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Slovanska knihovna
slovanskA knihovna
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RUSSISCHE EEVUE
MONATSSCHRIFT
FOR OIE KUNDE RUSSLANDS
Herausgegeben
von
Carl Höttger.
IX. BAND.
ST. PETERSBURG
Kaiserliche Hofbuchhandlung H. SchmitzDOR fF
(CABL RÖTTQ-EB)
1876
| • -QL
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Bnchdruckerei von Röttger & Schneider, Newskj-Prospekt Nr.
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Inhal ts-Verzeichniss.
Seite.
Aus der ältesten Kulturgeschichte der finnischen Völker.
Nach Dr. August Ahlqvist von Valfried Vasenius . i—36
97—”4
Das Artel wesen in Russland. II. Von C. Gruenwaldt. . 37—66
1 15—139
Vorbericht über die Lena-Olenck-Expedition. Von A. Cze -
kanawski .66—75
Der russische Pelzhandel.75—86
Die Eisenbahnen Russlands. I. Geschichtliches. Von
S.M.Propper .139—182 247—280
Zur Geschichte der didaktischen Literatur in Russland im
achtzehnten Jahrhundert. III. Schluss. Von Professor
A. Brückner ..189—211
Die Wasserverbindungen der Wolga mit der Ostsee. I.
Das Wyschnij-Wolotschok-System. Von Th. Schmidt 211—247
Areal und Bevölkerung von Ost-Sibirien. I. Von C. 1 . . 285—312
Ueber den Ursprung einiger geographischer Ortsnamen
auf der Halbinsel Taurien. Vortrag von Dr. A. Harkavy 313 —323
Der dritte internationale Orientalisten-Kongress in St. Pe¬
tersburg .323—34^ 400—420
Das russische Telegraphen wesen im Jahre 1874.... 341—351
Die neuesten russischen Forschungen in Asien. Von M\
Wenjukow ...351—357
Die Hausindustrie in Russland. Von C. Gmenwaldt . 377—400
473—490
Baku als Centralpunkt des Ueberlandweges nach Indien.
Von W\ Fabritius .421—444
Ueber das Besitzthum und die Einkünfte russischer Klöster 491—512
Der Bericht der Reichskontrole über den Budgetabschluss
von 1875 ..512—521
Bericht über die Operationen der Reichs-Kredit-Anstalten
im Jahre 1875.521—534
Die Expedition in das Alai-Gebirge. Von L. Kostenko 535—565
Kleine Mittheilungen;
Ueber den Stand der landwirtschaftlichen Vorschussvereine in Russland 86—88
Stand der Viehzucht im Gouvernement Ssamara in den Jahren 1851 — 1874 18a—183
Die Goldgewinnung auf den Privat Wäschereien in Ost Sibirien im Jahre
«*75. >84
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Seite.
t)er Theehandel in Turkestan • 35S
Zur Frage der Beschiffung des Amu-Daija .. 359
Der Handel mit Metallen und Produkten der Montanindustrie Russlands
im Jahre 1874. 445—449
Die städtischen Kommunalbanken im Jahre 1875.; . . . 449—45a
Literaturbericht:
Die deutsche Reicbsverfassung. Theil IL Von Professor A, Gradowsky .
St. Petersburg 1876 ... 89-93
Asien, seine Zukunftsbahnen und seine Kohlenschätze. Eine geographische
Studie von Ferdinand v. Hochstetter , Präsident der K. K. Geographi-
' sehen Gesellschaft in Wien. 185—186
Friedrich Bienemann . Briefe und Urkunden zur Geschichte Livlands in
den Jahren 1558— 156a. Aus inländischen Archiven. Band V. 1561.
156a. Nebst Nachträgen. 280—283
D. A. Timirjasew. Uebersicht der Entwickelung der wichtigsten Zweige
der Gewerbe und des Handels in Russland, für die letzten zwanzig
Jahre. Graphische Tabelle. 360—368
Johann FenncFs livländische Historien. Herausgegeben von Richard
Hausmann und Konstantin Hoehlbaum. 368—374
Gerichtlich-medizinische Untersuchungen über das Skopzenthum in Russ¬
land, nebst historischen Notizen von E . Pelikan .. 453—459
Wilfried Anders, 1. Die Geburten und die Sterbefälle in Livland 1863
bis 1872. a. Beitrag zur Statistik Livlands.. 459—467
Chronologie orientalischer Völker von Albirünt. Im Aufträge der
Deutschen Morgenländischen Gesellschaft herausgegeben von Dr. C,
Ed. Sachau . 565—570
Revue Russischer Zeitschriften • • . 93 95 185—186 283—284
374 — 375 467—468 570 — 57 «
Russische Bibliographie . . 95—96 186—187 284 376 468—470
57 * —572
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Aus der ältesten Kulturgeschichte der flnischen
Völker.
Von
Valfried Vasenius.
Unter den Ergebnissen der vergleichenden Sprachforschung sind
wohl keine von so allgemeiner Bedeutung, wie die, welche das
älteste Kulturleben der Völker betreffen. Wo die auf schriftlich
überlieferten Denkmälern gegründete Geschichte uns verlässt, da
wirft die vergleichende Sprachforschung ein, früher ungeahntes
Licht über lange Perioden der menschlichen Kulturentwickelung und
lässt uns diese Entwickelung stufenweise verfolgen, indem sie aus
der Masse der Kulturwörter stammverwandter Sprachen diejenigen
ausscheidet, welche Gemeingut des ganzen Stammes sind und also
auch einen Gemeinschatz der vor der Sprachtrennung erworbenen
Kultur bezeichnen, während dagegen andere nur einzelnen Sprachen
oder Sprachfamilien angehören, oder anderen Sprachen entlehnt
sind, und also einen späteren stattgefundenen Fortschritt der Kul¬
tur anzeigen.
Auch über die Vorzeit der finischen Völker ist jetz durch das
vor Kurzem in Finland erschienene Werk « Die Kulturwörter der
westfinischen Sprachen . Ein Beitrag zu der älteren Kulturgeschichte
der Finen. Von Dr. August Ahlqvist, (8° 336 S. Helsingfors, 1875,)
das Dunkel gelichtet worden. Der Verfasser, Professor der fini¬
schen Sprache an der Universität Helsingfors, hat schon früher
für die Kenntniss der ural-altaischen Sprachen Bedeutendes ge¬
leistet, u. A. eine (schwedisch geschriebene) Grammatik der
wotischen Sprache und einen «Versuch einer moscha-mordwini-
schen Grammatik nebst Texten und Wörterverzeichnisse» St. Peters¬
burg 1861 herausgegeben. Das letztgenannte Werk, im Jahre 1862
mit dem halben Demidow’schen Preise belohnt, bildet den ersten
Theil einer Serie von «Forschungen auf dem Gebiete der ural-altai-
schen Sprachen», als deren zweiter Theil jetzt «die Kulturwörter«
erschienen ist. Der dritte Theil der Serie, welcher wogulische
Boss. Berne. Bd. JX. I
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Texte nebst Wörterbuch und einer wogulischen Grammatik umfasst,
ist bereits im Druck.
Noch ist hinzuzufügen, dass der Verfasser in den Jahren 1854 bis
1858 im nördlichen und mittleren Russland und in West-Sibirien
Reisen machte um die Sprachen der daselbst ansässigen finischen
Völkerschaften zu erforschen und mit dem Leben dieser entlegene^
Stammverwandten seines eigenen Volkes sich vertraut zu machen.
Es dürfte also kaum-irgend ein anderer jetzt lebender Forscher mit
grösserer Zuversicht als er den schwierigen Versuch wagen, den
Bestand der ursprünglichen Kultur der finischen Völker festzu¬
stellen und dem nachzuspüren, was von anderen Völkern entlehnt
ist. Wohl ist es möglich, und der Verfasser hebt dies selbst aus¬
drücklich hervor, dass «die Menge des behandelten Stoffes, in dem
geringen Umfang dieses Werkes zusammengedrängt, sowie anderer¬
seits die Dürftigkeit und Unverständigkeit der Hülfsquellen es be¬
wirkt haben mögen, dass Fehler und Versehen in einzelnen Fällen
sich eingeschlichen haben». Dass aber die Ergebnisse der Unter¬
suchung im Grossen und Ganzen richtig seien, dafür leistet eben
der Umstand uns Gewähr, dass diese Untersuchung nicht nur auf
theoretische Kenntniss der bezüglichen Sprachen gegründet ist,
die leicht zu übereilten und einseitigen Schlüssen leiten kann, son¬
dern auch auf genauer Kunde der Naturverhältnisse in welchen die
finischen Völkerschaften gelebt haben und zum Theil noch leben,
und die natürlicherweise auf die Gestaltung der Kultur in manchen
Beziehungen bestimmend eingewirkt haben.^
Das Buch über die Kulturwörter erschien schon 1871 in schwedi¬
scher Sprache; jetzt hat es der Verfasser theilweise umgearbeitet,
die Fehler, welche er selbst oder andere darirt aufgefunden hatten,
berichtigt, und dann ihm ein deutsches Gewand geben lassen in
der Hoffnung, dass dadurch .die darin ausgesprochenen Ideen eine
grössere Verbreitung finden und auch denjenigen estnischen und
ungarischen Gelehrten bekannt werden könnten, welche sich für
die finische Sprachforschung interessiren, aber der schwedischen
Sprache nicht mächtig sind». Die Uebersetzung ist vor dem Drucke
von dem Akademiker Hrn. Anton Schiefner durchgesehen, und der¬
selbe hat zugleich dem Verfasser «aus dem reichen Schatze seines
Wissens eine Menge von Aufschlüssen mitgetheilt, die der Arbeit
zu Gute kamen».
In der Einleitung gibt der Verfasser den Gegenstand und Umfang
seiner Untersuchung folgendermaassen an:
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«Unter westfinischen Völkern oder baltischen Finen werden
diejenigen Völkerschaften ural-altaischer oder vielmehr finisch-
ugrischer Herkunft verstanden, welche die östliche Küste der Ostsee
vom Meerbusen von Riga bis hinauf zur nördlichen Spitze des Bott¬
nischen Meerbusens und das dieser Küste östlich und nördlich zu- v
nächst belegene Land bewohnen. Die westliche Grenze dieser
Völker bildet das obengenannte Meer und der eine grosse nördlich
gehende Arm desselben und weiterhin eine Linie, welche man sich
von der nördlichen Spitze dieses Armes in nordwestlicher Richtung
bis zum Ocean gezogen denkt. Die östliche Grenze des Gebietes
dieser Völker wird von einer Linie gebildet, welche sich vom südlichen
Theile des Riga’schen Meerbusens bis zum südlichen Theile des
Peipus-See’s, von hier bis zur Mündung des Wolchow in den Ladoga,
dann zum südlichen Ufer des Onega, und von der nördlichsten Bucht
dieses Sees nach Norden hinauf bis zum Weissen Meere zieht. Die
nächsten Nachbarvölker sind im Süden die Letten, die Lithauer und
die Russen, im Osten die Russen und im Westen die skandinavi¬
schen Völker.
Den nördlichen Theil dieses Gebietes nehmen die Lappen ein,
welche ihre Rennthierheerden an den unfruchtbaren Küsten und auf
den zunächst belegenen Bergen der vier hier an einander grenzenden
Länder Norwegen, Schweden, Finland und Russland weiden. Die
Lappen, welche den drei erstgenannten Ländern angehören, sind
Protestanten; sie blitzen eine — wenn auch nur geringe — reli¬
giöse Literatur, um welche sich namentlich die Norweger und
die norwegische Regierung verdient gemacht haben, und sind
also des Lesens kundig. Die russischen Lappen, welche die soge¬
nannte russisch-lappische Halbinsel bewohnen, gehören der grie¬
chisch-russischen Kirche an; sie haben keine Literatur in ihrem von
der Sprache der übrigen Lappen sehr abweichenden Dialekt und
sind sehr unwissend. Die Gesammtzahl der Lappen übersteigt kaum
20,000 Individuen. Sie werden von den ackerbauenden Kolonisten»
immer mehr nach Norden gedrängt und gehen am liebsten zur Na¬
tionalität ihrer nächsten Stammverwandten, der Finen, über. Der
Sprache nach bilden die Lappen ein Verbindungsglied zwischen den
eigentlich baltisch-finischen und den ostfinischen Völkern, von
welchen die Mprdwinen durch ihre Sprache den Lappen am nächsten
verwandt zu sein scheinen.
Die übrigen baltisch-finischen Völker theilt man auf Grundlage
der Beschaffenheit ihrer Sprachdialekte in zwei Zweige, nämlich in
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Karjalaiset , Karelier, und Hämäläiset , welche in den russischen
Chroniken Jam oder Jäm, Jämen, und von den Schweden Tavaster
genannt wurden.
Die Karelier bewohnen den westlichen Theil des Archangel’schen
Gouvernements, den nordwestlichen Theil des Olonetz'schen Gou¬
vernements und beinahe ganz Ingermanland, wo sie sich Inkerikot
(Ischoren), Savakot und Ayrämöiset nennen. Ferner trifft man sie
von ihren übrigen Stammverwandten gänzlich abgeschieden, in den
Gouvernements Nowgorod und Twer, wohin sie nach dem Frieden
von Stolbova (1617) aus Ingermanland eingewandert sind. Die
Karelier nehmen auch das ganze östliche Finland ein, wo sie sich
theils Karjalaiset, theils Savolaiset (in der Provinz Savo, Savolax)
nennen; als Grenze zwischen ihnen und den Tavastern kann man eine
Linie ansehen, die man sich von Wiborg gegen Nordwest nach dem
Bottnischen Meerbusen gezogen denkt. Die Karelier im Archangel-
schen Gouvernement und in Olonetz, wie auch die Ischoren in Inger¬
manland und ein geringer Theil der Bevölkerung Finland’s an der
Ostgrenze des Landes gehören zur griechisch-russischen Kirche;
alle übrigen Karelier, auch die inSermanländischen, sind Lutheraner.
Die Anzahl der Karelier in den russischen Gouvernements (ausser¬
halb Finland’s) kann auf ungefähr 300,000 Personen geschätzt
werden.
Die Jämen oder Hämäläiset besitzen zunächst in Finland alles
Land, welches westlich von der ebengenannten Linie liegt; man
trifft sie aber auch unter dem Namen Wepsäläiset oder Nord-
Tschuden (Nachkommen der von Nestor erwähnten Wessen) im
südlichen Theile des Olonetz’schen und in einigen Distrikten des
Nowgorod’schen Gouvernements, im Westen des Bjelosero und
südlich vom Onega, am oberen Laufe des Ojatflusses. Die Wepsen
gehören der griechisch-russischen Kirche an; sie werden immer
mehr russifizirt und ihre Zahl übersteigt kaum 20,000 Personen.
Ihre nächsten Sprachverwandten sind die Süd-Tschuden im west¬
lichen Ingermanland; sie selber nennen sich Watjalaiset, aus
welchem Namen das russische «Wot 1 » und das germanische «Woten»
entstanden ist. Ebenso wie die Wepsen sind auch die Woten auf
dem Wege, in der russischen Nationalität, zu deren Religion sie
sich auch bekennen, aufzugehen, und ihre Anzahl dürfte augen¬
blicklich kaum 10,000 übersteigen. Westlich vom Gebiete der
Woten beginnt das Gebiet der Esten, welches sich über ganz Estland
und einen bedeutenden Theil von Livland erstreckt; doch werden
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♦
auch im Gouvernement Pskow Esten angetroffen. Ihre Anzahl
dürfte auf beinahe eine Million geschätzt werden. Die allernächsten
Spr^chverwandten der Esten sind die auf 2,000 Köpfe zusammen¬
geschmolzenen Liven am Gestade des Meerbusens von Riga.
Dies nun sind die westfinischen Völker oder die baltischen
Finen. Ihre Gesammtzahl beträgt, wenn man die finische Bevöl¬
kerung Finland's auf 1,700,000 veranschlägt, etwas mehr als drei
Millionen Köpfe.
Die Zeit der Einwanderung dieser ural-altaischen Völkerschaften
in ihre jetzigen Wohnplätze lässt sich nicht genau bestimmen; es ist
sehr wahrscheinlich, dass ein Theil von ihnen schon zur Zeit der
Geburt Christi oder in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrech¬
nung hier an der Ostsee ansässig war. Auf jeden Fall war die
Einwanderung in diese nördlichen und bewaldeten Gegenden
eine äusserst langsame, vielleicht hat sie Jahrhunderte lang ge¬
dauert.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Finen bei ihrer Einwan¬
derung in die baltischen Länder auf keiner hohen Kulturstufe standen.
Bei Menschen, welche hauptsächlich von der Jagd und Fischerei
leben, kann eine höhere Gesittung kaum aufkommön. Erst nach
ihrer Berührung mit Ackerbauern, d. h. mit Völkern arischer Her¬
kunft, scheinen die Finen das Gebiet der eigentlichen Kultur be¬
treten zu haben. Es ist für uns, ihre Nachkommen, von grossem
Gewicht zu untersuchen, von welchem Volke arischer Herkunft
unsere Voreltern den ersten Impuls zu einer höheren Civilisation er¬
halten haben. Für eine solche Untersuchung giebt es aber, ausser
der geschriebenen Geschichte, wenig Quellen. Wo das Zeugniss
derselben aufhört, geben freilich die Alterthümer noch Andeu¬
tungen von der Art und Beschaffenheit der Kultur vergangener
Zeiten. Am besten aber zeugen die in der Sprache vorhandenen
Kulturwörter für die Herkunft der Kultur. Jakob Grimm sagt*, «es
gibt kein lebendigeres Zeugniss über die Völker, als Knochen,
Waffen und Gräber, und das sind ihre Sprachen». Daher schien mir
eine Untersuchung der Kulturwörter der finischen Sprache eines
finischen Sprachforschers nicht unwürdig, und die vorliegende
Arbeit ist das Resultat meiner hierhergehörenden Forschungen».
Nachdem der Verfasser eine Uebersicht der wichtigsten Gesetze
gegeben, gemäss welcher das Finische bei der Aufnahme von Lehn¬
wörter fremde Laute und Lautgruppen zu assimiliren sucht, geht er
zur eigentlichen Untersuchung der Kulturwörter über. Wir wollen
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hier die hauptsächlichsten Ergebnisse dieser Untersuchung in ge¬
drängter Fassung wiedergeben und behalten dabei die Eintheilung
des Verfassers unverändert.
I. Viehzucht.
Noch heutzutage gedeiht der. Ackerbau nur kärglich in der mora¬
stigen Waldregion, die im europäischen Norden hart unterhalb des
Gebietes der Polarnomaden beginnt. Einst waren Jagd und Fischfang
der hauptsächlichste Nahrungszweig ihrer Bewohner, wie es bei
den Wogulen und Ostjaken noch heute der Fall ist. Bei den nörd¬
licher wohnenden trifft man kein anderes Hausthier an als den Hund,
und erst in der Nähe der Küsten des Eismeeres das Rennthier, falls
dieses den Hausthieren zugezählt werden darf. Südlicher kommen
bei einigem Ackerbau auch die Kuh und das Pferd als Haus¬
siere vor.
Ungefähr derartig scheint das Verhältniss ehemals auch bei den
Vorfahren der jetzigen Finen gewesen zu sein, deren Wohnsitze
bis auf wenige Ausnahmen sich niemals viel südlicher als jene
Waldregion erstreckt haben. Eine genauere Untersuchung der
Namen der hauptsächlichsten Hausthiere wird darthun, dass die
Finen viele dieser Thiere erst von den Nachbarvölkern arischer
Herkunft kennen gelernt und von ihnen auch die Benennungen der¬
selben entlehnt haben.
Genuin finische Namen haben der treue Begleiter des Jägers
und des Nomaden, der Hund , und die verschiedenen Geschlechter
des Rindvieh 1 s und dessen Jungen. Dagegen ist aus den skandinavi¬
schen Sprachen das Wort nauta entlehnt, um damit die ganze letzt¬
genannte Thiergattung, ohne Rücksicht auf das Geschlecht zu be¬
zeichnen; denn solche allgemeine Benennungen kommen in den
Sprachen weniger kultivirter Völker gewöhnlich nicht vor, wie dies
besonders auf dem Gebiete der. ural-altaischen Sprachen der Fall
ist. Das Wort raavas wird auch theilweise als Name des Rindviehs
angetroffen, aber hauptsächlich in der Eigenschaft desselben als
Schlachtvieh; dieses Wort bedeutet nämlich sowohl im nördlichsten
Dialekt des Finischen als auch im Russisch-Karelischen nur alt\
der Zusammenhang zwischen beiden Bedeutungen wird durch den
Umstand erklärt, dass das Volk in Finland noch heutzutage am
liebsten altes Vieh zum Schlachten verwendet. Nur die Lappen
haben, aus Gründen, die leicht einzusehen sind, keine eigenen Be-
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nennungen für Rindvieh, sondern entnehmen solche aus dem Schwe¬
dischen. Dies ist auch der Fall mit dem lappischen Namen des ein¬
fachen Produkts der Kuh, der Milch , welche sonst in allen anderen
finischen Sprachen eigene genuine Namen hat, ausgenommen im
Ostjakischen, wo sie einen zusammengesetzten Namen trägt,
welcher wörtlich übersetzt, Brustwasser bedeutet. Auch geben sich
die Ostjaken nur wenig mit Viehzucht ab, und das auch in den süd¬
lichsten Theilen ihres Gebietes ; dagegen ist die Rennthierzucht bei
ihnen sehr allgemein, wenngleich nicht der einzige Nahrungszweig,
wie bei den Samojeden. Diese Polarnomaden verstehen es noch
nicht, das Rennthier zu melken; hierdurch lässt es sich erklären,
dass die Ostjaken, erst nachdem sie durch die Russsen mit dem
Melken der Kuh bekannt geworden, dazu gekommen sind, der
Milch im Allgemeinen einen Namen zu geben, der bis dahin wahr¬
scheinlich nur gebraucht worden war von der Flüssigkeit, die das
Menschenkind aus der Mutterbrust saugt.
Für Butter findet sich der Name voi, welches Wort beinahe ganz
unverändert in allen finischen Sprachen vorkommt. . Ebenso über¬
einstimmend aber, wie die finischen Sprachen in der Form dieses
Wortes sind, ebenso einig sind sie auch in Betreff der Bedeutung
desselben, welche Fett ist. Nur das Finische ist von dieser allge-
gemeinen Bedeutung zu der speziellen Butter gekommen, aber auch
die östlichen Dialekte dieser Sprache gebrauchen das Wort ebenfalls
in der ursprünglichen Bedeutung. Dieser Umstand lässt vermuthen,
dass die Finen die Butter und deren Bereitung ursprünglich nicht
gekannt, sondern dieselbe erst nachdem sie an die Ostsee gekommen,
von irgend einem Nachbarvolke kennen gelernt haben, um so mehr
als der Name des Instrumentes zur Butterbereitung dem Altnordi¬
schen entlehnt ist. Auch von dem stammverwandten Volke der Ma¬
gyaren sagt E. Schwab in seinem Werke*: «Butter ist als Nahrungs¬
mittel bei den Magyaren erst seit 200 Jahren bekannt, noch heute
gebraucht man im ganzen Lande, gern Schweinefett statt der Butter
und des Schmalzes».
In weit höherem Grade als die Butterbereitung ist die Bereitung
von Käse den Nomaden unbekannt, unbequem und unnöthig. Die
Finen scheinen auch diese Kunst in früheren Zeiten nicht gekannt
zu haben, sowie dieselbe noch heutzutage in den östlichen Theilen
des Landes und in Russisch-Karelen unbekannt ist, wo die Viehzucht
* «Land und Leute in Ungarn». I. Band, Seite 181 •
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doch einen so wichtigen Nahrungszweig bildet. Die Namen des
Käses haben, nach der Ansicht des Verfassers die Finen und
die Lappen, dem Schwedischen entlehnt, andere finischen Spra¬
chen bedienen sich der slavischen Wörter ssir (cupi>) und (< twarög)
(TBaport).
Gleich wie für das Rindvieh, so ist auch für das Pferd die allge¬
meine Benennung den indoeuropäischen Sprachen entnommen; für
Hengst und Stute aber giebt es gemeine Namen. Für kastrirles
Pferd hat dagegen das Finische keinen eigenen Ausdruck, wahr¬
scheinlich deshalb, weil diese Art, das Thier tu verstümmeln, erst
späterhin und zwar von den Nachbarvölkern Eingang bei den
Finen gefunden hat. Auch die Benennungen des Schafes sind bei allen
finischen Völkern von den Nachbarvölkern entlehnt. Die Benen¬
nungen des Widders , des weiblichen Schafes und des Lammes
stammen alle aus den litthaui&h-lettischen Sprachen; der allgemeine
Gattungsname der westfinischen Sprachen dagegen aus dem Germa¬
nischen. Dieser Name ist im Finischen lammas, dasselbe Wort,
womit die germanischen Völker das Junge des Thieres benennen.
Diesen sonderbaren Bedeütungsübergang sucht der Verfasser folgen-
dermaassen zu erklären; bei Einführung eines neuen Hausthieres zieht
der Ansiedler oft das Junge dem erwachsenen Thiere vor, vielleicht
meist deshalb, weil in unwegsamen Gegenden das Junge leichter zu
transportiren ist, als das erwachsene Thier. Dieses ist wenigstens
noch jetzt der Fall im nördlichen und nordöstlichen Finland rück¬
sichtlich der Verbreitung des Schafes und des Schweines unter den
Ansiedlern dieser Waldgegenden. Aus diesem Umstande erklärt es
sich, dass der Name des Jungen in der Sprache des Volkes aus
dessen Gebiet das neue Hausthier gebracht wird, bei dem Volke,
welches dasselbe bei sich einführt, der genuine Name des
Thieres wird. So haben die nördlichen Finen aus dem Skandina¬
vischen lamb ihr lammas erhalten, so wie viele ostfinische Völker
die Benennungen des erwachsenen Schweines von dem russischen
Namen für das Ferkel. Etwas Aehnliches kommt auch bei den
Namen einiger Kulturgewächse vor. So heisst die Kohlrübe im
Finischen planttu oder lanttu vom schwedischen planta, Pflanze,
Setzling, denn das Gewächs wird nicht aus Samen gezogen, sondern
aus Setzlingen, die der Landbewohner gewöhnlich aus der Stadt
bringt.
Eigentümlich ist es, dass auch die Ungarn als allgemeinen
Namen für das Schaf ein Wort (juh) angenommen, mit dem die
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fremde Sprache, der es entlehnt ist, nur das Lamm bezeichnet.
Das Original ist nämlich das slawische jag-nets , jag-nönoh 9 welches
mit dem lateinischen agnus identisch ist. Auch die übrigen unga¬
rischen Namen des Schafes sin$l den slavischen Sprachen ent¬
nommen; und ebenso hat die Wolle bei den meisten finischen
Völkern keine eigene Benennug, sondern wird ganz einfach
«Haar» genannt, oder auch, im Gegensatz zu anderem Haar,
Schafshaar und sogar Schafsfedern oder Schafsdaunen , oder
sie hat einen entlehnten Namen. Alles dies weist darauf hin, dass
die finischen Völker bei ihrer Ankunft an die Küste der Ostsee das
Schaf nicht gekannt haben.
Dasselbe ist auch mit der Ziege der Fall; auch kommt dieses
Thier in Finland noch heutzutage recht spärlich und in manchen
Provinzen gar nicht vor. Die Natur- und Kulturverhältnisse des
Landes eignen sich nur wenig zur Verwendung dieses Thieres als
Hausthier; Victor Hehn 1 bemerkt: «Die Ziege ist das Hausthier
des mehr Gartenartigen Anbaues in südlichen Gebirgsgegenden; sie
nährt sich von den aromatischen Stauden, die von selbst an den
heissen Felsabhängen spriessen; sie nimmt auch mit hartblättrigem
Gesträuch vorlieb und giebt eine fette gewürzige Milch».
Für das Schwein und das Federvieh haben die westfinischen
Sprachen ebenfalls keine genuine Namen, sondern die Benennungen
derselben stammen grösstentheils aus den germanischen Sprachen.
Auch dieser Umstand stimmt mit den Kulturverhältnissen in Finland
überein, denn noch heutzutage sieht in manchen Gegenden der
finische Bauer sowohl Hühner als Gänse für Feinde des Ackers an
und noch vor einem Menschenalter waren an einigen Orten Schweine
und Geflügel so unbekannt, dass herumziehende Zigeuner und an¬
dere Landstreicher solche Hausthiere, die sie mit sich führten, als
ausländische und merkwürdige Thiere für Geld zu zeigen pflegten.
Die Katze endlich ist dem Jäger und Nomaden unnöthig, dem
ersteren sogar schädlich, da sie durch ihre Jagd seinem Nahrungs¬
zweig Abbruch thut. Erst der Landmann kann von dem Instinkt
dieses Thieres Nutzen ziehen. Daher ist es kein Wunder, dass die
finischen Völker erst durch Berührung mit den ackerbauenden
Ariern dieses Thier und dessen Benennung kennen gelernt haben.
1 Kulturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang aus Asien nach Griechenland
und Italien sowie in das übrige Europa. 2. Aufl. Berlin. 1874, pag. 116,
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IO
Aus der Untersuchung der verschiedenen westfälischen Namen der
Katze ergibt sich, dass solche sowohl aus den skandinavischen als
auch aus den slavischen Sprachen stammen.
2. Ackerbau.
Der Ackerbau scheint allerdings bei den Vorfahren der Finen
bekannt gewesen zu sein, aber es dürfte nicht Ackerbau im vollen
Sinne des Wortes gewesen sein, sondern das, den Finen eigenthüm-
liche Schwenden, denn ein solches Verhältniss geht aus dem Wort-
vorrath der Sprache deutlich hervor. Pas Finische hat nämlich
eine Menge genuiner Ausdrücke für den Begriff Schwende , ent¬
behrt dagegen jeglichen Ausdruckes für den Begriff Acker , denn
der genuine Name pelto (ung. /old) ist das germanische Feld . —
Ueber die Abneigung der Finnen gegen das Anlegen von Gräben
wird noch jetzt geklagt, und auch die Sprache ihrerseits zeugt da¬
von, dass diese Verbesserung des Ackers bei den alten Finen nicht
gebräuchlich gewesen, da für Graben nur das Wort oja existirt, welches
jetzt allerdings in den meisten Theilen des Landes einen gegrabenen
Wasserabfluss bezeichnet, aber ursprünglich, sowie auch jetzt noch
in einigen Gegenden des Landes einen kleinen natürlichen Abfluss,
einen Bach, bedeutet. Bei dem grossen Mangel an genuinen
Benennungen für Gegenstände auf diesem Gebiete, woran das Fini¬
sche leidet, muss man sich darüber wundern, dass diese Sprache
ein eigenes Wort, aita, für den Begriff Umzäunung, Zaun, hat. Aber
dieser Umstand lässt sich daraus erklären, dass schon der Jäger
(z. B. der Wogule) beim Fang der Thiere zu verschiedenen Zwecken
Zäune braucht; dafür wurde wohl auch das Wort äila anfangs ange¬
wandt, erhielt jedoch späterhin die Bedeutung von der Umzäunung,
womit der Landmann seine Niederlassung umgibt.
Unter den Gerätschaften, welche der Landmann zur Urbar¬
machung des Bodens gebraucht, nimmt die Axt unzweifelhaft den-
ersten Platz ein. Dieses Werkzeug hat in der Gruppe finischer
Mundarten, welche in der Nähe der Ostsee gesprochen werden,,
einen gemeinsamen Namen kirves , welcher dem Litthauischen ent¬
lehnt ist, in welcher Sprache die Axt kiruis genannt wird, vom Ver¬
bum kirsti, hacken. Es fragt sich nun, was die Finen dazu bewog,
dem Litthauischen den Namen für ein Werkzeug zu entlehnen
welches auch für den Jäger unentbehrlich ist. Sehen wir uns auf dem
Gebiete der übrigen finischen Sprachen um, so finden wir, dass die
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meisten derselben Wörter für diesen Gegenstand haben; nur ein¬
zelne haben den Namen dafür entlehnt (z. B. top'or des Ungarischen,
deren Original das slavische topör , Tonopi», ist). Als Erklärung die¬
ses Umstandes im Finischen lässt sich nur annehmen, dass die
Finen wohl auch eine eigene Benennung für die in früheren Zeiten
gebrauchte Steinaxt gehabt, später aber, als sie anfingen im Handel
Aexte aus Eisen von den kultivirteren Nachbarn zu erhalten, nahmen
sie mit dem fremden Werkzeug auch dessen fremden Namen an. —
Nicht anders ging es dem Namen des Pfluges . Da man den alten
Finen Kenntniss des Landbaues und Beschäftigung mit demselben
doch nicht absprechen kann, muss man vermuthen, dass sie sich
ursprünglich einer weniger vollkommenen Form dieses Ackergeräths
bedient haben mögen; vielleicht war dies ein klauenförmiges hartes
Holz, womit die gebrannte Erde nur unvollkommen aufgewühlt
wurde und welches möglicherweise den genuinen Namen für Klaue ,
kynsi, führte, von dem das Verbum kyntaä pflügen augenscheinlich
ein Derivat ist. So wäre es erklärlich, dass man, als dieses weniger
vollkommen befundene Werkzeug ausser Gebrauch gekommen
war, mit ihm auch seinen Namen ablegte, und von den Nachbarn
die Benennungen des verbesserten Pfluges aufnahm, nämlich atra
aus dem skandinavischen ardr (verwandt mit lat. aratrum , slav.
ordlo , opajio) und sakra aus dem litthauischen zagre .
Wir übergehen die Erörterung der übrigen Namen von Acker-
geräthen. Was die Getreidearten betrifft, welche den Gegenstand
des Ackerbaues der Finen bildeten und noch bilden, so hat nur die
Gerste einen genuin finischen Namen; diese Getreideart sammt
der Rübe waren wahrscheinlich die einzigen, welche von den alten
Finen kultivirt wurden. Dieses stimmt auch mit dem überein, was man
von dem Ackerbau anderer alter Völker kennt. Die Getreidearten,
welche in der Bibel genannt werden, sind Gerste und Weizen ; ebenso
kam in Alt-Griechenland die Gerste am Allgemeinsten vor; Weizen
wurde zwar gebaut, aber Weizenmehl war in ältester Zeit ein Lecker¬
bissen und Weizenbrod gehörte auch später zum Nachtisch. Die
Römer endlich pflanzten gar keinen Roggen, und Hafer nur als
Futter für Pferde.
Es ist auch leicht einzusehen, dass ein armes, wie die alten Finen,
hoch im Norden lebendes Volk, sich nur ungern damit abgeben
würde, eine GetreidOart zu bauen, welche, wie der Roggen, eine län¬
gere Arbeitszeit erfordert, oder, wie der Hafer, nur langsam reift,
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also häufiger dem Frost ausgesetzt ist, als die zeitig reifenden Ge¬
treidearten.
Den Nachbarsprachen entlehnt, sind auch die Namen für Erbse,
Bohne , Kartoffel, Kohl, Rettig , Zwiebel und Gurke . Von kulti-
virten Fruchtbäumen kommen auf dem Gebiete, welches die finu
sehen Völker bewohnen, nur der Apfel - und Kirschbaum vor. Der
erstere hat einen genuinen Namen, er wird auch im südlichen Fin-
land ziemlich allgemein kultivirt und ebenso überall auf dem Gebiete
der Esten, Liven, Mordvinen und theilweise auf dem der Tschere-
missen. Bei mehreren anderen finischen Völkern, die nur die im
Handel vorkommende Frucht kennen, wird dieselbe gewöhnlich mit
dem russischen Namen jablok oder jabloko benannt. — Der Kirsch -
bäum wird dagegen vom finländischen Landmann fast gar nicht kul¬
tivirt und auch auf das übrige finische Gebiet scheint dieser Frucht¬
baum durch germanische oder slavische Nachbarn gekommen zu
sein, denn die Benennungen sind ihren Sprachen entlehnt.
Das Wort humala, Hopfen , wird im Allgemeinen als dem Schwe¬
dischen entlehnt angesehen. Der Verfasser ist jedoch der An¬
sicht, dass dies eins der wenigen Wörter ist, welche dem arischen
und turanischen Sprachstamme gemeinsam sind; diese Gemeinschaft
scheint gleichwohl nicht die Folge einer Urverwandtschaft zu sein,
sondern einer Entlehnung auf der einen oder der anderen Seite. —
Die leider mit der Civilisation entstandene Sitte, sich in den Zustand
zu versetzen, den das Finische mit dem Worte humala (Rausch) be¬
nennt, scheint, der Sprache nach zu urtheilen, von den Russen zu
den Finen gekommen zu sein. Die russische Sprache hat nämlich
von dem Worte hm’el’ (xftrfejib), Hopfen, einen Ueberfluss an Deri¬
vaten von der Bedeutung Rausch; und von einem unter diesen,
pohm’el’e (noxwrfejibe), welches «Katzenjammer» bedeutet, ist das
finische pohmelo, welches dieselbe Bedeutung hat, entstanden.
• Den Nachbarsprachen entlehnt sind meistens die Namen der
Gegenstände, welche zum Einernten, zur Reinigung, zum Aufbe¬
wahren und zur Benutzung des Getreides dienen, unter den letzteren
auch die Benennungen des Teiges und der gewöhnlichste Name für
Brod, leipä, welches entweder vom slavischen hl'eb (xx'feö'b) oder
vom deutschen Laib stammt.
In der älteren schwedischen Zeit waren die Finen ihres Bieres
wegen berühmt, und es ist anzunehmen, dass sie ebenso wie die
Völker an der Wolga, lange die Kunst gekannt, dieses Getränk zu
brauen. Wahrscheinlich war jedoch das ursprüngliche Verfahren
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dabei weit einfacher, als sie es bei ihrer Ankunft an die Ostsee, bei
den Nachbarn im Westen und Süden fanden, von denen sie Ver¬
besserungen in dieser Kunst erlernten und deren Benennungen für
das Getränk selbst sie jetzt annahmen. (Bier heisst finisch olu , olut ,
skand. öl , engl, ale , litth.-lett. alus ). — Eine derartige wichtige Ver¬
änderung war der Gebrauch des Hopfens, welche Würze, wie Hehn
dargelegt hat, erst in neuerer Zeit allgemeiner bekannt geworden.
3. Handwerke und Gewerbe.
In den abgelegenen Theilen Finland’s ist die «Theilung der Arbeit*
noch so wenig vorgeschritten, dass der Bauer nicht nur sein Acker¬
bau- und Hausgeräth, sowie die Stoffe zu seiner Bekleidiing, sondern
grösstentheils auch die dazu erforderlichen Werkzeuge selbst ver¬
fertigt. Mehr noch, als zu unserer Zeit, mag dies früher der Fall
gewesen sein, als der einsame Waldbewohner in dieser Hinsicht auf
sich selbst angewiesen war, und Alles, dessen er und seine Familie
bedurften, selbst mit derselben verfertigte. Der Mann sorgte für
dasjenige, was zur Jagd und zum Fischfang nöthig war, die Frau be¬
arbeitete die Felle der vom Manne erlegten Pelzthiere, trocknete
Fische zum Winterbedarf und nähte Kleider für die ganze Familie.
Die einfachen Bedürfnisse wurden also mit eigenen Erzeugnissen
befriedigt. Nur wenige Gerätschaften, wie Aexte und Messer aus
Stein und dann aus Metall, in späterer Zeit auch Nähnadeln, eben¬
falls aus Metall, Fries und grobe Leinwand tauschte der Waldbe¬
wohner gegen Pelzwaaren und getrocknete Fische ein, wenn er ein¬
mal jährlich einen entfernten Handelsplatz oder Marktflecken be¬
suchte, wobei er dann auch, wenn die Menge seiner Waaren es
erlaubte, sich einige Cerealien anschaffte. Also verhält es sich noch
jetzt bei den Stammverwandten der Finen, den Wogulen, deren
Land dem Reisenden im Allgemeinen so vorkommt, wie man sich
den osteuropäischen Norden vorstellen kann, bevor der Ackerbau
daselbst Eingang gefunden, wie auch die Lebensweise der Wogulen
in Folge dessen so ziemlich mit derjenigen, welche die alten Finen
führten, übereinstimmen dürfte.
Besondere Gewerbe oder Handwerke konnten also bei ihnen nicht
aufkommen. Nur ein einziges Handwerk scheint jedoch ziemlich
früh, und zwar früher als alle anderen, betrieben worden zu sein,
nämlich das Schmiedehandwerk . Dieses kann man aus verschiedenen
Umständen schliessen, wie z. B. daraus, dass die Schmiedewaaren
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der Finen in späterer Zeit wegen ihrer Brauchbarkeit berühmt
waren und dass man wohl keine grössere Kunstfertigkeit in diesem
Handwerk erlangt hätte, wenn dasselbe nicht schon seit längerer
Zeit bekannt gewesen und gepflegt worden wäre. Den grossen
Ruhm, welchen die finischen Schwerter in den skandinavischen
Sagen genossen, muss man wohl zum Theil dem Glauben an die
denselben innewohnende Zauberkraft zuschreiben, welche ein gutes
finisches Schwert nicht entbehren durfte; denn in dem Vermögen
dem Schwerte eine solche Zauberkraft zu verleihen, sowie in der
Zauberkraft überhaupt wurden die Finen für unübertrefflich an-
gesehen.
Der finische Name des Schmiedes , seppä , scheint jedoch ursprüng¬
lich diese Bedeutung nicht gehabt zu haben. Derselbe wird noch
heute in dem Worte der Volkssprache runoseppä , Meister in der
Runendichtung , in weiterer Bedeutung, als gewöhnlich, angetroffen.
Dasselbe ist der Fall mit dem in den alten Liedern vorkommen¬
den Worte purrenseppä, erfahren in dem Zimmern der Boote;
sogar oluen seppä , die Erfinderin des Bieres, findet sich in der Kale¬
vala. Mehrere andere solche Zusammensetzungen weisen darauf
hin, dass die Bedeutung ursprünglich die umfassendere eines Gewerbe¬
treibenden, Getverbekundigen , Meisters gewesen, oder ungefähr die¬
selbe, welche das lateinische Wort faber hat.
Das Gewerbe des Schmiedens hat von jeher bei den Finen in
grosser Achtung gestanden. Noch jetzt ist es bei dem finischen
Landvolk Sitte, dass man, wenn man einen Schmied besucht, um
etwas anfertigen zu lassen, Branntwein oder ein anderes Genuss¬
mittel mitbringt, um den kunsterfahrenen Mann bei guter Laune zu
erhalten, und hat man ihn zu Hause in Arbeit, so ist die Aufmerk¬
samkeit gegen ihn nicht geringer. Mehrere Sprichwörter äussern
sich auch über das Ehrenvolle und die Vorzüglichkeit des Schmiede¬
handwerks, z. B. (in deutscher Uebersetzung):
Reines Brod genierst der Schmieder,
Bessre Bissen stets der Hämmrer.
In früheren Zeiten war es nicht bloss das rein Technische in der
Schmiedekunst, was man achtete und bewunderte. Ebenso und
noch mehr ehrte oder fürchtete man die Zauberkunst, ohne welche
nach der Vorstellung des Volkes dieses Gewerbe nicht betrieben
werden konnte, und durch welche, je nach Laune und Umständen,
der Schmied die Waffe oder das Geräth, welches er schmiedete,
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entweder glücklich oder unwirksam, ja sogar unheilbringend für den
Eigenthümer machen konnte.
Aus einer Untersuchung der Namen der Schmiede und der dazu
gehörenden Werkzeuge geht hervor, dass die Finen ursprünglich
keine kunstgerechten Schmieden kannten, sondern erst von ihren
Nachbarvölkern erlernten, solche zu bauen. Zu vermuthen ist, dass
die der Schmiedekunst Beflissenen in den wenig bevölkerten Gegen¬
den umhenyanderten, die nothwendigsten Werkzeuge und Geräthe
mit sich führend, unter denen sich auch ein Topf für die Kohlen
befand, welcher den wichtigsten Theil einer Schmiede vertritt, der
jetzt aus der Esse besteht. Der ursprüngliche Name der Esse ist
aber in vielen Sprachen in den Namen der ganzen Werkstätte über¬
gegangen ; dagegen hat die kunstreichere, feste Esse einen anderen
Namen erhalten, der auf finischem Sprachgebiet meist entlehnt ist.
Von den Metallen hat der Mensch überall zuerst das Kupfer ent¬
deckt und angewandt, da dasselbe oft in gediegenem Zustande auf
der Erdoberfläche angetroffen wird, und weil dasselbe bei weit ge¬
ringerer Wärme schmilzt, als z. B. das Silber und das Eisen. Wahr¬
scheinlich kannten die linnen schon am Ural die Art und Weise
dieses Metall zu gewinnen und daraus Waffen und anderes Geräth
anzufertigen; ihre älteste Schmiedekunst muss wohl auf dieses Metall
bezogen werden. Viele Kupferwerke in Sibirien, sowohl im Ural,
als auch im Altai, sind von den Russen an solchen Stellen angelegt,
wo man verschüttete Gruben oder Stollen vorfand, welche die Russen
HyACKia Konn, d. h. Tschuden-Gruben, nennen, und die sowohl von
den Tungusen und von Mongolen, welche wegen ihrer geschickten
Schmiedekunst bei den Nachbarvölkern bekannt waren, als auch von
den finischen Völkern herrühren sollen. An solchen Stellen hat
man bei der Ausräumung nicht bloss geschmolzenes Kupfer in run¬
den Kuchen, sondern auch runde, aus weissem Thon geformte Töpfe,
worin die Schmelzung bewerkstelligt wurde, gefunden. Bei der
Ankunft der Russen am Ural wussten die jetzigen Bewohner, die
Wogulen, nicht mehr, von wem die dort befindlichen Halden und
Gruben herrührten, auch betrieben sie selbst keinen Bergbau mehr,
ein Beweis dafür, dass die Wogulen, nach der Bekanntschaft mit
dem Eisen, aus welchem die von ihnen durch den Handel bezogenen
Geräthschaften geschmiedet waren, den von den Vätern ererbten
Bergbau zur Gewinnung des Kupfers vergessen haben. Dass dieses
Metall in früheren Zeiten von den Finen mehr gekannt und ange¬
wandt worden, unterliegt keinem Zweifel. Das Andenken einer
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grösseren Vertrautheit mit demselben spiegelt sich auch in den
Runen ab. Der Sampo, dieses räthselhafte glückbringende Geräth,
wird in Pohjola innerhalb eines Kupferberges verwahrt; der kleine
Mann, welcher die grosse Eiche niederhaut (Kalevala 2. Gesang), ist
vom Kopf bis zu den Füssen in Kupfer gekleidet,, sogar der Hut,
die Handschuhe und der Gürtel sind aus Kupfer, und die Axt, mit
welcher er sein Werk vollzieht, ist ebenfalls aus Kupfer. Verschie¬
dene andere Geräthschaften, wie Schachteln, Hammer, Ruder u.s.w.
werden als aus diesem Metall verfertigt genannt. Das merkwür¬
digste Zeugniss von den Vorstellungen des Volkes in Betreff des
Kupfers liefert das im 9. Gesang der Kalevala vorkommende Zauber¬
lied vom Ursprung des Eisens , worin die Entdeckung dieses Metalles
dem Ilmarinen, *dem ewigen Schmieder*, zugeschrieben wird; er
soll auf kohlenerfüllter Haide aufgewachsen sein, mit einer kleinen
Zange in der einen und einem Hammer aus Kupfer in der andern
Hand.
Auch die Sprache ihrerseits legt Zeugniss davon ab, dass die
finischen Völker mit diesem Metall sehr früh bekannt-wurden. Die
Namen desselben in den Sprachen dieser Völker sind nämlich ge¬
meinsam und einer derselben wird im äussersten Westen bei den
baltischen, ein anderer im äussersten Osten bei den ugrischen Finen
angetroffen, ein Umstand, aus dem man schliessen kann, dass das
Kupfer unter ihnen bekannt war, bevor sie sich trennten.
Dagegen kannten die Finen wahrscheinlich nicht die Bereitung
der Bronze , da sich in ihrer Sprache keine Benennung dieses Misch-
metalles vorfindet. Auch für das Zinn, welches zu einer solchen
Bereitung nothwendig ist, entlehnten sie den Namen erst aus den
" germanischen Sprachen, sie haben also erst nach ihrer Ankunft an
die Ostsee und zu einer Zeit, da ihnen das Eisen schon bekannt war,
dieses Metall kennen gelernt. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass
sie schon vor dieser Bekanntschaft Bronzegeräth gebraucht, welches
ihnen durch andere Völker zugeführt wurde.
Nächst dem Kupfer scheint das Silber ein den finischen Völkern
bekanntes Metall gewesen zu sein. In der Benennung desselben
unterscheiden sich jedoch die west- und ostfinischen Völker streng
von einander und man bleibt, in Folge der Verschiedenheit der Be¬
nennungen in den verschiedenen Sprachen darüber jn Ungewissheit,
ob das Silber bei den finischen Völkern zu der Zeit bekannt gewe¬
sen, als ein Theil derselben nach Westen zu ziehen begann.
