬
schilderten Konflikt zu sehen, es ist nur die Antwort auf die Ent¬
fernung Wesselowskij’s 128 . Auch Peter der Grosse selbst machte
daraus kein Hehl. In dem schon erwähnten Entwurf eines Mani¬
festes spricht er unverhohlen die Motive aus: «Da nun aber-von
Seiten S. K. M. sogar mit denen, die nur über Handlungsgeschäfte
zu korrespondiren hatten, solchergestalt verfahren worden: so
haben S. Tzarische M. vermöge des Wiedervergeltungs-Rechtes zu
erklären befohlen, dass jene Jesuiten-Missionarien, als Korrespon¬
denten, mit ihren Bedienten unverzüglich aus allen Städten und
Ländern Sr. Tz. M. verwiesen und über die Grenze gebracht werden
sollen». Es gereicht Peter dem Grossen zur Ehre, dass er sein
«Wiedervergeltungs-Recht* in mildester Form ausübte. Mit Ehre
und Frieden, schrieb Gönner, der Official des Bisthums Livland,
an den Bischof von Posen, seien die Jesuiten entlassen; ja der Pater
Engel habe die ausgezeichnete Leutseligkeit des Zaren gerühmt, da
dieser, nachdem bereits das Dekret ergangen, ihn noch freundlichst
angeredet habe l28 .
Wir haben Pleyer in seiner Thätigkeit als österreichischen Beamten
in Russland kennen gelernt, wir haben seine Entwickelung vom na¬
menlosen, kaum geduldeten Agenten, von Stufe zu Stufe bis zum
anerkannten kaiserlichen Residenten hinauf verfolgen können. Nur
während seines Aufenthaltes in Russland haben wir ihn begleitet,
mit dem Aufhören seiner dortigen Residentschaft verlassen uns auch
die Nachrichten über ihn; was vorhergeht entzieht sich unserem
Blick ebenso wie das, was darüber hinausgeht.
1,7 Bacmeister II, 95. — IM A. Theiner a. a. O. 518.
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434
Leider genügt das vorhandene Material nicht, um ein einiger-
massen deutliches Bild von dem Charakter der hier behandelten Per¬
sönlichkeit entwerfen zu können. Pleyer selbst enthält sich in
seinen Berichten, wie schon früher hervorgehoben wurde, geflissent¬
lich eines eigenen Urtheils, giebt nur äusserst selten Angaben über
seine eigene Person, und andere Quellen für seine Beurtheilung
stehen uns kaum zu Gebote.
Eine imponirende Erscheinung, ein Mann, der schon durch sein
Auftreten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte,
ist er jedenfalls wohl nicht gewesen, ebensowenig können wir ihm
wirklich bestimmenden Einfluss auf den Gang der politischen Ereig¬
nisse am russischen Hof zuschreiben, dennoch aber wäre es unge¬
recht, ihn etwa desshalb für eine unbedeutende Persönlichkeit zu
erklären. Dagegen spricht doch schon die Art und Weise, wie er
sich Anfangs in den ungewohnten Verhältnissen am russischen Hof
zurecht fand, dagegen spricht ferner das Verhalten seiner Regierung,
seine Erhebung zum ebenso wichtigen als schwierigen Posten eines
Minister-Residenten in Moskau, (was er doch schwerlich seiner Ge¬
schäftsroutine allein zu verdanken gehabt haben wird), das ener¬
gische Eintreten für ihn im letztgeschilderten Konflikt, welches,
wenn auch in erster Linie der in ihm beleidigten kaiserlichen Ehre, so
doch gewiss auch seiner Person gegolten hat, dagegen spricht end¬
lich auch die Beurtheilung, welche ihm von seinen Gegnern zu Theil
wurde — eine unbedeutende Persönlichkeit hätte der russische
Kanzler Golowkin gewiss nicht mit solcher Erbitterung als die Seele
russenfeindlicher Tendenzen in St. Petersburg ansehen können.
Und haftet ihm gewiss auch manches Kleinliche an, ist er von
Eitelkeit und etwas Selbstgefälligkeit, vielleicht auch von einem
gewissen Hang zu Intriguen nicht ganz frei zu sprechen, so können
wir doch im Hinblick auf die Schwierigkeiten, mit denen er zu
kämpfen batte, im Hinblick auf die strenge Gewissenhaftigkeit, welche
uns überall in seinen Berichten entgegen tritt, auf die makellose
Treue, mit der er auf seinem weit vorgeschobenen Posten bis zum
letzten Augenblick ausharrt, ihm unsere Sympathie gewiss nicht
ganz versagen.
Dauerndes Interesse sichern seiner Person vor Allem aber schon
seine zahlreichen Berichte, auf deren eingehende Besprechung wir
verzichten mussten.
Ob Pleyer in derselben Sphäre, in welcher er bisher gelebt, noch
fortgewirkt hat, wissen wir nicht. Nur so viel erfahren wir, dass die
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russische Regierung, als sie im Jahre 1720 aufs Neue mit Oesterreich
anknüpfte, und dieses zur Wiedererrichtung einer Residentschaft in
St. Petersburg zu bewegen suchte, dem mit dieser Mission Beauf¬
tragten ausdrücklich einschärfte, einer Wiederernennung Pleyer’s
den entschiedensten Widerspruch entgegenzusetzen.
Die russischerseits wiederholten Versuche, eine ständige Ver¬
tretung Oesterreichs in Russland wieder einzurichten, blieben lange
ohne Erfolg; erst ein Jahr vor dem Tode Peter’s des Grossen be¬
gegnen wir einem kaiserlichen Residenten in St. Petersburg.
Die mühsam gesponnenen Fäden einer dauernden Verbindung
Oesterreichs mit Russland, welche vor fast dreissig Jahren noth-
dürftig angeknüpft worden waren, welche sich trotz der Schwan¬
kungen und dem Wechsel in den Beziehungen beider Höfe zu ein¬
ander immer mehr geordnet und schliesslich zu einer formell und
materiell voll ausgebildeten ständigen Vertretung geführt hatten,
sie waren gelöst oder vielmehr zerschnitten.
In der Angelegenheit Pleyer’s gelangte man nicht zu einer Aus¬
söhnung, sondern nur zu einem gewaltsamen Abbruch.
A. Hasselblatt.
Der Güterverkehr auf den rassischen Eisenbahnen
im Jahre 1873.
Die rasche Ausdehnung des russischen Eisenbahnnetzes, welches
seit 1869 die Ufer des Baltischen und des Schwarzen Meeres mit
den produktiven Gouvernements Russlands verbindet, hat we¬
sentlich zur Hebung der Ausfuhr von Getreide, Flachs, Hanf,
Flachs- und Hanfsaat — dieser Hauptartikel des russischen Export¬
handels — beigetragen.
Die früheren Stapelplätze für diese Artikel, soweit sie jetzt nicht
in das Eisenbahnnetz hineingezogen sind, verlieren zusehends ihre
frühere Bedeutung; denn die ganze Handelsthätigkeit centralisirt
sich jetzt immer mehr und mehr an den Knotenpunkten dieses
Netzes. Hiermit hat sich auch zugleich die Art des Transports der
Waaren verändert. Anstatt wie früher zu Wasser oder per Achse,
werden die Güter jetzt per Bahn befördert. Nur die Wolga be¬
hauptet noch ihr altes Recht, indem sie, in einigen Fällen für den
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Transport nach St. Petersburg ein billigeres Kommunikations-
mittel, als die Eisenbahnen sind, darbietet.
Bei der Anlage des gegenwärtigen Eisenbahnnetzes sind fast nur
die Interessen des auswärtigen Handels berücksichtigt worden. Alle
Hauptlinien haben daher die Richtung von Süden und Süd-Ost nach
Nord-West. So die Bahnen: St. Petersburg-Ssaratow, Riga-Za-
rizyn, Libau-Asow, Königsberg-Odessa. Die Folgen einer solchen
Anlage sind auch nicht ausgeblieben, und äussern sich in erster
Reihe darin, dass der Güterverkehr auf diesen Bahnen ein so zu
sagen einseitiger ist, und zwar von Süden und Süd-Ost nach Nord-
West. Zurück müssen die Waggons grösstentheils leer gehen. Denn
in jenen inneren Gouvernements des russischen Reiches, die fast
ausschliesslich" vom Exporthandel leben, ist der Bedarf an ausländi¬
schen Produkten ein noch sehr geringer, zumal diese vier bis fünf
Mal theurer als ähnliche Produkte inländischer Fabrikation sind;
daher denn auch die eingeführten Waaren viel geringere Trans¬
portmittel beanspruchen. Dieses ungünstige Verhältniss wird noch
dadurch gesteigert, dass die Güterbeförderung keine gleichmässige
im Laufe des ganzen Jahres ist, sonderndass die grösste Frequenz
auf die Wintermonate fällt. Der Zufluss an Gütern auf die Bahnen ist
während dieser Zeit bisweilen so stark, dass ein Mangel an rol¬
lendem Material eintritt, und die Eisenbahnverwaltungen gezwungen
sind, entweder gar keine Frachten anzunehmen, oder, in Erwartung
benutzbarer Waggons, die Güter längere Zeit liegen zu Tassen.
Für den auswärtigen Handel St. Petersburgs und die Häfen
des Baltischen Meeres sind am wichtigsten die Linien St. Petersburg-
Ssaratow und Riga-Zarizyn, über welche wir heute 1 einige Mitthei¬
lungen geben.
Der Güterverkehr auf der Linie St. Petersburg-Ssaratow ist im
Allgemeinen fast 2 l /a Mal grösser, als der Verkehr auf sämmtlichen
Bahnen, die das europäische Russland durchschneiden.
Diese Linie besteht aus folgenden Theilen:
Güterverkehr
Nikolai-Bahn . . .
Moskau-Rjasan . .
Rjasan-Koslow . .
Koslow-Tambow .
Tambow-Ssaratow
1872
76 Millionen Pud
62 » »
49
13 * »
16 » »
«873
101 Millionen Pud
71 » »
59
19 » »
26 » »
216 Millionen Pud 276 Millionen Pud
4 Nach dem )Kypif. Mäh. nyte* cootimem*.
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437
Die Linie Tambow-Ssaratow hat von allen übrigen die schwächste
Frequenz, und zwar daher, weil sie fast gar keinen Transit hat;
96 pCt. des sämmtlichen Güterverkehrs bezieht diese Bahn aus
ihrem eigenen Rayon und übernimmt nur 4 pCt. von den anderen
Bahnen. Sie ist daher so zu sagen der Nahrungsquell der anderen
Bahnen, mit denen sie nur durch ihr westliches Ende verbunden ist,
wo hingegen jene die Verbindungswege zwischen den Wolga-Ge¬
genden und den Centralhandelspunkten: St. Petersburg und Moskau
bilden.
Die Bahn Koslow-Tambow , die sich im Westen an die Bahn
Tambow-Ssaratow anschliesst, lebt fast nur vom Transitverkehr.
Fast alle auf dieser Bahn beförderten Güter empfängt sie von den
Bahnen: Tambow-Ssaratow und Rjasan-Koslow; aus ihrem eigenen
Bereiche erhält sie kaum 9 pCt. des sämmtlichen Güterverkehrs.
Der Transit auf den übrigen Theilen der Linie St. Petersburg-Ssa-
ratow beträgt: auf der Rjasan-Koslow- 70—73 pCt, Moskau-Rjasan-
68—73 pCt, Nikolai-Bahn 47—52 pCt. sämmtlicher auf jeder dieser
Bahnen beförderter Güter-
Die Richtung , welche die Güter auf der Linie St. Petersburg-
Ssaratow nehmen, ist fast ausschliesslich nach Nord-West, und be¬
sonders stark ist diese vertreten zwischen Tambow und Moskau,
wo fast 84—89 pCt. sämmtlicher Güter nach Moskau dirigirt
werden. Was die Nikolai-Bahn anbelangt, so war bis 1870 der
Verkehr nach beiden Seiten ziemlich gleich, von da ab aber wurde
die Richtung von Süden nach Westen die vorherrschendste.
Die Güter, die auf der Linie St. Petersburg-Ssaratow in dieser
Richtung befördert werden, bestehen fast ausschliesslich aus Nah¬
rungsmitteln und Erzeugnissen der Landwirtschaft. Die Güter hin¬
gegen, die in der entgegengesetzten Richtung gehen, sind Produkte
der in- und ausländischen Industrie.
Auf der Bahn Tambow-Ssaratow sind im Jahre 1873 im Ganzen
18 Mill. Pud Getreide befördert worden, was 71 pCt. sämmtlicher
Güter ausmacht. Dieses Getreide bezog die Bahn aus ihrem ei¬
genen Rayon, und lieferte es theils nach Moskau, theils vermittelst
der Wolga und der Bahn Rybinsk-Bologoje nach St. Petersburg.
Zwischen den Stationen Rtischtschewo und Saltikowo, im Kreise
Sserdobsk (Gouv. Ssaratow), ist der Punkt, wo sich jene Getreide¬
frachten theilen: die einen Moskau, die anderen St. Petersburg Zu¬
strömen. Diese Getreidefrachten bestanden aus: Roggen gegen
11 l /s, Roggenmehl 3, Hafer gegen 1 Vs, Buchweizengrütze 1 l /« Mill*
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Weizenmehl 400, gebeuteltes Mehl gegen 340, Hirse 240, Weizen
200 Tausend Pud. Weizen und Roggen wurden fast gleichmässig
auf der ganzen Bahnstrecke aufgenommen. Buchweizen hingegen
kommt fast ausschliesslich nur vom rechten, so wie Hafer vom linken
Ufer des Choper.
Nach dem Getreide nehmen die Fische die erste Stelle unter den
Frachten ein, von denen 1 x /t Mill. Pud befördert werden. Mit ge¬
ringer Ausnahme wird diese ganze Fracht der Bahn Koslow-Tambow
zur Weiterbeförderung nach Moskau übergeben.
Zwischen den Stationen Ssossnowka und Jekaterinowka empfangt
die Bahn noch gegen 1 Va Mill. Pud Flachssaat zur Uebergabe nach
Ssaratöw, von wo sie per Wolga nach St. Petersburg transportirt
wird. Aus Ssaratöw nimmt die Bahn circa 1 */* Mill. Pud Holz zum
eigenen Bedarf auf.
Von den übrigen Frachten sind noch: Salz gegen 900, Tabak
gegen 220 und Wassermelonen gegen ^Tausend Pud zu erwähnen.
Die beiden letzten Frachten werden in ihrem ganzen Bestände den
anderen Bahnen übergeben. Von Salz aber bleiben ca. 500,000 Pud
im Bereiche der Bahnstrecke zurück.
Der Betrag der Güter, welche dieser Bahn von anderen Bahnen als
Rückfracht übergeben werden, erreicht kaum 1 Mill. Pud., und zwar
erhält die Tambow-Ssaratow-Bahn von der Bahn Moskau-Tambow
an Manufakturwaaren gegen 92,000 Pud, und ausserdem noch ver¬
schiedene Gewebe, Säcke, Matten. Von den Bahnen Kursk-Kijew,
Koslow-Woronesh und Moskau-Kursk Zucker u. d. m.
Die Bahn Koslow-Tambow ist, wie eben erwähnt, eine reineTransit-
Bahn. Eigene Frachten liefert sie kaum 9 pCt., und zwar fast aus¬
schliesslich aus der Stadt Tambow. Die eigenen Frachten bestehen
aus: Roggen, Roggenmehl, Grützen und Vieh. Von Letzterem
wurden im Jahre 1870—545, 1871 über 8000, 1872 über 18,500
und 1873 gegen 15,5000 Stück befördert. Von den Gütern, welche
dieser Bahn aus nordwestlicher Richtung durch die Bahn Rjasan-
Koslow zugeführt werden, gehen gegen 1 Mill. Pud Brenn- und Bau¬
holz und Kohlen, so wie auch ca. 127,000 Pud Weizen auf die Sta¬
tionen der Bahn Koslow-Tambow.
Die Bahn Rjasan-Koslcw ist mit fünf anderen Bahnen verbunden,
daher der Transitverkehr auch hier ein sehr lebhafter ist. An Gütern,
die auf ihren eigenen Stationen angenommen wurden, expedirte
diese Bahn in der Richtung von Rjasan gegen 13 Mill., in der
Richtung von Koslow 3 Mill. Pud. Unter den nach Rjasan beför-
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derten Gütern waren: Roggen über 2 Mill., Roggenmehl gegen
3 Mill., Hafer gegen 3 Mill. Pud. Dieses Getreide wurde auf der
ganzen Bahnstrecke zugeführt. Hingegen kommt der in derselben
Richtung versandte Buchweizen, gegen 1 VsMill.Pud, ausschliesslich
aus der Gegend zwischen Rjashsk und Koslow. Weizen wird wenig
zugeführt —nur 206,000 Pud, und bleibt im Bereiche der Bahn.
An Getreide überhaupt, sowohl eigenem als von anderen
Bahnen übernommenem, werden im Ganzen über 38 Mill. Pud be¬
fördert, und von diesen gegen 35V2 Mill., d. h. 78pCt., der Moskau-
Rjasan-Bahn zur Weiterbeförderung nach Moskau übergeben. Mehr
als die Hälfte dieses Getreides ist Roggen, der von den Bahnen
Rjasan-Koslow, Rjashsk-Morschansk, Rjashsk-Wjasma, Tambow-
Koslow und Tambow-Ssaratow übergeben wird. Die beiden ersten
liefern ihn gemahlen, die letzteren in Körnern. Der Hafer, der hier
befördert wird, kommt aus den Gegenden zwischen Skopin und
Morschansk, Koslow und Sserdobsk. Buchweizen — liefert die Orel-
Grjasy-Bahn; Weizen — die Bahnen: Grjasy-Zarizyn, Koslow-Wo-
ronesh-Rostow und theilweise Tambow-Ssaratow; Weizenmehl
ausschliesslich Rjasan-Koslow; Hirse: Rjasan-Koslow, Grjasy-Za¬
rizyn und Koslow-Woronesh; Gerste: Tambow-Ssaratow; Flachs¬
saat und Leindotter (gegen 2V2 Mill. Pud): Rjasan-Koslow, Rjashsk-
Morschansk, Grjasy-Zarizyn und Tambow-Ssaratow; von hier au^
wird auch Flachs und Vieh expedirt. Fische verschiedener Arten:
Störe, Hausen, Sewrjuga, Sterlet, Heringe etc. kommen theils von
der Wolga, theils vom Don über Woronesh-Rostow.
Die Rückfrachten, in der Richtung nach Süd-Ost, betragen durch¬
schnittlich gegen 3 Mill. Pud, und bestehen aus: Bau- und Brenn¬
holz, Manufaktur- und Kolonialwaaren, Wein, Porzellan und Glas¬
sachen, Säcken, Matten etc.
Die Bahn Moskau-Rjasan empfangt den grössten Theil ihrer
Frachten von der Bahn Rjasan-Koslow (46 Vi Mill.); aus ihrem eigenen
Bereiche erhält sie gegen 19 Mill. Pud. Alsdann werden ihr noch
übergeben von der Nikolai-Bahn über 2 1 /* Mill., Moskau-Nischnij
412,000 und Moskau-Brest 85,000 Pud.
Rjasan liefert nach Moskau an Getreide gegen 40 l /t Mill., Fleisch
und Talg 2 Mill., Holz 2 X \% Mill., Fische 750,000, Spiritus undBrannt-
wein 1 l /* Mill. Pud und 124,000 Stück Vieh. Von diesen Frachten
bleiben in Moskau: an Getreide 187* Mill., Fleisch und Talg über
I 1 /* Mill., Holz 2V2 Mül. Pud.
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Aus Moskau nach Rjasan werden befördert: Baumwolle gegen
i Va Mill., Manufakturwaaren gegen 2 Mill., Kolonialwaaren über
I x !% Mill. Pud.
Auf den Zwischenstationen werden noch: Steine, Kalk, Gyps,
Getreide, Holz aufgenommen, die grösstentheils nach Moskau gehen.
Die Lage der Nikolai-Bahn , als Verbindungsbahn zwischen den
Haupthandelsplätzen des russischen Reiches: St. Petersburg und
Moskau, ist ihrer Exploitation nach eine der ersten Bahnen Russlands.
Die Güter, die aus St. Petersburg befördert werden, bestehen
grösstentheils aus Produkten der inländischen, resp. St. Petersburger,
und ausländischen Industrie, alsdann aus ausländischen Rohpro¬
dukten, als: Baumwolle, Pflanzen- und mineralische Oele, Thee,
Tabak, Rohmetalle, Schienen, Maschinen, Instrumente etc.
Nach St. Petersburg geht hauptsächlich Getreide, und zwar aus
dem Süd-Osten, mittelst der Bahnen: Moskau-Rjasan und Rybinsk-
Bologoje.
Die Bahn Moskau-Rjasan übergab im Jahre 1873 der Nikolai-
Bahn gegen 2I 1 /« Mill. Pud verschiedenes Getreide, darunter:
Roggen und Roggenmehl ii 8 /4 Mill., Hafer über 3 1 /« Mill., Grütze
über 1V* Mill., Flachssaat gegen 2V2 Mill. Pud, und diese Frachten
wachsen von Jahr zu Jahr.
Die Bahn Rybinsk-Bologoje bildet den kürzesten Weg für die aus
den unteren Wolga-Gegenden kommenden Güter. Vor Eröffnung
dieser Bahn wurden die Frachten, und besonders das Getreide, aus
jenen Gegenden zu Wasser nach Rybinsk verschifft, von wo sie, in
kleine Fahrzeuge umgeladen, das Marien-System entlang, ihren
Weg nach St. Petersburg nahmen, wozu 1 bis 2 Monate gebraucht
wurden. Bei dieser Dauer der Fahrt konnten in demselben Jahre nur
die Frachten aus Rybinsk weiter befördert werden, die spätestens
Ende August dort eintrafen. Alles, was später ankam, musste dort
überwintern. Seit Eröffnung der Rybinsk-Bologoje-Bahn aber
können alle Güter noch in demselben Jahre St. Petersburg er¬
reichen. Der stärkste Andrang von Gütern findet vom Mai bis Juli
statt. Im Jahre 1873 übergab diese Bahn an die Nikolai-Bahn über
20 Mill. Pud, von denen das Getreide allein über i6 l /a Mill. betrug,
und zwar: Roggen 4 8 ,4 Mill., Weizen 4*/* Mill., Roggenmehl
2 l /i Mill., Weizenmehl 1 Mill., Hafer 3V2 Mill. Pud. Alle diese Güter
werden aus den unteren Wolga-Gegenden nach Rybinsk geliefert;
hingegen kommen: Flachs, Gerste, Milch, Eier, Fleisch von den
Zwischenstationen und besonders aus Bjeshezk.
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441
Die Moskau-Kursker Bahn übergab an die Nikolai-Bahn im Jahre
1873 etwas über 4V2 Mill. Pud, darunter Getreide und Grützen 2M1II.,
Hanf gegen 1 l /* Mill., raffinirten und Sandzucker über 1 Mill. Pud.
Letzteren Artikel lieferten die Bahnen Kursk*Kijew und Kijew-Brest.
Von der Moskau-Nishnij-Bahn wurden ihr im Jahre 1873 gegen
5 Mill. Pud übergeben, grösstentheils Rohmetalle, Salz, Fische, Ge¬
treide und Flachs.
Die Verbindung der Nikolai-Bahn mit den übrigen Bahnen ist eine
unbedeutende.
Aus dem eigenen Rayon hat die Nikolai-Bahn in demselben Jahre
48 l /i Mill. Pud erhalten, welche grösstentheils in Bauholz bestanden.
An Getreide wurde sehr wenig geliefert, da die Gegend, welche die
Bahn durchschneidet, eine ziemlich unfruchtbare ist.
Im Ganzen wurden im Jahre 1873 auf der Nikolai-Bahn befördert
101 Vß Mill. Pud, von denen: Getreide 4272, Holz 17 l /a, Roheisen
und Schienen 4 1 /», Baumwolle i ! /2 Mill. Pud betrugen.
Südlich von der Linie St. Petersburg-Ssaratow befindet sich eine
weitere Linie, die eine, wenngleich auch nicht in dem Masse bedeu¬
tend wie die erstere, so doch eine sehr zu berücksichtigende Stellung
zum auswärtigen Handel Russlands einnimmt. Es ist dies die Linie
Riga-Zarizyn .
Sie besteht aus folgenden Theilen:
Güterverkehr.
Grjasy-Zarizyn . . .
Orel-Grjasy.
Orel-Witebsk . . . .
Dünaburg-Witebsk .
Riga-Dünaburg . . .
1872
18,0 Millionen Pud
I 7>3
39 »°
20,9 * »
20,6 » »
1873
2 3,6 Millionen Pud
24.4 » .
53.4 *
36.4 »
30,8
115,8 Millionen Pud 168,6 Millionen Pud
Die Summe der Frachten, welche dieser Linie per Achse zuge¬
führt, oder von anderen — in dieser Gesammtlinie nicht enthaltenen
— Bahnen übergeben wurden, betrug im Jahre 1872 nur 71V2 Mill.,
1873 dagegen 90^4 Mill. Pud, was also eine Steigerung von 60 pCt.
ausmacht.
Besonders lebhaft erwies sich der Verkehr am Anfangspunkt
dieser Linie, d. h. bei Grjasy, wo mehrere Bahnen Zusammen¬
kommen, und am schwächsten am Endpunkte, d. h. auf der Riga-
Dünaburg-Bahn. Die Ursache liegt darin, dass von 1873 an ein
Theil der auf der Linie Riga-Zarizyn beförderten Güter bei Düna-
Hum. h'evue. Bd. VII.
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bürg, statt nach Riga zu gehen, auf der Bahn St. Petersburg-
Warschau nach Wirballen und Königsberg dirigirt wurden. Die
günstige Lage Königsbergs mit seinem, das ganze Jahr hindurch
offenen, Hafen von Pillau macht diesen Platz zu einem gefährlichen
Konkurrenten für Riga, wobei noch der Umstand hinzukommt,
dass, da Königsberg nicht nur einen grossen Export, sondern auch
einen wenn nicht noch grösseren Import hat, die Schiffsfrachten
aus Königsberg bedeutend niedriger sind, als die von Riga aus,
wohin viele Schiffe nur mit Ballast zu kommen genöthigt sind.
Der eigentliche Charakter der Linie Grjasy-Zarizyn , d. h. der Zug
nach Riga, hat sich erst nach ihrer vollständigen Eröffnung im Jahre
1871 herausgestellt. Bis dahin gingen alle ihre Frachten nach Moskau.
Es wurden im Jahre 1873 auf dieser Bahn über 8 Mill. Pud Getreide
verfrachtet, von denen übrigens nur ein Theil für Riga bestimmt
war, indem die Stationen östlich von Borissoglebsk ihr Getreide zur
Wolga dirigirten, um es dann zu Wasser nach St. Petersburg zu
versenden. Von jenen 8 Mill. Pud kommen daher in Grjasy nur
5 */s Mill. an, und von diesen geht wiederum eine Hälfte über Orel
nach Riga, und die andere über Koslow nach Moskau.
Nächst dem Getreide ist das Salz die zweitwichtigste Fracht, sie
beträgt 3 l /a Mill. Pud. Das Salz aus Zarizyn versorgt, mittelst ver¬
schiedener Bahnen, die Ortschaften, die zwischen Zarizyn bis Ssmo-
lensk, Brest, Mzensk, Konotop und Alexejewka (an der Kursk-
Charkow-Asow-Bahn) liegen.
Dann folgen Fisch und Kaviar mit über 3 Mill. Pud. Diese
Frachten gehen bis Ssmolensk, und von da auf die Moskau-Brest-
Bahn über. Die Ortschaften hingegen, die westlich von Ssmolensk
an der Riga-Zarizyn-Bahn liegen, werden mit Fischen (Heringe) von
Riga aus versehen.
An Holzmaterial gelangt von Zarizyn nach Grjasy 1 Mill. Pud
und geht hier auf die Koslow-Woronesh-Bahn über.
Die Hauptfrachten der Bahn Orel-Grjasy sind: Roggen 6 8 /« Mill.,
Hafer und Gerste über 2 1 /* Mill., verschiedene andere Getreide gegen
4 Mill., Salz 272 Mill., Fische 1 l l* Mill., Holzmaterial gegen
2 Mill. Pud.
Von allen in Grjasy zusammenkommenden Bahnen sind die von
Gijasy-Zarizyn und von Liwny diejenigen, welche die meisten Güter
(zusammen 3 7 * Mill.) in nord-westlicher Richtung senden.
An Retourfrachten giebt die Orel-Grjasy-Bahn ab: an die von
Grjasy-Zarizyn — Eisen, Manufakturwaaren, Cement und Kalk, und
an die von Liwny — Fische, Salz, Tabak und Manufakturwaaren.
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443
Mit der Bahn Koslow-Woronesh hat diese Bahn fast gar keine
Verbindungen.
Dass die Gegend um Ssaratow ebenfalls fast gar keine Handels¬
verbindungen mit Riga hat, soll nach der Meinung der Verwaltung
der Tambow-Ssaratow-Bahn dem Umstande zuzuschreiben sein, dass
die Bahnen, die hier in der Richtung nach Riga hin liegen, kein
genügendes rollendes Material besitzen, denn sonst müsste zweifels¬
ohne der ganze Distrikt vonKoslow-Ssaratow in einem regen Verkehr
mit Riga stehen, indem die Fracht für i Pud Roggen oder Hafer
von hier nach Riga nur 27,45 Kop. kostet, wo hingegen nach
St. Petersburg die Fracht 28,03 Kop. zu stehen kommt. Im Jahre
1872 wurden derartige Verbindungen angeknüpft, mussten aber im
folgenden Jahre fast ganz abgebrochen werden, weil die Güter,
aus Mangel an rollendem Material, zu lange in Grjasy aufgehalten
wurden.
Die Station Jelez auf der Orel-Grjasy-Bahn bildet den Grenzpunkt,
jenseits welchem die Frachten schon auf die Koslow-Woronesh-
Bahn übergehen.
Der Verkehr mit der Bahn Moskau-Kursk ist etwas lebhafter, als
der mit Koslow-Woronesh. Die Hauptfrachten, welche sie von
ersterer empfängt, sind: Zucker, Manufaktur- und Apotheker-
waaren, auch Schienen nebst Zubehör. Sie übergiebt an Moskau-
Kursk: Getreide nach Moskau und Fische aus Zarizyn nach Kursk.
Die Güter, die per Orel-Grjasy und anderen mit dieser in Ver¬
bindung stehenden Bahnen in Orel ankommen, werden fast ohne
Ausnahme der Bahn Orel-Witebsk übergeben, um nach Riga be¬
fördert zu werden.
Die Bahn Orel- Witebsk ist die eigentliche Verbindungsbahn der
baltischen Häfen mit den produktiven Gouvernements Russlands,
und da sie ein Gebiet durchschneidet, in welchem die Industrie
stark entwickelt ist, so hat sie auch viele eigene Frachten.
Im Jahre 1873 wurden hier im Ganzen befördert: Getreide 23 MilL,
Holzmaterial und Torf über 13 Mill., Hanf und Heede gegen 3 Mill.,
Eisen und Gusseisen — roh und bearbeitet — 2 Mill., Salz gegen
1 Mill., Flachs- und Hanfsaat gegen 1 Mill. Pud.
Von den anderen Bahnen, die mit dieser verbunden sind, ist der
Verkehr mit Orel-Gijasy und Dünaburg-Witebsk am stärksten. Mit
Moskau-Kursk und besonders mit Kijew-Brest findet hingegen fast
gar kein Verkehr statt.
29*
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444
Aus dem eigenen Rayon erhält Orel-Witebsk: Getreide an 17 */a
Mill. Pud, von denen 12 Mill. bis Witebsk gelangen und 3 auf den
Zwischenstationen abgeladen werden. Was an Hanf, Heede und
Hanfsaat zur Verfrachtung kommt, geht in seinem ganzen Bestand
nach den baltischen Häfen. Der hiesige Hanf stammt grösstentheils
aus der Gegend zwischen den Stationen Karatschew und Rosslawl,
in welcher fast gar kein Getreidebau stattfindet, so dass denn auch
die Stationen jener Gegend mehr Getreide empfangen, als sie ab-
liefem.
Ferner wird an Holzmaterial verfrachtet gegen 11 Mill. Pud,
welches aus den Gegenden zwischen Witebsk und Karatschew,
Rosslawl und Brjansk geliefert wird. Das Holz geht hauptsächlich,
ca. 8 Mill. Pud, nach Orel.
Um den Güterverkehr nach den baltischen Häfen zu heben, hat
die Bahn Orel-Witebsk seit 1873 die Methode, den Hanf in ge¬
presstem Zustande zu verladen, bei sich eingeführt, und da sie jetzt,
in Folge dessen, ihre Waggons mit 600 Pud, anstatt wie früher mit
nur 280 Pud Hanf belastet, so konnte sie auch den Tarif um 20 pCt.
ermässigen.
Die Bahn Dünaburg- Witebsk durchläuft eine Gegend, die weder
fruchtbar noch industriell ist, daher sie auch nur zu Transitzwecken
dient für die Güter, die, aus den östlichen Gouvernements kom¬
mend, für die baltischen Häfen bestimmt sind. Bei einer Länge
von 243 Werst hatte sie 1873 aus ihrem eigenen Rayon nur 3 1 /*
Mill. Pud Güter aufgenommen, die aus: Brenn- und Bauholz 875,
Flachs 399, Flachssaat 380, Hafer 371, Gerste 293, Roggen 271
Tausend Pud bestanden. Von allen diesen Frachten gelangen bis
Dünaburg nur Flachs und Flachssaat, sowie ein geringer Theil des
Hafers. Alle übrigen Frachten kommen nicht aus dem Bereich der
Bahn, sondern werden nur, je nach den örtlichen Bedürfnissen, von
einer Station zur anderen befördert.
Im Jahre 1873 hat diese Bahn im Ganzen 3 y x /% Mill. Pud verfrach¬
tet, von denen 11V2 Mill. nach Riga und io 1 /« Mill. via St. Peters¬
burg-Warschauer Bahn in das Ausland gingen. Aus Riga selbst er¬
hielt diese Bahn nur 5V2 Mill. Pud.
Die Riga-Dünaburger Bahn beschliesst die Linie Riga-Zarizyn.
Auf diesem Wege erhält Riga sein Getreide, und zwar: Roggen 5 V«
Mill., Hafer 5 Va Mill., Flachssaat2 Mill., Flachs über 1 ‘/«Mill. und Hanf
iVtMill. Pud. Der Roggen, Hafer und Hanf kommt über Orel;
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445
Flachs und Flachssaat von Dünaburg-Witebsk und St. Petersburg-
Warschau.
Aus Riga verfrachtet die Bahn: Salz, Fische (Heringe), Schienen,
Eisen in verschiedenen Formen und Steinkohlen.
Einer der Hauptausfuhrartikel, mit dem Riga sonst die inneren
Gouvernements versorgte, war das ausländische Salz. Gegenwärtig
aber nimmt diese Ausfuhr, in Folge der Konkurrenz mit dem Salz
von Zarizyn, von Jahr zu Jahr ab, und steigt die Verbreitung des
Salzes von Zarizyn in demselben Masse von Jahr zu Jahr. Besonders
in die Augen fallend ist diese Erscheinung auf den Stationen der
Orel-Witebsker Bahn, wo an Salz abgeliefert wurden im Jahre
1871 1872 1873
aus Riga. . . . 470,000 Pud 392,000 Pud 185,000 Pud
» Zarizyn . . 11,000 » 233,000 » 546,000 »
Ferner kommen jetzt die Rigaer Heringe auch nicht weiter als
bis in den Bereich der Orel-Witebsk-Bahn Ausländisches Eisen
und Schienen gehen hingegen bis Zarizyn.
Die Einfuhr von Steinkohlen über Riga vermindert sich ebenfalls:
1871 wurden auf der Bahn Riga-Dünaburg verfrachtet über 3 Mill.,
1872 — 2‘/a Mill. und 1873 nur 185,200 Pud (? D. Red.).
Notizen über ökonomische Verhältnisse im Gou¬
vernement Wjatka.
Die vom statistischen Komite des Gouvernements Wjatka heraus¬
gegebene statistische Beschreibung jenes Gouvernements giebt nicht
nur ein vollständiges Bild vom ökonomischen Leben dieses so um¬
fangreichen und von so verschiedenen Völkerschaften bewohnten
Gouvernement, sondern erklärt zugleich manche Erscheinungen,
die aus den Wechselwirkungen des landschaftlichen Selfgoverne-
ment und jenen ökonomischen Verhältnissen entspringen, dass wir
es uns nicht versagen mögen, im Anschluss an die im 2. Hefte des
IV. Jahrganges dieser Zeitschrift (Bd. VI, S. 214 ff.) gegebenen «sta¬
tistischen Notizen über das Gouvernement Wjatka» noch einige
Daten über diese ökonomischen Verhältnisse mitzutheilen.
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_446_
Das Gouvernement Wjatka nimmt den Flächenraum von 134,537
Quadratwerst ein, und hat eine Bevölkerung von 2,455,022 Seelen
(1,176,524 männl. und 1,278,498 weibl). In Hinsicht der Dichtig¬
keit der Bevölkerung (18,2 per Quadratwerst) steht es demnach
zwischen den Gouvernements Jekaterinosslaw und Esthland. Von
dieser Gesammtbevölkerung zählen nur 70,452 zur städtischen und
der Rest, 2,384,570, zur ländlichen Bevölkerung.
Nach Nationalitäten gerechnet, besteht diese Bevölkerung aus:
Russen 1,965,279, Wotjaken 264,425, Tscheremissen 104,891, Ta¬
taren 81,288, Teptjaren 8,736, Baschkiren 8,862, Permjaken 13,745,
Bissermjanen 585, Ssyrjanen 331, Polen 769, Juden 829, Deutsche
229, Engländer 6, Zigeuner 47. Den Hauptbestandtheil der Bevöl¬
kerung bilden demnach die Russen (85,6 pCt.), auf die anderen Völ¬
kerstämme kommen nur 14,4 pCt., und sind dieses grösstentheils
Landbewohner, da in den verschiedenen Städten von diesen 14,4
pCt. nur 2,718 Seelen beiderlei Geschlechts leben.
Nach den Konfessionen geordnet zählt man: Angehörige der
griechisch-orthodoxen Kirche 2,281,200, Eingläubige 5,371, Sek-
tirer 54,060, Römisch-Katholische 780, Protestanten 224, zur angli¬
kanischen Kirche gehörend 6, Muhamedaner 94,819, Juden 814,
Heiden 11,848.
Von den Sektirern gehören 20,000 Seelen zu der Sekte, die eine
Geistlichkeit haben, ferner gegen 34,500, welche keine Geistlichkeit
anerkennen, und endlich circa 400 Molokaner.
Nach den Ständen zerfällt die Bevölkerung in: Adlige, und zwar
zum erblichen Adel Gehörende 1,036, zum persönlichen Adel Zäh¬
lende 4,271; Geistlichkeit mit ihren Familien, und zwar: ortho¬
doxe Welt-Geistlichkeit 13,771, Kloster-Geistlichkeit 644, Geist¬
lichkeit der Eingläubigen 35, anderer christlichen Konfessionen 5,
nicht christlichen Glaubens 701 ; erbliche und persönliche Ehren¬
bürger 1,192; Kaufleute 5,238; Kleinbürger 40,524; Hand¬
werker 1,755; Bauern 2,227,544. Ausser diesen müssen noch
hinzugezählt werden: Militär 3,495, Feuerwehrleute 181, auf
unbestimmten Urlaub entlassene Untermilitärs 31,205,
verabschiedete Untermilitärs mit ihren Frauen und Töchtern
59,658, Soldaten-Söhne 7,967, Ausländer 120, zu keiner der
angeführten Kategorien gehörende Personen 782.
Die Hauptbeschäftigung der Einwohner des Gouvernement Wjatka
ist der Ackerbau, dem 83 pCt. der Landbewohner obliegen.
Von der Gesammtoberfläche des Gouvernements nehmen ein:
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Aecker und Hofländereien. . . . 5,005,825 Dessjatinen
Wälder. 7,887,102
Heuschläge.. 703487
für den Bergbau verwandt. . . . 15,023 »
Demnach betragen von der Gesammtoberfläche:
Aecker und Hofländereien 35,5 pCt.
Wälder. 57,3 »
Heuschläge. 5 »
Von dem gesammten Ackerlande sind im Besitz der Bauerge¬
meinden 4,800,823 Dessjatinen.
Das gesammte urbare Land ist unter folgenden Besitzern vertheilt:
Heuschläge Aecker Wälder Summa
Zum Ressort der Reichs- Dessjatinen
domänen gehörend . . .
13.114
18,657
6,249,629
6,281,400
Zum Ressort der Appana-
gen gehörend.
19,606
152,552
111,062
283,220
Dem Artilleriewesen gehör.
435
496
3 I 3 > 76 i
314,692
» Bergwesen gehörend .
235
339
286,325
286,899
Verschied. Besitzern gehör.
:
a. städtische Ländereien
6,866
4,741
6,911
18,518
b. private »
30.151
24,923
250,438
305,512
c. den Bauemgemeinden632,02i
4,800,823
182,983
5,615,827
d. zu den Bergwerken
1,059
3,294
485,993
490,346
Im Ganzen 703487
5.005,825
7,887,102
13 , 596,414
Das vorherrschende Wirthschaftsystem ist die Dreifelderwirth-
schaft. Die Aecker werden mit dem gewöhnlichen Hakenpflug und
der Egge bearbeitet, und nur an der Grenze der Gouvernements
Kasan und Kostroma ist der unter dem Namen Kossulja bekannte
verbesserte Hakenpflug gebräuchlich. Das in der Rige gedörrte
Getreide wird mit dem gewöhnlichen Dreschflegel ausgedroschen.
Gedüngt werden die Felder nur mit dem von den Hausthieren ge¬
wonnenen Dünger.
Von den sämmtlichen, den Bauern zugehörenden, Aeckern waren
im Jahre 1873 besäet gegen 55 pCt. Das zur Aussaat vorbereitete
Brachfeld enthielt 1,265,265 Dessjatinen. Mithin betrug der Flächen¬
inhalt aller drei Felder, die zu dem jährlichen Turnus der Dreifelder-
wirthschaft gehören 3,929,216 Dessjatinen, oder geg$n 81 pCt,
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sämmtlichen Ackerlandes 1 . Die fehlenden 19 pCt. blieben theils un¬
bestellt, theils waren sie zum Anbau von Küchengewächsen benutzt.
Die den Bauerngemeinden gehörenden Heuschläge^ im Betrage von
632,021 Dessjatinen, liefern unter günstigen Verhältnissen über 50
Pud Heu gleich einem Brutto-Ertrage von 10 Rbl. per Dessjatine.
. Der Arbeitslohn wird pro Tag berechnet und beträgt: zur Zeit der
Aussaat und der Heuernte für einen Arbeiter 25—40 Kop., für eine
Arbeiterin 20—30 Kop., für einen Arbeiter mit einem Pferde 50—70
Kop., zur Ackerzeit 25—60 Kop. mit Kost. Uebrigens werden
von den Bauern nur ausnahmsweise Tagelöhner gedungen. Das
Bestellen der Felder und das Einernten verrichten sie gewöhnlich
selbst, bisweilen aber auch mit Hilfe ihrer Nachbarn.
Ausser Getreide wird noch Flachs und Hanf gebaut. Im Jahre 1873
wurden im Ganzen auf 70,720 Dess. 450,400 Pud Flachs ausgesäet.
Die Ernte betrug 917,400 Pud Flachs und 1,505,200 Pud Saat. Auf
9,733 Dess. wurden im selben Jahre 73,860 Pud Hanf ausgesäet, der
eine Ernte von 168,900 Pud Hanf und 228,400 Pud Saat ergab.
Von dem geernteten Flachs sind ungefähr 600,000 Pud ver¬
sponnen, die ca. 76 Millionen Arschin Leinwand lieferten. Von
diesen sind gegen 70 Millionen für den eigenen Bedarf verbraucht
und gegen 6 Millionen in den Handel gekommen. Der Rest des
Flachses (317,400 Pud) und die Heede werden für den Hafen von
Archangel angekauft. Was die Flachssaat anbelangt, so wird un¬
gefähr 1 3 zur Aussaat einbehalten, Vs ausgeführt und */s kommt auf
die Oelpressen, deren es im Gouvernement gegen 680 giebt
Die Küchengärtnerei ist wenig entwickelt, und dienen die Erzeug¬
nisse derselben ausschliesslich nur für den örtlichen Bedarf.
Der Gartenbau ist ebenfalls in Folge der ungünstigen klimatischen
Verhältnisse unbedeutend. Dagegen ist aber das ganze Gouvernement
reich an wildwachsenden Feld- und Waldbeeren.
Die Bienenzucht wird nur in den Kreisen Ssarapul und Glasow
betrieben. Der letztere Kreis setzt gegen 800 Pud Honig und eine
bedeutende Quantität Wachs ab.
Die Viehzucht bildet keinen besonderen Erwerbszweig. Bei dem
herrschenden Mangel an Weiden liefert sie kaum den für die Aecker
nöthigen Dünger. Im Jahre 1873 belief sich die Stückzahl des
sämmtlichen Viehes im ganzen Gouvernement auf 3,570,000 Stück.
4 Diese Zahlen erscheinen nicht ganz genau. Bei 55 pCt. der besäeten Aecker müsste
der ganze Turnus aus 3 X 1,320,226 = 3,960,678 Dessj. bestehen, was 82,6 des ge-
sammten Ackerlandes ergeben würde. D. Red.
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Die industrielle Thätigkeit ist hier, und besonders in den Kreisen,
in welchen, in Folge der Unfruchbarkeit des Bodens, die Land¬
bewohner ihre Existenz durch den Ackerbau allein nicht fristen
können, ziemlich stark entwickelt, und zwar sind es wesentlich die
Gewerbe, die eine Entfernung vom Hause bedingen (otxoäih npo-
Mbicjibi). So beschäftigen sich z. B. die Bauern mit dem Fuhrwesen,
oder verdingen sich als Kahnzieher, oder als Arbeiter auf den Gold¬
wäschereien in Sibirien, oder ziehen als Zimmerleute in den benach¬
barten Gouvernements und in Sibirien umher, wo fast alle Hand¬
werker, deren die Bauern für ihr Hauswesen bedürfen, als: Schneider,
Gerber, Wollschläger, Filzarbeiter, Maurer, Maler, Glaser etc. —
Bewohner des Gouvernement Wjatka sind.
Die Jagd auf Thiere und Vögel ist in einigen Gegenden des
Gouvernements auch keine geringe Erwerbsquelle. Man zählt an
6000 Jäger — von denen 2500 sich mit der Vogeljagd beschäftigen.
Gejagt werden am meisten: Hasen, Eichhörnchen, Wölfe, Bären
und Füchse, seltener Iltisse, Hermeline, Vielfrass, Fischottern,
Elenthiere und Luchse. Im Durchschnitt werden jährlich erlegt:
Eichhörnchen ca. 130,000, Hasen ca. 30,000, Bären bis 300.
Mit der Jagd auf Wölfe befassen sich nur wenige Jäger; es werden
daher jährlich höchstens 500 Wölfe geschossen. Der Hermelin
kommt im ganzen Gouvernement vor, mit Ausnahme nur des
Kreises Wjatka; die jährliche Beute beträgt ungefähr 600 Stück.
Füchse, unter denen bisweilen auch Schwarzfüchse angetroffen
werden, und Iltisse sind zwar durch das ganze Gouvernement ver¬
breitet, doch werden jährlich nicht mehr als 200 Füchse und 300
Iltisse gefangen. Die Zahl der Elenthiere nimmt mit der Lichtung
der Wälder bedeutend ab, so dass jährlich höchstens 60 Stück er¬
legt werden.
Die Vogeljagd beschränkt sich auf die Jagd auf Haselhühner
gegen 100,000, Rebhühner gegen 50,000 und wilde Enten gegen
10,000 Stück.
Die Jagdzeit sowohl auf Thiere als Vögel währt vom Oktober bis
Dezember, und bildet nur die Jagd auf Eichhörnchen und Ha¬
selhühner eine regelmässige Beschäftigung, wo hingegen die Jagd
auf die anderen Thiere und Vögel mehr die Sache des Zufalls ist.
Die Jagdbeute wird gewöhnlich in den Städten an die Händler
und Aufkäufer abgesetzt. Es kosten: ein Eichhörnchen — 4 bis
10 Kop.; ein Fuchsfell — 1 bis 5 Rbl., Iltisse bis 6 Rbl; ein Bären¬
fell von 1 Rbl. 50 Kop. bis 15 Rbl. Die Felle werden von den
örtlichen Kürschnern, besonders im Kreise Sslobodsk, bearbeitet.
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450
Der Ertrag der Vogeljagd dient grösstentheils zur Befriedigung
der lokalen Bedürfnisse, mit Ausnahme der Haselhühner, die nach den
Residenzen versandt werden; der Preis eines Paars Haselhühner
schwankt zwischen 8 — 30 — 40 Kop., je nach der Ausbeute.
Die Jahreseinnahme eines Jägers beläuft sich auf ungefähr 30 Rbl.
Zur Hebung dieser Erwerbsquelle, die in den letzten Jahren, in
Folge der Vertheurung des Pulvers, gesunken war, sind von der
Regierung bei den Städten Pulverkeller angelegt worden, wo das
Pulver zu — im Vergleich zu den früheren Jahren — bedeutend er-
mässigteren Preisen verkauft wird. Ausserdem hat die Gouverne¬
mentslandschaft eine Summe von 3,000 Rbl. angewiesen, aus der
armen Jägern Vorschüsse zum Ankauf von Pulver gemacht werden.
Endlich ist auch einigen Kreislandschaften der Verkauf des Pulvers
gestattet worden.
Die verschiedensten Arten der Hausindustrie sind besonders stark
in den Kreisen Wjatka und Sslobodsk vertreten, wo man fast kein
Dorf vorfindet, das nicht seine besondere Specialität darin besässe.
• Am weitesten und stärksten ist die Leinweberei verbreitet. Es
werden hier 17 bis 20 Millionen Arschin Leinwand, für den Betrag
von 850,000 bis 1 Million Rbl., gewebt. Diese Leinwand wird theil-
weise für die Bedürfnisse des Heeres verwandt, theilweise auf die
Jahrmärkte von Nishnij-Nowgorod, Kasan und Sibirien versandt.