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Mit dem Eisen kann dieses nicht der Fall gewesen sein, denn wäh¬
rend sämmtliche finischen Sprachen einen gemeinsamen Namen
dafür haben, welcher nicht entlehnt sein kann, haben die westfini-
schen ihre Benennung desselben von den arischen Völkern an der
Ostsee erhalten. Dieses macht es wahrscheinlich, dass die Finen bei
ihrer Ankunft in den an diesem Meere belegenen Ländern noch nicht
in dem Kulturzustande sich befanden, welcher die Bearbeitung des
Eisens voraussetzt und welcher den Gebrauch desselben herbeiführt.
Ein erfahrener upd geistreicher Forscher 1 sagt: tDie Entdeckung
des Eisens bezeichnet eine Epoche in der Kulturgeschichte. Eisen
wird nicht, wie Gold, Silber und Kupfer, in gediegenem Zustande
gefunden; das Eisenerz muss aufgesucht werden und der Prozess
GTsder Gewinnung des reinen Metall’s aus demselben ist keineswegs
y^einfach und leicht. In Neu-Seeland, welches reich an Eisen ist,
kannte man keinen Gebrauch davon vor der. Ankunft der Europäer*.
Ein wichtiger Umstand, der für die hier ausgesprochene Vermuthung
spricht, ist der, dass die Finen bei ihrer Bearbeitung des Eisens
sich stets an das Sumpferz gehalten, welches nur in ihrem jetzigen
Lande, jedoch nicht in der östlichen Urheimath vorkommt, und dass
in jenem Liede über den Ursprung des Eisens ausdrücklich gesagt
wird, dass das Metall oder Erz verborgen war in Sümpfen, schwan¬
kenden Morästen, Quellen und Seen, wogegen der Berge als Fund¬
ort des Eisenerzes mit keinem Worte erwähnt wird. Dieses wäre
sicher nicht der Fall, wenn die Finen schon am Ural die Bearbei¬
tung des Eisens kennen gelernt, denn alles Eisen, welches dort ge¬
wonnen wurde und noch wird, stammt ausschliesslich aus Gebirgs-
adem. Oder hatten sie vielleicht während des langsamen Fort-
schreitens gegen Westen diese Kunsf vergessen? Die Sprache
wenigstens legt Zeugniss davon ab, dass die Nachbarvölker der
neuen Heimath ihre Lehrmeister in derselben wurden. Das west-
finische Wort rauta stammt nämlich aus einer in den arischen
Sprachen weitverzweigten Wörtergruppe, deren Grundbedeutung
roth , braun zu sein scheint, wovon denn die übertragene röthliche
Erde , Eisenerz. Zu diesem Stamme gehören unter Anderem das
russische pyaa (rudä), welches Eisen und auch 2?/#/bedeutet; dem
finischen Worte am nächsten steht das altnordische rauda , Eisen¬
ocker.
1 Max Müller: «Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache», Leipzig 1865, II,
S. 219.
Bau. Bevue. Bd. IX. 2
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Auch in der Benennung des Goldes unterscheiden sich die west-
und ostfinischen Sprachen von einander. Jene haben den Namen
des Goldes den germanischen Sprachen, diese wahrscheinlich dem
Persischen entlehnt. — Blei und (wie schon gesagt ist) Zinn wer¬
den auch mit fremden Namen benannt
Durch Arbeiten in Holz haben sich die Finen niemals besonders
ausgezeichnet, und dieses Gewerbe hat, wenigstens nach dem Sprich¬
wort «minkä saapi vuolemalla, sen syöpi nuolemalla» (was durch
Schnitzen man verdient, das verzehret man durch Lecken) zu urthei-
len, bei ihnen kein besonderes Ansehen gehabt. — Wir übergehen
die Erörterung der Namen der Werkzeuge für diese Art von Arbeit
und wenden uns zu den Handarbeiten, deren Zweck es ist, aus
Pflanzenfasern oder Wolle, Zwirn und Garn zu bereiten und aus die¬
sen Zeuge zu verfertigen. Diese Handarbeiten kamen und kommen
noch den Frauen zu und unter den Eigenschaften einer tüchtigen
Hausfrau sah man mit Recht die Kenntnisse derselben für eine
Haupttugend an.
Die Namen für Hanf und Lein sind in den baltisch-finischen
Sprachen entlehnt; die ostfinischen haben dagegen für Hanf ge¬
nuine Namen, welche jedoch eigentlich Nessel Bedeuten. Dies
erklärt sich daraus, dass die Völker im asiatischen Norden, wo kein
Kulturgewächs, also auch nicht der Hanf gedeiht, es verstehen, aus
den Fasern einer wild wachsenden Nesselart Garn zu bereiten, und
erst durch die Russen mit dem Hanf bekannt gemacht, übertrugen
sie den Namen des ihnen früher bekannten Fasergewächses auf das
Neue. Vermuthlich haben auch die nach Westen gezogenen Finen,
schon bevor ihnen eigentliche Pflanzenkultur oder Ackerbau bekannt
war, sowie auch bevor sie die Wollenspinnerei kannten, auf solche
Art Zwirn zu bereiten verstanden, ein Artikel, welcher ebenso noth-
wendig für den Fischer und Jäger, wie für den kultivirteren Men¬
schen ist. Diese Vermuthung wird noch durch einige Winke, welche
die Sprache in dieser Hinsicht giebt, bestärkt. Während nämlich alle
Benennungen der Gegenstände, welche zur Bereitung der Wolle
dienen, entlehnt sind, hat die Sprache einige Benennungen aus dem
Gebiete der Bearbeitung der Pflanzenfasern, welche anzudeuten
scheinen, dass die Erfindung einer solchen Bearbeitung einheimisch
war. So z. B. haben die Flachsbreche und die Schwinge genuine
Namen, wogegen der des Heckeis entlehnt ist, was darauf hinweist,
dass das kunstgemässere Verfahren bei der Bearbeitung des Faser¬
stoffs erst hier an der Ostsee erlernt wurde.
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Weshalb Wolle einen entlehntet) Namen hat ist schon oben gesagt.
Das ursprüngliche einfache Geräth zum Spinnen , die Spindel , kommt
wohl kaum mehr innerhalb der Grenzen Finlands vor, wird aber in
Russland noch ziemlich allgemein gebraucht, also auch von den
dort wohnenden finischen Völkern. Diese scheinen von Alters her
mit diesem Werkzeuge bekannt gewesen zu sein, was man aus den
Namen desselben schliessen kann, die gepuin und für die meisten
derselben gemeinsam sind. Doch kommt auch das slavische
BepexeHO (vereteno) als värttina oder värtlea vor. Das künstlichere
Geräth zum Spinnen, der Spinnrocken , ist eine Erfindung der Neu¬
zeit und hat im Finischen Namen, die aus dem schwedischen rock ,
der Rocken und dem deutschen Wocken stammen.
Der gemeine Name des Gams , lanha , wurde ursprünglich als Be¬
nennung des Garns aus ^Pflanzenfasern gebraucht, ward aber spä¬
terhin auch auf das Wollengarn übertragen. Ausserdem finden
sich auch andere entlehnte Namen. Die älteste und einfachste Art
der Bereitung eines Gewebes, ist Wolle oder andere Thierhaare zu
einem festen Ganzen zusammenzufilzen, welches Filz genannt wird. We¬
gen der Einfachheit und des reichlichen Vorhandenseins des Materials
ist die Filzbereitung bei den Steppen Völkern sehr allgemein und
einige sind darin zu einer gewissen Kunstfertigkeit gelangt. Auch
die finischen Völker scheinen schon frühzeitig diese Bereitung ge¬
kannt zu haben, denn in den meisten ihrer Sprachen existiren genuine
Benennungen für diesen Gegenstand, obgleich dieselben nicht ge¬
meinsam sind. Was den finischen Namen für weben , kutoa , anbe¬
trifft, so wäre man leicht versucht dieses Wort mit dem slavischen
ncy (jtku) } weben, zusammenzustellen, welches durch Umstellung der
Konsonanten (kut) dem finischen Worte merkwürdig ähnlich wird
Diese Aehnlichkeit muss dennoch als zufällig, nicht als Folge einer
Entlehnung angesehen werden, da das finische Wort beinahe
unverändert fast im ganzen Sprachstamme vorkommt. Im Syrjäni-
schen bedeutet es auch flechten und da kutoa (yerkkod) im Finischen
auch vom Stricken der Netze gebraucht wird, so scheint hierin eine
Hindeutung auf die älteste und ursprüngliche Bedeutung des Wortes
zu liegen. Jedenfalls war die Einrichtung zum Weben bei den alten
Finen viel einfacher als die deren ihre Nachkommen sich jetzt
bedienen. Dieses schliesst man theils daraus, dass der Webstuhl, der
noch bei den Bauern im nördlichen und mittleren Russland allgemein
angetroffen wird, sehr einfach ist, und dass damit nur sehr schmale
und sehr grobe Zeuge angefertigt werden, theils auch daraus, dass
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die Benennungen des Weberschaftes und Weberkatnmes , die zu dem
komplizirteren Webstuhle gehören, in den finischen Sprachen
allgemein entlehnt sind (meistens dem Russischen). Vielleicht
irrt man nicht gar zu sehr, wenn man sich die ursprüngliche und
ältere Webekunst als eine Art Ausbildung der Kunst des Flechtens
vorstellt, welche noch in der Art und Weise der Bandbereitung des
Landvolkes angetroffen wird. Weberschaft und Kamm kommen
bei einer solchen Art des Webe ns nicht in Frage, wohl aber der
Aufzug und Einschlag, sowie auch eine Art Weberspule (eigentlich
ein Stecken) womit der Einschlag zwischen die Näthe des Aufzuges
geschoben wird. Und eben diese letztgenannten Gegenstände haben
im Finischen genuine Namen.
Die Kunst den Zeugen einige einfache Farben beizubringen ist
bei den Finen lange bekannt gewesen und bis auf die neuesten
Zeiten gepflegt worden, wo die Kunstfärberei immer mehr Ueber-
hand genommen hat und im ganzen Lande verbreitet worden ist.
Der Farbensinn kann jedoch bei den Völkern hier in dem düsteren,
farblosen Norden nicht besonders ausgebildet sein. So scheinen
auch die Finen zuerst durch Betrachtung des Farben Wechsels in den
Fellen der Waldthiere zum Nachdenken über die Farben gekommen
zu sein, was man daraus schliessen.kann, dass der Begriff Farbe
im Finischen karua (Haar) heisst, sowie auch aus dem Umstande, dass
solche Farben, welche bei den Pelzthieren nicht angetroffen werden,
z. B. gelb, grün und blau, theilweise entlehnte Namen haben. Eine
Untersuchung der Farbennamen in den finischen Sprachen giebt an
die Hand, dass die Mundarten der baltischen Finen im Allgemeinen
in denselben übereinstimmen, dass aber eine vollständige Spaltung
in dieser Hinsicht in den altfinischen Sprachen herrscht, welcher
Umstand auch darauf hinweist, dass diese Namen verhältnissmässig
spät entstanden sind, d. h. dass man spät angefangen hat über die
Farben zu reflektiren. Die Farbstoffe, die früher gebraucht wurden
waren einfach und wurden der umgebenden Natur, besonders dem
Pflanzenreiche entnommen, indem die Rinde, die Wurzeln oder die
Pflanze selbst zur Hervorbringung der verschiedenen Farben ge¬
braucht wurde. Das Färben sowie auch das Weben war eine Be¬
schäftigung die ausschliesslich den Weibern angehörte und von
diesen beiden Beschäftigungen wurde geglaubt, dass dieselben weib¬
liche Geister als Beschützerinnen hätten. Das Sammeln der Farbe¬
gräser scheint besonders die Sache der Mädchen und jungen Weiber
gewesen zu sein. Auf einer solchen Wanderung nach Farbegräsem
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konnte auch ein unvermuthetes Zusammentreffen oder ein verabre¬
detes Stelldichein mit einem Jünglinge stattfinden; wenigstens heisst
es in den Hochzeitsliedern, wo die Arbeiten aufgezählt werden,
bei denen der Bräutigam Gelegenheit gehabt die Braut zu sehen,
dass er sie auch beim Färben und während des Einsammeln’s von
Farbegräsern getroffen hat.
Werfen wir noch einen Blick auf das was zum Verfertigen der
Kleider gehört. DasNäkenxst wohl ursprünglich nicht erfunden um aus
Zeug Kleider zu verfertigen, sondern um aus Fellen solche zusam¬
menzufügen, welche geeignet wären den Körper vor Kälte zu
schützen. Ein solches Nähen wurde mit einer Nadel aus Knochen
oder Holz ausgeführt; die Stahlnadeln neuerer Zeit sind durch den
Handel von anderen kultivirteren Völkern zu den Finen ge¬
kommen, und haben in deren Sprache auch ihren fremden Namen
beibehalten. Die Kunst die Felle der Pelzthiere zu bearbeiten, den¬
selben die nöthige Weichheit zu geben, sogar dieselben zu färben,
ist von Alters her den nordischen Polarvölkern bekannt gewesen,
und ihre Sprachen sind sehr reich an Wörtern und Benennungen für
die verschiedenen Arten dieser Thätigkeit. Aber da die Jagd in
Finland im Verhältniss zu früheren Zeiten ganz gesunken ist, da die
Pelzthiere mit wenigen Ausnahmen verschwunden, und einige
Arten derselben, z. B. der Biber, vollständig ausgerottet sind, ist
auch die Kunst die Felle zu bearbeiten verloren gegangen, in
Folge dessen die Benennungen der verschiedenen Arten derselben
in Vergessenheit gerathen sind und die Terminologie der Sprache
in dieser Hinsicht sehr arm geworden ist. Ein besonderes Gewerbe
aus Fell oder Leder Schuhwerk zu nähen, kam wahrscheinlich unter
den Finen sehr spät auf, dajedermann es verstand sich selbst das ein¬
fache Schuhwerk zu bereiten. Daher kommt es auch, dass die meisten
zum Schühmacherhandwerk gehörenden technischen Benennungen
entlehnt sind.
4 . Wohnung, Hausgeräth, Kleider.
Wer in den nordöstlichen Theilen Finlands gereist ist, der hat
es nicht vermeiden können unter den dort vorkommenden eigen-
thümlichen Gebäuden seine Aufmerksamkeit auf ein kleineres der¬
artiges zu richten, welches weder bei einem Häusler noch auf
einem gut eingerichteten Bauergut fehlt. Dieses Gebäude, welches sich
in einiger Entfernung von den übrigen Häusern und gewöhnlich
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in der Nähe der Badstube befindet, ist seiner Gestalt nach Kegel¬
förmig, aus geschälten Tannen- oder Eichenstangen aufgeführt, die
8 bis 12 Ellen lang und am breiten Ende 4 bis 5 Zoll dick sind.
Die schmäleren Enden dieser Stangen lehnen oben an einander, sie
sind auf irgend eine Weise verbunden und so gestellt, dass ein
kleines Loch ganz oben als Rauchfang offen bleibt. Unter diesem
Loch, also in dem Mittelpunkt des kreisförmigen Gebäudes, ist die
Feuerstelle, welche gewöhnlich aus einigen losen, flachen Steinen be¬
steht, auf und zwischen denen die Feuerbrände liegen, während ein
Grapen oder Kessel über dem Feuer an einem Kesselhaken hängt,
der seinen Haltepunkt an einer Querstange etwas höher hinauf hat.
An der Seite befindet sich ein Eingang, der gewöhnlich mit einer
leichten Thür aus dünnen Brettern versehen ist. Dieses Gebäude,
welches in der schwedischen Sprache Finlands Kölna, finnisch Kota
heisst, wird jetzt blos als Küche und Waschhaus benutzt, beson¬
ders während der milderen Jahreszeit und bei solchen Gelegenheiten,
wo man aus irgend einer Ursache kein Feuer im Herde des Wohn¬
gebäudes anzünden will.
Dieses ist indessen die älteste Art Wohnung, in der die Finländer
Schutz suchten vor Kälte und Unwetter, wie auch ein finisches
Sprichwort bezeugt, in dem es sagt:
Aeltestes Fanggeräth der Bauch war,
Aeltestes Geschirr der Grapen.
Aelteste Wohnung wohl die Kota.
Die Erfindung einer so anspruchlosen Wohnung war leicht ge¬
macht: wahrscheinlich stützte man zuerst die Stämme, aus denen
die Wand derselben bestehen sollte, gegen irgend einen wach¬
senden Baumstamm, worauf Joukahainen wahrscheinlich' anspielt
indem er sagt (Kal 3, 207 ff.): *
Aelt’stes Land sind feuchte Bühle,
Wie die Weid’ der Bäume erster,
Baumgeäste erstes Obdach,
und was auch in dem bekannten hübschen Sprichwort angedeutet
wird:
Lausche auf der Föhre Sausen,
Unter der du hast den Wohnsitz,
und erst später fing man an freistehende Wohnungen aufzuführen.
Sonder Zweifel wäre ein solches Gebäude im Winter nicht zu be¬
wohnen gewesen, wenn man die Wand nicht dadurch dichter ge-
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macht hätte, dass man sie von aussen mit Decken von Häuten
oder Filz überzog und ausserdem nach unten zu mit einem hohen
Wall aus Schnee versah. Der Fussboden der Hütte — eine Diele
hatte dieselbe nicht — war mit Heu belegt, welches, ebenso wie
die an der Wand stehenden niedrigen und divanartigen Gestelle,
die zugleich Bänke und Tische vorstellten, reichlich mit Rennthier¬
oder Bärenfellen bedeckt war und auf diese Weise rings um das
Feuer ein weiches und warmes Lager zur Ruhe darbot. Für den
Sommer zog man, auch wenn der Wohnsitz derselben blieb, in eine
grössere, kühlere und luftigere kota, die aus weniger dichtem Holz¬
werk aufgefiihrt und mit Birkenrinde bekleidet war. In dieser wurde
man weniger vom Ungeziefer geplagt und hatte auch mehr Raum, als
in der Winterkota, die Fische, welche nicht sogleich verzehrt wurden^
vermittelst Räucherns — das Salz war selten — zu konserviren.
Da die Wohnplätze für den Winter mit Rücksicht auf die Jagd im
Walde gewählt wurden, der Erwerb im Sommer dagegen Seen
und Flüsse aufzusuchen nöthigte, zog man beim Beginn des Früh¬
jahrs an eine Fischerei und schlug die kota’s hier aus Birkenrinde
auf. Die Fischereien waren je nach ihrem Reichthum an Fischen
mehreren oder wenigeren Familien gemeinsam; dagegen standen
die Winterkota's isolirt im Walde, da jede Familie ein grosses Jagd¬
gebiet brauchte. Unmittelbar hinter der Kota begann der Urwald.
Vor dem Eingänge derselben, welcher der Sonnenwärme wegen und
von kalten Nordwinde weg immer auf der südlichen Seite sich be¬
fand — wovon die finische Benennung des Südens etelä vom esi
(Stamm ete) Vordertheil das nach vorne zu Belegene — war ein
offener *Platz, bewachsen mit einer Nesselart, aus deren Fasern man
Garn bereitete. An den Seiten standen einige kleine Vorraths¬
kammern, finisch aitia, welche auf hohen Pfosten errichtet waren,
damit das in denselben Verwahrte, welches aus getrocknetem Fleisch,
Fischen und Felten bestand, sowohl vor grossen als kleinen Raub-
thieren sicher war.
Dass diese Art von Wohnungen vor Entstehung des Acker¬
baues bei den finischen Völkern allgemein war, kann man unter
Anderem aus dem Umstande schliessen, dass dieselben, wie sie so¬
eben beschrieben worden, bei diesen Völkern im äussersten Westen
(bei den Lappen) und im äussersten Osten (bei den Ostjaken) Vor¬
kommen, und dass ein so bedeutendes Ueberbleibsel davon wie die
finische Kota sogar bei dem Civilisirtesten unter ihnen sich erhalten
hat. Auch ist der Name dieser Wohnung alten finischen Sprachen ge-
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#
meinsam und mit dem fini sehen kota verwandt. Eine andere im
ganzen asiatischen Norden allgemeine Benennung ein$r Menschen¬
wohnung besagter Art sowie auch für Haus im Allgemeinen ist das
tatarische jurt.
Ausser der Art Wohnungen die mit dem Worte kota bezeichnet
werden, scheinen die alten Finen als Winterwohnungen auch in die
Erde gegrabene Höhlen gebraucht zu haben, deren Dachstuhl und
Dachluke sich über der Erde befanden. Solche Wohnungen trifft
man noch an bei den ugrischen Finen; dieselben werden von
armen Familien, welche weder Rennthierfelle noch Filz haben um die
Winterkota damit zu bekleiden, als Winterjurten gebraucht und
trugen ursprünglich den Namen sauna (vielleicht eig. savuna von
savu Rauch). Ebenso benennt man noch jetzt in einigen Gegenden
Hütten, welche zur Hälfte in die Erde vergraben, als improvisirte
Wohnungen von Fischern und Holzhauern aufgeführt werden. Auch
in der Kalevala kommt das Wort in diesem Sinne vor; die jetzt ge¬
wöhnlichste Bedeutung Badstube erhielt es erst später, als die Finen
nach ihrer Ankunft an die Ostsee von den südlichen und südwest¬
lichen Nachbarvölkern das Baden und die Kunst Häuser aus Balken
aufzuführen erlernt hatten, in denen man sich nun niederliess, wäh¬
rend die frühere Wohnung sauna als Badstube benutzt wurde.
Für die Annahme dass die Finen bei ihrer Ankunft in die Ostsee¬
länder gezimmerte Häuser nicht gekannt oder nicht gebraucht
haben, sprechen viele Umstände in der Sprache. Das Zimmern
hat allerdings einen genuinen Namen ( salvaa ); aber die ursprüngliche
und noch vorkommende allgemeine Bedeutung desselben ist jedoch blos
schneiden . Dagegen ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes,
welches jetzt der Name des Begriffs bauen ist, nämlich rakentaa ,,
eigentlich aufreihen , stapeln . Das Aufbauen der ältesten Wohnung
der Urfinen, der kota, war in der That nichts anderes als ein Auf¬
reihen oder Aufstapeln. Hiermit hängt auch ein anderer Umstand
zusammen, welcher die betreffende Annahme noch wahrscheinlicher
macht, nämlich dass der Begriff Wand (in einem gezimmerten
Hause) in den meisten finischen Sprachen einen entlehnten Namen
hat, wie z. B. finisch seinä (— litt.-lett. s'ena, slavisch crfcHa (siena),
welches in einigen slavischen Sprachen ohne /-Laut angetroffen wird).
Am wichtigsten ist jedoch der Umstand, dass die gezimmerte Men¬
schenwohnung in den finischen Sprachen Namen hat, welche von den
älteren Völkern an der Ostsee entlehnt sind, z. B. tupa (= Stube) und
maja, Hütte, Wohnung, Haushalt, dessen Original das Jett, maja ist,
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*s
welches gleiche Bedeutungen hat und durch zahlreiche Derivate und
Zusammensetzungen sich im Lettischen als genuin erweist. Eine
dritte derartige Benennung ist pirtti , weps. pert, Stube, Hütte ohne
Schornstein. Das Wort kommt auch in der Bedeutung Badstube vor,
woraus die Wörter pirtihe Wöchnerin und pirttwaimo Hebamme sich
erklären lassen, denn bekanntlich bringen die finischen Bauerweiber
ihr Wochenbett am liebsten in der Badstube zu. In der erwähnten
Bedeutung ist das Wort den litthauischen Sprachen entnommen,
in denen die Badstube pirtis oder pirts heisst, vom Verbum perti
oder pert baden (= russ. napHTb [pärit’] von napt [par] Dampf).
Dass das Wort pirtti auf diese Weise zwei Bedeutungen hat oder
gehabt hat, nämlich Badstube und Wohnstube, lässt sich daraus
erklären, dass man in früherer Zeit dasselbe Gemach nicht allein
als Wohnung, sondern auch als Badstube und Darre benutzte. Die¬
ses istnoch jetzt in Estland derFall, wo der Ofen, welcher stets ohne
Schornstein vorkommt, für diese verschiedenen Zwecke aus drei
über einander befindlichen Abtheilungen zusammengestellt ist: die
unterste, worin das Holz brennt und ein darüber befindlicher gewöl¬
beartig aufgeführter undichter Badstubenofen, wodurch die Flamme
den Boden der obersten Abtheilung, welche den Backofen bildet,
erhitzen kann. Zum Trocknen des Getreides befinden sich in
der Stube verschiedene Stangen oder Sparren, über welche dasselbe
gelegt wird.
Zur Bezeichnung des Daches haben einige finische Sprachen das
Wort angenommen, womit der Begriff Deckel ausgedrückt wird,
oder auch ein anderes damit im Zusammenhang stehendes Wort.
Der Fussboden hat in den westfälischen Sprachen zwei Benennungen:
laüia (ein Fussboden aus Brettern oder Planken), welches wahrschein¬
lich ursprünglich ein Adjectiv gewesen, mit det Bedeutung platt ,
eben , und permanto , gebräuchlich in den jamischen Mundarten und
mit einer Endung von lokaler Bedeutung aus dem im Estnischen
vorhandenen porm Erde, Staub, hergeleitet. Ein Fussboden aus
gestampfter Erde oder aus Lehm ist noch heute in mehreren Theilen
des Gebietes der Finen allgemein gebräuchlich (Finland ist jedoch
davon gänzlich ausgenommen), und für einen solchen Fussboden ist
dieses Wort die genuine Benennung.
f Die Thür hat in den finischen Sprachen genuine Namen; die
Thürangeln aber sind erst in neuerer Zeit in Gebrauch gekom¬
men und deren Benennung ist ebenfalls entlehnt. Auch Schlösser
waren in* älteren Zeiten unbekannt, und noch jetzt werden sie in
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den Einöden des finisch-russischen Nordens nur selten ange¬
troffen. Wenn man sich vom Hause entfernte, sperrte man die Thür
ganz einfach mjt einer Stütze oder mit einem Sperrbaum oder einem
Holzriegel von innen. Von aussen öffnete man einen solchen Riegel
durch einLoch mit einem Holzhaken oderStecken welcher die Namen
avain (eig. avadin von avaan, eig. avadan öffnen) oder vöti (von
vötany nehmen, greifen) erhielt. Diese Wörter gingen später in Be¬
nennungen des eigentlichen zum Schloss gehörenden Schlüssels übej*.
Der Name des Schlosses aber ist in allen finischen Sprachen ent¬
lehnt, im WesteQ aus den skandinavischen, im Osten aus den slavi-
schen Sprachen.
Fenster im Sinne unserer Zeit sind in den Ländern, \yelche von
finischen Völkern bewohnt werden nicht alt. In die ältesten Woh¬
nungen dieser Völker drang das Licht wahrscheinlich nur durch
den Rauchfang und die offene Thür hinein. Späterhin fing man an
in dem gezimmerten Wohnhause Oeffnungen für das Hereindringen
des Lichtes zu machen, die vermittelst einer Luke, welche hin und
her geschoben wurde, geschlossen werden konnten. Ein solches
Fenster erhielt ursprünglich den Namen akkuna, ikkuna dessen Ori¬
ginal das slavische ojcho ( akna ) ist, vom Worte oko (oho) Auge, eine
Bildung welche ganz dem dän. vindue , schwed. vindogä («Wind-
Auge«), Fenster ähnlich ist Dasselbe slavische Wort oder Derivate
davon wird auch in den ostfinischen Sprachen als Benennung die¬
ses Gegenstandes angetroffen, und ging späterhin auch auf Glas¬
fenster über.
In der Wohnung, deren Bau wir hier ermittelt haben, befand sich
nach der Sprache zu schliessen, eine aus einigen losen Steinen be¬
stehende Feuerstelle mitten im Gemach. Als Leuchtstoff wurde
wohl der noch immer allgemein gebräuchliche Leuchtspan. ange¬
wandt, ausserdem auch die Birkenrinde, welche besonders als Fackel
zur Beleuchtung draussen in der freien Luft benutzt wurde.
Wie schon oben gesagt, hatten die alten Finen ausser der kota nur
eine andere Art von Wohnung die sauna. Dass das Gebäude, welches
diesen Namen trägt, nicht ursprünglich, wie heute, als Badstube be¬
nutzt wurde, haben wir schon oben angedeutet; wir fügen darüber
noch Folgendes hinzu. So leidenschaftlich die Finen heut zu Tage in
Badstuben baden, ist ihnen diese Art der Reinigung keineswegs
eigenthümlich, oder bei ihnen uralt. Die Heimat der warmen Bäder
ist allerdings der Orient aber zwischen der Urheimat der Finen und
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den verweichlichten Völkern, welche solche Bäder erfunden und von
Alters her benutzt, lagen die Steppen, deren nomadische Einwohner
keine andere Art der Pflege des Körpers kannten, als denselben
bisweilen mit Sand zu reiben; um das Ungeziefer zu vertreiben,
über ein Feuer hin und her zu schreiten, wie die Araber es (nach
Wallin) noch heute thun, oder auch die Haut mit Fett einzureiben,
eine Art dieselbe weich zu machen, die noch bei den Ungarn ge¬
bräuchlich sein soll. Der Gebrauch warmer Bäder kam aus dem
Orient frühzeitig zu den Griechen und Römern, aus der byzantini¬
schen Welt ging derselbe auf die Slaven über, von diesen aber auf
die Litthauer und deren germanische Nachbarn an der Ostsee. Und
hier ist es, wo die Finen allem Anscheine nach diese heilsame Kunst
zuerst kennen gelernt haben. Ihre Sprache entbehrt auch eines
eigenen Ausdruckes für diese Art des Badens, denn kylpeä bedeutet
ursprünglich und an vielen Orten noch heut zu Tage am Strande
eines See’s oder Flusses baden, und wurde späterhin zur Benennung
dieser neuen Art des Badens verwandt. Ebenso entbehren die
finischen Sprachen einer Benennung für Badstube (denn sauna be-
zeichnete wie oben gesagt ursprünglich eine Art Wohnung) Badegast,
und Seife.
Ausser der sauna hatten die alten Finen wohl einige Vorraths¬
häuser aitta, deren noch auf einem finischen Bauernhof gewöhnlich
eine Menge vorkommt; Vieh- und Pferdeställe und Scheunen sind
wohl erst später aufgekommen. Einen Garten sucht das Auge noch
vergebens unter den Umgebungen des Hofes auf einem Bauern¬
gute; auch sind die Benennungen eines solchen den Nachbarsprachen
entlehnt. Treten wir nun eine Wanderung ausser dem Hause an,
so ist dazu ein Weg erforderlich und wir finden, dass dieser Begriff
in den finischen Sprachen mehrere Namen hat. In früheren Zeiten
existirten jedoch selbstverständlich keine Landstrassen; man machte
im Sommer meist Reisen zu Wasser im Boot und bisweilen reitend zu
Lande. Aber im Allgemeinen vermied man es im Sommer zu reisen,
wenn sich keine gute Seegelegenheit darbot, und machte am liebsten
die Reisen, welche zum Waarenaustausch und (späterhin) zur Zahlung
der Steuern erforderlich waren, im Winter ab; diese beiden Geschäfte
wurden gewöhnlich zu gleicher Zeit abgethan. Dieses ist im sibiri¬
schen Norden noch der Fall, so dass z. B. die um den unteren Lauf
des Ob wohnenden Wogulen, Ostjaken und Samojeden auf dem
Jahrmarkt in Obdorsk, der gewöhnlich zur Weihnachtszeit abge¬
halten wird, ihren jasak (Steuer in Pelzwaaren) der Krone abzahlen.
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Der Winter ist im Allgemeinen im Norden die Zeit der Reisen, der
Regsamkeit und des Handels.
Die Winterreisen wurden in älterer Zeit mit Rennthieren bewerk¬
stelligt, deren Zucht früher viel allgemeiner war als jetzt und sich
viel südlicher in das Gebiet der finischen Völker erstreckte; in be¬
wohnteren Gegenden reiste man mit Pferd und Schlitten und überall
mit Schneeschuhen. Die Schneeschuhe sind ein echt nordisches
Mittel zum Weiterkommen und die Sprachen der Völker, welche von
den ältesten Zeiten an im Norden gewohnt, wimmeln von Benen¬
nungen für die Schuhe, für ihre verschiedenen Bestandtheile und für
Alles, was mit ihnen im Zusammenhänge steht. Da der Schneeschuh
für jeden Fuss (linken und rechten) einen besonderen Zweck hat, sind
dieselben auch nicht gleich an Länge und Beschaffenheit, und jeder
hat seine besondere Benennung. Während des Laufens auf Schnee¬
schuhen stösst oder schiebt man sich vorwärts mit dem Schnee¬
schuh des rechten Fusses, der daher kürzer und oft unterhalb mit
haarigem Rennthierfell versehen ist, um besser im Schnee eingreifen
zu können. Der Schneeschuh des linken Fusses hat dagegen zum
Zweck, die Last des Körpers zu tragen und nur vorwärts zu gleiten,
weshalb derselbe stärker und länger und unterhalb mit einer der
Länge nach gehenden Kerbe versehen ist.
Während der Fahrt auf Schneeschuhen kann man nichts anderes
mit sich führen als das, was in dem kontti (Ränzel aus Birkenrinde)
auf dem Rücken Platz findet. Doch kam es früher und kommt
noch jetzt in weglosen Einöden vor, dass der auf Schneeschuhen
Laufende an einer Zugleine einen kleinen Scfilitten mit breiten Kufen
aus Espenholz und sehr hohen Leisten, auf denen ein leichter Spalier¬
boden ruht, hinter sich her zieht; ein solcher Schlitten sinkt nicht
besonders tief in den Schnee und darauf kann der auf Schnee¬
schuhen Einhergleitende Verschiedenes transportiren, was im Ränzel
keinen Platz hat. Ein derartiger Schlitten war es wohl, der ursprüng¬
lich den Namen reki erhielt. Derselbe wurde auch mit einem Renn¬
thier bespannt gebraucht und schliesslich grösser und stärker ge¬
macht um von einem Pferde gezogen zu werden. Noch bequemer
zum Fahren über die Schneemassen des Nordens ist der sogenannte
lappische Schlitten (lapp, akio , fin. ahkio , auch lapp, pulkke fin.
pulkkd), welcher seiner Bauart nach mehr Aehnlichkeit mit einem
Boote als mit einem Schlitten hat. Eine Verbesserung dieses ur¬
sprünglichen reki bestand darin, dass man an den Spalierboden
i Rücken und Seitenlehnen machte; ein solcher Schlitten hat den
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Namen laita-reki (laita = Seitenlehne) oder taitio; in einigen Gre¬
genden wurde er auch früher korja^rebi oder blos korja (wahr¬
scheinlich vom schwed. korg) genannt. Von derselben Art aber
russischer Konstruktion ist fin. saani ungar. szdn dessen Original im
slav. caHH (säni) zu suchen ist. Der Korb in dieser Art Schlitten,
nach vornehin schmal und ziemlich hoch, nach hinten zu niedriger und
ziemlich breit, besteht aus einem leichten Gestell, welches mit Bast¬
matten oder Lindenrinde überzogen ist. Hat der Korb eines solchen
Schlittens feste Seiten und eine Rückenlehne aus dünnen Brettern,
so heisst er im Finischen resla und im Estnischen kresla (= russ.
xpecjio, kreslo), litth. kreslas , (Sitz oder Stuhl mit Rücklehne, Lehn¬
stuhl). Die Gerätschaften zum Anspannen eines Pferdes vor einem
Schlitten, scheinen, wie der Schlitten selbst, finischer Erfindung zu
sein, wenigstens sind die Benennungen der hierhergehörenden Ge¬
genstände genuin.
Was die Sommerfuhrwerke betrifft, so ist schon oben angedeutet
worden, dass in früheren Zeiten keine Landstrassen existirten, dass
also von Fuhrwerken dieser Art nicht die Rede sein kann. Zum
Ueberfluss bezeugt auch die Sprache, dass sie erst in neuerer Zeit
in Gebrauch gekommen sind, denn alle Benennungen derselben sind
entlehnt. Das Reiten war in den Einöden des russisch-finischen
Nordens vormals, als noch keine Fusswege gebahnt und keine Stege
über Moräste und Bäche gelegt waren, beinahe ebenso unmöglich,
wie das Fahren mit Sommerfuhrwerken. Daher ist es kein Wunder,
dass die Sprache an hierhergehörenden Benennungen arm ist. Die
Benennung des Reitens in der Schriftsprache ist ratsastaa, welches
aus dem litth. railas, «reitend, zu Pferde», stammt, das im Litthaü-
ischen zahlreiche Derivate hat, und wahrscheinlich mit dem germ.
reiten, rida , verwandt ist. Zu längeren und häufigeren Ritten ist
ein Sattel unumgänglich nothwendig; aber diese Bequemlichkeit ist
bei den Finen älterer Zeit so wenig im Gebrauch gewesen, dass, wo
der Gesang (Kalevala, im Anfang der 6. Rune) umständlich schildert,
wie Wäinämöinen sich rüstet zu Pferde nach Pohjola zu reisen, dabei
dennoch keines Sattels erwähnt wird; ein Beweis dafür, dass der¬
selbe erst spät bei unseren Vorfahren in Gebrauch kam. Auch ent¬
behren die westfinischen Sprachen genuiner Benennungen für den
Sattel, und die westlichen Finen scheinen also kaum früher das
Pferd zum Reiten gebraucht zu haben, als nachdem sie an der Ost¬
see ansässig geworden und der Zuwachs der Bevölkerung es be¬
wirkte, dass mehrere und grössere Wege entstanden. Den ostfini-
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sehen Völkern, von denen die meisten die Ebenen des östlichen
Russlands bewohnten und noch bewohnen, scheint diese Art des
Reisens lange bekannt gewesen zu sein, was man unter Anderem aus
einigen Ausdrücken in ihren Sprachen schliessen kann, und beson¬
ders daraus, dass der Sattel in mehreren derselben eine genuine und
gemeinsame Benennung hat.
Nach diesem langen Ausfluge aus dem Wohnhause, mit dessen
Betrachtung wir diesen Abschnitt begannen, können wir nun dort¬
hin zurückkehren, um einen prüfenden Blick auf das Hausgeräth zu
werfen, welches dort angetroffen wird.
In der ugrischen Jurte werden keine anderen Sitze angetroffen, als
divanartige Erhöhungen an der Wand, welche aus losen Brettern be¬
stehen und mit Rennthierhäuten bedeckt sind, und ausserdem kleine
Stühle ohne Lehne, welche jedoch meist als Tische gebraucht wer¬
den, während man auf dem Divan oder auf dem Fussboden sitzt.
Ungefähr ebenso scheint die Ausstattung der finischen kota's gewe¬
sen zu sein, wenigstens nach den Benennungen der hierher gehören¬
den Gegenstände zu urtheilen. Wahrscheinlich war es jeper Divan
oder die lose Bank, die zuerst den Namen rahi erhielt, mit welchem
man jetzt eine lose Bank vor dem langen Tische benennt. Der Ge¬
brauch der an der Wand befestigten Bank kam nebst der gezimmer¬
ten Wohnstube von den Nachbarvölkern, weshalb die Namen der¬
selben entlehnt sind (dem schwed. bänk und dem slav. lavitsa u. Idfka ).
Dasselbe ist der Fall mit den Namen des Stuhles und des eigent¬
lichen Tisches. Nur der ursprüngliche Tisch, welcher aus einem
auf zwei Stühle gestellten Brett bestand, hat im Estnischen einen
genuinen Namen für Tisch überhaupt, laud (= Brett), hinterlassen.
Bei Nomadenvölkern oder bei solchen, welche es unlängst gewe¬
sen, findet man statt der Schränke und ähnlicher Behälter eine
Menge Rasten, in welchen alles kleinere bewegliche Gut verwahrt
wird und die bei ein tretendem Wechsel des Wohnorts leicht zu
transportiren sind. Auch die Finen scheinen für diesen Haus-
geräthsartikel Vorliebe gehabt zu haben, was man sowohl aus der
Sprache schliessen kann, wo verschiedene Benennungen eines
Kastens Vorkommen, als auch aus den Runen, wo es unter Anderem
heisst:
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Schreit 1 zum Speicher auf den Hügel.
Drei sind Speicher auf dem Hügel,
Oeffne du den besten Speicher,
Kasten stehet dort auf Kasten ,
Kiste dorten neben Kiste.
Was das Bett betrifft, ist schon oben angedeutet, dass dieses aus
weichen Rennthier- und Bärenfellen bestand, welche auf die Bank
ausgebreitet wurden, die an der Wand der kota stand, oder auf Heu,
welches auf dem Fussboden lag.
Wenden wir uns nun dem Hausgeräthe zu, welches zur Bereitung
und zum Vorsetzen von Speise und Trank dient, so finden wir bald,
dass dergleichen Gegenstände bei den. alten Finen in sehr geringer
Zahl vorkamen und äusserst einfach waren. Das Leben des Jägers
ist noch mehr, als das des Fischers, provisorisch; bei keinem der¬
selben können eigentliche Gewohnheiten in der Ordnung des Essens
sich ausbilden; die Mahlzeiten werden abgehalten, je nachdem die
Umstände es erlauben, nicht nach den Bedürfnissen des Magens.
Dieser Tyrann des civilisirten Menschen lässt sich bei den uncivili-
sirten Völkern auf wunderbare Weise diszipliniren; so kann z. B.
ein Wogule ohne Ungelegenheit zweimal 24 Stunden im Walde zu¬
bringen, ohne etwas zu geniessen. Wenn sich Gelegenheit dar¬
bietet, hält man sich wieder schadlos, legt jedoch immer mehr
Werth auf die Quantität, als auf die Qualität. Eine Kochkunst
kann unter solchen Umständen nicht aufkommen; höchstens, im
Fall Feuer angemacht werden kann, steckt man den Fisch, Vogel
oder das Fleischstück an einen hölzernen Bratspiess und hält den¬
selben eine Weile über das Feuer; das Gewöhnlichste jedoch, und
zwar besonders im Winter, ist, dass das Wild roh gegessen wird.
Bios während des Aufenthaltes in den Jurten, d. h. in den beständi¬
geren Wohnungen kann die Speise mit grösserer Sorgfalt bereitet
werden.
Das eben Gesagte gilt noch heute von der Kochkunst der ugri-
schen Völker, der Samojeden, der Lappen u. A. Es ist kein Grund
anzunehmen, dass es die Finen in älterer Zeit besser gehabt hätten.
Dieses bezeugt auch eine Aeusserung in der Kalevala, welche lautet:
«Blöcke sind die ersten Grapen». Eine erhitzte Steinplatte bildete
die älteste Bratpfanne, und war dieselbe ausgehöhlt, so konnte sie
auch als Kochtopf benutzt werden. Eine solche Einfachheit in der
Kochkunst der Finen bezeugt auch ihre Sprache, welche nur für
Braten , Bratspiess und Kochen genuine Benennungen hat, nicht
aber für irgend ein Kochgeschirr.
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Das Essen wurde in Trogen vorgesetzt, wie aus der Beschreibung
der Pohjola-Hochzeit in der Kalevala ersichtlich; aus diesen langte
Jedermann zu mit den Fingern und mit Hülfe seines Messers, aber die
Suppe oder Brühe schlürfte man vom Rande des Troges nach den
übrigen Speisen, eine Art zu essen, welche noch heute bei den Völ¬
kern im nördlichen und mittleren Asien, auch bei den civilisirteren,
allgemein ist. Um den Mund und besonders die Finger abzuwischen,
gebrauchte man dünne und lange Späne, welche kurz vor der Mahl¬
zeit aus einem frischen Tannenstamm geschnitten waren, von welchen
der Ostjake oder Wogule noch heutzutage beim Beginn der Mahl¬
zeit dem Gaste einen grösseren Knaul darbietet. Späterhin fing
man an, kleine Bretterchen als Teller , lautanen (Diminutiv von lauta y
Brett) zu gebrauchen, welche vor den Speisenden hingestellt wurden.
Auch der Gebrauch des Löffels scheint ziemlich alt zu sein, da dieses
Geräth in den meisten finischen Sprachen eigene Namen hat; die¬
selben sind jedoch sehr abweichend von einander, was wiederum
darauf hinzudeuten scheint,' dass dieser Gebrauch, erst nachdem die
Urfinen in verschiedene Völker zerfallen waren, aufgekommen ist.
Bei einer so einfachen und primitiven Lebensweise, wie sie die
Finen in älteren Zeiten führten, war es selbstverständlich, dass auch
die Kleidertracht von einfachster Art war. Die Kleider bestanden
ausschliesslich aus Fell, nicht nur deshalb, weil das rauhe Klima und
die undichten und kalten Wohnungen solche Kleider nöthig mach¬
ten, sondern auch weil Zeuge nicht existirten, weshalb auch die
Sommerkleider aus Leder bestanden, von welchem das Haar di\rch
Gerben oder irgend ein anderes Verfahren entfernt wurde, oder
theilweise auch aus Filz. — Das Hemd war lange Zeit ein unbekann¬
ter Luxusartikel, wie dies noch jetzt bei den Lappen, den Samoje¬
den und den Bewohnern des sibirischen Nordens der Fall ist. An¬
statt eines Hemdes gebrauchen diese Polarvölker einen inneren dicht
anschliessenden Pelz aus weichen Fellen, mit dem Haar nach innen.
Derselbe wird im Sommer abgelegt oder auch durch ein entsprechen¬
des Kleidungsstück aus gegerbtem Leder ohne Haar ersetzt. Im
russischen Norden erlaubt man sich dann und wann den Luxus eines
russischen Hemdes aus Bauernleinwand, welches dann in Einem fort
getragen wird, bis dasselbe ganz in Lumpen zerfällt. Mit den bal¬
tischen Finen scheint es sich früher ganz ebenso verhalten zu haben,
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wenigstens sind die Benennungen des Hemdes in ihren Sprachen
ohne Ausnahme entlehnt.
Dass das Gleiche auch mit dem Namen der Hosen der Fall ist,
darf nicht auffallen, da diese jetzt bei den europäischen Völkern all¬
gemein gewordene Beinbekleidung überhaupt nicht alt ist. Die
südlichen Völker gingen in älteren Zeiten mit blossen Beinen, wo¬
gegen die Mitte des Körpers bis zu den Schenkeln von den Schössen
des Leibrockes oder mit Halbhosen bedeckt war. Das letztere
Kleidungsstück, in älteren Zeiten aus Fell, war unter den finischen
Völkern, und ist noch jetzt bei einigen derselben, z. B. bei den
Lappen, Ostjaken und Wogulen, im Gebrauch. — In den Wäldern
des Nordens und in dessen kaltem Klima konnte auch der untere
Theil der Beine nicht unbedeckt gelassen werden. Die Beinbeklei¬
dung der ugrischen Finen besteht aus einer Art Stiefel von dem¬
selben Schnitt, wie die finischen pieksut mit Schäften, welche bis
zum obern Theil des Schenkels hinaufreichen, wo dieselben mit lan¬
gen Bändern über die entgegenkommenden Halbhosen festgebunden
werden. Im Sommer sind diese langen Stiefel einfach und aus ge¬
gerbtem Leder; im Winter werden zwei Paar aus haarigem Renn¬
thierfell über einander gezogen, welche so gemacht sind, dass das
Haar in den inneren Stiefeln, unseren Strümpfen entsprechend, nach
innen gekehrt ist, in den äusseren nach aussen. Die Beinbekleidung
bei den Lappen unterscheidet sich von der ugrischen dadurch, dass
den langen Schäften an der Fussbekleidung lange Strumpfschäfte,
kalsok y aus Rennthierfussfellen oder sog. Beinlingen (bei den Wei¬
bern jetzt aus Fries) entsprechen, welche nach oben zu mit einem
Bande oberhalb der Halbhosen (jetzt ebenfalls aus Fries) befestigt
werden oder mit denselben zusammengenäht sind. Nach unten zu
sind sie oberhalb des Fussgelenkes mit Bändern an dem Schuhwerk
befestigt. ' Strümpfe sind nicht im Gebrauch. Statt derselben thut
man weiches Heu in die Schuhe, und es scheint bei den Weibern
für eine Art von Tüchtigkeit gehalten zu werden, solches Heu gut
einstecken zu können.
Von der ugrischen Sitte, die Beine zu bekleiden, scheint der tini-
sche Gebrauch der pieksut , Schuhwerk mit langen Schäften, ein
Ueberbleibsel zu sein. Aber da die Sprache mehrere Benennungen
sowohl für Mannes- als Frauenschuhe ohne Schäfte hat, ist es wahr¬
scheinlich, dass die lappische Art, die unteren Extremitäten zu be¬
kleiden, bei den Finen allgemein war. Dieses scheint auch bei den
übrigen finischen Völkern der Fall gewesen zu sein. Die langen
aus«. Bevue. Bd. IX.
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_ _ 34 __
Hosen haben zwar bei den Männern meist die frühere Beinbeklei¬
dung verdrängt. Doch kommen sie auch häufig mit dieser zusam¬
men vor, indem die Hosen nach unten zu mit Beinbinden von Lein¬
wand oder Fries umwickelt sind und das Ganze mit langen Bändern,
welche von den Bastschuhen ausgehen, festgebunden wird (Schuh¬
werk aus Leder oder Stiefel bildet noch mehr oder weniger einen
Luxusartikel bei dem niederen Volke in Russland). Derartig ist die
Fussbekleidung der Esten, Mordvinen, Tscheremissen und vieler
anderer Völker. Aber besonders gehören die Fusswindeln zur
Frauentracht, welche z. B. bei den mordvinischen Weibern im Som¬
mer bloss aus einem an den Knieen endenden Kleidungsstück aus
Leinwand, welches dem Schnitte nach einem Hemde ähnlich ist,
besteht, und aus Beinbinden, welche so dick übereinander gewickelt
werden, dass das Bein ohne Uebertreibung eine halbe Elle dick
erscheint. Bei den Estinen hat die Fussbinde zum Theil die Form
einer aus Leinwand oder Fries genähten Hose angenommen; sie ist
am Knie oder Schenkel mit einem Strumpfband befestigt, und hat
im Estnischen dieselbe Benennung, wie die Strümpfe aus Rennthier¬
beinlingen im Lappischen, nämlich kalsu , kalso , kalts und kallsu.