An Holzwaaren (sogenannter meiraoö TOBapx) werden hier die
verschiedensten Sachen: von Möbeln und Tarantassen 1 an bis her¬
unter zu den kleinen hölzernen Tabakspfeifen — von denen das
Dutzend 1 Kop. kostet — angefertigt. Alle diese Gegenstände wer¬
den sowohl nach Nishnij-Nowgorod, als auch in die unteren Wolga-
Gegenden und nach Sibirien abgesetzt. Die Grösse dieses Absatzes
ist indess schwer zu bestimmen.
An kleinen Zweigen der Hausindustrie sind noch zu erwähnen:
Gerbereien, Anfertigung von Fischernetzen, Eisenwaaren (Sicheln),
billigem Kupferzeug, Gurten und Lumpensammeln. Letzteres ist im
ganzen Gouvernement stark vertreten, und es werden jährlich an
60—70,000 Pud Lumpen an die Papierfabriken abgesetzt. Zuweilen
betreibt ein ganzes Dorf nur ein Gewerbe, wie z. B. das Drechseln
von Holzschaalen u. d. m. Im Ganzen kann man annehmen, dass
sich mit allen diesen Gewerben gegen 216,000 Menschen beschäf¬
tigen, die eine Gesammteinnahme von gegen 3 Mill. Rbl. erzielen.
1 Das bekannte russische Fuhrwerk auf 4 Rädern ohne Federn.
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Hiervon entfallen auf Gewerbe, die eine Entfernung vom Hause er¬
heischen 91,000 Personen, mit einer Einnahme von 1,650,000 Rbl.,
und auf häusliche Gewerbe an 125,000 Personen, mit einer Einnahme
von 1,350,000 Rbl. Was die Arbeitszeit anbelangt, so halten diese
ländlichen Handwerker die auf den Fabriken angenommene Arbeits¬
zeit ein.
Trotz der billigen Preise der hier producirten Gegenstände und
des, in Folge der schlechten Kommunikationsmittel, erschwerten Ab¬
satzes, ist die Landschaft dennoch zu der Ueberzeugung gelangt,
dass die Gewerbe, die im Hause betrieben werden können, den
Bauern einen grösseren Vortheil gewähren, als jene, die eine Ent¬
fernung vom Hause beanspruchen. Hierauf hin hat denn auch die
Landschaft, besonders in jenen Kreisen, wo die letzteren vorherr¬
schend sind, Gewerbeschulen eingerichtet. Solcher Schulen existiren
jetzt 10, in denen die Arbeiten der Tischler, Fassbinder, Radmacher,
Schneider, Drechsler, Schlosser gelehrt werden. Auch eine Schuster¬
werkstatt für weibliche Arbeiterinnen ist errichtet. Für den Unter¬
halt dieser Gewerbeschulen hat die Landschaft im Jahre 1874 den
Betrag von 2371 Rbl. 96 Kop. verausgabt.
Ausser den angeführten Gewerben existiren noch einige beson¬
dere, die sonst in keinem anderen Gouvernement Vorkommen.
Diese bestehen in der Anfertigung verschiedener Gegenstände aus
einem hier vorkommenden Auswüchse der Birke (Kapa — russ. Kana
genannt), dann die Verfertigung verschiedener Thiermodelle, Puppen
und Spielsachen aus Thon und Gyps, und endlich die Verfertigung
von Harmoniums. Ueber diese nur im Gouvernement Wjatka vor¬
kommenden Industriezweige sind schon in dem oben angeführten
Artikel «Statistische Notizen über das Gouvernement Wjatka»
(s. «Russ. Revue 1875. Bd. VI, p. 216) nähere Mittheilungen gegeben
worden. Hier mag nur noch hinzugefügt werden, dass vom I. April
1872 bis zum November 1874 im Ganzen 70 solcher Harmoniums für
den Betrag von 4,117 Rbl. angefertigt wurden, von denen 61 Stück
für 3,777 Rbl. 50 Kop. verkauft sind.
Um den landwirthschaftlichen Kredit zu erleichtern, hat die Land¬
schaft für die Errichtung von Kreditanstalten, in Form von Leih- und
Depositen-Kassen, Sorge getragen. Zur Bildung der Grundkapitalien
solcher Gesellschaften hat sie im Jahre 1873 die Summe von 30,000
Rbl. bestimmt, von denen jede sich bildende Kreditgesellschaft
als Grundstock 3000 Rbl., mit der Verpflichtung einer jährlichen
Amortisation, erhält. Gegenwärtig sind schon 8 solcher Gesell-
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schäften in Thätigkeit, von denen eine, die von Ischewsk, ohne jene
Hilfe gebildet und eröffnet ist. Da diese Anstalten erst vor Kurzem
ins Leben gerufen sind, so kann ein genaues Bild ihrer Thätigkeit
und der Grösse ihres Umsatzes noch nicht gegeben werden. Es
unterliegt indess keinem Zweifel, dass der in dieser Form gegebene
Kredit einen vvohlthätigen Einfluss ausüben wird, da die Anleihen,
die bei diesen Kreditanstalten gemacht worden sind, den Mitgliedern
dieser Gesellschaften die Möglichkeit gaben, ihre Abgaben und
Rückstände zur Zeit zu entrichten, und sie so vor dem sonst üblichen
und so verderblichen Verkauf ihres Eigenthums schützte; und es
erfreuen sich diese Kreditanstalten einer allgemeinen Theilnahme.
Aus den Notizen über die öffentliche Verpflegung ist zu ersehen,
dass die Gouvernementslandschaft am i. Januar 1874 zu diesem
Zweck ein Kapital von 536,848 Rbl. besass. Im Laufe des Jahres
wurden aus den Reserve-Getreide-Magazinen geliehen: an Winter¬
getreide 12,258 Tschetwert, an Sommergetreide 26,233 Tschetwert.
Zum 1. Januar 1873 befanden sich in 910 Reserve-Getreide-Magazinen
717,534 Tschetwert Getreide. Hiezu kamen noch an ausstehenden
obligatorischen jährlichen Beiträgen und an nicht zurückerstattetem,
in früheren Jahren geliehenem Getreide, 1,141,969 Tschetwert. Im
Ganzen belief sich also der Getreidevorrath auf 1,859,503 Tschet¬
wert. Nach den gesetzlichen Vorschriften aber, d. h. im Verhält-
niss zur Einwohnerzahl (Revisionsseelen), brauchte dieser Vorrath nur
aus 1 >333>852 Tschetwert zu bestehen. In Folge eines Cirkular-
schreibens des Ministers des Innern vom Jahre 1873 hat die Gou¬
vernementslandschaft in ihrer letzten Session die Frage der öffent¬
lichen Verpflegung in Berathung gezogen, und ist sie im Einver-
ständniss mit den Kreislandschaften zu der Ansicht gelangt, dass es
unbedingt nothwendig sei, die Getreide-Magazine mit einer Geld¬
steuer abzulösen und für den Fall der Noth Central-Magazine
anzulegen.
Was die Volksbildung anbelangt, so sind, abgesehen von den
zum Ressort des Ministeriums der Volksaufklärung gehörenden Volks¬
schulen für den russischen Theil der Bevölkerung, noch 7 Schulen
— unter denen eine weibliche — für die nicht russische Bevölkerung
errichtet worden. In 2 dieser Schulen werden Kinder der Tsche-
remissen und in 5 die der Wotjaken unterrichtet. Es befanden sich
zum 1. Januar 1874 in diesen Schulen 256 Zöglinge b.G. Der Unterricht
wird hier im ersten Jahre in den betreffenden Sprachen gegeben:
bei denTscheremissen nach einem hiezu besonders herausgegebenen
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Alphabet, bei den Wotjaken wird der Lidsan (JIwÄ3aHT> — das Al¬
phabet der wotjakischen Sprache) gebraucht. Im zweiten Jahre aber
findet der Unterricht schon in russischer Sprache statt.
Ausser diesen 7 Regierungsschulen werden noch 12 ähnliche für
Rechnung der Landschaft und der Missions-Gesellschaft (für die Ver¬
breitung der griechisch-orthodoxen Religion) unterhalten. Das Mis-
sionskomite von Wjatka bestreitet die Unkosten von 10 dieser
Schulen, die 260 Schüler aufzuweisen haben. In diesen Schulen wird
ausser im Lesen, Schreiben und in Religion, noch in den Anfangs¬
gründen der Arithmetik, und in einigen auch im Kirchengesang
Unterricht ertheilt. Im Allgemeinen lernen die Kinder dieser Schulen
gern, auch steigt die Lust zum Lernen unter diesen Völkerschaften
zusehends.
Im Kreise Ssarapul hat die Landschaft noch zwei russisch-tata¬
rische Schulen errichtet. Die Lehrer sind hier Tataren, die ihren
Kursus in einer russischen Schule beendigt, und ein besonderes
Zeugniss, welches sie zu diesem Amte berechtigt, erhalten haben.
In beiden Schulen befinden sich 51 Schüler. Das Lernen geht ziem¬
lich gut, und um den Schülern Lust zur Erlernung der russischen
Sprache beizubringen, sind an diesen Schulen für den Religionsun¬
terricht die örtlichen Mulla’s angestellt.
Der dritte internationale Orientalisten-Kongress
wird vom 1. September 1876 in St. Petersburg t$gen. Auf dem
zweiten, welcher im September vorigen Jahres in London sich ver¬
sammelte, wurden zu Mitgliedern des Organisations-Komites des be¬
vorstehenden Kongresses die daselbst anwesenden russischen Orien¬
talisten gewählt.
Am 24. März dieses Jahres geruhten Seine Majestät der Kaiser,
in Folge eines Ihm von dem Hrn. Minister der Volksaufklärung un¬
terbreiteten Berichts, Seine Allerhöchste Erlaubniss zur Einberufung
des erwähnten Kongresses nach St. Petersburg zu ertheilen. Als
Mitglieder des Organisations-Komites für denselben wurden von
dem Hrn. Minister der Volksaufklärung die in London gewählten
Mitglieder bestätigt, und zwar: 1. der Prof. ord. für das Katheder
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der Geschichte des Orients an der hiesigen Universität, Geheimrath
W. W. Grigorjew\ 2. der Prof. ord. für das Katheder der armeni¬
schen Sprachen und Literatur an derselben Universität, Wirklicher
Staatsrath K. P 1 Patkanow; 3. der Prof. ord. für das Katheder der
hebräischen, syrischen und chaldäischen Sprache und Literatur an
derselben Universität, Staatsrath D . A. Chwolson , und 4. der Beamte
für besondere Aufträge beim Generalgouverneur von Turkestan,
Hofrath A. L. Kuhn . Zu ihrem Präses erwählten die Mitglieder
des Komites das älteste, Hrn. W . W. Grigorjew , welcher mit der
Korrespondenz im Namen des Komites beauftragt wurde.
Was die Thätigkeit des bevorstehenden Orientalisten-Kongresses
betrifft, so wird, da er in Russland tagen soll, seine Aufmerksamkeit
zunächst Russisch-Asien zugewendet sein, und zwar folgenden geo¬
graphischen Gebieten desselben:
L Sibirien y dem westlichen sowohl als dem östlichen.
II. Mittelasien in den russischen Grenzen (mit Einschluss der unab¬
hängigen Chanate des westlichen Turkestans).
UI. Kaukasus .
IV. Transkaukasien .
Die anderen Theile des Orients werden nach folgenden Gruppen
in Betracht kommen:
V. Ost-Turkestan, Mongolei , China und Japan .
VI. Indien , Persien und die Inseln des indochinesischen Archipels .
VII. Türkei und Arabien.
In jeder von diesen sieben Sektionen werden die Kartographie, Lin¬
guistik, Geschichte und Literatur berücksichtigt werden.
Ausserdem werden »och besondere Sektionen:
Vni. der Archäologie und Numismatik , so wie
IX. den religiösen und philosophischen Lehren des Orients
gewidmet sein.
Ausser den Orientalisten von Fach hat das Organisations-Komite
in seiner Bekanntmachung in Nr. 87 des «Regierungs-Anzeigers»
dieses Jahres zur Theilnahme, sowohl an den Sitzungen des bevor¬
stehenden Kongresses, als auch an den vorbereitenden Arbeiten zu
demselben, ausser den Orientalisten von Fach, alle Diejenigen auf¬
gefordert, welche sich mit dem Studium Asiens und der Verbreitung
von Kenntniss über dasselbe in irgend welcher Hinsicht beschäftigt
haben — Seeleute, welche die Ufer asiatischer Meere aufnahmen,
Offiziere des Generalstabes, welche in dem einen oder anderen Theile
des asiatischen Festlandes topographische Arbeiten leiteten, Beamte
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des Civil- und Militärressorts, welche, während ihres Dienstes in
Asien, ethnographische, statistische, geschichtliche und andere Daten
zu sammeln Gelegenheit hatten; endlich alle Reisenden, welche
jenen Welttheil besuchten, überhaupt alle Personen, welche durch
den Schatz ihrer Kenntnisse und Erfahrungen die Zwecke des Kon¬
gresses fördern können.
Das Organisations-Komite hat seine korrespondirenden Mitglieder
sowohl in allen Hauptstädten Europa’s als in einigen Städten Britisch¬
indiens und des Inlandes, wie Moskau, Kasan, Tiflis, Warschau, Ir¬
kutsk und Taschkend, deren Aufgabe es zunächst ist, die Mass¬
nahmen des Komites bekannt zu machen und Mitgliedskarten zum
Kongresse auszugeben.
Von den uns bekannten Maassnahmen des Organisations-Komites
des bevorstehenden Orientalisten-Kongresses verdienen zwei beson¬
dere Anerkennung, und deren wir hier erwähnen wollen.
Die wissenschaftlichen Arbeiten, welche bei uns in Russland, um
Licht über die Länder und Bewohner des Orients zu verbreiten,
unternommen wurden und ausgefiihrt werden, sind selbst dem hei¬
mischen Publikum nicht hinlänglich bekannt; viel weniger noch
kennt sie das westliche Europa. Desshalb hat, als es entschieden
war, dass der dritte Orientalisten-Kongress in St. Petersburg Zusam¬
menkommen soll, das mit seiner Organisation betraute Komite
diese Gelegenheit wahrgenommen, um kompetente Fachmänner im
Reiche, welche auf dem einen oder anderen Gebiete der Kunde des
Morgenlandes wissenschaftlich thätig sind, zu veranlassen, die Lei¬
stungen ihrer Vorgänger zu registriren. «Abgesehen von den Fragen,
welche auf dem Kongresse zur Verhandlung kommen werden —
heisst es in einer in Nr. 238 des «Regierungs-Anzeigers» veröffent¬
lichten Bekanntmachung des Organisations-Komites, — könnten die
Orientalisten Russlands ihren gelehrten Kollegen, welche sie als
Gäste hier empfangen werden, kein besseres Geschenk darbnngen, als
indem sie ihnen einen Bericht darüber vorlegen, in wie weit unser
Vaterland an den allgemeinen Bestrebungen der europäischen wissen¬
schaftlichen Welt, die Kenntniss des Orients sich anzueignen und
seine Schicksale zu ergründen, sich betheiligt habe. Erweist sich dann,
dass diese Betheiligung geringer ist, als wir voraussetzen können —
so wird eine solche Erkenntniss uns als Sporn zu gesteigerter Thä-
tigkeit in derGegenwart und Zukunft dienen, um auch in der Wissen¬
schaft jene Stellung einzunehmen, welche wir in den politischen An¬
gelegenheiten Asiens bereits erlangt haben. Sollte sich aber unsere
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Betheiligung an der wissenschaftlichen Erforschung Asiens bedeu¬
tender, als gewöhnlich angenommen wird, erweisen, — mit desto
vollerem Selbstbewusstsein können wir dann vor den Richterstuhl
unserer europäischenKollegen treten, und für desto nützlicher werden
dieselben die Theilnahme am bevorstehenden Orientalisten-Kon-
gresse erkennen. Auch war das Komite darüber nicht in Zweifel,
dass eine solche Anschauung von denjenigen der Vaterlandsge¬
nossen getheilt werden würde, welche ihre wissenschaftliche Thä-
tigkeit der Erforschung des Orients widmen, und dass unter ihnen
nicht Wenige sich finden würden, welche an der Verwirklichung
des von ihm gefassten Gedankens sich zu betheiligen bereit sind.
Um aber in dieser Hinsicht Gewissheit sich zu verschaffen, und
um zugleich eine Vertheilung der in Aussicht genommenen Arbeiten
vornehmen zu können, hatte das Komite noch im Frühjahr dieses
Jahres (am* 8./20. Mai) zu diesem Zwecke eine besondere Ver¬
sammlung derjenigen in St. Petersburg lebenden Männer berufen,
welche durch ihre gründliche Kenntniss Asiens und ihre auf dasselbe
bezüglichen Arbeiten bekannt sind. Gegen vierzig Vertreter der
Wissenschaft des Orients in Russland sind dieser Einladung gefolgt,
und haben, nachdem von dem Vorsitzenden der Zweck und das
Wesen des geplanten Unternehmens auseinandergesetzt war, den
Gedanken des Komites gut geheissen, wobei viele der Anwesenden
ihre Bereitwilligkeit zur Uebernahme der Ausarbeitung einzelner
historisch-bibliographischer Uebersichten des in Russland auf den ver¬
schiedenen Gebieten der Erforschung des Morgenlandes Geleisteten
kundgaben»
Wie in der angeführten Bekanntmachung des Organisations-
Komites im «Regierungs-Anzeiger» mitgetheilt wird, sind es fol¬
gende Herren, welche bis jetzt historisch-bibliographische Ueber¬
sichten zu liefern übernommen haben:
a) in Bezug auf Sibirien:
Herr K. S. Staritskij —zusammen mit Hrn. F. F. Busse—eine
Uebersicht der Kartographie der östlichen Ufer dieses Landes, vom
Karischen Meere an bis zu den Grenzen der Mandschurei, so wie
auch der Ufer der Insel Ssachalin und des Japanischen Archipels.
Hr. M . J. Wenjukow — eine Uebersicht der Kartographie des
Festlandes von Sibirien, vom Uralgebirge im Westen bis zum Japa¬
nischen Meere im Osten.
Hr. P. A . von Helmersen — eine Uebersicht der Ethnographie
der in Süd-Sibirien lebenden Völkerstämme.
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b) in Bezug auf Mittel-Asien innerhalb der russischen Grenzen:
Baron A. W. von Kaulbars — eine Uebersicht der Kartographie
dieses Gebietes.
W. W. Grigorjew — eine Uebersicht der ethnographischen so
wie auch der historisch-archäologischen Forschungen desselben
Gebietes.
c) in Bezug auf Transkaukasien:
K. P. Patkanow —eine Uebersicht der ethnographischen Arbeiten
über das russische Armenien, so wie der Linguistik und Literatur
dieses Landes.
A. A. Zagareli — dergleichen Uebersichten Grusien betreffend.
In Bezug auf die übrigen Länder Asiens:
P. A. von Helmersen —Uebersichten derKartographie und Ethno¬
graphie der Mongolei.
Baron F. R . von Osten-Sacken — eine Uebersicht der von Russen
ausgeführten geographischen, ethnographischen und anderen Ar¬
beiten (mit Ausschluss der linguistischen und literär-historischen),
China betreffend.
/. /. Sacharow — eine Uebersicht der linguistischen und literär-
historischen Arbeiten, China und die Mandschurei betreffend.
Ausserdem haben übernommen:
P. Lerch — eine Uebersicht der in Russland ausgeführten irani¬
schen Studien.
P. /. Ssawa'itow — eine Uebersicht der von Russen nach Palästina
und den angrenzenden Ländern unternommenen Reisen, und
Baron V. von Rosen — eine Uebersicht der in Russland beste¬
henden Sammlungen von orientalischen Handschriften, mit Notizen
über die Geschichte dieser Sammlungen, so wie nebst einem Katalog
der merkwürdigsten ihrer arabischen Handschriften.
An die Mitarbeiter dieses literärischen Unternehmens ist, um eine
gewisse Einheit in der Anlage der einzelnen Uebersichten zu wahren,
eine vom Komite ausgearbeitete Instruktion vertheilt worden.
Die zweite derMaassnahmen des Organisations-Komites, deren wir
oben erwähnten, betrifft eine für die Zeit der Session des Kongresses
beabsichtigte Ausstellung orientalischer Gegenstände,, welche in
Folge eines von dem Hm. Minister der Volksaufklärung geäusserten
Wunsches veranstaltet werden soll. Die Specialitäten, welche auf
dieser Ausstellung vertreten sein werden, sind: Archäologie, Pa¬
läographie, Diplomatik, Ethnographie und Literatur.
Bus. Bern*. Bd. VII. 7n
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Das Organisations-Komite hat in Nr. 21 des «Regierungs-An-
zeigers* für dieses Jahr in Bezug auf den Charakter dieser Ausstellung
Folgendes bekannt gemacht:
«Aus der Zahl der Gegenstände angedeuteter Art, welche in den
öffentlichen Sammlungen Russlands aufbewahrt werden, beabsichtigt
das Organisations-Komite des dritten Orientalisten-Kongresses, ohne
die in den beiden Hauptstädten und bei den Universitäten beste¬
henden Sammlungen anzutasten, nur die merkwürdigsten aus den
entlegenen Gebieten des Reiches, wie dem Kaukasus, Turkestan
und Sibirien, zu vereinigen. Der Umfang der zu treffenden Wahl
wird dem Ermessen der betreffenden örtlichen Autoritäten über¬
lassen. Doch rechnet das Organisations-Komite besonders auf die
Theilnahme von Privatpersonen, welche grössere oderkleinere Samm¬
lungen von Gegenständen orientalischen Ursprungs besitzen.
«Viele unserer Vaterlandsgenossen, heisst es in der angeführ¬
ten Bekanntmachung, haben Reisen in verschiedene Länder des
Orients unternommen, Andere haben dort eine längere oder kür¬
zere Zeit in Dienstangelegenheiten verbracht, und fast Jeder von
ihnen hat in die Heimath zum Andenken an die besuchten fernen
Gegenden, wenn nicht bedeutende Sammlungen, so doch einige
interessante Gegenstände mitgebracht. Nicht gering war auch die
Ausbeute an ethnographischen und archäologischen Gegenständen,
welche im russischen Asien, besonders im Kaukasus und in den in
Central-Asien in jüngster Zeit erworbenen Gebieten, von wissbe¬
gierigen Civilbeamten und Militärpersonen, die dort leben oder ge¬
lebt haben, gesammelt worden sind. Die reichste Quelle morgen¬
ländischer Alterthümer bietet aber der Boden des europäischen
Russlands. Bekanntlich sind in Folge von Handelsverbindungen,
welche schon in sehr entlegener Vorzeit zwischen Asien und dem
östlichen Europa bestanden, und besonders zur Zeit der Sassaniden,
Umeijaden und zum Theil auch der Abbassiden sehr lebhaft waren,
orientalische Münzen und Kunstgegenstände als Schätze im Boden des
mittleren und nördlichen Russlands geborgen worden. Viele solcher
Schätze sind bereits entdeckt und werden noch jährlich beim Pflügen
der Felder, bei verschiedenen Erdarbeiten, besonders jetzt beim An¬
legen von Eisenbahnen an das Tageslicht gebracht. Ein nicht ge¬
ringer Theil derartiger Funde ist, Dank dem Interesse, welches Be¬
hörden und Privatpersonen bei solchen Gelegenheiten für die Wissen¬
schaft an den Tag gelegt haben, bereits in öffentlichen Samm¬
lungen zum Nutzen wissenschaftlicher Forschung niedergelegt wor-
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den; ein viel grösserer Theil der gemachten Funde ist, wie man
leider annehmen muss, entweder von den unwissenden Findern ein¬
geschmolzen worden, oder in die Hände von privaten Sammlern
gerathen, zuweilen aber auch in den Besitz von Leuten, welche alte
Münzen und andere Alterthümer, ohne ihren wissenschaftlichen
Werth zu kennen, nur als Kuriositäten aufbewahren. Viele dieser
Personen leben entfernt von den Centren wissenschaftlicher Thä-
tigkeit. und die von ihnen bewahrten Alterthümer bleiben der For¬
schung unzugänglich, während unter denselben sehr wichtige histo¬
rische Denkmäler und interessante Kunstgegenstände aus dem asia¬
tischen Alterthum und Mittelalter sich befinden können. Die Kennt¬
nisnahme der Specialisten von diesen Alterthümern würde denselben
Gelegenheit zur Bereicherung der Wissenschaft, ihren Besitzern
aber — Gelegenheit geben dieselben, wenn sie es wünschen sollten,
vortheilhaft zu veräussem. Es steht zu erwarten, dass auf dem Kon¬
gresse, auf welchem Repräsentanten und Dilettanten aller Zweige der
Kunde des Morgenlandes sich versammeln werden, jeder ausgestellte
Gegenstand nicht allein seinem wissenschaftlichen Werthe nach
richtig gewürdigt werden wird, sondern auch seinen Liebhaber finden
dürfte.
«Sollten alle erwähnten Kategorien von in Russland lebenden Be¬
sitzern orientalischer Alterthümer und Seltenheiten dieselben zu der
geplanten Ausstellung schicken, so würde letztere gewiss eine sehr
nützliche und bemerkenswerthe werden. Daher wendet sich das
Komite im Interesse der Wissenschaft und in ihrem eigenen Inte¬
resse, an die Besitzer solcher Gegenstände, mit der ergebensten Bitte,
seiner Aufforderung Folge leisten zu wollen.
Die Gegenstände, welche auf der beabsichtigten Ausstellung will¬
kommen sein dürften, alle aufzuzählen, wäre wohl schwerlich
möglich. Das Komite begnügt sich auf folgende Rubriken hin¬
zuweisen :
1. Inschriften in den Sprachen des Orients auf Stein- oder Metall¬
platten.
2. Handschriften und alte Dokumente in orientalischen Sprachen.
3. Alte geographische Karten asiatischer Landgebiete.
4. Albums von Porträts, Ansichten und andere Zeichnungen,
welche auf Reisen im Orient zusammengestellt worden sind;
5. Gegenstände, die bei Orientalen in der Gegenwart im Gebrauch
sind, als Kleidungsstücke, Schmuckgegenstände, Hausgeräthe,
Waffen, Handwerkzeuge, Geräthe des Landbaues, der Jagd und
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des Fischfanges, Götzen, Bilder und andere Gegenstände des Kultus;
Erzeugnisse der Kunst und der Industrie, u. s. w.
6. Denkmäler des vergangenen öffentlichen und häuslichen Lebens
morgenländischer Völker, welche aus dem Orient von Reisenden
mitgebracht oder im Boden unseres Vaterlandes gefunden worden
sind, vorzüglich solche, welche mit Inschriften und bildlichen Dar¬
stellungen versehen sind, wie Münzen, geschnittene Steine, Schüs¬
seln, Trinkgefässe, Metallspiegel, astronomische Instrumente u. dgl.
Viele Zweige der orientalischen Numismatik, besonders der muham-
medanischen, verdanken den hohen Grad ihrer wissenschaftlichen
Bearbeitung namentlich den zahlreichen in Russland gemachten
Münzfunden; doch auch in diesen Zweigen giebt es viele Lücken,
und man darf wohl erwarten, dass solche Lücken zu nicht geringem
Theile ausgefiillt werden würden, wenn alle die Personen, welche
unbekannter Weise im Besitze solcher Münzen sind, dieselben auf
die Ausstellung schicken wollten.
«Sollten in Betreff der Einsendung zur Ausstellung der Originale
von Inschriften und Münzen sich irgend welche Schwierigkeiten
bieten, so wäre es erwünscht, von denselben Gypsabgüsse oder
Bleiabdrücke (von den Münzen auch Papierabdrücke) zu erhalten,
doch müssen letztere sorgfältig ausgeführt sein.
«Die für die Ausstellung bestimmten Gegenstände bittet das
Organisations-Komite nach St. Petersburg an die Adresse seines
Präsidenten des Geheimen-Rathes, Wassili Wassiljewitsch Grigovjew
(Wassili-Ostrow, Wolckowskoi pereulok, Haus Nr. 6, Wohnung
Nr. 5), oder an die Adresse des dem Komite zur speciellen Leitung
der Ausstellung beigeordneten Hofrathes Peter Iwanowitsch Lerch
(Wassili-Ostrow, Grosse Perspektive Nr. 8, an der Ecke der dritten
Linie, Wohnung Nr. 40) einsenden und zugleich einen der erwähnten
Herren, mit genauer Angabe der eingesandten Gegenstände, dar¬
über in einem besonderen Briefe unterrichten zu wollen.
«Die in der angegebenen Weise abgeschickten Sendungen werden
nur im Beisein aller Mitglieder des Organisations-Komites eröffnet
und die in denselben für die Ausstellung bestimmten Gegenstände
in ein für diesen Zweck besonders eingeführtes Eingangsbuch unter
besondern Nummern eingetragen, worauf der Einsender unverzüglich
von dem Empfange benachrichtigt werden wird.
«Vor Eröffnung des Kongresses wird ein Katalog der eingesandten
Gegenstände, mit Angabe der Namen der Einsender, gedruckt
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werden. Auf der Ausstellung werden die Gegenstände mit Eti-
quetten, welche die Namen der Besitzer tragen, versehen sein;
auch werden alle möglichen Maassnahmen für die Sicherheit der aus¬
gestellten Gegenstände getroffen werden. Nach der Schliessung des
Kongresses werden alle zur Ausstellung gesandten Gegenstände
den Besitzern in der Reihenfolge, in welcher sie eintrafen, zurück-
geschickt werden.
«Schliesslichbittet dasOrganisations-Komite die Personen, welche
bereit sind, als Exponenten an der beabsichtigten Ausstellung sich
zu betheiligen, durch den Umstand, dass nur ein für die Ausstellung
geeigneter Gegenstand in ihrem Besitz sich befindet, sich von der Be¬
theiligung nicht abschrecken lassen zu wollen. Es kann leicht der
Fall eintreten, dass eine einzige Inschrift, eine einzelne Münze,
oder ein geschnittener Stein mehr wissenschaftliche Bedeutung hat,
als manche ganze Sammlung ähnlicher Gegenstände».
Kleine Mittheilnngen.
(Di© Schulbildung und die Bevölkerung). Der «Bericht
über die Thätigkeit des Ministeriums der Volksaufklärung» für das
Jahr 1873 giebt unter der Rubrik «Elementarschulen» (im August¬
heft des Journals des Ministeriums) eine höchst interessante Tabelle
über das Verhältnis der Zahl der Volksschulen und der Schüler in
denselben zu der Bevölkerungszahl des Reiches. Unseres Wissens
ist dies die erste officielle Arbeit, welche bei Allen, die mit der
Schwierigkeit statistischer Arbeiten gerade auf diesem Gebiete auch
nur einigermassen bekannt sind, um so grössere Anerkennung finden
wird.
«Die Gesammtzahl der im Ressort des Ministeriums der Volksauf¬
klärung stehenden Volksschulen», beginnt der Bericht über diesen
Abschnitt, «betrug zufolge der von den Lehrbezirkskuratoren ein¬
gegangenen Data am Ende des Jahres 1873: 22,653 m it 933,900
Schülern, wovon 740,866 Knaben und 185,034 Mädchen waren. In
dieser Zahl sind auch die kirchlichen Parochial-, die lutherischen
Landschulen in den baltischen Gouvernements und die 'Lese- und
Schreibe-, sowie die Handwerkerschulen mit einbegriffen. Rechnet
man dazu noch die 115 Sonntagsschulklassen mit 8565 Schülern und
22 Schülerinnen, so beträgt die Gesammtzahl der Elementarvolks¬
schulen 22,768 mit 942,487 Schülern, wovon 757,431 Knaben und
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185,056 Mädchen», mit Ausnahme von Finland, dem Kaukasus und
Centralasien.
Die Bevölkerung des Reiches wird nun, die zuletzt genannten
Länder ebenfalls abgerechnet, auf etwa 75 Millionen (37 Millionen
männlichen und 38 Millionen weiblichen Geschlechts) angenommen;
etwas zu hoch, wie ja auch die Addition auf der Tabelle eine etwas
niedrigere Ziffer ergiebt, indessen macht dies für das Endresultat
einen nicht bedeutenden Unterschied. Es kommt nämlich: 1 Schule
auf 3294 Einwohner, I Schüler auf 48 männliche und 1 Schülerin auf
205 weibliche Einwohner.
Die Tabelle (in der wir nur einige wenige Druckfehler beriehtigt
haben) ist folgende: (siehe S. 463).
Auf diese Tabelle folgt nun eine zweite, welche die Frage beant¬
wortet: wie verhält sich der Schulbesuch? wie ist er zu dem, wie er
sein soll? d. h. wie viele Kinder sollte man in der Schule erwarten
und wie viele sind von diesen da? Erwarten sollte man alle Kinder
von 7—14 Jahren. Diese, sagt der Bericht, machen nach der allge¬
meinen Annahme der Statistiker 10 pCt. der Bevölkerung aus. Wir
schalten hier nur ein, dass sie in Preussen 1864 etwas mehr betru¬
gen, nämlich 14,7 pCt. (s. Dr. Engel, Beiträge zur Statistik des Un¬
terrichtswesen im preussischen Staate und seinen älteren Provinzen.
Berlin. Verlag des königl. statistischen Bureaus. 1869. S. 14). Da
demnach das Verhältniss der, wenn man hier so sagen will, schul¬
pflichtigen Jugend durch einfache Division mit 10 gewonnen wird,
so geben wir von der zweiten Tabelle nur die Resultate mit Berech¬
nung einer weiteren Decimalstelle. Demnach besuchen nur 100
Kinder die Volksschule, wo man der Bevölkerungszahl nach erwar¬
ten sollte im Lehrbezirk von:
Dorpat. 189, und zwar 152 Knaben, 244 Mädchen,
Warschau .... 349, » » 290 » 611 »
St. Petersburg . 712, • » 433 » 1986 •
Odessa. 813, » • 506 » 2325 t
Wilna. 857, » » 479 » 5100 »
Charkow. 902, » » 482 » 5117 »
Kasan.1004, » »580 » 3334 »
Kijew.1425, » » 787 » 6582 »
Moskau.1 735 » * » 1035 » 4935 »
Nur zur Vergleichung führen wir aus der oben genannten Quelle
einige Data über das preussische Schulwesen von 1864 an. Bei einer
Bevölkerung von 19,255,139 hattePreussen25,056Elementarschulen,
also kam eine auf 768 Einwohner (S. 5). Das Verhältniss variirte natür¬
lich ebenso nach den verschiedenen Provinzen. Voran stand Pommern
(1 auf 570 Einw.), sodann kam Hohenzollern (1 auf 589), Preussen (1
auf 642), Posen (1 auf 701), Sachsen (1 auf 744), Rheinprovinz (1 auf
826), Brandenburg (1 auf 863), Westphalen(i auf 879) undSchlesien
(1 auf 899). Von den 3,457,241 schulpflichtigen Kindern besuchten
(Fortsetzung auf Seite 464.)
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die Schule 3,026,743, d. h. also 90 pCt. (s. Engel S. 38 und 5), ein
nicht ganz genügendes Resultat in einem Reiche, wo der Staat seit
vielen Jahrzehnten den Schulzwang ausübt. Man spricht gerade ge¬
genwärtig viel von der Einführung desselben auch in Russland.
Schwerlich ist die Massregel in nächster Zukunft ausführbar, denn
es fehlt in erster Linie an Lehrkräften in quantitativer und qualitati¬
ver Beziehung. Auch darüber giebt sich das Ministerium der Volks¬
aufklärung keiner Täuschung hin. «Von 11,000 Schulen», sagt der
Bericht, «in den Gouvernements des Moskauer, Charkower, Kasaner
und Odessaer Lehrbezirks hatten im Jahre 1873 mehr als 500 gar
keine Lehrer; mehr als 3000 waren genöthigt, sich mit Lehrern zu
begnügen, die kaum lesen und schreiben konnten (MajrorpaMOTHue),
die nur durch einen Zufall in die pädagogische Laufbahn verschla¬
gen wurden, und die man nur desshalb dulden muss, weil man Nie¬
mand hat, um sie zu ersetzen; auch von dem Rest der Lehrer kann
nur der kleinere Theil in Bezug auf ihre Kenntniss und Befähigung,
Schule zu halten, für genügend erklärt werden». In zweiter Linie
aber fehlt das Geld. Dies lässt sich vielleicht schneller beschaffen.
Die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, die auf die Volksschule
zu verwendenden Mittel zu erhöhen, hat das Ministerium schon oft
und auch in diesem Berichte wieder mit Entschiedenheit ausgespro¬
chen; sie scheint sich auch in den massgebenden Kreisen immer
mehr zu verbreiten 1 . G. S.
Literaturbericht.
A, Harkavy und H. L . Strack , Catalog der hebräischen und samantanischen Handschrif¬
ten der Kaiserlichen Oeffentlichen Bibliothek in St. Petersburg. Band I, der he*
bräischen Bibelhandschriften erster und zweiter Theil. St. Petersburg 1875.
XXXin + 296. 8°.
Im Jahre 1852, als die Kaiserl. Oeffentl. Bibliothek ihren ersten Ka¬
talog der orientalischen Handschriften herausgab, war diese Anstalt,
in* Bezug auf hebräische Manuscripte, eine der ärmsten: sie besass
nur sechs hebräische Handschriften, vier biblische, eine karäische
und eine rabbinische, unter denen keine einzige wichtige sich befand *.
1 Vgl. auch »Kuss. Revue» 1875, Bd. VI, p. 417 ff.: «Das russische Unterrichts¬
wesen in neuester Zeit von Dr. Strack •.
* Catalogue des manuscrits et xylographes orientaux de la Bibliotheque Imperiale
publique de St P&ersbourg (vom Akademiker B. Dorn) 1852. Die hebräischen Manu¬
scripte umfassen in diesem Katalog die NN. DCUI—DCVIII, p. 54 *— 54 $- Die 4
biblischen bestehen aus einer ganzen Pentateuchrolle, einem Fragmente aus einer ande¬
ren, einer das Buch Esther enthaltenden Rolle, und einem kleinen Pergamentblättchen,
welches die Juden fin die Thüre anschlagen (Mesusa). Von diesen Handschriften hat
nur die erste, die wahrscheinlich am Ende des vorigen Jahrhunderts in Russland ge¬
schrieben, und welche Generalmajor N. F. Chitrow 1813 der Bibliothek geschenkt hat,
wegen ihres ungewöhnlichen Formats einige Bedeutung: die Kolumnenhöhe dieser
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Zehn Jahre darauf, im Jahre 1862, erscheint diese Bibliothek hinsicht¬
lich biblischer Handschriften als die grösste und bedeutenste in Eu¬
ropa, und nimmt zugleich eine der ersten Stellen ein unter den öffent¬
lichen Sammlungen hebräischer Handschriften überhaupt. Von sa-
maritanischen Handschriften war in St. Petersburg beim Erscheinen
des erwähnten Katalogs keine einzige vorhanden; seit dem Jahre
1870 ist in dieser Beziehung die Kaiserl. Oeffentl. Bibliothek die
reichste in Europa, wie bereits früher in einer kurzen Uebersicht in
dieser Zeitschrift (Band IV, S. 74—80) dargethan worden ist Diese
Veränderung zum Besseren hat man einzig und allein dem unermüd¬
lichen Sammelfleisse des im vorigen Jahre verstorbenen Karäers
Abraham Firkowitsch zu verdanken, über dessen Thätigkeit wir
nächstens in der €Russischen Revue » ausführlicher zu sprechen ge¬
denken. Vorläufig nur soviel, dass im Jahre 1839 die krim'schen Ka-
räer dem Firkowitsch den Auftrag gaben, nach karäischen Alterthü-
mem zu suchen, zu welchem Zwecke er mehrmals die Krim bereiste,
auch Derbend und dessen Umgegend besuchte, überall an diesen
Orten die karäischen und rabbinischen Genisoth (Dachstuben und
Keller der Synagogen) durchstöberte, und alle alten Manuscripte
und Fragmente mitnahm. Die Frucht seines mehljährigen Sammelns
und Nachforschens sind auch die in dem jetzt erschienenen Katalog
beschriebenen Bibelhandschriften, an welche sich ein mehrfaches
wissenschaftliches Interesse knüpft: Erstens, wegen des hohen Alters
mancher dieser Handschriften; Zweitens, wegen des eigenthümlichen
Punktations- und Accentationssystems, das man in einigen dieser
Manuscripte entdeckte 1 ; Drittens, bietet die Massora (Textkritische
Noten zur Bibel) mancher der von Firkowitsch gefundenen Codices
viel Neues und Belehrendes; Viertens, ist schon der Abstammungs¬
ort für manche dieser Handschriften von Bedeutung, — sie sind näm¬
lich in der Krim geschrieben, was für eine russische Bibliothek von
besonderem Werthe ist u. s. w.
Zu diesen wirklich werthvollen Eigenschaften des biblischen Thei-
les der Firkowitsch’schen Kollektion kamen aber viele fingirte hinzu,
und, wie nicht selten bei solchen Gegelegenheiten, machten Letztere
am Meisten von sich reden. Man begnügte sich flir die Handschrif¬
ten nicht mit einem Alter, das ins zehnte christliche Jahrhundert
hinaufreicht; man wollte sie, auf Grund unechter Beischriften (Epi¬
graphe), in die ersten Jahrhunderte des Christenthums und sogar in
die vorchristliche Zeit hinaufschrauben; man meinte in verschiede¬
nen Pentateuchrollen und Bibelcodices historische Nachrichten über
die zehn Stämme Israel's (die assyrischen Exulanten), über die Scy-
then, über die älteste Geschichte der Krim, über die biblische Chro¬
nologie, und Gott weis was noch zu finden. Als die Verfasser des
Katalogs von der Regierung den Auftrag zu seiner Herausgabe be-
Rolle beträgt 5*/4 Cm. und die Kolumnenbreite 4 Cm., somit ist sie, dem Formate
nach, die kleinste biblische Handschrift der Bibliothek.
4 VergL «Russ. Revue» Bd. VII S. 369—371 die Anzeige des von Hm. Dr. Strack
herausgegebenen Codex Babylonicus .
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4 66
kamen, hielten sie es daher für eine gebotene Pflicht, das wirklich
Werthvolle und wissenschaftlich Bedeutende in den Handschriften
hervorzuheben, aber zugleich auch alles Illusorische, alles Apokry-
phische, das man denselben Manuscripten aneignen wollte, zu zer¬
stören und für die Wissenschaft unschädlich zu machen. Als einem
der Verfasser kommt es dem Unterzeichneten natürlich nicht zu, dar¬
über zu urtheilen, in wiefern diese doppelte Aufgabe in dem vorlie¬
genden Kataloge gelöst ist; es mögen daher einige Hauptdata aus
dem Kataloge und der Einleitung zu demselben folgen.
Der biblische Theil der Firkowitsch’schen Kollektion besteht aus
zwei Hauptabtheilungen: die von dem Eigenthümer direkt nach St.
Petersburg gebrachten und die zuerst in Odessa bei der dortigen
Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer deponirten Handschrif¬
ten. Erstere im Katalpg — leider nicht durchgängig — mit F be¬
zeichnet, zerfallen wiederum in Pentateuchrollen (47), bloss den
hebräischen Text enthaltende Codices (76), und solche, die entwe¬
der den hebräischen Text mit Uebersetzung, oder eine Uebersetzung
allein enthalten (24). Im zweiten Theile kommen sub lit. ^4 35 Pen¬
tateuchrollen und sub lit. B 20 Codices. Im Ganzen also 202 Hand¬
schriften, 82 Rollen und 120 Codices K
Die Rollen mit echten Epigraphen stammen aus der Krim und ge¬
hören zumeist dem XIV. Jahrhundert n. Chr. an. Interessant ist zu
erfahren, dass in Solchat oder Eski-Krim (Alt-Krim), der Residenz¬
stadt des damaligen krim’schen Chanats, eine jüdische Gemeinde
sich «die Chasarische» zu nennen pflegt, ob nach dem alten, längst
verschwundenen Chasarenreiche in der Krim, oder nach den genue¬
sischen Kolonien, der italienischen Gazaria , ist unbekannt; doch
spricht mancher partiarchalische Sittenzug eher zu Gunsten der
ersten Annnhme. So heisst es in einer Beischrift am Schluss einer
Pentateuchrolle (A 2, Katalog p. 184): c Ausserdem (dem Buche der
Thora) weihte diese Gemeinde, die Gemeinde der Chasaren, einen
grossen Kessel, damit man darin koche an Hochzeiten, Beschnei¬
dungsfesten und Feiertagen. Heilig ist er dem Gotte Israels. Nicht
werde er verkauft und nicht gekauft. Gesegnet sei, wer ihn behütet,
verflucht, wer ihn stiehlt oder verkauft, verflucht wer ihn kauft! In
diesen Segnungen seien eingeschlossen alle Israeliten, welche das
Buch der Thora und diesen Kessel geweiht haben. Sie mögen
eingeschrieben werden in das Buch des Lebens u. s. w.». Schwerlich
kam so was bei europäischen Juden vor. Uebrigens zeigt schon die
innere Einrichtung jener Rollen, dass sie von orientalischen Juden,
rabbinischen oder karäischen, geschrieben waren, worauf auch der
Schriftcharakter und die Existenz von Epigraphen in den Rollen
hinweisen.
Noch wichtiger sind die in Buchform geschriebenen Bibelhand¬
schriften. Was ihr Alter anbetrifft, so erfahren wir aus eigenhän¬
digen Epigraphen der Schreiber der Codices (Autoepigraphe), dass
* Von dieser Zahl sind jedoch 3 Stück abzuziehen (Rolle A4, Codd. F 108, 137),
welche der Bibliothek entwendet wurden.
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467
letztere in den Jahren 916, 1009, 1132, (1140?) 1419 n. Chr. ge¬
schrieben sind. Andere Epigraphe aus den Jahren 956, 1134, 1321,
1329» 1332, 1 337» I 3S°» I35i> 1363» 1376, 1378, 1380, 1388 u. s. w.
berichten, dass in diesen Jahren die betreffenden Codices verkauft,
geschenkt, geweiht u. dgl. wurden. Für Bücherpreise in der Krim
im XIV. Jahrhundert bieten manche Epigraphe interessante Data,
so erfahren wirz. B., dass im Jahre 1376 für eine Pergamentbibel in
Solchat 750 Silberlinge «krims’chen Gepräges \ reines Silber, ohne
Beimischung» gezahlt wurde (B6); im Jahre 1321 wurde ein Prophe¬
tencodex für 450 krim’sche Silberlinge verkauft (B 12), welcher acht
Jahre später für 280, und noch 50 Jahre später für 120 Silberlinge
gekauft wurde, wahrscheinlich, weil indessen europäische, besonders
italienische und griechische, Schreiber den einheimischen stark Kon¬
kurrenz machten und die Preise herabsetzten. Für Massora sind die
Codices F54. 80. 83. 88. 107. 123. B3. 19a wichtig. Die babyloni¬
sche Punktation haben die Codd. B3. F132. 133. 139. In mehreren
Handschriften mit der gewöhnlichen Punktation weicht die Aus¬
sprache der Vokale von der allgemein üblichen ab 2 . Interessante“
Lesarten bieten auch nicht wenige Handschriften. Die von mir ge¬
meinsam mit Hm. Dr. Strack gemachten Kollationen sind im Kata¬
log gegeben (nur die Kollation des Propheten Joel musste wegen
Mangels an Raum wegbleiben). Vieles im Codex B 19a hat Hr. Dr.
Strack noch ausserdem für die Editionen von Baer und Delitzsch
verglichen. Es versteht sich von selbst, dass die Regeln, nach denen
die Pentateuchrollen geschrieben sind, von uns genau untersucht
und im Katalog angegeben sind, was bisher in hebräischen Katalo¬
gen nicht beachtet wurde.
Bei der Besprechung der Echtheit vieler Beischriften, in denen
die Rede ist: von Städten, welche unserer Ueberzeugung nach
zu jener Zeit gar nicht existirten, oder noch nicht die gege¬
bene Namensform trugen, oder noch keine jüdischen Gemeinden
hatten (wie z. B. Solchat, Tschufut-Kale, Herat, Schirvan,
Schitim, Kafa u. s. w.), ferner von dem Chasarenbekehrer
Sangari , von chasarisch-tatarischen Fürsten, von krim'schen Go¬
then 8 , von jerusalemischen Missionären u. dgl., wo Ausdrücke und
4 Bekanntlich prägten die krim'schen Chane seit den achtziger Jahren des XIII. Jahr¬
hunderts ihr eigenes Geld.
* Ueber eine ähnliche Erscheinung in den in Tschufut-Kale befindlichen Manuscrip-
ten vgl. meinen Bericht an den Hrn. Minister der Volksaufklärung über jene Kollektion
(XCypH. Muh. HapoA. IIpocB. März 1875, p- 31).
3 Das betreffende Epigraph über die Gothen befindet sich in der Pentateuchrolle Fs
und lautet: «Da sprach Josua: Gepriesen sei Gott, der denjenigen hilft (von Wider¬
sachern), die auf seine Rechte trauen. Geschrieben werde auch diese Rettung im Buche
der Thora Gottes zum Andenken fUr ein späteres Geschlecht, dass der Herr in unsem
Tagen eine denkwürdige Wunderthat gethan hat. Wer kann aussprechen Alles, was uns
begegnete, seitdem wir, vor jetzt 1500 Jahren, in die Verbannung geriethen? Wir ka¬
men in die Hände der Feueranbeter, wir kamen in die Hände der Wasseranbeter, und
sie beraubten uns, verzehrten uns, vergossen unser Blut, führten hinweg unsere heiligen
Bücher und spotteten über sie. Und dieser letzte unserer Feinde, der Fürst Gatham
(die Gothen) mit seinem Heerlager — ein nicht zahlreiches Volk und ihr Name war
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4 »
Redewendungen der späteren rabbinischen* und karäischen Juden Vor¬
kommen, oder wo das specifisch Karäische tendentiös und mit
besonderer Emphase betont wird — in allen solchen Fällen, welche
weitläufige Nachweisungen aus der Geschichte und Geographie, wie
aus der rabbinischen und karäischen Literatur verlangen, musste im
Katalog, um nicht die vorgestreckte Grenze zu überschreiten,
äusserst gedrängt gesprochen werden. Sollte diese Kürze manche
Zweifel an die Beweiskraft der dort angeführten Gründe noch zurück-
lassen, so hofft der Unterzeichnete, dass die von ihm schon im vo¬
rigen Winter abgefasste und nächstens zu veröffentlichende Schrift—
in welcher dieselben Gegenstände ausführlich und von allen Seiten
untersucht werden 1 — das in dieser Beziehung im Katalog Ver¬
säumte nachholen wird. Zugleich werden im Anhang zu jener
Schrift auch manche interessante Schriftstücke im Original mitge-
theilt werden, welche die im Katalog abgedruckten Epigraphe viel¬
fach erläutern und illustriren.
Was die babylonische Punktation betrifft, so bereitet mein ge¬
lehrter Freund Hr. Dr. Strack eine sehr ausführliche, den Gegen¬
stand erschöpfende Einleitung zu seiner Ausgabe des Codex Baby-
lonicus Petropolitanus, welche nächstens erscheint, vor.
Ich hätte wohl über den Inhalt der Katalogs noch Einiges sagen
mögen, aber ich fürchte schon jetzt die Grenzen einer Selbstanzeige
überschritten zu haben 2 . Der zweite Band dieses Katalogs, die Be¬
schreibung der samaritanischen Pentateuchhandschriften (in russi¬
scher Sprache) enthaltend, wird binnen kurzer Frist veröffentlicht.
_ A. Harkavy.
Tetraxen (Tetraxiten), erschwerten noch unsere Verbannung. Sie sprachen in ihrem
Uebermuth: Wohlan! lasset uns sie (die Juden) ausrotten aus den Völkern! Aber der
Herr war mit uns, und sandte uns Retter von den Söhnen Kedars (der Chasaren), und
den Fürsten Mibsam an ihrer Spitze. Die retteten uns dies heilige Buch aus ihrer Hand
(der Gothen) und eroberten ihre Feste Dory (jetzt Mangup) in diesem Jahre, d. i. im
Jahre 1501 unserer Verbannung (aus Samarien), 4565 nach der Schöpfung der Welt
(= 805 n. Chr.), im Jahre der Rettung. Gepriesen sei der Herr! Er sende eilig unse¬
ren Propheten Elias, bald in unseren Tagen! Amen!» Hr. Chwolson hält dies Schrift¬
stück fUr echt und gründet darauf chronologische Berechnungen (Achtzehn hebräische
Grabschriften aus der Krim, p. 71). Dagegen konnte sich Hr. Akademiker Kunik,
dem ich im vorigen Jahre die russische Uebersetzung dieses Epigraphs mittheilte, nicht
entschlossen, in seiner Abhandlung über die krim’schen Gothen davon Gebrauch zu
machen. Vgl. noch die von Munx hervorgehobenen Bedenken in den Comptes rendus
de TAkademie des Inscriptions et Belles-Lettres, I. VIII, Paris 1864, p. 343; Journal
Asiatique, Mai-Juin 1865, p. 547; Tpy/tu nepaaro Apxeojioranecxaro CvfcaAa, Mocna
1871, p.CXL; Bypawon», O utcTonoAoaceHÜi ApeBHaro ropo/ia KapuHirreea, Oaecca
1874, P. VL
1 Dies Werk ist betitelt: «Die von A. Firkowitsch in der Krim aufgefundenen alt¬
jüdischen Denkmäler» und behandelt im ersten Theile die Epigraphe und im zweiten
die Grabinschriften.
* Nur zwei Einzelbemerkungen mögen hier Platz finden: die p. XIII der Einleitung
von Tischendorf erwähnten samaritanischen Pentateuche sind im samaritanischen Kata¬
log p. 67—80 unter Nr. 14, 15 der zweiten Abtheilung beschrieben; die Auflösung der
Abbreviatur auf p. 295 (im Nachtrag zu p. 108) ist mir jetzt wahrscheinlicher uncim
temiroth Israel (der biblische Sänger Israels, d. h. König David) zu sein, nach Q, Sa-
muelis 23, I.
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469
Rente Rassischer Zeitschriften
Der «europäische Bote» (B-fecTHtncb Eßponu — Westnik Jewropy).
X. Jahrgang. 1875. Oktober. Inhalt:
Germime Lacerteux. Roman von E. undj. de Goncourt. Von A . E . — Turkestan
und die Turkestaner. II. Von M. 7 erentjew. — Pierre Josef Proudhon. Correspon-
dance de P. J. Proudhon. Vierter Artikel. Von D—jew. — «Der Drache». Poetische
Erzählung aus dem zwölften Jahrhundert. Vom Grafen A. N. Tolstoi . — Die Bevölke¬
rung St Petersburgs in ökonomischer und socialer Hinsicht. Von J. E . Jamon . —
Die vergleichende Geschichte der russischen Literatur. Von A. Pypin . — Die Reise
nach den renovirten kaukasischen Bädern. Reisebemerkungen. Von Iwanow . — Abriss
des Chanats Chokand. Von N. D. Petrowskij . — Pädagogische Fragen. «Wo nistete
sich unser Uebel ein*? Von W. J. Stajunin . — Chronik: Die Kirchengeschichte als
Lehrgegenstand der Universität Von A. S . Lebedew . — Rundschau im Inlande. —
Die einhunderterste Antwort auf die Frage: «Was ist die Polizei? Das Polizeirecht
als selbstständiger Zweig der Rechtswissenschaft M. Spielewsky. Von J. K—n .—
Korrespondenz aus Berlin. — Pariser Briefe. Die englische Uebersetzung des Lerroon-
tow'schen «Dämon». Von A . N. — Nachrichten. Bibliographische Blätter.
«Das alte Russland» (Russkaja Starina — PyccKaa GrapHHa). —
Herausgegeben und redigirt von M. J. SsemnuskiJ. Sechster Jahrgang. Heft X.
Oktober 1875. Inhalt:
Der Hetmann «Kalniscbewsky. 1691—1803. Von P. S. Jeftmenko . — Das St Pe¬
tersburger Erziehungshaus unter der Verwaltung J. J. Betzky’s. Von A. H. Pjat -
kowsky. — Die Kaiserin Katharina II. Ihre eigenhändig geschriebenen Befehle, Briefe
und Notizen 1770—179*. — Die russische Censur während der Regierung des Kaisers
Paul. 1797—1799. Von G. K. Repinsky . — W. N. Karasin. Gründer der Charkower
Universität. Schluss. — M. L. Magnitzky. Ein neuer Beitrag zu seiner Charakteris¬
tik 1829—1834. Von T—w. — Alexander Nikolajewitsch Serow. Materialien zu seiner
Biographie. Von IV, IV. Stassow. — M. I. Glinka und A. S. Dargomyschky. Von
P. A. Stepanow, — Mein mühevolles Leben. Erzählungen des Akademikers Z. A.Sser-
jaJkow, Schluss. — Karl Andrqewitsch Schilder auf der Donau im Jahre 1854. Von
N. K. Schilder, — Auf der Weichsel und der Donau, in Odessa und Sewastopel.
1853-1855. Bemerkungen eines Artilleristen. — Der Sturm auf den Malakow am 27.
und 28. August 1855. Von O, J. Konstantinow. — Blätter aus dem Notizbuche der
»Russkaja Starina». — Die fUnfundvierzigjährige artistische ThätigkeitO. A.Petrow*s. —
Bibliographische Mittheilungen über russische Bücher (auf dem Umschläge).
«Russisches Archiv» (Russkij Archiw — Pyccxift ApxHBi».) —
herausgegeben von Peter Bartenjcw. XIII. Jahrgang. 1875. I0< Heft. Inhalt:
Moskau im Jahre 1812. Nach neuentdeckten Papieren. Von A. A, Popow, — Le¬
bensbeschreibung des Fürsten A. D. Menschikow. Nach neuentdeckten Papieren. (Die
Einnahme Wyborgs. 1709 -1710.) Von H, IV. Jessipow. — Die erste Ausbildung
Peter’s des Grossen. Von N. P. Astrow. — Erinnerungen Karoline Pawlow’s. — Meine
Bekanntschaft mit Magnitzky. Erinnerung von P. T. Morosow. — Anlässlich des
Testamentes der AnnaMons: Die Bittschrift v. Müller’s. Mit einem Vorwort von
H. N. Alexandrow. — Drei Schreiben der Kaiserin Katharina II. an den Fürsten Po-
temkin. AlterthÜmliche Scherze: Eine Bittschrift an die Himmelskanzlei.
Journal für Civil- und Criminal-Recht (Journal grashdanskawo i ugo-
lownawo Prawa — ÄypHajrb rpaacAaHcxaro h yro^OBHaro npaßa).
V. Jahrgang. 1875. Heft 4. September-Oktober. Inhalt:
Gesetze und Verordnungen der Regierung. — Das Volksgericht und das Völkerrecht.
(Anlässlich der Frage über die Reorganisation des Bezirksgerichts.) Von J. Or-
schansky. — Welcher Gerichtsbarkeit unterliegen die in $ 994 Theil II des Strafge*
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ä
4/0
setzbuches vorgesehenen Fälle. Von A. von Raison, — Die Gerichtsreform im König¬
reich Polen. Von P . Jurenjew. — Ueber die russische Advokatur. «Die Sophisten
des XIX. Jahrhunderts», von Eugen Markow, und «Bemerkungen über die russische
Advokatur», von K. K. Arssenjew. Von S. Platonow . — Die Kassationspraxis in
Civilprozessfragen für das Jahr 1872. Von J. Orschansky . — Bibliographie.
»Militär-Archiv» (Wojennij Ssbomik. —BoeHHWft C6opHH«>.) —
Achtzehnter Jahrgang. 1875. Nr. 10. Oktober. Inhalt:
Drei Jahre aus der Kriegsgeschichte und der russischen Herrschaft im Kaukasus.
(1806, 1807 und 1808). Dritter Artikel. Von N. Dubrowin . — Die gegenwärtige
Ausbildung und Erziehung der Truppen. Erster Artikel. Von W, Potto . — Ueber den
Rekognoscirungsdienst der Kavallerie. Von L. Drake . — Die Schlacht bei Gravelotte-
St Privat am 18. August 1870. Erster Artikel. — Die Verpflegung der Truppen in
Kriegs- und Friedenszeiten bei der russischen und ausländischen Armee. Schluss. Von
M. Hasenkampf, — Die Kirgisenpferde und ihre Tauglichkeit für die Kavallerie und
Artillerie. Von A . Harder, — Erinnerungen eines Kaukasiers. Erster Artikel. Von
S, Smolensky, — Bibliographie. — Militärische Umschau in Russland. — Militäri¬
sche Umschau im Auslande.
Russische Bibliographie. •
Wychowsky, W. Sammlung von Briefen des Hrn. Kremier über
die Judenfrage. St. Petersburg 8°. 35 S. (BuxobchM, Bü. Pa3Öopb
nncbua r. KpeMbe no eGpeflocouy Bonpocy. Cn 6 . 8 ä. 35 CTp.).
Die Judenfrage vom allgemeinen menschlichen Standpunkte be¬
trachtet. Odessa. 8®. II -f 50 S. (EßpeflcKilt Bonpoci» ci» oöme’iejio-
B^VeCKOlt TO«IKH Sp^HÜl. 8 4. II -f- 50 CTp.).
Islavine, W. Apercu sur l’etat de l’industrie de la houille et du fer
dans le bassin du Donnetz. Cn6. 8 J\. 118 CTp, h i icapTa.
Tolstoi, J. Die ersten 40 Jahre der Verbindung Russlands mit
England (1553—1593. St. Petersburg. 8°. 50 S. (TOJKTOH, lOpil.
063opi nepBbtxb copoxa irfen cnomeHift itexcjiy Poccie» h Ah-
rjiieio (1553 — 1593 )- Cn6. 8 a. 50 CTp).
Baranow, P. Verzeichniss Allerhöchster Verordnungen und Be¬
fehle aus dem 18. Jahrhundert, die im Archiv des St. Petersburger Se¬
nats aufbewahrt werden. II. Band. 1725—1740. St.Petersb.4 # . XIV +-
1002 S. und 3 Portraits. (EapanOBb, n, Onncb Bbico'taftmuMb yxa-
3aMi> h noBejrhBixu'b, xpaHJtmHMCH bt> c.-neTepöyprcKOMT, ceHaTC-
komt, apxHB'fe, 3 a XVIII B"feKT>. T. II. 172 5— 1740. Cn6. 4 A. XIV -J-
1002 CTp. H 3 nopTp.).
Gerichtsverordnungen. Zehnte, durch Erklärungen vermehrte Aus¬
gabe. St. Petersb. 8°. 96 + 412 + 373 + 88 -f 574 S. (Cy.ae6m.te
ycTaBU. Ct> pa3b«cH. Hsa. 10-e, aon. Cn6. 8 a. 96 -f- 412 + 373 +
88 -t- 574 CTp.
Die Herzegowina, in historischer, geographischer und oekonomi-
scher Beziehung. St. Petersb. 8°. 60 S. mit einer Karte. (Tepuero-
V
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BHHa, Bb HCTOpH^eCKOMt, reOrpa<t>HTCCKOMb H BKOHOMH'ieCKOMb ot-
HOmeniaxb. Cn6. 8 ä. 6o crp. h i KapTa.
Semenow, P.P. u. Andrejewsky, J.E. Statistische Nachrichten über die
Gesellschaft der allgemeinen Fürsorge zu St. Petersburg. St.Petersb.
I. Theil 4° XV + 182 S. (CeaeHOBb, fl. fl. h ÄHApeeBCHifl, M. E. GraTH-
cTHHecKia cB'fcA'feHi h no oömecTBeHHOMy npH3p f feHiK)C.-IIeTep6ypra.
H. 1. 4 a. XV -f- 182 CTp.).
Rechenschaftsbericht der Centralcommission für die allgemeine
Abschätzung des unbeweglichen Eigenthums inSt.Petersb. für das Jahr
1874. St.Petersb. in Folio. XVI + 201 S. (OraeTb ijeirrpajibHoft
KOMMHcin no oömefl nepeou'feHK'b HeaBuxcHMbixb HMymecTBb Bb
C.-IIeTepöyprt, 1874. Cn6. 2 *. XVI 4- 201 CTp.).
Abriss der ökonomischen Lage der Bauern in den Gouvernements
des Königreichs Polen im Jahre 1873. Radom. 2 4 -34 S. mit 100
Karten. (O^epice sKOHOMnqecKaro nojioHceHia KpecrbÄHb Bb ryöep-
KiHXb IJapcTBa ÜOAbCKaro Bb 1873 r. 2 4 * 34 crp. TexcTa h ioo ji .
xapTb.
WeasSly, Th. Materialien zur Geschichte der russischen Flotte. V*
Band. St. Petersb. IV + 884 S. (BeceJiaro, 0. MaTepiajiH aah HCTOpia
pyccaaro «t>AOTa. H. V. Cn6. IV -f 884 CTp.).
Ssuchomlinow, M. J. Geschichte der russischen Akademie. 2. Liefe¬
rung. St. Petersb. 8°. 584 S. (CyxOMMHOBl, M. H. Hcropia poccificaofl
aKaAeMtfl. Bun. II. Cn6. 8 a. 584 CTp.).
Asarewttscb, D. Die Patrizier und Plebejer in Rom. Histor. jurid.
Untersuchung. II. Band. St. Petersb. 8°. 175 + 21 S. (AaapeMPTfc, A M *
IlaTpHujH 0 mieSen BtPHM'fc. HcTopnico-iopHA. H3CA*EAOBaHie. T. II.
Cn6. 8 a. 175 + 21 CTp.).
Ljubimow, N. Die Universitätsfrage. Moskau. 8°. 180 + 103 -f- 16S.
(Antimoffb, H. V HHBepcHTeTCKifi Bonpoct. MocKBa. 8 a. 1804-103
+ 16 CTp.).
Kassowsky, A. W, Der Gang der meteorologischen Elemente in
Kiew. 8°. 64 S. mit 2 Karten. (KaccOBCdiB, A. B. Xoat> MeTeopoAO-
rHHeCKHXt SAeMeHTOBT» BT> KieB'fe. 8 A. 64 CTp, 0 2 A. TabA.).
Wenjukow, M. Kurzer Abriss der englischen Besitzungen in Asien.
St. Petersb. 8°. 24- 174 S. mit 1 Karte. (BeHiOKOBV M. KpaTicift owpKb
aHrJiiftcKHXb BJiaA'hHift Bb A 3 in. Cn 6 . 8 4. 2 4- 174 CTp. h i KapT.
Die Fabrikstatistik der Stadt Odessa. 4 0 . 52 S. (OaöpHTOaa CTaTH-
CTHKa ropoAa OAeccw. 4 ä. 52 CTp.).
Pogosski, A. Der vaterländische Krieg von 1812. St. Petersb. 8°.
86 S. (norocüiff, A. Oxe^ecTBeHHa« BOflHa 1812 r. 8 ä. 86 crp.).
Berlehtlfuii f.
Auf Seite 298, Zeile 13 von unten, muss es heissen: zu energischer Kriegführung —
statt zu europäischer Kriegführung.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Carl Röttger.
üoaaoJieHo ueHsypoio. C.-rieTep6ypro», 15-ro Hoa6p* 1875 r °Ä a .
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Im Verlage der Kaiserlichen Hofbnchhandlnng H. Schmitsdorfl
(Carl Röttger), Newsky-Prospekt As 5, sind erschienen and sowohl
von ihr direkt, als auch durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
REDEN
GEHALTEN
IN WISSENSCHAFTUCHEN VERSAMMLUNGEN
UND
KLEINERE AUFSÄTZE VERMISCHTEN INHALTS
von
Dr. Karl Ernst v< Baer,
Ehrenmitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St ffcjpidbuig.
Erster Band: Beden. Mit dem Bildniss des Verfassers in Stahlsich.
1 Rbl. 80 Kop. (1 Thlr. 15 Sgr.)
Zweiter Band. I. Hälfte. Unter dem Titel: Studien atL8 dem Ge¬
biete der Naturwissenschaften. Inhalt: I. Ueber den Ein¬
fluss der äussern Natur auf die socialen Verhältnisse der einzelnen
Völker und die Geschichte der Menschen überhaupt II. Ueber den
Zweck in den Vorgängen der Natur. Erste Hälfte. Ueber Zweckmässig¬
keit und Zielstrebigkeit überhaupt. III. Ueber Flüsse und deren Wir¬
kungen. 1 Rbl. 80 Kop. (1 Thlr. 10 Sgr.)
Dritter Band. Unter dem Titel: Historisohe Fragen mit Hülfe
der Naturwissenschaften beantwortet. Inhalt: Was ist
von den Nachrichten der Griechen über den Schwanengesaug za hal¬
ten? II. Wo ist der Schauplatz der Fahrten des Odysseus za finden?
III. Handelsweg, der im 5 . Jahrhundert v. Ohr. durch einen grossen
Theil des jetzt rassischen Gebietes ging. IV. Wo ist das Salomonische
Ophir zu suchen. 8 Rbl. 75 Kop. (8 Thlr.)
PF" Dm zweiten Bandes zweite Hälfte befindet sieb Im
Druck und wird ver Uelhnaehten eraelielneii.
RUSSISCHE
WECHSELORDNUNG
NACH DER AUSGABE DES SSWOD SAKONOW
VOM JAHRE 1867
NEBST DEREN ERGÄNZUNGEN.
Preis 25 Kop. (7 1 /* Sgr.)
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Das physikalische Central-Obserratoriiim
in St. Petersburg
und die neuere Entwiokelung der Meteorologie in Rueeltnd.
Von
H. Wild.
Das physikalische Central-Observatorium ist im Jahre 1849 *uf
Betrieb des Akademikers Kupfer, Dank der wirksamen Unter¬
stützung des ebenso einsichtsvollen als thatkräftigen Finanzministers
Grafen Cancrin , und des für die Wissenschaft stets opferbereiten
Chef des Bergkorps, Generals Tschewkm , begründet worden. Nach
den Statuten war der Zweck des neueiv Instituts: • physikalische Beob¬
achtungen und Versucht im Grossen amustellen und Russland in
physikalischer Hinsicht su erforschen », und als Theil der letzten Auf¬
gabe wurde ihm auch die Leitung und Publikation der meteorologi¬
schen und magTtetischen Beobachtungen in Russland übertragen. So
sollte also das physikalische Central-Observatorium, seiner ursprüng¬
lichen Bestimmung gemäss, nicht bloss eine Centralanstalt des
russischen Reiches für Meteorologie und Erdmagnetismus sein, wie
sie auch in anderen Ländern bestehen, und wie man häufig auch von
ihm geglaubt hat, sondern, wie dies übrigens schon sein Name be¬
sagt, zugleich ein Haupt-Observatorium für physikalische Unter¬
suchungen im engeren Sinne des Wortes, besonders solcher in grossem
Massstabe, für welche gewöhnliche physikalische Kabinete nicht genü¬
gende Mittel darbieten. Dieser grosse und schöne Gedanke war eines
so universellen erfinderischen Geistes, wie KupffeVs, durchaus würdig;
auch hat dieser Gelehrte als erster Direktor der neuen Anstalt stets
diese zweierlei Hauptaufgaben derselben gepflegt, und in seinen
jährlichen Rechenschaftsberichten an den Finanzminister, unter
welchen das Observatorium als Chef des Korps der Bergingenieure
zuerst gestellt war, immer zwei Theile unterschieden, von welchen
der entere die physikalischen Untersuchungen im Central-Obser¬
vatorium und der zweite die meteorologischen und magnetischen
tat Jtera*. M. VU ,.
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Beobachtungen betraf, welche im meteorologisch-magnetischen Ob¬
servatorium für St. Petersburg beim Berginstitute, und in den übrigen
meteorologisch-magnetischen Observatorien und meteorologischen
Stationen des Reiches angestellt wurden. Den ersteren Leistungen des
Observatoriums unter Kupffer’s Direktion verdankt die Wissenschaft
in grossartigem Massstabe angelegte, höchst werthvolle Unter¬
suchungen über die EfatUdtät der Metalle, welche Kupfer mit der
Begründung des Observatoriums begann, und bis zu seinem Tode
im Jahre 1865 fortsetzte. Leider verhinderte ihn dieser nicht bloss
ad dem Vollständigen Abschluss der Untersuchungen, sondern
sogar an der Publikation eines Theils seiner bereits ausgeführten
Versuche und der dabei erzielten Resultate, indem von den 3 Bänden»
in welchen er die Letzteren zu veröffentlichen gedachte, bis zu seinem
Tode nur einer unter dem Titel: «Recherches experimentales sur
reiasticite des mötaux, faites ä l'observatoire physique central de
Russie par A. Th. Kupffer et imprimees par ordre de l’Administration
desMines. Tomei. St. Pötersbourg 1860» erschien. Wir müssen dies
um so mehr bedauern, weil wohl noch keine Untersuchung über
die Elastidtät mit einem gleich reichen und mannigfachen Material,
und nach den verschiedensten Richtungen hin angestellt worden ist,
und weil aus der Nichtvollendung dieser Arbeit nicht bloss der
Wissenschaft, sondern auch speciell unserem Lande mit seiner stets
zunehmenden Metallindustrie ein grosser Verlust erwachsen ist.
Die Arbeitsresultate aber des Observatoriums als Centralanstalt
des Reiches für Meteorologie und Erdmagnetismus unter Kupfftr's
Direktion sind hauptsächlich in den mit dem Beobachtangsjahr 1847
beginnenden und bis 1864 reichenden «Annales de l’Observatoire phy¬
sique central», und den vom Jahre 1850 an sie begleitenden «Cor-
respondances meteorologiques» niedergelegt Die Ersteren enthalten
die ausführlichen stündlichen meteorologischen und magnetischen
Beobachtungen der Observatorien in St. Petersburg, Jekaterinen-
burg, Barnaul, Nertschinsk, Sitka, Peking, Tiflis (von letzterem nur
meteorologische Beobachtungen) und in den Supplementen meteoro¬
logische Beobachtungsreihen von verschiedenen anderen Punkten
im Reiche in extenso abgedrnckt, die Letzteren geben in viertel¬
jährlicher Zusammenstellung die wesentlichsten täglichen meteorolo¬
gischen Mittdwerthe von einer variirenden Zahl Beobachtungs¬
stationen in Russland (anfänglich Uber 40, zuletzt nur 20). Das ist
eine Fülle en detail publicirten, und daher Jedermann leicht zugäng¬
lichen meteorologischen und magnetischen Beobachtungsmaterials,
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475
wie es kein anderes Land besitzt; für die Wissenschaft ist dasselbe
von hohem Werthe, würde aber noch viel werthvoller, ja unschätzbar
sein, wenn es ebenso zuverlässig als umfangreich wäre. Und damit
kommen wir auf den wunden Fleck der ersten Organisation des
Observatoriums zu sprechen.
Auch eineiti Laien auf diesen Gebieten des Wissens muss es un¬
mittelbar einleuchten, dass das physikalische Central-Observatorium
zur befriedigenden Erfüllung dieser beiden Hauptaufgaben nicht
bloss über reiche Mittel, sondern auch über ein zahlreiches wissen¬
schaftliches Personal hätte müssen verfügen können. Das gesammte
etatmässige Personal des Observatoriums bestand indessen nur aus
dem Direktor, einem Smotritel (Hausaufseher und Buchführer), zwei
älteren und drei jüngeren Beobachtern. Diese äusserst gering besolde¬
ten Beobachterposten waren stets nur mit Leuten von ganz elemen¬
taren Kenntnissen besetzt, und es reducirte sich somit das etatmässige
wissenschaftliche Personal des Observatoriums faktisch auf den Di¬
rektor. Für einen einzelnen, selbst noch so ausgezeichneten Mann
war aber offenbar die Gesammtaufgabe zu gewaltig. Wie wäre es
auch in der That, selbst wenn wir nur die Funktionen des Observa¬
toriums als Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus
ins Auge fassen, möglich, dass eine wissenschaftliche Person mit 6
ganz untergeordneten Hilfsarbeitern in einem Reiche, fünf Mal so
gross als das gesammte übrige Europa, denjenigen Geschäften und
Arbeiten mit Erfolg hätte vorstehen können, zu deren entsprechen¬
der Bewältigung in Summa ungefähr 20 ähnliche, weit reicher mit
Mitteln ausgestattete und über ein viel grösseres wissenschaftliches
Personal verfügende Institute im übrigen Europa kaum ausreichend
sind. Dass bei einer solchenOrganisation das neue Institut überhaupt
leistungsfähig wurde, ist jedenfalls nur dem ausserordentlichen Ge¬
schicke und der Staunen erregenden Arbeitskraft Kup ff er’s, sowie
dem Umstande zu verdanken, dass ihm wohl mannigfach Unterstüt¬
zung von Seite der Bergoffiziere zu Theil wurde, und es ihm möglich
war, zeitweise aus ausserordentlichen Mitteln noch besondere wissen¬
schaftliche Hilfsarbeiter zu acquiriren. Nun erfordern aber gerade
die meteorologischen und erdmagnetischen Beobachtungen und Un¬
tersuchungen ihrer Natur nach eine kontinuirliche Ueberwachung
und Verfolgung, welche daher ein flottantes Personal nicht befriedi¬
gend auszuführen vermag. So musste sich der Direktor bald vor die
Alternative gestellt sehen, entweder die eine oder andere Hauptauf¬
gabe der Anstalt in den Hintergrund treten zu lassen, und dass er
3 1 *
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476
sich dabei für die ihm persönlich interessantere der physikalischen
Experimentaluntersuchungen im engeren Sinne des Wortes entschied,
dürfte ihm kaum verargt werden. Und dies weist auf die zweite Ge¬
fahr hin, welche bei ungenügender Ausstattung mit personellen und
finanziellen Kräften die erste Organisation des Observatoriums in
sich schliesst. Mit Rücksicht auf die Doppelaufgabe des neuen
Instituts kann jedenfalls nur ein eigentlicher Physiker zum Direktor
desselben ernannt werden, und da nun physikalische Untersuchungen
im engeren Sinne des Wortes, wenn auch noch so gross angelegt,
stets rascher zu Resultaten fuhren, und damit unmittelbarer eine ge¬
wisse Genugthuung gewähren, als meteorologische und erdmagneti
sehe Studien, welche das Experiment fast ganz ausschliessen, und
desshalb meistentheils auf eine lange Zeit die Geduld des Forschers
in Anspruch nehmen, so ist zu erwarten, dass der Physiker, wenn er
sich in die Unmöglichkeit versetzt sieht, Beidem zu genügen, die
erstere Arbeit vorziehen wird. Und doch wäre es für die Wissen¬
schaft im Allgemeinen erspriesslicher, wenn in einem solchen Falle
der Meteorologie und dem Erdmagnetismus der Vorzug gegeben
würde, da ja physikalische Untersuchungen überall gemacht werden
können, während eben die physikalischen Verhältnisse von Russland
nur von seiner bezüglichen Centralanstalt mit Erfolg erforscht wer¬
den können. So hat denn der schöne Gedanke, die zum Theil trocke¬
nen, langwierigen, und daher leicht erschlaffenden Arbeiten der me¬
teorologischen Centralanstalt durch die Verbindung, mit physikali¬
schen Untersuchungen im engeren Sinne des Wortes zu beleben,
bei ungenügender Ausstattung des Instituts nach und nach trotz aller
Anstrengung seines Vorstandes unabweislich dahin geführt, dass zu
Anfang der sechsziger Jahre das physikalische Central-Observatoriura
eigentlich nur dem Namen nach noch eine Centralanstalt für die
physikalische Erforschung Russlands war, und damit auch überhaupt
der Zustand der meteorologischen und magnetischen Beobachtungen
im Reiche ein höchst trauriger geworden war. Seit 20 Jahren waren
weder die meteorologisch-magnetischen Observatorien beim Berg¬
wesen, noch die anderen Observatorien und Stationen einer Inspektion
unterworfen worden,^die eingesandten Beobachtungen wurden, ohne
irgendwie kontrollirt zu werden, einfach in den Annalen abgedruckt
mit einer Menge von Druckfehlern, welche nie'.korrigirt wurden; von
der Beschaffenheit, Aufstellung und den Korrektionen der auf den
Stationen benutzten Instrumente war so gut als Nichts bekannt; ab¬
solute magnetische Messungen, ohne welche auch die Variations-
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4 77
Beobachtungen nur einen sehr beschränkten Werth besitzen, wären
seit Jahren auf den meisten Observatorien und vor Allem im Central-
Observatorium fast gar nicht mehr gemacht worden; die Zahl der me¬
teorologischen Stationen war von 40 bis 50 allmählich auf deren 20
heruntergesunken, obschon Freunde der Meteorologie einzeln und
durch Gesellschaften sich wiederholt um Neubegründung solcher
verwendet hatten. Unter solchen Umständen kann man es doch
wohl nicht als Uebertreibung bezeichnen, wenn man zu Anfang der
sechsziger Jahre immer dringender eine Reorganisation des meteo-,
rologischen Beobachtungssystems verlangte, welche dann auch im
Jahre 1864 in Verbindung mit dem physikalischen CentrabObserva-
torium von den Ministerien des Unterrichts und der Marine ins
Werk gesetzt wurde.
Durch Begründung von ungefähr 40 neuen Stationen sollte zu¬
nächst im europäischen Russland das meteorologische Beobachtungs¬
netz vervollständigt, und damit zugleich ein System telegraphischer
Witterungsberichte eingerichtet werden. Leider wurde die Ausfüh¬
rung dieser Massregeln und der zugleich beabsichtigten Reorgani¬
sation des Central-Observatoriums durch das plötzliche Hinscheiden
Kupffer’s im Mai 1865 suspendirt.
Im gleichen Jahre fand dann auch die Ueberführung des physi¬
kalischen Central-Observatoriums vom Bergwesen des Finanzminis¬
teriums zur Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften,
und damit zum Unterrichtsministerium Statt. Dass darauf die Aka¬
demie der Wissenschaften als Direktor desselben einen der ersten
lebenden Meteorologen, Professor Kämtz aus Dorpat, berief be¬
weist, wie sehr auch diese Körperschaft vor Allem auf die Entwicke¬
lung der Thätigkeit des Instituts als meteorologisch-magnetische
Centralanstalt Gewicht legte. Kämtz scheint in der That grosse
Pläne für die Reorganisation der meteorologischen Beobachtungen
gefasst zu haben, allein ehe nur bestimmte bezügliche Projekte aus¬
gearbeitet, geschweige denn zur Ausführung gebracht waren, wurde
er nach kaum zweijähriger Wirksamkeit am Observatorium demselben
im December 1867 ebenso unerwartet als rasch durch den Tod ent¬
rissen. Es war Herrn Kämtz nur noch vergönnt gewesen, die Creirung
der Stelle eines wissenschaftlichen Gehilfen beim Observatorium zu
erzielen, dagegen hatte jede Thätigkeit des Observatoriums als me¬
teorologisch-magnetische Centralanstalt in Gewärtigung der pro-
jektirten Reformen ganz geruht. Nach den Annalen für 1864 war
Nichts mehr publicirt worden, und der Verkehr mit den wenigen
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Stationen beschränkte sich auf das Einsenden von Beobachtungen
Seitens der Letzteren.
In welchem Zustande ich nach einer solchen Reihe unglücklicher
Ereignisse beim Antritt der Direktion des physikalischen Central-
Observatoriums im September 1868 dasselbe und das von ihm ab¬
hängige meteorologische Beobachtungssystem vorfand, habe ich
nicht nöthig, dem denkenden Leser zu schildern. Dass mir die Reor¬
ganisation der Anstalt unter diesen Umständen überhaupt möglich
war, verdanke ich nur der wirksamen Unterstützung, welche mir
von vielen Seiten in meinen bezüglichen Bemühungen zu Theil ge¬
worden ist. Vor Allem hat die Akademie der Wissenschaften in ihrer
Gesammtheit und ganz besonders ihr Präsident, Admiral Graf
von Lütke und ihr beständiger Sekretär C. v. Wesselowsky Alles auf-
geboten, um die Entwickelung unseres Institutes zu fördern, und
ihre Autorität hat denn auch die Regierung vermocht, hiefür neue
Opfer zu bringen. Nicht geringere Opfer an Zeit und Mühe haben
aber aus Liebe zur Wissenschaft über ihre pflichtmässigen Lei¬
stungen hinaus die Angestellten des Observatoriums, sowie eine
grössere Zahl von Freunden der Meteorologie in allen Theilen des
Reiches durch unentgeltliche Uebernahme von Stationsbeobach¬
tungen gebracht.
Wenn die Akademie der Wissenschaften sich bei dieser Reform
nicht zu einem hastigen und unbesonnene^ Vorgehen verleiten liess,
sondern dieselbe in einer, der obersten wissenschaftlichen Behörde
Russlands durchaus würdigen Weise, in ruhiger Ueberlegung und
mit gründlicher Prüfung aller Umstände einleitete, so wird ihr das
Publikum nur Dank dafür wissen, da auf diese Weise allein nach¬
haltige Erfolge zu erzielen waren. Sie beauftragte demgemäss eine
aus den Akademikern: Jacobi, Helmersen, Wesselowsky, Struve,
Schrenck und mir bestehende Kommission mit der Ausarbeitung
von Projekten zur Reorganisation des meteorologischen Beobach¬
tungssystems in Russland und zur Reform des physikalischen
Central-Observatoriums, welche Kommission der Akademie am
20. Mai 1869 über die Erstere einen detaillirten Bericht erstattete,
und am 5. Mai 1870 derselben ein motivirtes Projekt neuer Statuten
und eines neuen Etats des physikalischen Central-Observatoriums
vorstellte. Die Letzteren wurden von dem Hm. Unterrichtsminister
dem Reichsrathe vorgestellt, bei der Berathung im Schoosse des¬
selben freilich nicht unerheblich modificirt, und in dieser Form am
4. Mai 1871 Allerhöchst bestätigt. Demzufolge sind vom Jahre 1872
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4M
an nicht bloss die materiellen Hilfsmittel unserer Anstalt bedeutend
vergrössert, sondern auch das unmittelbar vorher bloss aus dem
Direktor, seinem Gehülfen, zwei Beobachtern und einem Intendanten
(Smotritel) (5 Personen) bestehende etatmässige Personal desselben
um zwei ältere Beobachter, zwei Rechner, einen Schriftführer und
einen Mechaniker (6 Personen) vermehrt worden.
Der Kommissionsbericbt mit den Reorganisationsvorschlägen für
das meteorologische Beobachtungssystem wurde in dem «Bulletin»
und in den «Sapiski» der Akademie veröffentlicht, und ausserdem in
einer grossen Zahl von Separatabdrücken überall hin vertheilt l .
Derselbe betont zunächst die Nothwendigkeit einer einheitlichen
Instruktion für alle meteorologischen Stationen, gleichartiger oder
wenigstens sorgfältig verificirter Instrumente auf denselben, und
häufigerer Inspektion der Stationen. Behufs rascherer Ausbreitung
der Stationen, besserer und leichterer Ueberwachung der Letzteren
und Anstellung vollständigerer meteorologischer und erdmagne¬
tischer Beobachtungen in verschiedenen Landestheilen wird die
Errichtung einer Zahl physikalischer Observatorien nach dem Muster
desjenigen in Tiflis als Cenlralstellen für kleinere Beobachtungs¬
bezirke vorgeschlagen. Die Sammlung, Kontrolle und der Druck
der Beobachtungen in den Annalen des physikalischen Central-
Observatoriums wird des Näheren besprochen, auf die Nothwendig¬
keit der weiteren Bearbeitung des Beobacbtungsmaterials auch
durch die Centralanstalt hingewiesen und als Centralorgan für die
1 Ich hebe dies hier ausdrücklich hervor, weil Hr. A. IVojeikow in einem Aufsatze
*ü 6 er die Meteorologie in Russland », den er im Jahresbericht der * Smiths onian Insti¬
tution» für 1872 veröffentlichte, und der in einer auszugsweisen Uebersetzung auch in
dieser Revue (IV. Jahrgang 8. Heft S. 165) erschienen ist, neben vielen anderen Unge¬
nauigkeiten in der Darstellung der neueren Entwickelung der Meteorologie in Russland
irrthümlicher Weise auch voraussetzt, es sei von Seite der Akademie und des Central-
Observatoriums Nichts geschehen, um das Publikum mit den Prinzipien und der Wich¬
tigkeit der meteorologischen Beobachtungen bekannt zu machen. Wenn Hr. Wojeikow
weiter sagt: «Dieses ist in einem solchen Grade wahr, dass nur sehr Wenige, sogar in
St Petersburg, eine Idee von der Existenz eines physikalischen Cental-Observatoriums
haben», so können wir darauf nur bemerken, dass wir ihm mindestens etwas mehr Pa¬
triotismus zugetraut hätten. Was für ein eigentümliches Licht müsste nämlich in der
That diese Aeusserung, wenn sie wahr wäre, auf die Hauptstadt seines Vaterlandes wer¬
fen, in denen bedeutenderen Journalen seit Jahren täglich über einer besonderen Spalte
gross gedruckt zu lepen ist: «Meteorologische Mittheilungen vom physikalischen Central-
Observatorium in St Petersburg». Ich konstatire hier mit Vergnügen, dass es glück¬
licher Weise mit den Bewohnern St. Petersburgs nicht so schlimm bestellt ist, was am
Besten aus dem zahlreichen Besuch hervorgeht, den das Central-Observatorium durch¬
weg an den, zur Besichtigung desselben festgesetzten, Wochentagen erhält
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Publikation dieser Bearbeitungen das von der Akademie kurz vorher
auf meinen Antrag neu begründete, * Repertorium für Meteorologie»
bezeichnet. In einem besonderen Paragraphen des Berichts wird
endlich mit grosser Ausführlichkeit die Nothwendigkeit und Nütz¬
lichkeit der Einführung telegraphischer Witterungsberichte und darauf
sich stützender Sturmwarnungen in Russland erörtert
Was ist nun, kann man mit Recht fragen, in den 6 1 /* seither ver¬
flossenen Jahren zur Ausführung dieser Projekte Seitens des physi¬
kalischen Central-Observatoriums geschehen, und ist dadurch die an¬
gestrebte Verbesserung in unserem meteorologischen Beobachtungs¬
system erzielt worden? Alle Details hierüber sind in den von mir
der Akademie abgestatteten Jahresberichten des Observatoriums für
die Jahre 1869, 1870, 1871, 1872, 1873 und 1874, von denen der
Letztere soeben erschienen ist, niedergelegt. Man wird, glaube ich,
beim Durchgehen derselben finden, dass zwar allerdings nicht ein so
grossartiges Beobachtungssystem geschaffen worden ist, wie es seit
1872 beim Kriegsdepartement der Vereinigten Staaten von Nord-
Amerika besteht, dass aber doch Dank einer nicht übereilten, son¬
dern allmählich und allseitig fortschreitenden Entwickelung auch bei
uns für die meteorologischen Forschungen ein fester Bau auf sicherer
Grundlage entstanden ist, der sich, obschon mit verhältnissmässig
geringeren Mitteln ausgestattet, doch in Betreff seiner Leistungen
für die Wissenschaft dreist neben die besten Schwesteranstalten
Europa’s stellen darf.
Zum Beweise dessen werde ich hier an der Hand jener Jahres¬
berichte nur ganz kurz resumiren, was zur Realisirung der Kommis¬
sionsvorschläge geschehen ist.
Zunächst habe ich eine Instruktion für meteorologische Stationen
entworfen, welche nach Billigung durch die erwähnte Kommission
mit zeitgemässen Ergänzungen im neuen Repertorium für Meteoro¬
logie pubücirt, und bereits in mehr als 600 Separatabdrucken auf
Kosten der Akademie der Wissenschaften vom physikalischen
Central-Observatorium überall hin vertheilt worden ist, so dass dem¬
nächst eine neue Auflage derselben erscheinen wird.
Das physikalische Central-Observatorium, im Jahre 1868 aller Nor¬
malmaasse und Normalinstrumente, wie Komparatoren, Normalbaro¬
meter, Normalthermometer, Normalanemometer etc., ganz baar, hat
sich seither mit diesen Fundamentalrequisiten aller exacter For¬
schung in jeder Richtung und in vorzüglicher Qualität versehen, so
dass es mit Hilfe einer Reihe ebenfalls neu beschaffter Hilfsappa-
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rate im Stande ist, jederzeit authentische Verifikationen aller meteo¬
rologischen und magnetischen Instrumente auszuiühren. Auch zur
Verbesserung der Letzteren, ihrer Vervollständigung etc. sind
grosse und erfolgreiche Untersuchungen im Observatorium an¬
gestellt worden, deren Resultate in dem erwähnten Repertorium für
Meteorologie zum Theil bereits publicirt sind.
Für Observatorien und meteorologische Stationen im Reiche und
wissenschaftliche Reisende hat das physikalische Central-Observa-
torium von Anfang 1869 bis Ende 1874 besorgt und nach seinen
Normalen verificirt:
425 Quecksilber-Thermometer, 316 kleine Regenmesser (für die
77 Weingeist-Minima-Thermom., Regenbeobachtungen der geo-
78 Thermographen, graphischen Gesellschaft),
126 Haarhygrometer, 11 Evaporometer,
101 Quecksilberbarometer, 31 Sonnenuhren,
58 Aneroidbarometer, 10 complete Apparate für abso-
18 Thermobarometer, lute magnetische Messungen,
142 Windfahnen, 4 complete Serien selbstregis-
24 Anemometer, trirende meteorolgische In-
136 grosse Regenmesser, strumente.
Seit dem Jahre 1869 sind ferner auf Veranlassung des physikali¬
schen Central-Observatoriums, zum Theil auf seine Kosten, zum Theil
mit Hilfe besonderer hierfür gewährter Mittel, eine Reihe von In¬
spektionsreisen, grösstentheils von seinen Beamten gemacht und
dabei 68 meteorologische Stationen und Observatorien besucht, auch
theilweise neu eingerichtet worden, darunter sämmtliche seit über
20 Jahren nicht mehr inspicirte Observatorien des Bergwesens, das
ferne Nertschinsk nicht ausgeschlossen. Hierin sind die Inspektionen
der 18 Stationen der kaukasischen Statthalterschaft durch Hm. Di¬
rektor Moritz von Tiflis aus, sowie diejenigen von 5 Stationen in
China durch Hm. Direktor' Fritsche von Peking aus, endlich die der
Küstenstationen am Schwarzen Meer durch Hm. Marinelieutenant
Baron Wränge/ von Nikolajew aus, nicht inbegriffen.
Während ferner die Zahl der meteorologischen Stationen, welche
dem physikalischen Central-Observatorium regelmässig ihre Beobach¬
tungen zum Druck einsandten, im Jahre 1864 bloss 20 und im Jahre
1868. auch nur 30 betrug, ist dieselbe nach dem letzten Jahres- *
berichte bis Ende 1874 auf 108 gestiegen, und hat sich in diesem
Jahre noch um 16 vermehrt. Die räumliche Vertheilung dieser 124
Stationen ist nickt eine ganz zufällige. Ohne hier und da sich darbi^-
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tende Gelegenheiten zur Errichtung von Stationen in den entfern*
teren Theilen des Reiches unbenutzt zu lassen, haben wir doch un*
*ere Anstrengungen zur Begründung neuer Stationen vor Allein aus
darauf gerichtet, den europäischen Theil des Reiches mit einem für
die Verfolgung der allgemeinen Witterungserscheinungen hinlänglich
dichten Stationsnetz zu bedecken, und dasselbe von da aus dann all*
mählich nach Asien hinein auszudehnen. Dank dieses konsequent ver¬
folgten und bei der dünnen Bevölkerung und den grossen Kommu¬
nikationsschwierigkeiten selbst in vielen Theilen des europäischen
Russlands nicht eben leicht zu realisirenden Planes sind wir jetzt
doch bereits dahin gelangt, die wesentlichsten Lücken des Stations¬
netzes im europäischen Theil des Reiches, in Westsibirien und in
Turkestan ausgefüllt zu sehen, so dass wir voo jetzt an unsere wei¬
teren bezüglichen Anstrengungen fast ganz auf Mittel- undOstsibirien
konzentriren können.
Durch Vertheilung geprüfter Instrumente, durch die Inspektions¬
reisen, sowie endlich durch eine emsig unterhaltene Korrespondenz
mit den Stationen, entweder direkt oder für einen Theil derselben
durch die Centralstellen in Tiflis, Peking und Nikolajew sind wir
aber auch für beinahe alle von diesen 124 Stationen von dem Zu¬
stand derselben, der Beschaffenheit, Aufstellung und den Korrek¬
tionen ihrer Instrumente genau unterrichtet, wovon wir jeweilen in
den Einleitungen der Publikationen der Beobachtungen Rechen¬
schaft geben. Ebendaselbst wird auch jeweilen alles Nähere über
die Kontrolle der eingesandten Beobachtung selbst und ihrer Be¬
rechnungen Seitens der Centralanstalt mitgetheilt. So dürfen wir
sagen, dass die Annalen des physikalischen Central-Observatoriums
zur Zeit nur ein genau kontrollirtes Beobachtungsmaterial enthalten,
über dessen grösseren oder geringeren Werth für die einzelnen Sta¬
tionen sich jeder Forscher aus den Daten der Einleitung selbst ein
Urtheil bilden kann.
Trotz der Grösse des Reiches und der oft sehr verspäteten An¬
kunft der Beobachtungen aus den entfernten Theilen desselben ist
es uns möglich geworden, die Kontrolle, Berechnung und den Druck
der Beobachtungen so sehr zu beschleunigen, dass die Annalen eines
Jakres jetzt regelmässig zu Ende des folgenden vollendet sind und
versandt werden können. Ausserdem ist bis Ende des letzten Jahres
auch der Druck und die Herausgabe aller noch rückständigen
Annalen von 1865 an nebenher erfolgt, so dass in den 6 Jahren bis
v
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4*S
Ende 1874 im Ganzen 9 Bände der Annalen des Observatoriums von
mir herausgegeben worden sind.
Diese Annalen, in russischer und deutscher (früher französischer)
Sprache publicirt, werden in einer Auflage von 400 Exemplare«
nicht bloss an wissenschaftliche Anstalten, Gesellschaften und ein¬
zelne Fachgelehrte im In- und Auslande versandt, sondern auch, wie
alle übrigen Publikationen des Observatoriums sämmtlicken Beob¬
achtern gratis zugestellt *. Ich brauche kaum hinzuzufiigen, dass
dies geeignet ist, den Letzteren eine unmittelbare Genugthuung zu
gewähren, und sie so zu neuen Anstrengungen anzuspornen.
Leider hat trotz aller bezüglichen Bemühungen der Akademie
der Wissenschaften die angestrebte Begründung untergeordneter
Centralstellen fiir kleinere und namentlich entferntere Beobachtungs¬
bezirke mit der Ausbreitung unseres Stationsnetzes nicht Schritt
gehalten. Zu der bereits seit längerer Zeit bestehenden Central¬
stelle in Tiflis ist nur eine solche für einige benachbarte chinesische
Stationen in Peking, und eine weitere ln Nikolajew für die Küsten¬
stationen des Schwarzen Meeres bis dahin binzugekommen. Zur
Zeit fällt daher fast die ganze Last der Ueberwachung der Stationen
noch auf die Centralanstalt in St. Petersburg.
Das physikalische Central-Observatorium glaubte sich aber nicht
mit der blossen Ansammlung neuen Beobachtungsmaterials für
künftige Forschungen begnügen zu dürfen, sondern hielt es für ge¬
boten, die seit dem Erscheinen des ausgezeichneten Werkes des
Akademikers Wesselowsky « Ueberdas Klima von Russland » (1857),
und des Kämtz' sehen Repertoriums für Meteorologie (1862) fast
ganz suspendirte Bearbeitung des älteren Beobachtungsmaterials, sei
es zur weiteren Erforschung des Klimas von Russland, sei es zur
Förderung der Meteorologie als solcher wieder aufzunehmen. So
sind auf Anregung, oder mit Unterstützung des Observatoriums eine
Reihe von Abhandlungen meteorologischen Inhalts grossentheils
von Angestellten desselben entstanden, welche von mir der Kaiser¬
lichen Akademie der Wissenschaften vorgestellt, und darauf hin in
das von ihr herausgegebene und von mir redigirte neue Repertorium
4 Dieter Thatsache gegenüber, die Hm. Wojeikow bekannt war, encheint es höchst
eigentümlich, wenn derselbe an der oben dtirtenStelle seines Aufsatzes fortführt: «Bei
dieser Sachlage sind weit weniger Beobachter zu der Arbeit willig, welche durch Regie¬
rangsvorschriften gefordert wird, und für welche sie nicht bezahlt werden, weil sie dabei
keine bestimmte Kenntniss davon haben, was mit ihrer Arbeit geschieht\ wenn sie nach
St. Petersburg abgesandt ist ».