Auch die finischen Bauerweiber tragen in einigen Gegenden eine
solche Beinbekleidung und nennen dieselbe ebenfalls kalsu , PL kalsut .
Aus demselben Grunde, wie die Hosen, haben auch die Strümpfe
fremde Namen. Die allgemeine Benennung eines Schuhes aus Leder,
kenkli ist dagegen genuin und aus den westfinischen Sprachen sogar
als Lehnwort sowohl in’s Schwedische ( kängd ), als auch in’s Russi¬
sche (iceHbra, ken'gd) übergegangen — Die Bekleidung des Ober-
theils des Körpers bestand, wie schon oben gesagt, aus einem Pelz
mit dem Haar nach innen, über welchen man den äusseren Pelz an¬
zog. Die verschiedenen Arten Kamisole mit und ohne Aermel,
welche bei den baltischen Finen jetzt im Gebrauch sind, hat man
bei den Nachbarvölkern kennen gelernt, wie deren Namen genugsam
bezeugen.
Das rauhe Klima erforderte auch eine gute Handbekleidung , wes¬
halb verschiedene Arten Handschuhe mit verschiedenen Benennun¬
gen erfunden wurden. Die unter den finischen Bauern gebräuch¬
lichste Handbekleidung besteht jetzt aus Lederhandschuhen und den
in denselben befindlichen Handschuhen aus Wolle. Beide haben
genuine Namen. — Was die Kopfbedeckung betrifft, so scheinen die
Männer im finisch-rusßischen Norden in früheren Zeiten keine beson¬
dere gehabt zu haben. Die am Ob wohnenden Ugrier haben noch
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jetzt im Sommer keine andere Kopfbedeckung, als ihr langes wirres
Haar. Im Winter wird der Kopf durch einen Rennthiercapuchon
geschützt, welches an die obere Kante des Pelzes angenäht ist, und
beim Eintritt in eine Wohnung oder während schönen Wetters in
den Nacken zurückgeschlagen wird. Vielleicht ist es diese Kopf¬
bedeckung, welche ursprünglich den Namen lakki gehabt, womit
jetzt jegliche Mütze genannt ist, und welches wahrscheinlich ein
Derivat von laki y Scheitel, ist. Auch andere Benennungen der
Kopfbedeckung der Männer sind entlehnt.
Bei den Frauen dagegen (deren Kleidung in früheren Zeiten, mit
einigen Ausnahmen, der männlichen vollkommen gleich war) wurde»
wie zu allen Zeiten und bei allen Völkern, die Haartracht und die
Frisur des Kopfes als eine der wichtigsten Fragen der Toilette an¬
gesehen. Das leitende Prinzip scheint dabei gewesen zu sein, dass
das Haar der Weiber bedeckt, das der Mädchen dagegen geflochten
und unbedeckt sein müsse. Das Kleiden einer Braut mit einem
Schleier geschieht in einigen Gegenden noch mit vielen Zeremonien,
und in den finischen Runenliedern ist die Flechte das Symbol der
Mädchenfreiheit und Jugendlust daheim im Elternhause, der Schleier
dagegen das der Abhängigkeit, des Kummers und der Sorgen, de¬
nen das Weib als Hausfrau «miehelässä* oder «anoppelassa» (im
Hause des Mannes oder der Schwiegermutter) ausgesetzt ist. Noch
jetzt kommt im südöstlichen Finland der Schleier in allen möglichen
Dimensionen vor und ist bei den verheiratheten Weibern ein täg¬
liches Kleidungsstück.
Ausser den obengenannten Beinwindeln bietet die Frauentracht
bei den Völkern sowohl finischer als türkischer Herkunft im öst¬
lichen Russland zwei andere Eigenthümlichkeiten dar, welche die
Aufmerksamkeit eines Fremden auf sich ziehen. Die eine derselben
ist der Gebrauch von gemünzten Silberstücken als Schmuck. Vom
polCinnik (Fünfzig-Kopekenstück) an bis herab zum Fünf-Kopeken-
, stück trifft man bei ihnen die russischen Silbermünzen an, durch ein
in dieselben gebohrtes Loch angenäht an Zeugstreifen oder vier¬
eckige Lederstücke, von denen die ersteren, nebst den Flechten vom
Kopfe herabhängen, oder auch als Ohrringe gebraucht werden, die
letzteren Brustzierden bilden. Sogar ganze und */a Rubelstücke
sieht man bisweilen in den Flechten reicher Tatarinnen. Die grossen,
mit Münzen benähten Brustlappen, welche in der Sprache der Wolga¬
völker sülgenü genannt werden, können bisweilen einen bedeutenden
Werth haben; und man sieht dieselben oft in Rechtssachen und
3 *
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36
Prozessen erwähnt. Kommt die Noth heran, so trennt man die
Münzen von einem solchen Schmucke ab und setzt sie im Umlauf,
weshalb auch alles kleinere Silbergeld in den Wolgagegenden durch¬
bohrt vorkommt. Bei den baltischen Finen ist diese Art das Silber¬
geld anzuwenden, jetzt verschwunden; aber dass dieselbe in älteren
Zeiten gebräuchlich gewesen ist, bezeugen mehrere Spuren davon.
Eine andere Eigenthümlichkeit in der Tracht besagter Völker ist
die Menge Stickerei , welche in derselben vorkommt. An dem hemd¬
artigen Kleidungsstück aus Leinwand, welches die Weiber bei den
Wolgavölkem als Kleid oder Rock gebrauchen, sind die Oeffnungen
der Aermel, die Brust- und Armlöcher künstlich ausgenäht, gewöhn¬
lich mit Roth, bisweilen auch mit Blau oder Gelb, und wegen der
vielen Arbeit, welche darauf verwendet worden ist, kann ein solches
Kleidungsstück oft einen verhältnissmässig hohen Werth haben,
weshalb sich dasselbe bisweilen auch von Mutter auf Tochter ver¬
erbt. Dieselbe Liebhaberei für ausgenähte Zierrathen wird auch
bei den Ungarn angetroffen, deren Nationaltracht, bei den gebildeten
Ständen mit Hülfe der Kunst veredelt, eine der schönsten in der
Welt ist. Auch in den Nationaltrachten der baltischen Finen, wo
dieselben nicht von der alles nivellirenden Civilisation verdrängt
worden sind, gewahrt man diese Schwäche für gestickte oder aus¬
genähte Zierrathen, wie man dieselben noch an den Trachten der
Weiber im südlichen Theil von Wiborg, Ingermanland, Estland und
an anderen Orten antrifft. Derartige Zierrathen haben im Finischen
den Namen kirja, welches Wort doch eine umfassendere Bedeutung
hat, denn damit werden alle möglichen ausgenähten y gemalten oder
eingeschnittenen Zierrathen benannt. Der Name des Bunten, finisch
kirjava ist ein Derivat von diesem Worte, ebenso wie das Verb kir-
joitan , bunt machen, Figuren bilden, malen, schreiben (das Wort ist
also dem slav. nncaTb, pisdf und griech. ypatpeiv analog). Im Zu¬
sammenhang mit letzterer Bedeutung wird jetzt mit dem Worte
kirja gewöhnlich Schrift, Brief, Buch bezeichnet. Auch in einigen
ostfinischen Sprachen hat die Benennung für Schreiben sich in der¬
selben Art entwickelt.
(Schluss folgt.)
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Das Artelwesen in Russland.
Von
C. Gruenwaldt.
n 1 .
Die Arbeiter-Artele.
Von nicht geringerer Bedeutung, als die Artele der Handwerker,
sind diejenigen der gewöhnlichen Arbeiter, Denn während jene in
den Strichen Russlands vorherrschen, welche von Alters her als die
Wiege einheimischen Gewerbefleisses gelten, sind diese mehr in
solchen'Gegenden zu finden, wo weder die Natur, noch die sonstigen
Verhältnisse das Gedeihen und die Entwickelung der Industrie be¬
günstigen. Daher werden wir bei Betrachtung der Arbeiter-Artele
1 Am Schlüsse des ersten Artikels (cf. «Russ. Revue» Bd. IV, pag. 304 ft) gab ich
der Hoffnung Raum, durch statistische Daten das historische Material in einem ferneren
Artikel genauer belegen zu können. Nach beinahe zweijährigen, unausgesetzten Be¬
mühen bin ich leider zur Erklärung gezwungen, dass dieses noch während der nächsten
Jahre vollständig unmöglich sein wird. Diejenigen Daten, welche ich der Freundlich¬
keit des Sekretärs der Peter^urger Sektion des Komite’s für ländliche Vorschuss- und
Industrie*Genossenschaften, Hrn. Wassilij Chitrowo, verdanke, erschienen zu gering^
diejenigen aber, welche ich in Folge eigener langwieriger Korrespondenzen und Reisen
im Innern des Reichs sammelte, sind sehr ungenau und basirten einzig und allein auf
den nur unter den mannigfaltigsten Reserven von den Aeltesten verschiedener Hand¬
werker Artele gegebenen Mittheilungen. In Moskau versicherte mir z. B. der Aelteste
einer Schlosset-Artel, dass er mir wohl Nachrichten zu geben im Stande sei, aber nur
filr Dreiviertel Jahre, weil seine Amtsvorgänger ausgetreten oder gestorben seien. Aus
Riga bekam ich Versprechungen, aber von dem Aeltesten Tweritinow keine Antworten.
In St. Petersburg erklärte mir der gewesene Aelteste der Schuhmacher^Artel, dass sie
ausreichende Angaben nicht zu geben vermöchten. Aehnlich erging es mir in den
Gouvememets Nishnij-Nowgorod, Wjatka, Kasan — theils erhielt ich gar keine Er¬
wiederungen, theils so verworrene, dass für diese Arbeit absolut nichts zu verwenden
war. Wenn es nach Jahren gelingen sollte, Klarheit in dieses Chaos hineinzubringen,
so kann es nur Dank der unermüdlichen Thätigkeit des oben genannten Komites und
den von ihm ausgehenden Anregungen geschehen. — Im vorliegenden Artikel gehe ich
deshalb gleich auf die zweite und letzte Gruppe der Artele, die Arbeiter* Artele, über,
und werde in einem Schlussartikel den Ausgangspunkt aller russischen Industrie, die
Hausindustrie, das Domestikwesen, behandeln.
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3 «
vor Allem den Norden ,im Auge behalten — ein Umstand, welcher
um so eher zu rechtfertigen ist, als gerade jene Region die charak¬
teristischesten Beispiele für alle Arten von Arbeiter-Artelen dar¬
bietet. Solcher Arten lassen sich in unbedingter Anlehnung an
äussere Merkmale fünf nennen: es sind dies die Artele für Seethier¬
fang, Fischerei, Jagd, Landwirthschaft und die eigentlichen Arbeiter-
Artele. Theilt man sie aber nach der in ihrer Organisation emanent
gewordenen Idee, so können sie auf zwei reduzirt werden: selbstän¬
dige, das heisst solche, welche in sich selbst die Mittel zur Arbeit
finden, und unselbständige, durchaus vom Kapital abhängige. Letz¬
tere, welche auf einem System beruhen, das ähnlich dem Kulak-
System der Handwerker-Artele ist und hier den Namen Pokrut führt,
werden wir zuerst berücksichtigen. Wir wenden uns deshalb sofort
zu den
I. Artelen fUr den Seethierfang 1 .
I. Die Artele für den Wallrossfang.
*
Ein direkter Hinweis auf die Existenz von Artelen für den Fang
von Wallrossen im jetzigen Gouvernement Archangel findet sich
schon in den Urkunden des XIII. Jahrhunderts. Damals hatte der
Fürst Andreij Alexandrowitsch mehreren Watagen — der* ursprüng¬
liche Ausdruck für Artel — einen Freibrief behufs Regelung des
Vorspannes und Unterhaltes gegeben. Leider haben Wir über die
Organisation jener Watagi fast gar keine Nachrichten und erst im
XVII. Jahrhundert bringen die Chroniken Ausführliches. Unterdess
war der Wallrossfang von den Ufern der Petschora allmälig bis
nach Nowaja-Ssemlja vorgerückt und hatte sich der Typus von Ar¬
telen herausgebildet, welcher mit mehr oder weniger wesentlichen
Aenderungen noch heute besteht. Nur eine Artelart war vollkommen
verschwunden: die durch freie Vereinigung mehrerer Bauern, welche
jhr Geld, ihre Gerätschaften und ihre Arbeit als Grundkapital her¬
gaben, entstandene unabhängige Genossenschaft. Diese einzig
rationelle Gattung, in welcher Alle gleiche Anteile und keiner
Löwenprocente erhält, vermochte ihr Leben aber nicht zu fristen.
Es blieben also nur die Artele übrig, welche als Fonds allein ihre
Arbeitskraft einlegten, alles Uebrige aber vom Unternehmer empfin¬
gen. Eine derartige Artel bestand gewöhnlich aus 15 Mann, welche
sich ihrem Aeltesten, der Kormschtschik (Steuermann) genannt
wurde, zu blindem Gehorsam verpflichteten. Dieser Aelteste war
1 cf. CßopHHifb MaTepiajicBi» 061» apTejiHXT» bt> Poccin, sun. I h II.
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39
entweder der Unternehmer selbst oder ein von ihm eigens erwählter,
durch Geschicklichkeit und Erfahrung ausgezeichneter Arbeiter,
welcher für seine Mühewaltungen besondere Privilegien genoss. So
erhielt er vor der Abreise im Mai ein grösseres Douceur, als die
Uebrigen — 4 Griwen, die Anderen 10 Altyn — und nach der Rück¬
kunft einen vollen Pai (Antheityam Ertrage der Beute, während von
den Anderen noch Abzüge ä conto der Unkosten gemacht wurden.
Der Erlös aus dem Fange der 15 Genossen wurde nämlich in 17
Theile zerlegt. Hiervon bekam einen der Steuermann, zwei der
Unternehmer ausschliesslich für den Werth des Schiffes, und die
restirenden 14 wurden dann gemäss früher festgesetzten Abmachun¬
gen vertheilt. Wie gering hierbei der Antheil des Einzelnen war,
lässt sich deutlich aus den Rechenschaftsberichten des erzbischöf¬
lichen Hauses zu Cholmogory erkennen. Dieses Haus, mit den
Rechten einer juristischen Person, entsandte als Unternehmer jähr¬
lich eine grosse Anzahl von Artelen und schloss mit den betreffen¬
den Mitgliedern besondere Verträge über die Antheilsforderungen.
Hiernach hatten im Jahre 1694 in einer Artel 9 Personen von ihren
9 Theilen nur V», 2 Mann von 2 Theilen */4, 3 Mann von 3 Theilen
7i2 zu erhalten. Es bekamen folglich die Artelgenossen von ihren
14 Theilen nur 35 /i 12, während dem Unternehmer, dem erzbischöf¬
lichen Hause, ni /\i2 d. h. 2^5 Mal mehr zufielen. Wenn nun der
Gesammtbetrag des Fanges 1 Pud I Pfund Wallrosszähne, 17 Wall¬
rosshäute und 15 Tönnchen Wallrossfett war*, was damals 75 Rubeln
23 Altyn 2 Djengi gleichkam, so ist ersichtlich, dass dem Einzelnen
wenig genug zufiel.
Ein solches Missverhältniss zwischen Kapital und Arbeit lässt sich
hier nur dadurch erklären, dass der Unternehmer wirklich mit be¬
deutenden Opfern und grossem Risiko an seine Arbeit gehen musste-
Denn mehr als ein Mal wiederholte sich der Unglücksfall des Jahres
1695, da dem erzbischöflichen Hause zwei Schiffe mit schwerer La¬
dung untergingen — ein Schaden, welcher mit 2000 Rbl. heutigen
Geldes nicht aufzuwiegen sein wird. Rechnet man hierzu noch den
Umstand, dass die Preise für die Waare in Archangel ansehnlichen
Schwankungen ausgesetzt waren (in den Jahren 1685—1695 zwischen
25 und 1), dass die Unternehmer oft selbst gegen hohe Prozente —
15 bis 25 — Geld aufnehmen mussten, so ist der bedauerliche öko¬
nomische Zustand der Wallross-Artele im XVII. Jahrhundert einiger-
maassen entschuldigt.
Das XVIII. Jahrhundert sah eine merkwürdige Veränderung in
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dem Leben dieser Artele. Bisher waren sie durch freie Unter¬
nehmungslust entstanden, war ihre Arbeit uneingeschränkt und
mehr durch das Erforderniss des Augenblicks geregelt, als durch
wohlüberdachte Gesetzesbestimmungen — das wurde jetzt Alles
anders. Als zur Zeit der Regierung der Kaiserin Elisabeth der Graf
Schuwalow das Monopol auf allen Seethierfang in den nördlichen
Meeren und hiermit das Recht alleiniger Unternehmer, alleiniger
Aufkäufer aller erbeuteten Thiere zu sein, erhielt, forderte die
Archangel’sche Talg-Verwaltung die im Mesen’scfien Gebiete leben¬
den Artelgenossen auf, ihr die Satzungen mitzutheilen, nach welchen
sie sich zu einem Ganzen zu verbinden, zu arbeiten und schliesslich
aufzulösen pflegten. Diese wurden nun wörtlich niedergeschrieben
und bildeten dann die für alle Wallrossfang-Art eie gültige sogenannte
Meer-Ordnung. Wir lassen die in ihr enthaltenen zahlreichen Regle-
mentationen jeder einzelnen Arbeit bei Seite und berücksichtigen
nur das auf die Artele Bezügliche.
Darnach besteht eine Artel aus 8 — 20 Mann, zwischen welchen die
strengste Arbeitstheilung herrschte. Der Leiter des Ganzen ist der
vom Monopolisten autorisirte Pächter, «der Wirth», oder des Letzte¬
ren Stellvertreter, der «Kormschtschik*. Ihm haben Alle zu ge¬
horchen und er allein ist unterwegs Richter aller Streitigkeiten.
Reicht sein Ansehen nicht aus, so ist er befugt, die ihm Gleich¬
gestellten anderer Artele zu Hülfe zu ziehen. Immer aber hat er
bis zur Rückkehr auf dem Schiffe zu bleiben und erhält den stipu-
lirten Antheil. Dieser wird folgendermaassen festgestellt: den Er¬
trag der Beute theilt man in zwei Hälften, die eine erhält der Wirth
allein, die andere fällt der Artel zu. Von den einzelnen Theilen
dieser Hälfte empfängt dann jedes Mitglied, also auch der Steuer¬
mann oder seine Erben, so viel, als bei Beginn der Expedition, ge¬
mäss seinen Fähigkeiten, seiner speziellen Arbeit, ihm «gelobt* wor¬
den war. Ist der Ertrag gross und die Artel klein, so bekommt
wohl der Unternehmer noch ein gewisses Prozent von der Hälfte
des Artelantheils.
Der Unternehmer ist also jetzt scheinbar noch besser gestellt, als
vor einem Jahrhundert. Denn während früher die Artele im Mai
auszogen und im September desselben Jahres zurückkehrten, war es
jetzt zur Gewohnheit geworden, im Juni aufzubrechen und im Sep¬
tember des nächsten Jahres heimzukehren. Eine solche Expedition
lieferte aber verhältnissmässig weniger, da die Arbeiter immer in
Menge von Skorbut dahingerafft w r urden und der langdauernde
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4t
Unterhalt bedeutende Mittel erforderte. Im Allgemeinen nahm man
für jeden Mann mit: 30 Pud Roggen- und Gersten-Mehl, 5 Pud
Gerstengrütze und gedörrtes Hafermehl, 5 Pud geräucherten Stock¬
fisch, 5 Pud Salzfleisch, 1 Pud Butter, 5 Pfund Hanföl, 2—3 Pfund
rohen Honig, 5 Pfund Erbsen, 5 kleine Eimer Käsequark mit Meier¬
kraut, und etwas Schellbeeren. Ausserdem lag dem Wirth die
Sorge für Unterhaltung des Schiffes, der Wohnhütte in Nowaja-
Semlja etc. ob — alles dieses summirt, ergab für den einzelnen
Artelgenossen nie weniger als 30 Rbl. Unkosten. Schickte folglich
ein Unternehmer, was ^übrigens Regel war, mehrere Artele hinaus,
so bedurfte er bedeutender Kapitalien, welche zu beschaffen damals
ungleich mühevoller und theurer war, als heute. Unter solchen
Verhältnissen kann der Antheil, welchen die Unternehmer für sich
beanspruchten, wenngleich als hoch, so doch nicht als ungerecht¬
fertigt bezeichnet werden.
Nun kam es aber vor, dass eine Artel für sich allein nicht im
Stande war, mit Erfolg ihren Arbeiten nachzugehen. Es verbanden
sich dann mehrere, kleine Artele, unbeschadet ihrer Selbstverwal¬
tung, zu einer einzigen grossen, welche den Namen Kotljana führte \
Die Schiffe, welche den Artelen einer Kotljana gehörten, hatten
einen gemeinsamen Hafen in einer der vielen Buchten. Von dort
aus ging man auf den Fang, und zwar so, dass unter Zustimmung
der Kotljana auf jedem’ Boote einige Vertreter aller Artele fuhren.
Die Beute wurde dann unter die bezüglichen Artele gleichmässig
vertheilt, so dass die, an der betreffenden Expedition nicht Partizipi-
renden auch Nichts erhielten. Nur hinsichtlich solcher Personen,
welche im Aufträge der Kotljana Arbeiten ausgeführt hatten, die sie
an der Betheiligung verhinderten, wurde eine Ausnahme gemacht.
Daher zählten die dejourirenden Köche, Wächter u. s. w. bei der
Theilung der Beute immer als voll. In der Kotljana galten also
keine Unterschiede und keine Vorzüge der Spezialitäten: alle Arbeit
wurde gleich honorirt. Doch dieser Vorzug der Kotljana vor der
Artel hatte nur wenig praktischen Werth, da der Ertrag des Einzel¬
nen unbedingt der Artel gehörte. Er war deshalb nur dann von
Bedeutung, wenn viele Mitglieder einer Artel ohne Beute zurück¬
gekommen waren, da dann auch der ihnen eigentlich nicht zukom¬
mende Theil zuerkannt wurde.
1 Der Name kommt von KoTe;n> (Kotjöl) = Kessel her. In einem grossen Kessel
wurden die Speisen für alle Genossen bereitet, in einem Kessel das Fett von allen
erbeuteten Thieren gekocht. *Die Männer von der Kesselrunde*.
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Ein solcher Innungsvertrag galt so lange, als es den Parteien ge¬
fiel und als eben die Möglichkeit gegeben war, zusammen zu arbei¬
ten: wenn ein Sturm die Schiffe in alle Winde wehte, so war die
Kotljana mit allen Rechten und Pflichten zu Ende. Was bis zu
solch einem Unglücksfalle erbeutet war, wurde, wenn sich die Ge¬
nossen einst wiederfanden, gleichmässig vertheilt. Natürlich unter¬
lag dieser Theilung nicht Dasjenige, was in der Zwischenzeit gefan¬
gen ward.
Von einer derartigen Kotljana unterschied sich durch grössere
Einengung der Artel-Thätigkeit die sogenannte kompakte Kotljana
«IljiOTHaji KoiviflHa» (plotnaja Kotljana). Sie konnte nicht einseitig
durch den Willen der Artel, des Steuermanns oder des Unterneh¬
mers geschlossen werden, sondern bedurfte der Zustimmung aller
dieser Personen zusammengenommen. Das vor allen Dingen des¬
halb, weil eine ihrer wesentlichsten Bestimmungerf dahin lautete:
die Beute dürfe nicht eher gezählt und getheilt werden, als bis alle
Mitglieder der verschiedenen Artele nach Ablauf der Fangperiode
heimgekehrt seien. 1
Ausser diesen beiden wohlorganisirten Kotljanen gab es noch
eine dritte, kurzlebige. Sie war durch das Bedürfniss des Augen¬
blicks hervorgerufen und verschwand auch ebenso schnell wieder.
Wenn z. B. die Mitglieder mehrerer Artele zufällig zu gleicher Zeit
auf eine Schaar von Wallrossen stiessen, so gab Jeder das Allen
bekannte Signal und dann ging es gemeinsam auf die Jagd. Nach
Beendigung derselben ward die Beute sofort getheilt und nur Die¬
jenigen, welche in das Signal freiwillig nicht eingestimmt, hatten
auch kein Anrecht an den allgemeinen Gewinn.
Abgesehen aber von solchen «Gemeinschaften», welche mehrere
Artele umschlossen, waren sie Alle sammt und sonders durch das
Gefühl der gemeinsamen Noth und Verlassenheit verbunden. Darum
ist auch niemals ein Fall bekannt geworden, dass das Mitglied einer
Artel oder Kotljana einen fremden Genossen oder sonst wen in der
Gefahr verlassen hätte. Ohne jede Vergütung mussten Schiff¬
brüchige aufgenommen werden 1 und wenn die Zahl derselben einem
Fahrzeuge zu gross wurde, so war das erste ihm Begegnende ver¬
pflichtet, einen Theil derselben abzunehmen, von welchem wieder
1 Für das Reiten und Befördern von Gegenständen aus dem scheiternden Schiffe
wurde freilich eine Belohnung erhoben: 20 Kop. pro Pud für Schiffs- und Arbeits-
.geräthe, von der Beule aber, welche sich auf dem Wracke befand, Dreiviertel,
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einige auf demnächst folgende Schiffe übergeführt werden durften.
Nur überwinternde Schiffe hatten das Recht, derartige Hülfeleistun-
gen auf ein gewisses Maass zu beschränken.
Das sind im Allgemeinen die Gebräuche und Gewohnheiten des
XVIII. Jahrhunderts, welche durch die «Meer-Ordnung» Gesetzes¬
kraft erhielten. Das XIX. Jahrhundert schuf zu diesen Bestimmun¬
gen nur wenig Neues. Desto deutlicher trat aber jene Artelart her¬
vor, welche wir schon oben mit dem Namen Pokrut bezeichneten,
und welche darin besteht, dass eben der Unternehmer sowohl sein
Geld, als seine Geräthschaften und den Unterhalt hergiebt und da¬
für auch das Recht erwirbt, einen um so grösseren Theil von der
Beute zu verlangen, welche ihm allein verkauft werden darf. Hält
man das mit der notorischen Armuth der Arbeiter zusammen, so ist
die Behauptung erklärlich, dass die Artelmitglieder sich in nicht
mehr freiem Zustande befinden. Sie bleiben immer den Unter¬
nehmern, welche nach Aufhebung des Schuwalow’schen Monopols
wie die Pilze emporkeimten, verschuldet, und selbst der beste Fang
ist nicht im Stande, sie von ihrer Schuldenlast zu befreien.
Die Artele von 8—15 Mann überwintern jetzt nur selten in No-
waja Semlja. Sie ziehen im Mai aus und kehren im September
wieder. Zum Unterhalt erhält jeder Mann 7 Pud Roggen- und
Gerstenmehl, je i 1 /* Pud Gerstengrütze und gedörrtes Hafermehl,
gesalzenen Stockfisch, Salzfleisch, 10 Pfund Butter, Hanföl, Käse¬
quark — Alles summirt beträgt oft mehr, als 20 Rbl. Die Arbeit
ist nicht so streng geschieden, wie im vorigen Jahrhundert, weshalb
auch der Antheil in nicht allzu grossem Umfange variirt. Nur der
Steuermann steht über dem Niveau und seine Antheilsforderung ist
deshalb auch grösser. Die Theile, jetzt Ushna genannt, werden in
den verschiedenen Kreisen verschieden gefunden. Am üblichsten
ist die Theilungsart des Kreises Kern. Dort zerlegt man den Ertrag
der Beute — d. h. Dasjenige, was der Unternehmer dafür gibt, da
die Artel nach Belieben zu verkaufen nicht das Recht hat — in drej
Mal so viel Theile, als die Artel Mitglieder zählt und von allen die¬
sen Antheilen erhält der Unternehmer 2 /s, — Vs verbleibt also der
Artel. Wenn demnach die Artel aus 10 Personen besteht, so wird
der Erlös der Beute in 30 Theile zerlegt, 20 davon bekommt der
Unternehmer, 10 die Artel. Von diesen letzteren gehen 4—5 Ushna
für den Steuermann, 1V2—2 für seinen Gehülfen ab, wenn ein solcher
erforderlich war, und das übrige kommt dann den Artelmitgliedern
zu. Von diesem Reste werden oft noch kleine Beträge ä conto der
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Vorschüsse, welche der Unternehmer im Mai oder im verflossenen
Winter gewährt, abgezogen. Seit langen Jahren gelten nun als
Durchschnittszahl des Erlöses aus dem Fange einer Artel 1500 Rbl.
Hiervon 2 /s für den Wirth = 1000 Rbl., Rest für die Artel 500 Rbl.;
das gäbe für den Mann, da die meisten Artele aus 10 Mann be¬
stehen, 50 Rbl. Doch so viel bekommen, wie gezeigt worden, nur
Wenige. Es bleibt für die Meisten also eine ganz geringe Summe,
die ihnen nur selten baar, gewöhnlich aber in Lebensmitteln aus¬
gezahlt wird, welche der Unternehmer selbst auf Kredit mit einem
Zuschlag von 20 pCt. gekauft hat.
Solche und ähnliche Verhältnisse haben die Wallross-Artele auf
eine kleine Zahl reduzirt. In den Dreissiger Jahren dieses Jahr¬
hunderts belebten noch mehr als hundert Artelschiffe die unwirk¬
lichen Gestade des Nordmeeres — im Jahre 1867 arbeiteten nur 14
und 1872 blos 5. Der Mesen’sche Kreis zieht gar nicht mehr nach
Nowaja-Semlja, sondern geht auf die südlicher gelegenen* Inseln
Matwejew und Dolgy, aus dem Kreise Kern nur diejenigen Artele,
welche den Unternehmern am meisten verpflichtet sind. Das Ende
ist, wenn nicht bedeutende Kapitalien zu Hülfe kommen, nahe, und
eine Artelart, welche eine Jahrhunderte alte Geschichte fiat, bald
verschwunden. Es ist dies um so mehr zu bedauern, als das Artel¬
leben auf die Arbeiter von einem moralischen Einfluss gewesen,
dessen Folgen noch heute unverkennbar sind. An Stelle aller wei¬
teren Belege führen wir nur die Beispiele an, welche uns der Aka¬
demiker v. Baer mittheilt 1 und welche zur Genüge die grosse Ge¬
wissenhaftigkeit und Ehrlichkeit dieser Artelschtschiki kennzeichnen.
Hr. v. Baer erzählt, dass die Hütten auf Nowaja Semlja nie ver¬
schlossen seien. Man lässt seine Sachen ruhig dort stehen und kann
sicher sein, sie, wenn auch nach Jahren, vollzählig wiederzufinden.
Hr. v. Baer hat eine Hütte gesehen, deren Bewohner ausgestorben
waren. Die werthvollen Felle, welche sie erbeutet hatten, lagen
unberührt da, und erst, als man im September aufbrach, wurde Alles
durchgezählt und mitgenommen, da die Erben den anderen Artelen
bekannt waren. Wenn Jemand dort ein erjagtes Thier oder sonst
etwas schleppt und damit nicht zum Ziele gelangen kann, so stellt
er neben demselben einen Stock als Zeichen, dass die Sache einen
Eigenthümer hat. Hr. v. Baer wollte sich einmal an solch’ einen
4 Ueber ethnographische Forschungen im Allgemeinen und die in Russland insbe¬
sondere. Archang. Gouv.-Zeit. 1848, Nr. 10 und 11.
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Stab lehnen, welcher neben einem Boote stand, aber man wehrte
es ihm, weil es eine grosse Sünde sei, den Stab zu rücken oder zu
berühren. Er beauftragte einen Knaben, ihm eine Maus zu fangen
und versprach ihm hierfür einen Rubel. Als der Knabe ihn erhielt,
dankte er und drückte seine Freude aus, dass der Artel ein unge¬
ahnter Zuwachs an Geld geworden sei. Verwundert _ fragte Hr.
v. Baer, was dieses Geld denn die Artel angehe. Aber der Knabe
erwiederte, dass jeder Vortheil redlich getheilt werden müsse, und
pflichtgetreu übergab er das Geld seinem Vater.
2 . Die Artele für den Seehundfang,
unstreitig die wichtigsten dieser Kategorie, werden schon in den
Nachrichten aus dem XV. Jahrhundert des Breiteren erwähnt. Dar¬
nach erfahren wir, dass auch sie auf dem Pokrut basirt waren.
Unternehmer waren hier als Landesgebietiger Gross-Nowgorod und
die von ihm autorisirten, abhängigen erzbischöflichen Häuser. Diese
verpachteten dann ihr Privileg an die wohlhabenderen Leute der
Provinz. Natürlich lag ein solches monopolisirende System mit
seiner ganzen Schwere auf den Artelgenossen, welche sich entweder
aus dem eigentlich nowgorodischen Gebiete, oder aus dem jetzigen
Gouvernement Archangel rekrutirten. Erstere hatten in Folge der
Schwierigkeiten, mit welchen der Verkehr damals kämpfen musste,
Ungeheures bei den Wanderungen zu leiden und verschwanden da¬
her schon bald — im XVII. Jahrhundert — vom Schauplatz der
Artelthätigkeit. Letztere organisirten sich in der oben ange¬
führten Weise, so dass sich also in Folge der Aufforderung eines
Unternehmers mehrere, unter einander bekannte Bauern freiwillig
zusammenthaten, und, mit ihm zu ziehen «bei Gott gelobten». Das
Eigenthümliche war dabei der Umstand, dass nur Derjenige in eine
Artel treten konnte, welcher im Stande war, seinen Unterhalt selbst
mitzubringen oder den hierzu nothwendigen Betrag von 8—io Rbl.
in die gemeinsame Kasse einzuzahlen. Erst später wurde es ge¬
bräuchlich, dass der Unternehmer Alles aus eigenen Mitteln bestritt.
Deshalb waren auch ursprünglich die Artele viel besser gestellt.
Denn jeder Artelgenosse erhält einen ganzen Pai, was damals, wo
auf den Mann 8o erbeutete Seehunde als durchschnittliche Einnahme
kamen, keine unbedeutende Summe gewesen sein wird. In den fol¬
genden Jahrhunderten ward natürlich — dazu noch bei weniger
glücklichem Fange — aus diesem ganzen Pai ein Viertel.
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Die weiteren Nachrichten über diese Artele aus jener Zeit über¬
gehen wir, weil die Konstruktion und das Leben derselben nichts
Divergirendes von noch heute Bestehenden aufweist.
Es zerfallen nämlich je nach dem Orte, wo die Seehunde erschei¬
nen, die Artele in bestimmte, mit besonderem Namen bezeichnete
Gruppen, denn die lokalen Eigenthümlichkeiten drücken ihren Stem¬
pel deutlich genug auf die Organisation der betreffenden Artele.
Da sich nun die Bewohner sowohl des östlichen, als des westlichen
Ufers des Weissen Meeres mit dem Seehundfang beschäftigen, so
unterscheidet man hauptsächlich die Artele des Simnij-Bereg (nord¬
östliche, Winter-Küste) im Kreise Mesen, die des Ljetni-Bereg (süd¬
östliche, Sommer-Küste) in den Kreisen Archangel und Onega, und
die des Terski-Bereg (westliche, Ter-Küste) im Kreise Kern.
Am meisten entwickelt ist der Seehundfang auf der Winter-Küste.
Dorthin ziehen denn auch vom Januar bis zum Mai der Simnij-Putj,
Kedowski Putj, Konuschinski Putj, Ustjinski Putj und Weschni Putj 1 .
Von all’ diesen ist der wichtigste der sogenannte Simnij-Putj, da
er mehr, als die übrigen für die Bewohner der ArchangeFschen und
Mesen’schen Bezirke in Betracht kommt. Mttte Januar brechen die
Artele des ArchangeFschen Kreises (aus Simnaja-Solotitza und Mud-
juga) zu ihrem Sammelplätze auf; um dieselbe Zeit rüsten sich die
Artele des Mesen'schen Kreises (aus der Stadt Mesen und den Dör¬
fern Ssemsha und Dolgaja Stschel), da sie den io. Februar bereits
an ihrem Sammelpunkte, dem Küstendorfe Inzy sein müssen. Von
diesen Sammelpunkten aus geht es zu den eigentlichen Fangplätzen,
deren die Artele des ArchangeFschen Kreises vier, die Mesen’schen
Artele in unbestimmter Anzahl längs dem ganzen Ufer besitzen. Die
ArchangeFschen Artele haben ihre Wohnhütten — etwa ioo — an
den Fangplätzen, die Mesen’schen entweder dort oder — und das ist
das Gewöhnlichere — in dem Dorfe Inzy. Jede Hütte bedeutet
eine Artel.
Die Organisation der Artele des Archangetsehen Simnij Putj ist
folgende. Die Artel besteht aus zwei bis fünf Mann. Diese Zahl
ist durch die Grösse des Bootes bedingt, welches nicht nur die Artel,
sondern auch die nöthigen Lebensmittel, Fangutensilien u. s. w. auf¬
zunehmen hat. Je kleiner und leichter aber das Boot ist, desto be-
1 Putj bedeutet eigentlich Weg, hier aber ist die gaftze Expedition, die Gesammtheit
von Artelen, welche zu dem bestimmten Fangorte ziehen, gemeint. Dieser Ort ist
durch das erste, vor Putj stehende Wort bezeichnet.
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quemer und ungefährlicher wird die Arbeit den Artelgenossen, da
sie einestheils oft weite Strecken dasselbe über’s Eis tragen, andern-
theils, wenn die Noth es gebeut, im Nu zum Rudern bereit sein
müssen. Das Boot, wie sämmtliche Vorräthe, stellt der Wirth,
welcher gewöhnlich auch Artelgenosse ist. Diese auf die ganze
Fangperiode berechneten Vorräthe betragen für je einen Mann:
6 Pud Brod = 6 Rbl., io Pfund Roggenbrod =25 Kop., 1 Pud
Fische = 40 Kop., 1 Pfund Oel = 20 Kop., 2 Pfund Butter = 50
Kop., 10 Pfund Tolokno (gedörrtes Hafermehl) = 50 Kop., 10 Pfund
Grütze = 50 Kop. Ausserdem ordinäre Stiefel (Bachily) = I Rbl.
(sie kosten 3 Rbl., müssen aber 3 Fangjahre Vorhalten), Strümpfe
= 40 Kop., lederne Fausthandschuhe = 20 Kop., wollene Faust¬
handschuhe == 20 Kop., ein Elennfell und eine Decke zum Schutze
gegen Unwetter = 3 Rbl. 50 Kop. (eigentlicher Preis 7 Rbl., müssen
aber 2 Jahre aushalten), i 1 ,* Pfund Pulver = 75 Kop., ,3 Pfund Blei
= 60 Kop. Im Ganzen kostet dem Wirth also ein Artelgenosse 15
Rbl. Wenn wir als Durchschnittsgrösse den Bestand einer Artel
mit 3 Mann — inclusive des Wirthes annehmen, so besteht seine
Ausgabe in 45 Rbl. Hierzu kommt noch das Boot, der Kessel,
Messer, Gabel, Löffel, Stricke, Holz etc. Rechnet man darauf 55
Rbl., so streckt der Wirth Alles in Allem nie mehr als hundert
Rubel vor.
Es fragt sich nun, wie zahlt ihm die Artel diese Auslagen zurück?
Bis vor Kurzem wurde sämmtliche Beute in ganz gleiche Theiie
zerlegt und dem Wirthe dann die ihm gemäss Vertrag gebührende
Anzahl von Fellen übergeben. In jüngster Zeit ist diese Theilungs-
art durchaus verworfen und eine neue, scheinbar die Grundprinzipien
des Artelwesens alterirende Methode üblich geworden. Wie be¬
kannt, ist eines der Grundsätze der Artele: «gleiche Arbeit, gleicher
Lohn». Es müsste demnach, wie früher, die ganze Beute gleich-
massig getheilt werden. Nun ist aber beim Seehundfang die Arbeit
durchaus nicht gleich und Alles hängt hier von der Kraft und Ge¬
schicklichkeit des Einzelnen ab. Denn es ist nicht genug, das Thier
zu tödten, sondern — und das ist das ungleich Schwerere — es musi
noch bis zur Hütte geschleppt werden. Die stärksten Männer sind,
wenn ihnen diese Arbeit unbekannt ist, Leiden ausgesetzt, welche
sie einige Zeit arbeitsunfähig machen. Deshalb hat sich der Brauch
eingebürgert, dass nicht der ganze Fang zusammengenommen, son¬
dern der Fang jedes einzelnen Artelgenossen getheilt wird. Man
zerlegt dann, je nachdem die Vereinbarung auf «Hälften» oder
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48
«Fünftel* getroffen worden, die Beute des Einzelnen in zwei gleiche
oder fünf gleiche Theile, und der Wirth erhält dann einen, resp. 3,
der Artelgenosse den anderen, resp. 2 Theile, welche der Wirth-
regelmässig abkauft. Er zahlt für ein Fell mit dem Thierfett 3 bis
4 Rbl., verkauft aber das Fell für 1 Rbl. 50 Kop. und das Fett be¬
sonders für 10 Rbl. 50 Kop. (gewöhnlich 3 Pud ä 3 Rbl. 50 Kop.).
Da nun der Durchschnittsantheil eines Jeden 15 Häute beträgt, so
ist es leicht, zu taxiren, in welchem Vortheil der Wirth ist. Häufig
ist es auch noch der Fall, dass er, anstatt des Geldes, Waare giebt.
Dann steigt sein Gewinn bedeutend. Im Jahre 1873 kaufte ein Ka¬
pitalist von sämmtlichen Artelgenossen des Dorfes Sjusma 300 Pud
Fett zu 2 Rbl. 10 Kop., während in Archangel um dieselbe Zeit der
Preis hiefür 2 Rbl. 80 Kop. betrug. Anstatt des Geldes gab er den
Artelgenossen Mehl, welches er zu 80 Kop. pro Pud erstanden hatte,
jetzt aber zu 1 Rbl. 20 Kop. rechnete. Er hatte sonach für 630 Rbl.
erhalten 1350 Rbl. oder 114 pCt. Mag man hiervon seine Unkosten
für die Expedition, die Lagerung u. dergl. Ausgaben abziehen, so
wird ein recht ansehnlicher Verdienst übrig bleiben, welchem gegen¬
über die nominellen 45 Rbl. der Artelgenossen wohl etwas zu gering
erscheinen.
Nicht viel anders gestaltet ist die Organisation und der ökono¬
mische Charakter der Mesen'schen Artele des Sttnnij Putj. Dort
besteht die Artel immer aus 7 Personen. Der Wirth schliesst mit
ihnen den mündlichen Vertrag in der Stadt Mesen oder in dem
Dorfe Dolgaja Stschelj, wo sich alles arbeitslustige Volk versam¬
melt. Der Vertrag besteht darin, dass der Wirth sich, wie oben,
verpflichtet, alle nöthigen Bedürfnisse zu liefern, und die Artel¬
genossen: die Beute redlich zu theilen. Als Divisor der Beute wird
dann nicht die Zahl 7, sondern 8 angenommen; dieser achte Theil
ist die Vergütung für die Benützung des Bootes. Theilungsprinzip
ist auch hier die Hälfte oder das Fünftel. Es muss hiernach der Ar¬
telgenosse aus seinem Achtel — Ushna genannt — */* resp. 3 /s dem
Wirthen abgeben und */* resp. 2 ß für sich behalten. Der gewöhn¬
liche Gesammtertrag des Fanges einer Artel sind 120 Thiere; es
kommen folglich auf die Ushna 15 Thiere zu je 3 Rbl., also 45 Rbl.
Wird nun zur Plälfte getheilt so empfängt der Wirth 7 l /i Thiere
= 22 l /a Rbl., bei Fünfteln aber 9 = 27 Rbl.
Nach dem Simnij Putj folgt der Kedowski , welcher seinen Namen
von dem Kedow’schen Vorgebirge führt, um welches herum der
Fang betrieben wird. Vorzugsweise kommen dorthin die Mesen-
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sehen Artele, welche daher auch mit dem Unternehmer gewöhnlich
einen Kontrakt für die Dauer beider Expeditionen schliessen. Ist
der Fang besonders günstig, so bleiben die Artele auf dem Simnij
Putj bis zum Feste Mariä Verkündigung, (25. März/7. April) im ent¬
gegengesetzten Falle eilen sie schon Ende Februar zum Kedow’schen
Vorgebirge. Sie arbeiten dort nur bei Tage und erholen sich in den
warmen, speziell für sie erbauten Häusern, deren es ungefähr 120
gibt. Jedes derselben beherbergt 14 bis 28 Mann d. h. 2 bis 4 Artele.
Die Archangel’schen Artele schätzen den Kedow’schen Fang nicht
hoch, da derselbe als Maximum acht Thiere für Jeden ergibt und nur
wenige Archangeliten sind deshalb am benannten Vorgebirge zu
treffen. Dieselben formiren sich hier zu grösseren Artelen von 5 resp.
7 Mann und wohnen dann zu 40 resp. 45 Mann zusammen. Aus ihrer
Mitte wird Einer zur Besorgung der Wirthschaft gewählt, welcher
für seine Thätigkeit den gleichen Antheil an der Beute erhält.
Nach Beendigung der Kedow’schen Expedition gehen einige Ar¬
tele zum Konuschirisehen Fang, andere direkt zum Ustjin'schen. Das
Charakteristische dieser beiden letzteren besteht darin, dass hier
das Hauptgewicht auf das Fell des Thieres gelegt wird, während es
den beiden erstgenannten Expeditionen vor allen Dingen auf das
Fett ankommt. Da nun das Fell nicht soviel abwirft, wie das Fett,
so ziehen auch nur wenige Artele zum Konuschin’schen Vorgebirge.
Im Ganzen stehen dort 10 Artelwohnhäuser. Bedeutender schon
ist die Ustjin’sche Expedition von Artelen. Siq erstreckt sich über
die ganze Mesen’sche Bucht und dauert von den ersten Tagen des
April bis zum Anfang des Mai. Betheiligt sind daran ausser den
Mesen’schen Artelen auch die Pinega’schen. In Folge dessen
hatte es auch die Regierung nöthig gefunden, diese Expedition
durch ein besonderes Statut zu regeln, demgemäss alle Einzelartele
eine grosse, Bursa genannte, Artel bildeten und sämmtliche Beute
genau pach der Anzahl der Artelgenossen und Böte getheilt wur¬
den. Da dieses aber Einigen nicht besonders vortheilhaft schien, so
erwirkten sie sich, angeblich um das Theilungsgeschäft zu verein¬
fachen, die Erlaubniss, die eine Bursa in drei zu zerlegen. Nicht
lange jedoch währte es und die Regierung überzeugte sich dass nur
einer unheilvollen Konkurrenz die Thore geöffnet waren. Jede der
Bursen suchte der anderen die Thiere zu vertreiben und das Resultat
war, dass keine von ihnen Fangresultate erzielte. Deshalb erneuerte
das am 22. Juni 1866 promulgirte Statut die alten Grundsätze des
Ustjin’schen Fanges. Hiernach werden zur Beaufsichtigung des
Bus«. Berne. Bd. IX. 4
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ganzen Fanges aus der Mitte der Artelgenossen drei Aelteste auf
vier Jahre gewählt. Diese Aeltesten müssen immer aus den Dörfern
oder Gegenden sein, welche die meisten Artelgenossen senden,
wodurch freilich die Minderheit ein für alle Mal im Nachtheil und
unberücksichtigt bleibt. Da nun die Aeltesten die Reihenfolge zu
bestimmen haben, in welcher eine Artel nach der anderen auf den
Fang auszuziehen hat, und da ausserdem der Fang jeder Artel an
die Aeltesten abgeliefert und von ihnen erst unter sämmtliche Ar-
tele zu gleichen Theilen vergeben wird, so ist es erklärlich, dass
Missbräuche und Streitigkeiten häufig sind. So bestimmten die
Aeltesten am 3. April 1868, dass die Artele der Stadt Mesen und
des Dorfes Semsha sich am 6. aus dem genannten Dorfe aufmachen
und sich am 8. mit denen von Dolgaja Stschel und der Koiden’schen
Partie am Abrampw-Cap vereinigen sollten. Wenn dort eine Ver¬
einigung nicht möglich wäre, so solle dieselbe auf dem Meere statt,
finden; werde dieselbe auch hier unmöglich, so müsse jede Gruppe
für sich allein arbeiten. Nun traf es sich, dass die Semsha’schen
Artele unterwegs 750 Thiere erbeuteten, aber nicht zum Termin am
Sammelplätze eintrafen. Die anderen Artele begaben sich des¬
halb allein auf deaFang und erlegten nur 352 Thiere bei 114 Böten.
Das klang den Mesen’schen unglaublich und sie weigerten sich,
ihren reichen Fang herauszugeben. In Folge dessen erhob die
Koiden’sche Partie eine Klagforderung über 993 Rbl. 25 Kop. und
erst dem richterlichen Spruche gelang es, hier wieder einige Ein¬
tracht herzustellen. Da sich aber derartige Streitigkeiten allzu oft
wiederholten, so ist es jetzt Usus geworden, dass, ungeachtet des
Statuts, jede Artel für sich allein auf eigene Rechnung arbeitet und
sich freiwillig mit drei oder vier anderen beliebigen Artelen nur zu
gegenseitigem Schutze vereinigt. Solche Schutz- und Trutz-Bünd¬
nisse sind den Ustjin'schen Artelen schon deshalb so geläufig, weil
sie nicht, wie die anderen, am Lande wohnen bleiben, sondern wäh-*
rend der ganzen drei bis vierwöchentlichen Fangzeit im Boote oder
auf dem Eise sich aufhalten.
Nach dem Ustjin’schen Putj folgt der bis Mitte Mai dauernde
WeschnijPutj. An ihm betheiligen sich nur einige wenige Küstendörfer
in kleine^ Artelen zu je 3 Mann, da auch hier als Maximum der
Beute eines Einzelnen 7—8 Thiere Vorkommen. Die Organisation
und die ökonomischen Verhältnisse sind dieselben, wie die der übri¬
gen Artele der Winter-Küste. Das Gleiche gilt für die Artele des
Ter’schen Ufers, sowie auch für die Sommer-Küste, welche letztere
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zum grossen Theile noch auf der ersten Stufe ihrer Entwickelung
stehen, d. h. also als zum Domestik-Wesen gehörig zu betrach¬
ten sind.
Es bleibt uns deshalb nur noch übrig das Gesagte durch einige
Zahlen zu vervollständigen. Es ergibt sich, dass im Ganzen arbeiten
' auf dem Simnij Putj 800 Artele mit 3000 Artelgenossen
» 0 Kedowskij »300 • * 2000 0
Winter-Küste 0 » Ustjinskij 0 150 » * 1000 *
» » Konuschinskij * 11 » » 77 »
* 0 Weschnij • 54 » 0 216 0
Sommer-Küste » » Weschiiowplnij 0 350 0 » 1050 0
Ter’sche Küste » 0 Torossna » 175 > 0 857 _»_
In Summa 1840 Artele mit 8200 Artclgenossen.
Im Durchschnitt besteht also jede Artel aus ungefähr 5 Personen.
Nehmen wir nun an, dass die durchschnittliche Beute eines jeden
Artelgenossen 8 Thiere beträgt, so haben wir 65,600 erlegte Thiere.
Multiplizirt man diese Zahl mit 3, als der gewöhnlich für sie gezahlten*
Summe (Rubel), so haben wir im Laufe von vier Monaten einen Um¬
satz von 196,800 Rbl. Bliebe diese Summe — und dass sie bei Wei¬
tem grösser ist, versteht sich von selbst — ganz und ungetheilt in
den Händen der Artelgenossen, so wäre das natürlich für sie
und das Land von der weittragendsten Bedeutung, da der dor¬
tige Bauer in nicht mehr als 2 Monaten mehr als 40 Rbl. verdienen
könnte. Wie die Sachen aber heute Stehen, konzentrirt sich mehr
als 3 /ö des Ganzen in den Händen einzelner Kapitalisten und von
den übrigen bekommen die Artelgenossen im besten Falle 4 /i0
baar, den Rest immer in Waaren zu enormen Preisen ausgezahlt.
Das Truc-System ist auch hier der Todfeind des Artelwesens.
II. Artele für den Tischfang.
1. Die Artele für den Stockfischfang.
Genauere Nachrichten über diese Artele tauchen erst mit dem
XVII. Jahrhundert-auf. Damals existirten an der Murman’schen
Küste des Weissen Meeres zwei Artelarten: In der einen partizipirt
der Artelgenosse sowohl mit seinem Kapital, als mit seiner Arbeit.
In der anderen nur mit seiner Arbeit. Aus dem Umstande aber, dass
die Daten über die erste, selbständige Artelart sehr bald und
zwar zu Anfang des XVIII. Jahrhunderts aus den Akten und Chro¬
niken verschwinden, lässt sich wohl folgern, dass ihnen der Kampf
mit den stärkeren Kapitalisten unmöglich wurde und dass sie dadurch
4*
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5 *
zur Unterordnung unter dieselben und zur Einordnung in die Pokrut-
Artele genöthigt waren. Nur an den Orten bestanden siefort, wo,
wie wir weiter unten sehen werden, der Stockfischfang nicht die
Hauptbeschäftigung der Bewohner bildet, wo also ein schlechter
Fang den selbständigen Artelgenossen nicht gleich an den Rand des
Banquerottes bringt.
Die andere Artelart erhielt sämmtliches Kapital von dem einzigen ‘
damals existirendenUnternehmer, dem erzbischöflichen Hause, welches
alljährlich, während des Frühjahrs und Sommers, Böte und Lodjen,
auf den Fang aussandte. Die Frühjahrslodjen, aus drei Artelen zu
4 Mann bestehend, brachen im Februar nach Kola auf und kehrten
gegen Ende September mit den Sommer-Artelen heim. Im Oktober
wurde dann die endgültige Abrechnung getroffen, bei der sich der
Antheil der Artelgenossen zu dem des Artelältesten und des erz-
bischöflichen Hauses wie 15:18:57 stellte. Wenn sich trotzdem für
diese Artele recht viele Genossen fanden, so erklärt sich dieses einer¬
seits durch die schlechte ökonomische Lage der Letzteren, welche sie
vor allen Dingen darauf achtenliess, dass sie während vieler Monate vom
Hunger nichtzuleidenhatten und schliesslich doch noch ein StückGeld
bekamen, andererseits durch die juristische Abhängigkeit, in welcher
die Bauern damals vom erzbischöflichen Hause gehalten wurden.
Letzterem Umstande machte Peter der Grosse im Jahre 1704 dadurch
ein Ende, dass er das Privilegium des erzbischöflichen Hauses auf
die Fangstellen aufhob und den ganzen Fischfang längs der murma¬
nischen Küste unter gewissen Einschränkungen freigab. Seit dieser
Zeit traten denn auch Privatkapitalisten an Stelle des früheren
Unternehmers, ohne dass die Lage der Artelgenossen sich dadurch
irgendwie gebessert hätte.
Heutzutage organisiren sich die Artele aufs Neue, entweder nach
Ablauf der alten Fangperiode oder bei Beginn der neuen und grup-
piren sich dann um einen Unternehmer in der Zahl von 1 bis 8 Ar¬
telen oder 4 bis 32 Artelgenossen. Anfang März muss Alles zur
< Expedition fertig sein. Deshalb unterhandeln die Unternehmer vor
allen Dingen mit den vom Murman am meisten entfernten Artelen,
den Onega’schen, denen dann nachher die anderen sich anschliessen.
Diese Unterhandlungen sind, da der Antheil der Artelgenossen an
der Beute durch Gewohnheit seit alters her feststeht, recht einfach
und beschränken sich meistens nur auf die Frage der Extrabe¬
lohnung, welche der Artelälteste zu erhalten hat. Ist auch dieses erle¬
digt, so wird die Artel, bevor sie sich auf den Weg macht, von dem
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Unternehmer durch ein kräftiges Mittagessen bewirthet und jeder
Genosse mit Holzlöffeln, Tuch zum Ausbessern der Fausthandschuhe
und 50 Kop. bis zu I Rbl. beschenkt. Ersteres ist um so nothwen-
diger, als die Artel von dem Augenblicke an, wo sie aufbricht,
den grössten Mühseligkeiten, Entbehrungen* und Anstrengungen
ausgesetzt ist. Es müssen nämlich die Unkosten für den Weg von
dem Wohnorte der Artelgeiiossen bis zur Rassnawoloz’schen Station,
welche 100 Werst von Kola entfernt ist, oder bis Kola selbst, die
Artele allein tragen. Ihre kleinen Mittel erlauben es ihnen nicht,
sich Pferde und Rennthiere zu miethen; sie legen daher die ganze,
viele hundert Werst lange Strecke zu Fuss zurück, ihren Schlitten
mit den nöthigen Vorräthert und Utensilien hinter sich schleppend.
Die Strecke vom Dorfe Kandalackscha bis zur Station beträgt
200 Werst, auf diesem weiten Wege giebt es nur 4 grössere Ruhe¬
punkte, elende Hütten oder loparische Tupen. Sonst kann sich die
Artel vor Erfrieren nur durch, auf dem Schnee selbst angezündete
Feuer schützen; ist aber ein orkanartiger Wirbelwind im Anzuge,
dann bleibt ihr nichts übrig, als sich im Schnee zu vergraben.
Erreichen dann endlich die Artele ihr Ziel, so wird die Sorge für die
Verpflegung und die Expedition Sache des Unternehmers. Für die
Artelgenossen tritt dadurch eine grosse Ruhepause ein, welche bei
dem zu plötzlichen Uebergange von der angespanntesten Thätigkeit
zur vollständigen Unthätigkeit und bei der schlechten Beköstigung
und Einquartierung — bedeutende Krankheiten in ihrem Gefolge hat f
die nicht einmal die frische, gesunde Meeresluft zu vertreiben im
Stande ist. Während der langen, schweren Arbeitszeit sind dann
wenig Brod und Grütze, aber sehr viel Kohl das alltägliche Essen und
kleine, dumpfe, niedrige Hütten mit einem kaum von 3 bis 4 Quad¬
ratfaden bieten Gruppen von 10 bis 20 Menschen die nöthige Be¬
hausung. Es ist deshalb kein Wunder, wenn in jedem Sommer
Fieber, Typhus, Skorbut an der murmanischen Küste wüthen.
Wie vertheilt sich nach all diesem die Beute, der Fang? Vor allen
Dingen muss hervorgehoben werden, dass diese Artele nicht, wie
die für den Fang von Seehunden, gezwungen sind, die Beute dem
Unternehmer zu verkaufen. Sie thun es gewöhnlich, weil er ihnen
den ArchangePschen Marktpreis zahlt. Sämmtliches erlöste Geld
wird dann in drei Theile zerlegt, von denen zwei dem Unternehmer,
einer aber der Artel zukommt. Ausserdem bekommen die den Artel¬
genossen behülflichen Knaben, Suji , ihren vom freien Willen jedes
Einzelnen bestimmten Theil. Ein gewandter, beliebter Sui kann sich
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2$—40 Pud erarbeiten. In manchen Artelen ist es sogar Sitte,
dass dem Sui ein Abzug aus dem Ertrag des Antheils eines Artel¬
genossen gemacht wird, wenn der Sui ihn genügend, z. B. während
einer Krankheit, vertreten hatte. Da aber in vielen Artelen die
Unternehmer für das Salz und die Beköstigung Bezahlung ver¬
langen, so bleibt für diese wackeren Helfer trotz der vielen Pude nur
wenig Geld übrig. Das Drittel nun, welches der Artel gehört, wird
sämmtlichen Artelgenossen, einschliesslich des die Unternehmer¬
interessen vertretenden Artelältesten, gleichmässig vergeben, sp
dass jedes Artelmitglied V12 der Gesammtbeute erhält. Dieses l !u
gilt bei der Berechnung als Einheit, als eigentlicher Pai, und es fallen
demnach auf den Antheil des Unternehmers 8, auf den der Artele 4
derartiger Pais. Wenn es also heisst, dass der Pai 50 Rbl. einge¬
bracht hat, so ergab die Gesammtbeute 600 Rbl., von denen 400 Rbl.
dem Unternehmer, 200 Rbl. den Artelgenossen zukamen. Aus seinem
Gesammtantheil muss aber der Unternehmer noch einen Pai und
IO bis 15 Rbl. dem Artelältesten abtreten, so dass dessen Einnahme
gleich Vb des Gesammtwerthes der Beute ist: natürlich fällt dieser
Theil, dieses '/g, dem Unternehmer selbst zu, wenn' er, wie es mei¬
stens derFall, selbst auch Artelältester ist. Alljährlich befinden sich an
der murmanischen Küste ungefähr 700 Artele, von denen jede aus
4 Artelgenossen besteht. Im Ganzen arbeiten also* (die Sui abge¬
rechnet) ca. 2800 Mann. Der mittlere Ertrag ihrer Beute ist, da
ungefähr 650,000 Pud Stockfische gefangen werden, die man in
Archangel ä 50 Kop. verkauft, gleich 325,000 Rbl. Hiervon ge¬
hören 2 /8 — 216,000 Rbl. dem Unternehmer, l js (der Rest von ca.
108,000 Rbl.) den Artelen. Es kommen folglich auf jeden Artel¬
genossen 35 Rbl. monatlich. Der Unternehmer hat aber Auslagen.
HerrOskerko, welcher selbst Unternehmer war, hathierüber öffentlich
Rechenschaft gegeben. Er schreibt 1 : Jeder Unternehmer rüstet
in den meisten Fähen vier Artele aus. Er braucht deshalb
1. Vier Böte mit dem nöthigen Zubehör an Segeln,
Rudern etc. ä 70 Rbl.. 280 Rbl.
2. Vier Schichten von Säcken ä 150 Rbl. und ein Netz
ä 30 Rbl.... 630 »
3. Wohnhütte, Scheune, Takelwerk, Tönnchen u.dgl. m. = 400 »
1 Oskerko> «Die industrielle Murmanische Küste.» Archang. Gouv. Zeit. 1868.
Nr. 51 — 59. (OciepKO, upoMbim^eHHbifl Cepen» Mypwaiia).
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4 - Viermonatliche Beköstigung von 16 Mann ä 12 Rbl.
50 Kop. oder ä 50 Rbl. per Boot 200 Rbl.
In Summa . . 1510 Rbl.
Man kann nun als Durchschnitt des Ertrages eines Bootes 1300 Pud
oder für 4 Bote 5200 Pud Fische annehmen. Zum Einsalzen derselben
bedarf man ungefähr 1000 Pud Salz — 200 Rbl. Der gesalzene Fisch
verliert aber soviel an Gewicht, als Salz verbraucht worden; es
bleiben demnach zum Verkauf 4200 Pud; */3 hiervon, oder 2800 Pud,
gehören dem Unternehmer und ergeben ä 50 Kop. 1400 Rbl. Hierzu
kommt noch die Fischleber (MaKca) welche von 5200 Pud Fischen 520
Pud liefertund von denen ebenfalls 2 /s d. h. 340 Pud k 1 Rbl. 40 Kop.
oder 476 Rbl. dem Unternehmer zufallen. Er nimmt also im Ganzen
1876 Rbl. ein, während er 1710 Rbl. verausgabte. Erwägt man
dass die unter 1, 2, 3 aufgezählten Ausgaben keineswegs alljährlich
sind, so ist die vorsichtige Schlussfolgerung des Hrn. Oskerko, dass
der Unternehmer nach vier Monaten das ganze Kapital mit einem
Zins von 11 pCt. zurückerhalte, wohl nicht anzuzweifeln. Es nimmt
deshalb angesichts der oben angeführten Einnahme der Artele nicht
Wunder, dass sich die Artelgenossen in beständiger Abhängigkeit
von dem reichen Unternehmer befinden. Dadurch mag denn auch
die anormale Erscheinung eingetreten sein, dass die Wolostgerichte
ganz einfach dekretiren, von dem Unternehmer sind so und so viel
Rubel zum Unterhalt dieser oder jener Familie zu entnehmen. Wie
werden diese zurückgezahlt, und wann? —das sind Fragen, auf deren
Beantwortung sich niemand einlässt: es versteht sich von selbst
dass der Arbeiter sein Leben lang verpflichtet bleibt.
2. Die Artele für den Ssemga-Lachsfang.
Keine der Artelgattungen und Arten, die wir bereits besprochen,
weist eine solche Verschiedenheit der Organisation auf, wie die für
den Fang von Ssemga bestimmten. Es hängt dies durchaus mit
den Eigenthümlichkeiten der Gegend zusammen, in welchem diese
Artele heimisch sind, d. h. mit den ökonomischen Verhältnissen der
Bewohner der ganzen Küstenlinie des nördlichen Eismeeres und des
Weissen Meeres, wie auch der in diese Meere mündenden Flüsse
Je nach diesen Verhältnissen bilden die Artele nämlich entweder
den hauptsächlichen oder nur einen sekundären Erwerbszweig, wie
z. B. in den Kreisen Chohnogory und Pinega. Im ersten Falle stehen
sämmtliche Artele unter der Kontrole ihrer Bauerngemeinden und
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die Fangplätze selbst sind Eigenthum der Gemeinde. Im letzteren
Falle bleibt es der Willkür und der Lust der Einzelnen überlassen,
sich zu Artelen zu formiren. Da nun der erstereFall der bei Weitem
gewöhnlichere ist, so ist es natürlich, dass fast alle Artele von der
Bauerngemeinde abhängen und ausgehen, der die Fangplätze ge¬
hören. Es geschieht aber auch, dass die Gemeinde entweder den
Fangplatz für sich behält und von sich aus Artele formirt, oder aber
sie einem Kapitalisten gegen angemessene Zahlung verpachtet. In
diesen Fällen treten verschiedene Kombinationen ein: entweder die
Gemeinde gibt ihre sämmtlichen Plätze in Pacht, oder nur einen
Theil derselben; am gebräuchlichsten ist die Abgabe eines Theiles
der Fluss-Fangplätze. Der bessere Theil derselben und die Meer$s-
Plätze bleiben mit seltenen Ausnahmen im Besitz der Gemeinde.
Aus dem Allen ist ersichtlich, dass hier scheinbar zwei Artel¬
gattungen bestehen: die selbständige und die unselbständige,
vom Kapital abhängige, von diesem die Lebenskraft empfangende
Artel. Doch, wie gesagt, das ist nur scheinbar. Freilich beeinflusst
das Kapital hier nicht die Organisation der Artele und die Theilung
des Ertrages — das geht Alles nach bestimmten und, wie wir sehen
werden,sehrrationellen Grundsätzen vorsich. Aber die Bauern-Artele
besitzen nicht die Mittel, ihre Waare auf den weit entfernten Markt zu
bringen und sind deshalb genöthigt, sie dem immer zur rechten Zeit in
den Dörfern anwesenden Kapitalisten gegen sonstige Waare zu
überlassen. Natürlich werden sie bei diesem Truc-System gründlich
übervortheilt und stehen deshalb, ungeachtet ihrer vortheilhaften
Antheile, irrimer als Schuldner da. Hr. Malikow berichtet dass eine
Schuld von 50 Rbl. als unbedeutend geschätzt werde, dass es
häufig vorkomme, dass 300 Rbl. die Normalschuld sei und dass ein
einziger Kapitalist von den Ter’schen Artelgenossen 60,000 Rbl.
zu fordern habe. Bei solchen Verhältnissen kann von einer Selb¬
ständigkeit dieser Artele nicht eher die Rede sein, als bis sie Mittel
und Wege gefunden haben, ihre Waaren direkt auf den Markt zu
bringen. Bedenkt man, dass mehr als 30,000 Pud gefangen werden,
die einen Werth von über 150,000 Rbl. repräsentiren, so wird man
begreifen, von welcher Bedeutung grade diese Frage für die nicht
zahlreiche Bevölkerung des ganzen Küstenstriches sein muss.
Betrachten wir nun die Organisation der Artele. Obgleich die-
* Malikow: Bericht über eine Expedition in’s Archangel’scbe Gebiet (Majiiucoirb :
OTnerb o KomHAHpoBK'fc B*b ApxaHrejibcicifi Kpaft).
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selben schon seit dem XVI. Jahrhundert bekannt sind, so ist dennoch
über ihre frühere Gestaltung nichts Näheres zu erfahren. Nur soviel
weiss man, dass dieselben bis zum XVIII. Jahrhundert mit dem
erzbischöflichen Hause als Unternehmer und Kapitalisten in engster
Beziehung standen. Erst in diesem Jahrhundert taucht auch die
heutige, von und in der Gemeinde bestehende Artelart auf. Am ge¬
bräuchlichsten ist bei derselben eine Organisation, wie im Dorfe Kan-
dalakscha. Die Bauern bilden unter sich soviel Artele, als Fang¬
plätze (15) vorhanden sind. Dann werden die Fangplätze verloost
und Artel Nr. 1 kommt an den Fangplatz Nr. 1 u. s. w. Jede Artel
hat aber die Verpflichtung, alljährlich ihren Platz der folgenden Artel-
Nummer abzutreten u. s. w., so dass nach einer gewissen Zeit zum
Schluss Artel Nr. 15 auf Fangplatz Nr. 1 und Artel Nr. I. auf Fang¬
platz Nr. 15 kommt. Jeder Artelgenosse verfertigt seinen genau be¬
stimmten Antheil für das Netz, welches dann zusammengenäht wird \
arbeitet genau so viel, wie jeder andere und erhält deshalb genau
so viel, wie jeder andere. Diese Bestimmungen sind auch hier, wie
oben, ein Ausfluss der absolutesten Ehrlichkeit. Es wird, da alle
Mahlzeiten gemeinsam sind, für eine strafwürdige Unredlichkeit ange¬
sehen, etwas heimlich, abseits von den Kameraden, zu geniessen,
für ein ebenso grosses Vergehen, wie, wenn einer sich entschliessen
wollte, einen Fisch aus dem Netze zu stehlen. Giebt es einen solchen
Genossenf ode^ einen ähnlichen, «mit dem sich nicht leben lässt»,
so trennt sich die Artel von ihm und weist ihm ein apartes Stück
ihres Fangplatzes an, wo er dann allein arbeiten mag. Ausserdem
aber kommt es vor, dass nicht alle Artelgenossen auf den Fang¬
platz gehen. Ein zur Landarbeit schon untauglicher Mann besorgt
in der Erntezeit, wo jede Arbeitskraft nöthig ist, unter Beihülfe
von Kindern, die sämmtlichen Artelgeschäfte. Nichtsdestoweniger
erhält jeder Artelgenosse seinen Antheil an der Beute ohne irgend
welchen Abzug, wie andererseits der Mann, welcher für die Artel das
Fangen besorgte, in seinem Pai durch Nichts bevorzugt wird. Die
Beute wird zuerst nach Gattungen zerlegt: a) in denjenigen Ssemga,
welcher bis zum Johannis-Tag gefangen worden (Saledka), b) den¬
jenigen, welcher bis zum Iljin-Tag gefangen wurde (Meshenka),
c) denjenigen welcher bis Ende August (Sakroika) und d) den,
welcher bis gegen Ende der Fangperiode erbeutet wurde. Von
jeder dieser Gattungen erhält dann der Artelgenosse seinen Theil.
1 Daher auch der Ausdruck «sich in eine Artel einnähen» (BuuiBaTbCfl bi» apTeJib).
r
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Leider geht aber diese vollständig richtige Theilungsart wieder
nicht ohne Beeinflussung des Kapitals ab. Die ärmeren Bauern-ver¬
kaufen nicht selten einem wohlhabenderen ihren Artelantheil für
eine geringe, ihnen aber im Augenblick nothwendige Summe,
so dass ihm, der den ganzen Fischzug durch einen Mann besorgen
lässt, auch die ganze Beute zufällt. Ueberdies erfordert das «Sitzen
auf dem Fischzug» ansehnliche Auslagen. Nehmen wir an, dass
drei Mann das Fangen auf einem Fischzug besorgen der io Ge¬
nossen gehört. Diese drei Mann bedürfen an Lebensunterhalt
während der Fangperiode, an Ausgaben für die Fangutensilien etc.
41 Rbl. 70 Kop. Beträgt nun, was gewöhnlich der Fall ist, der
Ertrag des Fanges gegen 100 Rbl,,' so kommt auf jeden Artel¬
genossen, während seine Ausgaben 4 Rbl. 17 Kop. betragen, eine
Einnahme von 10 Rbl., und also ein Reingewinn von nur 5 Rbl.
83 Kop. Schwerlich kann er hierbei noch so viel ersparen, um im
nächsten Jahre ohne die Hülfe des Kapitals auf den Fischfang zu
ziehen. Der einzige, hierbei günstige Umstand ist noch der, dass
die Artele sich nach jeder Revision (der allgemeinen Volkszählung)
neu formiren und dass die dann für die Artel gültige Norm von
Artelgenossen bis zur nächsten Revision als solche feststeht. Wenn
nun bei einer Zählung eine Familie mehrere Revisionsseelen, also
auch mehrere Artelgenossen hatte, so kommt ihr das einstens bei
der Theilung der Beute wohl zu Gute. Da dieses aber nur Aüsnahme-
fälle sind, so geschieht es, dass von Jahr zu Jahr die Zahl der no¬
minell selbständigen Artele abnimmt. Nach dem Ausweis des
Archangerschen statistischen Komite’s waren im Jahre 1875 von
sämmtlichen Artelgenossen
des Kreises Archangel . 10,9 pCt.
* » ^Kem .... 15,7 »
. » » Mesen . . . 30,9 *
* * Pinega . . . 36,5 »
» » Cholmogory 38,1 »
unselbständige d.h N auf Grundlage des Pokrutsystems vereinigte Artel¬
mitglieder. Natürlich ist dieses auch auf den Fang von Einfluss und
die Unfreiheit mag es erklären, dass in dem genannten Jahre, wie
in den vorhergehenden ein konstantes Sinken des Ertrages und
des Fanges sich wahrnehmbar machte. Es gab im Jahre 1875 in
den Kreisen:
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59
Meeres- Fluss-
fang- fang-
plätze platze darauf hatten
(Sabori) (Toni) an beiden wurden gefangen Anspruch '•
Mesen . . .
3
93
i6,956Pud =
53,093 Rbl.
?,i86Artelgei
Kern ....
142
478
10,125 » =
32,812 »
1,304 »
Archangel .
1
129
4,269 » =:
29,830 »
551 *
Cholmogory
—
20
1,686 » =
13,267 »
201 »
Pinega . . .
5
20
556 » =
2,609 »
139 »
Onega . . .
2
28
458 » =
2,159 '
153 *
Schenkursk
—
—
9 » =
45 »
- »
153 768 34,059 Pud =133,815 Rbl. 4,534Arteigen.
3. Die Artele für den Häringsfang.
Ueber die Geschichte denselben und über ihre früheren ökonomi¬
schen Verhältnisse sind keine Nachrichten vorhanden. Heute variiren
diese Artele nicht in Vielem von denen für den Fang von Ssemga.
Auch sie bestehen entweder in und mit der Dorfgemeinde oder
bilden ein von ihr getrennt existirendes Ganze. Ersteres tritt dann
ein, wenn die Gemeinde ihr Recht auf den Häringsfang selbst aus¬
übt — in welchem Falle jede «Seele» d. h. jede bei der letzten Revi¬
sion als männliches, zum betreffenden Dorfe gehörig verzeichnete
Glied einer Familie Artelgenosse ist und genau dieselben Rechte und
Pflichten hat, wie jeder andere; Letzteres ist der Fall, wenn die
Gemeinde einzelnen Gliedern ihr Gesammtrecht oder auch einen
Theil desselben verpachtet. In diesem Falle konstituiren sich die
Artele auf folgender Grundlage. Zum Häringsfang bedarf man eines
Fahrzeuges (10—12 Rbl.), eines Netzes (12—15 Rbl.) und dreier
Personen. Alles zusammengenommen bildet nun die Arteleinheit,
weshalb auch der Ertrag der Beute nicht in 3, sondern in 5 Theile
zerlegt wird. Das Boot und das Netz sind gleichsam Artelgenossen
und müssen ihre Auslagen vergütet erhalten. Ein guter Fang
gibt auf jeden Antheil 20 — 30 Rbl. oder auf eine Artel 100 bis
150 Rbl. Diese Zahl könnte dann auch als Grundlage für die
Abschätzung des Gesammtergebnisses der Einnahme sämmtlicher
Artele dienen, wenn eben die Theilungsprinzipien überall dieselben
wären. So sind in der Keret’schen Wolost (Kreis Kern) die Netze
grösser, breiter und folglich auch verhältnissmässig theurer (bis
100 Rbl.), weshalb ihr Antheil am Fange nicht gleich 1, sondern
gleich 3 und mehr beträgt, während das Gesammtresultat selten
über 200 Rbl. steigt. Aus diesem Grunde können wir auch keine
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6o
Zahl als Normaleinnahme jedes Artelgenossen aufstellen. Man hat
es versucht^ nach dem Erlös aus den gesalzenen Häringen die Ein¬
nahme zu fixiren. Hr. Danilewskij 1 führt an, dass die Häringe vor¬
züglich in der Bucht Kandalackscha und in Pongema in Tönnchen
zu ioo Stück gesalzen und von dort in der Anzahl von 20,000,000
Stück zn 200,000 Pud ausgeführ{ werden. Von Archangel wurden
aber nur exportirt 86,314 Pud im Werthe von 27,327 Rbl. Hieraus
weitere Folgerungen zu ziehen, wäre, da weder die Frühlings-,
Sommer- noch'Herbsteinnahmen bezeichnet sind, durchaus zwecklos.
Wir begnügen uns deshalb mit Anführung der offiziellen Zahlen*
a) der Zahl der Netze, b) der Personen, welche als Besitzer der
Netze gelten und daher den, auf dieselben fallenden Antheil erhalten,
c) der Zahl der mit dem Häringsfang beschäftigten Genossen und d)
der eigentlichen Artelgenossen.
Z
a h 1
Kreis: Kern.
Wolost: Sorozkaja ....
Kow,dskaja ....
Kepetskaja ....
Tungudskaja . . .
Letnekonezkaja . .
Massloserskaja . . .
der Netze
2210
143
135
324
322
32
ihrer
Besitzer
744
149
74
58
42
5
der mit den
Fang Be¬
schäftigten
813
39 6
265
191
152
der Antheil-
habenden
69
184
199
134
128
38
Im Ganzen .
Kreis: Onega.
Wolost: Kandskaja ....
Korsogorskaja . . .
Watschewskaja . . .
Kokorinskaja . . .
Purnemskaja . . .
3166
414
280
47
173
45
1072
160
132
94
40
15
1817
160
150
94
40
15
752
18
-Im Ganzen ,
959
441
459
18
Kreis: Archangel.
Wolost: Wosnesenskaja . .
1234
428
323
113
Patrakejewskaja . .
18
18
18
—
Im Ganzen .
1252
446
34 i
1 *3
In allen Kreisen zusammen .
5377
1959
2617
883
1 ÄaHiweBCtciÄ, O-raen» Bucoh. yTBepacA. SKcneAHUH* no n3arfcAOBaHiio pbitxwiOB-
CTBa h t, a. «>KypH, Mhh. Toc. Hatym.» 1873 .
* MaHeftKo, «CTaTHCTHnecKoe onHcanie cejitcicaro HacejieHia h ero npoMbim-
jieHBOCTa wb ApxaHr. 176.», 1875.
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61
V
Man sieht hieraus, dass die meisten Artelgenossen Netzebesitzer
sind; nur einige Woloste des Kem’schen Kreises machen insofern
eine Ausnahme, als in ihnen die Zahl der blossen Antheilhabenden
grösser ist.
Die Artele für den sonstigen Fischfang weisen nichts wesentlich
Neues auf. Wir beschränken uns deshalb auf die eben angeführten
und beenden mit ihnen auch die Reihe der unselbständigen Arbeiter-
Artele, wenngleich wir wissen, dass mit den Behandelten nicht alle
erschöpft sind. Es lag indessen auch nicht in unserer Absicht,
sämmtliche hierher gehörigen Artele Russlands einzeln aufzuzählen.
Unter die bestimmten, von uns bezeichneten Gruppen lässt sich jede
bestehende Gattung und Art zufolge ihrer Organisation und der öko¬
nomischen Bedingungen ihrer Existenz sehr wohl einreihen.
Wir gehen also jetzt zu den selbständigen Artelen über.
I. Jagd-Artele.
Die Jagd, eine der einträglichsten Erwerbszweige nicht nur des
nördlichen europäischen, sondern auch des asiatischen Russland,
kann ihrem Charakter nach nur schwer kooperatives Verfahren er¬
langen 1 . Aber so sehr ist dtr Charakter des Russen dem Artelwesen
zugeneigt, dass er es auch hier vorzieht gemeinsam zu handeln.
Freilich sind die Jagd-Artele das primitivste, was es in dieser Art
gibt: nichtsdestoweniger sind auch sie ein Zeugniss des merkwürdi¬
gen Genossenschaftssinnes und Triebes des russischen Stammes.
Jeder Jäger besitzt seine eigene Flinte, sein eigenes Pulver, Blei
u. s. w. In dem Augenblick aber, wo das Wild sich stellt, ist die
Vereinigung stillschweigend getroffen: sämmtliche Jäger, welche auf
dasselbe gejagt, erhalten von der Beute genau den gleichen TheiL
Wie wichtig das z. B. bei der Haselhühner-Jagd ist, leuchtet von
selbst ein. Nachdem die Beute getheilt ist, hört die Artel auf; sie
kann fortbestehen, aber ist nicht die Regel. Es kommt vor, dass
gewisse Gruppen eine ganze Jagdperiode zusammen durchmachen
und die Gleichheitsverhältnisse bleiben genau und streng dieselben:
es gibt keine Aeltesten, keine Obmänner und der schlechteste Jäger
steht in seinen Pflichten und Rechten dem besten durchaus nicht
nach. Diese vollständige Parität und die mehr als primitive Form
der Artel hat Manche veranlasst, überhaupt das Bestehen von Jagd-
1 Natürlich ist hier nicht von grossen Treib- und Herrenjagden die Rede. Bei ihnen
ist das Artelprinzip wohl möglich, wie dieses die Archangel’sehen Bären- und Wolfs¬
jagden zeigen.
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62
Artelen zu läugnen. Wir schliessen uns aber mit A. Jefimenko 1 der
entgegengesetzten Meinung um so eher an, als diese Artele eine
gewisse Geschichte aufzuweisen haben. Die Artele für die Jagd auf
Falkengeier und sonstige Vögel werden in den Akten der archäo-
graphischen Expedition namentlich schon früher erwähnt. Gegen
Ende des XIII. Jahrhunderts führen sie den damals üblichen Namen
«Watagi*, während später die noch heute gebräuchliche Bezeich¬
nung aufkommt. Damals stand ein Wataman an der Spitze, dessen
Aufgabe es war, die Jagd zu leiten, zu kontrolliren und in allen An¬
gelegenheiten ohne Ausnahme Richter und erstinstanzliche Behörde
der Watagganessen zu sein. Heute ist das einfacher, und wenngleich
die Jagdartelgenossen auf den Rath und die Vorstellungen des älte¬
ren Mannes wohl hören, so ist sein Antheil doch durch Nichts von
dem der Anderen unterschieden. Nur wenn er das Lager eines
Bären oder eines wilden Rennthiers aufgefunden, wird ihm um ein
Weniges mehr zugetheilt, als den übrigen Genossen. Die Jagd-
Artele entstehen mit dem Beginn der Jagd im September und ver¬
schwinden, wenn der tiefe Schnee die Fortsetzung der Jagd unmög¬
lich macht. Ueber ihre ökonomischen Verhältnisse hat bis jetzt
nur das Archangersche statistische Komite Nachricht gegeben —
von den sibirischen weiss man Nichts. Wir lassen die offizielle Ta¬
belle für Archangel folgen. Um aber die Bedingungen, unter
welchen der Ertrag sich ergibt, deutlicher hervortreten zu lassen,
sind auch die Preise für das Pulver und'die Zahl der am Orte anwe¬
senden Aufkäufer, wie auch die von ihnen angezahlten Preise ange¬
führt. Von der Jagd auf die sonstigen Thiere — ausser den Hasel¬
hühnern und Eichhörnchen — ist in der Tabelle deshalb abgesehen
worden, weil nur diese beiden den Hauptverdienst liefern: alles Andere
ist zufällig und kommt fast gar nicht in Betracht.
Kreise und Woloste
hl der "mit
der Jagd
schäftigten
reis eines
ares Hasel¬
hühner
'reis eines
hhörnchens
hl der Auf¬
käufer
'reis eines
ndes Pulvei
innahmen
ines jeden
Jägers
■M
B rt
B g
pj .s
cs c;
Ni M
CU rt
d
CU 0
W
cS
N
* a
r a.
W
c n Ul
Kreis Mesen:
Kop.
Kop.
Rbl
Koinaskaja . . . .
327
27
8
38
75
18,5
6049
Woshgorskaja . . .
319
20
8
5
75
12,5
3987
Ustzilemskaja . . .
287
28
9
19
85
13
3731
1 A. E^hmchko: Apxc-iu bt» Apxam*. ry6. CöopH. MaTcp. oöt» apTe-i., Bun, II,
CTp 99 ff.
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^3
Kreise und Woloste
Mochtschenskaja .
Leschukonskaja
Krasnoborskaja
Pyskaja . . . .
Kedwawomskaja .
Ustkoshwinskaja .
Juromskaja . . .
Pustoserskaja . .
Dorogorskaja . .
Pogorelskaja . *
Dolgostschelskaja .
Solotitzkaja . . .
Olemskaja . . .
Kreis Pinega:
Nikitinskaja . . .
Birjutschewskaja .
Jaruschewskaja. .
Timoschinskaja
Trufanogorskaja .
Leunowskaja . .
Michailowskaja
Sowpolskaja . .
Jurolskaja . . *
Podborskaja . .
Kreis Kem:
Kestenskaja . . .
Tungudskaja . #
Tetrinskaja . . .
Juschkoserskaja
Wytschetaibolskaja
Lapinskaja . . .
Olanskaja . . .
Zahl der mit
der Jagd
Beschäftigten
Preis eines
Paares Hasel-
£* hühner
V
Preis eines
Eichhörnchens
Zahl der Auf¬
käufer
[ W Preis eines
•§ Pfundes Pulver
Einnahmen
1 eines jeden
Jägers
po
er
Summe der
Einnahmen
233
27
IO
32
70
20
4660
210
30
9
—
74
12
2520
210
30
IO
15
89
8
1680
201
30
9
4
72
22
4420
194
25
IO
7
75
15
2910
121
30
IO
16
100
19
2299
92
30
9
2
100
IO
920
80
30
—
—
—
IO
800
61
30
9
2
77
6,5
396
45
30
9
—
77
8
360
4 i
30
IO
4
80
7
287
40
27
6
6
67
IO
400
37
28
IO
3
80
22,5
832
2498
-
36251
585
25
IO
12
90
14,8
8658
490
19
8
3
90
7
3430
259
22
IO
*3
100
12,5
3227
183
20
9
3
—
12
2196
170
30
IO
9
95
15
2550
162
31
IO
17
120
12
1944
134
18
8
5
76
40
5360
115
20
8
1
70
5
575
106
30
IO
4
75
> 4,7
1558
• 56
50
8
—
67
12
672
2260
30170
565
15
7
6
120
>5
8475
197
15
9
98
>2,5
2462
141
6
8
—
73
>,5
205
125
16
8
6
120
8
1000
122
19
8
18
90
10,5
1281
106
26
8
18
80
5,5
583
89
12
9
23
100
18
1602
' Digitized by
Google
6 4
Kreise und Woloste
Zahl der mit
der Jpgd
Beschäftigten
Preis eines
Paares Hasel-
£ hühner
V
Preis eines
Eichhörnchens
Zahl der Auf¬
käufer
[ W Preis eines
!•§ Pfundes Pulvei
Einnahmen
1 eines jeden
Jägers
11
C fi W
Rbl.
Woknawolozkaja . .
8l
IO
7
8
80
6 .
486
Pogoskaja . . . .
73
15
8
4
98
8-3
604
Massloserskaja . . .
64
18
8
7
90
10
640
Uchtinskaja ....
63
IO
9
iS
110
4
252
Njuchotskaja . . .
50
20
6
3
85
18
900
Ljetnekonetzkaja . .
So
18
8
.6
100
12
600
Tichtoserskaja . . .
48
12
9
—
100 ■
5
240
Pongamskaja . . .
37
11
7
7
90
9.5
351
Kusomenskaja . . .
32
7
6
—
—
8,5
272
Kolsko-Loparskaj a
24
15
5
—
IOO
4,5
108
Kondokskaja . . .
»5
10
9
S
95
15
225
Koleshemskaja . . .
2
25
—
1
82
5
10
1884
20296
Kreis Schenkursk:
Welikonikolajewskaja
292
20
8
.5
100
9
2628
Ustpadetiskaja . . .
251
18
9
13
85
9,8
2460
Predtetschenskaja
174
19
9
10
110
7
1218
Rostowskaja . . .
149
23
12
2
80
14,8
2205
Blagoweschtschenskaja
147
20
11
13
80
15,7
2308
Wlasjewskaja . . .
119
»9
9
6
200
13,5
1606
Kurgominskaja . .
90
20
9
9
—
9,5
855
Lipowskaja ....
79
19
9
S
75
8
632
Ustwashskaja . . *.
54
18
9
13
"5
4,1
222
Schachanowskaja . .
52
18
8
—
85
10
520
Smotrokowskaja . .
IO
18
8
2
1
iS
150
1417
14804
Kreis Cholmogory:
Petrowskaja ....
264
25
8
12
66
15
3960
Sselezkaja ....
78
20
8
4
90
15
1170
Jernetzkaja ....
69
20
8
24
80
11
759
Welikodworskaja . .
52
20
10
6
85
17
884
Medwedowskaja . .
50
20
10
4
85
15
750
Lomonossowskaja
-48
30
11 .
6
66
43 '
2064
Grigorjewskaja . . .
3 6
23
9
—
75
2
72
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65
Kreise und Woloste
Zahl der mit
der Jagd
Beschäftigten
Preis eines
Paares Hasel-
^ hiihner
V
Preis eines
Eichhörnchens
Zahl der Auf¬
käufer
I Preis eines
['S Pfund Pulvers
Einnahmen
1 eines jeden
Jägers
IW
.Summe der
Einnahmen
Kuschewskaja . . ,
34
20
8
12
66
15
510
Tschernjajewskogorskaja 28
25
8
2
80
IO
280
Satschatschjewskaja .
25
22
7
5
—
25
625
684
IIO74
Kreis Onega:
Mardinskaja . . .
121
40
9
40
«5
17
2057
Kjandskaja ....
102
18
7
12
86
t>
612
Kalgatschinskaja . .
85
18
8
5
100
12
1020
Batschewskaja . . .
53
20
7
4
80
15
795
Ssawinskaja ....
42
25
8
2
100
15
630
Purnemskaja . . .
40
16
7
3
72
5
200
Nawolozkaja . . .
29
20
7
5
100
IO
290
Possadnaja ....
28
25
7
3
80
14,5
406
Solotitzkaja ....
25
16
6
3
80
12
300
Kokorinskaja . . .
16
18
8
1
72
20
320
Kirilowskaja . . .
IO
20
8
1
100
12
120
S 5 i
6750
Kreis Archangel;
Sjusereskaja . . .
77
25
6
—
75
11
847
Ljawlenskaja . . .
4 i
27
6 7 »
—
63
15
615
Patrakejewskaja . .
35
25
12
4
67
6
215
Kechotskaja . . .
3 i
22
9
68
20
620
Tschasowerskaja . .
30
30
9
3
68
15
450
Solömbalskaja ...
28
25
8
67
16
448
Wosnesenskaja. . .
24
*5
8
—
17
40
960
Jarenskaja ....
20
20
IO
3
78
IO
200
Rikasowskaja . . .
IO
VS
7
15
150
296
4505
Stellt man die Summen der
einzelnen Kreise zusammen, so
ergibt
sich, dass im Kreise
Mesen smd . . . .
Pinega c . . . .
Boss« ßevne. Bd. IX.
Jagd-Artel-
genossen
Rbl.
. . 2498 mit einer Einnahme von 36,251
♦ . 2260 « « c «30,170
5
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66
Kern
sind .
Jagd-Artel- RfcL
genossen
. . . 1887 mit einer Einnahme von 20,296
Schenkursk
«
. . . 1417 € €
«
c 14,804
Chölmogory
c
. . . 684 « «
c
« 11,074
Onega
«
... 55 1 c *
<r
« 6,750
Archangel
«
. . . 296 * «
€
« 4,505
9593
123,850
Hieraus folgt, dass 4 pCt. oder *25 der ganzen Bevölkerung des
Gouvernements sich an den Jagd-Artelen betheiligten und dass im
Durchschnitt auf jeden einzelnen Genossen 12 Rbl. 90 Kop. kommen.
(Schluss folgt.)
Yorbericht über die Lena-Olenek-Expedition.
Von
A. Czekanowski l .
In meinem Bericht über die Expedition an den Olenek vom Jahre
1874 hatte ich die Absicht ausgesprochen, während des Sommers
1875 die Niederungen der Lena und des Olenek zu besuchen. Ich
führte diese Absicht aus. Mein Unternehmen ward von Erfolg ge¬
krönt und die gesammelten Materialien wurden unversehrt aus dem
weiten Norden gebracht. Deshalb halte ich es geeignet jetzt einen Vor¬
bericht über den Zweck, den Gang und die Hauptresultate meiner
Lena-Olenek-Expedition zu veröffentlichen. Die Olenek-Expedi-
tion der kaiserl. russischen geographischen Gesellschaft hatte den
äussersten Norden schon auf dem Winterwege erreicht. Dieser
Umstand, verbunden mit einigen anderen, machte in mir den Wunsch
rege, dieselben Gegenden noch irgendwann — aber zu einer, für
Untersuchungen günstigen Zeit aufzusuchen. Mit diesem Gedanken
kehrte ich von der Mündung des Olenek zurück. Da traf mich in
Jakutsk die Nachricht, dass die geographische Gesellschaft die Unter¬
suchung der Flüsse Anabara und Chatanga angeordnet und ange-
4 H3ötcTia Hiin. Pycc. Teorp. OömecTBa. T. XII., pag, 161 ff.
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6 ;
sichts dessen die Dauer meiner Expedition noch um ein Jahr ver¬
längert habe. Auf diese neue Expedition hatte ich mich sofort von
Jakutsk aus zu begeben. Wie schmeichelhaft nun auch diese Auf¬
merksamkeit des Konseils der Gesellschaft sein musste und wie
wünschenswerth für mich selbst die Erforschung der eben genannten
Flusssysteme war, so konnte ich doch nicht für den Ausgang der
Expedition in der Gestalt, wie sie beordert wurde, bürgen, weil ich
inzwischen alle jene Umstände kennen gelernt hatte, von welchen
der Erfolg wissenschaftlicher Untersuchungen im Norden abhängig
ist. Die Realisation meines Wunsches noch einmal den Norden zu
besuchen, musste ich auf eine für mich günstigere Zeit aufschieben;
aber einige unvorhergesehene Umstände veranlassten mich mit der
Ausführung zu eilen.
Die Fragen, welche mich zu einer nochmaligen Reise in den
äusersten Norden Sibiriens zogen, entsprangen meinen vorherge¬
henden Untersuchungen.
Bekanntlich war einer der ersten Beweggründe zur Ausrüstung der
Olenek-Expedition die wissenschaftliche Bedeutung der Frage über
das genaue Alter der mesozoischen Ablagerungen des Nordens von
Sibirien. Auf deren Vorhandensein hatten die Versteinerungen hin¬
gewiesen, welche zu verschiedenen Zeiten aus dem Taimyr-Gebiete,
den neusibirischen Inseln, vom Flusse Olenek und aus der Ebene
des Jenissei eingegangen waren. Dieses Verzeichniss der Ortschaf¬
ten bekundete es deutlich, dass die erwähnten Ablagerungen im
Norden Sibiriens recht bedeutend entwickelt sein müssen. Nichts¬
destoweniger war bisher das Vorkommen dieser Schichten nur an
einer Stelle bekannt, welche Hr. Lopatin bei der Mündung des
Jenissei entdeckt hatte. Andrerseits klärte sich, trotz des allmäligen
Zuwachses des paleontologischen Materials, die Frage über das Alter
dieser Ablagerungen, welche sich unter Anderem durch den Gehalt
von Ceratiten und Inoceramen charakterisirten, nicht nur nicht end¬
gültig auf, sondern komplizirte sich dermaassen, dass zu ihrer Lö¬
sung spezielle stratigraphische und paleontologische Untersuchungen
derjenigen Orte nöthig schienen, an welchen das Anstehen solcher
Schichten vermuthet werden konnte. Zu solchen Ortschaften gehörte
das System des Olenek. Auf eine desfallsige Proposition des Aka¬
demikers Fr. Schmidt wurde denn auch die Expedition abkom-
mandirt.
Die Olenek-Expedition zog vom Flusse Tunguska (Kreis Kirensk)
aus. Ihi* stand ein weiter Landweg bis zu dem oberen Theile des Ole-
5 *
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68
nek bevor. Die Reise war aber rechtzeitig unternommen und recht¬
zeitig war der Polarkreis erreicht worden. Aber da die Expedition
dort keine Bewohner fand, wo sie vollen Grund hatte, welche zu
erwarten, so verirrte sie sich und kam an das System des Chatanga.
Als darauf der Olenek endlich gefunden wurde, war viel kostbare
Zeit dahingegangen. Ueberdies erforderte der wider Erwarten lange
Lauf des Flusses mehr Zeit, als man bestimmt hatte. Freilich
wurde dieser Zeitverlust durch recht ansehnliche Erwerbnisse auf¬
gewogen, welche die Expedition, unter Theilnahme des Astronomen
Hm. Miller in einer bis dahin ganz unbekannten Gegend, machte —
aber der untere Theil des Olenek konnte doch nicht rechtzeitig erreicht
werden. Es war der Expedition durch diesen Zeitverlust sogar un¬
möglich geworden aus dem Gebiete der gleichartigen silurischen
Schichten hinauszutreten, welche, wie es sich erwies, längs dem
Flusse, sich bis zur nördlichen Waldgrenze erstreckten. Deshalb
gelang es ihr auch nicht den Erwartungen zu entsprechen, welche
man in Bezug auf die Untersuchung der mesozoischen Ablagerungen
längs dem Olenek gesetzt hatte. Nur soviel konnte festgestellt wer¬
den, dass diese Schichten das Thal nur am unteren Laufe des Flusses
zusammensetzen.