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für Meteorologie aufgenommen wurden. Von diesem Repertorium,
das ebenfalls zur Aufmunterung an alle Stationsbeobaehter vertheilt
wird, ist soeben der 4. Band erschienen. Wir geben am Schlüsse
dieses Aufsatzes ein Verzeichniss der in diesen Bänden erschienenen
Abhandlungen l .
Die telegraphischen Witterungsberichte , welche sich gemäss der
nicht vollendeten Organisation von 1865 her noch im Jahre 1868
auf 9 inländische und 2 ausländische Orte beschränkten, und keinerlei
Verwerthung erfuhren, habe ich gemäss den Vorschlägen der aka¬
demischen Kommission sofort auszudehnen und behufs nützlicher
Verwendung besser zu organisiren gesucht. So sehr wir hierbei auf
der einen Seite, nämlich von den Direktionen der russischen und aus¬
ländischen Telegraphen, durch das Zugeständnis unentgeltlicher und
prompter Uebermittelung der Depeschen, und von den Hm. Stations¬
beobachtern durch unentgeltliche Uebernahme der betreffenden
Depeschenaufgabe unterstützt wurden, so ist doch andererseits die
Entwickelung unseres Systems telegraphischer Witterungsnach¬
richten dadurch sehr aufgehalten worden, dass bei der Genehmigung
des neuen Etats des Observatoriums — wahrscheinlich in Folge von
Missverständnissen — höheren Orts gerade der hierfür bestimmte
Posten ganz gestrichen wurde. Ich glaubte indessen, von der Wich¬
tigkeit der Sache nicht bloss ihrer unmittelbaren praktischen An¬
wendung zu Sturmwarnungen halber, sondern auch aus rein wissen¬
schaftlichen Gründen überzeugt, hierdurch mich nicht abschrecken
lassen zu dürfen, und die Fortsetzung unserer bezüglichen Bemü¬
hungen hatte denn auch zur Folge, dass vom Jahre 1872 an das hy¬
drographische Departement der Marine* dessen damaliger Direktor
Victt&mvrdX Selenoi sich stets lebhaft für die Meteorologie interessirt
hat, uns von Seite des Marineministeriums eine bezügliche Unter¬
stützung durch Zukommandirung eines Marineoffiziers — Baron von
Maydell — für diese Arbeiten und Gewährung einigerGeldmittel ver¬
schaffte. In Folge hiervon war das physikalische Central-Observato-
rium in den Stand gesetzt, von 1872 an, auf Grundlage der bereits
vorher ausgedehnten und definitiv organisirten Witterungsdepeschen
vom In- und Auslande her, täglich ein die wichtigsten Witterungs¬
elemente von 5 5 Orten umfassendes, autographirtes, meteorologisches
4 Wir können hier noch mittheilen, dass dem Observatorium kürzlich durch die gü¬
tige Vermittlung des Hrn. Ministers der Reichsdoraänen, P. von Walujew , eine namhafte
Summe für eine neue Bearbeitung und Herausgabe der Mitteltemperaturen Russlands
überwiesen worden ist.
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485
Bulletin herauszugeben, und zum Studium der allgemeinen Witte¬
rungserscheinungen, insbesondere aber der Stürme, synoptische
Karten für Europa und Asien (letzterer Theil freilichnoch sehr unvoll¬
kommen) zu entwerfen. Diese Bulletins werden in einer Auflage
von 8o Exemplaren an die mitwirkenden Stationen, an die Schwester¬
anstalten des Auslandes, und einige Behörden und Gelehrte vertheilt,
und sind auch ausserdem täglich in den namhaftesten Zeitungen St. Pe¬
tersburgs abgedruckt worden. Leider waren aber Personal und Mittel
dieses Theils unserer Anstalt immer noch viel zu gering, um einen re¬
gelmässigen Dienst einzurichten, wie ihn die Ertheilung von Sturm¬
warnungen erfordert hätte, und überdies erschien es zur erfolgreichen
Ausführung der Letzteren nothwendig, vorher den besonderen Ver¬
lauf der Stürme in Russland zu studiren. Erst eine namhafte Ver-
grösserung der uns für diesen Zweck vom hydrographischen Depar¬
tement der Marine gewährten Unterstützung setzte uns endlich im
Frühjahr 1874 in den Stand, die für die Ertheilung von Sturm¬
warnungen nöthige Organisation zu treffen. Unsere bezüglichen
Anerbietungen wurden von den Hafenbehörden in St Petersburg,
Kronstadt, Reval, Riga, Windau und Helsingfors mit dem grössten
Eifer aufgenommen, und die nöthigen Vorkehrungen zur Hissung
der Sturmsignale nach unserer Anleitung überall getroffen, und in
den Zeitungen, sowie durch öffentliche Anschläge in den Hafenorten
die Bedeutung der Signale erklärt. So konnten am 10./22. Oktober
1874 die telegraphischen Warnungen Seitens der Centralanstalt be¬
ginnen, und wir dürfen sagen, dass dieselben bei uns bis dahin von
einem entsprechenden Erfolg wie anderwärts begleitet gewesen sind,
und man allseitig ihren Nutzen anerkannt hat. Unser meteorologisches
Bulletin aber, das zugleich eine beschleunigte Publikation eines
Theils der Beobachtungen im Reiche repräsentirt, umfasst gegen¬
wärtig die telegraphischen Witterungsberichte von 24 ausländischen
und 45 inländischen Stationen l . Trotz alle Dem leistet meines
1 Diese praktischen Anwendungen der Meteorologie, wie Hr. Wojeikow das System
der Witterungstelegramme und die Sturmwarnungen nennt, waren also bereits im De¬
zember 1872, als derselbe St. Petersburg verliess, vollständig vorbereitet, ja grössten-
theils schon im Gange. Es muss daher mehr als auffallen, wenn Hr. Wojeikow an
einer Stelle des erwähnten Aufsatzes (S. 172 der «Russ. Revue», Bd. VH.) sagt: «Die
Hauptursache, warum das meteorologische Beobachtungssystem Russlands, so vortreff¬
lich es in manchen Beziehungen ist, nicht wie gewünscht, vervollständigt werden kann
(!), ist die, dass die Meteorologie in Russland noch keine Anwendung auf das praktische
Leben gefunden, und dass das Observatorium noch nicht dafür gesorgt hat, das Publi¬
kum eingehend mit deren Prinzipien und deren Wichtigkeit bekannt zu machen», und
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4M
Erachtens die mit der Herausgabe des meteorologischen Bulletins
und der Ertheilung von Sturmwarnungen beschäftigte Abtheilung
des physikalischen Central-Observatoriums nicht Das, was das Publi¬
kum von derselben, nach dem Beispiele anderer Länder, erwarten
dürfte; der Grund davon ist einfach der, dass man leider in St. Pe¬
tersburg mit einem Aufwand von ungefähr 3000 Rbl. nicht dasselbe
leisten kann, wofür man in London oder Paris mindestens das 6fache
von Seiten des Staates aufwendet, in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika aber gar das ioofache ausgiebt.
Ausser diesen verschiedenen Aufgaben als meteorologische Central¬
anstalt des Reiches fiel aber dem physikalischen Central-Observa¬
torium noch die sehr gewichtige zu, ein meteorologisch-magnetisches
Observatorium für St. Petersburg zu sein, in welchem, ähnlich wie
früher, meteorologische und magnetische Beobachtungen in viel voll¬
ständigerer (continuirlicherer) und viel umfassenderer Weise, als auf
gewöhnlichen Stationen sollten angestellt werden. Hierauf haben
wir ebenfalls bei der Reorganisation Bedacht genommen; statt aber
wie früher hierzu eine grössere Zahl von Beobachtern zu verwenden,
wurden selbstregistrirende Apparate eingerichtet, welche zum Theil
continuirüch, zum Theil in sehr kurzen Zeitintervallen (alle 10 Mi¬
nuten) die wesentlichsten meteorologischen und magnetischen Ele¬
mente aufzeichnen, und zugleich einen höheren Grad der Zuverlässig¬
keit darbieten. So besitzt das Observatorium zur Zeit bereits nahezu
5-jährige, für alle stündlichen Werthe vollständig bearbeitete Auf¬
zeichnungen des Drucks, der Temperatur und Feuchtigkeit der Luft,
der Windrichtung und Windgeschwindigkeit, und 4-jährige, ebenso
vollständig bearbeitete photographische Aufzeichnungen aller Ele¬
mente des Erdmagnetismus, welche jeweilen in besonderen Anhän¬
gen zu den ^nnalen publicirt worden sind. Wir dürfen sagen, dass
gegenwärtig keine andere Anstalt gleich vollständige und sichere, bear¬
beitete und pubHarte Beobachtungen graphischer Instrumente aufzuwei¬
sen hat. Erwähnung verdienen daneben auch noch die ebenfalls regel¬
mässig, aber direkt angestellten Beobachtungen über Regenmengen
in verschiedenen Höhen, Verdunstung, Erd- und Wassertemperatu¬
ren etc.
wenn er darnach, auf den beiden folgenden Seiten, der amerikanischen Welt als die sei*
sttgea, stitn Theil fast wörtlich, diejenigen Ideen zur Einrichtung von Witterungstelegram¬
men und Sturmwarnungen in Russland vorffchrt, welche bereits m dem erwähnten Be¬
richt der akademischen Kommission von 1869 enthalten sind, und ihm von dort her
bekannt waren.
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4*7
Wir sehen, dass die genannten Leistungen der Anstalt sci t d h rtt r
Reorganisation sich alle nur auf die eine Hauptaufgabe derselben,
nämlich die physikalische Erforschung Russlands beziehen. Die an¬
dere Hauptaufgabe, die physikalischen Untersuchungen im engeren
Sinne des Wortes, welche die neuen Statuten nicht beseitigt haben,
habe ich aus den oben schon angegebenen Gründen vor der Hand
etwas zurücktreten lassen, ohne, soweit es die Mittel des Observa¬
toriums gestatteten, sie ganz zu vernachlässigen. Wenn wir selbst
eine Reihe von Studien über meteorologische und magnetische In-
* strumente und Beobachtungsmethoden nicht hierhin rechnen wollen,
so gehören doch wenigstens metrologische (Mass- und Gewichts-) und
optische Arbeiten des Direktors ganz allein in dieses Gebiet; für an¬
dere rein physikalische Untersuchungen sind wenigstens die Funda¬
mente gelegt.
Und so wollen wir es nun dem Leser überlassen, zu beurtheilen, ob
nnd inwiefern das physikalische Central-Observatorium seit seiner
Reorganisation unter der Aegide der Akademie der Wissenschaften
seine Aufgaben erfüllt, resp. sich ihnen gewachsen gezeigt hat, und
nur vor einem allfälligen Vorwurfe möchten wir uns noch wahren,
dem nämlich, unmotivirt zu viel von uns selbst gesprochen zu haben.
Wir haben, obschon vielfach zu einer Darstellung des seit 1869 von
Seite unserer Anstalt zur Entwickelung der Meteorologie in Russ¬
land Geschehenen aufgefordert, dies hiermit erst gethan, als wir uns
dazu durch bezügliche ungenaue und lückenhafte Kundgebungen
von anderer Seite provocirt sahen, und als ich speciell mich ver¬
pflichtet fühlte, ungerechten, wenn auch nur aus Unerfahrenheit ent¬
sprungenen Bemerkungen gegenüber der wirklich aufopfernden
Thätigkeit meiner Mitarbeiter in schwieriger Zeit eine öffentliche
Anerkennung zu zollen.
Manches in unserem meteorologischen Beobachtungssystem ist
noch nicht, wie es sein sollte und wie insbesondere wir es wünschen
und anstreben. Man kann aber nach dem bisherigen Gange wohl
sicher erwarten, dass bei ruhig und konsequent fortgesetzter Ent¬
wickelung auch den noch bestehenden Uebelständen und Lücken
wird äbgeholfen werden', und dass uns dazu einerseits unsere, für
1 Noch vor Kurzem hat die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften auf den Vor¬
schlag des phjrükaMtche« Central. Observatoriums sur’Förderung der maritimen Meteore-
logit und der Sturmwarnungen, und sodann zur Entwickelung der Anwendungen der
Meteorologie tum Nutten der Landwirtluehoft höheren Orts zwei Projekte vorgestellt,
deren Rcalisirung indessen ungünstiger Umstände halber verschoben werde* musste.
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d
488
allea*Gute und Nützliche stets opferbereite Regierung ihre Unter¬
stützung nicht verweigern wird, andererseits auch alle wirklichen
Freunde der Wissenschaft ihre hilfreiche Hand wie bis dahin leihen
werden.
Inhalt der 4 ersten Bände des neuen Repertoriums für Meteorologie.
Band I.
Vorwort. Seite.
Instruktion für meteorologische Stationen H. Wild (mit einer Tafel) .... 1—23
Tafeln für Berechnung der meteorologischen Beobachtungen.25 — 94 .
Beschreibung der vom physikalischen Central-Observatorium zu beziehenden
meteorologischen Instrumente (mit zwei Tafeln).95— 98
Die Wind- und Regen Verhältnisse Tauriens, von W. Koppen. 1— 72
Marche diurne de la tempdrature aBarnaoul et a Nertschinsk par M. Rikatscheff. 73— 96
Der jährliche Gang der Temperatur in St. Petersburg, von Dr. L. F. von
Kämtz, redigirt von I. Pernet.97—148
Resultate aus astronomischen und magnetischen Beobachtungen, auf einer
Reise von St Petersburg nach Peking, in den Jahren 1867 und 1868
angestellt von H. Pritsche . .. . . 149—174
Sur la distribution des pluies en Russie par A. Wojeikof (avec une planche) 175—200
Inklinations-Messungen nach verbesserter Methode auf einer Reise nach Italien,
von Dr. L. F. v. Kämtz, vollendet und redigirt von M. Rikatscheff . . 201 - 252
Bestimmung der Elemente des Erdmagnetismus auf einer Reise von St. Peters¬
burg nach Tiflis, von H. Wild (mit zwei Tafeln).253—300
Gang der meteorologischen Elemente in Tiflis vom 1. December 1851 bis 1.
December 1861, von H. Kiefer.. 301— 317
Druckfehlerverzeichniss. 1 . 319
Band II.
Ergänzungen zur Instruktion für meteorologische Stationen, von H. Wild . 1— 20
Tafeln für die Berechnung der meteorologischen Beobachtungen. 21—44
Geographische, magnetische und hypsometrische Bestimmungen an 22 in der
Mongolei und dem nördlichen China gelegenen Orten, von H. Fritsche
(mit einer Tafel). I— 40
Ueber die Temperatur des Erdbodens in Peking, von H. Fritsche. 41-64
Ueber einen Ersatz des Quecksilberbarometers für Reisen und schwer zugäng¬
lichen Stationen, von H. Wild.65— 84
Ueber die Bestimmung von Erdtemperaturen mit Thermoketten, von L Pernet
(mit einer Tafel)...85—108
Vorschlag zur Registrirung der Absorption der Atmosphäre für Sonnen- und
Himmelswärme, von O. Fröhlich.109 -114
Neue Methode zur Füllung von Barometerröhren, von H. Wild (mit einer Tafel)
[deutsch und russisch] ..115 —122
Les observations magnltiques a l*Observatoire physique central pour l’annde
1868 par M. Rikatscheff..123—148
Ueber die magnetische Deklination Pekings, von H. Fritsche.149—186
Die Aufeinanderfolge der unperiodischen Witterungserscheinungen nach den
Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, untersucht von W. Koppen. 187—238
Ueber Verbesserungen am Pouillet’schen Pyrheliometer, von O. Fröhlich . 239—250
Ueber die Bevölkerung Russlands, von H. Wild (mit einer Tafel) .... 251—278
Katalog der meteorologischen Beobachtungen im russischen Reich, zusammen¬
gestellt von F. Clawer:
Vorwort und Ortsverzeichniss. I—VHI
Katalog. I— 35
Erklärung der Abkürzungen.. • . .. 36
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489
Band HL
H 1 Studien über meteorologische Instrumente und Beobachtungsmethoden. I. Ueber
die Bestimmung des Luftdrucks, von H. Wild (mit drei Tafeln) — 145 Seiten.
M 2 Ueber ein neues magnetisches Universal-Instrument, von H. WUd (mit zwei Ta¬
feln) — 10 Seiten.
Jd 3 Die periodischen Aenderungen des Luftdruckes in St. Petersburg, nach 50-jähri¬
gen Beobachtungen, von I. Pemet. (Mit einer Curventafel) — 12 Seiten.
»4 Studien über meteorologische Instrumente und Beobachtungsmethoden. 2. Zur
Kritik der Ozonbeobachtungen, von F. Dohrandt — 16 Seiten.
H 5 Ueber die magnetische Intensität Pekings, von H. Pritsche. — 49 Seiten.
M 6 La mar che diurne de la tempdrature ä St. Pdtersbourg, aux jours sereins et aux
jours couverts, par M. Rikatscheff. (Avec une table) — 16 Pag.
J6 7 Tafeln zur Ableitung der Mitteltemperatur aus den gebräuchlichsten Kombinatio¬
nen von zwei und drei Beobachtungsstunden am Tage, fUr das russische Reich
und die angrenzenden Länder. Von W. Koppen — 40 Seiten.
8 Geographische, magnetische und hypsometrische Bestimmungen an 27 im nördli¬
chen China gelegenen Orten, ausgeführt in den Monaten Juli, August, Septem¬
ber und Oktober 1871 von H. Fritsche. — 36 Seiten.
Jahresbericht des physikalischen Central-Observatoriums für 1871 und 1872. Der Aka¬
demie abgestattet von H. Wild, Direktor. — 103 Seiten.
Band IT.
Mi H. Wild, weitere Ergänzungen zur Instruktion für meteorologische Stationen. —
4 Seiten.
M2 I. Mielberg. Die magnetische Deklinatioir in St. Petersburg (mit drei litographi-
sehen Tafeln) — 58 Seiten.
M 3 H. Fritsche, Geographische, magnetische und hypsometrische Beobachtungen an
59 Orten etc. (mit einer Karte) — 44 Seiten.
M 4 W. Koppen, Ueber die Abhängigkeit des klimatischen Charakters der Winde von
ihrem Ursprünge — 15 Seiten.
M 5 F. Dohrandt, Bestimmung der Anemometer-Konstanten. — 60 Seiten.
M6 M. Rikatscheff, La distribution de la pression atmosph6rique dans la Russie d’Eu-
röpe, (avec 3 planches) — 60 Seiten.
M7 H. Wild, Ueber den täglichen und jährlichen Gang der Feuchtigkeit in Russland
(nebst einer Kunrentafel) — 90 Seiten.
J68 H. Fritsche, Geographische und magnetische Bestimmungen an 26 Orten etc. im
Jahre 1874 — 12 beiten.
M9 M, Thiesen, Zur Theorie der Windstärke-Tafel (mit drei Holzschnitten) — 73 S.
M 10 H. Wild, Jahresbericht des physikalischen Central-Observatoriums für 1873 und
1874. — 95 Seiten.
Bus. B«nk«. Bd. VII.
3t
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Zar Charakteristik der literarischen Bewegungen
in Russland in den Jahren 1820—1860.
Historische Skizzen
von
A. Pypin.
(Schluss.) 4
Der offioielle Begriff des „Volksthümüchen“.
Der Eindruck, den die Dekabristen-Verschwörung zu Ende des
Jahres 1825 hervorgerufen, blieb während der ganzen Zeit der nun
folgenden Periode (bis zum Jahre 1855) unverwischt Die Zeitge¬
nossen waren darüber einig, dass diese Bewegung den Fortschritt auf
lange Zeit aufhalten würde. «Ah, mon prince! vous avez fait bien
du mal ä la Russie, vous l’avez recutee de cinquante ans», sagte dem
Fürsten Trubetzkoi der Eine seiner Richter, eine hervorragende Per¬
sönlichkeit der neuen Regierung.
Es lassen sich doch Zweifel darüber hegen, ob diese eine Bewe¬
gung wirklich so viel Einfluss haben könnte, um die Entwickelung
Russlands um fünfzig Jahre aufzuhalten, denn in der That war der
nun folgende Lauf der Dinge noch durch viele andere Umstände be¬
dingt: es wirkten wohl viel mehr noch darauf ein der passive Zu¬
stand der Volksmasse überhaupt, die Trägheit und Schlaffheit des
Bildungsbedürfnisses in den gebildeteren Schichten, der Mangel
eines klaren Bewusstseins und des Verlangens nach einer anderen
Ordnung der Verhältnisse. Der kleine Kreis wahrhaft gebildeter
Menschen, in welchem ein solches Bewusstsein vorhanden war, bil¬
dete einen in der Masse so verschwindend kleinen Theil, dass er gar
keinen Einfluss ausüben konnte.
Aber die Ereignisse des Jahres 1825 hatten doch eine grosseBe-
deutung, indem sie die Veranlassung dazu gaben, dass das konser¬
vative System den Charakter grosser Schroffheit annahm; man be-
4 Vgl. «Russ. Revue», VIL Bd. f S. 1—36.
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49 1
fürchtete die Möglichkeit der Wiederholung einer solchen Bewegung
und trieb das Vorurtheil gegen jedes Anzeichen politischer Interessen
in der Gesellschaft aüf die höchste Spitze. Im Grunde war es derselbe
Standpunkt, der in den letzten Jahren Alexanders I. der herrschende
war; aber jetzt wurde dies System mit grösserer Konsequenz und
Strenge durchgeführt.
Gleich im Anfänge wurde, im Hinblick auf jene Ereignisse, das
Prinzip proklamirt, dass, da die Gährung der zwanziger Jahre die
Folge oberflächlicher Erziehung und der aus dem Auslande herüber¬
genommenen Freigeisterei sei, man auf die Erziehung der jungen
Generation seine besondere Aufmerksamkeit lenken müsse, dass
den echt russischen Prinzipien Raum zur Entfaltung gegeben, und
Alles denselben Widersprechende in strenger Weise entfernt werden
müsste. Dieselben «volkstümlichen» Prinzipien müssten dem ganzen
staatlichen und socialen Leben zu Grunde liegen, und nur diejenigen
Thaten und Erscheinungen Bürgerrecht in demselben erhalten,
welche diesem nun genau bestimmten nationalen Symbol entsprä¬
chen, in welchem zuerst officiell von «Volkstümlichkeit» die Rede
war.
. Viele von den bedeutenderen Zeitgenossen hatten schon längst
an dem * volkstümlichen» Charakter des Systems zu zweifeln ange¬
fangen; sie gaben wohl zu, dass dasselbe den Traditionen und dem
konservativen Geschmack der unentwickelten Masse entspreche,
dass es aber im weiteren Sinne gar nicht volksthümlich sei, da es
jede Entwickelung der geistigen und materiellen Kräfte des Volkes
lähme, dass in der Art und Weise, wie das System in Ausführung
gebracht werde, nur die Anschauungen und Begriffe der westeuro¬
päischen «Restauration» hervorträten. In einem handschriftlichen
Aufsatz der fünfziger Jahre — (diese Art der Verbreitung von publi-
cistischen Schriften war damals stark entwickelt) —, den man T. Gra-
nowskij zuschreibt, wurde das Vorherrschen des Metternich’schen
Systems in der inneren Politik klar nachgewiesen, und nicht nur ab
zwecklos für Russland, sondern auch als schädlich für dessen Ent¬
wickelung erklärt
Es ist klar, dass das konservative System, welches jetzt in umfas¬
sender Weise in Anwendung kam, im grossen Ganzen dieselben
Züge an sich trug, welche in Westeuropa, und namentlich in Oester¬
reich, an der Tagesordnung waren, und die in der schärfsten Beauf-
3**
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r
492
sichtigung des ganzen staatlichen, nationalen und socialen Lebens
gipfelten.
Wir haben nicht die Absicht, hier ausführlicher darauf einzugehen,
und die Art der Anwendung dieses Systems in den verschiedenen
Gebieten der Staatsverwaltung eingehend zu verfolgen. Aber eine
gewisse Inkonsequenz innerhalb desselben müssen wir doch konstati-
ren: ungeachtet dessen, dass die Nothwendigkeit dieses Systems auf
den Mangel an politischer Reife hin wies, dass man darum besorgt war,
das Eindringen jedes politischen Gedankens in die Gesellschaft zu
verhindern, dass es mit Händen zu greifen war, wie viel Russland
noch zu lernen habe, um dem westlichen Europa nahe zu kommen —
ungeachtet dessen behaupteten die Vertreter dieses Systems, dass
Russland sich eine reife innere und äussere Selbstständigkeit er¬
rungen habe. Man gab vor, dass Russland in das Alter der Reife
getreten wäre, sonderte es von dem westeuropäischen Leben ab und
stellte es demselben fast gegenüber, indem man die besonderen Ei-
genthümlichkeiten der russischen Kultur hervorhob, Eigentüm¬
lichkeiten, welche Russland eine von dem Gange westeuropäi¬
scher Kultur unabhängige und sogar gegensätzliche Stellung sichern
sollten.
Russland sei, so wurde gesagt, ein ganz besonderer Staat, mit
einer ganz besopderen Nationalität, und den Staaten und den Natio¬
nalitäten Westeuropa^ durchaus unähnlich; daher müsse es sich auch
in seinem ganzen staatlichen Leben vom westlichen Europa unter¬
scheiden. In Russland allein nähmen die Dinge den regelrechten
Verlauf im Einklang mit den Forderungen der Religion und wahrer
politischer W eisheit. Westeuropa hat seine unterscheidenden Merk¬
male: in der Religion — den Katholicismus oder den Protestan¬
tismus, im Staat—konstitutionelle oder republikanische Institutionen,
in der Gesellschaft — die Freiheit des Wortes und der Presse, die
bürgerliche Freiheit, u. s. w. Es sei stolz auf diesen Fortschritt und
diese Privilegien, aber das sei eine Verirrung und die Folge franzö¬
sischer Freigeisterei und der französischen Revolution, die im vo¬
rigen Jahrhundert Religion und Monarchie mit Füssen getreten, und
wenn auch bezwungen, doch die Spuren ihres verderblichen Ein
flusses und die Keime zu ferneren Unruhen hinterlassen habe. Russ¬
land sei von diesen ertödtenden Einflüssen frei geblieben, welche
dasselbe nur ein Mal aufzuregen versuchten. Es habe die Traditionen
der Vorzeit unversehrt bewahrt; dadurch vor Unruhen und trügeri¬
schen konstitutionellen Einrichtungen geschützt, könne es mit den
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liberalen Bestrebungen nicht sympathisiren, welche in verschie¬
denen Staaten Westeuropa^ in Folge der Nachsicht der Regierungen
zu Tage getreten sind. Daher könne es nicht anders, als dem Prinzip
der Monarchie seine Unterstützung verleihen. In religiöser Beziehung
nehme Russland auch eine ausschliessliche und beneidenswerthe
Stellung ein. Das Bekenntniss der russischen Kirche sei aus alten
byzantinischen Quellen geschöpft, welche die Traditionen der Kirche
treu gehütet haben, und daher sei Russland von jenen religiösen
Unruhen frei geblieben, welche zuerst die katholische Kirche vom
richtigen Wege abgelenkt, darauf aber sie selbst gespaltet hätten,
indem sie den Protestantismus hervorriefen. Auch in der russischen
Kirche seien freilich Streitigkeiten vorgekoromen, indem sich ein
Theil des ungebildeten Volkes dem Raskol zugewandt hat, aber die
Regierung, so wie die Kirche, wendeten alle Mittel an, um die Abge¬
fallenen zurückzufiihren und diese Verirrung zu entwurzeln.
Auch in seinem inneren Sein — so sagte man — wäre Russland
dem westlichen Europa durchaus unähnlich. Mit den originalen
Institutionen, dem alten Glauben habe es sich patriarchalische Tu¬
genden, die westeuropäischen Völkern wenig bekannt sind, bewahrt.
So vor Allem tiefe Frömmigkeit, ein'“volles Zutrauen zu den regie¬
renden Gewalten und unbedingten Gehorsam.
Europa habe Russland in BUdung und Wissenschaften überflügelt,
aber dafür kennt Russland auch deren Missbrauch nicht. Die
obersten Behörden achteten darauf, dass Russland nur das Nütz¬
liche in der Wissenschaft benutzt, und verbieten Alles, was zu ver¬
derblicher Freigeisterei hinleiten könnte. Darin besteht das Streben
der Censur.
Unter diesen Bedingungen blüht Russland im Genuss der inneren
Ruhe empor. Es verdankt seine Macht seiner Grösse, der Menge
seiner Völkerstämme und den patriarchalischen Tugenden des
Volkes. Eben so mächtig sei Russlands Einfluss nach aussen, der
durch ein grosses Heer unterstützt wird.
In Hinsicht der inneren Verwaltung sei die Regierung bemüht,
ausschliesslich und allseitig für das allgemeine Wohl des Volkes zu
wirken, und wenn in der praktischen Ausführung Mängel zu Tage *
treten, so läge die Schuld nicht an der Unvollkommenheit der Ge¬
setze, sondern nur an den Menschen, welche diese Gesetze nicht
genau zu beachten verstanden. . ..
Obgleich nun dies System ein umfangreich entwickeltes Ganzes
in sich darstellte, so waren doch schon selbst den Vertretern des-
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selben einige Schwächen, Widersprüche und Inkonsequenzen in die
Augen gefallen; es war daher natürlich, dass die allmählich er¬
wachende Kritik der Gesellschaft, die Erkenntniss dieser Mängel
weiter entwickelte; daraus entstand dann jene Gährung, jener Kampf
der Meinungen, welche die Geschichte der geistigen Entwickelung
Russlands in dieser Periode ausmachen.
So wurde dieses System für das echt nationale System erklärt,
welches als im Geiste der bisherigen historischen Entwickelung des
russischen Volkes gebildet, als echt «volksthümlich» galt. Worin
bestand aber nun die historische Bedeutung dieses Systems in der
Reihe der social-politischen Anschauungen, durch welche die Ent¬
wickelung Russlands hindurchgegangen ist?
Die Panegyristen dieses Systems waren nicht im Unrecht, wenn
sie darauf hinwiesen, dass dasselbe in direktem Gegensätze zu den
Reformen Peter's des Grossen stände, — doch im entgegensesetzten
Sinne. Der Unterschied lag nicht in der Wiederherstellung des so¬
genannten angeblich «nationalen» Prinzips, welches Peter der Grosse
zurückgesetzt hatte. Peter der Grosse besass einen stark ent¬
wickelten, kritischen Blick in Bezug auf die Mängel des russischen
Staatslebens, und dieser kritische Sinn brachte ihn dazu, Russland
mit Westeuropa in Verbindung zu setzen, westeuropäische Bildung
und Wissenschaft in das russische Leben hineinzubringen. Darin
liegt das Wesen und die Macht der Reformen Peter’s des Grossen,
deren Geist noch lange nach ihm fortwirkte. Hier dagegen existirte
dieser politische Sinn durchaus nicht. Der gegebene Status quo
wurde für den besten erklärt; das letzte Ziel war die Vervollkom-
mung, die Disziplinirung desselben in rein formalem Sinne, ohne
darauf Rücksicht zu nehmen, ob derselbe dem Geiste derZeit und
den Forderungen der Civilisation und der Wissenschaft entspreche.
Insofern stand dies System in Wahrheit zu den Reformen Peter’s
des Grossen in direktem Gegensätze, und darin liegt die historische
Bedeutung dieses Systems. Hieraus aber wird auch die Kehrseite
der Medaille ersichtlich.
Das Streben, die nationalen Kräfte in Unthätigkeit zu erhalten,
und ihre geistige Entwickelung zu unterdrücken, hatte zur Folge,
dass ein bedeutender Theil derselben in der That auch unthätig
blieb, und im Stillstand, der dem Rückschritt gleich ist, verharrte.
So kam es, dass die grosse Mehrzahl der Gesellschaft in der That
daran glaubte, dass Russland ein besonderer Staat sei, und dass die
Forderungen westeuropäischer Bildung in demselben keinen Raum
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hätten. Die Formen der westeuropäischen Entwickelung im engeren
Sinne, die Einzelheiten der Sitten und des Lebens waren für Russland
freilich durchaus nicht verbindlich; aber der Fehler lag darin, dass
man nicht einsah, wie die natürliche Entwickelung der Nation die¬
selben zu höheren Lebensformen hinauf leiten musste, als Diejenigen,
welche dem russischen Geiste bis dahin eigen waren; dass der
einmal angefangene Prozess der Umbildung und Civilisation noth-
wendiger Weise andere politische und sittliche Begriffe mit sich
bringen musste, Begriffe und Ideale, welche mit den früheren Le¬
bensformen nicht harmonirten, denen aber in dem bezeichneten
System doch nicht Raum gegeben wurde; dass Russland schon mit
Europa in Verbindung getreten war, und dass es nur dann Be¬
deutung haben könnte, wenn es diese Verbindung mit allen Kräften
unterhält.
Nach dem eben Gesagten wird es nun nicht schwer fallen, sich
über die öffentliche Meinung und die Literatur jener Zeit eine Vor¬
stellung zu bilden.
Die öffentliche Meinung hatte kein Recht der Existenz, da nach
dem herrschenden System weder das Lob noch der Tadel von Mass-
regeln und Gesetzen, die von der Regierung ausgingen, gestattet
war. Der Grundzug der Zeit war die Abwesenheit der Oeffentlich-
keit, was zur nothwendigen Folge hatte, dass dem Publikum die
Entwickelung der eigenen Angelegenheiten unbekannt blieb; daraus
entstand dann jene stark verbreitete Gleichgültigkeit gegen das
öffentliche Leben, und jener Indifferentismus, der in der Gesellschaft
eine so grosse Rolle spielte.
Die Literatur hatte sich in tiefes Schweigen über die wichtigsten
Lebensfragen gehüllt: weder politische Stoffe wurden behandelt,
noch die inneren Angelegenheiten. Alles, was Regierung und Ver¬
waltung betraf, wurde konsequent vermieden. Die ersten Vertreter
der Literatur hatten sich dem Kultus der reinen Kunst ergeben,
oder der abstrakten Philosophie, oder sie stellten Untersuchungen
über Grundsätze der Moral an. Eine publicistische Thätigkeit exi-
stirte ebenfalls nicht Alles Politische wurde von der öffentlichen
Besprechung fern gehalten, so dass sogar der Unterricht der neue¬
sten politischen Geschichte verboten war; eben so gehörte die poli¬
tische Oekonomie zu den gefährlichen Gegenständen, u. s. w.
Wenn aber in der Gesellschaft geistige # Kraft und historischer
Sinn vorhanden waren, so stand nur ein Weg offen: — das Streben
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nach einer vollen Entwickelung der nationalen Kräfte durch die An¬
eignung der westeuropäischen Wissenschaft und durch die Vervoll-
kommung des inneren politischen Lebens; eben so musste das Ziel
der Literatur sein — dieses Streben thätig und eifrig zu fördern, den
freien kritischen Sinn zu wecken, und derSelbsterkenntniss zu dienen.
Das war denn auch die Richtung, welche die neuere russische Lite¬
ratur nun einschlug. So kam es, dass die innerlich nothwendige
Entwickelung der Literatur sich zu dem herrschenden System in
feindlichen Gegensatz stellen musste, und da dies System durch die
Macht und durch den Indifferentismus der Masse unterstützt wurde,
so war die Lage der Literatur eine im höchsten Grade schwierige.
Ungeachtet dessen ist sie ihrem Prinzip und ihrem Streben treu ge¬
blieben, hat der Gesellschaft die grossen sittlichen Ideale vor Augen
gestellt, und die Sache der Bildung und Aufklärung gefördert
Die Reaktion in den letzten Jahren der Regierung des Kaisers
Alexander I. hatte viele Keime socialer Reformbestrebungen niederge¬
drückt, aber die historische Entwickelung der geistigen Strömungen
konnte sie nicht verändern. Wie früher, spaltete sich auch jetzt die
Literatur in zwei Richtungen. Die Vertreter der ersten Richtung unter¬
stützten das Status quo, und übernahmen die Rolle des reaktionären
Konservatismus; die Vertreter der zweiten Richtung setzten die früher
angefangene Kritik fort, indem sie sich an die Untersuchung socialer
und nationaler Fragen machten. In der ersten Zeit schien die Politik
bei Seite gelassen worden zu sein, indem vorzugsweise Themata aus der
abstrakten Philosophie und aus der Kunst behandelt wurden. Theils
war das die Folge der reaktionären Strömungen, theils lag der
Grund hiervon aber auch in der natürlichen Entwickelung des Den¬
kens, weiches auf dem geistigen Leben Westeuropa^ basirte, wo in
dieser Zeit Philosophie und Romantik im Schwünge waren. So
war auch Puschkin in der russischen Literatur der erste Repräsen¬
tant künstlerisch-objektiver Poesie, die zugleich politisch-konservativ
und indifferent war.
Betrachten wir zuerst jene konservative Richtung, welche dem
Status quo als Stütze diente.
Diese konservative Literatur stand in naher Verbindung mit der
Romantik, und wir haben gesehen, in wie bedeutendem Grade der
politische Indifferentismus bei Shukowsky vertreten war. Puschkin,
der vom Liberalismus ausging, besass zu wenig Sinn für unab¬
hängige Kritik, um sich auf dieser Bahn weiter zu bewegen,
und gab dem System der officiellen «Volkstümlichkeit* Anlass, ihn,
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den bedeutendsten russischen Dichter, zu den Vertretern desselben
zu rechnen, indem man zuweilen auf seine Worte, als auf die «Stimme
des Volkes» hinwies. Als schliesslich das zur Reife gekommene
Gemeingefiihl den heissenden Humor und die Satire in Gogol her¬
vorriefen, konnte auch dieser Schriftsteller dem Einfluss der konser¬
vativen Richtung nicht widerstehen, und widerrief bekanntlich in dem
zweiten Theil der «Todten Seelen» und in den «Ausgewählten
Stücken« die Ideen, denen er früher Ausdruck gegeben hatte,
indem er Meinungen und Ansichten äusserte, die eben so leblos
waren, wie das System, welchem er nun angehören wollte.
So gross war also der Einfluss jenes Systems auf das grosse
Ganze der Gesellschaft, dass sogar diese hervorragenden Dichter
denselben nicht widerstehen konnten. Dieser Einfluss der Autorität
trat im ganzen Leben jener Zeit hervor und es häte wirklich schei¬
nen können, dass das System dem Charakter des Volkes entspräche,
wenn man sah, wie sogar so grosse Geister sich in dasselbe einlebten
und mit dem Gange der Dinge aussöhnten!
In der Literatur nun, welche aus diesem System hervorging, zeigt
sich zwar eine gewisse Lebhaftigkeit, aber es ist mehr ein inhaltsloser
Lärm, als wahrhaftes Leben. Die Journalistik beschränkte sich fast
ausschliesslich auf literarische Gegenstände; den Inhalt bildeten: ein
flüchtiger Roman oder eine Novelle, flüchtige literarische Kritik, in¬
differente historische und andere Aufsätze, Reisebilder, Anekdoten.
Fragen des Gemeinwohls, sowie politische Gegenstände waren ganz
ausgeschlossen. Die einzige Zeitung, in welcher ein politischer Theil
existirte, war die «Nordische Biene». Eifrig suchte sie folgende An¬
sichten zu verbreiten: Russland und Europa, namentlich das konstitu¬
tionelle Europa, ständen zu einander in scharfem Gegensätze — Ord¬
nung und Ruhe wären auf der einen Seite, Aufruhr und Eigenmächtig¬
keit auf der anderen; Russland brauche Westeuropa durchaus nicht zu
beneiden, denn die angebliche Civilisation führe nur zum Atheismus
und zur Revolution; Russland habe nur auf jede Weise darauf be¬
dacht zu sein, sich vor Ansteckung zu bewahren.
Was die Literatur aber selbst betrifft, so finden wir in ihr dieselben
Züge, wie in der Journalistik. In der Poesie hatte die Romantik die
höchste Spitze ihrer Entwickelung erreicht; das Charakteristische
derselben bestand jetzt in dem Streben nach der eingebildeten Frei¬
heit poetischen Schaffens, welche jedoch nur auf einen mass-
losen Wortschwall bestand; in social-politischer Hinsicht — in
dem falschen, verkehrten Patriotismus, welchen die «Nordische Biene»
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vertrat. In diesem Stil schrieb Kukolnik seine romantisch-hochfah¬
renden und selbstgefällig-patriotischen Dramen; ihre Popularität be¬
weist, wie sehr sie nach dem Geschmack der grossen Masse waren,
welche an dem Wortschwall derselben hinlänglich Genüge fand.
Aehnlich stand es um die historischen Romane von Sagoskin, in
denen man vergebens nach historischem Kolorit suchen würde, die
sich statt dessen aber durch übergrosse Sentimentalität auszeichnen.
Auch in den von ihm dargelegten Ansichten lag Vieles, was ihn zum
Vertreter eines falschen Patriotismus und der konservativen Partei
machte. Zu derselben Gattung gehören auch die damals sehr beliebt
gewesenen Sittenromane. Dieselbe romantische Ueberschwenglich-
keit, denselben äusseren Glanz bei auffallender Inhaltlosigkeit findet
man auch auf anderen Gebieten der Kunst, in der Malerei und Skulp¬
tur, was z. B. die Bilder von Brüllow und einige in jener Zeit entstan¬
denen Monumente bezeugen.
Endlich sprach sich der herrschende Ton auch in den historischen
Anschauungen und Untersuchungen aus. Zum Theil waren es die
Ansichten Karamsin’s, die vertreten waren, theils fand man aber auch
neue, originale Zusätze. Drei Umstände wurden als die Grundzüge
russischen geschichtlichen Lebens hingestellt: erstens — das Selbst¬
herrscherthum, welches mit Rurik seinen Anfang nimmt; zweitens
— die Rechtgläubigkeit, welche, die Traditionen der ältesten Kirche
treu bewahrend, Russland vor dem verderblichen Sektenwesen Eu¬
ropa^ beschützt; drittens — die Volkstümlichkeit, — die Frucht
der neuesten Zeit und der neuesten Bestrebungen. Seit Peter dem
Grossen hatte Russland Vieles aus dem westlichen Europa herüber¬
genommen, und sich unter Anderem — wie man sagte — viele schäd¬
liche Ideen angeeignet; in der neuesten Zeit, hiess es, kehrt Russland
nun wieder zu den ersten Anfängen des russischen Nationalitätsprin¬
zips zurück, indem es nun die Früchte der Civilisation ohne das Ver¬
derbliche derselben empfängt.
Die Geschichte Russlands enthält nur ein Bild des allmählichen
Hinanstrebens zu dieser gesegneten Gegenwart, und die innere Ent¬
wickelung bestand nur in der Reihe von Massregeln, welche von der
regierenden Macht ausgingen, um die oben dargelegten Grundzüge
zu befestigen. Für die Historiker gab es in der russischen Geschichte
keine anderen Elemente historischen Lebens, ihrem Auge war der
Einblick in den inneren Kampf der Volksmassen verschlossen, sie
erblickten Nichts von den verschiedenen Erscheinungen des inneren
Lebens, deren Untersuchung für den modernen Historiker von so
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hohem Interesse ist Das Volk war in ihren Augen im Gegentheil
eine passive Masse, welche weder Stimme noch eigenes Urtheil be-
sass, und nur den Gegenstand für die Anordnungen von Seiten der
Regierung abgab. So wurde die Geschichte aus der Geschichte des
russischen Reiches, wie man sie bei Karamsin vorfand, zu einer ein¬
fachen Geschichte der Regierung. Die Volksmasse war roh und un¬
gebildet, — man gab ihr den Staat, das Licht des Christenthums,
brachte in das bürgerliche Leben Ordnung hinein, gab Gesetze u. s. w.
Es sind zwar Aufstände vorgekommen, aber sie waren nur die Folgen
ungezügelter Leidenschaft und Rohheit, und die Macht stellte die
unterbrochene Ordnung wieder her; es sind auch öffentliche Plagen
vorgekommen, aber das Volk «verstand* es, sie «ohne Murren» hin¬
zunehmen. Zu der Zahl der weisen Massregeln wurde auch die Ein¬
führung der Leibeigenschaft gerechnet.
Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, welche Züge die
aus den herrschenden Meinungen und Sitten hervorgehende Literatur
annehmen musste. Es war eine Literatur des Stillstandes, welche von
einer anderen Ordnung der Dinge, von einem anderen staatlichen
und historischen Leben keine Ahnung hatte; es kam nicht ein Mal
der Zweifel an die eigene Existenzberechtigung in ihr auf, und so er¬
hob sie die Verneinung jeder persönlichen und socialen Freiheit und
jeder Selbstthätigkeit zum Prinzip russisch-nationalen Lebens.
Es kann nun nicht schwer fallen, sich eine Vorstellung davon zu
machen, welche Stellung jener Theil der Literatur, welcher das pro¬
gressive Streben der früheren Zeit vertrat, unter solchen Verhältnissen
einnehmen musste. Bei ihrem ersten Auftreten wurde sie jenem Druck
unterworfen, der in einer ohne das Bedürfniss nach geistigem Fort¬
schritt lebenden Cresellschaft auf Allem lastet, was über das Durch¬
schnittsniveau hervorragt. Die Censur, in rücksichtsloser Weise aus¬
geübt, raubte dem Schriftsteller dieser Richtung jede Möglichkeit
geistiger Arbeit im Sinne seines Prinzips; sie zog ihm den Boden
unter den Füssen fort, da sein ganzes Denken als unerlaubt, als ausser¬
halb des Gesetzes stehend, er selbst für verdächtig erklärt wurde.
Und dieser Druck lag um so schwerer auf den Vertretern jener Rich¬
tung, als diese eine unbedeutende Minderheit bildeten, welche an
der Gesellschaft keine Stütze fand, und auf keine Sympathie rechnen
konnte, da die Selbstkritik und die Neigung zu derselben noch nicht
existirte. Dadurch wurde das literarische Wirken ausserordentlich
erschwert, zerstückelt, dem Zufall anheimgegeben, eine unregel-
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massige Entwickelung des geistigen Lebens hervorgerufen, die nur
sprungweise, unklar, verschwiegen, in raschen Aufwallungen vor
sich gehen konnte — eine Erscheinung, welche sich leider noch bis
jetzt in unserem geistigen Leben abspiegelt.
Diese Bedingungen muss man sich vor Augen halten, um den weni¬
gen Schriftstellern, welche die wahren Interessen der Gesellschaft ver¬
treten haben, vollkommen gerecht zu werden. Dass diese Bedingungen
aber auch auf den regelmässigen Gang der geistigen Entwickelung
ungünstig einwirken mussten, kann nicht Wunder nehmen. Denn weil
der Inhalt, den diese progressive Richtung der Literatur verbreitete,
eine verbotene Frucht war, weil die Wissenschaft nur bruchstückweise
zu uns drang, verfiel man oft in Einseitigkeiten und phantastische Ex-
centricitäten: es konnte nicht anders sein, wenn kein Gedanke bis zu
Ende gesprochen, kein Ausspruch allseitig beurtheilt werden konnte.
Trotz alledem war der Einfluss dieser literarischen Richtung be¬
deutender, als man es sich vielleicht denkt, denn sie unterhielt das
Interesse an unabhängiger Kritik und freier Untersuchung, indem sie
in der kleinen Zahl auserwählter Geister die Kräfte des Kampfes,
den besten Ausdruck für die geistige Bewegung der Zeit, und die
Bürgschaft der Zukunft in denselben vorfand.
Die Geistesarbeit der zwanziger Jahre wurde nun in erweiterter
Weise fortgesetzt; zwar blieb man für’s Erste den politischen Fragen
fern, denn man fühlte, dass die russische Gesellschaft dazu noch nicht
herangereift sei, aber dafür drang man in das Wesen der Sache tiefer
ein, indem man die gründliche Kenntniss der russischen socialen Zu¬
stände sich zum Vorwurf nahm, die Untersuchung der historischen
Vergangenheit und der augenblicklichen Gegenwart, die Erörterung
der geistigen und socialen Förderung des russischen Volkes.
Ungeachtet dessen nahmen die Vertreter der progressiven Litera¬
tur doch eine verneinende Stellung zu den herrschenden Meinungen
an: ihre abstrakten Vorstellungen, ihre Ideale stimmten zu wenig
mit der realen Wichtigkeit des russischen Lebens überein. Sie konn¬
ten sich mit den engen Grenzen, welche den nationalen Kräften ein¬
geräumt waren, nicht aussöhnen. In der Geschichte entdeckten sie
nationale Elemente, denen die Zukunft gehörte. Indem sie schon
jetzt das Wohl des Volkes in geistiger und materieller Beziehung,
als das Grundprinzip ihres Strebens hinstellten, näherten sie sich im¬
mer dem thätigen nationalen Leben; die Einen idealisirten das Volk,
weil sie in dieser philosophischen, historischen und poetischen Idea-
lisirung den Weg der Wiedergeburt erblickten; die Anderen suchten
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dieselbe Wiedergeburt in der kritischen Analyse der Wirklichkeit,
in der Erkenntniss der schwachen Seiten der Nation in Vergangen¬
heit und Gegenwart, darin den ersten Schritt zur Mündigkeit
erblickend.
In diesem Sinne hat sich diese literarische Richtung ein grosses
Verdienst erworben. Den hohen Anforderungen, welche sie theore¬
tisch an das nationale Leben stellte, den hohen Idealen und Zielen,
welche sie dem ernsten Geiste, dem ernsten Streben eröffnete, ver¬
dankt Russland viele von jenen socialen Ansichten und Meinungen,
welche jetzt Wurzel zu fassen beginnen, und viele von den socialen
Reformen, für welche die gegenwärtige Regierung in der Gesell¬
schaft eine rege Sympathie und die zur Ausführung derselben nöthi-
gen Kräfte vorfand.
Der Skepticismus in Tsohaadajew.