Einigermaassen als Ersatz dafür hat die Expedition gleichwer-
thige Materialien aus einer anderen Ortschaft, nämlich aus der Um¬
gegend der Stadt Werchojansk, heimgebracht. Schon längst hatte
ich darüber Nachricht, dass dort fossile Reste in den Abzweigun¬
gen des sich hier weit ausbreitenden Werchojanskischen Berg¬
rückens befanden und wirklich gelang es mir, ungeachtet der spä¬
ten Jahreszeit eine Kollektion zusammenzustellen, deren Studium
zu interessanten Resultaten führte.
Bekanntlich ist der Bestand des Werchojanskischen Gebirges
recht ausführlich durch Meglitzky beschrieben, der dort auch Ver¬
steinerungen gefunden hat, welche nach ihm zur Steinkohlenperiode
gehören. Meine Untersuchungen führten zu ganz anderen Schlüssen.
Schon auf dem Wege, den ich vom Norden nach Werchojansk zurück¬
legte, fiel es mir auf, dass die mesozoischen Schichten augenschein¬
lich keinen anderen Platz machen, während doch die von mir gefun¬
denen Fossilien aus Gesteinen stammten, welche den Werchojansker
Gebirgsrücken zusammensetzen und offenbar jenen gleich sind,
welche Meglitzki beschrieb. Deshalb schickte ich, gleich nach meiner
Ankunft in Irkutsk meine Ausbeute an den Akademiker Schmidt
mit der Bitte, mir seine Meinung über das Alter dieser Ablage-
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6 5
rungen mitzutheilen. Ich fügte hinzu, dass ich Grund habe zu ver-
muthen, dass die Gesteine nach ihrer Lagerung denjenigen gleich
sind, welche im Unterlaufe des Olenek Vorkommen. Die Antwort des
Hrn. Schmidt lautete: «Die Werchojanskischen Muscheln sind iden¬
tisch mit der Trias Spitzbergens; die Olenek’schen wahrscheinlich
ebenfalls».
Es folgt hieraus, dass die Olenek-Expedition, erstens, das Irrthüm-
liche an den Ansichten über das Alter der Gesteine des Wercho¬
jansker Gebirges, berichtigt, dann aber auch bewiesen hatte, dass
die mesozoischen Ablagerungen des Nordens von Sibirien einen
bedeutend grösseren Raum einnehmen, als man bjs dahin vermuthet
hatte. Endlich gelang es der Expedition so viel .Material zu be¬
kommen, dass mag hiernach auf das Alter der Formation sicher
schliessen 1 und sie sogar mit der von Spitzbergen indentifiziren
konnte. Auf diese Weise hatte die Olenek-Expedition einen äusserst
wichtigen Beitrag zur Frage über das Alter der mesozoischen Ab¬
lagerung geliefert.
Jetzt aber eröffneten sich meinem Blicke andere "Seiten dieser
Frage, welche eine fortgesetzte ausgedehntere Untersuchung wün¬
schenswert erscheinen Hessen.
Schon die Sammlung weiteren Materials zur Bestätigung der eben
aufgetauchten Identifikationsfrage war eine Aufgabe, die diesen
Wunsch rechtfertigen musste. Nun waren mir aber auch die Gesteine
vom Olenek, quer über die Lena bis Werchojansk, bekannt, und sie
boten in ihren Eigenschaften viel Gemeinschaftliches mit Ablage¬
rungen, welche mir auf anderen, im geologischen Sinne nicht beson¬
ders entfernten Gegenden, bekannt waren; dazu kamen auch noch
literarische Hinweise aus früheren Jahren, und auch manche von mir
selbst durch Erkundigung eingezogene Nachrichten. Alles dies
bot Stoff genug zu einer Aufgabe, welche sogar eine besondere
Expedition genügend beschäftigen könnte. Als Ausgangspunkt für
meine Betrachtungen galt der Steinkohlengehalt der Gesteine. Slo-
bin hat solche Ablagerungen längs dem ganzen Laufe der Lena
unterhalb Jakutsk nachgewiesen und für eine geräumige Strecke
oberhalb Jakutsk hat sie Meglitzky festgestellt. Hierbei berück¬
sichtigte ich auch die steinkolenhaltigen Ablagerungen, an denen
der sibirische Kontinent so reich ist. Insbesondere lagen mir nahe
1 Unter den von mir gefundenen Muschelschalen überwiegt nach den Bestim¬
mungen des Akademikers Schmidt die Monotis salinaria, eine in der Trias sehr
verbreitete Art,
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7 o
die Ablagerungen in* der Umgegend Irkutsk’s,, in welchen ich reich¬
liche fossile Reste fand, nach denen schon auf den ersten Blick die
frühere Meinung hinfällig schien, welche diese Schichten zur Stein¬
kohlenperiode brachte. Diese fossilen Reste sind bis jetzt noch
nicht bearbeitet; ihr Alter ist noch nicht endgültig festgestellt; man«
weiss nur, dass sie mesozoisch sind und dass sie der Ablagerung —
speziell der .um Irkutsk entwickelten — den Charakter einer Süss-
wasser-Bildung verleihen. Wenn nun aber in den Gewässern des
Kontinents eine so bedeutende Anzahl von Landpflanzen begraben
lag, wie man sie z. B. in den Gesteinen der Umgegend von Irkutsk
trifft, so durfte man ja annehmen, dass die fliessenden Gewässer jener
Zeiten solche Reste mit sich auch in das Meer geführt haben können.
Werden sich nun in dieser marinen Ablagerung, welche ich im Nor¬
den sah und die nach Slobin die Lena aufwärts so entwickelt ist,
nicht auch fossile Reste einer Landflora finden? So gestaltete sich
die Frage und man konnte sie noch weiter ausdehnen, indem man
in Betracht nahm, dass kohlenhaltige mesozoische Ablagerungen mit
Pflanzenresten ausser in der Umgegend Irkutsk’s auch noch gefun¬
den werden längs dem Amur, in Transbaikalien, längs dem Witim
und an den Niederungen des Jenissei, und dass sie nach den bis jetzt
vorliegenden Nachrichten unter einander identisch sind l .
In Folge dessen wollte ich noch einmal die Lena unterhalb Ja-
kutsk durchforschen und hierauf die Niederungen des Olenek be¬
suchen. Aber um Wiesen neuen Rayon auch längs der Lena mit den
Ortschaften zu verbinden, welche ich schon früher studirt hatte — der
Baikalgegend, Unt. Tunguska und ein Theil des Olenek — und die
ich schon unter einander durch Beobachtungen im Bezirk von Kirensk
verbunden hatte," beabsichtigte ich auch der Gegend zwischen Ki¬
rensk und Jakutsk einige Aufmerksamkeit zu schenken.
Es musste mir deshalb wünschenswerth erscheinen, die Lena bis
zur Mündung zu verfolgen und falls sich das als möglich erwies,
vom Meere aus in den Olenek zur Erforschung seiner Niederungen
einzudringen. Eine solche Reise hätte mich auch in den Stand ge¬
setzt, eine botanische und entomologische Kollektion der nördlichen
Tundra zusammenzustellen. Nachdem ich den Plan entworfen und
die Möglichkeit ihn auszuführen erhalten hatte, hielt ich es für meine
1 So lag mir die Frage vor, als ich mich zur Reise rüstete. Jetzt ist es mir
bekannt, dass Hr. Prof. Oswald Heer die Fossilien von Irkutsk und des Amur bear¬
beitet. Sein Werk soll baldigst erscheinen. Nach der Meinung des Hern. Prof. Heer
ist das eine der reichsten Floren der Periode des braunen Jura.
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n
*
Pflicht das Verwaltungskomite der sibirischen Abtheilung von mei¬
ner Reise in Kenntniss zu setzen. Das Komite legte mir keine Pflich¬
ten auf; es versah mich mit einem offenen Schreiben und einer
Krons-Podoroschnaja \
Am i. Mai beabsichtigte ich aus Irkutsk aufzubrechen; aber ein
plötzliches Unwohlsein und sonstige von mir nicht abhängige Um¬
stände hielten mich bis zum 15. auf. In dieser Zeit gelang es mir
einen thätigen Reisegefährten, den Hm. S. J. Wenglowskij, zu ge¬
winnen.
Am 15. verliessen wir Irkutsk und schon am i.Juni waren wir
in Jakutsk. Ich unterliess es nicht mich dem Gouverneur, dem
Hrn. P. de Witte vorzustellen und seine Aufmerksamkeit sicherte
den glücklichen Ausgang unserer Expedition.
Die Sorge für die definitive Ausrüstung hielt uns in Iakutsk einige
Tage auf. Ich benutzte diese’Zeit um mich mit den Umgegenden
der Stadt bekannt zu machen. Bei einer solchen Exkursion be¬
suchte ich das Skopzen-Dorf Marcha. Hier hatte ich genug Grund
mich über den Erfolg und die Ausdehnung des Ackerbaues in einer
Gegend zu wundern, die noch vor Kurzem nach der Meinung von
Autoritäten wenig Aussichten auf Gelingen eines regelmässigen und
einträglichen Kornbäues bieten sollte. Ebenso interessant war die
in der Nähe von Jakutsk theils entstehende, theils sich weiter ent¬
wickelnde Bienen-, Schaf- und Pferdezucht.
Am 7. Juni brachen wir auf. Wir reisten in einem vorzüglichen
Postboot, einem sogenannten Dewjaterik. Ein Kosak, ein Lootse
und zwei Ruderer — waren unsere Gefährten. Man hatte uns
viel von kontrairen Winden erzählt; aber nichtsdestoweniger konnten
wir, gestützt auf die Ansichten gewichtiger Fachmänner, den I. Juli
als äussersten Termin für die Ankunft in Bulun bezeichnen. Es
schien demnach, als ob ich genügend Zeit habe für die Erforschung
der Tundra. Aber der Charakter des Sommers, die unerhört hef¬
tigen Winde täuschten alle Berechnungen, so dass wir am 1. Juli
erst in Shigansk waren. Von hier an wurde die Fahrt sehr mühevoll,
ja sogar gefährlich. Das Kreuzen, das Laviren, das Stillstehen
brachte es dahin, dass wir erst am 26. Juli in Bulun eintrafen. Aber
da die Winde nicht nachliessen, so konnten wir nicht darauf rechnen
zu Wasser rechtzeitig die äusserste Mündung der Lena zu erreichen.
Und es fing schon an kalt zu werden, denn am 15. August beginnen
1 Reisepass, welcher dem Inhaber Pferde etc. verschafft.
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7 2
gewöhnlich die Fröste. Deshalb brache^ wir nach Ajakit—25 Werst
unterhalb Bulun, —auf. Von dort aus wollten wir auf Rennthieren
weiter gehen. Schon am 31, Juli verliessen wir Ajakit und trafen bald
in der grossen nördlichen Tundra ein, welche in allen ihren Einzel¬
heiten einen scharfen Kontrast zur flachen Tundra Westsibiriens bil¬
dete. Langsam schritten wir in kurzen Tagemärschen vor, um auf den
Halteplätzen mehr Zeit zu Exkursionen zu haben. Am 19. August
erreichten wir den Olenek und am 26. waren wir an seiner Mündung,
in der Nähe des Grabes von Prontschischtschew. Hier wäre die
Aufgabe meiner Expedition eigentlich zn Ende gewesen. Aber ich
konnte nicht umhin, den Wunsch zu befriedigen auch am offenen
Eismeer zu verweilen. An der Mündung des Olenek war das Meer
durch ein unbedeutendes Delta verdeckt. Deshalb gingen wir mehr
nach Osten zum Vorgebirge Krestowoi. Auf dem Wege zu diesem
Vorgebirge hatte ich Gelegenheit das Meer an drei Stellen zu sehen,
was für meinen Zweck, die Erforschung der gegenwärtigen Ufer¬
bildung, auch genügend war.
Von dort kehrten wir zum Olenek zurück. Wir versorgten uns
dort mit der nöthigen Winterkleidung und brachen am 6. Sep¬
tember zur Lena auf, die wir in Bulun am 18. September erreichten.
Als wir die Tundra betraten, trugen wir uns mit ernstlichen Be¬
fürchtungen: die Jahreszeit war vorgerückt und die dortigen Meteo¬
rologen gaben uns die untröstlichsten Prophezeihungen auf den
Weg. Aber es kam anders. Freilich begrüsste uns die Tundra
mit einem kräftigen Reif; doch herrliche, warme, klare, wolken¬
lose Tage folgten ihm. Die Winde hörten nicht auf und nur ihre
Richtung hatten sie geändert. Die Vegetation war in der offenen
Tundra zu Ende; aber in den tiefen, malerischen Thälern der
Flüsse, welche die Tundra durchschneiden, zeigte sich die Flora in
allen Altersstufen. Und die wenigen Schneestürme hatten auf dieses
Wachsthum keinen Einfluss, so dass bis zum 27. August unser
Herbarium sich beständig vervollständigte. Erst von da ab wurden
die Schneestürme und der Frost stärker und als dann wieder wär¬
mere Tage eintraten, war die Flora getödtet und nur noch einzelne
Insekten regten sich um die warme stille Mittagszeit. .Und noch
am 14. September konnte ich unter 71 ^2 0 n. Br. Ephemera und
Phryganeae sehen.
Bewohner trafen wir nicht auf dem ganzen Wege von der Lena
bis zum Olenek. Am Olenek und weiter am Ufer des Meeres war
die Gegend weniger einsam: die herannahende Winterkälte zwang
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73
einige Familien aus der Tundra ins Flussthal überzusiedeln; denn dort
ist Heizmaterial genug vorhanden. Am Meeresufer dauert der
Fischfang bis zum Spätherbst und an Holz ist auch hier kein Mangel.
Durch ihre Freundlichkeit und Dienstfertigkeit nehmen diese Kinder
der Tundra alle Reisenden für sich ein; wir unterliessen es nicht
mit ihnen näher bekannt zu werden.
Alle diese Umstände zusammengenommen lassen es natürlich
erscheinen, dass wir von der Tundra angenehme Eindrücke empfin¬
gen und die Zeit vergassen, welche wir an der Lena durch widrige
Winde verloren.
In Bulun mussten wir den Winterweg abwarten. Darauf ging uns
fast ein ganzer Monat hin. Am u. Oktober war endlich die Lena
zugefroren. Am 16. verabschiedeten wir uns von Bulun; am 27.
erreichten wir Werchojansk, am 15. November waren wir in Jakutsk
und am 20. Dezember endlich in Irkutsk. In 7 Monaten hatten wir
in runder Zahl 11,000 Werst zurückgelegt.
An Materialien brachten wir mit:
I. Topographische: a) Aufnahme unserer Marschroute. Sie ist
geführt längs der Lena von Jakutsk bis Ajakit; hierauf geht sie
quer durch die Tundra bis zum Olenek, und von dem Orte, wo wir
auf diesen Fluss stiessen, bis zu seiner Mündung. Diese Aufnahme
lässt sich fixiren durch die astronomischen Punkte, welche theils
durch Hm. Angeou, theils durch Hrn. Miller bestimmt sind. Es sind
dies an der Lena: Shigansk, Goworow, Siktjach, Bulun; am Olenek:
Boljkalak. b) Zugleich mit diesen topographischen Daten ist auch
die geognostische Marschroute geführt worden, c) Eine paleonto¬
logische Sammlung längs der Lena, in der Tundra, im Thale des
Olenek und in Werchojansk zusammengestellt. Sie zählt mehr als
1500 Exemplare von Conchytien ünd Pflanzen, welche an 24 Fund¬
orten gesammelt worden sind. Den Kern der Sammlung bilden Cera-
tites und Inoceramus, welche zwei stratigraphisch verschiedenen
Schichten angehören, von denen die eine noch weitere Unterab¬
theilungen zulässt. Aus dem weiteren Bestände der Sammlung sind
als neu für die fossile Fauna Ostsibiriens zu nennen: mesozoische
Spirifer-, Orthoceras- und Saurier-Reste. Ich kann nicht umhin,
dieser Sammlung ein vielseitiges wissenschaftliches Interesse zuzu¬
sprechen. Ihrer Zahl und ihrer Abstammung aus verschiedenen
Niveaus der mesozoischen Ablagerung wegen verspricht sie end¬
gültig die Frage über das genaue Alter dieser Ablagerung des
nördlichen Sibiriens in ihrer ganzen bis jetzt bekannten Mächtigkeit
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74 _
zu entscheiden. Andererseits gibt sie durchaus keinen Anhalt, auch
noch fernerhin zu behaupten: es seien an der Lena unterhalb Jakutsk
Repräsentanten der Steinkohlenepoche entwickelt. Ferner ermög¬
licht diese Sammlung, sich definitiv auszusprechen in der Frage über
die Identität der Gesteine des Werchojansker Gebirges mit den
jenigen des unteren Olenek-Gebietes. Ueberdies bezeugt diese Samm¬
lung, dass Schichten mit Inoceramen auch an der Lena entwickelt
sind; es wird hierdurch die Lenagegend mit der fernen Mündung des
Jenissei verbunden. Endlich werden Reste von Landpflanzen, welche
aus marinen Schichten entnommen wofden sind, 'hoffentlich viel zur
Klärung der Frage beitragen: in welchem Grad eine Verwandt¬
schaft zwischen den im Norden entwickelten kohlenhaltigen mari¬
nen Ablagerungen und den kontinentalen, mesozoischen kohlen¬
haltigen Bildungen existirt.
Zum Schluss muss ich noch über die Beobachtungen referiren,
welche ich längs der Lena, oberhalb Jakutsk angestellt habe.
Dieselben widerlegen die Ansicht, nach welcher zwischen Olekminsk
und Jakutsk der Bergkalk entwickelt ist. Der hier vorkommende
Kalkstein scheint ein Equivalent der rothen Sandsteine zu sein,
welche im N. Udinskischen, Balanganskischen, Wercholenskischen
und Kireskischen Bezirke, sowie auch an der Unt. Tunguska ent¬
wickelt sind. Das Alter dieser Ablagerung muss einstweilen nach
den längst bekannten Fossilien von Kriwolutzk festgestellt werden»
da meine eigene Ausbeute noch nicht bestimmt ist. Sie stammt aus
den rothen Gesteinen der Unt. Tunguska l ; theilweise auch von der
Angara. Zu diesen sind jetzt noch einige von der Lena hinzuge¬
kommen.
II. Die botanische Sammlung zählt 3000 Nummern. Sie ist auf
der Strecke von Jakutsk bis zur Mündung des Olenek vom 62°
bis zum 73 0 n. Br. zusammengestellt. Diese Sammlung ist eine
Fortsetzung der von mir auf früheren Expeditionen schon zusammen¬
gesetzten Kollektion, welche mit dem 56° begannen.
III. Die entomologische Kollektion, welche fast ausschliesslich
durch Hrn. Wenglowski zusammengestellt ist, umfasst dieselbe
Strecke, wie die botanische Sammlung dieses Jahres und zählt 7000
Nummern.
1 Herr Akad. Schmidt theilte mir mit, dass der belgische Geologe Dupont bei seiner
Anwesenheit in St. Petersburg (1874) bei der Besichtigung meiner Tunguskaschen
Kollektion einige devonische Arten gefunden hat, welche mit den belgischen iden¬
tisch sind,
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_ _ 75_
Zum Schluss dieses Berichtes halte ich es für meine Pflicht allen
Personen, welche mir bereitwilligst zur Verwirklichung meiner Reise
ihren Beistand gewährten, meinen herzlichsten Dank auszusprechen.
Vor Allen Dingen zolle ich denselben den Hrn. P. Unterberger,
N. Hartung und meinem Reisegefährten S. Wenglowskij.
Der russische Pelzhandel *.
Die Geschichte des russischen Pelzhandels zerfällt in drei Perioden.
Während der Kijew’schen erblüht der reine Export. In der Mos-
kauischen wird derselbe so stark, dass die gewöhnlichen Quellen des
Rohmaterials nicht genügen. Mit dem Beginn der St. Petersburger
Periode erkeimt der Import an Pelzwaaren und steigert sich von
Jahr zu Jahr.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen dürfte die folgende detai-
lirte Schilderung der Entwickelung des russischen Pelzhandels be¬
greiflicher sein.
Das alte, waldige Russland hatte einen Ueberfluss an Rohmaterial
von Thieren, dessen vollen Werth erst eine höhere Kultur und ver¬
feinerte Lebensweise zu erkennen vermochte. Pelzwaaren behaup¬
ten deshalb einen der ersten Plätze in dem zu Ende des IX. Jahr¬
hunderts aufkeimenden Exporthandel, welcher seinen südlichen Aus¬
gangspunkt in Kijew und seinen nördlichen in Gross-Nowgorod
hatte. Nach Griechenland, Chasarien und in das entfernte Syrien
zogen russische Kaufleute auf ihren kleinen, aus Baumstämmen ge¬
höhlten Böten. Sogar mit den Bulgaren wurden Verbindungen an¬
geknüpft. Ein arabischer Geograph des X. Jahrhunderts, Ebn-
Haukal, erzählt, dass «russische Leute* scythische Zobel und
schwarze Marderfelle in die Bulgarei gebracht hätten. Aehnliche
Zeugnisse erhalten wir in Bezug auf den nordischen Handel von
anderen Autoren. Stahr berichtet in seiner «Hist. reg. septentr.»,
dass skandinavische Kaufleute von den Russen Felle gegen Produkte
ihrer Arbeit erhalten hätten und dass ein beständiger Verkehr zwi¬
schen ihnen angebahnt sei, welcher in Nowgorod seinen Mittel¬
punkt habe.
1 Aus einer preisgekrönten Arbeit in russ. Spr, von C. Gruenwaldt.
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76
An diesem Handel mussten sich selbst die Fürsten betheiligen, da
sie den Tribut und die Steuern in Fellen bekamen und so dieselben
gegen ihnen nothwendige Materialien zu vertauschen genöthigt
waren.
Dieser Umstand und das schon beim internationalen Verkehr ge¬
bräuchliche Tauschen machten das Fell zu einer Wertheinheit. Es
wurde zerlegt und die einzelnen Theile desselben dienten dem täg¬
lichen Leben als kleine Münze. Nichtsdestoweniger war der Tausch¬
handel schwierig und formenreich und musste, da das Fellstück einen
Werth bezeichnete, welchen es selbst nicht hatte und der bei
jeder Gelegenheit auf’s Neue deutlich gemacht wurde, durch gegen¬
seitige Bestimmungen und Normen geregelt werden. Deshalb be¬
mühten sich auch die Fürsten des X.—XIII. Jahrhunderts, den Handel ,
sowohl innerhalb, als ausserhalb des Landes die möglichsten Er¬
leichterungen durch Verträge, durch nicht zu grosse Steuerbelastung,
regen Schutz angedeihen zu lassen. Denn es lag ihnen-vor Allem
daran — und es ist das ein charakteristischer Zug der Handelspolitik
Russlands schon in der Kijew’schen Periode — den Handel ausser¬
halb aller politischen Streitigkeiten zu lassen. Wenn dann auch an
manchen Orten grössere Zwistigkeiten unabwendbar waren, so durf¬
ten sie doch keinen Einfluss auf das Ganze des Handels haben.
1216 erschlug man in dem berühmten Biarmia (Perm) den skandina¬
vischen Kaufmann Helge Bogransen, da in einer schwebenden Frage
keine Einigung zu erzielen war. Diese Lynchjustiz wurde von Now¬
gorod, der Mutterstadt Perm’s, den Norwegern mit Grauwerckfellen
vergütet. Swen IV. aber, welcher nicht so leicht abgefunden wer¬
den konnte, kaperte einige russische Schiffe und deren reiche La¬
dung an Fellen, Pelzen etc. Damit war jedoch Alles abgethan und
nach solchen kurzen, drastischen Episoden ging Alles wieder sei¬
nen Weg.
So schien es, als ob dem Pelzhandel keine andere Gefahr drohe,
als vielleicht ein nach Jahrhunderten zu erwartender Mangel an Ma¬
terial, welches für’s Erste noch in unerschöpflicher Fülle sich dem
sicheren Bogen darbot. Doch ehe noch diese Gefahr ihren Mahn¬
ruf erhob, hatte der steigende Verkehr eine Krisis heraufbeschwo¬
ren, welche eine Zeit lang alle Verhältnisse zu erschüttern drohte.
Schon beim Beginne der Moskauischen Periode war nämlich Gold
und Silber in Menge eingeführt worden, welches nur zu bald die
früheren Werthzeichen, die Pelzstücke, in den Hintergrund drängte
und sie als Münze vollständig jeden Werthes beraubte, Tschulkow
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77
berichtet in seiner umfangreichen «Geschichte des russischen Han¬
dels» von den bedeutenden Kalamitäten, welchen dieser, wenngleich
nicht plötzlich hereinbrechende Wechsel der Geldarten hervorge¬
rufen. Den Pelzhandel musste dieser Stoss um so empfindlicher
treffen, als die Entwerthung des früheren Geldes auch eine Entwer-
thung der ihm zu Grunde liegenden Waare zur Folge hatte.
Aus dieser bedrängten Lage riss den Pelzhandel der Strom rasch
eindringender Ereignisse. Neue Ausfuhrpunkte werden dem Han¬
del eröffnet und mit der ihm eigenen Elastizität wendet sich der
russische Pelzhändler ihrer Exploitation zu.
Perm, welches an der Grenze eines an Rauchwaaren reichen Lan¬
des liegt, hatte den ganzen Handel mit den uralischen und sibiri¬
schen Stämmen schon in frühester Zeit an sich gerissen. Die Ver¬
einigung dieser Stadt und seihes Gebietes mit dem russischen Reiche
musste deshalb für letzteres von bedeutendem Vortheil sein. Da
friedliche Präliminarien zu nichts führten, so beschloss Joann III. die
Stadt sich unterthan zu machen. Der Knjas Fedor Pjestri führte
1472 den Auftrag des Zaren aus und nöthigfe den dortigen Fürsten
Michail zu einem Tribut von 16 Vierzigern schwarzer Zobel (1 Bund
von 40 Fellen), einen ebensolchen Pelz etc. Damit war sämmtlichen
russischen Kaufleuten die Möglichkeit eines freien Verkehrs mit
einer schon seit Jaroslaw I. bekannten Gegend gegeben. Doch bald
sah die Regierung und Kaufmannschaft ein, dass das nur eine halbe
Maassregel sei. Sollte der russische Pelzhandel wirklich erblühen,
so musste auch Nordwestsibirien botmässig werden. Nach kurzem
aber gewaltigen Kampf ward denn auch Joann’s Macht über dieses
Jugor'sche Land befestigt. Das gab dem Pelzhandel einen unge¬
ahnten Aufschwung, merkwürdigerweise ohne die Preise und das
Ansehen der den Markt überschwemmenden kostbaren Pelzwaaren
zu schwächen. Noch immer gelten sie als das Beste und Schönste,
welches man fremden Regenten zu bieten im Stande ist. Joann III.
schenkt dem König Maximilian 80 Zobel, 3000 Grauwerckfelle, einen
solchen und einen Hermelinpelz, dem Gesandten dieses Fürsten
aber, Poppel, 120 Zobel zu je 30 Dukaten. Für einen Zobel be¬
zahlte man um jene Zeit 20—30 Goldflorin, für einen Schwarzfuchs
iS, für Hermelin 3—4 Florin und für ein Grauwerck 2 Dengi. Fra
da Nollo schätzt einen guten Zobel sogar bis auf 100 Dukaten.
Diese Preise zahlte man übrigens gerne, gleichsam als Entgelt für
die Mühen und Gefahren, welche die Kaufleute nach wie vor beglei¬
teten. Denn die asiatischen Stämme hielten ihre Versprechungen
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7 8
und Verträge nicht und Hessen nicht ab, russische Kaufleute und
Jäger zu verfolgen. Natürlich ward dadurch die Lage der Russen
in den nicht unterworfenen Gegenden noch viel gefährlicher. Und
obgleich der sibirische Fürst Jediger es für räthlich hielt, Joann IV.
1555 seine Ergebenheit auszudrücken, ihn als Herrn von ganz Sibi¬
rien anzuerkennen und ihm von jedem der 307,000 Einwohner des
Landes zu je einem Zobel und einem Eichhörnchen zu versprechen,
so änderte das in der Sache nichts. Der nach dem Tribut gesandte
Bojar Dmitri Korow erhielt 700 Zobel, die Kaufleute wurden misshan¬
delt und ausgeplündert, Perm nach wie vor durch Ueberfälle belästigt.
Es blieb der Regierung, da Wichtigeres ihre Kräfte vollständig ab-
sorbirte, nichts anderes übrig, als die Kaufleute zur Selbsthülfe auf¬
zufordern. Rasch gingen denn auch die Vornehmsten unter ihnen,
die Stroganow, an’s Werk. In Verbindung mit dem Kosakenführer
Jermak besiegten sie den Nachfolger Jediger’s, Kutschum, und am
23. Oktober 1581 hatte Russland endgültig Sibirien in seiner Gewalt.
Nie war denn auch das Angebot von Pelzwerk so gross, als in den
diesen Ereignissen folgenden*Jahren. Nach Karamsin sind um diese
Zeit 200,000 Zobel, 10,000 Schwarzfüchse, 500,000 Eichhörnchen
importirt worden und bewirkten trotzdem eine immer steigende
Hausse der Preise. Es waren nämlich Engländer, nachdem sie einen
direkten Seeweg nach Russland gefunden, die eifrigen Konkurrenten
aller Nationen geworden. Dank diesem Umstande steigerte sich
auch der Export bis zu 500,000 R.bL~, welche hauptsächlich obdo-
lische Zobel, weisse petschorische Bären, kolische Biber, muromsche
und permsche Marder, sibirische Füchse und Eichhörnchen reprä-
sentirten.
Aber schon im nächsten Jahrhundert trat in Folge der politischen
Wirren eine Stille im Handel ein, welche erst der mächtigen Hand
und dem starken Willen Peters des Grossen weichen sollte, um eine
vollständig neue Periode für den russischen Pelzhandel zu inauguriren.
Russland, welches bis jetzt keinen Import von Pelzwerk gekannt
hatte, begann nun auch hierin dem Drucke europäischer Handels¬
politik nachzugeben. Wenn sich die russischen Kaufleute diesem
wachsenden Andrang des Importes überlegen zeigen wollten, 5b
mussten sie neue Mittel finden können, welche den Ansprüchen
Europa’s genügten. Deshalb war es einerseits nöthig, die alten
Quellen durch frisch entdeckte zu untersuchen, andererseits bequeme,
sichere und rasche Exportwege zu schaffen. Diesem schuf die Er¬
oberung des Baltischen Meeres Hülfe, jenem die Eroberung eines
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79
neuen Handelsgebietes. Aus dem östlichsten Asien hatten nämlich
sibirische Tataren schon im 17. Jahrhundert den benachbarten
Russen Rohprodukte zum Tausch angeboten. Michail Fedorowitsch
und Alexei Michailowitsch beabsichtigten denn auch mit diesen
Völkerschaften Handelsverträge zu schliessen. Doch erst 1689 kam
dieses unter Peter dem Grossen zu Stande und ermöglichte einen
Vertrag mit China, bis wohin die Russen allmälig vorgedrungen
waren« Alljährlich schickte nun die Regierung grossartige Kara¬
wanen mit Rauchwerk dorthin. Dieses Monopol beschwor aber
bald bedeutende Missstände herauf und nöthigte zum Freigeben des
russisch-chinesischen Handelsverkehrs. Nur eine Steuer wurde zu
Gunsten der Regierung erhoben, welche im Laufe von 9 Monaten
mit einem Zuschuss von 10 pCt. an irgend einem beliebigen, nur
vorher bestimmten Orte erlegt werden konnte. Nun erkannte man
beim Aufblühen dieses russisch-chinesischen Handels, dass es vor¬
teilhaft wäre, China mit dem Pelzwerk zu versorgen, welches Kam¬
tschatka und den kurilischen Inseln einen fabelhaften Ruf verschafft
hatte. In Folge dessen entstanden bald kleinere Handelskompag-.
nieen mit der ausgesprochenen Absicht, sich des äussersten Ostens
Asiens, der Inseln, zu bemächtigen, um dann ungehindert dem Er-.
werb des kostbarsten Pelzwerks, der kamtschatkischen Biber, ob¬
liegen zu können. Dieses Ziel wurde vollständig erst durch die
russisch-amerikanische Handelskompagnie erreicht l , welche bei dem
herrschenden Merkantilsystem gar bald zu der gewünschten Macht
gelangte.
So hatte sich nun Russland neue Absatzquellen geschaffen und
der allmälig heranwachsende Import fand seine wohl vorbereiteten
Gegner. Seit dieser Zeit nahm der russische Pelzhandel die Gestalt
-an, welche er noch heute trägt: um einen Mittelpunkt konzentrirt
sich das Ganze. Dieser Mittelpunkt wird Nishnij-Nowgorod. Dort¬
hin strömen alle Pelzwaaren ohne Ausnahme, um von dort aus wie¬
der ihren Weg nach sämmtlichen Plätzen Russlands und Europas zu
nehmen. Nur Irbit, welches nach Aufhebung der inneren Zölle an
Bedeutung gewann, konkurrirt in gewisser Beziehung mit Nowgorod,
gleichsam die Vorstation zu ihm bildend. Denn dorthin führt im
Februar jeden Jahres Sibirien seine Pelzwaaren, welches gewöhnlich
die beste Winterwaare ifct. Wie sehr aber die Irbit’sche Anfuhr von
1 Die Geschichte dieser Kompagnie soll nächstens eingehend behandelt werden.
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8o
der Nowgorod’schen absticht, lässt sich am besten aus den Zahlen
des Irbit’schen Marktes erkennen l .
Die Zufuhr betrug:
Stück.
Grauwerck:
1850
1853
1860
1863
1870
argusisches . .
120,000
280,000
200,000
900,000
800,000
jakutskisches .
120,000
—
350,000
400,000
475,000
lenaisches. . .
450,000
550.000
300,000
i,ooo,poo
900,000
obisches . . .
600,000
. 650,000
800,000
100,000
400,000
sonstige Sort.
2,200,000
1,775,000
750,000
1,600,000
1,600,000
3,490,000
3 , 255,000
2,400,000 4,000,000 4,175,000
Hermelin:
barabischer. .
22,000
12,000
6,000
4,000
2,000
ischimischer .
30,000
20,000
20,000
12,000
10,000
jakut$kischer .
16,000
4,000
20,000
8,000
8,000
sonstige Sort
40,000
12,000
10,000
6,000
4,000
108, 000
48,000
56,000
30,000
24,000
Zobel:
Bargusakischer
200
—
400
—
15°
Jakutskischer .
32,000
4,800
1,400
1,200
1,000
Amurscher . .
—
1,600
6,000
—
—
Kamtschatkascher 3,400
2,000
—
' —
—
sonstige Sorten
8,000
—
2,400
4,000
4,000.
43,600
8,400
10,200
5,200
5.150
Die in Irbit für Russland gekauften Waaren gehen nach Moskau
(von dort wieder nach Nishnij), die Artikel für die Türkei nach Ta-
ganrog, die für Persien nach Asow und die für das westliche Europa
oder für Amerika bestimmten Waaren direkt nach St Petersburg, um
noch rechtzeitig auf der Leipziger Messe einzutreffen. (Lomer,
p. 34.) Das Alles ist aber nur ein Bruchtheil dessen, was von den
genannten Waaren in Nishnij-Nowgorod zum Angebot kommt
Hierher fliessen alte und neue Vorräthe, und während in Irbit nur
einige wenige bedeutende Firmen als Käufer auftreten, sammelt sich
in Nishnij das ganze mit Pelzwaaren handelnde Publikum. Deshalb
haben denn auch alle anderen Plätze nur ein mehr oder minder loka¬
les Interesse. Als solche sind vor allen Dingen zu nennen: Moskau,
1 Ueber die Zahlen der Nishnij-Nowgoroder Messe vergl, <Russ. Revue» Band VI,
pag. 34 und 249.
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8i
St. Petersburg, Riga, Warschau, Kasan, Odessa. Die Reihenfolge,
in welcher wir diese Städte hergezählt haben, gilt sowohl für den
Import, als den Export.
Wir sehen also, dass sich im Laufe der St. Petersburger Periode
der Pelzhandel regelmässig formirt: bestimmte Abfuhr und Zufuhr
auf denselben Wegen. Nehmen wir Nowgorod als Centrum, so geht
ein Hauptstrahl nach Osten, nach Asien, der andere nach Nord¬
westen, nach Europa. Deshalb müssen auch die statistischen Daten
für beide besonders behandelt werden, und dieses um so mehr, als
auch die Waaren, welche nach beiden Richtungen gehen, meisten-
theils nicht von derselben Gattung sind*.
Was nun die Ausfuhr auf der europäischen Linie betrifft, so müssen
wir bemerken, dass regelmässige Aufzeichnungen erst seit dem
Beginn dieses Jahrhunderts von dem Handels-Departement ver¬
anstaltet werden. Die früheren Zahlen verdanken wir entweder
den zufälligen Notizen der Regierung oder wissbegieriger Reisen¬
der. Selbst alle Zahlen aus dem Anfang unseres Jahrhunderts kön¬
nen unserem Zwecke nicht dienen, denn damals verzeichnete die
Regierung Ein- und Ausfuhr bald nach Stücken, bald nach Gewicht.
Nur die letztere, als die nach dem dritten Decennium gebräuchlicher
werdende, können wir gebrauchen, weil uns sonst für die Daten der
heutigen Ausfuhr der richtige Maassstab fehlen würde. Zu bemer¬
ken ist nur noch, dass die Hasenfelle apart angeführt werden, weil
sie weniger einen Artikel des Pelzhandels, als der Fabrikindustrie
ausmachten.
75 pCt. aller Pelzwaaren gehen nach Leipzig, die übrigen direkt
in das sonstige westliche Europa oder nach Finland, Bessarabien
und Polen.
Es wurden exportirt im Durchschnitt Pelzwaaren:
in den
für Rbl. Silb.
in den
für Rbl. Silb.
Jahre
n
jährlich
Jahren
jährlich
1673-
75
• • 3 I 5>645
»833—35
• • 537.642
1749-
■Si
• • 209,475
1842—44
• • 769,399
1758-
-60
. . 506,244 '
1845—47
. . 983,461
1778-
80
. . 251,018
O
vn
1
00
00
. . 1,031,587
1790-
-92.
• • 654,524
1851 .
. . 1,864,846
1802—05
• • 373.040
1852 /
. . 1,602,585
1814—
-i 5
• • 791,354
»853 •
• • 1,784,736
1820—
•21
• • 977,917
1854 .
. . 1,362,793
1824—
-26
. . 415,648
00
l/l
en
* • 1,300,633
ÜQ80. Revue. Bd. JX. 5
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82
in den
für Rbl. Silb.
in den
für Rbl. Silb.
Jahren
jährlich
Jahren
jährlich
00
cn
o\
. . 1,986,042
1866 .
. . 1,167,415
1857 .
. . 1,450.343
„ 1867 .
• • 732,331
1858 .
. . 1,137,218
1868 .
. . 1,025,682
1859 .
. . 981,019
1869 .
• • 1,651,735
1860 .
. . 860,878
1870 .
. . 1,867,085
1861
. . 648,776
1871 .
. . 1,828,645
1862 .
. . 742,216
1872 .
. . 3,184.194
1863 .
. . 367,025
1873 •
. . 2,134 679
18 64 *
. . 664,356
1874 .
. . 1,535,616
1865 .
. . 1,293,366
Hasenfelle wurden ausgeführt:
in den
Pud Rbl. Silb.
in den
Pud Rbl. Silb.
Jahren
jährlich jährlich
Jahren
jährlich jährlich
1824—28
11,327 456,390
1849 .
. . . 166,429
1829—33
• • • 227,777 ,
1850 .
. . . 200,212
1834—38
. . . 272,270
1851 .
. . . 230,050
1839—43
• . . 271,279
1852.
. . . 225,675
1844—46
. . . 277,460
1853 •
• • • 254,754
1848 .
. . . 163,016
1854
25,256 360,377
Wenden wir uns nun der Einfuhr aus Europa zu. Russland, das
eigentlich seinen Bedarf an Pelzwaaren mit inländischem Material
befriedigen kann, importirt jetzt zwei mal so viel, als es exportirt —
so sehr hat der Pelzhandel seine Gestalt seit der Kijew’schen Periode
verändert. Dieser Import bringt natürlich der Krone recht bedeu¬
tenden Vortheil, der mit der Entwickelung des modernen Tarif¬
systems Hand in Hand geht. Früher war dasselbe ein äusserst
verwickeltes, jetzt aber ist es bedeutend vereinfacht. Nach dem
Tarif von 1724 war ein Unterschied zwischen Biber, Otter und son¬
stigem Pelzwerk festgestellt. Jene zahlten 16 und 24 Kop. von jedem
Zehner, diese 30 pCt. von dem Normalwerth. Seit dem Jahre 1731
erhob man von Biber und Otterfellen 40 und 75 Kop., seit dem
Jahre 1766 durchweg 40 Kop. Dieser Zoll wurde 1782 bis zu
1 Rbl. 86 Kop., resp, 4 Rbl. 20 Kop. erhöht und im Jahre 1797
sogar bis zu 10 Rbl. geschraubt, wobei 4 / 5 der Gebühren wieder
beirp Export nach Asien zurückgezahlt wurden. Merkwürdig ist es,
dass in demselben Jahre die Einfuhr von sonstigem Pelzwerk, ausser
Biber und Otter, verboten wurde. Doch schon mit dem Beginn
des neuen Jahrhunderts kam Regelmässigkeit in dieses von keinem
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«3
Prinzip, sondern nur vom Augenblick geleitete Tarifsystem. Die
Einfuhr von Pelzwerk ward gegen Erlegung eines Zolles von durch¬
weg 25 pCt. des Preises gestattet. Nur kamtschatkische Biber und
Otterfelle einzuführen, ward zu Gunsten der russisch-amerikani¬
schen Kompagnie verboten. Da jedoch einige Ortschaften, wie z. B,
Finland, das Recht zollfreien Importes hatten, so sah sich die Re¬
gierung veranlasst ein Verbot der Einfuhr von Pelzwerk durch diese
Ortschaften zu erlassen und Mittel zu ergreifen, welche Zolldefrau¬
dationen verhindern sollten. So wurde im Jahre 1841 die Einfuhr
von Fuchsfellen aus Finland bis auf 10,000 Stück beschränkt, als
der Zahl, welche dieses Land selbstständig, ohne ausländische Zu¬
fuhr, liefern könne. Selbst diese bedurften dann noch bei ihrer Ein¬
fuhr nach Russland eines Attestates über ihren finländischen Ur¬
sprung. Ward es dann doch nöthig mehr zu importiren, so wurde
der Zoll nach dem für den Archangelschen Hafen bestimmten Tarif
d. h. nach dem höchsten erhoben. Natürlich bewirkten derartige
Maassregeln die Entwickelung der Kontrabande und eine Verrin¬
gerung der Kronseinnahmen. Deshalb ging man im Jahre 1857 an
eine Revision des Tarifs. Da aber die in Folge dessen festgesetzte
Erniedrigung des Zolls noch nicht die gewünschten Vortheile
brachte, so musste man zu einer neuen Zollermässigung schreiten.
Unterdess waren die Zolleinnahmen bis auf 100,000 Rbl. gefallen.
Die Moskauer Kaufmannschaft und das dortige Börsenkomite
schlugen der im Jahre 1867 eingesetzten Tarifkommission vor,
8 Rbl. von jedem beliebigen Pud der verschiedenen Pelzwaaren zu
erheben. Die Kommission fand diese Proposition zu hoch und
nach dem Tarif von 1868 wurden nur 5 Rbl. pro Pud erhoben. Aus¬
genommen sind Zobel, Schwarzfuchs, Chinchilla, Schwan und
Marder, für welche 16 Rbl. per Pud gezahlFwird. Zufolge dieser
Vergünstigungen scheint sich die Zolleinnahme zu heben. Jedenfalls
wächst die Einfuhr.
Es wurden importirt:
in den
für Rbl. Silb.
in den
für Rbl. Silb.
Jahren
jährlich
Jahren
jährlich
1748-
-49 •
30,360
1820—21 .
. 489.825
1758—
60 .
25,684
1824—26 .
29,708
1778-
-80 .
272,420
1833—35 .
178,292
1790-
92 .
. 349.800
1842—44 ..
. 1,116,329
1802—
-04 .
. 149.899
1845—47 .
. 1,009,612
1814—
-15 •
• 259,072
1848—50 .
. 1,142,016
6 #
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8 4
io den
für Rbl. Silb.
in den
für Rbl Silb.
Jahren
jährlich
Jahren
jährlich
1851—53
. . 1,217,708
1865 .
. 2,015,740
1854—55
. . 1,038,576
1866 .
965,656
1856 .
. . 1,126,996
1867 .
• 2,178,897
1857 .
• • i,S 43 . 86 o
1868 .
. 1,859,911
1858 .
•' . 1,762,164
1869 .
. 3,441,167
1859 .
. . 2,252,776
1870 .
• 3.635.409
1860 .
. . 2,066,373
1871 .
• 3.782,173
1861 .
. . 1,834,098
1872 .
. 3,656,082
1862 .
. . 1,450,174
>873 •
• 3.099,2 16
1863 .
. . 1,324.674
1874 .
• 3.955.686
1864 .
. . 1,247,485
Die Ausfuhr nach Asien ist in den letzten Jahren bedeutend ge¬
sunken, einerseits weil die Nachfrage nach russischem Tuch und
russischen Manufakturwaaren bedeutend grösser ist, als die nach
Pelzwerk, andererseits weil die russische Art des Gerbens den An¬
forderungen der Chinesen nicht entspricht. Sie kauften meisten-
theils Grauwerk und Baranchen, so z. B. in den Jahren 1841—43:
Baranchen ....
. für
1,516,957
Rubel
Grauwerk ....
»
655.894
»
Biber.
1
561,563
»
Fuchspfoten . . .
»
293.423
»
Katzen.
. »
240,648
»
Luchs .
»
231,579
»
Fuchs .
213.823
»,
Meerbiber ....
»
188,461
»
Weissfüchse . . .
»
175,828
»
Blaufüchse ....
»
117,516
»
sonstige Pelzwaaren .
74,300
»
In Summa für 4,269,992 Rubel
oder 1,423,331 Rubel jährlich.
Ueberhaupt wurde nach Asien, d. h. nach Persien, Türkisch-
Asien und Chiwa ausgeführt:
in den
für Rbl. Silb.
in den
in Rbl. Silb.
Jahren
jährlich
Jahren
jährlich
1758—60 .
• 430,773
1814—15 .
• 959,404
1777-81 .
. 1,180,306
1820—21 .
• 1,035,740
1790-92 .
• 1 , 665,239
1824—26 .
. 1,001,183
1802—04 .
. . 1,294,480
1833—35 •
864,360
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85
in den
für Rbl. Silb.
in den
fUr Rbl. Silb.
Jahren
jährlich
Jahren
jährlich
1842—44 . .
1,435.232
1864 . .
. 200,732
l
ir>
OO
1,429,348
1865 . .
• 510,795
1848—50 . .
1,780,359
1866 . .
. 542,496
1851—53 • •
1,388,927
1867. .
• 393.355
1855—56 . .
1,134,632
1868. .
. 208,192
1857-58 . .
1,753,378
1869 . .
• 543,431
1859 . . .
1,087,743
1870 . .
. 667,421
1860 . . .
931,566
1871 . .
• 662,959
1861 . . .
615,078
1872. .
• 513,014
1862 . . ;
442,297
1873 • •
• 775,169
1863 . . .
250,426
1874 . .
. 509,171
Eingeführt werden aus Asien d.
h. aus der
Kirgisen - Steppe,
Bucharei, Turkestan, Persien und Türkisch-Asien über die orenbur-
gische, sibirische
und kaukasische
Douane Baranchen, Füchse,
Marder und einige
andere Sorten. Früher ging ein
Haupttheil dieser
Einfuhr direkt nach China. Dadurch, dass die chinesische Nach-
frage gefallen ist, ist auch die Einfuhr von Pelzwerk nach Asien in
ein rasches Sinken gekommen.
Es wurden eingeführt:
in den
fUr Rbl. Silb.
in den
in Rbl. Silb.
Jahren
jährlich
Jahren
jährlich
1758—60 .
61,792
1860 . .
. 138,892
' 777 — 81 .
40,154
i86i . .
• 175,448
1790—92 .
28,922
1862 . .
. 176,164
1802—04 •
214,146
1863 . .
. 198.986
1814—16 .
132,347
1864 . .
. 122,709
1820—22 .
97,652
1865 . .
• 150,748
1824—26 .
103,916
18 66 . .
. 150,667
1833-35 •
345,261
1867 . .
. 195,100
1842—44 .
401,058
1868 . .
. 162,234
1845—47 .
431,420
1869 . ,
• 159,543
1848—50 .
372,799
1870 . .