Wenn wir die Geschichte der geistigen Entwickelung Russlands
in den Jahren 1820— 1860 betrachten, und die Elemente unter¬
suchen wollen, welche die Reformen der Gegenwart vorbereitet
haben, so müssen wir vor Allem etwas bei der Persönlichkeit Tschaa-
dajew’s verweilen, der hinsichtlich der Opposition gegen das herr¬
schende System zu den bemerkenswerthesten Erscheinungen der
Epoche gehört, von der in unseren Aufsätzen die Rede ist.
Die historische BedeutungTschaadajew’s liegt darin, dass er Einer
von den Wenigen gewesen ist, deren Entwickelung in die Zeit der
napoleonischen Kriege und der liberalen Bewegung im zweiten Jahr¬
zehnt dieses Jahrhunderts fällt. Er bildete ein Glied in der Kette,
welche jene Zeit mit den dreissiger Jahren verband, welche zwei
Richtungen, zwei Sinnesarten, die einander durchaus entgegenge¬
setzt waren, aneinander knüpfte.
Seine erste Erziehung erhielt Tschaadajew in jenem beschränkten
Umfange, wie es damals in den aristokratischen Kreisen üblich war.
Es war eine oberflächliche Bildung für die Welt, welche er jedoch
durch eigene Kraft erweiterte und vertiefte: reich begabt, zeigte er
schon früh eine gewisse Reife; bei seinem lebhaften Geiste muss¬
ten ihn die neu auftauchenden Fragen natürlicher Weise fesseln, und
ihn dem Einflüsse der Zeit und des Zeitgeistes unterwerfen.
Tschaadajew war während der napoleonischen Kämpfe in die Armee
getreten, und hatte in Westeuropa den Feldzug gegen Frankreich
mitgemacht Hier musste das westeuropäische Leben, welches für
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mraer sein IdeaLgeblieben ist, einen mächtigen Einfluss auf ihn aus¬
geübt haben; und hier liegen auch die Wurzeln seiner Philosophie.
In den liberalen Kreisen der zwanziger Jahre hatte die Unzufrie¬
denheit mit dem Status quo eine hohe Stufe der Erbitterung erweckt.
Die angeregten Fragen der Moral und des Staatslebens fanden keine
befriedigende Antwort, und man strebte nun nach einem Ausgang
aus dieser erregten Gegenwart; in Tschaadajew nahm diese Stim¬
mung, seinem Charakter und seiner Gedankenrichtung gemäss, die
Form von abstrakten Untersuchungen an, aus welchen in Beziehung
auf das russische bürgerliche Leben ein immer stärker werdender
Skepticismus hervorging.
Dieser Skepticismus Tschaadajew’s hängt ohne Zweifel mit den
katholischen Ideen der Restauration zusammen, andererseits aber
auch mit der geistigen Entwickelung Russlands in den vorangegan¬
genen Zeiten. Und wenn derselbe bei Tschaadajew in so schroffer
Weise zum Ausdruck kam, so geschah es daher, weil er nicht für
dieOeffentlichkeit, sondern nur für seine Freunde schrieb, und daher
nichts zu verschweigen brauchte.
Die Ansichten Tschaadajew’s sprachen sich hauptsächlich in sei¬
nen «Philosophischen Briefen» aus, von denen nur der erste
im Jahre 1836 zum Abdruck kam. Dieser erste Brief ist jedoch
auch der Bedeutendste. Wir geben in Folgendem, so kurz als mög¬
lich, den Inhalt desselben wieder.
Der «Philosophische Brief» ist an eine Dame gerichtet, mit wel¬
cher der Verfasser über Religion gesprochen hat. Nach der Einlei¬
tung über die Zweifel, welche jene Unterredung hervorgerufen, geht
er gleich zu der allgemeinen Frage über, welche das Hauptthema
des Briefes bildet. Er sagt, dass auch für die Seele eine gewisse
Diätetik nöthig ist, wie für den Körper, und bemerkt darauf:
«Ich weiss, dass ich ein altes Wort wiederhole; aber in unserem
Vaterlande hat es den Werth der Neuheit.
«Es ist eine von den kleinlichen Sonderbarkeiten unserer gesell¬
schaftlichen Bildung, dass die in anderen Ländern schon längst be¬
kannte Wahrheiten, selbst bei in vielen Beziehungen auf niederer Kul¬
turstufe stehenden Völkern, bei uns eben erst entdeckt werden. Und
das kommt daher, weil wir niemals Hand in Hand mit den anderen
Völkern gegangen sind; wir gehören zu keiner von den grossenFami-
lien der Menschheit, weder zum Occident, noch zum Orient, wir
haben weder dieTraditionen der einen, noch der anderen. Wir schei¬
nen gleichsam ausserhalb derZeit zu leben, und die allgemeine welt-
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geschichtliche Bildung des Menschengeschlechts hat uns nicht be¬
rührt. Jenes wunderbare im Verlauf der Jahrhunderte entwickelte
Band der menschlichen Ideen, jene Geschichte der menschlichen
Erkenntniss, haben gar keinen Einfluss auf uns ausgeübt. Was bei
anderen Völkern schon längst in Fleisch und Blut übergangen ist,
ist bei uns noch bis jetzt ein blosses Theoretisiren....
«Es fehlt uns die regelmässige Lebenseintheilung....
«Blicken Sie um sich, Alles scheint gleichsam unterwegs zu sein.
Wir leben, als wären wir Wanderer. Niemand hat eine genau be¬
stimmte Sphäre seiner Existenz; es ist Nichts vorhanden, was Ihre
Sympathie, Ihre Neigung fesseln könnte; Nichts Beständiges, Nichts
Unveränderliches: Alles entflieht, weder äusserlich, noch im Innern
Spuren hinterlassend....
«Bei allen Völkern finden wir Perioden voll kräftiger, leidenschaft¬
licher Thätigkeit, Perioden jugendlicher Entwickelung, denen die
besten Erinnerungen, die Dichtung und die fruchtbarsten Ideen an¬
gehören. Hier liegt die Quelle ihrer Geschichte.. ..
«Wir haben Nichts Derartiges aufzuweisen. In der ersten Zeit fin¬
det man bei uns wilde Barbaren, dann einen rohen Aberglauben,
darauf eine grausame, erniedrigende Herrschaft der Eroberer, eine
Herrschaft, deren Spuren jetzt noch sichtbar sind. Das ist die trau¬
rige Geschichte unserer Jugend. Wir haben dieses Alter masslosen
Thatendranges, dieses poetischen Spieles der sittlichen Kräfte des
Volkes niemals besessen. Die Zeit unseres gesellschaftlichen Lebens,
welche diesemAlter entspricht, erfüllte ein dunkles Sein, ohne Farbe,
ohne Kraft und Energie. In unserem Gedächtniss finden sich
keine entzückenden Erinnerungen keine grossen, zur Nachahmung
anregenden Muster in den nationalen Traditionen. Wir leben in
einer gewissen Gleichgiltigkeit gegen Alles, vom engsten Horizont
umgeben, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. ...
DieVölkerlebennurinFolge der mächtigen Eindrücke derVergan-
genheit und der Berührung mit andern Völkern. Auch diese Bedin¬
gung ist bei uns nicht vorhanden. .. Wir sind als uneheliche Kinder
zur Welt gekommen, ohne Erbe, ohne Verbindung mit den Neben-
menschen ... Mit dem Hammer müssen wir uns das in den Kopf hin¬
einschlagen, was bei den Anderen aus Gewohnheit, aus Instinkt
erfolgt. Unsere Erinnerungen reichen nur bis an den vergangenen
Tag zurück. Wir wachsen, aber wir reifen nicht; wir rücken vor¬
wärts, aber auf einer Seitenlinie, die nicht zum Ziele führt...,
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Alle Völker des westlichen Europa^ haben eine gemeinsame
Physiognomie, das Resultat ihrer allgemeinen Geschichte, und dann
den eigenen individuellen Charakter. Die sie verbindenden Ideen
sind die Ideen der Pflicht, des Gesetzes, der Wahrheit, der Ord¬
nung. Wodurch sollen diese bei uns fehlenden Ideen ersetzt werden?
Uns fehlt die Gründlichkeit, die Methode, die Logik, der Syllo¬
gismus des Westens. Das ist ein allgemeiner Zug unseres Wesens,
der in Westeuropa nur vereinzelt auftritt.
Unserer Lage zwischen dem Orient und Occident gemäss, hätten
wir die beiden grossen Anfänge der Erkenntniss in uns verbinden
müssen: Phantasie und Vernunft. Aber in Wirklichkeit könnte man
denken, dass das allgemeine Gesetz der Menschheit für uns nicht
geschrieben sei. Pilger der Welt, haben wir dem Leben Nichts
gegeben, Nichts von demselben erworben, keine einzige Idee zu
der Masse der Ideen der Menschheit hinzugefügt; Nichts haben wir
zur Vervollkommnung der menschlichen Erkenntniss beigesteuert,
und Alles verunstaltet, was uns diese Vervollkommnung gegeben....
Ich wiederhole es: wir haben gelebt, wir leben als eine grosse Lehre
für die entfernten Geschlechter, welche diesen gewiss zum Nutzen
gereichen wird, aber gegenwärtig bilden wir eine Lücke im allge¬
meinen Erkenntnisprozess».
Darauf stellt Tschaadajew die Anfänge unseres Lebens jener Be¬
wegung entgegen, welche in Europa vor sich ging. Wirtraten —so
sagt er.— mit dem entnervten Byzanz in Verbindung, wurden darauf
die Beute der Eroberer, und blieben ausserhalb der historischen
Ideen, welche sich bei unseren westeuropäischen Brüdern ent¬
wickelten.
Eine grosse Masse von Kenntnissen, die jetzt den Stolz des
menschlichen Geistes bilden, waren damals schon durchdacht; der
Charakter der neuesten Geschichte schon bestimmt; es fehlten der
christlichen Welt nur die Formen des Schönen, und man fand die¬
selben, indem man auf die heidnischen Alterthümer zurückging. In
unseren Wüsten vereinsamt, haben wir Nichts von dem erblickt, was
in Europa vor sich ging, wir blieben theilnahmlos, während die
Welt sich entwickelte. . .. ?
Weiter spricht dann Tschaadajew von der Bedeutung des Chri¬
stenthums im westeuropäischen Leben, und von der Entwickelung
desselben, und schliesst seinen Brief mit dem Hinweis auf die Wieder- v
gebürt, welcher sich das russische Leben im Geiste der west-
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505
europäischen christlichen, speciell katholischen, Sinnes unterwerfen
müsste.
(Wir übergehen die anderen Briefe Tschaadajew’s, welche eine
weitere Entwickelung der im ersten Briefe ausgesprochenen Ge¬
danken enthalten, so wie die «Apologie eines Wahnsinnigen*, welche,
so bedeutend und interessant sie auch sonst ist, nur eine weitere
Ausführung der schon in den «Philosophischen Briefen» ausge¬
sprochenen Ideen ist).
Wenden wir uns nun zum Inhalt des ersten «Philosophischen
Briefes* zurück, so müssen wir zuerst auf die historische Bedeutung
desselben hinweisen, welche darin bestand, dass dieser Brief sich
mitten in der Periode der höchsten Entwickelung des konservativen
Systems in die schärfste Opposition zu demselben stellte. Während
der ganzen Periode hatte es Niemand sonst gewagt, ein so scharfes,
ernstes, trübes, schonungsloses Urtheil über die russische Vergan¬
genheit und Gegenwart zu fällen, einen so widerspruchslosen Skep-
ticismus zu äussern.
Dieser Skepticismus fand seinen Ursprung und seine Basis in der
geistigen Bewegung der zwanziger Jahre, welche die Folge des Ein¬
blicks in die westeuropäische Civilisation und in die socialen Zustände
Westeuropas war, und des Bewusstseins, wie unermesslich Russland
zurückgeblieben war. Tschaadajew war Zeuge des Aufschwunges un¬
ter den Mitgliedern der Geheimbünde gewesen, und zugleich auch
Zeuge ihrer Unreife und der Erfolglosigkeit ihrer Bestrebungen. So
kam es, dass der Skepticismus Tschaadajew's Alles in sich begriff,
was Literatur und Gesellschaft dem herrschenden System zu ent¬
gegnen hatten, indem er die vereinzelten Zweifel der ihm vorange¬
gangenen Zeit in ein System erhob, auf die Vergangenheit aus¬
dehnte und seinen Ideen eine doktrinäre Basis zu Grunde legte.
Die Masse der Gesellschaft trug nun bei dieser Gelegenheit ihren
ganzen Kleinmuthund ihre geistige Beschränktheit zur Schau: aus
allen Schichten der Gesellschaft ertönte derselbe Schrei der Em¬
pörung, der Verachtung, des Fluches gegen den Mann, der Russ¬
land zu beleidigen gewagt hatte, und die Moskauer Studenten sollen
sogar den Wunsch ausgesprochen haben, mit der Waffe in der
Hand dem frechen Beleidiger entgegentreten zu können. Nur eine
kleine aufgeklärte Minderheit fand den Aufsatz im höchsten Grade
helehrungswürdig und einer wissenschaftlichen Entgegnung werth.
Wäre eine freie Kritik möglich gewesen, so hätte man schon
damals auf die Mängel in den Ansichten Tschaadajew’s aufmerksam
Bw. Kam*. Bd. VII. n
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gemacht, aber sie unterblieb, weil Tschaadajew die Möglichkeit
der Vertheidigung genommen war. Obgleich es Niemanden ge¬
geben hat, der mit ihm vollkommen einverstanden gewesen wäre,
war jener Aufsatz doch ein bedeutendes Ereigniss. Auf Alle, die
zu denken gewohnt waren, machte er grossen Eindruck, denn es
war eine Arbeit, welche ihren Ursprung nicht der Routine ver¬
dankte, sondern welche der Ausdruck ernsten Denkens und tiefen
Fühlens war. Wenn die historische Theorie Tschaadajew’s auch
falsch war, so blieben doch noch jene Seiten in ihrer vollen Be¬
deutung stehen, welche der russischen Gegenwart gewidmet waren.
Der Standpunkt Tschaadajew’s war eben durch diese gänzliche Ver¬
neinung der Wirklichkeit so bemerkenswert!!. Man konnte sogar
sagen, dass er in der Verneinung noch weiter ging, als die ersten
Geister seiner Zeit, denn Niemand sonst, so scharf der kriti¬
sche Blick auch sein mochte, hatte so schonungslos die Schäden
des Gemeinwesens aufgedeckt, die nationalen Schwächen so züm
Bewusstsein gebracht, auf die Kindheit der russischen Civilisation
und der Selbsterkenntnis mit so schneidender Schärfe hingewiesen.
So wurde der Gegensatz zum herrschenden System öffentlich be¬
kundet und darin liegt eben die historische Bedeutung des Werkes
von Tschaadajew: er machte den ersten Versuch, die Bahn der
kritischen Selbsterkenntniss zu erschliessen.
Dadurch hat Tschaadajew zur Vernichtung der Selbsttäuschung
und des Selbstbetruges, —von je einer der Hauptfehler unserer
Bildung — so viel, wie nur Wenige ausser ihm, beigetragen. Indem
er das hohe Ideal der westeuropäischen Civilisation der russischen
Gesellschaft vor Augen stellte, regte Tschaadajew dieselbe zu¬
gleich an,.den Inhalt ihres Strebens zu erweitern, zu erheben, und
musste eben dadurch eine Reaktion der lebendigen Kräfte hervor-
rufen, welchem Lager sie auch zugehören mochten.
Der Skepticismus Tschaadajew’s, das Beispiel einer unabhängigen
Sinnesart, des Bestrebens, die philosophische Basis nationalen Lebens
fest zu bestimmen, des Versuches, diese Basis durch die historische
Entwickelung zu belegen. Daher stellte er die historische Kritik so
überaus hoch; sie musste alle historischen Phantome vernichten,
alle falschen Bilder zerstören, um die Vergangenheit in der richtigen
Beleuchtung zu zeigen, um Schlüsse irgend welcher Art auf die Ge¬
genwart daraus zu ziehen, und mit Zuversicht in die Zukunft blicken
zu können.
Diese Forderung historischer Kritik und der Einsicht in die Män-
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gelder Vergangenheit und Gegenwart, verbunden mit dem Hinweis
auf den unendlichen Vorzug der europäischen Civjlisation, bilden
das Wesendes Einflusses von Tschaadajew. So bildet der Skepti-
cismus Tschaadajew's den Ausgangspunkt der Entwickelung der
neuen Periode, welche in der Poesie durch das Auftreten Gogol’s
charakterisirt ist.
In dem persönlichen Charakter, sowie in der Thätigkeit Tschaada-
jew’s findet man viel Fehlerhaftes und Irrthümliches; aber die Schuld
hiervon trägt nicht er allein, es war zugleich auch die Folge der
lückenhaften Entwickelung des russischen Geisteslebens überhaupt.
Die vielfachen Bedrückungen und Unterbrechungen, welchen der
Gang der russischen Geistesbildung unterworfen war, traten auch in
Tschaadajew hervor: der eigenen Geisteskraft überwiesen, ohne die
Möglichkeit zu besitzen, seine Gedanken offen zu entwickeln, ohne
regelrechte Selbstkritik, fällt Tschaadajew neben den höchsten idea¬
len Forderungen, neben der tiefen Erkenntniss der Wirklichkeit in
die seltsamsten Verirrungen, welchen selbst seine eifrigsten Anhän¬
ger nicht beistimmen konnten. Sie erkannten die allgemeinen Züge
an, wiesen aber jene Erklärungen zurück, welche auf Rechnung sei¬
ner individuellen katholisch-mystischen Neigungen gesetzt werden
mussten..
Die Entwickelung der wissenschaftlichen Erkenntniss
des Volksgeistes.
Die wissenschaftlichen Forschungen über die nationale geistige
Entwickelung hatten in dieser Periode eine bedeutende Höhe er¬
reicht. Einige Zweige derselben, wie z. B. die Untersuchungen über
die nationalen Sitten und Traditionen, wurden damals zum ersten
Mal zum Gegenstand des Studiums gemacht; andere, wie z. B. die
Geschichte, wurden in erweitertem Umfange und auf andere Weise
betrieben. Den grössten Einfluss haben auf diese Forschungen die
deutsche Wissenschaft Und die deutsche Literatur ausgeübt, wobei
wir natürlicher Weise die bedeutende selbstständige Arbeit nicht in
Abrede stellen wollen. Trotz alledem hatte die europäische, und
namentlich die deutsche, Wissenschaft uns die Mittel zur «Selbster-
kenntniss» an die Hand gegeben, welche nicht allein die Folge der
Intuition des nationalen Volksgeistes war.
Dieser Einfluss musste auch in den erzielten Resultaten zu Tage
treten, und dies um so mehr, als die europäische, und namentlich die
deutsche Wissenschaft, mit deren Hilfe wir uns der Erforschung des
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Volksgeistes und der Geschichte hingaben, das ganz besondere Ko¬
lorit der Zeit an sich trugen.
Man kann sich davon leicht überzeugen, wenn man einen Blick auf
die Richtungen wirft, welche die wissenschaftliche Erkenntniss des
Volksgeistes heranbildeten. Seit dem achtzehnten Jahrhundert bietet
die Geschichte der geistigen Entwickelung Russlands das Bild eines
ununterbrochenen westeuropäischen Einflusses dar. Schon damals
spiegelten sich in der russischen Literatur und in der ganzen Bildung,
wenn auch nur schwach, die verschiedenen Richtungen westeuro¬
päischen Gedankenlebens ab. Zu Ende des vorigen und während der
ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts war dieser Einfluss in fortwäh¬
rendem Steigen begriffen, und wenn es früher meist nur ein ober¬
flächliches Nachsprechen war, so begann man jetzt tiefer in das
Wesen der Sache einzudringen, und den Inhalt westeuropäischer
Bildung ernstlich in sich aufzunehmen.
Im dritten Jahrzehnt findet man nun eine besonders stark ent¬
wickelte Neigung zur Erfassung der deutschen Philosophie in ihren
jüngsten Ausläufern. Von Kant »bis Hegel, mit allen ihren Schülern,
fanden alle Systeme mehr oder weniger eifrige Anhänger. Zu Ende
des vorigen, sowie zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde die Kanti-
sche Philiosophie auf allen russischen Universitäten von deutschen
und einheimischen Professoren gelehrt. Darauf kam Schelling an die
Reihe, endlich Hegel. Namentlich hat der Letztere einen ungemein
grossen Einfluss ausgeübt, und hat den bedeutenden literarischen
Grössen des vierten Jahrzehents als Basis gedient.
In dieser deutschen Philosophie hatte man eine vortreffliche Vor¬
bildung für die folgenden wissenschaftlichen Untersuchungen über
" den Volksgeist. Sie bahnte den Weg, indem sie die unklaren Vor¬
stellungen der früheren Zeit in ein System braohte, und eine neue
Grundlage für die Entwickelung der Begriffe des Volksthums, des
Staates, der bürgerlichen Gesellschaft festsetzte. Dazu kamen noch
die Geschichte des Rechts, die vergleichende Sprachwissenschaft
und Mythologie, die Geschichte und Ethnographie, die allmählich in
Russland Eingang fanden und zur Vertiefung der Bildung beitrugen.
Der Einfluss dieser westeuropäischen, und namentlich deutschen,
Wissenschaft war ein im höchsten Grade günstiger. Aber mit ihr
zugleich kamen auch jene Einzelheiten und Richtungen herüber,
welqhe sich in der westeuropäischen Wissenschaft ihrer historischen
Entwickelung gemäss herangebildet hatten. So sprachen sich in der
deutschen Wissenschaft die Tendenzen deutschen Geisteslebens
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während der ersten Jahrzehnte aus —, Tendenzen, in denen sowohl
die revolutionären, als auch die reaktionär-romantischen Ideen ihren
Ausdruck fanden. Obgleich dieselben die unabhängige kritische
Untersuchung nicht beeinflussen konnten, so sprachen sie sich doch
in dem allgemeinen Ton der Werke aus. So fassten diese Eigenheiten
westeuropäischer Wissenschaft auch in der russischen Bildung Wur¬
zel, so dass Russland nicht nur die Mittel zur Selbsterkenntniss der
westeuropäischen Wissenschaft verdankt, sondern auch einige eigen-
thümliche Tendenzen, welche man als Ausflüsse der historischen und
socialen Reife aufzufassen nur zu geneigt war, wie z. B. das Slayo-
philenthum.
Wenden wir uns nun zuerst zur Historiographie. Den Ausgangs¬
punkt bildete hier natürlich Karamsin's «Geschichte des russischen
Kaiserreichs», welche die vorangegangene Periode der russischen
Gesichtsschreibung beschliesst. Karamsin’s historischen Anschauun¬
gen lagen die Ideen und die Sinnesrichtungen des XVIII. Jahrhunderts
zu Grunde: in seinen Augen war die Geschichte nur die Kunst der
Geschichtsschreibung; in den Details hat er viele bemerkenswerthe
Erörterungen zu Tage gefördert, aber kein einheitliches historisches
System zu Stande gebracht; eine übertriebene Idealisirung des Alter¬
thums und der Wunsch, die «Geschichte des Kaiserreichs» mit Rurik
zu beginnen, hatten eine ganz falsche Anschauung über die ersten
Jahrhunderte russischer Geschichte zur Folge; das Verlangen, zu
poetisiren, zu verschönern, fand oft in einer prunkenden Rhetorik
ihren Ausdruck.
Die Forscher, welche ihm folgten, kamen bald über diese schwachen
Seiten Karamsin’s zur Einsicht, und namentlich war es Katschenowsky
(starb im Jahre 1842), der eine andere Methode einschlug und der
Begründer der sogenannten skeptischen Schule wurde. Sein Ver¬
dienst besteht in der unablässigen und eifrigen Vertheidigung des
kritischen Prinzips und der Berechtigung des historischen Skepticis-
mus. Die einzige Autorität, die er anerkannte, war die wissenschaft¬
liche Kritik. Sein Vorbild darin war Schlözer, den er auch gegen die
Ausfälle, die er als Ausländer zu erleiden hatte, hartnäckig verthei-
digte. Darauf bezeichnet die Bekanntschaft mit Niebuhr und den
Prinzipien seiner Geschichtsschreibung den zweiten Schritt in der
inneren Entwickelung Katschenowky’s, wonach er in seiner Kritik
immer kühner wurde, und sogar sein erstes Vorbild, Schlözer, in den
Hintergrund stellte,
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’ Der Skepticismus Katschenowsky's hat sich nun in den wesent¬
lichsten Punkten als unhaltbar erwiesen; aber wenn man untersuchen
wollte, wem das Verdienst, die sentimentale Idealisirung der ersten
Zeiten russischer Geschichte bei Karamsin in ihrer ganzen Falschheit
dargelegt zu haben, gebührt, so muss man dasselbe in bedeutendem
Grade Katschenowsky zuschreiben. Er zuerst hatte auf die Nothwen-
digkeit hingewiesen, dass die Nachrichten über die älteste Geschichte
Russlands einer strengen Kritik unterworfen werden müssten, und
wenn er in derselben auch zu weit gegangen ist, so hat doch er zuerst
einer gesunderen Anschauung des russischen Alterthums Bahn gebro¬
chen, als es bei Karamsin der Fall war.
Nächst Katschenowsky ist Polewoi eine bedeutende Erscheinung in
der russischen Historiographie. Obgleich seine «Geschichte des russi¬
schen Volkes» nun vergessen ist, so war sie doch flir die Zeit, in welcher
sie geschrieben wurde, höchst bemerkenswerth. Wie Katschenowsky,
war auch Polewoi bestrebt, jene Methode in Anwendung zu bringen,
welche sich damals in der westeuropäischen Wissenschaft entwickelt
hatte. Er liess den Vorzügen Karamsin’s volle Gerechtigkeit wider¬
fahren, erkannte zugleich aber auch die Mängel desselben. Seine
Vorbilder waren Niebuhr (dem er seine Geschichte gewidmet hat),
Guizot, Thierry und Heeren. Sein Ziel war es, eine «philosophische»
Geschichte zu schreiben, welche nicht nur die äusseren Ereignisse
wiedergeben, sondern den inneren Zusammenhang derselben dar¬
legen, ihre natürliche und nothwendige Folgerichtigkeit beweisen
sollte. Daher schreibt er eine Geschichte «des Volks», nicht des
«Reichs».
Die Ausführung entsprach nicht den Anforderungen, die er selbst
gestellt hatte; nichts destoweniger sind manche treffende Bemer¬
kungen über dies «innere» Leben in seiner Geschichte vorhanden,
und Forderungen an die Geschichtsschreibung gestellt, welche nicht
mehr zurückgewiesen werden konnten, und die in dem eifrigen Drin¬
gen auf ein eingehenderes Studium der westeuropäischen Historiker
bestanden.
Im dritten Jahrzehnt herrschte in der russischen Wissenschaft ein
ganz besonderes reges Leben, und man könnte sagen, dass in dieser
Zeit eine neue Periode für die russische Historiographie begann. Den
äusseren Anstoss dazu gab die Regierung durch die Begründung
einer archäographischen Expedition, und durch die Massnahmen zur
Heranbildung von Professoren für die russischen Universitäten.
Bis dahin war die Herausgabe historischer Denkmäler fast aus-
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* SU
schliesslich die Sache von Privatleuten gewesen; jetzt würdevoll
der Regierung die archäographische Expedition ausgerüstet, welche
eine Rundreise durch einen bedeutenden Theil Russlands machte,
und viel historisches Material aufsammelte, worauf eine archäogra¬
phische Kommission die Herausgabe desselben in die Hand nahm;
diese Dokumente bildeten dann die Basis vielfacher Untersuchungen
über das russische Alterthum.
Andererseits wurden viele angehende Professoren ins Ausland
geschickt, um dort ihre Studien zu vollenden. Obgleich die Regie¬
rung ihre eigenen utilitaren Zwecke verfolgte, so fand auch sie,
dass die einzige Möglichkeit, diese Zwecke zu erreichen, in der Be¬
kanntschaft mit der deutschen Wissenschaft wurzelte. Damals
hatten die deutschen Universitäten noch nicht den verdächtigen
Ruf, der ihnen später in Russland zu Theil geworden, weil zu jener
Zeit die zur preussischen Staatsphilosophie erhobene Philosophie
Hegel’s und die konservative Richtung Savigny's dort herrschten.
Diese Reisen waren auf die jungen Gelehrten von grossem Einfluss,
und aus den Biographien derselben und ihren eigenen Schilderungen
ersieht man, wie tief der Eindruck war, den die Berühmtheiten der
deutschen Wissenschaft auf die jungen Leute machten. Einige
trafen noch Hegel, und nach ihm seine nächsten Schüler; die Ju¬
risten hörten Savigny, Klenze, Eichhorn, Rudorf, Hans; die Ju¬
risten und Historiker — Ranke, Ritter, Böckh, Schleierraacher
u. s. f. Schon in dem folgenden Jahrzehnt zeigten sich die Resultate
dieses Studiums; einerseits wandte man zum ersten Male eine
strenge Kritik bei der Untersuchung der Denkmäler an; anderer¬
seits zeigte sich überhaupt eine Erweiterung des historischen Stand¬
punktes.
In dem folgenden, vierten Jahrzehnt, setzten die russischen Ge¬
lehrten, wenn auch in geringerer Zahl, die Reisen ins Ausland fort.
In dieser Zeit tauchte noch ein neuer Zweig der wissenschaftlichen
Forschung auf — das Studium der slavischen Sprachen und Völker¬
schaften, und es wurden wieder mehrere Gelehrte in die slavischen
Länder geschickt. Diese Forscher: Bodjansky, Gregorowitsch, Ssres-
newsky, wurden dann die eigentlichen Begründer der wissenschaft¬
lichen Erforschung des Slaventhums.
Unter diesen Einflüssen entsteht in der russischen Geschichts¬
schreibung, namentlich was Russlands älteste Geschichte betrifft,
eine neue Richtung, welche ganz besonders durch Ssolowjew charak-
terisirt wird. Die Eigentümlichkeit derselben trat gleich bei dem
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ersten Zusammenstoss mit der alten Schule, welche Pogodin vertrat
und noch vertritt, zu Tage.
Die historischen Untersuchungen Pogodin’s betrafen meist die
älteste Periode der russischen Geschichte, wobei seine Kritik sich
immer nur auf Einzelheiten einliess, rein äusserlich war, denn es
verband sich mit derselben eine Feindschaft gegen jede Verallge¬
meinerung, welche den Zusammenhang der Thatsachen hätte auf¬
klären, auf ihre Folgerichtigkeit, ihre Bedeutung hinweisen, mit
einem Worte: die innere Entwickelung der Geschichte darlegen
können; bei ihm, als einem Gegner des «höheren Standpunktes»,
existirt natürlich keine vollkommen entwickelte Anschauung über
das Ganze der russischen Geschichte, und wenn er es versucht, die
Schicksale des russischen Volkes zu erklären, so endigen seine Be¬
trachtungen mit leeren Phrasen über die Herrlichkeit Russlands,
über die gewaltige Grösse des Reichs, über die unerforschlichen
Schicksale, u. s. w. Die russische Geschichte ist ihm aus einer
Reihe von Wunderthaten zusammengesetzt, welche er betroffen an-
Staunt, mit Ehrfurcht betrachtet, und bei denen er sich von heiligem
Schauer ergriffen fühlt. In Folge dieses Mysticismus war ihm auch die
russische Geschichte der Gegenwart die beste der Welt. Wenn er die
alte russische Geschichte mit der westeuropäischen verglich, so
fand er in der letzteren eben so viel Unverstand, Ungerechtigkeit
und Unterdrückung, wie in der'ersteren Vernunft, patriarchalische
Güte und Tugend, und seine Selbstgewissheit ging so weit, dass er
Deutschland mit den am wenigsten entwickelten-russischen Gouver¬
nements auf eine Stufe oder, wie er sich ausdrückte, unseren «fünf¬
zigsten Gouvernements» gleich stellte.
Die ersten Arbeiten Ssolowjew’s wurden nun von der historischen
Schule, deren Repräsentant Pogodin war, des Leichtsinns und fast
der Durchführung unredlicher Absichten angeklagt, und die Auf¬
stellung eines unberechtigten «höheren Standpunktes» ihm zum
Vorwurf gemacht. Aber man wollte nicht einsehen, dass es jetzt
nicht mehr willkürlich ausgedachte Theorien waren, denen man un¬
genügend beleuchtete und untersuchte Thatsachen unterlegte, son¬
dern genau bestimmte allgemeine Schlüsse, welche aus der Reihen¬
folge der Thatsachen entsprangen, und welche die lezteren be¬
stätigten.
In seiner Rede, bei Gelegenheit der Vertheidigung seiner Disser¬
tation: »Geschichte der Beziehungen zwischen den russischen
Fürsten des Hauses Rurik» (1847) äusserte Hr. Ssolowjew, dass
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man sich lange um die Eintheilung der russischen Geschichte be-
Tcümmert hätte, und dass es nun an der Zeit wäre, dieselbe wieder
■zu einem Ganzen zusammenzufassen, man müsse erst den Orga¬
nismus einer lebendigen Geschichte schaffen, dann würden sich die
natürlichen und nothwendigen Theile von selbst ergeben. Das war
ein Standpunkt, der bis dahin in der russischen historischen Lite¬
ratur noch nicht zur Anwendung gekommen war, denn jetzt wurden
die oberflächlichen Vorstellungen über die Epochen der russischen
Geschichte zur Seite geschoben, und auf die organische Entwicke¬
lung desselben hingewiesen.
Diese neue Richtung, welche viele bedeutende Anhänger fand
war von jeder Routine frei, und brachte viele neue Methoden in die
historische Erforschung des nationalen Lebens als eines Ganzen
hinein. Die Vertreter derselben standen auf der Höhe der histori¬
schen Wissenschaft ihrer Zeit. Die Geschichte war ihnen nicht mehr
eine todte Nomenklatur der Thatsachen im Schmuck der Rhetorik,
sondern eine theoretische Erklärung eines lebendigen, sich nach ge¬
wissen Gesetzen entwickelnden Organismus. Daher erschien ihnen die
Neuzeit schon nicht mehr abgerissen von der Vergangenheit, daher
sympathisirten sie mit den Interessen der Literatur, welche für sie
eine Quelle fruchtbarer Anregungen enthielt.
Die neue Schule richtete ihre Aufmerksamkeit ganz besonders
auf die allgemeinen Formen des nationalen Lebens, auf die Idee der
Gesetze, auf die Entwickelung der Institutionen, u. s. w. Indem man
"auf diese Weise die allmähliche Entwickelung der politischen Formen
beobachtete, trug man dieselbe Methode auf die Mythologie über,
auf die Untersuchung der Sitten und Traditionen. In dieser Bezie¬
hung sind namentlich die Werke Kawelins bemerkenswerth, welcher
zum ersten Mal den Versuch einer eingehenden Erörterung der Er¬
scheinungen dieses inneren Lebens der Nation machte.
In derselben Zeit begann unter dem Einflüsse der deutschen Wis¬
senschaft, welcher Russland viel zu verdanken hat, die Erforschung
der russischen Sprache und der Mythologie, vom Standpunkte der ver¬
gleichenden Sprachwissenschaft und der vergleichenden Mythologie,
welche namentlich Hr. Busslajew und Hr. Afanassjew mit Erfolg
betrieben.
Die poetischen und mythologischen Bilder des russischen Alter¬
thums erscheinen nun in einer ganz anderen Beleuchtung. Man drang
viel tiefer in den Gegenstand ein, indem man bis in jene Zeiten hin¬
aufstieg, wo der slavische Volkstamm dem allgemeinen arischen
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Urtypus noch nahe stand. Dann verfolgte man in vergleichender
Weise die weitere Entwickelung des Mythos, die verschiedenen Um¬
wandlungen desselben, bis die alte Weltanschauung auf das Christen¬
thum stiess, und theilweise unter dem Einflüsse der neuen Religion
verschwand, zum andern Theil selbst dem Christenthum ein beson¬
deres Gepräge aufdrückte. Die Geschichte der nationalenTraditonen
zeigte sich nun zum ersten Mal in ihrem wahren Lichte. Die neue
Kritik war Vieles aufzuhellen im Stande, was unerklärbar erschien, sie
vermochte aut die innige Verbindung und Folgerichtigkeit da hin¬
zuweisen, wo man früher nur den Zufall suchte und fand — das be¬
wies, dass die Kritik den richtigen Weg eingeschlagen hatte.
Das sind im Allgemeinen die Züge der wissenschaftlichen Erfor¬
schung des Volksthums bis zu jener Zeit, wo die gegenwärtige
Periode begann. Um nun diese nur von wenigen hervorragenden
Geistern erworbenen Anfänge der Selbsterkenntniss und der Selbst¬
ständigkeit dem anderen Theile der Gesellschaft übergeben zu kön¬
nen, war es nöthig, dass der praktische Werth der gewonnenen Re¬
sultate zur Klarheit gebracht werde. Die Literatur aber war zu sehr
beeinflusst und gebunden, um dies ausführen zu können. So kam es,
Hacs in der Masse der Gesellschaft die unklarsten Anschauungen
über die theoretisch gewonnenen Resultate herrschten, und dass die¬
selben gar nicht ins Leben hineindrangen, weil sie daselbst keine
Stütze fanden.
Auf diese Weise war jn dieser Periode im Vergleich mit der vor-
angegangenen eine grosse Veränderung vor sich gegangen. Die frü¬
heren romantischen Anschauungen starben immer mehr aus, an die
Stelle des früheren romantischen Interesses für das Volk tritt ein po¬
sitives, auf wissenschaftliche Erkenntniss basirtes. Die historischen
und ethnographischen Untersuchungen gipfelten in dem Bestreben
in den Kern des nationalen Lebens einzudringen, und wenn dieses
Ziel auch nicht gleich erreicht wurde, wenn Fehler und Irrthümer
mit unterliefen, so standen diese Forschungen doch im Ganzen auf
einer höheren Stufe, als es während der romantischen Periode im
dritten Jahrzehnt der Fall war.
Wenn wir nun auf die Erforschung des nationalen Lebens in der
neuesten Zeit einen Blick werfen, so finden wir, dass sich der Um¬
fang derselben bedeutend erweitert hat. Die historische Untersuchung
wendet sich neuen Stoffen im Geiste einer neuen Richtung zu.
Ein Ausfluss dieser neuen Richtung in der Historiographie ist die
sogenannte föderative Theorie. Diese Theorie stand vor Allem zu
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der Centrallsationstheorie im Gegensatz, indem ihr zufolge neben
dem Strome staatlicher Entwickelung noch ein Strom nationalen
Lebens als bestehend hingestellt wurde, ein Strom, welcher sich nicht
immer mit dem ersten vereinigte. Die Vertreter dieser Theorie gaben
es nicht zu, dass das Volk, nachdem es ein Mal den Staat gebildet
sich von jeder Autonomie losgesagt und dieselbe unentwendbar dem
Staate übergeben hätte; der Staat war vom Standpunkte dieser Theorie
durchaus keine so ideale Institution, welche ein für alle Mal geschaffen
wird, und eine unfehlbare Autorität bleibt, sondern im Gegent hei
eine ganz gewöhnliche Institution mit vorübergehenden Formenl
deren Charakter in letzter Instanz durch die Vorstellungen und die
Bedürfnisse der Masse bestimmt wird. Was in den nationalen Bewe¬
gungen der früheren Jahrhunderte von den Anhängern der Centrali¬
sationstheorie als «anti-staatlich» bezeichnet wurde, war vom Stand¬
punkte der föderativen Theorie eine Kundgebung der natürlichen
Instinkte des nationalen Lebens, wejche zwar in eine falsche Bahn
gerathen konnte, nichts destoweniger aber vollkommen natürlich und
gesetzmässig waren, und nur daher anti-staatlich wurden, weil ihnen
in dem bestehenden Staate nicht Genüge gethan wurde. Die natio¬
nalen Bewegungen der alten Zeit enthalten nicht den Kampf der ab-
Jebenden nationalen Autonomie mit dem neuen staatlichen Elemente
welchem allein die Zukunft gehört, sondern im Gegentheil den Streit
zweier Elemente, welche beide gleich berechtigt sind; wenn den Um.
ständen der Zeit gemäss, der Staat den Sieg gewann, so ist damit
eine neue Lösung der nationalen Frage in der Zukunft doch nicht
aufgehoben.
So beginnt nun, wie man sieht, zugleich mit der Entwickelung de
historischen und ethnographischen Studien, ein regeres sociales und
nationales Leben, welches in den wissenschaftlichen Theorien zum
Ausdruck kommt.
Die nun beginnende Zeit der Reformen im inneren Leben Russ
lands machten ferner die Erforschung neuer Seiten nationalen Seins
möglich. Die Basis dieser Reformen war die Aufhebung der Leib¬
eigenschaft. - Die beiden Beweggründe dieser Reform entsprangen:
der moralische — aus dem Erkenntniss des ungerechten Druckes,
der auf einem grossen Theil des Volkes lastete, und der materielle —
aus der Ueberzeugung von dem schädlichen Einflüsse der Leibeigen¬
schaft auf die ökonomische Lage des Landes. Beide Beweggründe
kamen erst jetzt, als die Möglichkeit der offenen Besprechung dieser
Institution gegeben war, zum rechten Bewusstsein. Diese Reform-
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frage war so richtig, griff so bedeutend in das ganze staatliche und
nationale Leben Russlands hinein, dass man wohl ohne Uebertrei-
bung sagen kann: erst mit der Bauernfrage beginnt in der russischen
Gesellschaft das Bestreben der Selbsterkenntnis, der Ergründung
der Elemente und des Inhaltes des eigentlichen nationalen Lebens.
Erst die Aufhebung der Leibeigenschaft machte die Beleuchtung des
Begriffes «Volk» im rechten Lichte möglich, indem das Volk nun
aufhörte, eine seltsame Fiktion und eine traurige Ironie zu sein.
Die Gewährung des Bürgerthums an das leibeigene «Volk» musste
natürlicher Weise von einer grösseren Aufmerksamkeit für die Schick¬
sale der Volksmassen begleitet sein. So verbesserte die föderative
Theorie, welche in dieser Zeit aufkam, die früheren Anschauungen,
indem sie ausführte, dass die nationalen Bewegungen der vorange¬
gangenen Geschichte nicht «anti-staatliche» Gährungen waren, son¬
dern im Gegentheil Kundgebungen nationaler Elemente und natür¬
licher nationaler Bestrebungen. In demselben Sinne begann man
jetzt die Erforschung der religiösen nationalen Bewegung — des
Raskol. Man fand, dass man den Ursprung desselben nicht in den
aufrührerischen Neigungen der ungebildeten Masse, sondern in dem
ganzen Zustande der Zeit, in welchem er entstanden war, zu suchen
hätte. Man ging sogar noch weiter. Man erklärte, dass diejenigen
Begriffe, welche später als dem Raskol besonders zugehörig betrachtet
wurden, den eigentlichen Inhalt der Weltanschauung des Volkes im
siebenzehnten Jahrhundert bildeten, d. h. die eigentliche Religion des
Volkes in jener Zeit. Die Wurzeln dieser Religion lagen in den voran¬
gegangenen Jahrhunderten, als das Christenthum zuerst die Gemüther
erfasste, aber bei dem niedrigen Zustande der Civilisation des Volkes
nicht in der vollen Reinheit aufgenommen werden konnte, wie die
Dogmatik der späteren Zeit es forderte, sondern unter dem Einfluss
der frühere# Anschauungen Eingang fand, ^s dann der Patriarch
Nikon die dogmatische Reinheit gewaltsam wahren wollte, nahm das
Volk natürlich die alten Traditionen in Schutz, in welchen es den
«wahren» Glauben erblickte. Später von der Regierung verfolgt,
gerieth der Raskol auf verschiedene Irrwege, blieb aber doch seinen
religiösen Traditionen treu.
Eine solche Erklärung stand der Wahrheit jedenfalls näher, als
die früheren Auffassungen, und zeigte ausserdem eine rege Liebe zum
Volke. Zugleich sprach sich aber auch in der Literatur eine neue
Auffassung aus, welche die Forderung religiöser Toleranz und der
Gewissensfreiheit aussprach, eine Forderung, welche Russland nur
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den Ideen der westeuropäischen Civiisation zu verdanken hat, und
von welcher in den Traditionen der russischen Geschichte keine Spur
zu finden ist.
Ferner gehört der letzten Zeit die sehr verbreitete Neigung für
die neueste Geschichte Russlands. Bis dahin gab es nur eine rein offi-
cielle Geschichte oder eine Kriegsgeschichte, und so war die Erfor¬
schung der Begebenheiten des vorigen und des laufenden Jahrhun¬
derts in ihren eigentlichen bewegenden kleinen und grossen Ursachen
eine ganz neue Erscheinung. Wenn im Grunde auch keine abge¬
schlossenen Werke existiren, wenn es meist nur rohes Material ist,
was dem Publikum geboten wird, so hat es demselben doch einen
interessanten Einblick in bis dahin unzugängliche Zustände erschlos¬
sen. Wie ungenügend auch im Ganzen die Lage der Literatur der
neuesten russischen Geschichte bis jetzt noch ist, so bildet sie doch
einen vortheilhaften Gegensatz zu dem, was noch ein Jahrzehnt früher
existirte.
Endlich ist die neue Periode des socialen Lebens noch durch einen
neu eröffneten Stoff der Forschung bemerkenswerth — die Erfor¬
schung der ökonomischen Verhältnisse Russlands. Früher sehr in
Grenzen gehalten, kam dieser Gegenstand erst jetzt mit der Aufhe¬
bung der Leibeigenschaft zu seiner vollen Geltung, indem er unend¬
lichen Reichthum an Material darbot zur Erkenntniss des wirklichen
nationalen Lebens. Zum ersten Mal that sich vor den Augen des
Publikums ein wahres Bild nationaler Zustände und des Lebens des
Volkes auf, und so wurde der Gesellschaft, welche sich so lange vom
Volke fern gehalten hat, nun wieder die Möglichkeit gegeben, das
moralische Band wieder fester zu knüpfen, welches allein die Basis
echter Bildung und segensreicher Entwickelung abgeben kann.
In dieser ganzen geistigen Bewegung nun, welche mit dem Krim¬
kriege ihren Anfang genommen hatte, findet man nicht wenig Merk¬
male wahrhafter nationaler Selbsterkenntniss, und jetzt erst begann
in Wirklichkeit das offene Wirken der öffentlichen Meinung und der
Literatur auf dem Gebiete der inneren Politik.
Was aber die Mittel betrifft, durch welche diese Selbsterkenntniss
gewonnen wurde, so muss doch wieder darauf hingewiesen werden,
dass die wissenschaftliche und theoretische Basis derselben auf den
Lehren westeuropäischer Wissenschaft und westeuropäischer Erfah-
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rung ruht, wenn diese Selbsterkenntniss auch aus den natürlichen in¬
neren Bedürfnissen der geistigen Entwickelung hervorgegangen ist l .
W. Belinsky und seine Kritik.
Im dritten Jahrzehnt beginnt im russischen Geistesleben die Ent¬
wickelung einer neuen Richtung, welche erst im vierten Jahrzehnt
vollkommen heranreifte, und die gewöhnlich mit dem Namen W. Be-
linsky’s verbunden wird. Die Slavophilen gaben ihr den Namen der
•westeuropäischen Richtung», jetzt aber pflegt man sie «die Rich¬
tung des vierten Jahrzehnts» zu benennen. Der Name Belinsky’s
kann gerechter Weise bei dieser Richtung verbleiben, denn wenn er
auch nicht der leitende Repräsentant derselben war, so ist er doch
einer der feurigsten Anhänger der neuen Ideen gewesen, und ohne
Zweifel ihr thätigster und beredtester Apologet.
Die Richtung Belinsky V bildet die Hauptbasis der literarischen
und socialen Bewegung innerhalb des vierten Jahrzehnts: sie spie¬
gelt in vollkommener Weise die Kraft und das Wesen des geistigen
Lebens in jener Periode ab; sie ist zugleich der Ausgangspunkt der
progressiven Bestrebungen unserer Tage.
Die Richtung Belinsky’s nahm ihren Anfang in einem kleinen
Kreise junger Leute an der Moskauer Universität, bei denen die
HegePsche Philosophie die Basis bildete, welche allen ihren An¬
schauungen zu Grunde lag. Wie in Deutschland, so hatte dieses
philosophische System auch in Russland auf alle jungen Gemüther
einen mächtigen Eindruck gemacht. Alles, was im Geiste dieses
Systems in Deutschland geschrieben wurde, verschlang man mit
unersättlichem Interesse und verbrachte ganze Tage nnd Nächte in
unermüdlichen Diskussionen über jeden Paragraphen, über jedes
Wort der philosophischen Lehre Hegel’s. Dieser Enthusiasmus für
die neue Philosophie beseitigte mit einem Schlage die früheren ro¬
mantischen Theorien, und machte nun zum ersten Mal eine fast be¬
stimmte, rationelle Kritik möglich.
Aber trotz des Enthusiasmus für die neue Lehre wandte man
sich derselben doch mit einem gewissen kritischen Sinne zu, und
verarbeitete sie in vollkommen selbstständiger Weise.
Daher ist siein jenemKreise nie zu einem starren Dogma geworden,
sondern hat nur die Basis der weiteren Entwickelung abgegeben.
1 Die nun folgenden Kapitel «Die russischen Slavophilen» und: «Der Dichter Gogol»
findet der Leser in Bd. II. p. 45 f., 160 ff. und 261 ff. und Bd. III. p. 240 ff. der
•Russischen Revue».
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Diese Entwickelung nahm nun einen ganz natürlichen Verlauf.
Belinsky und seine Freunde konnten auf dem ersten philosophisch¬
idealistischen Standpunkt nicht stehen bleiben. Verschiedene Um¬
stände trugen dazu bei, dass der abstrakte Gedanke sidi der Wirk¬
lichkeit zu nähern begann und eine andere Bahn einschlug.
Diese «Wirklichkeit», welche bis jetzt theoretisch erklärt worden
war, musste mit jedem Schritt in das praktische Leben hinein an
Klarheit zunehmen, und die unüberwindlichen Schwierigkeiten der
Versöhnung derselben mit der «Vernünftigkeit» mussten Belinsky
sogleich in die Augen fallen. Die Lebenserfahrung hatte ihm schon
früh die düsteren Seiten der'Wirklichkeit aufgedeckt, deren theo¬
retische Versöhnung keine leichte Sache war. Als er dann endlich
aus Moskau nach St. Petersburg übersiedelte, befreite ihn das Leben
in dieser Stadt immer mehr und mehr von dem Selbstbetrug der ab¬
strakten Theorien: der Einfluss der «Wirklichkeit» war hier beson¬
ders stark und fühlbar, and man musste ganz besonders zur Selbst¬
täuschung geneigt sein, um auch jetzt noch bei den früheren ideali¬
stischen Anschauungen zu verharren.
Ausserdem traten noch andere Einflüsse hinzu, welche ihn in seinen
neuen realistischen Ideen bestärkten.
Die Haupteigenthümlichkeit des Talentes von Belinsky bestand in
der Fähigkeit eines lebendigen Verständnisses der Kunst, seinHaupt-
verdienst in der Heranbildung der russischen Kritik und der Ge¬
schichte der russischen Literatur vom ästhetischen Standpunkte. In
dem ersten Artikel, mit welchem er das kritische Gebiet betrat,
stellte er gleich die theoretischen Begriffe fest, aus welchen sich
dann allmählich seine späteren Anschauungen entwickelten. Seine
ästhetische Kritik begann mit der Theorie des unbewussten Schaf¬
fens; aber im selben Masse wie der philosophischeNebel von seinen
Augen fiel, verliess er allmählich den ursprünglichen Standpunkt, und
wandte sich immer mehr und mehr der Theorie des bewussten
Schaffens und den Forderungen des Lebens und der Gesellschaft zu.
Die Kunst ist ihm dann nicht mehr das unbewusste Schweben des
Künstlers in höheren Sphären, sondern bloss einMittel des Ausdrucks
für die Lebenserscheinungen, zur Erklärung des Lebens, zum Ver¬
ständnis des Lebens. Hiermit betrat die Kritik den publicistischen
Boden, nachdem siebisdahin nur dem Abstrakten, dem Didaktischen,
dem Dilettantismus gehuldigt hatte. Seitdem stand die Literatur
auf dem Boden des wirklichen Lebens, spiegelte die geistigen Strö
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muQgen desselben ab; in dem Kampfe für diese Ideen hat Be-
linsky eine bedeutende Rolle gespielt.
Seine Thätigkeit fand zugleich in der natürlichen Entwickelung:
3er Literatur eine beachtenswerthe Stütze. In dem vierten Jahrzehnt:
bot die Literatur ein interessantes Bild des neu erwachenden Lebens
dar. Zur selben Zeit, als man theoretisch die Nothwendigkeit eines
realen Inhalts für die Literatur zu beweisen bemüht war, traten plötz¬
lich so bedeutende Talente, wie Gogol, Kolzow, Lermontow auf,
welche denselben Weg einschlugen. Hier fand man endlich das na¬
tionale Leben in seiner vollen Wahrheit dargestellt.
Das Zusammenfallen der theoretischen Entwickelung der Begriffe
mit den Erzeugnissen der poetischen Literatur weist darauf hin, dass
eine historische Nothwendigkeit diesen Erscheinungen zu Grunde
lag. Dass Belinsky dies einsah, indem er gleich bei dem Erscheinen
des ersten Werkes von Gogol den vollen Werth desselben erkannte
und ihn so bedeutend hervorhob, muss ihm ebenfalls als ein grosses
Verdienst angerechnet werden.
Wie wir oben bereits bemerkt haben, war Belinsky einer der feu¬
rigsten Anhänger der «westeuropäischen» Richtung. Ungeachtet
dessen war er durchaus unparteiisch in der Würdigung der Slavo-
philen. Er bestritt ihre Meinungen über die russische Geschichte,
die russische Civilisation, die russische Nationalität; aber zugleich
liess er ihreraufrichtigenund selbstständigen Ueberzeugung volleGe-
rechtigkeit widerfahren. In diesem Streit gegen die Slavophilen kamen
dann auch die Ideen zum Ausdruck, welche er selbst vertrat. So hat¬
ten ihm die Slavophilen den «äussersten Europäismus» zum Vorwurf
gemacht; er entgegnet ihnen darauf:
«Der Werth dertheoretischenUntersuchungenhängt von ihrem Ver¬
hältnis zur Wirklichkeit ab. Was für uns Russen noch Fragen von
äusserlicher Wichtigkeit sind, das hat das westliche Europa schon
längst überwunden, das ist dort schon längstzurWahrheit geworden,
ist in das Leben eingedrungen und Niemand zweifelt mehr daran, nie
wird darüber gestritten, weil Alle darüber einig sind. Und—was noch
mehr sagen will — das Leben selbst hat diese Fragen gelöst, und
wenn die Theorie dabei auch mitgewirkt hat, so geschah es nur mit
Hilfe der Wirklichkeit. Aber das muss uns nicht die Lust und die
Kühnheit rauben, auch unsererseits uns mit der Lösung dieser Fragen
zu beschäftigen, denn so lange wir diese nicht selbst gelöst haben,
werden wir gar keinen Nutzen von dem haben, was in Westeuropa
geschehen ist. Zu uns hinübergetragen sind diese Fragen dieselben.
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und doch nicht dieselben, denn sie erfordern eine andere Lösung.
Jetzt (1847) handelt es sich in Europa um neue grosse Fragen. Man
kann und soll an denselben Interesse finden, dieselben verfolgen, da -
uns nichts was menschlich ist, fremd sein soll, wenn wir Menschen
sein wollen. Aber zugleich wäre es ein durchaus fruchtloses Bemühen,
diese Fragen als unsere eigenen aufzufassen. Nur das gehört uns in
denselben, was auf unsere Lage anwendbar ist; alles Uebrige ist
uns fremd, und wir würden die Rolle des Don Quixote spielen, wenn
wir uns deswegen ereifern wollten. Wir würden dadurch mehr den
Spott Westeuropa^ auf uns ziehen, als dessen Achtung. Bei uns, in
uns, um uns—hier müssen wir dieFragen und derenLösung suchen.
Diese Richtung wird Früchte tragen, wenn auch keine glanzenden Re¬
sultate erzielt werden. Und die Anfänge dieser Richtung finden wir
in der gegenwärtigen russischen Literatur, in den Anfängen erblicken
wir aber die Bürgschaft für die nahe Reife derselben.»
Diese nahe Reife der Literatur sah Belmsky aber in der Hinnei¬
gung zu der realen Wirklichkeit, zur Erkenntniss der Erscheinungen
des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens. Daher vertheidigte er
so eifrig die sogenannte «natürliche» Schule, welche zuerst das
Leben und Denken der unteren Schichten des Volkes zu schildern
begann; er nimmt diese Schule gegen den Vorwurf des Utilita¬
rismus in Schutz, und erklärt, dass der Nutzen, der aus diesen
Werken für die Gesellschaft entspringt, dem ästhetischen Werthe
derselben gar nicht nachtheilig sein könne:
«Der Lehrer der politischen Oekonomie beweist mit den statis¬
tischen Zahlen an der Hand, indem er die Vernunftthätigkeit seiner
Leser oder Zuhörer in Anspruch nimmt, dass sich die Lage dieser
oder jener Klasse der Gesellschaft verbessert oder verschlechtert
hat, in Folge dieser und jener, Ursachen. Der Dichter zeichnet das
lebendige uud helle Abbild der Wirklichkeit, indem er auf die
Phantasie der Leser wirkt, und zeigt dadurch, dass sich die Lage
einer gewissen Klasse der Gesellschaft in der That verbessert oder
verschlechtert habe. Der Eine beweist, der Andere zeichnet, beide
aber überzeugen , der Eine durch logische Schlüsse, der Andere durch
Bilder. Doch den Ersten hören und begreifen nur Wenige, den
Andern — Alle. Das höchste und heiligste Interesse der Gesellschaft
muss in der eigenen, auf alle Glieder sich in gleicher Weise er¬
streckenden Wohlfahrt liegen. Das Mittel zu dieser Wohlfahrt ist
die Selbsterkenntniss; zur Selbsterkenntnis kann aber die Kunst
Kuss. CeYue. Bd. VII. 34
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eben so viel beitragen, wie die Wissenschaft. Hier sind Wissen¬
schaft und Kunst gleich nothwendig».
Auf diese Weise war das positive Ziel der Literatur klar hinge¬
stellt worden, die Bedeutung derselben für das Gemeinleben darge¬
legt; in dem Wirken für dieses Ziel liegt der bleibende Werth der
journalistischen Thätigkeit Belinsky *s. Das Grundprinzip, welches er
vertrat, für welches er von Anfang bis zu Ende so lebhaft und lei¬
denschaftlich eiferte, war — die Aufklärung im westeuropäischen
Sinne. Nur in der allgemeinen Aufklärung, in der Bildung erblickte
er die Bürgschaft für eine bessere Zukunft. Unter dem Druck der
damaligen Verhältnisse war es ihm unmöglich, seine Gedanken in
klarer und konsequenter Weise darzulegen; aber auch innerhalb
der engen Grenzen der literarischen Kritik hat er Grosses geleistet,
und einen im höchsten Grade wohlthätigen, sittlichen Einfluss
auf die Literatur und auf die Geister der neuen Generationen aus¬
geübt
Zugleich war Belinsky der eigentliche Begründer der neueren Ge¬
schichte der russischen Literatur. Er machte der früheren system¬
losen Anschauung ein Ende, wonach die Literaturgeschichte nur
ein inhaltsloser Katalog mit willkürlich ertheiltem Lob und Tadel
war, und wies zuerst in der Geschichte der Literatur den histori¬
schen Charakter streng folgerichtiger Entwickelung nach. Auch
jetzt noch behalten seine ästhetischen Beurtheilungen alter und
neuer Dichter ihren vollen Werth bei und können niemals um¬
gangen werden.
Wenn aber die neuere Kritik auch so manchen faktischen Fehler
bei ihm aufdeckt, nicht in der ästhetischen Beurtheilung, sondern in
historischen und anderen Thatsachen, welche auf ein lückenhaftes
Wissen hinweisen, so bleiben nichtsdestoweniger jene Worte eines
seiner Zeitgenossen aus dem feindlichen Lager der Slavophilen
durchaus wahr und im höchsten Sinne gerecht.
«Die innigste Sympathie im Leben wie im Tode hat der Mensch
verdient, der selbst innig und rücksichtslos alles Edle, Schöne und
Grosse zu lieben verstand. Furchtlos im Kampf für die Wahrheit
hat Belinsky sich nie von der Lüge loszusagen gezaudert, sobald er
sie eingesehen, und hat Denjenigen, welche ihm Veränder¬
lichkeit der Meinungen vorwarfen, stolzen Muthes erwidert, dass
nur Derjenige die Meinung nicht ändert, dem die Wahrheit nicht
theuer ist. Er schien so geschaffen, als könne seine Natur der
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5*3
Wahrheit nicht widerstehen, wie sehr dieselbe den früheren An¬
sichten auch widersprechen mochte, welche Opfer es auch kosten
sollte. Kühn und offen erklärte er das für genial, was er dafür hielt,
und irrte sich darin, Dank seinem kritischen Gefühl, nur selten.
Eben so kühn und offen deckte er das auf, was ihm falsch und
schwülstig erschien, oft im Gegensatz zu den eingewurzelsten An¬
schauungen. Wie viele Andere, liess auch er sich von der ab¬
strakten Theorie hinreissen, aber es lag in ihm ein Etwas, das höher
war als alle Theorie, was nur Wenige besitzen. Im vollen Sinne
des Wortes ein Sohn seiner Zeit, war er derselben nicht vorausgeeilt,
und durfte derselben auch nicht vorauseilen. Wenn Belinsky in un¬
seren Tagen gelebt haben würde, stände er auch jetzt an der
Spitze der Bewegung der kritischen Selbsterkenntniss, und zwar aus
dem einfachen Grund, weil er sich die hervorragendste Eigentüm¬
lichkeit seiner Natur bewahrt hätte: die Unmöglichkeit, im Kampfe
für die Wahrheit, für die Kunst, das Leben, in der abstrakten Theorie
zu verknöchern».
Die Fortschritte der geologischen Beschreibung
Russlands in den Jahren 1873 und 1874.
Von
Prozessor Barbot de IMarny *.
Im Jahre 1873 gaben wir eine kurze Uebersicht der in Russland
im vorhergehenden Jahre ausgeführten geologischen Arbeiten 4 . Die
vorliegende Arbeit bringt eine genauere Uebersicht der Fortschritte
der Beschreibung Russlands in geologischer Beziehung für die zwei
letzten Jahre und enthält eine Menge systematisch geordneter Anga¬
ben, die aus den einzelnen einschlägigen Schriften zusammengestellt
worden sind. Wir geben zuerst die Angaben über das europäische
Russland, dann die über das Uralgebirge, über Sibirien und zuletzt
über den Kaukasus. Bei der Uebersicht der geologischen Erfor-
* In rassischer Sprache ist die vorliegende Arbeit gedruckt im TopH. JKypiuun» 1875.
* s. «Russ Revue» 1873. Bd. UL p. 476 ff.
34 #
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5*4
dctiung des europäischen Russlands nehmen wir die verschieden«!
Formationen nach ihrem Alter durch, beginnen mit den ältesten
und schliessen mit den Alluvialschichten.
Das europäische Russland.
Die krystallinischen Gesteine, als Granit, Gneiss, Schiefer, die unter
den Alluvial-, Tertiär-, Kreide , Kohlen- und sibirischen Ablage¬
rungen an verschiedenen Stellen auf einer enormen Fläche, von den
Ufern des Don im Gouvernement Woronesh bis zum Dnjestrund
südlichen Bug, hervortreten, war ich schon vor langer Zeit geneigt
ür alte metamorphorisirte sedimentäre Ablagerungen anzusehen.
Diese meine Ansicht basirte auf einen vollkommenen Mangel jeglicher
Beweise des eruptiven Ursprunges dieser Gesteine, sowie besonders
auf dem durchgehend schichtenartigen Charakter derselben. Die
Ablagerung der horizontalen Schichten der silurischen Formation
über diesen im Podolischen Gouvernement zu Tage tretenden Ge¬
steinen dokumentirt das hohe Alter derselben, und meine Ansicht
hierüber wurde noch dadurch bestärkt, dass in Nordamerika die
Hauptmassen von Labrador, welcher als selbstständiges Gestein auf-
tritt, zu dem laurentischen System gehören. Auf einer kleinen geolo¬
gischen Karte der Umgebungen von Kriwoi-Rog (an der Grenze der
Gouvernements Chersson und Jekaterinosslaw) von H. Strippelmann 1
finden wir das Laurentische und Huronsystem sogar mit verschiedenen
Farben angegeben. Hr. Strippelmann hat natürlich nicht bewiesen,
dass diese Gesteine zu den genannten Systemen gehören, wenigstens
ührt er keine derartigen Beweise an; wir vermuthen, dass Hr. Strip¬
pelmann wahrscheinlich dem im Handbuch der Geologie von Credner
gegebenen Beispiele folgt, und alle alten Granitgneisse dem Lorenzsy¬
stem und die alten Schiefer dem Huronsystem zuzählt. Uebrigens hat
Hr. Blümel, welcher auf Antrag des Kijew’schen Naturforscher-Ver¬
eins im Chersson’schen Gouvernement geologische Untersuchungen
angestellt hat 2 , unlängst ausgesprochen, dass dierfebung der krystal-
linsichen Schiefer, aller Wahrscheinlichkeit nach, in derTertiärperiode
stattgefunden hat und namentlich in der Epoche, welche der Ablagerung
der Etage des weissen Sandes folgte. Hr. Blümel begründet die von
ihm geäusserte Meinung darauf, dass er an einer Stelle Gelegenheit
hatte, «die Ablagerung des weissen Sandes auf dem zu Tage tre-
1 Strippelmann. Südrusslands Magneteisen und Eisenglanzerzlagerstdtten. 1873.
* Memoiren de» Kijew’schen Naturforscher-Vereins 1873. III, p. 328 und 331.
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525
tenden Quarzschiefer* zu beobachten. Wir müssen gestehen, dass
eine solche Folgerung nicht nur für ungeologisch, sondern auch ein¬
fach als unlogisch erklärt werden muss. Ganz anders würde sich die
Sache verhalten, wenn Hr. Blümel die Schichten des weissen Sandes
nicht direkt auf dem Schiefer, sondern irgendwo in der Nähe des¬
selben und in gehobener Lage beobachtet hätte; dann könnte man
die Behauptung aufstellen, dass die Sandschichten vom Schiefer ge¬
hoben worden seien, doch finden wir bei Hrn. Blümel kein Wort über
eine derartige Lage der Sandschichten.
In der Beschreibung der von Hrn. Klemm 1 im Aufträge des
Charkower Naturforscher-Vereins angestellten Beobachtungen fin¬
den wir allgemeine Angaben über die Lagerungsverhältnisse der
krystallinischen Gesteine in der Gegend am Dnjepr. Beim Beob¬
achten der Art des Auftretens krystallinischer Gesteine sieht man,
nach Aussage von Hrn. Klemm, wie diese zuerst von den neueren Bil¬
dungen in einzelnen Gruppen hervortreten, und in einer bestimmten
Richtung kommen diese einzelnen Gruppen der krystallinischen
Gesteine immer häufiger an die Oberfläche, bis sie sich endlich zu
einer gemeinsamen Masse verbinden. Eine genauere Untersuchung
dieser Gesteine zeigt, dass die hervorgetretenen Massen grössten-
theils ein bestimmtes Fallen haben, was als Beweis dafür dienen kann,
dass die Schichten aus der Tiefe nur in einzelnen Gruppen, nicht
aber in einer gemeinsamen Masse emporgehoben wurden. Es kommt
oft vor, dass in tiefen Schluchten, die zwischen zwei nahe bei ein¬
ander liegenden einzelnen Gebirgsgruppen gelegen sind, die kry¬
stallinischen Gesteine nicht zu Tage treten; während in anderen
Fällen schon sehr geringe Abspülungen jene Schichten bloss legen.
Die von Hrn. Klemm angestellten Untersuchungen bestätigen im
Allgemeinen die von Professor Le vakowsky ausgesprochene Meinung,
dass der weltliche Theil der Dnjepr’schen krystallinischen Fläche
seiner Tektonik nach Reihen vonFalten und Brüchen darstellt, welche
sich als unbedeutende, sich bald einander nähernde, bald weiter
von einander entfernende Gebirgsketten in zwei Hauptrichtungen
erstrecken (SW — NO, NW — SO) und sich an bestimmten Stellen
kreuzen.
Zwischen den in Südrussland auftretenden krystallinischen Ge¬
steinen giebt es aber auch solche, die als eruptive anzusehen sind.
Hierzu gehören vielleicht die Granite aus einigen Gegenden; doch
1 Verhandlungen des Naturforscher-Vereins an der Charkower Universität. 1874. VIII.
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526
ein besonderes Interesse verdienen der Anamesit und Porphyrit.
Ersteres Gestein aus der Gegend der Dörfer Berestovzy und Slasnja,
circa 35 Werst nördlich von der Stadt Rowno im Wolhynischen Gou¬
vernement, ist von dem Professor Karpinsky genau untersucht und
beschrieben worden l . Dieses dichte, schwarz gefärbte Gestein, in
welchem die Säulenstruktur ausgezeichnet zu sehen ist, erwies sich,
nach mikroskopischer Untersuchung, als aus klinoklastischem Feld-
spath, Augit, Olitin und Magneteisenstein bestehend; zugleich wur¬
den in diesem Gestein Einschlüsse von Glas und eine Beimischung
von gediegenem Eisen gefunden. Das Gestein wird in genannter
Gegend von horizontalen Kreideschichten überlagert. Ein anderes
interessantes Gestein, welches im Kreise Owrutsch, des Wolhynischen
Gouvernements, von Hm. Ossowsky entdeckt und von ihm mit dem
Namen Wolhynit bezeichnet worden ist, wurde von Hrn. Muschke-
tow untersucht *. Dieses Gestein, welches aus einer schwarzen fein¬
körnigen Grundmasse mit grossen abgesonderten Krystallen von
Oligoklas besteht, erwies sich als Porphyrit; die Grundmasse dessel¬
ben besteht aus einem Aggregat von Hornblende und Oligoklas,
mit Beimischung von Magneteisenstein und Schwefelkies.
Von den krystallinischen Gebilden Südrusslands gehen wir nun zu
denen des Nordens, in den Gouvernements Olonetz, Archangel und
in Finland, über. Die Landschaft des Gouvernements Olonetz
hat nun schon zwei Jahre nach einander den Professor Ino¬
stranzow zu geognostischen Untersuchungen aufgefordert, um die
in genanntem Gouvernement befindlichen Mineralschätze zu er-
schliessen. Da die detaillirten Berichte des Hrn. Inostranzow noch
nicht publicirt sind, so gehen wir sofort zu den Forschungen der
Hrn. Ludwig und Kulibin über.
Hr. Rudolph Ludwig, Direktor an der Darmstädtischen Bank, hat
öfters Gelegenheit gehabt, verschiedene Theile von Russland zu be¬
suchen zum Zweck einer Taxirung der an verschiedenen Orten ent¬
deckten Lagerstätten von nutzbaren Mineralien. Als Resultat ähn¬
licher Besuche erscheinen gewöhnlich flüchtige geologische Notizen
desHrn.Ludwig, denen bisweilen geologische Karten beigegeben sind;
doch wird wohl schwerlich selbst der Zusammensteller dieser geok>
gischen Karten die Genauigkeit der Grenzen der auf ihnen angegebe-
1 Sammlung von Schriften zur Feier des 100-jährigen Jubiläums des Berg-Instituts.
1873. H, p. 1.
* Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. Zweite Serie. AH, p. 320.
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nen Formationen behaupten können. Im Olonetz’schen Gouverne¬
ment wurde von Hrn. Ludwig die Gegend an den Flüssen Semtscha
und Suna im Kreise Powenetz, untersucht *. Von alten Gesteinen
wurden von ihm hier: Dolomit, Talk-Chloritschiefer, Quarzitschiefer,
Quarz-Breccia, Epidoth-Diorit, Magnetit-Diorit und Granit beobach¬
tet. Den Angaben des Hrn. Ludwig zufolge bilden diese Gesteine
gewöhnlich abwechselnde, dem Meridiane folgende, Streifen. Unter
den sedimentären Schichten hält Hr. Ludwig die des Quarzitschiefers
für die ältesten; im Chloritschiefer hat er sogar Versteinerungen ge¬
funden; dieser Schiefer wird von einem Quarz-Konglomerat überdeckt,
während die Quarz-Breccia näher zum Quarzitschiefer steht. Der
Dolomit aber gehört, nach der Ansicht des Hrn. Ludwig, vielleicht
zum Devonischen System, so wie auch der Thonschiefer, der gewöhn¬
lich von Diorit überdeckt ist Den Quarzitschiefer und die Breccia
hält Hr. Ludwig für identisch mit dem sogenannten Onega-Sandstein.
Von den eruptiven Gesteinen ist das älteste, aller Wahrscheinlichkeit
nach, der Granit, dann kommt das Epidoth- Gestein und zuletzt der
Diorit, welcher reich an Magnetit ist. Das interessanteste von Hrn.
Ludwig in seiner Schrift mitgetheilte Faktum ist die Entdeckung von
Korallen im Talk-Chloritschiefer, vier Werst nordöstlich vom Dorfe
Koikory. Diese in weissen, dichten Quarz verwandelten Korallen ge¬
hören, nach Hrn. Ludwig, zur Gattung Cystiphyllum; er erklärt die¬
selben für eine neue Art (C. gracile). Diese Entdeckung dürfte
von grossem Interesse sei, wenn die von Hrn. Ludwig gefundenen
Reste wirklich nicht bloss eine Art von Konkretionen im Schiefer dar-
steflen, obgleich nach denselben das geologische Alter des sie ent¬
haltenden Gesteins nicht bestimmt werden kann. Unter genannten
Gesteinsarten ist der Magnetit-Diorit die erzhaltigste, und in ihm findet
man das Erz entweder zerstreut in der ganzen Masse des Gesteins
(bisweilen in einem Gehalt von 53% Erz), oder das Erz bildet Nester
im Gestein. Was die Sumpferze betrifft, so behauptet Hr. Ludwig,
dass sie sich nur dadurch vom Rasenerz unterscheiden, dass sie nicht
in Sümpfen, sondern in flachen Theilen von Seen entstanden sind;
hier wurden sie aus angeschwemmten Massen von Eisenoxyd oder
feinem Magneteisen gebildet, oder sie haben ihre Bildung den Algen
zu verdanken, die sie aus einem doppel-kohlensauren Eisensalz aus¬
schieden.
1 Bulletin de la Soc. des Natur&listes de Moscou. 1874. III, p. x68.
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528
Die geognostischen Untersuchungen desHrn.K. Kulibin im Qlonetz’
sehen Gouvernement beschränkten sich auf das Tulmoserskische Re¬
vier *. In genannter Gegend sind auch Dolomite und Schiefer (Thon-,
Talk- und Chlorit-Schiefer) vorherrschend, die stark von Kieselsäure
imprägnirt sind und von NW nach SO streichen. Oestlich von die¬
sem Streifen kommen jedoch Granite und Gneisse, und westlich
Diorite zum Vorschein. Die Anhöhen dieser Gegend haben eine
beinahe meridionale Richtung und bestehen hauptsächlich aus Dolo¬
mit und Schiefer. Nach der Meinung des Hrn. Kulibin haben sich
diese Anhöhen gebildet, nachdem eine allgemeine Hebung der gan¬
zen Gegend, die eine Einwirkung auf die Lage der Schichten aus¬
übte, schon stattgefunden hatte; die Entstehung dieser Anhöhen
ist seiner Meinung nach einer allmählichen Erosion und Verän¬
derung der Flussbette zuzuschreiben. Die Dolomite sowohl, als
die Schiefer werden von mehreren Seiten von Gängen durchsetzt;
diese Gänge enthalten Eisenglanz mit eingesprengtem Magneteisen¬
stein. Die Hauptstreichungslinie der Erzgänge ist von N noch S,
doch geht das Erz auch in das umliegende Gestein über. Die Rich¬
tung der Schieferung des Erzes ist häufig der Schichtung des Ge¬
steins parallel und bildet somit einen gewissen Winkel mit dem
Streichen des Erzganges. Daher behauptet Hr. Kulibin mit Gewiss¬
heit, dass die Eisensalze enthaltende Lösung nicht nur in die Spalten
des Gesteins eindrang und einen Erzgang bildete, sondern auch auf
die Wände des Ganges eine gewisse Einwirkung ausübte, indem das
Gestein theilweise aufgelöst und Eisenoxyd niedergeschlagen wurde.
Im Gouv. Olonetz kommt unter Anderem die unter dem Namen
Variolit bekannte Gesteinsart vor. Hr. Professor Inostranzow hat ein
solches Gestein aus der Umgegend des Dorfes Jalguba, im Kreise
Petrosawodsk, untersucht*. Dieses dichte Gestein von dunkelgrauer
Farbe zeigt beim Schleifen Variolit-Konkretionen in konzentrischen
Streifen von grauer und schwarzer Farbe. An der Bildung der Kon¬
kretionen und der Grundmasse nehmen Theil: basisches Glas und
krystallinische Elemente. In der Grundmasse kommen Körner, Mikro-
lite und Krystalle von Epidot vor. Die verschiedenartigen Kombi¬
nationen dieser Eleihente bewirken die konzentrisch-schalige Struk¬
tur der Peripherie der Konkretionen, deren Centrum als strahlige
Masse erscheint. In den Konkretionen kommt bei polarisirtem Lichte
ein dunkles Kreuz zum Vorschein.
1 Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. 1873. VIII, p. 31.
* Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. 1874 IX. p 3.
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Aus dem Gouvernement Archangel liegen uns neue, durch
Hm. Kiel angestellte Untersuchungen an der Murmanischen Küste
vor *. Die Halbinsel Kola, sagt Hr. Kiel, besteht aus Verzweigungen
der Norwegischen Gebirge und bietet, längs dem Ufer des Eismee-
res eine grosse Einförmigkeit dar. Ueberall sieht man nur kuppel¬
artige Erhöhungen von Granit, und nur bei der Bucht Petschenga
tritt eine Gneisspartie auf, die, wie es scheint, weiter im Innern des
Kontinents grosse Flächen einnimmt. Der Granit und der Gneiss
sind durchschnitten vonDioritgängen, mit deren Erscheinen das Auf¬
treten von Erzlagerstätten in Zusammenhang steht. Sedimentäre
Schichten sind nur auf der Fischerhalbinsel und der Insel Kildin
beobachtet worden, und sie bestehen hier aus bunten Thonschiefem,
auf denen graue und gelbe Sandsteine gleichlaufend abgelagert sind.
Diese Gesteine sind mit denen der Halbinsel Waranger in Norwegen
identisch, doch kann man wegen Abwesenheit von Versteinerungen
das Alter derselben nicht bestimmen.
Das finnische Lappland ist, seit der Entdeckung des Goldes in
dieser Gegend, von mehreren Geologen besucht worden. Von dem
Werke des Hrn. Ternstroem: Material tili Finska Lappmarkens
Geologi, Helsingfors. 1874, sind schon zwei Lieferungen erschienen.
Die erste Lieferung behandelt den nördlichsten Theil von Lappland
am See Enare, und die zweite — die Gegend am Flusse Kitten und
bei Sodankül. Die geschichteten Gesteine von Lappland gehören zur
laurentischenFormation, undbestehenausHornblendeschiefer, Gneiss,
Quarzit, geschichtetem Granit, Granulit und Glimmergneiss. Zu den
massiven Gesteinen gehören: Granit, Granulit und Diabas. Im südlichen
Theile vonFinland hat Hr.F. T. Wiik zahlreiche geologische Untersu¬
chungen angestellt, und dieselben in folgenden Brochüren beschrieben:
1) Geognostikajakttagelser under en resa i sydvestraFinland, 2) Om
östra Finlands Primitiva Formationer, und 3) om Skifferformationen
Tavasthus Län. Hr. Wiik giebt folgende Reihenfolge der primitären
Gebilde Süd-Finlands an, und vergleicht dieselben mit den Forma¬
tionen inCanada:
Finland. Canada.
Hiperit (eruptiv).
Sandstein (sedimentär). Potsdamer Formation.
* Russisches Berg-Journal. 1873. II. p. 30.
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530
(eruptiv).
Huron-Formation.
Laurentische Formation.
Uralit-Porpbyr,
Pegmatit-Porphyf,
Sienit-Granit,
Granito-Porphyr,
Schiefer (metamorphisch),
Pegmatit, ]
Gneist-Granit, J CfUptiv -
Gnebs (metamorphisch,
Indem wir zum sQurischenSystem übergehen, wollen wir die inter¬
essanten Arbeiten des Hm. Linnarsson besonders berücksichtigen.
Hr. Linnarsson, ein schwedischer Gelehrter, machte im Jahre 1872
eine Reise durch die Ostseeprovinzen, deren Ziel hauptsächlich darin
bestand, einen näheren Vergleich der baltischen silurischen Schich¬
ten mit denen von Schweden anzustellen. Der Bericht von Hm. Lin¬
narsson ist in den Memoiren der Stockholmer Akademie abgedruckt
und erschien darauf in deutscher Uebersetzung in der Zeitschrift der
deutschen geologischen Gesellschaft (1873. XXV. p. 675). Hr. Lin¬
narsson kam direkt nach St Petersburg, nahm hier die palaeontolo-
gischen Sammlungen in Augenschein, ging dann mit der Eisenbahn
nach Pleskau, und von da mit dem Dampfboot nach Dorpat, wo er
ebenfalls der Besichtigung palaeontologischer Sammlungen einige
Tage widmete. Von Dorpat wendete er sich nach Wesenberg, wo er
seine eigenen geognostischen Beobachtungen anzustellen begann.
Nach Besichtigung der um Wesenberg herum gelegenen Steinbrüche
machte Hr. Linnarsson eine Fahrt über Kurküll, Borkholm, Kulling,
Altenhof, Kandel, Wrangelshof, Wannamons, Kunda und Sommer¬
husen, und kehrte dann nach Wesenberg zurück. Darauf fuhr er mit
der Eisenbahn nach Reval, wo er durch eine Reihe von Exkursionen,
die theils per Eisenbahn, theils mit dem Dampfboot und theilweise
auch per Post ausgefiihrt wurden, die umliegenden Gegenden kennen
lernte. Auf diese Art hat Hr. Linnarsson einen grossen Theil der
interessantesten Orte besucht, nämlich, aufdem Kontinent: Raiküll, Ker-
küll,Kegel, Baltischport, Tischer, Sack,Kirna,Kukars,Ontika,Nemme-
weski, Neuenhof, Angern und Schwarzen; auf der Insel Nuko—Lick¬
holm; auf Oesel — Podel, Koggul, Rotziküll, Selga, Pank, Tagga-
mois, Undra, Lümmada, Kaugotoma, Oggessar, St. Johannis und den
sogenannten Krater bei Sali. — Wir geben hier mit Absicht die
Marschroute so ausführlich, da dieselbe als bester Wegweiser zum
Studium der geologischen Verhältnisse der baltischen Provinzen
dienen kann. —
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53i
Wir wollen hier, nach dem Berichte desHrn. Linnarsson alle einzel¬
nen Glieder des silurischen Systems durchnehmen, und beginnen
vom untersten — vom blauen Thon. — Im westlichen Theile des
silurischen Gebiets liegt dieses unterste Glied unter dem Meeresspie¬
gel, wesshalb H. Linnarson nur an einem Orte, in Kunda, Gelegen¬
heit hatte, den blauen Thon zu beobachten. Im oberen Theil des blauen
Thons treten hier dünne Sandsteinschichten auf, die Hm. Linnarsson
sogleich an die Eophyton-Sandsteine von Westgothland erinnerten;
auf der oberen Fläche der Sandsteinschichten waren Wellenfurchen
zu sehen, während die untere Fläche eine Masse von .Steinkernen
zeigte, die denen aus dem Sandstein von Westgothland ähnlich waren»
wie z. B. Cruziana. Der blaue Thon sowohl, als auch der Sandstein
sind ihrem äusseren Ansehen nach den Gesteinen des Eophyton-
Sandsteins sehr ähnlich, nur sind sie viel lockerer; zugleich sind auch
die Lagerungsverhältnisse dieselben. Hr. Linnarsson ist zu der
Ueberzeugung gekommen, dass der baltische blaue Thon dem schwe¬
dischen Eophyton-Sandstein equivalent ist, und einstmals die unmittel¬
bare Fortsetzung desselben darstellte. Unter dem Namen Eophy-
ton-Sandstein ist in Schweden der älteste Sandstein bekannt, der
gleich unserem blauen Thone unmittelbar auf dem Granit abgelagert
ist; in diesem Sandstein findet man Lingula und undeutliche Pflan¬
zenreste «Eophyton*, die jedoch nicht zu den Algen gehören, son¬
dern eher Wurzeln von Farrenkräutern gleichen; dieser Sandstein
bildet den untersten Theil des bekannten Fucoiden-Sandsteins. Uebri-
gens zweifeln einige Gelehrte an dem organischen Ursprung des Eo¬
phyton und nehmen an, dass seine Formen durch ein Hin- und Her¬
schieben der Algen von den Meereswellen gebildet worden sind.
Was unseren Ungulitensandstein betrifft, so vergleicht ihn Hr. Lin¬
narsson, wie es Hr. Schmidt schon gethan hat, mit dem oberen Theile
des Fucoiden-Sandsteines. Es giebt wohl keine palaeontologischen
Beweise für die Identität dieser Schichten, obgleich in beiden Sand¬
steinen Versteinerungen aus der Klasse derBrachiopoden, und nament¬
lich aus der Familie Lingulidae Vorkommen; doch werden diese Ver¬
steinerungen in den baltischen Provinzen nur in den oberen Sand¬
steinschichten gefunden, und bisweilen in grossen Mengen, während
sie im Fucoiden-Sandsteine von Westgothland in den unterem
Lagen und überhaupt selten Vorkommen. Die Hauptmasse des
Ungulitensandsteins, welche keine Versteinerungen enthält, gleicht
auffallend dem Fucoiden-Sandstein Westgothlands, nur ist sie viel
lockerer. Die Aehnlichkeit der Schichten in petrographischer Be-
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Ziehung wird dadurch noch gesteigert, dass in den oberen Theilen
der beiden Sandsteine viel Schwefelkies enthalten ist. Die Lage der
Sandsteine—in der Allgemeinen Reihenfolge der Schichten — ist voll¬
kommen identisch.
Der Thonschiefer hat im Ganzen genommen keine grosse Ausdeh¬
nung, doch erstreckt ersieh von St. Petersburg bis Baltischport, wo er
in grossen Mengen Dictyonema flabelliformis enthält. In Schweden aber
kommt die Dictyonema nur im oberen Theile des Alaunschiefers in
gösseren Anhäufungen vor; während die Trilobiten, die in grosser
Anzahl in den unteren Theilen des schwedischen Alaunschiefers auf-
treten, in unserem Schiefer vollständig unbekannt sind. Daraus ist zu
schliessen, dass der russische silurische Schiefer nicht der ganzen
Masse des schwedischen Alaunschiefers equivalent ist, sondern nur
dem oberen Theile desselben entspricht, mit welchem er auch in
petrographischer Hinsicht grosse Aehnlichkeit hat.
Hr. Linnarsson lässt die Frage im Zweifel: ob es in Schweden ein
requivalentes Glied für unseren sogenannten grünen Sandstein giebt
obgleich hier nach der Reihe der Schichtenlagerung das Obolus-
Konglomerat von Dalarn vielleicht in Betracht käme.
Hr. Linnarsson hatte an vielen Stellen Gelegenheit, den Chlo¬
ritkalkstein zu beobachten und ist zu der Ueberzeugung gekommen,
dass derselbe, gleich dem schwedischen Glaukonitkalkstein, die Un¬
terlage des Orthoceratitenkalksteins bildet, in den er allmählich über¬
geht, und ebenfalls Knollen von Phosphorit enthält. Der schwedi¬
sche Glaukonitkalkstein ist im Allgemeinen recht arm an Verstei¬
nerungen, und enthält einen Trilobiten Megalaspis planiümbata ,
welcher in dem russischen Chloritkalksteine, zusammen mit ver¬
schiedenen Brachiopoden in Massen gefunden wird, und unter dem
Namen Asaphus iyranno aff. bekannt ist.
Die Identität der Orthoceratitenkalksteine der russisch-baltischen
Provinzen und Schwedens in palaeontologischer Beziehung ist schon
längst von verschiedenen Gelehrten nachgewiesen worden, und
Hr. Linnarsson zählt folgende, den beiden Kalksteinen gemeinsame
Formen auf: Asaphus expansus, Asaphus raniceps , Ptychopyge angu -
stijrons , Illaenus crassicauda , Chirurus exsul , Amphion Fischen,
Lituites undulatus , Orthoceras trochleare , Rhynchonella nucella , Orthis
calligramma und Andere. Im russischen Orthoceralitenkalksteine
findet man auch solche, jedoch Formen,—z. B. Chastnops conicophtalmus
und Echinosphaerites aurantwm —, die in Schweden einem hö-
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heren Horizonte, Und namentlich dem Chasmopschen Kalkstein ail-
gehören.
Vom Brennschiefer sagt Hr. Linnarsson, dass er, wie schon
Hr. Schmidt es behauptet hat, mit dem schwedischen Beyrichius- oder
Chasmop’schen Kalksteine verglichen werden kann. Obgleich die
erwähnten Schichten nicht viele gleiche Versteinerungen aufzu¬
weisen haben, kann man doch folgende anführen: Ckasmops c<mi-
cophthalmus , Pleurotomana elliptica> Leptaena sericea , Stropkomena
imbrex u. A.
Soweit fiel es Hrn. Linnarsson nicht schwer, die Analogie der Ab¬
lagerungen der baltischen Provinzen mit den schwedischen Schicht
für Schicht zu verfolgen; für die weiteren Bildungen erwies sich das
jedoch als unmöglich, da man in Schweden keine bestimmten Equi-
valente für die Jew’esche, Wesenberg’sche und Lickholm’sche Etagen
finden kann, wohingegen die baltischen Provinzen keine bestimmten
Equivalente für den Trinucleus-Schiefer, den Brachiopodenschiefer
und den oberen Graptolithenschiefer^Schwedens aufweisen können.
Die genannten Etagen der beiden Länder haben beinahe gar keine
Aehnliclikeit in palaeontologischer Beziehung, nur hat die in ihnen
enthaltene Fauna in beiden einen allgemeinen silurischen Charakter.
Die Gesteine dieser Etagen in den beiden Ländern sind auch ver¬
schieden; in den baltischen Provinzen herrscht Kalkstein vor;
während in Schweden verschiedene Schiefer auftreten. Diese petro-
graphische Verschiedenheit weist auf eine Ungleichheit der physi¬
schen Verhältnisse in beiden Ländern hin, und kann einigermassen
Aufklärung über Verschiedenheit der Fauna geben. Es ist übri¬
gens schwer anzunehmen, dass die Faunen verschiedenen Zeitpe¬
rioden angehören sollten; im Gegentheil, nach den Lagerungs¬
verhältnissen zu urtheilen, erscheint es viel wahrscheinlicher, dass
diese Ablagerungen Schwedens und der Ostseeprovinzen mehr oder
minder einander entsprechen.
Betreffs der Borkholm’schen Schicht ist Hr. Linnarsson auch zu
keinem bestimmten Resultate gelangt; erweist nur daraufhin, dass
Hr. Schmidt in derselben einen Repräsentanten des Leptaena-Kalk-
steins von Dalarn sieht.
Die Schichten der oberen silurischen Formation der Ostseepro¬
vinzen, im Gegensatz zu den oberen Schichten der unteren siluri¬
schen Formation, erscheinen wieder als deutliche Equivalente der
schwedischen Schichten, namentlich derjenigen von Gothland.
Hr. Linnarsson kennt jedoch Gothland nicht aus eigener An-
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schauungj; unter den von ihm in Estland und auf Oesel gesammelten
Korallen und Brachiopoden giebt es beinahe keine einzige Form,
die nicht auch auf Gothland vorkäme. Eine merkwürdige Aus¬
nahme hiervon bildet jedoch Pentamerus borealis , welcher in Estland
ganze Schichten bildet, während er in Gothland ganz zu fehlen
scheint.
Aus dem von der Schrift des Hm. Linnarsson oben Angeführten
ist zu ersehen, dass die oberen und unteren Theile der sibirischen
Ablagerungen Schwedens und der baltischen Provinzen im Allge¬
meinen viel Aehnlichkeit mit einander haben, während die mittleren
Theile verschieden sind. Und gerade in diesen mittleren Theilen
finden wir eine merkwürdige Aehnlichkeit der silurischen Schichten
Schwedens mit denen von Böhmen. Die baltischen Provinzen haben
mit Böhmen nichts gemeinsames, indessen bildet Schweden ein ver¬
bindendes Glied zwischen denselben.
Zum Vergleich der kambrischen und der unteren silurischen
Schichten Böhmens, Schwedens und der baltischen Provinzen giebt
Hr. Linnarsson folgende Tabelle:
Böhmen Schweden Ostseeprevinzen
Barrande. Linnarsson. Schmidt
Leptaenakalk. 3. Borkholm’sche Schicht
Ee I. Oberer Graptolithenschiefer.
Brachiopodenschiefer.
Dd 5. Trinucleusschiefer.
Chasmopskalk, mit mittlerem 1. a. Brandschiefer.
Graptolithenschiefer (obe¬
rem Graptolithenschiefer v
Kjerulf) an der Basis.
Orthoceraskalk. I. Vaginatenkalk und chlo-
ritischer Kalk.
c
Unterer Garptolithenschiefer.
Ceratopygekalk.
Oienusschiefer.
Parodoxidesschiefer.
Fucoidensandstein.
Eosphytonsandstein.
Thonschiefer mit Dietyo -
netna.
Ungulitensandstein.
Blauer Thoa
Die Ansicht des Hrn. Akademikers Schmidt, welcher speciell mit
unseren silurischen Schichten bekannt ist, stimmt nicht vollkommen
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535
mit der angeführten Tabelle überein l . Hr. Schmidt meint, dass unser
Thonschiefer, vielleicht sogar mit dem Glaukonitensande zusammen,
drei Etagen von Linnarsson entspricht, nämlich dem Graptolithen-
schiefer, Ceratopygekalk und Olenus- (Alaun) Schiefer.
Da die unteren Glieder unseres silurischen Systems ein ungetrenn-
tes Ganzes mit den oberen Schichten bilden, so ist Hr. Schmidt der
Meinung, dass man einige dieser Glieder durchaus nicht zur Kam-
brischeformation zu rechnen braucht. Soll aber eine solche Trennung
der Schichten stattfinden, und nach Lyell die primor diale Fauna
zur Kambrischeformation gerechnet werden, so muss die Grenze
zwischen den beiden Systemen, zwischen dem grünen Sandstein und
dem Thonschiefer, gezogen werden.
Hr. Schmidt hat in letzter Zeit begonnen, seine Miscellanea silurica
zu drucken, in den zwei ersten Lieferungen beschreibt er 8 die russi¬
schen Liperditien und einige neue und wenig bekannte Formen der
Crinoiden. Hr. Möller 8 hat eine neue Art Brachiopoda, mit einer
aus Horn bestehenden Muschel, unter dem Namen Volbortia festge¬
stellt; Exemplare dieser Versteinerung sind im silurischen Kalkstein
bei Zarskoje-Sselo gefunden worden. Hr. Dybowsky, aus Dorpat, hat
«fite Monographie unserer silurischen Koralle aus der Abtheilung der
Zoantharia sclerodennata rugosa erscheinen lassen 4 .
Von den silurischen Gebilden der baltischen Provinzen gehen wir
nun zu denen am Dnjestr über. Dr. Alth (in Krakau) giebt eine
grosse Schrift unter dem Titel: «Ueber die paläozoischen Schichten
und Versteinerungen Podoliens» heraus. Das russische Reich hat
Hr. Alth selbst nicht besucht, doch hat er in seiner Schrift alles ver¬
eint, was bisher aus den Untersuchungen anderer Gelehrten bekannt
war. Im russischen Podolien findet man die untersten Theile der
Dnjestrow’schen paläozoischen Gebilde, und namentlich folgende in
der Ordnung von unten nach oben: i) Grauwacken-Sandsteine und
Thonschiefer; 2) graue, dichte, dünn- oder dickgeschichtete, harte,
öfters bituminöse Kalksteine, die in oberen Theilen mit Mergelschich¬
ten wechsellagern; 3) graue, schiefrige Mergelthone mit einzelnen
dünnen Zwischenschichten von dichtem, an Versteinerungen reichem
Kalksteine. Diese Ablagerungen hältHr. Alth mit derWenlock-Etage
* Verhandlungen der St. Petersburger Naturforscher Gesellschaft. Bd.III l p.XXlI.
9 Mlmoires de l’Acaddmie. VH. Sdrie. XXI. Nr. s und 11.
8 Sammlung von Schriften zur Feier des 100-jährigen Jubiläums des Berg-Instituts.
I« 73 - n, P- 33 .
4 Archiv für die Naturkunde Estlands. 1873. V.
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Englands für equivalent, obgleich er in einer Beilage sagt, dass die
obersten Schichten, welche unter Anderem Eurypterus enthalten,
auch zur Ludlow’schen Gruppe gerechnet werden können. In der
ersten bisher erschienenen Lieferung der Schrift von Hrn. Alth sind
die Fische, Merostomaten, Trilob'iten und Ostrocoden bearbeitet.
Gehen wir nun vom silurischen System zu dem devonischen über,
so finden wir dieses letztere beschrieben: von Hr Antonowitsch und
von Hr. Lahusen: — von dem ersteren: das Gouvernement Witebsk,
von dem letzteren das Gouvernement Nowgorod.
Das Gouvernement Witebsk gehört zu den am wenigsten er-
forschten; wir kennen aus demselben nur einige Beobachtungen
von Blasius und Helmersen und in letzter Zeit hat Hr. Antonowitsch auf
einer Fahrt durch das ganze Gouvernement (längs der Düna) einige
interessante neue Entdeckungen gemacht. Der Bericht von Hrn. An¬
tonowitsch ist im russischen «Berg-Journal» 1873. T. II, p. 55 abge¬
druckt. Die Schichten des devonischen Systems treten zuerst
15 Werst oberhalb von Witebsk zu Tage; weiter, zwischen Wi¬
tebsk, Polotzk und Disna, und noch weiterhin sieht man nur Allu¬
vialgebilde und endlich bei der Insel Krischkan (unterhalb Düna¬
burg) kommen wieder devonische Schichten zum Vorschein, die sich
von hier aus mit kurzen Unterbrechungen bis zur westlichen
Grenze des Gouvernements erstrecken. Die Schichten von Witebsk
und Kreuzburg, welche aus grauem Dolomit bestehen, und Spirifer
tenticulum % Platyschisma und Natica enthalten, stellt Hr. Antono»
witsch der oberen oder Kirchholm’schen Abtheilung der devoni¬
schen Formation Livlands gleich; hingegen zählt er die Dolomite
von der Insel Krischkan mit Orthio striatula und Rhynchonella tivo-
nica zur unteren oder Kokenhusenschen Abtheilung. Der inter¬
essante Fund von Hrn. Antonowitsch besteht in einer in den Kiesel¬
konkretionen von ihm entdeckten reichen fossilen Fauna; diese
Kieselkonkretionen kommen in den Dolomiten der oberen Ab¬
theilung der devonischen Formation häufig vor. Es ist Hrn. Anto¬
nowitsch gelungen 22 Molluskenformen zu bestimmen, von denen
einige bis dahin in Russland noch nicht gefunden waren, und diese
Entdeckung führt zu einer noch grösseren Annäherung unserer
devonischen Gebilde zur mittleren Gruppe des devonischen Systems
in den Gegenden am Rhein (Köln, Nassau, an der Lahn etc.).