• 182,957
1851—53 .
422,931.
1871 . .
. 212,993
1854—56 .
235,786
1872 . .
. 214,084
1857—58 .
132,732
1873 . .
. 203,122
1859 . . .
146,878
1874 . .
. 288,618
Aus dieser kurzen Uebersicht des
russischen
Pelzhandels geht
hervor, dass derselbe seine Bedeutung als Hauptfaktor des russi-
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86
sehen Handels verloren hat. Der Pelzhandel hat mehr an internem
Interesse gewonnen und behauptet jetzt nur im Import einen Theil
der hervorragenden Stelle, die er früher ganz im Export einnahm.
Wenn es auch dem russischen Export noch vergönnt sein soll sich
zu heben, so kann dies nur nach Entwickelung der Pelzwerk-Indu-
strie geschehen. Wird die russische Gerbe- und Färbeart den auslän¬
dischen nichts mehr nachgeben, dann wird die russische Waare er¬
folgreich mit der ausländischen konkurriren können. Die Resultate
der letztjährigen Ausstellung zeigen übrigens, dass russische Indu¬
strielle hierin um ein gutes Stück ihrem Ziele näher gekommen sind.
Kleine Mittheilungen.
Ueber den Stand der ländlichen Vorschuss-Vereine
berichtete Hr. W. Chitrowo, Sekretär des Petersburger Komites
der Gesellschaft für ländliche Vorschuss vereine, unlängst in einer
Sitzung der Kaiserlichen Geographischen Gesellschaft, dass der
Status dieser Genossenschaften für die Jahre 1873 und 1874 ein
durchaus befriedigender sei l . Die Daten, welchen dieses Resul¬
tat entnommen werden konnte, basiren auf den Berichten, welche
dem Komite von den Vereinen selbst zugestellt und die erst
nach der genauesten Prüfung publizirt wurden. Diese Berichte
laufen bei dem Vereine in immer grösserer Anzahl und mit immer
grösserer Pünktlichkeit ein: im Jahre 1867 erhielt das Komite den
Rechenschaftsbericht nur eines Vereines, 1870 schon drei, 1871 gar
25 und endlich 1874 — 240 Berichte, d. h. es hatte die Mehrzahl
der Vereine über ihre Thätigkeit Rechenschaft abgelegt. Aus der
Gesammtzahl der Genossenschaften sind aber8auszuschliessen, da der
mittlere Umsatz einer jeden von ihnen im Jahre 1874 — 877,000 Rbl.
ergab, während die überwiegende Mehrzahl der übrigen in dem-
4 Einen ausführlichen Artikel über die Vorschussvereine in Russland brachte die
«Ross. Revue» in Bc^ III, S. 527—557; auch erweitert als Separatabdruck unter dem
Titel: Die Vorschussvereine in Russland, von T. Schwanebach. 98 S. 8° mit Tabellen.
H, Schmitzdorff, St. Petersb,
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«7
selben Jahr nur einen Durchschnittsumsatz von 21,000 Rbl aufweist.
Zum i. Januar 1875 hatten 316 Genossenschaften ihre Berichte eingts-
sandt. Aus denselben war zu ersehen, dass die Gesammtzahl der Mit¬
glieder 52,909 betrug. Freilich vertheilten sich dieselben durchaus
nicht gleichmässig auf die einzelnen Genossenschaften. So gab 6s
Vereine, welche mehr als 1000 Mitglieder hatten, und andere, welche
nur vier Köpfe zählten. Im Durchschnitt bestand jede Genossen¬
schaft zum 1. Januar 1873 aus 99^Mitgliedern, zum 1. Januar 1874
aus 145 und zum 1. Januar 1875 aus 167 Mitgliedern, d. h. in zwei
Jahren ergab sich eine Steigerung von 68 pCt. Die Gesammtsumme
des Umsatzes war 1872 gleich 1,304,446 Rbl., 1873 = 3,950,684 Rbl.,
1874 = 8468,364 Rbl. Das Umsatzkapital befand sich in folgender
Lage. An eigentlichem Kapital, welches sich aus Antheilen, Re*
serven und reinem Gewinn zusammensetzt, gab es 1873 — 180,000
Rbl., 1874 — 551,000 Rbl. und 1875 — 1,089,000 Rbl., d. h. dieses
Kapital hatte sich in zwei Jahren um 6 Mal vergrössert. Jenes Ka¬
pital aber, welches sich aus den Einlagen und Anleihen zusammen¬
setzte, bestand zum Anfang des Jahres 1873 aus 176,000 Rbl., 1874
aus 447,000 Rbl, 1875 aus 912,000 Rbl., ist also in zwei Jahren um
nur 5,2 Mal gewachsen. Vor zwei Jahren betrug das eigne Ka¬
pital der Genossenschaften 50 pCL des Umlaufskapitals, jetzt
aber schon 54 pCt.; dieses Verhältniss vom Kredit zum Debet ist
um so wichtiger, als die Aufgabe der Genossenschaften nicht allein
darin besteht, dass sie leihen, sondern auch darin gipfelt, dass sie
sparen. Das Antheils-(Pai-) Kapital erreichte beim Beginn des
Jahres 1875 die Höhe von 895,000 Rbl. und ergab im Durchschnitt
für jede Genossenschaft 2754 Rbl., während zum Beginn des Jahres
1874 nur 1,972 Rbl. und des Jahres 1873 nicht mehr als 1,892 Rbl. zu
verzeichnen waren. Aus der Gesammtzahl der Mitglieder besassen
einen vollen Antheil im Jahre 1873 — 9 pCt., 1874 — 12 pCt, 1875
— 17 pCt. — Ziffern, welche insofern wichtig sind, als sie auf die
Theilnahme reicher und wohlhabender Mitglieder hinweisen. Auf
jeden Besitzereines Pai-Theileskommen im Durchschnitt zu Anfang
des Jahres 1873 — 5 Rbl. 57 Kop., 1874 — 6 Rbl. 87 Kop. und
1875 — 8 Rbl. 37 Kop., d. h. der Theil eines Pais vergrössert sich
recht regelmässig alljährlich um 22 pCt. Das Reservekapital ver¬
mehrte sich in zwei Jahren um 4V2 Mal, d. h. es kam von 11,000 Rbl.
auf 53,000 Rbl. Der reine Gewinn war im Jahre 1874 gleich 142,000
Rbl.,^ von welchen 90,000 Rbl. zur Dividende bestimmt wurden; im
Jahre 1872 betrug die Dividende 9 pCt., im Jahre 1873 — 17 pCt.
Was das geliehene Kapital betrifft, so ist zu bemerken, dass hier die
Genossenschaften entweder keinen strengen oder auch gar keinen
Unterschied zwischen Einlagen und Leihverträgen machen. Nach
den Angaben der Rechenschaftsberichte hat sich die Summe der
Einlagen in zwei Jahren 11 Mal vergrössert, d. h. sie ist von 21,000
Rbl. auf 225,000 Rbl. gekommen. Es ergibt dies im Durchschnitt
für jede Genossenschaft ein Steigen von 444 Rbl. auf 1,166 Rbl. In
der Gesammtzahl der Einlegenden bleibt der Prozentsatz der Mit-
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88
glieder fast ohne Veränderung, da im Jahre 1872 — 37 pCt. und im
Jahre i 8 74 — 39 pCt. als solche verzeichnet waren. Ebensowenig
veränderte sich die mittlere Summe der Mitglieder-Einlagen: 1672
= 76 Rbl. 88 Kop., 1874 = 71 Rbl. 23 Kop., während auf Nichtmit¬
glieder 1872 an Einlagen kamen 31 Rbl. 81 Kop., aber 1874 schon
68 Rbl. 6 Kop. Die Leihsummen vergrösserten sich für denselben
Zeitraum nur um 4 Mal und betrugen zu Anfang des Jahres 1875
674,000 Rbl. Dagegen ergaben sie im Durchschnitt für jede einzelne
Genossenschaft fast gar keine Veränderung und stellten sich im
Jahre 1873 auf 2,421 Rbl., im Jahre 1875 auf 2,489 Rbl. Die Be¬
zahlung der geliehenen Summen geht sehr regelmässig vorwärts und
verbessert sich alljährlich; im Jahre 1872 war sie gleich einem Vier¬
tel, im Jahre 1874 betrug sie mehr als den dritten Theil.
. Alle diese Kapitalien leihen die Genossenschaften aus. So wur-’
den im Jahre 1872 hierzu benutzt 557,000 Rbl., was auf eine Ge¬
nossenschaft 7,624 Rbl. oder als mittlere ausgeliehene Summe 47
Rbl. 16 Kop. pro Kopf ausmacht; im Jahre 1873 — 1,626,000 Rbl.
oder auf 1 Genossenschaft 7,3 57 Rbl. oder als mittlere aus-
geliehene Summe 62 Rbl. 53 Kop. pro Kopf; im Jahre 1874
= 3,312,000 Rbl. oder auf 1 Genossenschaft = 10,053 Rbl. oder
als mittlere ausgeliehene Summe 72 Rbl. 62 Kop. pro Kopf. Wäh¬
rend dieser 3 Jahre wurde die Hälfte des geliehenen Geldes bezahlt
und ausserdem ergab sich, dass jedes Mitglied 3,7 Mal das eigene
Kapital anleiht. Aus einem Vergleich der Entwickelung von 67, aus
der Gesammtzahl zufällig gewählten Genossenschaften ergibt sich,
dass diese Entwickeluug sehr regelmässig fortschreitet. Bei diesen
67 Vereinen hat sich die Mitgliederzahl in 2 Jahren um 17 pCt. .ver¬
mehrt, der Umsatz um 43 pCt., das eigene Kapital um 41 pCt., das an¬
geliehene um 29 pCt.; die grösste Steigerung ist bemerklich bei den
Einlagen mit 78 pCt., beim Reservekapital mit 44 pCt., bei den An-
theilen mit 41 pCt.; die geringste Steigerung bei den Schuldver¬
schreibungen mit 22 pCt. Vergleicht man ein dreijähriges Resultat,
so erhält man beinahe dasselbe Bild: die Mitgliederzahl vergrösserte
sich um 39 pCt., der Umsatz um 91 pCt., das eigene Kapital um
114 pCt., das geliehene um 62 pCt.; die grösste Steigerung ist für das
Reservekapital 136 pCt., für die Pais 121 pCt., die kleinste für die
Anleihen mit 28 pCt.
Diese Zahlen beweisen, wie schnell und regelmässig sich bei uns
der Volkskredit entwickelt und welchen Hindernissen er auf dem
Wege seiner Entwickelung begegnete. Im Augenblick mögen 53,000
Mitglieder mit einer ihnen geliehenen Summe von 3 Millionen klein
erscheinen im Hinblick auf die Ziffer der Gesammtbevölkerung —
aber diesen 53,000 Mitgliedern wohnt eine Lebenskraft inne, zu
deren Entwickelung nur Geld, Zeit und für die Sache begeisterte
Personen nöthig sind.
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Literaturbericht.
Die deutsche Reichsverfassung. Theil 1 L Uebersicht des geltenden Reichsstaatsrechts.
Von A, Gradawsky, Professor des Staatsrechts an der Kaiserlichen Universität,
St. Petersburg 1876 , Preis I Rbl. (repMaHCKaa KOHCnrryaix* Hacrh II.
063opi» /rfeftcTByiomet KOHCTirryuiH. A. rpadoecrcaio , npo«eccopa C. IleTep-
6 yprcjcaro yHHuepcuTeTa. IJtna 1 pyö-iib. Cn6. 1876 .)
Von diesem Werke, dessen erstem Theile wir bereits eine an¬
erkennende Besprechung widmeten (Bd. VIII, pag. 299), ist uns nun
auch das zweite Bändchen zugekommen und halten wir es für unsere
Pflicht, auch dieses in demselben Grade, wie den ersten, den für das
deutsche Reichsstaatsrecht Interessirten zur gefälligen Beachtung
zu empfehlen. Es sei uns gestattet einen kurzen Prospekt des
Buches mitzutheilen und über seinen Werth im Einzelnen zu referiren.
Die Gruppirung des Werkes weist drei Abschnitte auf, und zwar:
1) allgemeine Prinzipien der Reichsverfassung, 2) die Zusammen¬
setzung des Reichs und das Herrschaftsgebiet der Reichsgewalt
(npocTpaHCTuo MMnepcKofl BJiacTu), 3) die Organe der Bundesgewalt
(opraHM cok)3hoA BJiacrH). In der Vorrede erklärt unser geschätz¬
ter Staatsrechtslehrer, dass der Umfang des vorliegenden Werkes
durch den Titel bestimmt und dass es ihm darauf angekommen sei,
den Lesern einen Ueberblick der geltenden deutschen Reichsver¬
fassung zu geben; nur in solcher Gestalt erscheine ihm die Unter•
suchung der Reichsverfassungsgesetze für das lesende Publikum,
wie auch für die Herren Studenten zugänglich. Die gedrängte Dar¬
stellung schliesst aber natürlich Vollständigkeit nicht aus, und der
Verfasser war bemüht, alle wesentlichen Grundsätze der Reichs¬
verfassung historisch und dogmatisch darzustellen, wie auch die
Meinungen der deutschen Gelehrten und der Redner der verfassungs¬
gebenden Versammlung zu berücksichtigen.
I. Der Verfasser anerkennt die unerlässliche Nothwendigkeit, dass
eine wissenschaftliche Systematik und Kritik einer Staatsverfassung
bedingt wird durch die Bestimmung des Grundprinzipes der be¬
treffenden Staatsverfassung resp. Staatsform. — Die Frage über die
Zugehörigkeit der deutschen Reichs Verfassung zu einer bestimmten
Staatsform ist bei verschiedenen Gelegenheiten in Schrift und Wort
verschieden beantwortet worden. Hr. Gradowsky giebt uns eine
kurze Uebersicht dieser Meinungsäusserungen in Deutschland. —
Da die deutschen Gelehrten das neue deutsche Reich mit Vorliebe
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einen Bundesstaat nennen, so liegt es nahe, sich die Geschichte die¬
ser Staatsform zu vergegenwärtigen und die Grundsätze derselben
festzustellen; das thut nun Hr. Gradowsky in Bezug auf die ver¬
einigten Staaten von Nord-Amerika, auch hier die in Schrift und Wort
ausgesprochenen Ansichten kurz andeutend. Das folgende Kapitel
enthält eine Darstellung der Ansichten über die Bundesgewalt und
zum Schluss erklärt der Verfasser, dass es angesichts einer solchen
Meinungsverschiedenheit, welche noch kein Resultat errathen
lasse, dem neutralen Beobachter (nocTopoHHOMy HaöjiiOÄaTejiio) zu¬
komme, für’s Erste die Reichsverfassung in ihrer realen Erscheinung
in’s Auge zu fassen (abgesehen von einer bestimmten schulmässigen
Staatsform, welche schon zu staatsrechtlichen Fiktionen verleitet
hat). Kapitel IV untersucht die Elemente und allgemeinen Prinzi¬
pien der Reichsverfassung (pag. 26—39). Zu diesem Zwecke wird
t erst Rücksicht genommen auf das staatsrechtliche Leben in Deutsch¬
land überhaupt, dann das monarchische Prinzip in Deutschland in
Erwägung gezogen, und ferner die Verschiedenheit der Machtver¬
hältnisse der einzelnen Staaten und der daraus folgende Einfluss auf
die Reichsverfassung mit spezieller Berücksichtigung Preussens be¬
sprochen. Hinsichtlich der Reichsverfassung gelangt der Autor zu
dem Schlüsse, dass das deutsche Reich mit Rücksicht auf seine inne¬
ren Verhältnisse und innere Organisation (cTpyiayp't) einen breiten
Weg zur Centralisation eröffne. Denn die Reichsverfassung habe
keine festen Prinzipien aufgestellt und keine genauen Grenzen ge¬
zogen zwischen den Rechten des Bundes und denen der einzelnen
Staaten. Entstanden unter dem Einflüsse praktischer Verhältnisse,
lassen dieselben alle Aenderungen zu, welche durch neue praktische
Verhältnisse im Sinne der politischen Einheit hervorgerufen werden
(Kaicbi MoryTi» 6 biti> Hti3i3aHw kobumek npaKTHqecKHMH noTpeö-
hoctämh). Dass die grosse Majorität der deutschen Gesellschaft
die Ausdehnung des Umfanges der Bundeskompetenz anstrebe,
unterliegt für Hrn. Gradowsky keinem Zweifel.
II. Rücksichtlich der Zusammensetzung des deutschen Reiches
und der Kompetenz der Reichsgewalt berührt der Verfasser die
Frage, ob die Hoheitsrechte der jetzigen deutschen Herrscher nach
dem Vertragsrechte, der Erbfolge u.s.w., übertragen werden können
auf nicht deutsche, also ausländische, Dynastien. Ein zur Regelung
dieser Frage 1867 eingebrachter Gesetzentwurf im Sinne der Wiener
Schlussakte wurde nicht angenommen, und besteht so bekanntlich
bis auf den Augenblick in dieser Beziehung eine empfindliche Lücke
in der deutschen Reichsverfassung. Was in vorkommendem Falle
recht sein soll, wird von den Theoretikern ganz verschieden beant¬
wortet. Politisch am richtigsten ist die von staatsmännischem Blick
zeugende Ansicht des Altmeisters der Publizistik, v. Mohl, welcher
sowohl die Möglichkeit der Real- als auch Personal-Union hier in
Abrede stellt.
Hinsichtlich der Zukunft des politischen Lebens von Elsass-Loth-
ringen ist Verfasser der Ansicht, dass dasselbe sich, nicht auf Grund-
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9 *
läge eines konstitutionellen, sondern eines absoluten Staats organi-
sirt. — In Bezug auf das Verhältniss des Reichsbürgerrechts zum
Landesbürgerrechte der einzelnen Bundesstaaten stimmt Hr. Gra-
dowsky mit der Ansicht der deutschen Publizisten überein und ist
demnach das Verhältniss des ersteren zum letzteren ein ergänzendes
(AoöaßoqHoe). Weiterhin beklagt der Verfasser das Nichtvorhanden¬
sein eines deutschen Bundesgerichts und bemerkt pag. 57: KopoTKo
roßopa, cnopu Mexc^y rocyaapcTBaMH pasp'fcmaiOTca Ha coß'fc'rfc
npH6jiH3HTejibHo TaKHce KaKi> Ha Mexcay-HapoAHbiXT» KOHrpeccaxis,
denn die Verfassung lässt auch die beim Streit interessirteri Staaten
, zur Abstimmung in dem betreffenden Falle zu. Eine verhältniss-
massig eingehendere Besprechung mit geschichtlicher Einleitung
wird dem deutschen Reichspressgesetz zu Theil. Das Kapitel über
Reichsfinanzen, welches in gleicher Weise, wie die früheren, in ge¬
drängter Uebersichtlichkeit die vorgelegten Fragen ziemlich er¬
schöpfend beantwortet, bildet den Schluss des zweiten Abschnittes.
III. Im 3. Abschnitt weist der Verfasser darauf hin, dass in der
deutschen Reichsverfassung weder eine strenge Machttheilung statt¬
finde, noch eine bestimmte Abgrenzung des Kompetenzkreises der
einzelnen Institutionen, noch auch eine Ware Bestimmung ihrer Ver¬
hältnisse zu einander; dabei dürfe man aber nicht vergessen, wie
auch v. Sybel gesagt hat, dass die realen Kräfte, welche auf die
deutsche Reichsverfassung eingewirkt, die Macht Preussens, die
Bedeutung des Föderativsystems und der Einfluss der liberalen
öffentlichen Meinung waren.
Von diesem Standpunkte aus untersucht Hr. Gradowsky nun alle
Reichsinstitutionen. Der Bundesrath, dessen Gestaltung und Wir¬
kungskreis er nach allen Seiten hin behandelt, erscheint ihm, seiner
Zusammensetzung nach, gleichfalls streng föderativ, hinsichtlich der
Geschäftsordnung rein staatlich organisirt. Einer recht eingehenden
Behandlung erfreut sich der Reichstag. Besondere Aufmerksamkeit
ist den Bundestagsverhandlungen über die Zu- oder Unzulässigkeit
des allgemeinen Stimmrechts bei den Bundestagswahlen und der
Diätenfrage gewidmet. Berücksichtigt ist gleichfalls das Verfahren
bei den Deputirtenwahlenf und verhältnissmässig eingehend behan¬
delt wird die deutsche Armeefrage. S. 131—9 umfasst einen über¬
sichtlichen Abriss der Geschäftsordnung im deutschen Reichstage.
Von der Stellung des Reichskanzlers zu den Reichsgeschäften sagt.
Gradowsky, dass derselbe ocHOBaHie, BepiUHHa h KOHeivb Bcefl
ucnojiHHTe^bHOfi BJiacTH (die Grundlage, Spitze und das Ende aller
vollziehenden Gewalt) sei. Das Kapitel über die Organe der voll¬
ziehenden Gewalt im deutschen Reiche S. 145—60 enthält bis S. 157
eine Darstellung der geschichtlichen Entwickelung wegen der Frage
"eines verantwortlichen Reichsministeriums. Vorzugsweise ist hier
Rücksicht genommen auf die diesbezüglichen Reden Bismarck’s vor
den Abgeordneten des norddeutschen Bundes und auch das übrige
einschlägige Material ist in zutreffender Weise benutzt worden.
Eine skizzirte Darstellung der übrigen Organe der vollziehenden
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92
Reichsgewalt bildet den Schluss dieses Werkchens, auf dessen letz¬
ter Seite an Cherbuliez' Worte erinnert wird, dass die deutsche
Reichsverfassung von Einem und für Einen Menschen geschrieben
sei, und etwas später bemerkt Hr. Gradowsky selbst: Mit einem
Worte (cjjobomt»), augenblicklich gewährt die deutsche Reichsver¬
waltung MHoria nepTbi Toro, hto mm npHBbiiuiH Ha3biBaTb bochhoio
ÄHKTaTypoio (einige Berechtigung zu dem Vergleiche mit einer
Militärdiktatur) — eine Beurtheilung, welche auch von deutschen
Patrioten unterstützt wird.
Dem Verfasser lag nicht daran, die einzelnen Theile der deutschen
Reichsverfassung in ihrer ganzen Bedeutung und Tragweite für das
politische, geistige und wirtschaftliche Wohl in allen Details zu
untersuchen, das überlässt er gerechtfertigter Weise denen, welche
mit ihren Interessen diesen Angelegenheiten näher stehen. Seinen
Zweck hat er aber jedenfalls in vortrefflichster Weise erreicht; das
russische Publikum muss dem St. Petersburger Staatsrechtslehrer
besten Dank wissen für die übersichtliche und kurze, aber die
deutsche Reichsverfassung und die bedeutendsten Momente ihrer
Entstehung erschöpfende Darstellung'. In der Literatur des deutschen
Reichs-Staatsrechts wird die besprochene Arbeit von Gradowsky
gerade auf keine sehr maassgebende Stelle Anspruch erheben kön¬
nen; sie ist vielmehr eine meisterhaft ausgeführte Skizze, welche die
Resultate der bezüglichen deutschen Geistesthätigkeit zusammen¬
fasst und über dieselbe orientirt. — Einer endgültigen Entscheidung
über die Staatsform des deutschen Reichs enthält sich der Verfasser
und will er, wie schon bemerkt, fürs Erste nur die, die deutsche
Reichsverfassung auszeichnenden Momente als Unbefangener unter¬
suchen.
Die theoretische Verknüpfung der Reichstagsrechtsbestimmungen
ist gut durchgefuhrt und verleiht dem Buche eine angenehm lesbare
Form. Wir können unsere Anerkennung auch dem Umstande gegen¬
über nicht versagen, dass uns in der vorliegenden Arbeit des bekann¬
ten russischen Publizisten in dessen schriftstellerischer Art ein ge¬
wisser Fortschritt bemerkbar ist, indem die Darstellungsweise eine
genauere, gerade nur das Nothwendige hetvorhebende, auf unbedeu¬
tenderes Einzelne nur verweisende, geworden ist, während sich in
früheren Arbeiten eine gewisse breite Behaglichkeit, welche den
Schriftsteller selbst gewöhnlich am meisten interessirt und den Le¬
sern nicht selten überaus lästig wird, nicht verläugnen lässt.
Folgende wenige Bemerkungen mögen noch gestattet sein. S. 9
wird bemerkt: der Senat des Kongresses der vereinigten Staaten von
Nord-Amerika sei organisirt mit Rücksicht (bt> Biuy) auf die Sicher¬
stellung der Interessen der einzelnen Staaten. Der Senat hat aber
auch ein nationales Element und nur die Form seiner Bestellung
giebt ihm auch einen föderativen Anstrich. Innerlich wird man da¬
her auch den Senat vorzugsweise als ein nationales Institut anzu¬
sehen haben. S. I wird gefragt: Welche Regierungsform ist durch
die Verfassungen von 1866 und 1871 entstanden? (KaKaa 4>opMa
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93
npaBJieHiü co3AaHa KOHCTHTyuiHMH 1866 h 1871 ro^oBt?) In dieser
Hinsicht dürfte doch nun ein Mal eine präzisere Scheidung Platz
greifen. — Der Umstand, dass die durch Waitz in theoretischer
Form beschriebene Unionsverfassung der vereinigten Staaten von
Nord-Amerika als die Bundesstaatstheorie von Waitz bezeichnet
wird, vermag trotz der bedeutenden Vertreter dieser Richtung nicht
unseren Beifall zu finden, und missbilligen wir daher auch den diese
Richtung vertretenden Ausspruch des Hrn. Gradowsky (auf Seite 14
des besprochenen Buches). Seite 34 heisst es: Die ultramontanen
Agitationen in Süd-Deutschland könnten in ein ähnliches Schauspiel,
wie die einstigen Angelegenheiten der Plantagenbesitzer in den Süd¬
staaten der nordamerikanischen Union ausarten; das dürfte im Hin¬
blick auf die ganz verschiedenen Zustände im deutschen Reiche doch
wohl keine ganz zutreffende prophetische Ahnung sein. — Ob der
Ausdruck Sozialdemokraten im Russischen besser durch eine unver¬
änderte Uebertragung dieses Wortes mit aer entsprechenden russi¬
schen Endung stattzufinden habe oder genauer durch conjaJibHue
4eMOKpaTbi wiederzugeben sei, wie solches S. 85 geschieht, lassen
wir dahingestellt. — Mit den Urtheilen über Held und Seydel
können wir uns nicht einverstanden erklären. — Der Druck ist kor¬
rekt besorgt, und die citirten Artikel sind bis auf einen von uns be¬
merkten Fall (Seite 137, 1) cm. 26 statt 27) fehlerlos.
O . E.
Revue Russischer Zeitschriften.
«Russisches Archiv» (Russkij Archiv — Pyccicift ApxHBi) heraus-
gegeben von Peter Bartenjcw. XIV. Jahrgang. 1876 . Heft 5 *. Inhalt:
Ein Brief des Grafen A. G. Orlow-Tschesmenskij aus Pisa an den Fürsten Potemkin
in St. Petersburg. 1774- Von G. N. Alexandroiv. - Die Pugatschewsche Angele- *
genheit: Briefe des Grafen P. J. Panin an seinen Bruder Graf Nikity Iwanowitsch und
Briefe des Fürsten Potemkin an den Grafen D. J. Panin. Mit einem Vorworte der Her¬
ausgeberin. Von der Fürstin M . A. Mesktscherskij . — Die Franzosen in Moskau im
Jahre 1812. IV. Kapitel. Von A , N, Popow . — Nachrichten aus Russland nach Eng¬
land, während der Regierung des Kaisers Paul I. — Briefe des Grafen Th. W. Ro-
>toptschin an den Grafen S. R. VVoronzow. — Shukowskij in Paris. (Mit Auszügen aus
seinen Memoiren). Vom Fürsten P. A. Wjäsemskij . — Aus den Erinnerungen an
A. S, Chomjakow. Von A. IV. Patschinskij. — Nochmals über das Tagebuch Chrapo-
witzkij’s : Brief an den Herausgeber des »Russkij Archiv», Von zV. P, Barsukow .
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«Russisches Archiv» (Russkij Archiv — PyccKift ApxHBi.) heraus-
gegeben von Peter Bartenjew. XIV. Jahrgang. 1876. Heft 6. Inhalt:
Papiere des Fürsten S. Th. Golitzin: Briefe und Berichte der Kaiserin Katharina II.,
der Kaiser Paul und Alexander I. —Briefe der Fürsten Potemkin, Ssuworow, Proso-
rowskij u. A* — Die Franzosen in Moskau im Jahre 1812. V. Kapitel. Von A. N. Po¬
pow ,— Auszüge aus einem alten Tagebuche; begonnen im Jahre 1813. Nochmals
über die Kreditanstalt des Erziehungshauses. D . D . Filimonow. — Einige Worte über
Speranskij.* Aus den Briefen an den Akademiker Grot. Von D. S. Protopopow . — An¬
lässlich der Erinnerungen an T. P. Passek. — Auszug aus Puschkin's Leben« (A. S.
Puschkin’s.) — Der Arrest und die Verbannung des Lieutenants Bogdanow. Von
J, Jakunin,
«Militär-Archiv* (Wojennij Ssbornik — BoeHHbiö CßopHm'b). —
Neunzehnter Jahrgang. 1876. Juni. Inhalt:
Ueber die Methode der Untersuchung und Auslegung der Kriegskunst. Von Z. Schi -
linskij. — Abriss der Geschichte des russischen Kriegs-Rechts vor Peter dem Grossen.
Von M, Rosenheim. — Ueber die Einquartierung der Truppen in Kriegszeiten. Erster
Artikel. Mit zwei Karten. Von P. Kasans k(j . — Diskurs über die vertheilte Auf¬
stellung der Truppen. Von E. Swidsinskij . — Bemerkungen über die im Jahre 1876
eingestellteu Rekruten der Brest-Litowskischen Festungs-Artillerie. Von Dr. N . Nowv
kow . — Ueber die vorläufigen Verordnungen zur Verpflegung der, im Jahre 1853 zur Be¬
setzung der Donaufürstenthümer bestimmten Heere. Von IV. Aretowskij . — Fontaine¬
bleau. Von Z. Z. K-r. — Das Fürstenthum Montenegro. Erster Artikel. Von F m —
Algier. Militärstatistische Uebersicht. Vierter Artikel. Von A. Kuropatkin. — In den
Bergen. (Aus dem Kriegsleben während des Turkestanschen Feldzuges). Schluss. Von
D, Iwanow . — Bibliographie. — Militärische Umschau in Russland. — Militärische
Umschau im Auslande.
-1876. Juli. Inhalt:
Strategische Uebersicht der militärischen Operationen des Jahres 1870 bis incl. der
Kapitulation von Sedan. (Mit Karte.) Erster Artikel. Von N. Schemschin. — Abriss
aus der Geschichte des Fussvolks. I. Von A. Pusyrewskij . — Ueber die Einquartierung
der Truppen in Kriegszeiten. (Schluss.) Von A. Kasanskij . — Gedanken über einige
Vervollkommnungen in den Reglements für Linientruppen und über Instruktionen für
unser Fussvolk. (Mit Bezug auf den Aufsatz des Baron Seddeler «Ueber den Einfluss
der Waffe u. s. w.* Von K.Ernrot. — Neue Bemerkungen über die deutsche Armee. L
Von Oberst Baron Kaulbars . — Skizzen über die Armee. III. Von M. Dragomirow .
Das Fürstenthum Montenegro. (Schluss.) Von A. F. — Algier, militärstatistische
Uebersicht. (Schluss.) Von A. Kuropatkin . — Erinnerungen eines Kaukasiers. Streif¬
züge bei den nicht unterworfenen Gebirgsbewohnern. Von S. Smohnskij. — Biblio¬
graphie. — Militär-Umschau in Russland. — Militär-Umschau im Auslande.
Der «europäische Bote* (Westnik Jewropy — B'fecTHHK* ßBponu).
XI. Jahrgang. 1876. Juni. Inhalt:
Speranskij und seine Reform in Sibirien. II. DL Schluss. Von M, N . Jadrinzew . —
In der Herzegowina. Widerhall serbischer Gesänge I. Uebersetzt aus dem Böhmischen.
Von M.P—tj. —Italienische Typen im letzten Roman Ouida’s. Signa by Ouida. Schluss.
Von M. Lowzow . — Die älteste Zeit der russischen Literatur und Bildung. III. Von
A . N. Pypin, — Aus «Manfred*: Der Chor der Geister im ersten Akt. Von
f). S—kow. — Wie Leute Geld verdienen. — Der Berliner Krach und Dr. Stroussberg.
I — HI. Von Z. A — re, — Ohne Verwandtschaft und ohne Abstammung. — Scenen
aus dem neuesten Roman Daudet’s. «Jack». Von Th. S — kaja. — Die Fürstenbunde
und die deutsche Politik. Katharina II. Friedrich Wilhelm II. Joseph II. 1780—1786.
VI. Die orientalische Frage im achtzehnten Jahrhundert. VII. Holland und der «Län¬
dertausch. Von A, S, Tratscherskij. — Chronik. — Rundschau im Inlande. — Aus¬
ländische Politik. — Korrespondenz aus Berlin. — Korrespondenz aus London.—Pariser
Briefe. — Resultate der Thätigkeit der Gesellschaft zum Nutzen der Volksbildung in
Russland. Von Baron N, A. Korff , — Brief an die Redaktion. Von A . Tschuprono. —
Bibliographische Blätter.
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Der «europäische Bote» (Wjestnik Jewropy — BicTHMK-bEBponw).
XI. Jahrgang. 1876. Juli. Inhalt:
Gesänge aus Almora. Reiseskizzen von y. P. Minajciu . — Das dörfliche Lynch¬
gericht. Von Th. E. Römer. — Die Trink frage und die Angelegenheit der Brannt¬
weinbuden in Russland. 1 , II. Von A. E. — Gedichte. L — n. — Die Bergwerkverwal¬
tung im Ural. Von I. M. Lochtin. — Die Katakomben von Kertsch. Von A. N. —
Abriss der Frage über die Entstehung der Ansichten. IX. Von J. J Metschnikozo. —
Aus Mizkewitsch. (Gedicht.) Auf den Alpen. — Wissenschaft und Literatur im heuti¬
gen England. 4. Brief. Von A. Rcgnard. — Wie Leute Geld verdienen. 2. Artikel.
Presse. Gründung und die Börse. — Die Fürstenbunde und die deutsche Politik. Ka¬
tharina II. etc. IX —XIII. Von A. S. Tratschezoski. — Rundschau im Inlande. —
Ausländische Politik. — Pariser Briefe. •*— Bemerkungen über Koslow’s philosophische
Studien. — Nachricht über die Gesellschaft zur Unterstützung der Frauen, welche sich
bei den medico-chirurgischen Akademien zu Hebammen ausbilden. — Bibliographische
Blätter.
«Das alte Russland» (Russkaja Starina — PyccKaa OrapHHa)
herausgegeben und redigirt von M. J. Ssemewskij. Siebenter Jahrgang. Heft V^
Juni. Inhalt:
Tagebücher M. Garnowskij’s: Der Hof der Kaiserin Katharina II. 1788 —1789.
Von A. /. Lewschin . — Katharina II. und Fürst Potemkin. . Original-Korrespondenz
aus dem Jahre 1787.— Mein Leben und meine kunst-archäologische Thätigkeit.
Erzählungen des Akademikers Th. G. Solnzew. VI. VII. Schluss. 1834 — 1876. —
Die Ueberreichung der goldenen Medaille der Kaiserl. Russ. Archäologischen Gesell¬
schaft an den Professor Th. G. Solnzew am 20. Mai 1876. — Erinnerungen Passek’s.
XXI— XXin. 1834 — 1836.—Uebersicht der Ereignisse im Kaukasus während der
Jahre 1836 — 1850. — Blätter aus dem Notizbuch der «Russkaja Starina». Biblio¬
graphische Mittheilungen über neue russische Bücher (auf dem Umschläge).
-1876. Juli. Inhalt:
Tagebücher M. Garnowskij’s; der Hof der Kaiserin Katharina II. 1789 — 90. Von
A . y . Lnvschin. — Katharina II. und Fürst Potemkin. Briefwechsel 1788. — Die
Haupthelfer des Emilian Pugatschew Skizzen und Erzählungen nach Thatsachen.
1773—* 74 . — Bemerkungen zu dem Bilde Pugatschew’s. — Erinnerungen Passek’s.
Kap. XXIV—XXV (1834—35). — Blätter aus dem Notizbuche der «Russkaja Starina».
— Bibliographische Mittheilungen über neue russische Bücher. (Auf dem Umschläge.)
Russische Bibliographie.
Bogoljubskij, I. Kurze Darstellung des Amur-Gebietes. St. Petersb.
8°. 29 S. (EoHMtoticKÜL H. KpäTKift oqepKB Ahiypcxaro icpaa. Cn6.).
General-Adjutant, Admiral N. Krabbe. Biographischer Abriss.
St. Petersburg. 8°. 39 S. (PeHepaji’b-aÄ'biOTaHT'b, aAMHpiajn» Hhko-
Jiaft KapjiOBHHT> Kpaööe. BHorpa^HqecKifi oqepsci». Cn6.).
Popow, A. Die Beziehungen Russlands zu den europäischen Mächten
vor dem vaterländischen Kriege von 1812. St. Pbrg. 4 0 . 428 S.
(nonorb, A. CHomeHiR Poccin cb EßponeflcKHMH AepacaBaMH npeAB
OTeqecTBeHHoio boöhoio 1812 ro^a. Cn6.).
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Gradowsky, A. Die deutsche Reichsverfassung. II. Theil: Uebersicht
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HOBJieHÜi no no3eMe^BHOMy ycTpoöcTBy rocyAapcTBeHHbixi» xpecTb-
äht>, erb Aon. h npaji. MpÖHTb. 1875 r.).
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M£moires. Cn6. 8 a. 918 CTp. a 9 ji. pnc., miaHOBi> a qepTeaceft.
Meshow, W. I. Uebersicht der im Jahre 1873 in russischer Sprache
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Fürst Kantakusin-Graf Speranskij, M. Historischer Abriss des Kriegs¬
rechts. Odessa 8°. 24. S. (KtMftb RaHTaKysaHb-rpa^b CnepaHCKift, M.
HcTopaTOCKift cwepKb npaBa BoftHU. O^ecca.)
Pjasezkij, G. Historische Beschreibung der Stadt Bolchow und ihrer
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oiepKH ropo^a Bojixoßa a ero cbatbihb. Opejrb).
Rumjanzow, N. Historische Skizze der Verschickung von Arrestan¬
ten in Russland. St. Peterbs. 8°. 69. S. (PyMflHi;OB*b, H. HcTopanecKift
OHepicb nepecbiJiKa apecTaHTOBi» bt> Poccia. Cn6.).
Andrejewskij, I. E. Das Polizei-Recht. Band II. Theil II. Vermehrte
Auflage. S. Pbrg. 8°. 716 S. (ÄHApeeBCHik, H. E. IloABijeflcKoe npaßo.
T, II. H. II. Ü 3 A. 2-e., acn. a Aon. Cn6.).
Harnack, A. E. Der Advokat. Juristischer Leitfaden zur Einführung
in die Gesetze und zur Leitung von Gerichts-Angelegenheiten.
2. Aufl. Moskau. 8°. 107 S. (TapHaKV A. E. AABOKarb. lOpaAnnecKift
caMoynaTejib rjix no3HaHia 3aROHOBi> a BeAeme a^at». M3A. 2 -e.
MocKBa.).
Ossowskij, N. Lehrbuch der Militär-Straf-Gesetze, mit gleichzeitiger
Berücksichtigung der wichtigsten Reichs- und der allgemeinen Straf¬
gesetze. Lfg. 1. Twer. 8°. 127 S. (OccobckIA, H. y*ie6HBKT> bochho-
yrOAOBHblXb 3aKOHOBl> BT> CBX 3 B Cl> pa 3 CMOTp'feHieMT> BaaCH'hölUHX'b
rocyAapcTBeHHWxi» a o6meyrojioBHbixT> 3aKOHOBi>. Bbin. I. Tßepb.)
Reisefrüchte eines alten Geistlichen aus den Ostsee-Provinzen.
Riga 1875. 8°. 207 S.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Carl RötTgrr.
ÄosBOAeHo aeHaypoio. C.-IIeTep6ypn>, 8-ro Ikwi* 1876 toar.
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Aus der Ultesten Kulturgeschichte der finnischen
Völker.
Nach Dr. August Ahlqvist
von
Valfried Vasenius.
(Schluss.)
5. Seefahrt und Handel.
Die baltischen Finnen hatten vor ihrer Ankunft in den Gegenden
der Ostsee und des Weissen Meeres nur Flüsse und hin und wieder
einen kleineren See, jedoch keine grossen Gewässer gesehen. Daher
ist es kein Wunder, dass sie keinen genuinen Namen für das Meer
haben, sondern dasselbe mit dem entlehnten arischen Worte niest
bezeichnen. Auch für den Begriff Strand haben sie aus derselben
Ursache Benennungen von den Nachbarvölkern entlehnt. Für den
Begriff Flussufer kommen dagegen in den finnischen Sprachen ver¬
schiedene genuine Benennungen vor. Weil jedoch das Wasser in
einem ruhigen Flusse — und derartig sind die meisten der Flüsse,
welche auf dem Wege der Finnen vom Ural bis zur Ostsee hin lagen
— den Menschen bei Weitem nicht so erschreckt, wie das unruhige
und mächtig brausende Element im Meere oder in grossen Binnen¬
seen, deshalb gewähren ihm die Flussufer nicht das Gefühl der
Sicherheit, wie der Meeresstrand und lenken daher nicht seine Auf¬
merksamkeit in gleichem Maasse, wie dieser, auf sich. Vielleicht
war es ein derartiges Gefühl, welches die Finnen darauf brachte,
den Meeresstrand mit anderen Namen zu benennen, als die Fluss¬
ufer, und, da sie in der eigenen Sprache keine Ausdrücke für diesen
Begriff fanden, den Namen desselben von den Völkern zu entlehnen,
die sie in der Nähe des fremden Gegenstandes antrafen und welche
eigene Wörter zur Benennung desselben hatten. Daher lässt es sich
erklären, dass das germanische Strand in die baltisch-finnischen
Sprachen Eingang fand (im Finn. in der Gestalt ranta). — Von an¬
deren Gestaltungen, welche das Wasser und das Land zusammen
Bum. lUvut. Bd. IX. 7
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bilden, haben Bucht , Landspitze , Meerenge und Insel, welche auch in
Flussgewässern Vorkommen, genuine Namen.
Um über Flüsse oder kleinere Binnenseen zu fahren, welche nur
spärlich im östlichen Russland, dem Schauplatz des Lebens der
Finnen vor ihrer Ankunft am Weissen Meere und der Ostsee, Vor¬
kommen, brauchte nlan nur Fahrzeuge einfachster Bauart. Dieser
Art werden die Fahrzeuge gewesen sein, welche mit den genuinen
Namen ve?ihe und pursi ( Boot) benannt wurden; das letztgenannte
Wort hat im Finnischen noch die ursprüngliche Bedeutung: ausge¬
höhlter Baumstamm, Trog (wenigstens in dem davon abgeleiteten
purtilo). — Die ostfinnischen Sprachen bezeugen noch überhaupt
eine grosse Armuth an Benennungen anderer Fahrzeuge, als der
eines kleinen Bootes, und sie haben mehrere der sehr zahlreichen
Benennungen von Flussfahrzeugen entlehnt, von welchen es im
Russischen wimmelt. Nur die an der Ostsee und am Weissen Meere
ansässigen finnischen Völker haben Benennungen grösserer, unter
Segeln auf dem Meere gehender Fahrzeuge, deren Erörterung wir
füglich übergehen können, da auch ein Blick auf die Wörter im
Finnischen, womit verschiedene Theile und Geräthschaften eines
Fahrzeuges benannt werden, hinreichend ist, uns davon zu überzeugen,
dass die ursprünglichen Fahrzeuge der Finnen von der einfachsten
Art waren. — Des Kieles , eines der wichtigsten Bestandtheile eines
zum Segeln bestimmten Schiffes, entbehren die Fahrzeuge auf den
finnischen Binnenseen, aus dem natürlichen Grunde, dass ein, mit
einem Kiel versehenes Fahrzeug tieferes Wasser erfordert, als die
Meerengen und seichten Landungsplätze dieser Seen darbieten. Für
kleinere Böte auf diesen Seen war und ist der Kiel ausserdem um so
unnöthiger, als das Segeln dann nur bei vollem Winde stattfinden
kann. Nur um den flachen Boden des Bootes stärker zu machen,
wird derselbe oft mit einer Einfassung aus Holz versehen, talka oder
talla genannt, was ursprünglich Sohle bedeutet. Der eigentliche
Kiel dagegen heisst gewöhnlich bei Seeleuten nach dem Schwedi¬
schen k'ö'öli oder kyöli (schwed. k'öt).
Auf die zufällige Hülfe der Segel bei der Schifffahrt scheinen die
Finnen kein besonderes Gewicht gelegt zu haben, wie auch eins ihrer
Sprichwörter noch sagt: «Wenig Frommen von den Segeln, ist nicht
Hülfe von den Rudern». Auf kleineren Binnenseen und Flüssen ist
das Segeln in der That von geringem Nutzen, theils weil das über¬
all nahe befindliche Land den Wind zurückhält, theils wegen des
sich schlängelnden Laufes des Fahrwassers, welcher den Reisende n
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nöthigt, stets die Richtung zu ändern. Noch zu unserer Zeit werden
bei der starken Schifffahrt, welche auf der Wolga und mehreren
anderen Flüssen im Innern Russlands stattfindet, Segel beinahe gar
nicht oder nur selten gebraucht. Erst am offenen Meeresstrande
wird der Mensch gewahr, dass er sich mit Vortheil vom Winde längs
der Oberfläche des Wassers treiben lassen kann, und erfindet dann
auch die Geräthschaften zur Benutzung desselben. Die Finnen
brauchten jedoch nicht selbst diese Erfindung zu machen, sondern
erlernten die Kunst von den Völkern, welche sie am Meere vorfan¬
den. Wenigstens kann man diese Folgerung aus den Wörtern
ziehen, mit welchen Segel und andere hierher gehörende Gegen¬
stände in den baltisch-finnischen Sprachen benannt werden, denn
die meisten dieser Wörter sind entlehnt.
Nicht einmal die Benennungen des Ruders sind genuin, sondern
von den skandinavischen (und bei den östlichen Finnen den sla-
vischen) Sprachen entlehnt. Dies erklärt sich jedoch dadurch, dass
die Finnen vor ihrer Ankunft an die Ostsee sich nicht dieses Mittels
zum Fortkommen im Boot bedienten, sondern mit dem Gesicht ge¬
gen das Ziel der Reise gewendet, das Fahrzeug vorwärts trieben,
indem sie mit einem Handr oder sogenannten Steuerruder schaufel¬
ten. Für das Geräth zu einer solchen Art des Ruderns hat das
Finnische einen genuinen Namen, mela , und dieses Geräth wird noch
heutzutage, wo die neue Art des Ruderns eingeführt ist, von den
finnischen Bauern fast allgemein zum Steuern der Böte gebraucht.
Das eigentliche, am Hintertheile des Fahrzeuges befestigte Steuer
wird blos bei grösseren Böten gebraucht und wurde erst eingeführt,
als man von den Nachbarvölkern die ausgebildetere Schiffbaukunst
kennen gelernt hatte, weshalb dasselbe auch einen entlehnten Na¬
men, tyyri (schwed. styre) hat.
Von den übrigen zum Schiffsbau gehörenden Gegenständen be¬
rühren wir nur noch die, durch welche das Fahrzeug vor dem Ein¬
flüsse der Luft und des W®sers bewahrt wird, Theer und Pech .
Beide haben entlehnte Namen; und dass die finnischen Völker ur¬
sprünglich die Kunst der Theerbereitung nicht gekannt haben, geht
am deutlichsten aus der Benennung des Theeres im Wogulischen
und Nordostjakischen hervor. In der Sprache der südlichen Wogu¬
len ist diese Benennung rus-onqua, «russisches Harz», da die Be¬
rührung mit den Russen hier stärker gewesen und die Kunst des
Thecrbrennens von ihnen in diesen Gegenden eingeführt worden ist;
bei den nördlichen Wogulen dagegen, bei welchen der Einfluss der
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Syrjänen sich mehr geltend gemacht hat, ebenso wie bei den Ost>
jaken, heisst Theer «syrjänisches Harz».
Gehen wir jetzt zum Gebiete des Handels über. Im Finnischen
heisst eine Stadt kaupunki , was aus den skandinavischen Sprachen
stammt (kaup — Kauf; kaupungr , jetzt köping — Marktflecken). Die
ausserhalb Finlands befindlichen jämischen Mundarten des Finni¬
schen benennen eine Stadt mit einem genuin finnischen Wort, liiina,
das eigentlich doch (wie noch im Finnischen) Feste, Festung , Schloss
bedeutet (ursprünglich wohl blos Anhöhe , Bergeshöhe , dann beson¬
ders eine solche, welche durch Mauern und Verhaue zu einem Zu¬
fluchtsort vor einem plötzlichen Anfall des Feindes wurde). Die
Namen der wichtigsten Bestandthcile einer Stadt, wie Mauer, Thurm,
Stadtviertel, Vorstadt, Strasse und Markt, sind alle, und zwar auch
hier meist den germanischen Sprachen entlehnt.
Obgleich also die finnischen Völker aller Wahrscheinlichkeit nach
keine Städte hatten, trieben sie dennoch Handel mit den Nachbar¬
völkern, Dieses bezeugen nicht nur Nestor und alte historische
Urkunden, sondern auch die Sprachen der finnischen Völker. Für
die Begriffe tauschen , kaufen , verkaufen , Preis, kosten , bezahlen gibt
es in allen genuine Namen. Handel dagegen ist einer der allgemei¬
nen Begriffe, für welche das Finnische nicht im Stande gewesen ist, »
ein eigenes Wort zu bilden; der Name für Handel, kauppa (=Kauf),
ist dem Schwedischen entlehnt. Kaufmann heisst ebenso kauppa -
mies\ doch wird auch in Karden recht häufig das Nomen proprium
gentite saksa (ein Deutscher) in dieser Bedeutung gebraucht. Auch
Handelswaare hat einen fremden Namen, tavara (= russ. tovdr oder
litth. tavord ), welcher wahrscheinlich anfangs nur zur Bezeichnung
ausländischer Waaren, welche von den Nachbarvölkern den Finnen
zugeführt wurden, diente. Das, was diese in Tausch dagegen gaben,
hiess überhaupt kalu (was jetzt Sach<£Ding, Geräth bedeutet), aber
späterhin, und zwar am allgemeinsten raha. Man muss jedoch nicht
glauben, dass die mit dem letzteren Worte benannte Waare dasselbe
war, was jetzt mit diesem Worte benannt wird, nämlich Geld. Die¬
ses lernte das finnische Volk in einer verhältnissmässig späteren
Zeit kennen, und auch dann wurden die fremden Münzstücke nicht
als allgemeine Werthmesser geschätzt, sondern weil dieselben,
durchbohrt, besonders dauerhafte und schöne Zierrathen zu dem
verschiedenen Hals-, Brust- und Kopfschmuck abgaben, welchen
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diese Völker trugen und theilweise noch tragen. (S. oben pag. 35 .)
Eine derartige Geringschätzung des Geldes als Geld betrachtet, wird
bei den nördlichen Ugriern und Samojeden noch jetzt angetroffen;
der Verfasser hat selbst gesehen, mit welcher Gleichgiltigkeit Wo¬
gulen und Ostjaken in den inneren Theilen der östlichen Berggegend
des Urals das Silbergeld betrachten, welches man ihnen für geleistete
Dienste gegeben hat, wogegen eine Hand voll russischen Tabaks
sie in Entzücken versetzen konnte. Hier zeigt es sich deutlich, dass
das Geld blos eine Waare ist, und zwar eine Waare, welche der
Wogule viel geringer schätzt, als verschiedene andere Waaren, die
er nöthig hat, z. B. Pulver, Salz, russischen Fries und Leinwand, so¬
wie auch Tabak und Mehl, die beiden letztgenannten Gegenstände
jedoch mehr als Luxusartikel, denn als nothwendige Dinge. Viel¬
leicht macht man hier den Einwand, dass der Wogule wohl auch-
schon einsehen gelernt, dass man für Geld sich alle diese schönen
Sachen und noch Anderes dazu verschaffen könne. Dies letztere
ist jedoch nicht der Fall in seinem Lande, denn die Russen und
Syrjänen, welche ihm seinen Bedarf an fremden Waaren zuführen,
suchen nicht Geld, sondern Pelzwerk, welches sie eintauschen, und
durch einen solchen Tauschhandel erhalten sie einen vielfach grösse¬
ren Gewinn, als dies bei einem regelmässigeren Handel der Fall wäre.
Dieses Pelzwerk der nordischen Völker ist es, welches im finni¬
schen Norden zuerst den Namen raha erhalten hat. * In den Runen
kommt das Wort in dieser Bedeutung oft vor, und hier, wie auch in
der Schriftsprache, kann man den Uebergang zur Bedeutung «werth¬
volle Sache», dann zu der von «Geld» deutlich verfolgen. Es waren
besonders Eichhornfelle, welche in früheren Zeiten das allgemeine
Tauschmittel, oder vielmehr die gangbare Scheidemünze, im euro¬
päischen und asiatischen Norden bildeten, und in dem letzteren theil¬
weise noch bilden. Darauf deutet sowohl der Kameralterm oravan•
tnaa , eih Stück Land, wofür ein Eichhorn als Steuer bezahlt wurde,
als auch der Umstand, dass in mehreren ural-altaischen Sprachen der
russische Kopeken mit demselben Wort, wie das Eichhorn benannt,
sogar in der Benennung des Rubels selbst hat dieser Thiername sich
im Wogulischen geltend gemacht, indem diese Münze darin «hun¬
dert Eichhörnchen» heisst. Es ist also ziemlich deutlich, dass die
Finnen in früheren Zeiten Geld nicht kannten, oder in der jetzigen
Bedeutung des Wortes nicht gebrauchten. Dies geht auch daraus
hervor, dass der Name dieses Gegenstandes in den finnischen
Sprachen so allgemein entlehnt ist, und noch mehr aus dem Um-
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Stande, dass diese Sprachen beinahe keine genuine Benennungen
von verschiedenen Münzsorten haben.
Bei jedem Handel ist die Bestimmung der Quantität def Waare
von Bedeutung sowohl für den Käufer, als für den Verkäufer. Diese
Bestimmung geschieht durch Maass und Gewicht . Bei dem Verkauf
der grösseren und theureren Pelzstücke hat natürlich die verschie¬
dene Qualität derselben Einfluss auf den Preis. Derselbe muss dann
in den meisten Fällen für jedes Stück besonders abgemacht werden.
Dagegen wurden die kleineren Felle, wie vom Hermelin, Marder und
hauptsächlich vom Eichhorn in grösseren oder kleineren Haufen
oder Bündeln verkauft, ohne dass die Qualität jedes Stückes beson¬
ders untersucht wurde. Für solche Bündel kleinerer Felle, beson¬
ders Eichhornfelle, hat man im Finnischen verschiedene Benennun¬
gen, welche jedoch zum Theil entlehnt sind.
Wahrscheinlich wurden die Waaren, welche die Finnen von den
Nachbarvölkern eintauschen mussten, z. B. Steinäxte und Stein-
geräthschaften im Allgemeinen, später Aexte und Messer aus Eisen
und andere ähnliche Sachen auch stückweise gezählt, und erst als
man anfing fremde Zeuge einzuführen, machte sich das Bedürfniss
von Lä?igenmaassen geltend. Dies war auch leicht zu befriedigen,
denn der menschliche Körper bietet gewisse Dimensionen dar,
welche leicht zu gebrauchen und dabei ziemlich unveränderlich sind,
und die als Längenmaasse gebraucht werden können. Deshalb ist
auch das Finnische reich an Benennungen von Quantitäten dieser
Art. Die finnische Benennung des kleinsten Längenmaasses, welches
jetzt im täglichen Leben gebraucht wird, nämlich des Zolles , ist das
schwedische Wort tum (Daumen) in der Gestalt tuu?na oder tuumvia\
auch der estnisch-livische Name dafür toll oder toi 7 * ist entlehnt von
dem deutschen Zoll, Dagegen ist die Benennung des demnächst
grösseren Längenmaasses vaaksa genuin; sie bezeichnet den Ab¬
stand zwischen den Spitzen des Daumens und den des Zeigefingers,
wenn dieselben ganz auseinander gespreizt werden, d. h. eine Spanne .
Auch die übrigen finnischen Sprachen haben genuine Namen für
diesen Begriff, ebenso wie für Elle und Faden . Die Elle wird (ganz
wie bei den arischen Völkern) mit demselben Wort benannt, welches
den unteren Theil des Armes, vom Ellenbogen an, bezeichnet.
Unter den Bezeichnungen von grösseren Längenmaassen, d. h.
Namen der Wegelängen findet man das Wort peninkulma> welches
jetzt in der Bedeutung einer schwedischen Meile gebraucht wird,
jedoch eine echte Nomaden- oder Jägerschöpfung ist. Es heisst
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m
iiämiich eigentlich penin-kuulema (was aus älteren finnischen Schrif¬
ten und aus dem Lappischen hervorgeht) und dieses bezeichnet eine
ziemlich ungefähre Entfernung, nämlich so weit Hundegebell zu
hören ist.
Viel später, als Längenmaasse, kamen Hohl- und Gewichtmaasse
in Gebrauch. Hohlmaasse für flüssige Waaren waren vollkommen
unnöthig bis zu der Zeit, wo der Branntwein eine Handelswaare
wurde, deshalb sind auch alle Benennungen solcher Maasse dem
Schwedischen entlehnt. Auch die Namen der Getreidemaasse, der
Gewichte und der Wagen-Geräthschaften sind nicht genuin, und
zwar haben die meisten dieser Wörter einen germanischen Ursprung.
Dass solche allgemeine Begriffe, wie messen und wiegen ebenfalls
entlehnte Namen haben, ist nach dem bereits über solche Begriffe
Gesagten leicht erklärlich.
6 . Familie und bürgerliche Gesellschaft, Staat und Kirche.
Das Finnische und die finnischen Sprachen überhaupt sind ver-
hältnissmässig reich an genuinen Benennungen der Verwandtschafts¬
verhältnisse und können in dieser Hinsicht vollkommen gleich ge¬
stellt werden mit den litthauischen und slavischen Idiomen, welche
diejenigen unter den europäischen Sprachen sind, die die verschie¬
denen Arten der Verwandtschaft am genauesten mit verschiedenen
Namen bezeichnen. Da auch die hierher gehörenden Benennungen
grösstentheils in den verschiedenen finnischen Sprachen dieselben
sind, so können wir schliessen, dass sich bei den finnischen Völkern
ein geordnetes Familienleben in eigenthümlicher Weise, ohne frem¬
den Einfluss ausgebildet hat, und dass ein solches Familienleben
schon bei den Urfinnen existirte, bevor sie sich trennten.
Die Art eine Familie zu bilden ist jedoch bei den baltischen Firn
nen unserer Zeit vollkommen verschieden von der in früheren Zeiten
herrschenden. Bei den türkischen Völkern und auch unter den ost¬
finnischen war und ist die Sitte allgemein, dass der junge Mann,
welcher heirathen will, dem Vater der Braut eine Zahlung für sie
erlegt als Ersatz nicht nur für die Nahrung und Pflege, welche sie
als Kind bei den Eltern genossen hat, sondern auch für die Arbeits¬
kraft, welche durch ihren Uebergang zu einer anderen Familie der
ihrigen entzogen wird. Dieser Kaufpreis, galim genannt, kann recht
bedeutend sein ; der Betrag desselben richtet sich nach dem An¬
sehen, welches die Familie der Braut geniesst, und besonders nach
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der Mitgift, welche sie mitbringt Aber auch unter dem geringereit
Volk ist die Erlegung des gcilim so fühlbar, dass mancher arme Ta¬
tar unverheirathet lebt und stirbt, weil er nicht im Stande gewesen
ist, die nöthigen Mittel zu ersparen. In früheren Zeiten entzog man
sich oft der Bezahlung des Brautpreises dadurch, dass man die Braut
raubte , eine Sitte, welche bei den in gesetzloser Freiheit lebenden
türkischen Steppenvölkern noch fortblüth und wovon zahlreiche
Spuren In Lied und Sage auch bei den westlicher wohnenden ural-
altaischen Völkern Vorkommen.
Was die baltischen Finnen in dieser Hinsicht betrifft, so scheinen
ihre jetzigen Sitten und Gebräuche beim Freien und Heirathen eine
dritte Art dergleichen zu bilden, denn allem Anscheine nach nahmen
die Finnen nach ihrer Einwanderung in die Ostseeländer Verschie¬
denes von den Gebräuchen der litthauischen Völker als Ausbildung
und Zusätze an den eigenen Gebräuchen an; und die Lehre des
Christenthums von der Ehe und die Art der Kirche, dieselbe abzu-
schliessen, veranlassten weitere Modifikationen in denselben.
Aus dem hierher gehörenden Wortvorrath heben wir nur das
hervor, was über besondere Kulturverhältnisse Aufschluss geben
kann.
Bräutigam heisst am Allgemeinsten im Finnischen sulhancn. Die¬
ses Wort komn^t auch im Estnischen und Livischen vor, hat aber da
die Bedeutung Diener. Dieselbe Bedeutung hat auch das lettische
sullainis, und es ist wahrscheinlich, dass dieses das Original der
finnischen Wörter ist. Der Uebergang von der Bedeutung Diener
zu der des Bräutigams , sowie eines Schwiegersohnes , Hausschwieger -
soknes , welche Bedeutung das Wort auch in einigen Gegenden hat,
kann man am wahrscheinlichsten darin suchen, dass es in älteren
Zeiten vielleicht Sitte gewesen ist, dass ein junger Mann nach Art
und Weise der alten Israeliten erst im Hause der Eltern der Braut
einige Zeit dienen musste, bevor er ihrer Hand würdig befunden
wurde.
Verlobungsgabe heisst finnisch kihla , estn. kihl\ was auch die Be¬
deutung Pfand hat, wogegen das weps. kehl Wette bedeutet. Auch
im Lettischen kommt das Wort in der Gestalt kils und in der Be¬
deutung Pfand vor. Dieses ist die ursprüngliche Bedeutung des
Wortes; da sie dem Original des Wortes altnord, gisl, schwed ,gis~
lan , deutsch Geissei angehört, womit eine Person bezeichnet wurde,
welche dem Feinde als Unterpfand der Erfüllung eines Vertrages,
Versprechens oder einer Verpflichtung überliefert wird. Und wie
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rtian bei Wetten etwas als Unterpfand der Richtigkeit einer Behaup¬
tung aussetzt, konnte das Wort auch diese Bedeutung erhalten, so¬
wie es die einer Verlobungsgabe erhalten hat, da eine solche eigent¬
lich ein Unterpfand dafür ist, dass der Mann sein gegebenes Ehe-
gelöbniss erfüllt.
Unerlaubte Geschlechtsverbindungen kamen, nach der Sprache
zu schliessen, bei den alten Finnen nicht vor, denn die meisten Be¬
nennungen auf diesem Gebiete sind entlehnt.
Die Benennungen für Hausvater und Hausmutter sind von denen
für Vater und Mutter durch eine Ableitungsendung gebildet, welches
jenen Benennungen die Bedeutung des oder der an Vaters oder
Mutters Statt Befindlichen gibt. In den südjämischen Mundarten
haben diese Wörter jedoch mehr die Bedeutung von Herr und Frau
oder Herrin angenommen. Ein Diener hat mehrere Benennungen,
die meisten sind jedoch entlehnt, darunter auch orja y welches jetzt
Sklave bedeutet, aber sich in seiner älteren Bedeutung von Diener,
Miethling, noch in der Schriftsprache nachweisen lässt. Allem An¬
scheine nach hatten die Finnen keine Sklaven.
Die der Einsamkeit zugeneigte Gemüthsbeschaffenheit des Finnen
ist der Gesellschaft oder Genossenschaft wenig zugethan. Daher
kann es keine Verwunderung erregen, dass die finnische Sprache
für den Begriff Genoss nur die Benennung toinen mies , «ein zweiter
Mann», hat. Die übrigen Benennungen eines solchen sind fremder
Herkunft, so kumppani aus altschwed. kumpan und toveri aus dem
russ. TOBapmu.'b (toväristsch). Ein Freund heisst sehr poetisch ystävä ,
dieses Wort ist genuin und bedeutet eigentlich: «der, welchen man
an die Brust drückt».
Zu einer sozialen Vereinigung scheint der Familien- oder Ge¬
schlechtsverband keine Veranlassung gegeben zu haben. Keine
der genuinen Benennungen für den Begriff Geschlecht hat die Neben¬
bedeutung Tribus oder Canton, oder etwas Aehnliches, aus welchem
man schliessen könnte, dass die zu einem Geschlecht gehörenden
Familien ein soziales Ganze gebildet hätten. Ein derartiges Ver-
hältniss war wohl auch unmöglich, da jede Familie für sich und we¬
gen der Jagd und Rennthierweide entfernt von jeder anderen lebte.
Mit dem Worte vieras, welches in Folge seiner Ableitung von vieri f
Kante, Seite, das nebenbei Belegene, eigentlich die Benennung eines
Nachbars sein sollte, bezeichnete man jedoch einen Fremden . Der
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Begriff Nachbar war dagegen unbekannt, und nachdem man ihn vori
den arischen Völkern kennen gelernt hatte, entlehnte man ihnen
auch den Namen desselben. Da von einer Grenze zwischen den
Weiden- und Jagdplätzen der verschiedenen Familien in den Unge¬
heuern Wäldern nicht die Rede sein konnte, begnügte man sich da¬
mit, Flüsse, Bergrücken und ähnliche Gegenstände als Grenzen des
Gebietes anzusehen, welches man sich nach dem Jus prius occupan-
tis angeeignet hatte. In dieser Art okkupiren hiess pyhittää , und
das okkupirte Gebiet war also pyhä y irgend Jemand Vorbehalten.
Wahrscheinlich errichtete man, wenn kein natürlicher leicht erkenn¬
barer Gegenstand sich darbot, als Grenzzeichen einen Pfahl oder
Stein, welcher den Namen pyyki oder pyykki erhielt; dieses Wort
hat jetzt die Bedeutung Grenzstein oder Grenzzeichen und ist viel¬
leicht ein verdorbenes Derivat von den letztgenannten pyhä und
pyhittää. Irgend eine andere Grenze war nicht nöthig und existirte
auch nicht, bis der Ackerbau allgemeiner zu werden anfing und
genauere Bestimmungen in Betreff des Eigenthumsrechts des Lan¬
des nothwendig Wurden. Hieraus lässt es sich erklären, dass die
finnischen Sprachen blos entlehnte Namen für den Begriff Grenze
haben. (Am allgemeinsten raja = russ. fcpaü ( krai), Kante, Rand,
Grenze.)
Auch die Benennung eines Dorfes (finn. kylä) bezeichnete keine
bürgerliche Gesellschaft , sondern nur eine Anzahl Menschenwohnungen.
(Das Wort kylä wird noch jetzt in einigen Gegenden des mittleren
Finlands auch in der Bedeutung //^gebraucht.) Ebenso wenig ist
etwas Soziales in den Bedeutungen der Wörter zu finden, mit welchen
der Begriff Volk bezeichnet wird, sie bedeuten eigentlich blos eine
Menge . Dagegen scheint das Wort pitäjä die genuine Benennung
irgend einer Kommune oder Gemeinde zu sein. Leider gibt es keine
Thatsachen, aus welchen man über die Beschaffenheit der mit die¬
sem Wort benannten Gemeinde schliessen könnte, denn natürlicher¬
weise konnte dasselbe erst nach der Einführung des Christenthums
seine jetzige Bedeutung Kirchspiel erhalten. Das Wort keräjä ,
welches später die Benennung eines Gerichts in skandinavischem
Sinne wurde, scheint ursprünglich die Benennung der Volksversamm¬
lung einer solchen pitäjä gewesen zu sein. Es ist natürlich, dass eine
solche Gemeinde wenigstens zu Kriegszeiten, irgend einen Haupt¬
mann haben musste. Vielleicht war es ein solcher Hauptmann,
welcher den Namen kuhm hatte, womit ein Herr oder Beamter im
Wepsichen noch jetzt benannt wird. Zum Besten der Gemeinde ,
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wurde wohl auch ein Zusammenschiessen in natura rtöthig; Vermuth-
lieh war dies die erste Bedeutung des Wortes veto oder vero> welches
jetzt Steuer bedeutet.
Wahrscheinlich wurde auch eine Art Rechtspflege auf den keräjä
von dem kuhm sammt den Gemeindeältesten ausgeübt, wobei die
einfachen Prozesse nach Billigkeit und altem Herkommen entschie¬
den würden. Ein geordnetes Gerichtswesen scheinen die finnischen
Völker erst von den arischen Eroberern erhalten zu haben. Das
kann man unter Anderem daraus schliessen, dass die Terminologie
des Finnischen auf diesem Gebiete sehr arm, und dabei doch gröss-
tentheils entlehnt ist.
Aus dem Gebiete des Civilrechts führen wir an, dass für den Be*
griff frei das Finnische keiner Benennung bedurfte, da es auch einer
solchen für Sklave entbehrte. Frei heisst jetzt vapaa (ursprünglich
vapada ), was jedoch eigentlich frei von Arbeit\ ledig bedeutet, und
wahrscheinlich aus dem Lettischen gekommen ist, wo das Wort
svabads dieselbe Bedeutung hat (vgl. slav. cßobo^a | svoböda], Ledig-
keit, Freiheit). Für Herr ( Oberhaupt\ Fürst gibt es keine genuine
Benennungen, welche allgemein wären, mit Ausnahme des oben an¬
geführten weps. kuhm und des estn. izand , welches eigentlich Haus¬
vater bedeutet.
Obgleich die Finnen überhaupt ein friedliebendes Volk sind, so
haben sie zu jeder Zeit im Kriege Muth, Kaltblütigkeit und Aus¬
dauer an den Tag gelegt Der beharrliche Widerstand, den die
Esten den Deutschen, die Wepsen und Karelier den russischen
Eroberern leisteten, die Vikirigsfahrten der Karelier vom Finnischen
Meerbusen nach Westen hin, deren beständige Fehden auf beiden
Seiten der russisch-schwedischen Reichsgrenze, und alle die zahllosen
Kriege, welche die Finnen unter schwedischen Heerführern durch¬
gekämpft haben, legen Zeugniss davon ab, dass der Finne sich kei¬
neswegs vor dem wilden Spiel des Krieges scheut. Die Helden in
der Kalevala benehmen' sich, obgleich einige der vorzüglichsten
unter ihnen keine Krfeger ex professo sind, alle in der Stunde der
Gefahr als muthige Männer, und eine herrlichere Kriegergestalt als
Lemminkäinen hat kein Volkslied besungen, ein Beweis dafür, dass
kriegerische Eigenschaften bei dem Volke, aus welchem das Gedicht
hervorgegangen ist, gekannt und geschätzt waren. Ein eigentliches
und geordnetes Kriegswesen scheinen jedoch die Finnen vor der
schwedischen Eroberung nicht gehabt zu haben, denn z. B. für
eine Schaar hat das Finnische keine Benennung ausser der allge-
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meinen jouhko , Menge, Haufe; auch fehlen genuine Namen von
Lager , Fahne u. dergl.
Die Streitwagen waren in der frühesten Zeit ungefähr die¬
selben, welche zur Jagd auf die Thiere des Waldes gebraucht
wurden, aber später, als man durch die Nachbarvölker bessere
Waffen kennen gelernt hatte, wurden dieselben mannigfaltiger und
vollkommener. Eine der ersten Waffen ist unzweifelhaft das dolch¬
artige Schnitzmesser, puukko , wie dasselbe auch, gut geführt, eine
der gefährlichsten ist. Dagegen scheinen die Finnen erst von den
Nachbarvölkern an der Ostsee den König aller Waffen, das Schwert
kennen gelernt zu haben. Für den Begriff Spiess finden sich ausser
einigen entlehnten Namen zwei genuine, wovon saitta der ältere
gewesen zu sein scheint. Dieses Wort wird auch noch jetzt in der
ursprünglicheren Bedeutung Stange , PjaJil gebraucht, woraus man
schliessen kann, dass der älteste Spiess nur eine zugespitzte Stange
von irgend einem festen Holz war, wie man sie vor nicht langer
Zeit bei den Bärenjagden gebrauchte. Eine echt nationale Waffe
war der Knüttel (nuija). Der Bogen hatte zwei Benennungen, Kaari
(der eigentliche Bogni) bestand nur aus dem Bogen selbst und dem
Strange; jousi, die Annbmst, aus Bogen, Schaft und Strang. Eine
Armbrust wurde also gespannt: man streckte den einen Fuss in
einen am Ende des Schaftes stark befestigten Eisenbügel, dann er¬
griff man den Strang mit einem besonderen Instrumente aus Eisen,
welches an einem breiten Gürtel aus dem stärksten Leder befestigt
war, und zog ihn in die Kerbe einer Rolle, die sich auf einer eisernen
Spindel drehte und nach unten zu mit dem Drücker in Berührung
stand. Es war also mit der Stärke des Rückens oder vielmehr des
ganzen Körpers, mit der die Armbrust gespannt wurde und auch
dem Stärksten war es unmöglich mit blosser Armesstärke dieselbe
zu spannen. Der Pfeil wurde in eine flache Kerbe gelegt und der
Schuss immer frei vom Arme geschossen, nicht mit gegen die
Schulter gestütztem Bogenkolben, da das Zurückprallen sehr stark
war. Der für die Armbrust verwendete Pfeil hatte eine Spitze aus
hartem Holz, Knochen oder Eisen, wogegen der Bogenpfeil mit
einem Knopf am Ende versehen war. Jede dieser zwei Arten von
Pfeilen war um gerade zu fliegen mit drei Adlerfedern am hinteren
Ende versehen. Ebenso wie der Pfeil hat auch der Köcher im
Finnischen einen genuinen Namen. Derselbe war aus Netzwerk
verfertigt, hatte jedoch einen Holzboden; man trug ihn auf dem
Rücken und zog die Pfeile aus ihm über die Schulter heraus. Die
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109
Schleuder scheint den Finnen vor ihrer Ankunft an die Ostsee nicht
bekannt gewesen zu sein.
Dagegen scheinen sie schon früher zum Schutz des Körpers eine
Art Knochenpanzer getragen zu haben, eigentliche Panzer und
Harnische lernte man erst später kennen. -
Der Schild ist eine Schutzwaffe, die schon zu einem geordneten
Kampf mit dem Schwert gehört, und scheint den Finnen zugleich
mit dieser Waffe bekannt geworden zu sein.
Gehen wir schliesslich zu den Kulturwörtern auf dem Gebiete der
Religion und Kirche über, so finden wir dass die baltischen Finnen,
bevor das Christenthum bei ihnen Eingang fand, zu den Begriffen
und Vorstellungen, welche ihre schamanische Lehre darbot, ver¬
schiedene andere von den arischen Kulturvölkern, welche sie in den
Ländern der neuen Heimath an der Ostsee antrafen, entlehnt und mit
den fremden Begriffen auch die fremden Namen angenommen haben.
Auf diesem Wege hat der Begriff Himmel den für die finnischen
Sprachen fremden Namen taivas erhalten. Die Begriffe Himmel ,
Gott des Himmels und Gott überhaupt sind, wie Castren bewiesen
hat, bei den finnischen Völkern oft verwechselt worden. So erhielt
das Wort jumala das wörtlich Heimath des Donners , Himmel be¬
deutet, bei den baltischen Finnen allmälig die Bedeutung von
Gott des Donners und schliesslich von « Gott» überhaupt. Als Ersatz
dafür entlehnten sie von den Litthauern das Wort dievas, welches
jetzt Gott im Allgemeinen bedeutet, früher aber der Name einer
besonderen Gottheit gewesen sein mag. Dieses Wort heisst im Let¬
tischen devs und kommt in den indo-europäischen Sprachen in so
zahlreichen Gestalten, (z. B. sanskr. deva, lat. deus u. s. w.) vor,
dass dessen arische Herkunft ausser allem Zweifel ist. Von den
Litthauern scheinen die Finnen auch das Wort perkele erhalten zu
haben, welches jetzt die Bedeutung des bösen Feindes oder Satans
hat. Das Original dieses Wortes ist das litth. perkunas lett. perkons i
womit man früher den Gott des Donners, jetzt nur den Donner be¬
zeichnet Für denselben Begriff hatten die Slaven das mit diesem
Namen nahe verwandte Wort ndpym> (p'eriiri), welches in der
Volkssprache noch in der Bedeutung von Donner vorkommt,
und wahrscheinlich das Original des finn. piru y der eigentlichen
und allgemeinen Benennung des Teufels, ist. Auch von den skan¬
dinavischen Völkern sind verschiedene solche Vorstellungen nebst
deren Namen zu den Finnen gekommen,
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Eine noch grössere Menge neuer Wörter wurde in die westfinni¬
schen Sprachen eingeführt als bei ihnen das Christenthum gepredigt
wurde. Zum Theil bildete man diese Wörter aus eigenem Vorrath;
meist sind sie jedoch den Nachbarsprachen entlehnt. So heisst z. B.
Geist finn. henkt , estn. hing , dieses Wort blieb indessen nur im
Estnischen die Benennung des christlichen Begriffes Seele , wogegen
das Finnische und das Lappische das germanische Wort entlehnten
(finn. sielu). Glatibe und Gebet haben genuine Namen; die russischen
Karelier haben jedoch für den ersten Begriff auch dass russ. B'fepa
(vera ) in der Gestalt vieru als Benennung für Glaubensbekenntniss
oder Relionsgemeinschaft angenommen. Sünde und Hölle wurden
mit fremden Namen genannt; das Estnische hat für Hölle den
Namen/£/g7/ gebildet, welcher mit dem obengenannten perkele (estn,
pörgel ) in Verbindung steht. Auch für den Begriff Opfer scheint
es den Finnen an Ausdrücken gefehlt zu haben* denn die Ver¬
breiter des Christenthums benannten dasselbe mit dessen schwe¬
dischem Namen.
Die Benennung des Symbols des Christenthums, des Kreuzes ,
ist in die baltischen Sprachen aus dem Russischen gekommen,
welcher Umstand auch als Beweis dafür dient, dass russische Missio¬
näre der griechischen Kirche Versuche zur Ausbreitung der christ¬
lichen Lehre unter den Finnen gemacht haben und zwar früher, als
die schwedische Eroberung statt fand. Nur die Lappen, denen diese
Lehre später von Skandinavien aus gepredigt wurde, entlehnten zur
Benennung des Kreuzes dessen schwedischen Namen. Ein weiterer
Beweis für die eben ausgesprochene Vermuthung ist die Benennung
des Priesters , denn auch diese ist dem Russischen entlehnt. Was
die übrigen Wörter betrifft, die zum Gebiete der Kirche gehören,
so sind dieselben natürlicherweise entlehnt und zwar sowohl den
skandinavischen als auch den slavischen Sprachen; oft ist für den¬
selben Begriff eine Benennung von Westen, eine andere von Osten
her in die westfinnischen Sprachen gekommen.
Zum Schluss noch einige Worte über die Zeiteinteilung , die
kirchlichen Feste und deren Namen.
Eine kürze unbestimmte Zeit, eine Weile heisst im Finnischen
hetki oder kotva. Diese beiden Wörter haben auch die Bedeutung
Stunde erhalten, obwohl sie in dieser Bedeutung durch die germa¬
nischen Lehnwörter tiima (— schwed. timma ) tunti (= Stunde) ver¬
drängt werden. Ein Tag wird mit dem Namen der Sonne und des
Tageslichtes benannt; auch die Nacht hat einen genuinen Namen,
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III
Dagegen wird die Woche in den meisten finnischen Sprachen mit
dem russischen Namen He.zrfejifl (nedeFa) benannt; nur das Finni¬
sche und das Lappische bedienen sich des schwedischen vecka
(altschw. vikd) in den Gestalten finn. viikko lapp, vakko . Die Benen¬
nungen der verschiedenen Wochentage stammen aus denselben
Sprachen wie die bezüglichen der Woche. Für Monat und Jahr
finden sich genuine Namen; der ersterc wird mit dem Namen des
Mondes benannt.
Die Benennung der Feiertage sind auch den Nachbarsprachen
entlehnt oder den in diesen Sprachen befindlichen nachgebildet;
das einzige christliche Fest, welches mit einem altfinnischen heidni¬
schen zusammengeflossen, ist der Allerheiligentag . In dieser Zeit
im Herbst feierten nämlich die heidnischen Finnen ein Fest zu
Ehren Kekrfs , der bei ihnen der Schutzgeist des Viehes war. Der
Allerheiligentag heisst zwar im offiziellen und kirchlichen Styl
pyhiiin miesten päivä , der Tag der heiligen Männer, wird jedoch in
der Volkssprache ganz allgemein, besonders im östlichen Finland
kekri oder moderner keyri genannt. Der Allerheiligentag hat auf¬
gehört ein besonderes Kirchenfest zu bilden, und obgleich auch die
Gottheit Kekn vergessen ist, so wird dennoch der Tag noch in
verschiedenen Theilen des Landes gefeiert; in jedem Hause wird
des Morgens früh ein Schaf geschlachtet; Kaffe, Branntwein und
Bier finden sich vollauf und die Jugend belustigt sich mit Spiel
und Tanz.
Bei diesem Feste und ähnlichen Gelegenheiten kamen wohl in
früheren Zeiten auch die Gaben der Dicht- und Tonkunst mehr als
sonst zur Anwendung. Die finnische Volkspoesie hat unvergäng¬
liche Blumen aller Art aufzuweisen. Von den sinnreichen Räthseln
(arvoitukset ) und den tief gedachten Sprichwörtern (.sananlashut ) an,
welche ebenso wie die ersteren in Versform abgefasst sind, hebt
sich durch alle Stufen der herrlichsten Lyrik hindurch, die finnische
Volksdichtung in den mythischen und magischen Liedern mit kühnem
Flug sogar zur Erforschung der «Ursprungswörter» der Dinge,
und besingt in schönen epischen Gedichten die Thaten der Vorfahren.
Ohne Zweifel brachten die Finnen die Gabe des Gesanges mit sich
aus der Urheimath. Aber zum Bewusstsein und zur Anwendung
dieser Gabe scheinen sie erst hier in den Ländern an der Ostsee
gekommen zu sein. Dieses kann man unter Anderem daraus schliessen,
dass die östlichen Stammverwandten kein ausgebildetes Volkslied,
keine regelmässige Verskunst haben, sondern höchstens recitativ-
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artige, kunstlose und dürftige Balladen, sowie auch daraus, dass
von einer Allitteration keine Spur in diesen vorkommt, und dass also
diese in die finnische Volkspoesie erst durch den Einfluss der Dicht¬
kunst der germanischen Völker gekommen ist, bei welchen dieses
lautliche Verschönerungsmittel der Poesie bekanntlich häufig zur
Anwendung gekommen war. Die Benennung runo , womit man
ursprünglich wohl nur den Zaubergesang benannte, scheint der
Sprache dieser Germanen entlehnt und mit dem gothischen rum
identisch zu sein.
Hiermit sind wir mit unserem. Referat über das Werk des
Hm. Ahlqvist zu Ende. Wir haben dabei nur die Hauptergebnisse
der Untersuchung der Kulturwörter berücksichtigen können, eine
Fülle von Einzelheiten deren Erörterung oft sehr interessant ist,
haben wir übergehen müssen.
Das Angeführte wird jedoch, hoffen wir, dem Leser ein hin¬
länglich vollständiges Bild des früheren Kulturzustandes der balti¬
schen Finnen geben. Auch haben wir oben, so viel als möglich,
die Worte des Verfassers beibehalten, um dadurch wenigstens ei¬
nige Proben von seinem Styl zu geben, der sich durch eine
nicht gewöhnliche Frische und Lebendigkeit auszeichnet. Und
schliesslich sind wir nicht selten dem Verfasser auch in die Einzel¬
heiten der Untersuchungen gefolgt, um dadurch zu begründen,
was wir Anfangs über seine Methode gesagt haben. Der Leser
wird gefunden haben, mit welcher Vorsicht der Verfasser seine
Untersuchung ausgeführt hat und wie er stets die auf dem Gebiete
der Sprachwissenschaft gewonnenen Resultate mit den Ergeb¬
nissen der Länder- und Völkerkunde und der Geschichte zusammen¬
stellt und stützt.
Um diese Resultate noch mehr zu sichern führt der Verfasser in
seinem Schlusskapitel an, dass der Kulturstand, auf welchem, nach
den Kulturwörtern zu schliessen, die baltischen Finnen früher
standen, eben derselbe ist auf dem die ugrischen Finnen noch heut
zu Tage sich befinden. Das Klima und die übrigen Naturverhält¬
nisse in dem Lande, welches sie bewohnen, nämlich das Gebiet
vom mittleren Ural bis zum unteren Lauf des Irtysch und mittleren
Ob, stimmen sehr nahe überein mit dem Klima und den Naturver¬
hältnissen westlich vom Ural unter denselben Breitengraden, d. h.
des nördlichen Theiles des europäischen Russlands, eben des
Landes, in welchem die Vorfahren der Finnen wahrscheinlich Jahr-
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hunderte lang gelebt hatten bevor sie an die Ostsee kanlen. Diese
Uebereinstimmung wird noch grösser, wenn man von dem letzteren
Lande den Ackerbau und die übrige Kultur sich hinweg denkt,
welche die Russen daselbst eingeführt und die natürlicher Weise
auch auf das Klima Einfluss gehabt hat. Dass die Bewohner des
letzteren Landes, bevor sie mit den Russen und anderen Ackerbau
treibenden Völkern arischer Abstammung in Berührung kamen,
von den ähnlichen Naturverhältnissen zur selben Lebensweise wie
deren Brüder auf der östlichen Seite des Urals veranlasst wurden,
ist nicht nur wahrscheinlich sondern ganz offenbar. Inzwischen
sind diese, da die arische und im Allgemeinen jegliche fremde
Kultur auf sie nur kurze Zeit und schwach eingewirkt hat, Jahrhun¬
derte hinter ihren Brüdern im Westen zurückgeblieben, und sie
stehen folglich noch auf derselben oder beinahe derselben Kultur¬
stufe und führen ungefähr dieselbe Lebensweise wie die, welche
vor Jahrhunderten unter denselben Verhältnissen allen finnischen
Völkern gemeinsam war. Man kann also aus der jetzigen Lebens¬
weise und dem Kulturstande der ugrischen Finnen auf die Lebens¬
weise und die Kulturstufe der Finnen schliessen welche aus dem
Osten in die Ostseeländer einwanderten.
Diese ugrischen Völker sind längst genau geschildert, die Ost-
jaken von Castr^n (Nordische Reisen und Forschungen IV.
pag. 106— 128), die Wogulen von Prof. Ahlqvist selbst in seinen
finnisch herausgegebenen Reiseberichten. Diese letztere Schil¬
derung kommt in deutscher Uebersetzung in den «Bulletins de la
classe hist.-phil. de Pacademie imp. des Sciences de St. P£tersbourg.»
Tome XVI. pag. 49—66 vor, und ist auch vom Verfasser in seinem
Werke über die Kulturwörter aufgenommen, wobei er hinzufügt,
dass dieselbe ganz und gar durch Autopsie an Ort und Stelle ent¬
standen ist und dass zur Zeit als sie abgefasst wurde (Sept. 1858
der Verfasser an eine derartige Untersuchung wie das vorliegende
• Werk noch nicht gedacht hatte.
Da nun sowohl diese Schilderung als die Castros von den Ost-
jaken, mutatis mutandis mit dem nach den Kulturwörtern gezeich¬
netem Bilde der Lebensweise und der Kulturverhältnisse der alten
Finnen auf das genaueste übereinstimmt, so kann dieses letztere Bild
unmöglich falsch sein. Es ergibt sich, dass die entlehnten Kultur¬
wörter nicht unnöthiger Weise in die Sprache gerathen sind oder in
Folge eines Gelüstes mit ausländischem Schmuck zu prahlen. Wäre
die Ursache zur Aufnahme der Fremdwörter keine tiefere gewesen,
Bose. Revue. Bd. IX. 8
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nämlich die Entlehnung der Kulturgegenstände selbst, welche mit
diesen Wörtern bezeichnet werden und die bis dahin den Finnen
unbekannt gewesen, so hätte es unmöglich geschehen können dass
verschiedene Zweige des finnischen Stammes zu verschiedenen
Zeiten und in weiter Entfernung von einander, von den Nachbaren
ein jeder für sich die Benennungen für gerade dieselben Gegen¬
stände entlehnt hätten. Vergleicht man z. B. die im Finnischen und
Ungarischen vorkommenden entlehnten Kulturwörter, so findet
man, dass die Finnen am baltischen Meere und die Finnen auf
Pannoniens Gefilden die Nachbarsprachen durchaus in denselben
oder ähnlichen Fällen ausgebeutet, d. h. Namen für dieselben Be¬
griffe entlehnt haben. Dieselbe Uebereinstimmung in den ent¬
lehnten Wörtern zeigt sich zwischen dem Finnischen und Lappi¬
schen, dem Finnischen und dem Estnischen. Sogar innerhalb des
Finnischen selbst erweist es sich, dass während ein Kulturwort in
dem westlich belegenen jämischen Dialekt aus den skandinavischen
Sprachen gekommen ist, der Name für den damit bezeichneten
Begriff in dem östlichen karelischen Dialekt dem Russischen, dem
Deutschen oder'den litthauischen Sprachen entlehnt wurde.
In würdiger Weise schliesst der Verfasser sein Buch mit folgenden
Worten:
Die ursprüngliche Kulturstufe der baltischen Finnen war sicherlich
nicht hoch. Ist es aber eifie Schande für uns, dieses zuzugeben?
Ebensowenig als es für das einzelne Individium eine Schande ist
zuzugeben, dass es einst ein schwaches, unverständiges und unmün¬
diges Kind gewesen ist, welches der Hülfe, Leitung und Unter¬
weisung älterer Personen bedurfte, um ein civilisirter Mensch zu
werden, ebensowenig braucht sich eine Nation zu scheuen anzu¬
erkennen, dass ihre Vorfahren rohe Menschen gewesen, und dass
sie das Meiste ihrer Kultur von gebildeten Nachbarvölkern entliehen
hat. Durch ein solches Geständniss hat man nicht sein eigenes
Unvermögen oder die Ueberlegenheit des Nachbars an geistiger
Begabung ausgesprochen, sondern nur die Thatsache, dass man
in der Geschichte jünger sei . Und glücklicher Weise ist die Ge¬
schichte noch nicht aus. Obgleich die ural-altaischen Völker noch
nicht anders als passiv an der Kulturarbeit der Menschheit Theil
genommen haben, so kommt doch sicher eine Zeit, wo auch einige
von ihnen in selbständiger Weise die von den Nachbarvölkern
empfangene Kultur bearbeiten und weiter führen werden.
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Das Artelwesen in Russland.
Von
C. Gruenwaldt.
(Schluss.)
III. Die landwirthschaftlichen Artele.
Abgesehen von einer solchen Artel im Gouvernement Olonez,
Archangel und Tschernigow gibt es, soviel uns bekannt ist,
noch keine eigentlich landwirthschaftlichen Artele. Wenn wir
dieselben dennoch in den Kreis unserer Betrachtung ziehen, so
geschieht es besonders deshalb, weil nicht nur die gesammte russi¬
sche Presse, sondern auch schon einige Landschaftsversammlungen
im Augenblick aufs lebhafteste sich mit ihnen beschäftigen. Ihr
wirkliches Inslebentreten ist also nur noch eine Frage der Zeit.
Wie bekannt, erhielten nach Aufhebung der Leibeigenschaft die
Bauergemeinden Land zugetheilt. ‘ Dieses Land wurde nicht nach
der Zahl der Höfe, sondern nach der Zahl der Seelen vergeben. Um
nun auch genau konstatiren zu können, wieviel Seelen eigentlich in
dem betreffenden Dorfe vorhanden seien, nahm man die offiziellen
Revisionslisten (Zählungslisten) als Grundlage und Richtschnur.
Diese Listen werden in Zeiträumen von 15—20 Jahten neu zusammen¬
gestellt. Während dieser Zeit kann sich aber der Bestand der Fa¬
milien ausserordentlich verändern, so dass z. B. dort, wo bei der
X. Revision, der jetzt noch gültigen, eine Familie mit 8 Seelen ver¬
zeichnet war, sie bei der XI. vielleicht nur aus einer oder zwei be¬
stehen wird, oder es tritt auch der umgekehrte Fall ein. Immer
jedoch wird die einmal vollzogene Theilung sich aufs schwerste
fühlbar machen; der Arbeiter, dem das Schicksal allmälig 6—8
Landantheile übergeben, kann mit ihnen nicht fertig werden und
muss die Hälfte unbebaut lassen, — der andere Arbeiter, dem das
8 *
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Geschick 6 —8 Seelen aber nur einen Landantheil zugedacht, weiss
nicht, wie er sich und sie ernähren soll.
Zu diesem Uebelstand kommt noch ein anderer. Bekanntlich ist
die mittlere Grösse des Landantheils einer Seele nicht bedeutend. Bei
dem Mangel jedes rationellen Wirthschaftssystemes ist es nun na¬
türlich, dass dieser Landantheil nur in den besten Jahren soviel ab¬
wirft als zum Unterhalt der Familie nöthig ist. Von Geld oder
Getreide-Vorräthen oder Ersparnissen kann unter solchen Verhält¬
nissen natürlich keine Rede sein. Ein nur einigermaassen schlechtes
Jahr, eine nicht gute Erndte, eine Viehseuche — und der Landmann
sieht sich in der schlimmsten Lage. Wenn ihm auch die verschie¬
denen, jetzt erblühenden landwirthschaftlichen Leih- und Spar¬
kassen hülfreich beispringen, so können sie doch nur momentan
Unterstützung gewähren — zu einer Radikalkur fehlen ihnen die
Mittel.
Als letztes Uebel ist endlich zu erwähnen die Unmöglichkeit hier
zu Lande eine Gesinde-Wirthschaft einzuführen. Der Bauer sieht
rings um sich herum eine endlose Menge unbebauten Landes, er
gedenkt dessen, dass er, sein Vater, sein Grossvater in gewissem
Sinne frei, dass, wenn sie auch Leibeigene, so doch mit Allen
gleiches Schicksal hatten, er fühlt unter dem Druck der Verhält¬
nisse in sich immer reger werden.den Trieb/den Drang in der
Ferne sein Glück zu versuchen — das Alles begünstigt gewiss nicht
die Prinzipien der Knechtwirthschaft. Selbst der ärmste Bauer fühlt
sich in gewisser Hinsicht allen anderen Bauern gleich und so günstig
dieser Umstand auch in sonstiger Beziehung sein mag, so ungünstig
muss er sich zeigen, wenn es gilt den Bauern aus seiner Lage zu
reissen. Er verlangt im Prinzip vollständige Gleichheit seinen Dorf¬
genossen gegenüber: ihr Knecht und Arbeiter will er nicht sein
und er verkauft lieber sein Letztes, um vielleicht 300 Werst weiter
einfacher Burlak (Arbeiter) zu werden, als dass er im selben Dorfe bei
seinem ihm gleichen Mitbauer in Arbeit gehen sollte.
In Anbetracht aller dieser Umstände ist schon seit Jahren in den
Regierungskreisen, in den Landschaften und in der Presse die Frage
über die Abänderung des heutigen System’s des Gemeindebesitzes
ventilirt worden. Der russische Bauer ist nur Usufructuar seines Land¬
antheils, nicht aber Dominus; letzteres ist die Gemeinde. Man hat nun
bis jetzt einzig und allein in diesem den Keim alles Unheils gesucht,
und Wissenschaft sowohl, [als Leben theilten und theilen sich in zwei
grosse Gruppen, von denen die eine für, die andere gegen den
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Gemeindebesitz ist K Dieser Streit, der zufolge der Arbeiten eines
Haxthausen, Tschitscherin, Bjelajew, Klaus, Ssergejewitsch mehr
für die Geschichte der Entwickelung der russischen Bauergemeinde
gethan, als für die praktische Lösung der Frage über die Nütz¬
lichkeit oder Untauglichkeit des Gemeindebesitzes, ist nun seit
Kurzem in ein neues, gesunderes Stadium getreten. Die Twersche
Landschaftsversammlung hat sich die Frage vorgelegt, ob es nicht
möglich sei, trotz und mit dem bestehenden Gemeindebesitz die
bäuerlichen Verhältnisse zu verbessern. Da ist man denn vor allen
Dingen auf die von uns beregten Uebelstände gestossen und als
Radikalkur war der Vorschlag gemacht worden, das amerikanische
Prinzip des Homestead Law auch bei uns einzuführen. Nach ein¬
gehendem, gründlichem Studium desselben musste man sich sagen,
dass der Anwendung desselben bei uns manche Schwierigkeiten
entgegentreten, und, dass diese wohl mehr Sache der Regierung,
als der Landschaft sei. Die Landschaft blieb deshalb bei den land¬
wirtschaftlichen Artelen stehen. Diese Frage hatte schon auf dem
Programm des vorigjährigen Charkow’schen landwirthschaftlichen
Kongresses gestanden und wardurchein in* der «landwirthschaftlichen
Zeitung* veröffentlichtes Projekt zum Theil beantwortet worden.
Da diese Antwort aber in zu schroffer Weise das monokrate System
betonte und auch sonst nach keiner Seite hin befriedigte, so war die
Landschaft genöthigt, selbst an die Lösung der Frage zu gehen.
Man fand, dass allem Uebel abgeholfen werden könnte, wenn bei
Errichtung einer landwirthschaftlichen Artel darauf gesehen würde,
dass nicht nur die Arbeit, sondern auch der Ertrag, die Frucht gleich
seien. Die Artel solle sich, sei es mit Unterstützung der Land¬
schaft oder der «landwirthschaftlichen Spar- und Leih-Kasse», ein
Stück Land zu eigen erwerben, unter sich zu gleichen Theilen den
Ertrag vertheilen und nach Ansammlung eines bestimmten Reserve¬
fonds ihren Besitz vergrössern. Die einzige Schwierigkeit, die sich
der Realisirung der hier nur in ihren Hauptzügen skizzirten land¬
wirthschaftlichen Artel entgegenstellt, war der Mangel an Geld.