Hr. Lahusen hat durch seine geognostischen Untersuchungen
nachgewiesen *, dass in dem ganzen westlichen Theile des Gouver-
1 Materialien zur Geologie Russlands Bd. V,
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537
nements Nowgorod die Schichten des devonischen Systems ver¬
breitet sind, und die östliche Grenze derselben bei den Städten:
Tichwin, Borowitschi und Waldai gezogen werden muss. Die untere
versteinerungsleere Sandsteinformation tritt nur in den Flussbetten
zu Tage; die mittlere Kalksteinformation erstreckt sich über den
ganzen Nowgorod’schen und den nordwestlichen Theil des Staraja-
Russa’schen Kreises; in dem übrigen Theile der von dem devoni¬
schen System eingenommenen Fläche treten nur Sandsteine, Mergel
und Thonschichten der oberen Formation mit Asteroltpis omata
und Holoptychius nobilissimus auf. Was die mittlere Formation be¬
trifft, so ist Hr. Lahusen der Ansicht, dass die Kalksteine am II-
mensee einen höheren Horizont einnehmen, als die Kalksteine am
Fluss Schelon, welche ihrerseits die Fortsetzung der beim Kirch¬
dorf Tschudo wo auftretenden Schichten bilden; die am Fluss Ore-
deja auftretenden Kalksteinschichten gehören dagegen zu den un¬
tersten. In den angeführten drei verschiedenen Horizonten weist
Hr. Lahusen folgende Veränderungen der in ihnen enthaltenen
Faunen nach. Die Kalksteine am Ilmensee enthalten: Spirigerina
reticularis , Strophalosia subaculeata , Spirifer tenticulum , Athyris Hel -
mersent u. s. w. In den Kalksteinen am Fluss Schelon und bei
Tschudowo kommen erstere drei Arten schon viel seltener vor,
Athyris Helmerseni wird gar nicht gefunden, statt dessen erscheinen
Spirifer Archiaci , Khynchonella livonica , Orthis striatula . In den Kalk¬
steinschichten am Flusse Oredej verschwinden die am Ilmensee vor¬
kommenden Formen’ beinahe gänzlich und ausser Rhynchonella
livonica und Orthis striatula kommen hier hauptsächlich Rhyncho -
nella Meyendorfii und Spririfer muratis vor.
Hr. Trautschold 1 hat uns eine Beschreibung der Fischreste aus
den devonischen Schichten bei Malöwka im Tula’schen Gouverne¬
ment geliefert. In seiner Schrift sagt Hr. Trautschold, dass die von
ihm beschriebenen Fischzähne, mit Ausnahme der neu entdeckten
Formen, eine deutliche Verwandtschaft mit den im Bergkalk vor¬
kommenden Arten zeigen. Von dreizehn beschriebenen Formen
ist nur eine, Cladodus simplex , früher bekannt gewesen. Dieselbe
wurde in den devonischen Schichten der Umgebung St. Petersburgs
gefunden; ausserdem kann noch die Form der Schuppen von Glyp-
tolepis als eine rein devonische angesehen werden. Helodus gibbe -
rulus und Psamtnodus porosus sind hingegen Bergkalk Versteine¬
rungen; die am häufigsten auftretenden Zähne von Helodus aversus
Nouveaux m^moires de la Society des naturalistes de Moscou 1874. V. p. 263.
Rdm Tcttio Bd. VII.
35
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538
sind beinahe mit dem Helodus lacrissimus aus dem Bergkalk iden¬
tisch. Orodus tumidus steht auch der Species Orodus ramosus aus
dem Bergkalk sehr nahe. Was endlich die neuen von Hm. Traut-
schold beschriebenen Arten betrifft, so sind sie mehreren, im Berg¬
kalk vorkommenden Formen sehr ähnlich.
Die Versteinerungen der Malöwka-Murajewnaschen Etage haben
in letzter Zeit die Aufmerksamkeit des Professors De-Koninck auf
sich gezogen, welcher ihnen einen besonderen Aufsatz gewidmet
hat (Bulletin de Moscou. 1874. III, p. 165) 1 . Hr. Prof. De-Koninck
hält die Mehrzahl der palaeontologischen Bestimmungen der Hm. Sse-
menow und Möller, welche eine Monographie der Fauna der ge¬
nannten Etage geliefert haben (Russisches Berg-Journal, 1864) für
unrichtig. Er bemüht sich nachzuweisen, dass diese Etage nicht
zur devonischen, sondern zur Kohlenformation gehört. Bevor jedoch
Professor De-Koninck seinen Zweifel an der Richtigkeit der Bestim¬
mungen der Hrn. Ssemenow und Möller aussprach, hatte schon der
verstorbene Professor Auerbach (im Bulletin de Moscou, 1862)
solche Formen der Kohlenformation als im Kalkstein von Malöwka
vorkommend, beschrieben und abgebildet, welche dort nie gefunden
worden sind, was denn die Hrn. Ssemenow und Möller nachgewiesen
haben, und was ich durch meine eigenen Beobachtungen bestätigen
kann. Die von Professor Auerbach beschriebenen Versteinerungen
waren nicht von ihm selbst in Malöwka gesammelt worden.
Ueberhaupt können, meiner Meinung nach, die Malöwka-Mura¬
jewnaschen Schichten, die Professor Romanowsky schpn früher mit
dem Namen der Citherinen-Gruppe bezeichnet hat, nicht die Be¬
deutung als eine selbstständige Etage verlieren, weil dieselben
grosse Mengen von Citherinen, Area oreliana u. A. enthalten, nur
müssen sie als eine Uebergangsetage vom devonischen zum Kohien-
system angesehen werden.
Was das Donez’sche Kohlenbassin betrifft, so liegen uns dar¬
über zwei Schriften vor. Die erste, von Hrn. Ludwig, giebt eine
allgemeine Eintheilung der Donez'schen Schichten; die zweite,
von Hrn. Gurow, enthält eine Beschreibung der organischen Ueber-
reste der Donez’schen Kohlenformation.
Von Hrn. Ludwig wurden geognostische Untersuchungen änge-
stellt. Er machte eine Fahrt aus Sulim längs der Woronesh-
f Wir behalten uns vor, auf diesen Artikel des Hrn. de-Koninck ein anderes Mal
näher zurück zu kommen. D. Red.
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539
Rostow’schen Eisenbahn, über die Kosackendörfer Krinitschnaja,
Doljinskaja, Kuritschja bis Rovenki, und von da über das Dorf
Krepinkaja nach Nowo-Pawlowsk und Uspensk, auf der Taganrog-
Charkower Linie. Die Kohlenformation des Donez’schen Gebirges
zerfällt, nach Angabe von Hrn. Ludwig, in vier Etagen
Die erste oder Kalkstein-Etage bildet die Grundlage der ganzen
Kohlenformation, und besteht hauptsächlich aus Kalksteinschichten
mit Productus giganteus und Spirifer glaber, zu denen in dem oberen
Theile der Etage Sandsteine und Schieferthone hinzutreten. Am
Fluss Kalmius ist diese Etage auf Sandstein- und Konglomerat¬
schichten mit Pflanzenüberresten gelagert; letztgenannte Schichten
entsprechen den Kohlen von Central-Russland. In Central-Russland
liegen diese Gebilde auf devonischen Schichten, hier aber dienten
ihnen als Sohle primäre Gesteine und Porphyre.
Die zweite oder eisensteinhaltige Etage . Die mächtigen Ablage¬
rungen dieser Etage bestehen hauptsächlich aus Sandsteinen und
Schieferthonen, zu denen Kalksteine, Brauneisenerze und im obersten
Theile dann noch drei Kohlenlager hinzutreten. Im Kalkstein,
der die obere Grenze dieser Etage bildet, kommen folgende
Versteinerungen vor: Spirifer glaber, Sp. lineatus , Sp. striatus ,
Sp. mosquensis , Productus semireticulatus, Pr. haentispkaericus , Orthis
resupinata u. A. In den untersten Theilen der Etage tritt Bleiglanz,
und in den mittleren Brauneisenstein in vielen 3 bis 5 Fuss dicken
Schichten auf, mit einem Eisengehalt von 30 bis 52 pCt.
Die dritte oder die Kohlenetage wird aus «Schieferthonlagem mit
untergeordneten Schichten von Sandstein, Brauneisensteinschichten,
vielen Kohlenlagern und einigen Kalksteinschichten gebildet. Die
Kalksteinschichten theilen diese Etage in Junf Abtheilungen. Die
unterste Abtheilung enthält die erste Pflanzen-Zone, welche bei Pe-
trowsk mit Calamiten, Sigillarien, und theilweise auch mit Farren-
kräutern auftritt; sie enthält drei Schichten guter Steinkohle. Die
zweite Abtheilung ist die reichste an Kohlenflötzen. Sie wird von
der zweiten Pflanzenzone charakterisirt, die hauptsächlich aus Far-
renkräutern besteht, als: Odontopteris neuropteroides , Neuropteris
flexuosa , Sphenopteris distans u. A. Viele der hier vorkommenden
Pflanzenreste sind zugleich auch für die zweite Pflanzenzone charak¬
teristisch, woher denn Hr. Ludwig auch diese Schichten einander
gleich stellt. Die dritte Abtheilung wird von der dritten Pflanzen¬
zone charkterisirt, die in zwei Kohlenschichten auftritt und Odontop
1 Bulletin de la Soci£t6 des naturalistes de Moscou. 1873. TV, p. 290.
35*
Ä
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540
teris Münsteri ,, Neuropteris acutifolia , Annularia radiata , LUopodües
selaginoides enthält. Die vierte Abtheilung enthalt auch zwei Kohlen¬
schichten, ist aber bis jetzt noch wenig untersucht Die fünfte Ab¬
theilung besteht aus Schieferthon, enthält eine Kohlenschicht und
harrt auch noch einer genaueren Untersuchung.
Die vierte oder Fusulinen-Etage besteht aus bunten Schiefer-
thonen, Sandsteinen und Kalksteinen, und bildet einen Uebergang
zum permischen System. In dieser Etage ist bis jetzt nur eine
Kohlenschicht bekannt, sie enthält viele Eisenerzlagerstätten; im
Kalkstein, der die unterste Grenze dieser Etage bildet, kommt Fusu -
Ima cylindrica vor.
Wir schliessen hier eine kurze Notiz über die Pflanzenzonen
der Steinkohlenformation Deutschlands an, deren Hr. Ludwig er¬
wähnt In vielen Kohlenbecken ist die Möglichkeit geboten, in
den verschiedenen über einander gelagerten Steinkohlenschichten
eine, von der anderen verschiedene Flora zu beobachten. Durch
die in Sachsen angestellten Untersuchungen hat Hr. Professor Gei¬
nitz nachgewiesen, dass über der ältesten, dem Culm entspre¬
chenden, Flora der Kohlenformation, welche die erste Pflanzen¬
zone bildet, (besonders in der Umgegend von Zwickau) noch vier
Pflanzenzonen übereinander folgen, welche der produktiven Kohlen¬
formation angehören. Diesen vier Zonen giebt Hr. Geinitz folgende
Benennungen: der zweiten — die Sigillarienzone, der dritten—die
Annularinzone, der vierten — die Calamitenzone und der fünften
oder jüngsten — die Zone der Farrenkräuter. Dieser Eintheilung
zufolge müssen die dritte und vierte Etage von Ludwig, als zur
oberen (produktiven) Kohlenformation gehörend, angesehen werden;
obgleich die erste Abtheilung der dritten Etage hier dem Culm ent¬
spricht, so muss man doch bemerken, dass der Culm nicht überall
dem Bergkalk equivalent ist, sondern in einigen Gegenden die Flora
des Mühlsteinsandsteins in sich schliesst, und Letzterer immer der
oberen Formation zugezählt wird. Die fünfte Etage ist ein Ueber-
gangsgebilde, während die erste und zweite der unteren Kohlen¬
formation oder dem Bergkalk angehören. Es ist bemerkenswert!!,
dass auch hier, wie im Moskauer Becken, die Schichten mit Pro -
ductus giganteus unter den Schichten mit Spirifer mosquensis liegen.
Da die zweite Etage von Ludwig in ihrem oberen Theile drei Kohlen-
flötze in sich schliesst, so musste das zur Bildung dieser Flötze nö-
thige Material eine Flora darstellen, die der ersten Pflanzenzone
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S4i
vorherging. Es ist desshalb zu bedauern, dass Hr. Ludwig aus
dieser zweiten Etage keine Repräsentanten ihrer Flora anführt.
Eine kleine, der Arbeit von Hrn. Ludwig beigefügte, geogno-
stische Karte stellt die Verbreitung der verschiedenen Etagen der
Kohlenformation dar. Aus dieser Karte ist zu ersehen, dass im
Donez’schen Becken die zweite Etage vorherrschend ist; unter der¬
selben treten nur stellenweise die Schichten der untersten Etage zu
Tage. Auf dieser zweiten Etage ist in vielen einzelnen Inseln die dritte
Etage abgelagert, welche im nordwestlichen Theile des Donez-
schen Bergrückens von der vierten Etage und von Gebilden jün¬
gerer Formationen überlagert wird. Die erste Etage nimmt auf der
Karte drei schmale Streifen ein, von denen der eine den Ort Stila,
der andere die Dörfer Nowo-Pawlowka und Isajewka streift und der
dritte den oberen Lauf der Kamenka durchschneidet.
So gerne wir anerkennen, dass der Artikel von Hm. Ludwig und
die beigefügte Karte interessante Angaben enthalten, so sehr müssen
wir bedauern, dass der allgemeine Ueberblick über die Gebilde des
Donez’schen Kohlensystems nicht auf einer allgemeinen Uebersicht
aller einzelnen, in den verschiedensten Gegenden des Donez’schen
Gebirges angestellten Beobachtungen beruht. Da solche Beobach¬
tungen hier jetzt noch fehlen, so können natürlich die allgemeinen
Folgerungen, welche nur auf einzelnen Beobachtungen beruhen, in
Hinsicht auf das ganze Terrain in Zukunft grossen Veränderungen
unterliegen.
Einen ganz anderen Charakter trägt die Arbeit des Hrn. Gurow
die das Resultat gründlicher Untersuchung eines reichen paläontologi-
schen Materials darstellt Hr. Gurow hat ausführliche Diagnosen von
120 Thier- und Pflanzenformen aus den Kohlenschichten des Donez’¬
schen Gebiets mit Angabe ihrer Fundorte geliefert. Es ist zu be¬
dauern, dass diese Arbeit plötzlich abbricht und keine allgemeinen
Folgerungen enthält, wenn diese auch nur eine Gruppirung der
Formen nach den Fundorten bieten würden. Hr. Romanowsky hat
eine Spirifer Species, die er für neu hält ( 5 ^. Jerofejeuri ), aus dem
Bergkalk der Ufer des nördlichen Donez bei Lisitschansk be¬
schrieben *.
Endlich ist noch eine bergindustrielle Flötzkarte des westlichen
Theils des Donez’schen Gebirges (im Maasstabe von 3 Werst auf
* Verhandlungen des Naturforscher-Vereins an der Kaiserlichen Universität iu Char¬
kow. Bd. VI und VH.
Ä Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. 1873. Vjn, p. 127.
/
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einen Zoll) erschienen. Dieses ist nur eine Reproduktion von
Hrn. Nossow’s Karte, welche im Maassstabe von io Werst = ein
Zoll herausgegeben wurde. Bei der Uebersicht des permischen
Systems kommen wir nochmals auf diese neue Karte zurück.
Wir verlassen nun das Donez’sche Kohlenbecken und gehen zu dem
von Central-Russland über, dessen Kohlengebilde in den Gouverne¬
ments Nowgorod, Ssmolensk und Wladimir von den Hrn. Ditmar und
Lahusen im Aufträge der Mineralogischen Gesellschaft untersucht
worden sind l . Aus den sehr umständlichen Untersuchungen des
Hrn. Lahusen ist zu ersehen, dass im Gouvernement Nowgorod die
Schichten der Kohlenformation dasselbe in der Mitte von Norden
nach Süden durchschneiden; die westliche Grenze dieser Ablage¬
rungen ist bei Tichwin, Borowitschi und Waldai zu ziehen, während
die östliche eine Linie bildet, die sich von Bjeloosero zum nörd¬
lichen Ende des Kubenskischen Sees und von da nach Ustjuschna
erstreckt. Der hier auftretende Streifen von Schichten des Kohlen¬
systems zerfällt in zwei Theile, von denen der östliche, grössere
Theil aus oberem Bergkalk, der westliche aber aus unterem Berg¬
kalk, mit unter ihm hervortretenden kohlen führenden Schichten
besteht. Diese aus Thon und Sand zusammengesetzten Schichten
treten an der westlichen Grenze des unteren Bergkalkes zum Vor¬
schein, und an den Stellen, wo dieser abgeschwemmt ist, erscheinen
sie in Form vereinzelt liegender Inseln. Der untere Bergkalk hat hier
eine gelbe oder graue Farbe, und schliesst Productus giganteus in
sich. Die allgemeine Verbreitung des unteren Bergkalks entspricht
hier ganz der Richtung, welche die Waldai’sche Hochebene ein-
nimmt. Die Etage des oberen Bergkalks besteht aus verschieden¬
farbigen Kalksteinen mit Spirifer mosqucnsis und Fusulina cylindrica y
aus bunten Mergeln und Thonschichten; sie bildet ein weit aus¬
gebreitetes erhöhtes Plateau, welches in der Nähe der Quellen des
Flüsschens Olchowka (Nebenfluss des Pes’) mit einer hohen Terrasse
beginnt, und erstreckt sich von hier aus über die Kreise Ustjuschna
und Bjelosersk. Den Untersuchungen des Hrn. Ditmar zufolge ist
der untere Bergkalk im südöstlichen Theile des Ssmolenskischen
Gouvernements sehr verbreitet, was man beurtheilen kann nach den
Entblössungen der Schichten dieser Etage an den Ufern des Flusses
Wasusa am Sytschew’schen Kreise, am Fluss Ugra im Juchnow 1 -
schen Kreise, am oberen Lauf des Dnjepr und der Düna, so wie
auch an den Nebenflüssen der Meja im Kreise Bjelsk, und endlich
f Materialien zur Geologie Russlands. 1873. V.
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543
am Flusse Wjasma im Wjasmaschen Kreise. Im Wladimir’schen
Gouvernement finden wir hingegen den oberen Bergkalk stark
ausgebildet, doch war es Hrn. Ditmar nicht möglich, diesem Gou¬
vernement eingehende Studien zu widmen. Er hat hier den oberen
Bergkalk hauptsächlich in den Kreisen Kowrow und Sudogda
untersucht.
Hr. Profssore Traütschold hat die Herausgabe einer paläontologi-
schen Monographie des oberen Bergkalks begonnen, und betrachtet
die an Versteinerungen reichen Steinbrüche von Mjatschkowo bei
Moskau als Repräsentanten desselben. In dem ersten Theile seiner
Arbeit 1 bespricht Hr. Traütschold die Lagerungsverhältnisse der
verschiedenen, in Mjatschkowo vorkommenden Gesteinschichten und
giebt die Beschreibung der in ihnen vorkommenden Fischreste,
Trilobiten und Mollusken. Die zu besprechende Arbeit stellt einen
merkwürdigen Kontrast zu der Arbeit des Hrn. Gurow dar, indem
Hr. Traütschold viele neue Arten beschreibt, während in dem nicht
weniger reichen Material des Hrn. Gurow beinahe keine neue Form
anzutreffen ist.
Hr. Prof. De-Koninck hat neuerdings 2 die Meinung ausgesprochen,
dass die russischen Geologen, aller Wahrscheinlichkeit nach, in
Betreff der Batrologie der verschiedenen Abtheilungen des Mos¬
kauer Bergkalkes irre geführt seien, und dass dort, trotz den An¬
gaben von Murchison und anderer Gelehrten, der Kalkstein mit
Productus giganteus wahrscheinlich über dem Kalkstein mit Spirifer
mosquensis liege. Diese Meinung des Hrn. Professors De-Koninck ist
darauf begründet, dass in Belgien der Spirifer mosquensis wirklich
unter den Schichten mit Productus giganteus gefunden wird. Der
belgische, mit der russischen geologischen Literatur wenig bekannte
Gelehrte sagt selbst, dass sein vorgerücktes Alterund seine Schwäche
es ihm nicht gestatteten, durch eigene Untersuchungen diese überaus
wichtige Frage zu entscheiden. Er fordert junge Leute, die sich mit
Liebe der Wissenschaft gewidmet haben, auf, diese Frage zu lösen
und ahnt dabei gar nicht, dass die russischen Geologen über diesen
Punkt vollkommen einig sind, und Hrn. De-Koninck an solche
Orte führen können, wo der Kalkstein mit Spirifer mosquensis ganz
deutlich auf dem mit Productus giganteus gelagert ist. Bei dieser
Gelegenheit fällt mir unwillkürlich ein ähnlicher Fall ein, wo ein aus¬
ländischer Gelehrter behauptete, dass die russischen Geologen
1 Nouveaux m^moires de la Soc. des Natur, de Moscou. 1874* P* * 97 »
* Bullet, de la Soc. des Natur, de Moscou. 1874. ni, P« l6 5 -
i
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544
desshalb im Moskauer Becken keine guten Kohlenschichten ent¬
decken könnten, weil sie nicht in den rechten Schibhten, und nament¬
lich in der oberen Kohlenformation (coal-measures) nach solchen
suchten. Dieser Gelehrte hatte natürlich keine Ahnung davon, dass
die Formation, auf welche er hinweist, im Moskauer Becken ganz
fehlt, und dass dort nur die untere Steinkohlenformation (der Berg¬
kalk) auftritt.
Die neueren Nachrichten über das permische System betreffen
nur das Gouvernement Wladimir und die jenseits der Wolga gele¬
genen Steppen (den Berg Tschaptschatschi). Im östlichen Theile
des Wladimir’schen Gouvernements sind die Zechsteinablagerungen
schon von Murchison und Pander entdeckt worden; Hr. Ditmar
giebt eine Beschreibung solcher Schichten beim Kirchdorf Bulat-
nikowo, 22 Werst nord-westlich von Murom, und beim Kirchdorf
Lewkowo am Flusse Lucha im Wjasnikow’schen Kreise. Beiläufig
ist zu erwähnen, dass beim Dorf Melkowodka, im Knjagininschen
Kreise des Gouvernements Nishnij-Nowgorod, Nester von Amiant
gefunden worden sind, die Hr. Professor Schtjurowsky als zu dem
in der Gegend verbreiteten permischen System gehörend ansieht *.
Was nun den im Jenotajew’schen Kreise des Gouvernements Astra¬
chan befindlichen Berg Tschaptschatschi betrifft, so habe ich in den
Dolomiten, welche den südlichen Theil desselben bilden, Versteine¬
rungen gefunden, die mich bewegen, diesen Dolomit als permisch an¬
zusehen. Das im Hangenden des Dolomits gelagerte Steinsalz ge¬
hört aller Wahrscheinlichkeit nach auch zum permischen System 2 .
In der permischen-Formation der Gouvernements Charkow und
Jekaterinoslaw, in Sslawjansk und Bachmut, sind in einer Tiefe von
50 Faden Steinsalzlager entdeckt worden *. Dieser höchst wichtige
Fund wird natürlich genauere Untersuchungen an verschiedenen
Orten zu Folge haben, doch sei hier bemerkt, dass nicht alle roth-
gefärbten Gesteine dieser Gegend zur permischen Formation gehören.
Im Gegentheil, nach den Untersuchungen des Hm. Klemm erweist
es sich, dass die, von den Hrn. Nossow (Bergjournal, 1865. II, p. 50)
als permische bestimmten Schichten zweifellos zur Tertiärformation
gehören, wie z. B. die Schichten an der oberen Tersa, bei Litowka,
* Verhandlungen des Vereins der Freunde der Naturkunde, Anthropologie und Eth¬
nographie, 1874. XIV, p. 6.
* TopHbift )Kyp^ajn> (Russisches Bergjournal). 1874. II, p. 67.
3 Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. 1874. IX, p. 143.
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am Flusse Woltschja, in der Gegend von Iwanowka und an anderen
Orten.
Hr. Prof. Lewakowsky legt besonderes Gewicht auf jenes Re¬
sultat der Erforschungen von Hrn. Klemm, durch welches das Alter
(Tertiärformation) derjenigen Schichten genau bestimmt worden ist,
die ganz willkürlich zur unteren Kreideformation und zu dem permi¬
schen System gerechnet wurden, und auch so auf der Karte der
Gebrüder Nossow angegeben sind. Professor Lewakorowsky fügt noch
hinzu, dass die Untersuchungen von Hrn. Klemm ausser ihrem rein
wissenschaftlichen Interesse noch die praktische Bedeutung haben,
dass sie Jedermann warnen, unnütze Ausgaben zur Erforschung von
solchen Mineralien, die in den Ablagerungen des permischen Sy-
st&ns auftreten, in dieser Gegend zu machen l .
Da in neuester Zeit die Triasschichten Russlands nicht weiter un¬
tersucht worden sind, so wenden wir uns zu den jurassischen Ge¬
bilden. Wir halten es für nöthig, zuerst die neue Auffassung des
Wiener Professors Hm. Neumayr zu erwähnen, welcher neuer¬
dings in den Juraschichten Europas drei geologische Provinzen un¬
terscheidet. Das Jurasystem ist, wie bekannt, sehr reich an Verstei¬
nerungen und zerfällt in drei Formationen und vielfache Unterab¬
theilungen. Die Verschiedenheit der Formationen und hauptsächlich
ihrer Unterabtheilungen wird nicht durch die Genera bestimmt, son¬
dern vielmehr durch die verschiedenen Species der in ihnen einge¬
schlossenen Thierreste, und die Gliederung des Systems umfasst
gewöhnlich nur bestimmte Lokalitäten. Daher kommt es oft vor,
dass man zwischen den in einer Gegend festgestellten Unterab¬
theilungen der Juragebilde nicht eine genaue Parallele ziehen kann
mit den Schichten eines anderwärts gelegenen Jurabassins; und
daher gerade erregt die Aufsuchung ähnlicher Parallelen bei Weitem
kein solches Interesse, wie sie die Nachweisung der Verschieden¬
artigkeit der Juraschichten an verschiedenen Orten ihres Auftretens
bietet. Eine solche Verschiedenartigkeit weist darauf hin, dass
während der Juraperiode zum ersten Mal die Einwirkung verschie¬
dener Klimas auf das organische Leben deutlich zum Vorschein tritt.
Aehnlich wie wir jetzt eine Verschiedenheit der Fauna und Flora
beobachten, die hauptsächlich von der geographischen Breite der
Orte, im Zusammenhang mit sehr vielen anderen Bedingungen,
1 Verhandlungen des Naturforscher-Vereins zu Charkow. VIII.
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abhängt, so muss man auch vermuthen, dass in den früheren Perioden
der Erdbildung ebenfalls solche Verschiedenheiten stattgefunden
haben, und von der Juraperiode an finden wir auch deutliche Spuren
derselben. Aehnlich wie wir jetzt die Erdoberfläche nach den‘auf ver¬
schiedenen Theilen derselben vorkommenden Thieren und Pflanzen
in verschiedene Zonen theilen, die durch eine besondere ihnen
eigenthümliche Fauna und Flora charakterisirt werden, so können
wir uns auch fiir die früheren Perioden verschiedene geologische
Provinzen denken. Wie schon erwähnt, unterscheidet Hr. Professor
Neumayr in den mittleren und oberen Juraschichten drei Provinzen 1 ,
nämlich die Provinz des Mittelmeeres (der Jura Spaniens, der Se-
vennen und Alpen, Italiens, der Karpathen und des Balkangebirges);
die Provinz Mitteleuropa (der Jura des übrigen Frankreichs utid
Deutschlands, Englands, der baltischen Länder, Brünn, Krakau,
Dobrudscha) und die russische Provinz (die Umgegend von Moskau,
das Petschoraland, Spitzbergen, Griechenland). Die noch wenig er¬
forschten Juraschichten der Krim und des Kaukasus, so wie die
Schichten bei Isum, gehören wahrscheinlich zu der erstgenannten
Provinz (des Mittelländischen Meeres).
Die Fauna der Provinz des Mittelländischen Meeres wird haupt¬
sächlich durch eine Menge von Ammoniten aus den Gattungen
Phylloceras und Lytoceras , wie auch durch Terebratulen aus der
Familie T. diphya charakterisirt. In der mitteleuropäischen Provinz
fehlen die eben erwähnten Ammonitenarten beinahe gänzlich, statt
welcher die Arten Oppelia und Aspidoceras auftreten; zugleich sind
hier auch die Korallenriffe äusserst verbreitet. Die russische Provinz
zeichnet sich durch die Abwesenheit der Arten Oppelia und Aspi¬
doceras aus; auch die Korallenbildungen fehlen. Alle drei Provinzen
erstrecken sich in der Richtung von Osten nach Westen; die nördlichste
der Provinzen ist die russische, dann folgt die mitteleuropäische, und
die südlichste ist die Provinz des Mittelländischen Meeres. Die Ver¬
schiedenheit der beiden letzteren Provinzen, welche sich stellen¬
weise berühren (wie z. B. in Mähren) kann nicht durch die An¬
nahme der Existenz eines Kontinents zwischen ihnen nachge¬
wiesen werden, und da in jetziger Zeit eine scharfe Verschiedenheit
der Fauna in den Meeren und an den Grenzen warmer Meeresströ¬
mungen beobachtet wird, so glaubt Professor Neumayr, dass der
Provinz des Mittelmeeres durch eine Equatorialströmung warme
Gewässer zugeführt wurden, und dass die nördliche Grenze dieser
1 Verhandlungen der K. K. Geologischen Reichsanstalt. 1872.
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547
Equatorialströmung mit der jetzigen Grenze der beiden Provinzen
ühereinstimmt.
Somit haben die jurassischen Gebilde des nördlichen und mittleren
Russlands einen besonderen Charakter, und stellen eine besondere
geologische Provinz dar.
In den oberen Etagen dieser Ablagerungen erscheinen, wie be¬
kannt, schon einige der Kreide angehörige Thierformen, so dass
Hr. Eichwald diese Etagen, wie z. B. bei Moskau, nicht mehr als
dem Jura-, sondern dem Kreidesystem angehörig betrachtet. Ueber-
haupt ist bei uns die Frage, was die Grenze zwischen den Jura- und
Kreidegebilden ausmache, von grossem Interesse und kann nur
durch die allergenauesten stratigraphischen und paläontologischen
Bestimmungen entschieden werden. Ganz speciell weist Hr. Kowa-
lewsky in seinem Werke, das wir in den «Verhandlungen des
Moskauer Vereins von Freunden der Naturgeschichte, Anthro¬
pologie und Ethnographie, Bd. XIV, pag. 41» abgedruckt finden,
auf diese Frage hin. Auch Hr. Kowalewsky nimmt auf Grundlage
der Art und Weise, wie sich die Jura-Kreidegebilde gegenseitig
berühren, für Europa drei parallele Zonen an.
Seine nördliche Zone wird im Süden durch eine Linie begrenzt,
welche sich von Yorkshire über Helgoland nach Braunschweig,
hierauf über Schlesien nach Polen erstreckt; in der ganzen Aus¬
dehnung dieser Zone sind die Kreidegebilde unmittelbar, und zwar
diskordant, auf die ausgewaschene Oberfläche der oberen Jura¬
schichten gelagert; — augenscheinlich fand hier, bei der Bildung
beider Systeme, eine Zwischenzeit statt. Die mittlere Zone wird im
Süden durch eine Linie von ununterbrochenen Jura-Kreideablage-
rungen begrenzt, welche sich von Spanien über Chambery, Glarus,
die bayrischen Alpen, Wien, die Karpathen, Dobrudscha und viel¬
leicht bis zur Krim hinzieht; in dieser Zone schiebt sich zwischen
die Jura- und Kreideablagerungen eine Suite von Süsswasserge¬
bilden ein. Der südlichen oder mediterranäen Zone gehören alle die
sedimentären Ablagerungen an, die, südlich von letzterwähnter Linie
befindlich, die Alpen- (Tiefwasser) Facies darstellen, in welchen
die oberen Juraschichten, in ununterbrochener und paralleler Lage¬
rung, in die unteren Kreideschichten übergehen, so dass es in diesem
Falle fast unmöglich erscheint, eine bestimmte Grenze zwischen
beiden Systemen festzustellen.
Auf diese Weise sehen wir die Jura- und Kreideperioden, die im
nördlichen und mittleren Europa so scharf abgesondert erscheinen,
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548
im südlichen Europa eng verbunden durch eine ununterbrochene
Schichtenreihe, die, wie bekannt, in der Wissenschaft den Namen
der Tithonischen Etage führt. Zu der Zeit, als sich diese Schichten
im südlichen Europa ablagerten, bildete, nach erfolgter Hebung,
das übrige europäische Jurasystem schon einen Theil des festen
Landes, auf dem sich die Süsswassergebilde der sogenannten Wealden -
formaüon ablagerten. Die Juraschichten des Königreichs Polen und
die bei der Stadt Propiljan (im Kowno’schen Gouvernement) hält
Hr. Kowalewsky für Gebilde des westeuropäischen Jurameeres und
ordnet sie seiner nördlichen Zone unter, in der, zwischen den Jura-
und den sie überlagernden Kreideschichten, eine bedeutende Zwi¬
schenzeit bemerkbar ist. Dagegen werden die Juragebilde des
nördlichen und mittleren Russlands, auf Grundlage ihrer Analogie
mit dem Jurasystem Spitzbergens und Sibiriens, von Hrn. Kowa¬
lewsky für Ablagerungen aus einem Meere, das einen Theil des
nördlichen Jura-Oceans bildete, angenommen; dieser Theil des nörd¬
lichen Meeres zog sich über das Petschora-Bassin nach Süden hin,
umspülte das Moskauer Gebiet und dehnte sich bis zum Kaspischen
See aus, während er vom westeuropäischen Meere durch das erhöhte
Festland des nördlichen Russlands, durch Finland und Schweden
getrennt war. Dieses Festland existirte schon längst, sogar schon
nach der permischen Periode, was daraus zu ersehen ist, dass es
weder im nördlichen noch im mittleren Russland Meeresablage¬
rungen aus der Triaszeit giebt. Hr. Kowalewsky fordert nun auf,
zunächst die nördlichen Grenzen unseres centralen Juragebietes zu
bestimmen. Man habe, sagt er, einigen Grund vorauszusetzen, dass
vielleicht auch Russland die beiden Typen der Jura-Kreidegebilde
aufweisen könnte, die er für das übrige Europa beschrieben hat.
Das Vorkommen in der Krim solcher Formen wie Terebratula
diphya, ) Ammonites quadrisulcatus (tatricus) und überhaupt einer
Neokombildung, die vollkommen der südüchen Zone der ununter¬
brochen Jura-Kreideschichten entspricht, giebt in der That Veran¬
lassung zu glauben (wie dieses schon von Neumayr ausgesprochen
ist), dass in den südlichen Theilen Russlands, in der Krim und auf
dem Kaukasus ein allmählicher Uebergang vom Jura zur Kreide, ver¬
mittelst der Tithonischen Etage, stattfindet. Andrerseits weist
die Existenz des Klin’schen Sandsteines, den man zur Wealdenfor -
tnation rechnet, darauf hin, dass die Erhebung des Festlandes näch
der Juraperiode eine Unterbrechung in der Bildung der Niederschläge
in Central-Russland hervorrief. Die Existenz der Wealdenformation
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549
in Central-Russland, meint Hr. Kowalewsky zum Schlüsse, mache
die Frage wegen der Grenze zwischen den Kreide- und Juragebilden
zu einer ganz besonders interessanten; zur Entscheidung derselben
weist Hr. Kowalewsky auf eine Untersuchung der Wolgaent-
blössungen hin.
Gleichzeitig mit dem Werke des Hm. Kowalewsky erschienen
Hrn. Ludwig’s Notizen *, gleichfalls die Wolgaufer betreffend.
Hr. Ludwig sagt, er habe in den Schichten der bekannten Ent-
blössung beim Städchen Kaschpur Ammoniten gefunden, die
hier auf die Existenz von Tithonschichtrn schliessen liessen. Ob¬
gleich alle diese Ammoniten nur annähernd bestimmt worden sind,
so könnte doch, nach der Meinung des Hm. Ludwig, vielleicht eine
neue Besichtigung der Moskauer und Wolgaer Ammoniten den
alten Streit über das Alter der Schichten, welche diese Versteine¬
rungen enthalten, entscheiden.
Ferner erwähnen wir noch, dass sich in den Berichten der
Hrn. Ditmar und Stuckenberg 2 Notizen befinden über die Juragebilde
am Flusse Oka, im Wladimirschen Gouvernement, und in der Krim.
Hr. Stuckenberg hat in den Thonschiefern Balaklawa’s Ueberreste
von Posidonia Bronni aufgefunden, und dadurch die Zugehörigkeit
dieser Schiefer zum Lias noch mehr konstatirt. Hr. Miloschewitsch
sagt in seinem Aufsatze 3 , dass in der mittleren Etage der Moskau’-
schen Juragebilde, zwichen den Dörfern Tatarowo und Troitzk,
Zähne von Polyptychodon interrupius Ow. aufgefunden seien, und
dass man, aller Wahrscheinlichkeit nach, diesem Genus die Rücken¬
wirbel zuschreiben müsste, welche Fischer früher unter dem Namen
Jchtyosaurus Nasimovit beschrieben hat. Dieser Fund eines so hoch
organisirten Thieres, das ohne Zweifel der Kreideperiode ange¬
hörte, in Ablagerungen, die gewöhnlich für Juragebilde angenommen
werden und Ammonites virgatus enthalten, wirft, wie Hr. Milo¬
schewitsch bemerkt, ein ganz neues Licht auf diese Schichten, und
unterstützt im hohen Grade die Meinung des Hrn. Eichwald, der
diese Schichten für Kreidegebilde hielt.
Der Kijew’sche Naturforscher-Verein unternahm eineUntersuchung
des Chersson’schen Gouvernements mit der Absicht, Juragebilde
in demselben aufzusuchen. Hr. Blümel wurde zu diesem Zwecke
dahin geschickt. Man muss bemerken, dass es bei uns kein Gou-
1 Bull. d. 1 . soc. d. nat. d. Mose. 1874. H, 379.
* Materialen für die Geologie Russlands. V.
* Verhandlungen des Moskauer Naturforscher-Vereins. ITT, 311.
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SSO
vernement giebt, welches in geologischer Beziehung so genau unter¬
sucht worden wäre, wie das Chersson’sche, und keiner von den bis¬
herigen Forschern hat auch je nur entfernt auf die Möglichkeit hin¬
gewiesen, daselbst Spuren von Juragebilden anzutreffen; andererseits
ist auch zu erwähnen, dass gerade im Kijew’schen Gouverne¬
ment, im Konew'schen Kreise, Juraschichten schon längst bekannt
sind, an deren nähere Untersuchung und Beschreibung bisher noch
Niemand gedacht hat. In seinem Berichte 1 erklärt Hr.Blümel, dass er
im Chersson’schen Gouvernement durchaus keine Juragebilde ge¬
funden habe — was auch zu erwarten war.
Die hier zu besprechenden Schilderungen des Kreidesystems be¬
ziehen sich hauptsächlich auf die Ufer der Wolga. Hr. Lahusen *
wählte zum Thema seiner paläontologischen Dissertation die Be¬
schreibung der Schichten schwarzen Thones, auf denen die Stadt
Ssimbirsk gebaut ist. In dem Ssimbirski’schen Thone, erklärt Hr. La¬
husen, treten nicht nur einige der Hauptvertreter der unteren west¬
europäischen Kreidegruppe auf, sondern auch viele andere Thier¬
formen derselben, die den bekannten Species der unteren Kreide
sehr ähnlich sind. In paläontologischer Beziehung kann man diese
Thonbildungen in zwei Etagen eintheilen, von denen die untere
einige allgemeine und ähnliche Formen mit denen des Neocom und
Hils einschliesst, während in der oberen Etage eine grosse Menge
von fossilen Ueberresten einiger Cephalopoden bemerkbar ist, welche
den oberen (wahrscheinlich wohl den unteren) grünen Sandstein
Englands oder das Aptiengebilde Frankreichs charakterisiren. Eine
genauere, jenen beiden Etagen entsprechende, Gruppirung der be¬
schriebenen Formen führt jedoch Hr. Lahusen nicht an, wenn
er auch erwähnt, dass in den Mergelkonkretionen der unteren
Etage Pecten crassitesta , Avicula Comueliana , Astarte porreeta ,
lnoceramus aucella, Ammonites verstcolor u. a. m., und in den
Mergelzwischenschichten der oberen Etage eine Menge von
Ammoniies Deshayesii und A. bicurvatus Vorkommen. Obgleich
Hr. Professor Trautschold % mit einigen paläontologischen Bestim¬
mungen Hm. Lahusen’s nicht übereinstimmt, so ist er doch nichts¬
destoweniger bereit, den Ssimbirski’schen Inoceramenthon für ein
Kreidegebilde anzusehen. Dagegen zählt Hr. Professor Trautschold,
1 Schriften des Kijew’schen Naturforschervereins, m. 311.
1 Verhandlungen der Mineralogischen Gesellschaft. 1874, IX, 150,
• Bull. d. 1 . soc. d. nat. d. Mose. 1874, III. 150.
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nach wie vor, die Aucellaschichten, in denen Hr. Lahusen keine
einzige jurassischeThierform anerkennt, zu den Juragebilden. Hr. Pro¬
fessor Trautschold lenkt die Aufmerksamkeit der Geologen auf den
Umstand hin, dass längs der Wolga, zwischen Nowo-Dewitschje und
Ussolje, die Kreidemergel mit Avicula densicostata eine grosse Ver¬
breitung haben. Die fossilen Ueberreste der oberen Kreideformation
hat Hr. Lahusen in einem anderen Aufsatze 1 beschrieben, theil-
weise auf das von ihm selbst gesammelte Material, grösstentheils je¬
doch auf die Exemplare der vorzüglichen Jasykowschen Sammlung
fussend, die sich gegenwärtig im Museum des Berginstituts be¬
findet. Die von ihm beschriebene Fauna (in der bloss die Schwämme
und Wurzelfüssler unbestimmt geblieben sind) umfasst, ausser
durchaus russischen Formen, die wichtigsten und charakteristisch¬
sten Vertreter der Senongebilde d’Orbigny’s; auch sind hier einige
Turonische Formen mit einbegriffen. — Werfen wir einen Blick auf
den petrographischen Charakter der oberen Kreideformation, so
könnte man sie in folgender absteigender Ordnung darstellen:
I. weisse Kreide in Mergel übergehend, 2. weisser und grauweisser
Kreidemergel, 3. dichter sprüngiger rauchgrauer Mergel, 4. Glaukonit¬
mergel mitKnollen von Phosphorit, 5. grünlich grauer Sand und Sand¬
stein, gleichfalls mit Phosphorit. Wie Hr. Lahusen bemerkt, sind
die fossilen Ueberreste gleichmässig in diesen Gesteinen vertheilt,
nur werden in den Mergeln, subNr. 3, vorzugsweise Avicula tenuicosta i
Foraminiferen und kleinere Austernarten angetroffen.
Endlich finden wir noch Notizen über Kreidegebilde an der
Wolga in dem Werke des Hm. Sinzow (Schriften des Neurussi¬
schen Naturforscher-Vereins, 1873) und in meinem Aufsatze (Berg-
Journal, 1874. in. 169) \ in dem Werke, das Hr. Karpinsky über
seine Reise in Wolhynien (Wissensch.-hist. Sammlung v. Schriften des
Berginstituts, 1873) veröffentlichte, finden wir gleichfalls Notizen über
das Kreidesystem, ebenso auch in dem Aufsatze des Hm. Stucken¬
berg über die Krim 2 (Materialien für die Geologie Russlands, V).
Endlich muss auch auf die Arbeit des Professors Lewakowsky
hingewiesen werden «über die Kreidegebilde und die tiefer lie¬
genden Schichten in dem Gebiet zwischen den Flüssen Dnjepr und
Wolga» (Schriften des Charkow’schen Naturfurschervereins, 1873
und 1874). Bisher ist von Hrn. Professor Lewakowsky bloss die Geotek-
1 Wissenschaftlich historische Sammlung von Schriften des Berginstituts. 1875,
II. 219.
1 s. «Russ. Revue* Bd. IV, p 255, ff.
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tonik der obenerwähnten Ablagerungen am Dnjepr, seinen Neben¬
flüssen und an den Flüssen des Asow’schen Bassins bearbeitet
worden und wir erwarten mit Ungeduld die Beendigung dieses
beachtenswerthen Werkes, das ein so kolossales Gebiet umfasst.
Was die Tertiärzeit betrifft, so müssen zu allererst AizNumntidiUn-
kalksteine besprochen werden, deren Entdeckung in der Nähe des
Kriwoi-Rog von Hrn. Strippelmann 1 erwähnt wird. Leider bestimmt
er nicht genauer, wo dieselben gefunden worden sind, ob im
Chersson’schen, oder im Jekaterinoslaw’schen Gouvernement? Diese
Thatsache wäre höchst interessant, falls sich Hrn. Strippelmann’s
Anzeige bestätigen sollte, da bisher bei uns Nummulitenschichten
bloss in Polen, in der Krim und auf dem Kaukasus bekannt waren.
Dem verstorbenen Professor Fischer von Waldheim wurden übrigens
eines Tages Nummuliten aus Jelissawetgrad zugestellt; dieSchichten
jedoch, denen sie angeblich entstammten, sind bisher noch von
keinem der Erforscher des Chersson’schen Gouvernements entdeckt
worden. Die Nummulitenschichten der Krim wurden von Hrn. Stu¬
ckenberg näher untersucht 2 (Materialien für die Geologie Russlands,
V. 145). Wie bekannt schreiben einige Geologen diese Krimschen
Gebilde der Kreide zu, andere — dem Eozen; die Meinung Letz¬
terer theilt auch Hr. Stuckenberg, wobei er auf das Faktum fusst,
dass mit den Nummuliten zusammen hauptsächlich nur Eozen-
Versteinerungen gefunden werden, dagegen wären die der Kreide¬
zeit angehörigen Thierformen, die mit den Nummuliten zusammen
angetroffen werden, bloss fossile Ueberreste einer schon ausgestor¬
benen Kreidefauna.
Einige Notizen über die Untertertiärbildungen an den Wolga¬
ufern findet man in der oben citirten Schrift des Hrn. Sinzow und
in der meinigen. Hier bemerken wir einen allmählichen Uebergang
der Kreidegebilde in Tertiärgebilde, wobei eine sehr an Ostrea vesi -
cularis erinnernde Form den Uebergang vermittelt. Ein ganz beson¬
deres Interesse erregen, ihrer Grösse und ihres Reichthums an Ver¬
steinerungen wegen, die kolossalen Konkretionen, denen vom Volke
der Name Korowät (grosse flache Weizenkuchen) gegeben worden
ist, und nach denen die Stanitza (Kosakendorf) Korowaikina be¬
nannt wurde; diese Konkretionen erreichen bisweilen einen Durch¬
messer von 3 Faden (6,4 Mtr.). Die Versteinerungen können nur
4 Strippelmann, Süd-Russland’s Magneteisenstein- und Eisenglanz Lagerstätten.
Halle. 1873, pag* * 5 «Russ. Revue» 1 . c.
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schwer aus der harten Quarzmasse ausgeschieden werden; unter
ihnen entdeckte ich zwei Formen, die ich für neue halte (Cardita
volgensis und Cucullaea volgensis).
Hier wäre es am Ort, die geologische Karte der Stadt Kijew zu
erwähnen, welche der Professor Feophilaktow im Jahre 1874 zusam¬
menstellte, (Massstab ungefähr 200 Fd. = 1 [engl.] Zoll). Kijew ist
•nicht nur seiner historischen Denkmäler und seiner schönen Lage
wegen bemerkenswerth, es erregt auch in geologischer Beziehung
das höchste Interesse. Sich malerisch auf dem hohen rechten Dnjepr-
ufer ausbreitend, auf Hügeln, die im Laufe der Zeit durch den alten
Potschaina, Lybed und eine Menge von Schluchten zerspalten sind,
bietet Kijew vorzügliche Schichtenentblössungen der Tertiär- und
diluvialen Periode dar. Auf der Karte finden wir nicht bloss die
Ausgänge verschiedener Abtheilungen der Tertiärperiode, sondern
auch die Verbreitung der diluvialen Gebilde verzeichnet. Diese
letzteren sind, je nachdem sie auf verschiedenen Abtheilungen der
Tertiärgebilde ruhen, mit verschiedenen Farben bezeichnet, was
natürlich, beim Durchsehen der Karte, eine kleine Unbequem¬
lichkeit verursacht: es wäre viel einfacher gewesen, die Diluvial¬
bildungen mit einer Farbe zu bezeichnen, die untergeordneten Ter¬
tiärbildungen hingegen auf dieser Farbe mit Strichen anzuzeigen.
Das Auge wird ganz besonders unangenehm berührt durch das ver¬
schiedenfarbige Bezeichnen ein und derselben Schicht auf geologi¬
schen Profilen, welche, trotz ihrer Einfachheit, noch ausserdem
durch Zahlen und Buchstaben bunt gesprenkelt erscheinen. Die
Ausführung dieser übrigens höchst interesanten Karte ist eine vor¬
treffliche; auf den Profilen ist der höchste und niedrigte Stand¬
punkt des Grundwassers angegeben, auch der Horizont des Kijew’-
schen Höhlenklosters und A. m. Das Ufer des Dnjepr erreicht in
Kijew eine Höhe von 327 Fuss, wobei die absolute Höhe des Fluss¬
spiegels 278 Fuss beträgt.
Von den unteren Tertiärgebilden gehen wir zu der Neogenfor¬
mation über. Hr. Sinzow weist in seiner Abhandlung «Geologi¬
sche Beschreibung des Bessarabischen Gebiets. Odessa. 1873»
'daraufhin, dass die Nulliporenschichten, die von mir zuerst in Russ¬
land entdeckt worden sind, eine bedeutende Entwickelung im nord¬
westlichen Theile Bessarabiens zeigen. Auch von den aus Pleuropora
(Eschara) lapidosa gebildeten Kalksteinen, die ich aus dem Podoli-
schen Gouvernement, zwischen den Flüssen Muschka und Uschitza,
beschrieben habe, weist er nach, dass sie sich auch nach Bessarabien
Hum. Berne. Bd. Y1I. -r
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erstrecken, und, in der Gestalt eines schmalen Bandes, sich nach
SW. bis zum Flusse Pruth', und zwar bis zum Kirchdorfe Brinsen,
ausdehnen. In den sandigen Ablagerungen einiger Gegenden des
Bessarabischen und des Podolischen Gouvernements, die ich als dem
sarmatischen Stufe angehörig betrachtete, da in diesen Schich¬
ten Bruchstücke von Mactra podoüca angetroffen worden sind, ist es
dem Hrn. Sinzow gelungen, Süsswassermuscheln und Knochen
von Säugethieren zu finden, wesshalb er diese Schichten mit Recht
als posttertiäre betrachtet. Die Beschreibung der Ssarmatischen
Fauna aus Kischinew findet sich auch in der Schrift des Hrn. Ru¬
dolph Hoernes, die wir im «Jahrbuch der K. K. Geologischen Reichs¬
anstalt. 1874. XXIV. 33* abgedruckt finden. Die sarmatischen
Schichten der Krim, aus der Umgegend Ssewastopols, wo ihre
Basis aus Süsswasserablagerungen besteht, sind von Hr. Stucken¬
berg ( 1 . c.) beschrieben worden; die Ssarmatische Fauna aus Jenikale
— von Hrn. Hoernes.
Aus der Abhandlung Hrn. Sinzow’s ist es ersichtlich, dass es
Hrn. Wiedholm gelungen ist, im Odessaer Kalksteine (zur ponti-
schen Stufe gehörig), — Valenciennesia annulaia aufzufinden, was
den erwähnten Kalkstein noch mehr den Kertsch’schen Schichten
nähert; diese Annäherung tritt ganz besonders in der obenerwähnten
Schrift des Hrn. Hoernes klar hervor. Hr. Sinzow ist ( 1 . c.) da¬
gegen der Meinung, dass Cardiutn littorale Eichw . indentisch sei
mit C. semisulcatum Rous.> dass die von mir beschriebene Congeria
simplex mit C. gracilis Rous . zu identificiren sei, u. d. m. TDieses
Alles ist wohl möglich (da diese Versteinerungen von Hrn. Eich¬
wald und mir nur nach Steinkern bestimmt worden sind), bedarf
aber noch des Beweises; ungegründete Behauptungen können
durchaus nichts besagen, und dass es Hrn. Sinzow so leicht erscheint,
eine Species in eine andere umzunennen, kann hier nicht in Betracht
kommen, da er ja im Stande ist, aus einer ganzen Fauna eine an¬
dere umzuschafien (ist der Fall mit den Ssaratowschen Schichten).
Nachdem wir auf diese Weise aus der Reihe der Neogengebilde
die Nulliporenschichten, die sarmatischen und pontischen Schichten
unserer Betrachtung unterworfen haben, bleibt uns noch 'übrig,
einige Worte über die baltdsche Stufe hinzuzufügen. Hr. Sinzow
(l. c.) ist der Meinung, dass die balta’sche Stufe eine dem Odes¬
saer Kalkstein parallele Ablagerung sei. Diese Anschauung ist
sehr wahrscheinlich, da ja auch im Wiener Bassin die Belvederer
Kiesschichten (denen ich die balta’schen Sandschichten gleichstelle)
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theilweise der Congeriaschichte (der man den Odessaer Kalkstein
gleichstellen könnte) untergeordnet sind, obgleich sie grösstentheils
auf letzterer ruhen; dieses scheint Hr. Sinzow, aller Wahrschein¬
lichkeit nach, unbekannt zu sein. Die hier ausgesprochene Ansicht
kann übrigens erst dann als eine wahre hingestellt werden, wenn
sie sich nicht mehr auf blosse Voraussetzungen basiren, sondern sich
auf genaue geologische Untersuchungen begründen wird. Und auch
in letzterem Falle wird man, wie früher, die balta’schen Sand¬
schichten die hauptsächlich nur Ueberreste von Säugethieren, nicht
von Mollusken, enthalten, den Belvederer Schichten gleichstellen
müssen. Eine wichtige Entdeckung glaubt Hr. Blümel (Schriften des
Kijew’schen Naturforschervereins. 1873. UL 332) gemacht zu haben,
indem er erklärt, dass die Schichten des Alexandryski’schen und des
Jelissawetgradski’schen Kreises, im Gouvernement Chersson, die ich
auf Grundlage ihrer petographischen Analogie zum balta’schen
Stockwerke zählte, als Diluvialschichten betrachtet werden müssten.
Ich bemerke bloss, dass es überaus schwierig ist, das Alter von
Schichten, die durchaus ohne Versteinerungen erscheinen, zu be¬
stimmen .... wie schade, dass es Hm. Blümel nicht gelungen ist,
wenn auch nur das Bruchstück eines Mammuthschneidezahns auf¬
zufinden.
DieLosowo-SsewastopolerEisenbahnlinie durchschneidet auf ihrer
ganzen Länge hauptsächlich bloss Tertiärbildungen. Die Ein¬
schnitte, die diese Bahnlinie macht, sind von Hrn. Myschenkow
beschrieben worden; aus seiner Abhandlung (Berg-Journal. 1874.
IV. 179) ist ersichtlich, dass er die nördliche Grenze der sarma-
tischen Stufe am Fluss Worona, im Jekaterinosslaw’schen Gou¬
vernement angetroffen habe, dagegen die nördliche Grenze der Pon-
tischen Stufe in der Nähe der Station Wassiljewka, im Alexan-
drow’schen Kreise.
Die diluvialen Bildungen, die noch vor kurzer Zeit bei uns nicht
die nöthige Aufmerksamkeit erregten, bilden heut zu Tage immer
mehr und mehr einen Gegenstand ernsten Studiums. Für die bei¬
den letztverflossenen Jahre finden wir in der geologischen Literatur
zerstreut eine Menge von Notizen und sogar Specialuntersuchungen
über diesen Gegenstand. Besonders bevorzugt waren in dieser Be¬
ziehung unsere nördlichen erratischen Gebilde, wobei die von den
schwedischen Geologen fesgestellten Data viel zur Erklärung ihrer
Entstehung beigetragen haben. Eine hervorragende Stellung in der
Reihe der Untersucher unserer erratischen Gebilde nimmt der Fürst
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Kropotkin ein; er studirte die erratischen Bildungeneines bedeutenden
Theiles von Finland und unternahm eine Reise nach Schweden, um
sich an Ort und Stelle mit Dem bekannt zu machen, was bisher hin¬
sichtlich dieses Gegenstandes daselbst geleistet war. In der Er¬
wartung des wichtigen Werkes Kropotkin’s, das gegenwärtig im
Drucke befindlich ist, führen wir hier einige schon von ihm ver¬
öffentlichte Fakta 1 an. Als charakteristisch für die Diluvial-Gebilde
der Gletscherperiode bezeichnet Fürst Kropotkin das Vorkommen
von mehligem Gletscherschlamm oder Gletscherstaub in den Ablage¬
rungen, wobei das Trümmermaterial durchaus ungeordneterscheint.
Solche ursprüngliche diluviale Gletscherablagerungen theilten sich,
als sie späterhin stellenweise der Wirkung von Gewässern unterwor¬
fen wurden, in verschiedene Produkte, wie Gletscherkies und Gle¬
tschersand, wobei sich aus letzterem wiederum Gerolle, Flusssand und
sandige Thonarten absonderten. DieHügel, die unter dem Namen äsar
bekannt sind, nimmt Fürst Kropotkin lür Moränen an und unter¬
scheidet unter ihnen einige Typen. Der gewöhnlichste dieser Typen
besteht aus einem ungeschichteten Kerne und einer geschichteten
Decke (Mantel). Bei der Bildung solcher &sar waren zwei Kräfte
thätig: die Kraft des Gletschers zur Schaffung des Kernes, und die
Kraft des Wassers zur Ablagerung der äusseren Decke. Ueberhaupt,
meint der Verfasser, seien die äsar Moränen, die zu der Zeit, wo
sie nach der Gletscherperiode im See- oder Meereswasser theilweise
oder vollständig versanken, durch geneigte Schichten von Alluvial-
Gebilde überdeckt worden. Auch glaubt Fürst Kropotkin, sich auf die
Gesammtheit seiner Beobachtungen stützend, dass zur Zeit der Gle¬
tscherperiode ganz Finland von einem kompakten, mit Skandinavien
gemeinsamen Eismantel bedeckt gewesen sei. Hierauf wäre, zur
Zeit des Aufthauens der Gletscher, die Periode einer ausgedehnten
Entwickelung von Landseen eingetreten, die, nach der Mächtigkeit
der Alluvialgebilde zu urtheilen, überaus lange gedauert habe. Zur
Zeit dieser Periode war die absolute Höhe Finlands um ioo— 150
Fuss geringer wie heut zu Tage. Durch dies allmähliche Sinken
konnte aber bloss ein schmaler Küstenstrich unter Wasser gesetzt
werden; dagegen hat man durchaus nicht konstatiren können, dass
der grössere Theil Finlands vom Meere bedeckt gewesen sei.
Endlich giebt Fürst Kropotkin zu *, dass alle erratischen Blöcke,
welche wir im mittleren und nördlichen Russland zerstreut finden,
1 Schriften d. St. Petersb. Naturforscher-Vereins, 1874. LXXÜ.
* Verhandlungen d. Geogr. Gesellsch. 1874. X. 323.
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durch die Thätigkeit der Gletscher an ihre Stelle gebracht worden
seien und nicht vermittelst schwimmender Eisschollen, wie man ge-
wöhnlichanzunehmenpflegt. Diese Meinung basirt er darauf, dasssich,
nach den Beobachtungen von Seefahrern, auf den Eisschollen, die von
den Küsten Grönlands in’s nördliche Eismeer getrieben werden,
Steine nur in beschränkter Anzahl vorfinden, wobei dieselben in die
untere Fläche der Eisschollen eingefroren erscheinen. Eine solche
Anschauung der Verfassers bedingt natürlich die Annahme eines
ununterbrochenen Gletschers, der das europäische Russland, von
Finland bis Kijew und Woronesh, bedeckte. Die Beweise für die
Möglichkeit der Existenz eines solchen Gletschers und für die Ver¬
breitung erratischer Blöcke durch denselben erwarten wir in dem
uns in Aussicht gestellten Hauptwerke Kropotkin’s. Für den
Augenblick können wir uns nur in dem Sinne aussprechen, dass die
frühere Theorie von der Verbreitung erratischer Blöcke durch
schwimmende Eisschollen schon längst ihre Bedeutung verloren hat
und sich nur noch ihrer einfachen Auslegung wegen hält. Ihre Be¬
deutung aber hat sie desshalb verloren, weil mit ihr solcheThatsachen,
wie z. B. die Gegenwart von Süsswassermuscheln und von Säuge¬
thierknochen in den Diluvialschichten, sowie das Fehlen von Vertre¬
tern des Meeres in denselben, durchaus nicht in Einklang zu brin¬
gen sind.
l Schloss folgt).
Literatnrberlclit.
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TeTa.T.I,TpaicraTbi Cb ABerpieio 1548—1762. CüB. 1874. XXII-j-XXIV + 3 * 4 *
T. II, Tp. ct» AüCTpieK) 1772—1808. CI1B. 1875. XV -f- 517«
Recueil des Trait^s et Conventions conclus par la Russie avec les puissances Itrang&res,
publie d’ordre du Ministere des affaires etrangores par /*. Martens , Professeur ä
rUniversit£ imperiale de St. P&ersbourg. T. I. Traitäs avec TAutriche. 1648—
1762. St Pltersbourg 1874. XXII + XXIV + 324 T. II. Trait^s avec l’Au-
triche. 1772—1808. St Pötersbourg. 1875. XV + 5 * 7 -
So viel manche Philantropen der Gegenwart auch darüber klagen
mögen, dass die internationalen Beziehungen in ihrer rechtlichen Nor-
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mirung keineswegs den sonstigen hohen Ideen unserer Zeit entspre¬
chen, so wird Keiner, der dem Gange und der Entwickelung des inter¬
nationalen Rechtslebens der letzten Jahrzehnte aufmerksam gefolgt
ist, in Abrede stellen wollen, dass die Errungenschaften auf dem Ge¬
biete des Völkerrechts im Vergleich mit denen auf anderen Gebieten
des socialen Lebens auffallend zurückgeblieben wären; imGegentheil,
es ist in den letzten Jahrzehnten so Vieles, Gutes und Nützliches für die
Förderung der Weltrechtsordnung geleistet worden, dass wirlm Gan¬
zen und Grossen ohne allen Optimismus mit gutem Gewissen zugeste¬
hen können, dass sich der auf diesem Gebiete erreichte Standpunkt der
Gegenwart seinerzeit nicht zu schämen braucht. Alles geht seine Zeit,
Sprünge sind, wenn sie auch selbst möglich wären, nie gut, und
Rechtssätze ohne die nöthige moralische Grundlage sind eher krank¬
hafte und desshalb unerfreuliche, als erfreuliche und den Gegenstand
fördernde Zustände. Sich über den durch den Abschluss einer fast
unübersehbaren Menge von Staatsverträgen geförderten Stand des
Völkerrechts der Gegenwart ein klares und vollständiges Bild zu ver¬
schaffen, ist nun allerdings nicht so leicht. Die Ursache dieser Schwie¬
rigkeit liegt aber keineswegs in der Unmöglichkeit: das ganze Ver¬
tragsmaterial, welches den Stand des Völkerrechts in den letzten
Jahrzehnten gefördert hat, zu übersehen, sondern in einer scheinbar
weit weniger zu rechtfertigenden Ursache. Wir besitzen nämlich erst
seit kürzerer Zeit ein Journal, das uns in periodenweise erscheinenden
Heften die Staatsverträge bringt, die in der Gegenwart abgeschlossen
werden. So rasch nach dem Abschluss derselben geschieht es frei¬
lich nicht, ufld man erfährt nicht selten den Inhalt der betreffenden
Aktenstücke erst nach Verlauf mehrerer Jahre. Um sich daher auf
dem Standpunkte der Zeit zu erhalten, ist es nothwendig, sich in
allen möglichen Zeitschriften und Zeitungen umzusehen. Aber nicht
nur wird uns die Kenntniss der zeitgenössischen Staatsverträge in
dieser Weise erschwert, auch die der schon historisch gewor¬
denen ist uns nicht immer ohne weitere Unbequemlichkeiten zugäng¬
lich. Für die Zeit nach 1761 haben wir allerdings nicht mit solchen
Schwierigkeiten zu kämpfen; für die Zeit vor 1761 ist uns aber das
Zusammensuchen der Staatsverträge in vollständiger Zahl nicht leicht,
oft sogar unmöglich. Berücksichtigt man diese Umstände, so wird
man leicht ermessen, mit welchen äusseren Hindernissen es Deijenige
zu thun hat, der sich die Aufgabe stellt: die Geschichte des interna¬
tionalen Rechtslebens zu erforschen. Diese literarische Thätigkeit
ist nun keineswegs gelehrte Spielerei, sondern sie hat ihre tiefe prak¬
tische Bedeutung, indem sie den Weg zeigt, welchen man in der Ge¬
genwart mit Berücksichtigung der Vergangenheit und zeitgenössi¬
schen Zustände einzuschlagen hat, um der Zeit entsprechende, für
die Dauer haltbare Veränderungen in der Ordnung der Staaten unter
einander vorzunhmen. Ausserdem wird Keiner die moralische Kraft
des Geschichtlichen in Abrede stellen wollen.
Im Hinblick auf das Gesagte wird es einleuchtend sein, welchen
Werth gut systematisch angelegte Staatsvertragssammlungen haben.
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Da es aber äusserst schwierig wäre, eine allgemeine Sammlung der
Staatsverträge für alle Zeiten mit der grössten Vollständigkeit her¬
zustellen, so ist es ganz zweckmässig, dass einzelne Staaten die von
ihnen seit Anbeginn ihrer Existenz geschlossenen internationalen
Verträge in fortlaufender Sammlung herausgeben j diese hat ausser¬
dem unmittelbaren praktischen Nutzen für die Beamten im auswär¬
tigen Departement des betreffenden Staates. Mit Rücksicht auf den
letzteren Umstand sind denn auch schon von mehreren Staaten
Sammlungen der von ihnen mit anderen Staaten abgeschlossenen
Verträge herausgegeben worden. Wir in Russland ermangeln im
Augenblick einer speciellen Sammlung aller von Russland seit An¬
beginn seiner Existenz mit fremden Staaten geschlossenen Verträge.
Katherina II. gab 1779 dem Kollegium für auswärtige Angelegen¬
heiten allerdings den Befehl, eine Sammlung der alten und neuen
russischen Staatsverträge zu veranstalten, das Kollegium betraute den
bekannten Historiker Müller mit den Arbeit. 1783 erfolgte sogar
ein Ukas über die Errichtung einer besonderen Buchdruckerei für
den Druck der coöpaHie BC'fcx-b poccificKuxt ApeBHHXi» h hobbixi»
ny6jIHXCHHXT> TpaKTaTOBT>, KOHBeHU,it) H npOHHXB I 10 A 06 HMXT> TOMy
aKTOBt no npHM'hpy AiOMOHOBa AHn;ioMaTHHecKaro Kopnyca (Samm¬
lung aller alten und neuen russischen öffentlichen Traktate, Konven¬
tionen und ähnlichen Akte etc.). Müller starb indessen bald und die
einst erlassenen Befehle blieben unausgeführt. Seit den zwanziger Jah¬
ren begann man alsdann hin und wieder die russischen Staatsverträge
einzelner Zeiträume und mit bestimmten Staaten herauszugeben, dem
Bedürfnisse im Grossen und Ganzen wurde damit aber keineswegs abge¬
holfen ; das beste Sammelwerk war und blieb bei all seiner Lückenhaftig¬
keit jedenfalls die nojiHoe coöpaHie 3aKOHOBis (vollständige Gesetz¬
sammlung). Diese Rolle wird dieseRiesensammlung freilich auch inder
nächsten Zukunft spielen, denn das von Professor Martens in An¬
griff genommene Werk wird wohl erst nach Verlauf einer längeren
Zeit zum Abschluss gebracht werden. Um den in der unmittel¬
barsten Gegenwart abgeschlossenen Verträgen folgen zu können,
muss man jetzt noch zu einer anderen Sammlung greifen, nämlich
zur «Co6paHiey3aKOHeHift h pacnopx>KeHitt npaBHTejibCTBa» (Samm¬
lung der Regierungsverordnungen), aus der nach gewissen Zeit¬
räumen die vollständige Gesetzsammlung zusammengestellt wird.
Unter solchen Umständen ist es gewissermassen ein Ideal, eine
Sammlung zu besitzen, in der alle Verträge, die Russland seit je ge¬
schlossen hat, in übersichtlicher und handlicher Weise wiederge¬
geben sind. Die Verwirklichung dieses Ideals ist seit ein paar Jahren
vom auswärtigen Amt dem an der St. Petersburger Universität als
Professor docirenden Hrn. Dr. Martens aufgetragen worden, und es
sind bereits in den Jahren 1874 uud 1875 zwei Bände der «coöpame
AoroBopoBT» m KOHBeHuiM» erschienen. Diese Sammlung hat jeden¬
falls sehr günstige Auspicien, indem sie einmal unter dem Schutz
massgebender Beamten des auswärtigen Ministeriums steht,
und dann zum Redakteur einen Mann hat, wie er gerade für die
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Herausgabe von Staatsverträgen gewünscht werden kann; der Pro¬
fessor des Völkerrechts ist jedenfalls eine kompetente Persön¬
lichkeit für die Bestimmung der nothwendigen Eigenschaften einer
Staatenvertragssammlung; durch die jünstigen Verbindungen, die
der Herausgeber der genannten Sammlung ferner nach allen Seiten
hat, konnte er di6 theoretisch als nothwendig erkannten Forde¬
rungen leicht erfüllen. Daher kann uns dann der Verfasser auch zum
ersten Mal eine vollständige Sammlung in Aussicht stellen. Der
Plan, den sich der Herausgeber zurecht gelegt hat, findet sich in
der Vorrede zum ersten Bande angedeutet. Der Verfasser bemerkt,
dass Sammlungen der Art, wie eine solche von ihm jetzt begonnen
wird, nicht nur praktische, sondern auch theoretische, wissenschaft¬
liche Zwecke zu erfüllen bestimmt seien, indessen müsse man doch
zugeben, dass die jetzt bestehenden Sammlungen von Staatsver¬
trägen zumeist nur rein praktische Zwecke verfolgt hätten; in ihnen
finde man die Verträge oder internationalen Urkunden in chronolo¬
gischer Reihenfolge gedruckt, und zwar ohne alle Erklärungen, so
dass diese Sammlungen eine enorme Masse unverarbeiteten und
rohen Materials enthalten; die Benutzung der Letzteren setzte
daher eine gründliche Vorbereitung voraus. In Folge der geschilder¬
ten Mängel genügten so angelegte Sammlungen selbst nicht einmal
dem nächsten Zweck, ein Handbuch für die Praxis zu sein, denn der
blosse Text erkläre keineswegs hinlänglich den Inhalt desVertrages;
zu diesem Behufe sei es nothwendig, die Umstände zu schildern,
unter denen der betreffende Willensausdruck entstanden. Nachdem
Hr. Professor Martens diese Mängel der zeitgenössischen Staaten¬
vertragssammlungen dargestellt hat, giebt er den Weg an, den
er einzuhalten gedenkt. Die chronologische Reihenfolge erschien
ihm unwissenschaftlich, er wird statt dessen die russischen Staats¬
verträge nach einzelnen Staaten, mit denen sie abgeschlossen
wurden, herausgeben, und hier wird er alsdann nicht die alphabe¬
tische Reihenfolge einhalten, sondern erst grössere Staaten, als
Oesterreich, England, Preussen, Frankreich, die Türkei, an die
Reihe kommen lassen, darnach sollen dann die übrigen Staaten
(— HbiH'h cymecTßyiomiÄ) in alphabetischer Ordnung berücksichtigt
werden.
Durch eine solche Gruppirung wird, sagt Hr. Professor M., eine
zusammenhängende Uebersicht der Beziehungen Russlands zu den
einzelnen Staaten gesichert. Im Einklänge mit der vom Heraus¬
geber gegen die sonstigen zeitgenössischen Staatenvertragssamm-
lungen ausgesprochenen Rüge wird versprochen, dass jedem zu
druckenden Vertrage oder sonstigen internationalen Aktenstücke
eine geschichtliche Einleitung vorausgeschickt werden soll, welche
letztere nur ganz objektiv sowohl die faktischen Umstände schildern,
unter denen der Abschluss stattfand, als auch die diplomatischen
Verhandlungen, die ihn hervorriefen, skizziren wird. Diese jedem
Aktenstücke vorausgeschickten Einleitungen sollen nun aber unter
sich in einen Zusammenhang gebracht werden und zusammen eine
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«kurze Skizze der Entwickelung der diplomatischen Beziehungen
Russlands mit den verschiedenen auswärtigen Staaten bieten». Eine
absolute Durchführung des bezeichneten Planes war indessen nicht
möglich, so bemerkt der Herausgeber, indem es nämlich russische
Staatsverträge giebt, in denen, ausser Russland, mehr als ein anderer
Staat als Kontrahenten auftreten. Für diesen Fall hat Hr. M. fol¬
genden Grundsatz aufgestellt t: Solche Kollektivverträge, die auf
einem Kongresse oder einer Konferenz abgeschlossen wurden, wer¬
den unter den Verträgen des Staates aufgenommen werden, auf dessen
Territorium der Kongress oder die Konferenz stattfand. Andere
Kollektivverträge sollen unter den Verträgen mit dem Staate auf¬
geführt werden, für den sie die grösste Bedeutung haben K Als
Zeitpunkt für den Beginn der in die Sammlung aufzunehmenden
Verträge bezeichnet der Herausgeber das Jahr 1648 und zwar mit
Rücksicht auf den in dieses Jahr fallenden Abschluss des westphä-
lischen Friedens und darauf, dass mit der zweiten Hälfte des XVII.
Jahrhunderts der internationale Verkehr Russlands mit Westeuropa
eine regere Entfaltung zeigt, und dass ferner das Jahr 1649, als der
Ausgangspunkt unserer «IToji. C06. 3aK.» (Vollständige Gesetz¬
sammlung), fast mit 1648 zusammenfällt (coBnaAaen,).
Soweit in Bezug auf die äussere Anordnung. Hinsichtlich des auf¬
zunehmenden Materials ist der Herausgeber in der erfreulichen Lage,
dasselbe den Archiven des auswärtigen Amtes entnehmen zu
können. Die aufzunehmenden Verträge und die anderen Akten¬
stücke sind endlich sowohl in der Sprache, in der, sie abgeschlossen
resp. veröffentlicht wurden, als auch in ihrer Uebertragung ins Rus¬
sische abgedruckt. Hr. M. verspricht ferner auch nach Kräften für
die Vermerkung der Zeit der Kodifikation, soweit hierfür sichere
Nachrichten zu finden sein werden, sorgen zu wollen. Der erste
Band des Werkes enthält nun die zwischen Russland und Oester¬
reich seit der zweitenHälfte desXVII. Jahrhunderts bis 1762 geschlos¬
senen Staatsverträge. Die russischen Uebersetzungen der zu be¬
rücksichtigenden Aktenstücke werden der II. C. 3 . entnommen wer¬
den: finden sich die betreffenden Urkunden hier nicht vor, so sollen
sie dem Moskauer Hauptarchiv entlehnt werden; nur, wenn nirgends
eine officielle Uebersetzung zu finden sein wird, will die Redaktion
eine solche besorgen etc. Der Druck des ersten Bandes
ist in folgender Weise bewerkstelligt: Jede der grossen Oktavseiten
ist in zwei Hälften getheilt; auf der linken Seite befindet sich in
dem Vorwort der russische Text, auf der rechten der französische.
Diese Vertheilung des französischen und russischen Textes ist auch
in der historischen Einleitung über die russisch- österreichischen Be¬
ziehungen bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts eingehalten, die
russisch mit gegenüberliegender französischer Uebertragung abge¬
fasst sind. Der Urtext der internationalen Aktenstücke selbst be¬
findet sich indessen auf der linken Spalte der Seite, die russische
1 Wird meist schwer zu entscheiden sein!
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Uebersetzung auf der gegenüberliegenden. So ist es auch mit dem
Index gehalten, und die in russischer Sprache mit französischer Ueber-
tragung abgefassten Einleitungen zu den einzelnen internationalen
Urkunden, haben den französischen T ext auf der linken Spalte der Seite,
den russischen auf der entgegengesetzten. Diese Vertheilung der
verschiedenen Texte ist, bis auf die Vorrede, auch im zweiten Bande
beibehalten, (der die russisch-österreichischen Verträge von 1772 bis
1808 enthält. Die russischen Uebersetzungen zu den in diesem
Bande aufgenommenen internationalen Aktenstücken mussten, sagt
der Verfasser, zum grossen Theil von der Redaktion besorgt wer¬
den, da officielle aus der Zeit des Abschlusses nur für einen gerin¬
gen Theil der bezüglichen Urkunden vorhanden waren. Die ge¬
schäftlichen Einleitungen zu den internationalen Aktenstücken im
zweiten Bande sind ferner weit ausführlicher, als im ersten, was
namentlich dadurch verursacht wurde, dass der Verfasser im Archiv
eine. Menge interessanter und jetzt noch unbekannter Thatsachen
fand, die zur besseren Charakteristik der russisch-österreichischen
Beziehungen zu benutzen, er für seine moralische Pflicht hielt. —
Beide Bände enthalten für den Zeitraum von 1675 — 1808 im Gan¬
zen 60 Nummern, wobei freilich nicht selten die einzelne Nummer
aus mehreren Theilen besteht. Die Zahl der Nummern vertheilt
sich auf beide Bände ziemlich gleichmässig.
Das der Plan und der Beginn eines Werkes, dem in Zukunft in
unserer juristischen Literatur gewiss eine grosse Bedeutung bevor¬
steht, desshalb erschien es uns nothwendig, mit Ausführlichkeit über
den Plan des Herausgebers zu referiren; aus denselben Gründen glau¬
ben wir aber auch mit einer — wenn auch nur kurzen — kritischen
Besprechung der nun bereits im zweiten Bande vorliegenden Samm¬
lung nicht zurückhalten zu dürfen.
Bei der Edition einer solchen Sammlung, wie sie von Hrn. Prof.
Martens begonnen worden, hat man, wie der Herausgeber richtig be¬
merkt hat, nach zwei Seiten hin zu genügen. Wir werden daher
den Plan des Herausgebers nach zwei Seiten zu beurtheilen haben.
Wir stellen hierbei folgende Fragen, deren Beantwortung dann un¬
sere Aufgabe sein wird. 1) Genügt der von Hrn. Prof. Martens für die
Sammlung entworfene Plan, den von der Praxis und Theorie ge¬
rechterweise zu stellenden Forderungen? 2) Ist die ökonomische
Seite der Arbeit glücklich und praktisch? — Obgleich wir gewiss
die letzten sind, die den Werth der von Hrn. Martens besorgten Samm-
lungder russischen Verträge irgend wie in Abrede stellen möchten —
wir haben das Unternehmen von Anbeginn mit grosser Freude be-
grüsst, — So können wir dennoch die Art der Ausführung des Unter¬
nehmens mit unserer Zustimmung nicht begleiten. Schon die Wahl des
Jahres 1648 als Ausgangspunkt für die Sammlung scheint uns eine
misslungene. Wir haben bereits angedeutet, welche Gründe Hr.
Martens für diesen Zeitpunkt geltend macht; der treffendste dürfte
noch der Grund wegen der Aenderung des Charakters der interna¬
tionalen Beziehungen um die Mitte des XVII. Jahrhunderts sein.
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563
Aber eben diese allgemeine verbreitete Ansicht ist auch wieder
nicht stichhaltig, denn der Wechsel des Charakters der internationa¬
len Beziehungen Russlands zum westlichen und nördlichen Europa
vollzieht sich nicht so plötzlich in der Mitte des XVII. Jahrhunderts,
sondern wird schon seit dem XV. Jahrhundert an gebahnt und zieht
sich langsam durch die folgenden zwei Jahrhunderte bis zum Eintritt
des energischen Umstosses des Alten und Uebergang zur modernen
Völkerrechtsidee zu Anfang des XVII. Jahrhunderts hin. Wenn nun
die Sammlung ferner theoretischen Zwecken dienen soll, so dürfte
doch der Hr. Herausgeber als akademischer Lehrer des Völker¬
rechts kaum behaupten wollen, dass die russischen Staatsverträge
aus der Zeit vor 1648 gleichgültig für die wissenschaftliche For¬
schung seien. Wir zum wenigsten sind der Meinung, dass man eine
Geschichte der russischen internationalen Beziehungen seit 1648
mit gründlichem Verständniss nie wird abfassen können, ohne die
Kenntniss auch der in die frühere Zeit fallenden internationalen Ur¬
kunden. Die internationalen Aktenstücke zwischen Russland und
Schweden und Russland und Polen aus den fünfziger resp. sechs-
ziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts haben ihre Grundlage in
älteren Verträgen. Mit dem westphälischen Frieden hat die Ent¬
wickelung unseres internationalen Lebens aber durchaus nichts zu
thun; der Einfluss ist nur ein äusserst indirekter, und in seiner ge¬
ringen Bedeutung für unsere Angelegenheiten jedenfalls nicht fixir-
barer. Die Garantie des westphälischen Friedens durch Peter in dem
Vertrage von 1717 mit Preussen und Frankreich hatte eine formelle
Bedeutung, und den Umstand, dass die II. C. 3 mit dem Jahre 1649
beginnt, für den Beginn einer Sammlung russischer Staatsverträge
mit dem Jahre 1648 geltend zu machen, dürfte doch wohl nicht ernst
gemeint sein, denn bei der Zusammenstellung der II. C. 3 . ward der
Beginn mit 1649 keineswegs mit Rücksicht auf die internationalen
Beziehungen Russlands gewählt, sondern die Erklärung für jenen
Umstand tritt uns in der ersten Nummer der n. C. 3 . entgegen; dass
nun aber ferner die yjiaaceHie von 1649 von Einfluss auf die Aende-
rungder rechtlichen Stellung der Ausländer in Russland gewesen wäre,
wird der mit dem Charakter und der Entstehungsweise des genann¬
ten Gesetzbuches Vertraute nicht behaupten wollen. Ist nur Hr.
Martens in der glücklichen Lage, uns die russischen Staats Verträge
seit der Mitte des XVII. Jahrhunderts in der grössten Vollständig¬
keit mittheilen zu können, so können wir unsererseits und gewiss
im Sinne aller für die der Besprechung unterliegenden Sammlung
Interessirten an den gelehrten Hrn. Herausgeber die Bitte nicht un¬
terdrücken, dem unter seiner Redaktion in Angriff genommenen
Unternehmen einen vollständigeren Charakter zu geben, indem in
Zukunft alle von jeher von Russland mit dem Auslande geschlosse¬
nen Verträge in die Sammlung aufgenommen werden. Das in dieser
Hinsicht in Bezug auf Oesterreich Unterlassene könnte ja leicht in
nächster Zukunft nachgeholt werden. Wer sich mit den interna¬
tionalen Beziehungen Russlands seit ihrem Beginn beschäftigt hat
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— unddieses GebietderwissenschaftlichenThätigkeit dürfte in Zukunft
eine grössere Pflege finden, als es im Augenbick der Fall ist — weiss
wohl, wie schwer und dennoch nicht ganz erfolgreich es ist, die
Verträge in grösseren Geschichtswerken aufzusuchen, wo wir denn
endlich nach mühevollem Suchen auch wieder nichts anderes, als
ohne juristisches Verständniss gemachte Auszüge finden. Wie noth-
wendig daher eine zeitlich möglichst vollständige Sammlung der
russischen Staatsverträge ist, leuchtet ein, ausserdem dürfte sie auch
eine gründlichere Kenntniss der Entwickelung des russischen inter¬
nationalen Rechtlebens in den Kreisen der Praktiker zur Folge haben,
welches letztere mit Rücksicht auf die zeitgenössischen konkreten
Zustände allerdings nur zu wünschen wäre.
Was die historischen Einleitungen zu den einzelnen mitgetheilten
Aktenstücken betrifft, so wird Niemand die guten Absiehten des
Hrn. Herausgebers in Abrede stellen wollen, aber wir müssen ge¬
stehen, dass sie uns nicht befriedigen konnten. Historische Einlei¬
tungen zu Staatenvertragssammlungen sollen nicht alles mögliche,
und mit den betreffenden internationalen Aktenstücken nur irgend
wie in Zusammenhang zu bringende Material in sich aufnehmen:
als ihre Aufgabe erscheint es, — da sie eben nur Abrisse sein können,
und, wenn sie diese Grenze überschreiten, zu wenig bieten und Den,
der die Sache specieller studiren will, nicht beftiedigen können, —
die massgebenden Momente kurz zusammenzufassen: auf alles irgend
als bekannt Vorauszusetzende nur hinzuweisen, die Ursachen der
Entstehung nur anzudeuten, und selbst kurze Skizzirungen von
diplomatischen Verhandlungen in den seltensten Fällen zuzulassen,
da sie meist höchst gleichgültig sind. Ihr Verlauf sollte nur ihrem
allgemeinen Charakter nach angegeben werden. Hatte Hr. Martens
die so günstige Gelegenheit, das historische Wissen um einzelne neue
Nachrichten aus den internationalen Beziehungen Russlands zu be¬
reichern, so war dabei zu bedenken, dass eine solche Sammlung das
Ding nicht sei, in dem man nur alles Neue und Interessante placiren
könne. Für die Publikation neuer historischer Aktenstücke hat man
eben auch bei uns eigene Reservoirs. Jedenfalls hätte Hr. Martens
dann aber auch jedesmal angeben sollen, wo er das historische
Wissen durch neue Nachrichten bereichert hat; so wissen wir
eigentlich nicht, was neu und was schon bereits bekannt ist Die
23 Seiten lange Einleitung über die russisch-österreichischen Bezie¬
hungen bis 1675 zeigt uns schon an, welches Programm der Her¬
ausgeber für diesen Theii seiner Sammlung entworfen. Wepn auch
nicht geleugnet werden kann, dass die Einleitungen recht glatt und
fliessend gehalten sind, so besitzen sie doch kaum einen selbststän¬
digen Werth — was sie auch wohl nach des Verfassers Absicht nicht
haben sollten, und für ihren Zweck sind sie vielfach zu breit gehalten.
Im zweiten Bande wird man schon beinahe zweifelhaft, was eigent¬
lich die nächste Aufgabe des Herausgebers der cCoßpaHie» war;
historische Einleitungen zu den Verträgen zu schreiben, oder die
internationalen Aktenstücke in grösster Vollständigkeit zu ediren.
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5öS
Hier finden sich unter den durchweg zu ausführlich gehaltenen
geschichtlichen Einleitungen einzelne, die geradezu ermüdend auf
den Leser wirken, indem dieser für seinen nächsten Zweck nicht
schnell genug den kurzen Gang der Einleitung finden kann, und
auch ohne den Reichthum des Materials zu verkürzen, hätte, bei
der lobenswerthen, glatten und gefälligen Form, die Fassung eine
um die Hälfte kürzere sein können.
Die Aktenstücke endlich hätten nicht selten nur im Auszuge mitge-
theiltwerden können, wo einekürzere Ausdrucks weise ohne Entstellung
des Sinnes möglich war, namentlich wäre ein solches Verfahren für
die Urkunden des XVII. und XVIII. Jahrhunderts sehr wohl möglich
gewesen. Ich meine hier allerdings, dass die bezeichnete Verkür¬
zung nur mit einzelnen Aktenstücken, namentlich der Offen- und
Defensivallianzen — mit ihren sich immer und immer wieder gleich
bleibenden Bestimmungen — und dann mit einzelnen unwichtigeren
Fortsetzungen, deren sich in jedem Vertrage welche finden, hätte
vorgenommen werden sollen. Welchen Werth hat z. B. die geheime
Bestimmung der im März 1738 zwischen Russland und Oesterreich
abgeschlossenen Konvention, enthaltend gegenseitige Verpflich¬
tungen der beiden Kontrahenten in Bezug auf den Kriegsplan gegen
ihren damaligen gemeinsamen Feind, den Türken, dass er so in
seinen Details mitgetheilt wird. Die Absicht des Herausgebers war
eben die, seine Sammlung gegen den Vorwurf der Unvollständigkeit
sicher zu stellen. Indessen müssen ausser dieser an sich lobens¬
werthen Absicht auch noch andere, so zu sagen, ökonomische
Umstände in Betracht kommdn, und letztere, glaube ich, dürfen in
keinem Fall ausser Acht gelassen werden, wenn die Sammlung den
beabsichtigten Erfolg haben soll: den praktischen und theoretischen
Bedürfnissen zu genügen. Wir kommen auf eine ganz materielle
Frage. Soll die der gegenwärtigen Besprechung unterliegende
Sammlung das Eigenthum aller Derer werden, welche sie ihrer prak¬
tischen und theoretischen Lebensaufgabe gemäss besitzen sollten,
so muss eine solche Sammlung auch so angelegt sein, dass sie bei
aller Vollständigkeit und durchgehender Befriedigung aller an sie
gerechterweise zu stellenden Forderungen dennoch nach Umfang so
hergestellt sei, dass der Kostenpunkt bei Anschaffung derselben
keine Schwierigkeit bildet. Aber ausser dieser Rücksicht hat die
Handlichkeit solcher Sammlungen auch eine Reihe anderer Vorzüge.
Ferner vom rein wirthschaftlichen Standpunkt aus gesprochen,
kommt hier vor allen Dingen der ökonomische und nicht der Affek-
tionswerth in Betracht. Der Plan für eine Sammlung russischer in¬
ternationaler Aktenstücke dürfte unserer Ansicht nach daher folgen¬
der sein:
1) Die Sammlung umfasst alle auf das internationale Leben Russ¬
lands bezüglichen Aktenstücke, die allerhöchst die Ratifikation er¬
halten, und nicht erst die seit 1648,— denn in dieses Jahr speciell
fallt selbst kein, auf das internationale Leben Russlands Bezug ha¬
bendes allerhöchst ratificirtes Aktenstück.
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2) Die mitgetheilten Aktenstücke werden je nach ihrer Bedeutung
ganz unverkürzt, oder zum Theil unverkürzt, zum Theil im Auszuge
oder durchgehend im Auszuge gegeben, wobei die Quelle, wo das
Aktenstück in extenso vorzufinden ist, angegeben wird.
3) Angaben von Titel und Orden — letztere finden sicfi nament¬
lich seit dem Anfang des XVIII. Jahrhunderts sehr oft und werden
bei Hm. Martens immer in extenso abgedruckt — sind verkürzt zu
geben durch bestimmte Buchstaben, was namentlich durch die Ru-
bricirung nach Staaten sehr erleichtert wird, indem hier die Erklä¬
rungen der Buchstabenzeichen in einer besonderen Tabelle zusam¬
mengefasst werden können.
4) Die geschäftlichen Einleitungen geben nur über das Nothwen-
digste Auskunft. Hier die Methode in der Form einer Ein mal Eins¬
tafel anzugeben,ist natürlich unmöglich, und kann hiebei nur der dog¬
matisch geübte Geist der beste Leiter sein. Indessen sind Angaben
über die Werke wünschenswerth, in denen das Nähere und Ausführ¬
lichere zu finden ist, selbstverständlich mit genauer Bezeichnung
von Band, Seite etc.
5) Die Ordnung der Verträge nach den einzelnen Staaten ist aus
mehreren Gründen der rein chronologischen vorzuziehen.
6) Die Aktenstücke und historischen Einleitungen sind nur in ei¬
ner Sprache, entweder russisch oder französisch zu geben; beides
zugleich ist vollkommen unnütz. Soll dem Auslande auch ein Dienst
erwiesen werden, so wäre die französche Sprache vorzuziehen, da
diese Denen, welche diese Sammlung zu benutzen haben werden,
keine Schwierigkeiten bieten dürfte. Oder man besorgt eine russi¬
sche und eine französische Ausgabe.
7) In Bezug auf die äüssere Ausstattung endlich sei zu bemerken
erlaubt, dass bei gutem Papier der für die historischen Einleitungen
gewählte Druck auch für die Urkunden ausreichen dürfte. Gegen
das grosse Format haben wir dagegen nichts einzuwenden, obgleich
mit Rücksicht auf den kleineren Druck, kleinere Seiten vielleicht
Manchem zuträglicher sein dürften. Die Setzung des «article» und
«CTaTbH Taxaa to» über den Abschnitten könnte einfach auf die
Setzung der entsprechenden Ziffer vor dem bezüglichen Abschnitte
reducirt werden. Die gewiss zu lobende Bezeichnung der betreffen¬
den Jahreszahl über dem Text der einzelnen Seiten wird dann auch
nicht doppelt zu geschehen brauchen; auch bei gleichzeitiger Edition
des Originaltextes und der russischen Uebersetzung erscheint uns
diese zwiefache Bezeichnung durchaus unnütz zu sein, sie hat wenig¬
stens keinen Zweck. — So wird denn allerdings die Zahl der Bände
keine sehr hohe Ziffer erreichen; der äussere Umfang des Unter¬
nehmens würde im Vergleich zum Plan des Hm. Martens wohl auf
ein Fünftel oder noch mehr reducirt werden. Welche Zahl der Bände
aber bei, nach ursprünglichem Plan fortgesetzen Verfahren entstehen
wird, übernehmen wir nicht im Voraus zu sagen. Endlich dürfte
auch eine schnelle Aufeinanderfolge der Bände im Wunsche aller
Interessenten liegen. Denn wenn weiterhin auch immer nur 30N.N.
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das Resultat einer Jahresarbeit sein werden, so wird ein Ende nicht
bald abzusehen sein. Die p. VII in der Vorrede zum zweiten Bande
ausgesprochene Ansicht, dass der zweite Band so schnell nach dem
ersten erschienen sei, dürfte daher nicht so recht zugegeben werden.
Wir verstehen wohl, welche Anstrengungen und nicht selten unsäg¬
liche Mühen die Herausgabe von Urkunden verursacht, und wir sind
weit entfernt, das Verdienst des Hrn. Martens hinsichtlich der vor¬
liegenden Sammlung irgendwie schmälern wollen, wir räumen im
Gegentheil Hrn. Martens im Vergleich zu dem, wie man bei uns
überhaupt Sammelwerke von Urkunden edirt, und wie auch völker¬
rechtliche Urkundensammlungen sonst besorgt zu werden pflegen,
einen Vorzug ein, aber die vorhandenen Mängel und praktischen
Unzweckmässigkeiten lassen sich nun einmal nicht läugnen.
Wir schliessen mit dem Wunsche, dass es Hrn. Martens für die
Fortsetzung seines Unternehmens nicht an Muth und nicht an der
fernerenUnterstützung seiner hohen Gönner fehlen möge, und würden
uns freuen, nach Erwägung der von uns gemachten Bemerkungen
die weiteren Bände der Sammlung in modificirter Gestalt erschei¬
nen zu sehen.
Otto Eichelmann.
Revue Russischer Zeitschriften.
Der «europäische Bote» (B'fecTHHKt Eßponu —Westnik Jewropy).
X. Jahrgang. 1875. November. Inhalt:
Erinnerungen einer Reise durch Serbien im Jahre 1867. I—II. Von P. A. Rounnsky. —
Das Heldenweib. Von y. S. Surikow. — Die Bevölkerung St. Petersburgs in ökono¬
mischer und socialer Hinsicht. III—IV. Von J, E. Janson . - Die Loreley. Ballade
von C. Brentano. .Von- dt —Die älteste Zeit der russischen Literatur und Bildung.
I. Von A. N. Pypin. - Turkestan und die Turkestaner. III. Schluss. Von M, A.
Terentjew. — Das Dörfchen Malinowka. Novelle. Von O Sefv lesehowsky. — Pierre
Josef Proudhon. Correspondance de P. J. Proudhon. Vierter Artikel. Von D jew. —
Der gegenwärtige Roman in England. Literarischer Abriss. Von Z. A. Po Ions ky. —
Die Lage der Verbannten in Sibirien. I—III Von N. A. Jadrinzetv. — Chronik. —
Rundschau im Inlande. — Correspondenz aus London.— Pariser Briefe. VIII. Flaubert
und seine Werke. Von £. Zola . — Literarische Bemerkungen. Von A. M. — Ein Brief
an den Redakteur. Anlässlich des Todes Sr. Erlaucht des Grafen A. K. Tolstoi. Von
J. L. Turgenjew — Nekrolog. — Bibliographische Blätter.
«Das alte Russland» (Russkaja Starina — Pycacaa GrapHHa). —
Herausgegeben und redigirt von M. y. Ssemeiushij . Sechster Jahrgang. Heft XII.
December 1875. Inhalt :
Der Einfall der Franzosen in Russland im Jahre Igi2. Erzählung des Bischofs But-
kewitsch. Uebersetzt nach einer polnischen Handschrift. — Das St. Petersburger Er¬
ziehungshaus unter der Verwaltunh J. J. Betzky’s. Von A H. Pjatkoiusky. M. L. Mag-
nitzky und seine Verbannungen. 1812 — 1844. — N. W. Gogol: nichtveröffentlichte
Briefe an seine Freunde aus den Jahren 1847 — 1852. Von B. S. Schewirew . Mit
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Anmerkungen von Professor J. Th. Müller. (Schluss). — Erinnerungen an J. A. Prczes-
lawski: Minister, Staats-Secretair Turkul, 1797 — 1857. — KarJ Andrejewitsch
Schilder auf der Donau im Jahre 1854 * Von -*V* K. Schilder . — Gedichte von Stifts -
fräulein und das Gutachten des Grafen Sawadowsky. 1807. Von P. /. Sawaitow. —
A. I. Ismailow 1779 — *839: seine nicht veröffentlichten Märchen, Epigramme und
Gesänge Von P. A. Ismailow. — Das Cholera-Jahr 1830 in Tambow. Von I. Du -
basow. — Der Oberpriester E. I Popow, 1875. Von /. T. Ossi »in. Bibliographische
Blätter (auf dem Umschläge;.
Russische Bibliographie.
Ssemetschkin, L. 0. Ueber die Wasserwege zur Fortschaffung der
Donischen Steinkohlen. St. Petersb. 8. 69 S. (CtieHKMtfb, A. 0 bo a-
hmxt> nyTRXT> aax pacnpocTpaHeHix AOHeitxaro KaMeHHaro yrjni.
Cn6. 8 ä. 69 CTp.).
Hosea et Joel prophetae ad fidem Codicis Babylonici. Petropoli-
tani. Edidit Hermannus Strack. Cn6. 2 a. 23 CTp.
Catalogue des livres rares et precieux, anciens et modernes, qui
composent la bibliotheque de feu Mr. Giustiniani, dont la vente se
fera Mercredi, 7 (19) janvier 1876 et les jours suivants a St-Pöters-
bourg. 8 a. 320 exp.
Notice sur la Societe Imperial Odessoise d'Histoire et d’Antiqui-
tes et sur ses Memoires. OAecca. 8 a. 320 CTp.
Abriss der Geschichte Russlands. Para. 8 a. 2 -f 177 CTp.
Das Archiv des Fürsten Woronzow. VII. Band: die Papiere des
Reichskanzlers^Grafen M. L. Woronzow. Moskau 1875. 8°. 688 S.
(ApxHBi> KHR3X Bopomjoßa. Kh. VII. ByMara rocyAapCTBeHHaro
Kamyiepa rpa<t>a MuxaHJia JlapioHOBHHa Bopomtoßa. MocKBa 1875.
8 a. 688 CTp ).
Nelidow, N. Kursus des allgemeinen Staatsrechts. Kasan. 8°. 28 S.
(HeJiMAOBl, H.' CacTeMa xypca o6maro rocyAapCTBeHHaro npasa.
Ka3aHb. 8 a. 28 CTp).
Tschebyschew-Dmitriew, A. Der russische Kriminalprocess nach der
Gerichtsordnung vom Jahre 1864. I. Theil. St. Petersburg 1875. 8°.
497 S. (He6wmesvA»MTpieB-b, A. Pyccicoe yrojioBHoe cyAonpoH3-
boactbo no cyAeÖHbiMi» yciaßaMi» 1875 r. l I. I. Cn6. 1875. 8 a.
* 497 ct P .
Nossowitsch, I N. Sammlung weissrussischer Sprichwörter. St. Pe¬
tersburg. 8°. VI + 222 S. HocoBMM'b, M. H. CöopHHKi» ö'iuiopyccicHX'b
nocAOBHivb. Cn6. 8 a. VI + 222 exp.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Carl Röttger.
Ao3BOJieHo ueH3ypoio. C.*rieTcp6yprb, n-ro AeicaÖp« 1875 rofla.
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