Wird dieses Hinderniss hinweggeräumt, so tritt die russische Land¬
wirtschaft in ein neues Stadium ihrer Entwickelung,
Während nun die Frage über die eigentlich landwirtschaftliche
Artel das russische Publikum immer noch beschäftigt, haben ge-
wisseZweige derselben schon seit Jahren sich entwickelt. Wir meinen
4 c t «Russ. Revue Bd. VIII.» pag. 5a ff, Keussler: Der Gemeindebesitz etc.
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a) die Artele fiir Käsebereitung und b) die Artete der Tabaksfflan -
zerinnen .
a) Es ist Hr. Wereschtscjiagin, dem die Ehre der Einführung der
Artele für Käsebereitung in dem Kreise der russischen Landwirth-
schaft gebührt. ' Und wieder war es die Twersche Landschaftsver¬
sammlung, die vor nunmehr io Jahren zuerst die ganze Wichtigkeit
dieser Artele erkannte und schleunigst für ihre Einbürgerung Sorge
trug. Ihrem Beispiele folgte im Jahre 1870 die Jaroslaw’sche Gouver¬
nements-Landschaftsversammlung, welche anfänglich .fünf Käse-
artele (zwei im Kreise Rybinsk, zwei im Kreise Poschechonje und
eine im Kreise Ljubin} organisirte. Schon im folgenden Jahre wurden
auf Bitten der Bauern abermals fünf Artele ins Leben gerufen (zwei
im Kreise Rybinsk, eine im Kreise Poschechonje, eine im Kreise
Ljubin und eine im Kreise Mologa) denen im nächsten Jahre noch
vier hinzugefügt wurden (zwei im Kreise Rybinsk, eine im Kreise
Poschechonje, eine im Kreise Mologa). Im Ganzen waren es also
bis zum Jahre 1873 vierzehn Artele mit ungefähr 600 Artelgenossen,
welche durch die Jaroslaw’sche SemskojeSsobranja (Landschaftsver¬
sammlung) den Impuls und die Mittel zu ihrer Entstehung erhalten
hatten. Bis zu dieser Zeit gewann man aus 1 Pud Milch nur 1 I*fund Butter
und 3 Pfund Käsequark (Twarög)j nimmt man als mittleren Preis für
das Pfund Butter 18 Kop. und für das Pfund Quark 2 l /a Kop., so
ergab i Pud Milch nur 25 1 /* Kop., — heute aber steigt der Erlös bis
auf 34 oder 46 Kop. und hat sich also um 40 pCt. gehoben. Mit
ihm zugleich hob sich auch die Qualität und Quantität des Viehes.
So wurden im Dorfe Palkino — 54 Höfe — 70 Kälber zum Stamm
gelassen, während früher nur 30 höchstens 40 dazu kamen, so ver¬
mehrte sich der Viehstand des Dorfes Koprino um 75 Stück,
trotzdem dasselbe Dorf 500 Rbl. zur Trockenlegung eines Sumpfes
verausgabt hatte. Ueberdies machte sich bei der genossenschaft¬
lichen Käsefabrikation eine Ersparung an Zeit und Mühe geltend,
welche nun auf sonstige, lohnende Arbeit verwandt werden konnte.
Vor allen Dingen aber war es wichtig, dass bei dieser Artel die Frauen
die Pflichten der Artelgenossen zu erfüllen imStande waren. Dadurch»
war dem doppelten Verdienst die Thür geöffnet: der Mann konnte,
indem er sich der Wander-Industrie anschloss l , ein Stück Geld zu¬
rücklegen, und die Frau, indem sie seine Pflichten zu Hause vertrat.
Sie brachte die Milch auf die Artel-Käserei und betheiligte sich
1 cf. «Russ. Revue» IV. B„ pag. 341 ff.
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in seinem Namen an den Beratschlagungen der Artel. Daher kam
es auch, dass einige, von den Artel-Käsereien entfernte Dörfer das
Verlangen aussprachen, sich an diesen Artelen zu betheiligen und,
nach gewährter Genehmigung, ihre Milch mehrere Werst weit zu
bestimmten ^Zeiten herbeibrachten. Diese günstige Entwickelung
der Sache wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht einige Privat¬
leute und die Landschaftsversammlungen energisch und mit sicherem
Takte eingegriffen und die nötigen Geldmittel hergegeben hätten.
Erstere erbauten einige grössere Käsereien zu je 525 Rbl. und bil¬
deten Leihkassen mit einem Kapital von 500 bis 800 Rbl., letztere
bestimmten zu demselben Zweck 8642 Rbl. 70 Kop. und veran-
lassten das Rybinskische Landschaftsamt 5000 Rbl. ä 6 pCt. den
Dorfschaften zur Disposition zu stellen. Da aber das Rybinski¬
sche Landschaftsamt an diese Summe die Bedingung knüpfte, dass
das Geld nur zu je 5 Rbl. ä Hof ausgeliehen werden könne, und da
überdies die Beziehungen der Käserei-Kuratoren zu der Artel und
der Landschaft nicht gehörig geregelt waren, so gab es bald heftige
Zusammenstösse, welche das so rasch Erblüthe schnell zu vernichten
drohten. Der erste derartige Zusammenstoss war im Dorfe Koprino.
Die Artelgenossen hatten ihren Aeltesten im Verdacht, Artelgelder
verschleudert zu haben. Auf der deshalb zusammenberufenen Ver¬
sammlung wurde denn auch trotz der Ausflüchte des Aeltesten das
Fehlen von 100 Rbl. konstatirt und deshalb beschlossen sofort zur
Exekution zu schreiten. Der Kurator jedoch nahm den Aeltesten
in Schutz und liess denVerkauf seines Vermögens nicht zu. Die
Unzufriedenheit stieg von Tage zu Tage und die Koprinsche Artel,
welche im Gouvernement als Musterartel galt, schrumpfte von 100
bis auf 65 Genossen zusammen. Wenn es die Landschaftsver¬
sammlung nicht über sich bringen wird, die Funktionen der Kura¬
tore und die Kontrole seitens der Artelgenossen gründlich und ge¬
wissenhaft zu regeln, so wird sie unbedingt die Existenz ihres eige¬
nen Kindes untergraben.
Die Organisation der Artele geht auf folgende Weise vor sich:
durch Gemeindebeschluss wird festgestellt, dass in dem betreffenden
Dorfe eine Käserei einzurichten sei. Da aber diejenigen Personen,
welche diesen Beschluss unterschreiben, im Falle irgend welcher
ungünstiger Umstände auch die Verantwortung tragen müssen, so
unterschreiben ihn nur die mehr oder weniger wohlhabenden Bauern.
Auf solche Weise sind diese die ersten Artelgenossen, gleichsam die
Gründer, welche nun andere zur Mitbetheiligung auffordern, nach-
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120
dem die Käserei durch private oder öffentliche Mittel errichtet und
der gelernte Käsemeister berufen worden ist. Ginge nun Alles so,
wie es sein müsste, so wäre das von keinem weiteren Uebel: die
Praxis aber hat gezeigt, dass diese anderen Genossen nur aufgefor¬
dert werden, damit die Unterschreibenden rascher ihr für die Er¬
bauung, Einrichtung etc. verausgabtes oder garantirtes Geld zurück¬
erhalten, und, dass nach Erreichung dieses Zieles der Eintritt in die
Artel sistirt oder erschwert wird. Die Meierei bleibt dadurch Gemein¬
gut weniger Glücklichen, welche gemeinschaftlich noch viel mehr
Mittel an der Hand haben, die Milchpreise zu drücken, als es früher
der Fall war. Auch dieser Umstand ist vor Kurzem von der Twer-
schen Gouvernements-Landschafts-Versammlung in Betracht gezo¬
gen worden. Ebenso wichtig ist die Frage über die richtige innere
Konstruktion der Artele. Zu ihnen werden alle Bauern gezählt,
welche Milch in die Käserei bringen; mögen sie nun in demselben
Dorfe wohnen oder nicht, mögen sie nun beständig oder nur perioden-
weis sich an der Artel betheiligen. So bringen einige Artelgenossen
Milch während aller acht Arbeitsmonate, andere nur während eines
Monats oder kürzerer Zeit, und dennoch sind sie alle gleichberech¬
tigt. Die Arbeiten beginnen im Februar und endigen im September,
in welchem Monate auch die endgültige Abrechnung getroffen wird.
Vom Oktober ab wird auf einigen Käsereien die Wurstfabrikation
betrieben. Dass die Arbeit im Februar beginnt, hat seinen Grund
in dem Eintritt der die Milch ausschliessenden Fasten und darin,
dass dann die Männer fortziehen, um anderswo Beschäftigung zu
suchen; im Oktober aber muss sie beendigt sein, weil durch die
Rückkehr der männlichen Bevölkerung der Familienbestand ver-
grössert wird und weil das schlechte Wetter den Transport der
Milch behindert. Es fabriziren zwei Meiereien im Kreise Posche-
chonje Schweizerkäse, je eine Meierei im Kreise Poschechonje und
Mologa englischen Käse, pariser und holsteinische Butter; und die
übrigen 16 Meiereien nur holländischen Käse, die Verwaltung jeder
Meierei ruht in den Händen des Artelältesten, während die oberste
Aufsicht über die Meiereien des ganzen Kreises Sache des an der
Landschaft bestellten Kurators ist. Der Aelteste wird jedes Jahr
neu gewählt, gewöhnlich aus der Zahl Derjenigen, welche im Vor¬
jahre am meisten Milch geliefert haben. Seine Pflicht ist es, die
Artel in allen Angelegenheiten zu vertreten, das Gehalt den beson¬
ders Angestellten zu zahlen, die Bücher zu führen und auch die
Leihkasse zu leiten. Hierbei ist es ihm gestattet, ä Conto der ge-
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121
lieferten Milch, Vorschüsse zu gewähren, für welche ungefähr 6 pCt.
erhoben werden. Die definitive Zahlung für die gelieferte Milch
wird an manchen Orten allwöchentlich, an anderen allmonatlich ge¬
leistet, während die endgültige Abrechnung, wie gesagt, erst im
September oder Oktober, nach Verkauf des Käses, der Butter etc.,
stattfindet. Für seine Bemühungen erhält der Aelteste 40—60 Rbl.
Gehalt. Falls er abwesend ist, so vertritt ihn sein Gehülfe. Ab¬
rechnung leistete er nur bei Niederlegung seines Amtes. Das war
eines der Hauptübel, welche das Leben des Ganzen zu gefährden
drohten. Glücklicherweise hat sich seit dem Jahre 1873 die Sitte
der allmonatlichen und der ausserordentlichen Revision eingebür¬
gert, so dass von dieser Seite einer Abhülfe der Weg gebahnt wor¬
den ist. Diese Revisionen sind um so leichter auszuführen, als die
Buchführung eine überaus umsichtliche ist. Sie konzentrirt sich in
einem Artelbuche und den verschiedenen Rechnungen und Quittun¬
gen. Auf Grundlage dieser Dokumente wird dann von der Revi¬
sionskommission die alljährliche Abrechnung zusammengestellt,
welche wir, als ein Beispiel von Einfachheit und Deutlichkeit, gleich
folgen lassen.
Abrechnung der Revisionskommission über die Koprino'sche Artelkasse
für die Jahre 1870 und 1871.
1) Der Bauer Schatajew zahlte dem Aeltesten
Tschitschkin laut Rechnung ...... 3852 Rbl. 35 Kop.
2) Es wurden erhoben Prozente durch den Ael¬
testen im Jahre 1870 — 37 Rbl. 33 Kop.,
1871 — 185 Rbl. 10 Kop., zusammen . . . 222 » 43 »
3) Es wurden erhoben Prozente von dem Werthe
der Käserei (771 Rbl. 75 Kop.).46 • 26 »
In der Kasse sind 4121 Rbl. 04 Kop.
4) Im Jahre 1871 wurde durch
den Aeltesten Schatajew
bezahlt.1723 Rbl. 81 Kop.
5) Man bleibt zum I. Februar
1872 schuldig dem Scha¬
tajew .2397 » 33 »
6) Von dieser Schuld zahlen
Genossen, welche das Geld
zum Kaufe von Kühen ent¬
nahmen .584 Rbl. 24 Kop.
7) Die Artel zahlt . . . .1812 * 90 »
4121 Rbl. 14 Kop.
2397 Rbl. 14 Kop.
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Diese 1812 Rbl. 90 Kop. hat die Artel:
a) in ihrer Käserei, welche kostet 591 Rbl. 45 Kop^
b) in Farbe.64 * 68 »
c) in zu empfangendem Gelde für
verkauften Käse.261 * 94 »
d) in zu empfangendem Gelde für
verkaufte Butter .... 59 • 20 •
e) in zu empfangendem Gelde für
die neu errichtete Wurstab¬
theilung .154 » 17 »
f) in zu empfangendem Gelde für /1812 Rbl. 78 Kop.
138 Topf Farbe.124 * 20 »
g) in Schweinen . . . . . . 80 » — •
h) in noch nicht verkauften Käse
(in St. Petersburg u. Koprino) 282 » — *
i) in Ausgaben für das Jahr 1872 79 » 15 »
k) in Deckung der vom früheren
Aeltesten verschleuderten . 93 * 44 »
l ) in den Utensilien der Wurst¬
abtheilung . 22»55»y
Nach Bestätigung einer solchen Abrechnung durch die allgemeine
Artelversammlung wird zur Vertheilung des Reingewinnes geschritten.
Hierbei wird, wie erwähnt, durchaus keine Rücksicht darauf genom¬
men, ob Jemand mehrere Monate hintereinander Milch, geliefert hat
oder nicht. Als Normalmaass für die Berechnung ist immer die
Anzahl der Pude Milch genommen. Ebenso müssen etwaige Ver¬
luste, welche eigentlich nur in der Preiserniedrigung bestehen können,
vertheilt werden.
Was nun die auf der Käserei angestellten Personen betrifft, so sind
es, ausser dem ausländischen Käsemeister, sein russischer Gehülfe,
welcher zugleich Vice-Aeltester ist, und einige Schüler. Der Hol¬
länder erhält 450 Rbl., die 14—17jährigen Knaben je 35 Rbl. für
eine Arbeitsperiode. Bei einigem Fleisse wird es Letzteren leicht,
in wenigen Jahren das Handwerk gründlich zu erlernen und können
sie dann* da die Nachfrage gross ist, als selbständige Käsemeister
sofort gute Stellen erhalten. Als Lehrlinge werden nur Kinder des
Dorfes aufgenommen, in welchem die Käserei liegt, oder der Dörfer,
welche zu ihr als Artelgenossen ressortiren. Sonstige Knaben
müssen für den Unterricht eine gewisse Summe zahlen. Erfreulich
ist es, dass auch das weibliche Element unter den Schülern vertreten
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1*3
ist und es kann der Ausdauer, dem Verständnisse, der Tüchtigkeit
und Gewissenhaftigkeit derselben nur das beste Zeugniss ausgestellt
werden.
Ueber die Gesammtresultate der Käsereien im Gouvernement
Jarosslaw geben folgende Zahlen Auskunft:
Im Jahre 1870:
Käserei:
Es wurde
Milch
geliefert
zu Käse
verarbeitet
zu ]
Butter
Gesammt-
ertrag
Pud
Pud
Pfund
Pud
' Pfund
Rbl. Kop.
Koprin’sche.
3692
315
15V«
21
2 l l /t
1951
II
Palkin’sche.
4500
350
—
22
—
—
Gawrilow'sche ....
1600
120
—
IO
—
—
Magilzow’sche ....
1200
IOO
—
9
—
—
Im Jah
re 1871:
Koprin’sche.
5800
47 *
—
30
31
3545
—
Grigorjew’sche
(20 Monate 1870/71)
3150
320
—
—
—
"35
54
+ 437
Rbl.
für nicht verkauften Käse.
Jermakow’sche ....
2160
180
—
—
—
1084
—
Chlestow’sche ....
380a
—
—
—
—
2434
—
Tulschin’sche.
3600
—
—
—
—
2076
—
Tumin'sche (wenige
Monate im J. 1871)
/
1672
156
—
15
—
836
—
Käserei
Es ergab also das Jahr 1871 für das Pud Milch:
an Gesammt-
ertrag
64V4 Kop.
Ö 2 3 /4 »
64 »
57 */* *
JO »
an Rein¬
ertrag
47 l /a Kop.
47
48 *
43
34
in der Koprin’schen
• » Palkin’schen
» » Chlestow’schen
» » Tulschin’schen
» » Grigoijew’schen
6 ) Mit dem Beginn des Tabaksbaues in Russland keimten auch die
Artele der Tabaksarbeiterinnen auf. Als Muster von solchen Artelen
führen wir die in Njeshin (Gouv. Tschernigow) heimischen an. Sie
bildeten sich gewöhnlich auf folgende Weise. Im Spätherbst oder im
Anfänge des Winters gehen zwei oder drei Kosakenmädchen der
Stadt Njeshin aus, um Arbeit zu suchen. Wenn sie eine Plantage,
welche zur Bearbeitung noch nicht vergeben ist, gefunden, und wenn
sie mit dem Besitzer handelseinig geworden, so werben sie auf
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124
Grundlage des schriftlich abgeschlossenen Vertrages mehr Genossin¬
nen. Ist die Plantage gross, d. h. übersteigt sie zehn Dessjatinen, so
bilden die Mädchen, welche sich die Arbeit ausbedungen haben,
zwei oder drei Artele zu je 6 bis 9 Genossinnen. Im entgegen¬
gesetzten Falle wird die Artel auch aus weniger, aus fünf, aus vier,
und sogar aus drei Personen gebildet. Die Bedingungen, welche
mit den Plantagenbesitzern geschlossen werden, sind fast immer
gleichartig. Der Besitzer verpflichtet sich Scheunen zum Trocknen
des Tabaks, Wohnung, Heizung, Beleuchtung für die Artelgenossin¬
nen zu liefern, wie auch ein zum Anbau genügend gedüngtes, abge-
theiltes Stück Feld vorzubereiten. Andererseits übernimmt es auch
die Artel, alle nöthigen Arbeiten, von dem Verpflanzen an bis zur
definitiven Fertigstellung des Tabaks für den Handel, auszuführen.
Als Entschädigung erhält die Artel immer die Hälfte der Tabaks¬
ernte, weshalb die Artelgenossinnen auch «Hälftinnen», «Polowin-
schtschiza» genannt werden. Die Arbeitsfelder aber gehen von
Njeshin, als dem Mittelpunkte, in Radien aus. Je weiter nun das
Arbeitsfeld vom Centrum entfernt ist, desto seltener werden die
Artele (bei 50 Werst hören sie ganz auf) und desto grösser die
Arbeitsvergütung. Für die, der Stadt am nächsten gelegenen Felder,
verdingen sich die Artele mit eigener Beköstigung, für die mittel¬
entfernten erhalten sie die Hälfte des Werthes der Beköstigung und
auf den ganz entfernten ist die Ernährung der Artel Sache des
Gutsbesitzers. Ausnahmen sind nur selten üblich und nur dann
möglich, wenn das Feld ganz besonders gedüngt ist. Ueberdies
bekommen die Arbeiterinnen auch noch ein Stück Feld, welches
sie für sich mit Früchten bebauen können, und zwar deshalb, weil
die, der Stadt näher belegenen Artele, die Möglichkeit haben, wäh¬
rend der Zeit des Tabakbaues, d. h. vom halben April bis zum halben
November drei bis sechs freie Wochen haben, während welcher
Zeit sie sich in der Stadt neuen Verdienst schaffen können. Im Ja¬
nuar findet die Theilung des Verdienstes statt. Da nun auch hier
das Prinzip vollständiger Gleichheit herrscht, so wäre es für die
Artelgenossinnen unvortheilhaft, minder geschickte Arbeiter in
ihrer Mitte zu haben. Es ist deshalb bei der jedesmaligen alljähr¬
lichen Konstitution einer Artel die strengste Auswahl der Genossin¬
nen üblich und nur selten kommt es vor, dass dieselben Genossinnen
mehrere Jahre hintereinander eine und dieselbe Artel bilden. Als
Grund hierfür ist ausserdem noch der Umstand zu erwähnen, dass
sich so manche Artelgenossin verheirathet: dadurch verliert sie das
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ftecht des Eintritts in irgend eine Artel. In allen diesen Artetet!
gibt es durchaus keine obrigkeitlichen Personen, und wenn eine Ge¬
nossin auch den Namen einer cAeltesten* führt, so ist die Rolle,
welche sie spielt und der Einfluss, welchen sie dadurch hat, durch
Gewohnheit und Tradition so streng bestimmt, dass ein Uebergriff
wohl schwer möglich sein dürfte. Die jedesmalige Reineinnahme
der Artele zu bestimmen ist schwer, da Alles von der betreffenden
Ernte abhängt. Gewöhnlich schwankt der Erwerb einer Genossin
zwischen 30 und 50 Rbl. Im Jahre 1872 jedoch, als der Preis für
den Tabak bedeutend gestiegen war, erreichte auch der Erlös der
meisten Genossinnen die Ziffer von 100 bis 150 Rbl. Im Ganzen
sind es ungefähr 1000 Arbeiterinnen mit einer ungefähren Einnahme
von 50,000 Rbl., welche an Tabak bis zu 80,000 Pud bearbeiten.
Die Plantagenbesitzer ziehen die Arbeit der Artele der der gemie-
theten Tage- oder Stücklöhner vor, da die Unkosten bei der Be¬
arbeitung einer Dessjatina durch Miethlinge sich bedeutend höher
stellen, als die bei der Bearbeitung durch Artele. Das Verhältniss
stellt sich für einfachen Tabak wie 100: 38 und für amerikanischen
wie 100: 40. Ueberdies kostet die Bearbeitung von einem Pude
gewöhnlichen Tabaks durch die Miethlinge 95 V2 Kop. — durch die
Artele 77 Kop. Es ist daher natürlich, dass die Plantagenbesitzer
fast ausschliesslich sich der Artele bedienen.
Nicht viel anders sind die Artele für das Bergwerkswesen und die
Steinkohlen-Industrie konstruirt. Nur macht sich in ihnen das Prin¬
zip der Selbständigkeit nicht so sehr geltend, wie in den eben-
genannten. Diese würde erst dann der Fall sein, wenn von den Be¬
sitzern oder von der Regierung gewisse Strecken einzig und allein
den Artelen zum Betrieb überlassen werden könnten. Da aber die
letzteren Arbeitszweige vor Allem einen grossen Aufwand von vor¬
hergehenden Kosten und eine Menge geistiger Arbeit erfordert, so
kann hier die Artel für’s Erste nicht als Unternehmer in Betracht
kommen. Uebrigens würde sie auch in ihrer jetzigen Stellung Gutes
und Grosses zu leisten im Stande sein, wenn nicht auch hier das
Truc-System unterwühlend und todbringend eingriffe.
Als letzte Art der Arbeiter-Artele führen wir die Börsen-Artele
an. Sie sind im Augenblick die bekanntesten, wichtigsten und am
weitesten verbreiteten. Es ist deshalb natürlich, dass das Volk
unter dem Namen «Artelschtschik» (Artelgenosse) meistens ein
Mitglied der Börsen-Artele versteht. Im Nachstehenden werden
wir die Börsen-Artele und ihre Nebenzweige in Archangel und
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St. Petersburg betrachten, da die Artele der anderen Handelsstädte
nur in einzelnen Nebensächlichkeiten von diesen abweichen.
IV. Die Börsen-Artele.
a) Die eigentlichen Börsen-Artele.
Die Börsen-Artele entstanden in St. Petersburg in den Jahren
1712—14. Die neuen Handelsbeziehungen, die Anordnungen der
Regierung hatten in die junge Residenz eine Menge von Arbeits¬
kräften herbeigezogen, welche sich, nach Art der in ihrer Heimath
existirenden Artele, zu ebensolchen für die Beförderung der im Ha¬
fen, bei den Schiffen und bei den Waaren nöthigen Arbeiten formir-
ten. Besonders waren es die jetzigen Gouvernements Jarosslaw,
Archangel, Wologda, Kostroma, Moskau und Wladimir, welche das
grösste Arbeiterkontingent stellten. Diese Arbeiter erhielten in der
ersten Zeit Beschäftigung von einzelnen Kaufleuten: nach diesen
nun oder nach ihrer Heimath benannten sie sich Anfangs, während
später erst für alle der generelle Name der Börsen-Artele aufkam.
Da aber ein Kaufherr eine ganze Artel nicht für das runde Jahr
erhalten konnte, so kam es, dass die Artele von mehreren Firmen
zugleich Arbeit übernahmen und auf diese Weise in die Reihe der
selbständigen Unternehmer traten. Wenn sie nichtsdestoweniger
den Gebrauch beibehalten haben, ihre Auftraggeber xo3hhht> (Cha-
sain), Wirth, Herr, zu nennen, so ist diese Bezeichnung hier nur in
sehr beschränktem Sinne und nicht in der beim Pokrut und Kulak¬
wesen 1 üblichen Art zu verstehen. Ihre Beziehungen zum Chasain,
sowie ihre innere Organisation waren anfänglich wenig geregelt und
erst in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Hess es sich
der bekannte Banquier Heinrich Meyer angelegen sein, das Ganze
auf solidere Grundlagen zu stellen. Wenig verändert existiren diese
Artele noch heute fort und erkennen als älteste an die Jarosslaw-
sche Artel, welche sich im Jahre 1714 formirte. Nach ihr kommen
die Spasskische und Thomsin’sche 1725, die WulfFsche 1727, die
Meyer’sche 1729, die Neporow’sche 1739, die Pinega’sche 1740, die
Nowo-Korpusnaja 1745, die Schabkin’sche 1745, Kaluga’sche 1746,
Schilling’sche 1750, Kokorin’sche 1756, Polujarosslaw’sche 1758,
Metalkin’sche 1763, Glenow’sche 1767, Amburger’sche 1778, Por-
terow’sche 1790, Moskau’sche 1795, Baron'sche 1806 (früher hiess
4 Vgl. «Russ. Revue» Band IV, pag. 341 ff.
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sie Scharpow’sche, 1833 änderte sie aber zu Ehren des Baron Stieglitz
ihren Namen), Kolombiew’sche 1810, Kasuchin’sche 1820, Stewart-
sche 1832, Wladimir’sche 1852, Nikolajew'sche 1867. Einige haben
nun daraus, dass die Artele in unserem Jahrhundert viel langsamer
emporschiessen, auf das allmälige Absterben der Artele folgern zu
müssen geglaubt. Da sich aber die Zahl der Artelgenossen bestän¬
dig hebt, so ist dies£ Meinung eine irrige. So gab es in sämmt-
lichen 24 Börsenartelen
im Jahre 1870 . . . 2506 Artelgenossen,
» » 1871 . . . 2520 »
» » 1872 . . . 2587 »
» » 1873 . . . 2622 *
Hieraus folgt, dass sich die Gesammtzahl der Artelgenossen in
drei Jahren um 116 Mann oder um 4,23 pCt. vergrössert hat Der
alljährliche Zuwachs beträgt also im Durchschnitt 1,41 pCt. Die
2622 Mann des Jahres 1873 vertheilen sich dergestalt, dass
2 Artele bis 50 Artelgenossen
12 » von 50 » 100 »
6 » » 100 »150 »
2 » » 150 » 200 »
1 » » 200 » 250 •
1 » über 250 »
besassen. Letztere Artel, die Baron’sche, hatte 261 Genossen; am
wenigsten — 46 Genossen — zählte die Nikolajew’sche Artel. Das
Gros all 1 dieser Artelgenossen bilden Bauern, vorzüglich des Gouver¬
nements Archangel. So sehr sich auch die St. Petersburger Klein¬
bürger um den Eintritt in diese Genossenschaften bemühen, so ist
es bis jetzt nur Wenigen gelungen, sich Plätze zu erobern: die
Bauern stehen landsmannschaftlich fest zusammen.
Die Beschäftigungen der Artele können in zwei Gruppen einge-
theilt werden: in Waarenarbeiten und Comptoirarbeiten. Erstere
werden an allen Plätzen ausgeführt, welche für das Löschen und
Aufbewahren der Waaren bestimmt sind, besonders aber konzen-
triren sie sich auf Wassilij-Ostrow und hier wiederum im Zollgebäude.
Sie bestehen in Folgendem:
Sobald nur ein Schiff, Dampfer oder Lichterfahrzeug, welches der
Zollvereinigung unterliegt, an einer der Zollanfahrten anlegt, tritt
dasselbe in das Bereich des Zollamts. Den Vertretern desselben,
dem Zollaufseher und den Genossen der Drjagil-Kompagnie — von
welchen weiter unten die Rede sein wird — liegt es ob, dem Löschen
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der Waaren zu assistiren. Andererseits aber wohnen ihm als Ver¬
treter der Interessen des Waarenempfängers einige hierzu designirte
Artelgenossen, Artelschtschiki, bei. Sie sorgen dafür, dass die
Waare ihres Auftraggebers nicht mit anderer, ähnlicher vertauscht
werde, kontroliren die Verpackung eines jeden Colli, die Plomben etc.
und konstatiren hierdurch die Unversehrtheit und Vollständigkeit
der Sendung. Nachdem dann beide Parteierwdas Löschen beendet,
wird die Waare von der Drjagil-Kompagnie unter Begleitung der
Artelschtschiki in die Zolldepots abgeführt. Dort besorgen die
Artelschtschiki 1 das Oeffhen, Auspacken der Kisten, Packen etc.,
wiegen die Artikel unter Beihülfe der Drjagili und legen, falls die
Zollgefälle sofort entrichtet werden, die nöthigen Plomben an. Wenn
es jedoch dem Kaufherrn genehm ist, die Gefälle später zu erlegen,
so wird die Waare in den Depots unter Bewachung der Artelgenossen
aufbewahrt, in welchem Falle diese nicht nur für Quantität, sondern
auch für die Qualität des Gutes zu haften haben. Sowie die Ge¬
fälle bereinigt sind, erhalten die Artelgenossen einen Durchlass¬
schein und hiermit das Recht, die Waaren in die Lager ihrer Auf-
traggeber.abzuführen. Dort beginnt für sie dann eine neue Reihe
von Arbeiten, welche übrigens bekannt sind und nicht weiter beregt
zu werden brauchen. Häufig kommt es noch vor, dass die Artel¬
genossen mit den Lichterfahrzeugen nach Kronstadt gesandt wer¬
den, um dort das Umladen, Umpacken etc. zu beaufsichtigen, oder
dass sie in den Waarenlagern und Magazinen der Kaufleute sämmt-
liche nur immer nöthigen Dienste verrichten.
Die Comptoirarbeiten beschränken sich meistentheils auf alle
Details der Kassengeschäfte. Es geschieht aber auch, dass die
Artelgenossen die Arbeiten des männlichen Dienstpersonals oder
der Hausknechte, der Dworniki, ausführen. Ueberhaupt lassen sich
diese sogenannten Comptoirarbeiten jetzt durchaus nicht mehr spe-
zialisiren. Bei der Ausdehnung des St. Petersburger Handels, bei
dem vollkommen gerechten Renomme, dessen sich die Börsen-
1 Gewöhnlich ist das Sache und Privileg der IKupornaja-Artel*, wenn es Waaren
gilt, welche eine fixe Taxe haben. Solcher Artele gibt es zwei, von welchen die
jüngste, die Kostrora’sche, im Jahre 1869 gegründet wurde. Das Einzige, wodurch
sich diese Artele von den eigentlichen Börsen-Artelen unterscheiden, ist, dass ihre Ar¬
beiten streng begrenzt sind und dass ihre Genossen beim Küfer-(Kupor-) Amt verzeich¬
net sein müssen. Die erste Artel bestand 1871 au9 165 Genossen, 1872 aus 156, die
zweite 1871 aus 20, 1872 aus 18 Genossen. Die Einnahmen variiren in beiden Artelen
zwischen 300 und 5 00 Rbl. pro Genosse.
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129
Artele erfreuen, ist es natürlich, dass die Mitglieder derselben zu
den verschiedensten Leistungen verwandt werden. Gewöhnlich
engagirt eine Firma ausschliesslich eine Artel, ohne sie hierdurch
in der Annahme sonstiger Aufträge zu beschränken. Das Engage¬
ment geschieht durch den von der Artel jedesmal dazu bevollmäch¬
tigten Aeltesten und besteht gewöhnlich in der Uebergabe der
Artelregeln an den Auftraggeber.
Die Einnahme sämmtlicher Artele beläuft sich fast immer auf
mehr als eine Million Rubel. Im Jahre 1873 betrug sie für die 24
Artele 1,267,798 Rbl. Am meisten partizipirte hieran die Kasuchin-
sche Artel mit 130,131 Rbl, die Baron’sche mit 123,272 Rbl. und
die Spasski’sche mit 101,112 Rbl. Am wenigsten kam auf die
Schlagkin’sche, 19,369 Rbl., und die Nikolajew’sche, 15,400 Rbl.
Ueberhaupt nahmen in runden Ziffern ein:
2 Artele weniger als 20,000 Rbl.
3 » von 20,000 bis 30,000 >
7 > » 30,000 » 40,000 »
1 » . » 40,000 * 50,000 »
6 * » 50,000 * 75,000 *
2 » » 75,000 * 100,000 *
3 * über 100,000.
Die grössten Schwankungen erleiden die Einnahmen jeder Artel
durch die Jahreszeit. Im Winter ist der Ertrag beinahe dreimal ge¬
ringer, als im Sommer. So hatte die Kaluga’sche Artel
Winter-
Einnahme
Sommer-
Einnahme
Zusammen
im Jahre 1867—68 5,500 Rbl. 13,520 Rbl. 19,020 Rbl
» * 1868—69 5,103 » 11,416 * 16,519 *
» » 1869—70 5,978 * 17,187 * 23,165 *
folglich von 1867—70 16,581 Rbl. 42,123 Rbl. 58,704 Rbl.
oder jährlich im Durchschnitt 15,527 » 14,041 » — »
Diese Unbeständigkeit der Einnahmen im Laufe eines jeden Jah¬
res ist von weittragender'Bedeutung. # Denn sie gibt den Artelen
nicht die Möglichkeit, eine solche Anzahl von Genossen aufzu¬
nehmen, als es oft nöthig scheint, und zwingt sie, andere Artele, die
sog. Saugor'schen 1 und gewöhnliche Arbeiter* für die einfacheren,
1 Unterscheiden sich von den Börsen-Artelen dadurch, dass sie sich jedes Jahr neu
konstituiren und daher auch keine Kapitalien haben. Der Name kommt vom Flusse
Ugra, Gouv. Smolensk.
* cf «Russ. Revue« Band IV. pag 361.
Ban. Kerne. Bd IX. 9
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_J30_
schwereren Hafengeschäfte in Miethe zu nehmen. Solchen Arbei¬
tern wurde im Jahre 1873 von sämmtlichen Börsen-Artelen 149,500
Rbl. bezahlt. Transponirt man diese Summe auf Arbeitstage, so
sind von den Arbeitern 225,131 Tage geleistet worden. Die Zahl
der Artelgenossen betrug aber 2622. Nimmt man für diese je 360
Arbeitstage, so haben wir im Ganzen 943,922 solcher Tage und
folglich für die von den gewöhnlichen Arbeitern geleisteten 25 pCt.
Müssten also die Artele während des ganzen Jahres Arbeiter mie-
then, so käme auf jeden vierten Genossen ein Miethling und auf alle
2622 Genossen 655 Miethlinge, d. h. wären die Einnahmen im Laufe
des Jahres stabil, so hätten im Jahre 1873 noch 655 Artelgenossen
aufgenommen werden müssen K
Sämmtliche Arbeiten unterliegen einer festen, strenggegliederten
Taxe, die jedes Feilschen unmöglich macht. Die heutige besteht
schon seit dem Jahre 1861, wo sie am 16. August von der Stadt-
Verwaltung bestätigt wurde. Ihr zufolge werden sämmtliche Ar¬
beiten in drei Gruppen eingetheilt: a) Arbeiten bei Importwaaren,
b) Arbeiten bei Exportwaaren, c) Arbeiten bei Waaren die aus dem
Inneren des Reiches eingeführt worden sind. Der Lohn für monat¬
liche oder tägliche Arbeit ist besonders fixirt und hiernach haben
sich die Artelgenossen zu richten, welche zu Comptoirarbeiten ver¬
wendet werden. Interessant ist es, die verschiedenen Redaktionen
der Taxen zu vergleichen. Da aber die früheren Jahrgänge nicht
immer dieselben Arbeiten aufweisen, wie der heutige Preiskourant,
so greifen wir nur die Angaben für die Arbeiten heraus, welche in
allen Gemeinsam sind. So musste gezahlt werden
1810 1815 1861
Rbl. Kop. ■ Rbl. Kop. Rbl. Kop.
1. für Comptoir-Ambar und son¬
stige ihnen ähnliche Arbeiten,
wenn nicht mehr als drei Artel¬
genossen erforderlich waren,
für jeden monatlich ....
5 —
8
77
IO
2. für jeden über drei ....
8 33
7
3 i
f 3
3. für einen Artelgenossen an der
Barkenanfahrt.
5 —
8
77
12
4. für eine Reise in sonstige Städte,
monatlich .......
10 —
8
77
15
1 ln Wirklichkeit ist diese Zahl noch grösser, da der Sonptagc und vielen Feiertage
wegen die Zahl 360 in praxi nicht mgenommen werden kann.
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I3i
1810
1815
1861
Rbl. Kop.
Rbl. Kop.
Rbl. Kop.
5. gewöhnlicher Tagelohn . . * .
— 25
— 28
— SO
6. Tagelohn mit spezieller Verant-
wortung.
— 33
— 43
I -
7. für einen Aufenth. in Kronstadt
bei den Waaren (24 Stunden) .
— 33
— 43
— 50
8. für die Waarenbewachung
(24 Stunden).
— 42
— 50
— 5 °
9. für einen Auftrag in der Stadt
— 8
— 7 */»
— IO
Aus dieser Tabelle ergibt sich,
dass das Honorar sich
in 51 Jahren
um 76,84 pCt. oder jährlich 1,50 pCt. gehoben hat. Vergleicht man
aber das Jahr 1815 und 1861, so ist die Steigerung gleich 57,79pCt.
oder im Jahr 1,25 pCt. Als Mittel für diese beiden verschiedenen
Sätze ergibt sich 1,35—1,37 pCt. Freilich ist dieser Prozentsatz
nur für einige Arbeiten giltig; bei den meisten ist die Steigerung
nicht grösser als V* pCt. jährlich.
Eine verhältnissmässig so grosse Steigerung wäre nicht möglich,
wenn die Artele nicht auf das gewissenhafteste ihre Pflichten er¬
füllten und für jeden, durch ihre Mitglieder verursachten Schaden
solidarisch hafteten. Diese Haftbarkeit uhd Verantwortung be¬
steht darin, dass jeder Schaden abgearbeitet und nicht, wie die
Hrn. Thörner und Kalatschow annehmen, aus dem Artelkapital ver¬
gütet wird. Bei der Grösse der den einzelnen Artelgenossen anver¬
trauten Summen wäre letzteres vollständig unmöglich, da in solch
einem Falle eine einzige Zahlung mehr als das ganze vorhandene
Kapital zu verschlingen im Stande wäre l . Uebrigens gehören solche
Fälle zu den allerseltensten Ausnahmen, da in die Artele nur Leute
aufgenommen werden, welche mehreren Mitgliedern der Artele
bekannt sind und deren Rechtlichkeit, Pünktlichkeit, Gewissen¬
haftigkeit stets nicht etwa von einer Person, sondern von der ganzen
Artel aufs genaueste kontrolirt wird. Deshalb erfreuen sich der
grösten Blüthe die Artele mit nicht allzugrosser Mitgliederzahl; hier
ist eine Kontrole viel eher möglich als in solchen, wo die ganze
Artel den einzelnen Genossen nicht genugsam prüfen und beauf¬
sichtigen kann. Für das geringste Vergehen erleidet der Artel¬
genosse eine mehr oder weniger empfindliche Strafe seitens der
1 In einzelnen Fällen zahlt die Artel wirklich; nur darf der Schaden
Prozent des Reservekapitals nicht übersteigen.
ein gewisses
9 *
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132
Artel, so dass also jede Nachlässigkeit einerseits von der Artel ver¬
gütet, andererseits von dem betreffenden Schuldigen abgebüsst wird.
Das Strafsystem hat drei Stufen: i. Geldstrafe, a) «Progul*, b) nach
Bestimmung der Artel; 2. Abschreiben von der Arbeit, a) terminliches,
b) terminloses; 3) Ausschluss aus der Artel, a) ordinärer, b) extra- .
ordinärer. Die Strafe «Progul* hat statt, wenn der Schuldige an
seinem Platze gefehlt hat; progulatj heisst bummeln. Sie variirt
zwischen ,6oKop./Und 3 Rbl. Wiederholt sich diese Versäumniss
oder liegt ein qualifizirtes Vergehen vor, so tritt die gewöhnliche
Strafe ein, welche zwischen 6 und 200 Rbl. schwankt oder der
Schuldige wird von der Arbeit «abgeschrieben*, ausser Etat
gestellt. Das tefrminlose Abschreiben kann höchstens nur 3 Jahre
dauern, worauf der Schuldige verpflichtet ist einen Prüfungsmonat
gratis zu arbeiten. Der Ausschluss kommt an die Reihe, wenn
keine Strafe mehr fruchtet oder qualifizirte Vergehen mehrere Mal
nach einander begangen werden. Die geringeren Strafen werden
vom Artelältesten auferlegt; als zweite und dritte Appellations- und
Kassationsinstanz fungiren die verschiedenen Versammlungen der
Artel. Eine Klage bei den allgemeinen Gerichtsinstitutionen ist
ausdrücklich verboten und unterliegt der Zuwiderhandelnde dem
extraordinären Ausschluss, d. h. er erhält beim Ausschluss nichts
von dem ihm zukommenden Gelde.
Würde nun zu diesen verschiedenen Strafen häufig gegriffen
werden müssen, so wäre es klar, dass die Artel schon in sich den
Todeskeim trüge. Deshalb ist der Eintritt in eine Artel durchaus
nicht leicht. Hauptbedingung ist: dass derjenige welcher sich um
den Eintritt in die Genossenschaft bewirbt, ehrlich und mässig sei,
überhaupt einen guten Lebenswandel führe und einigen Genossen
der Artel in welche er einzutreten wünscht, genau bekannt sei.
Von diesen muss dann einer Bürgschaft für ihn übernehmen. Sind
alle diese Forderungen erfüllt und versteht der Bewerber ausserdem
zu schreiben, zu lesen und hat keine wesentlichen körperlichen
Gebrechen, so wird er in die grosse Versammlung gerufen und
muss, nachdem er vor dem Heiligenbilde gelobt alle Artelregeln zu
erfüllen und die solidarische Haftbarkeit auf sich zu nehmen, hierüber
einen Revers ausstellen. Einige Artele verlangen, dass in dem
Revers nur diese Verpflichtung enthalten sei, andere, dass der
Revers nur aus der Unterschrift des Neuaufgenommenen unter die
Artelregeln bestehen, andere wieder, dass der Neueintretende
sämmtliche Regeln abschreibe und unterschreibe. Nach alP diesem
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m
findet die gemeinsame Bewirthung der Artelgenossen durch den Neuen
statt. Vorher aber muss er sich noch in die Artel eingekauft haben
d. h. es wird von jedem Bewerber verlangt, dass er bei seinem Ein¬
tritt eine gewisse Summe einzahle. Ohne diese Summe «Wkup»
•Einkauf» ist die Aufnahme unmöglich, selbst wenn alle sonstigen
Bedingungen erfüllt sind. Die Grösse dieses .Wkup ist in den ver¬
schiedenen Artelen verschieden und variirt selbst innerhalb einer
Artel, je nachdem der Eintretende die ganze Summe auf einmal
oder terminweise bezahlt.
So verlangt
Rbl. % Rbl.
die Kosuchin’sche falls terminweise 1600 falls auf einmal —
Nikolajew’sche '»
> 1430
9
9
1100
WulfFsche
* 1430
»
9
9
1100
Amburger’sche »
» 1200
»
9
1200
Spasskische »
* 1200
9
9
9
—
Glenow’sche »
* 1200
9
9
9
—
Thomsin’sche »
* 1143
9
9
9
IOOO
Polusowoslaws. *
» 1100
»
9
9
IOOO
Nowokorpusnaja»
» 1000
9
9
9
—
Schljapkin'sche »
* 1000
9
9
9
900
Moskau’sche »
* IOOO
9
9
9
—
Kaluga’sche
» 900
9
9
•
—
Neporow’sche »
9 860
9
9
9
—
In den anderen Artelen ist kein bestimmter Wkup fixirt, sondern
er wird mit dem jedesmaligen Bewerber vereinbart. Immer aber gilt
dieser Wkup nur für volljährige Bewerber; minderjährige — mit
14 Jahren hat man das Recht um einen Platz zu candidiren—haben
noch überdies eine Summe zu zahlen, die desto grösser wird, je
jünger der Bewerber ist. Diese Aufschlagssumme heisst «Berego-
wyjaDengi» «Schonungsgelder», weil der Genosse geschont werden
muss, d. h. nicht auf schwere Arbeiten geschickt werden darf. Für
jedes Schonungsjthr ist zwischen 90 — 110 Rbl. ausser dem Wkup zu
zahlen. Hierbei muss aber bemerkt werden, dass die Artele sich
nicht nach der juridischen Volljährigkeit richten; wenn solch ein
«Maljtschick» (junger Mensch) mit 18 Jahren vollständig körperlich
kräftig entwickelt ist, so hat er das Schonungsgeld nicht lriehr zu
zahlen. Sobald nur der Wkup bezahlt ist, wird der Artelgenosse,
und sei er minderjährig, «Alter» «Starik» genannt. Bis zu dieser
Zeit heisst er «Neuling» «Nowik».
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134
In 21 Artelen waren im Jahre 1873
erwachsene Nowiki 1032
minderjährige » 102
11 54
Stariki 1123
Man sieht hieraus dass es den Meisten nicht so leicht fällt den
Wkup auf einmal zu bezahlen und in einigen Artelen wird die
Summe so zerstückelt, dass sich die Abzahlung Jahrelang hinzieht.
In letzterer Zeit ist in den meisten gebräuchlich geworden, die Ver-
theilung auf nicht mehr als 4 Jahre zuzulassen, wobei denn auch die
Summe, welche alljährlich von der Einnahme des Artelgenossen abzu¬
ziehen ist, genauer bestimmt wird. Ebenso fixirt ist die Summe,
welche der Nowik auf jeden Fall bei seinem Eintritt erlegen muss.
Sie schwankt in einigen Artelen zwischen"250 und 350 Rbl.; in
anderen richtet sie sich nach der Zahl der Artelgenossen und hat
der Neuling dann 2 bis 3 Rbl. per Kopf zu zahlen. ' Dieses auf den
Wkup angezahlte Geld wird «peredowyja dengi» «Angeld», das
später im Laufe der Jahre abgezogene «Wytschet» «Abzug» genannt.
Ausser diesem Angeld hat der Nowik bei seinem Eintritt einmalig
zu opfern für das Heiligenbild der Artel, für die Bewirthung der
Artel und für die «Catalage» «Packkammer» der Artel, was unge¬
fähr noch 60 bis 70 Rbl. ausmacht.
Das Angeld und der Wkup werden unter die einzelnen Mitglieder
vertheilt. Demnach erhält jeder Genosse von seinem nach ihm einge¬
tretene Nowik und zahlt den vor ihm Eingetretenen eine bestimmte
Summe. Natürlich hat der Starik welcher schon seinen Wkup ein für
allemal bezahlt hat, nichts mehr zu zahlen, sondern nur noch zu
empfangen. Diese Vertheilung«Duwan» des Wkup sowohl, wie über¬
haupt der ganzen Einnahmen geschieht, entweder einmal jährlich
oder zweimal; beim Abschluss der Sommerarbeit und bei dem der
Winterarbeit. Gewöhnlich ist die erstere Vertheilung. Sie geschieht
auf folgende Weise. Der Aelteste oder der Artalschreiber stellt
i.eineListe des auf jeden einzelnen Genossen fallenden Wkupantheils
zusammen, 2. eine Liste der Tage, die jeder Einzelne auf Arbeit
gewesen und des ihm hierfür gebührenden Lohnes, 3. eine Liste
der erhobenen Strafgelder und der sonstigen zufälligen Ein¬
nahmen. Nach allen diesen Listen bekommt dann Jeder seinen
Antheil. Dass derselbe nicht absolut gleich ist, hängt einerseits
davon ab, ob der betreffende Genosse Nowik ist und also nicht mehr
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Wkup zu zahlen hat, was im entgegengesetzten Falle von seinem
Antheil abgeschrieben wurde, andererseits davon,'welche Arbeit der
Betreffende ausgefuhrt hat. Trotz der absoluten Gleichheit welche in
allen Artelen herrscht, ist es dennoch unmöglich keinen Unterschied
in den mannigfaltigen Arbeiten und dem für sie gezahlten Lohn ein-
treten zu lassen. Ausserdem haben auch die Strafgelder einen be¬
deutenden Einfluss auf die Höhe der jährlichen Einnahmen der Ein¬
zelnen. In dem Geschäftsjahr 1873 erhielt
in der Thomsin’schen Artel jeder Starik 525 Rbl. jeder Nowik 235 Rbl.
» * Pinega’schen » » > 300 » » » 210 »
* » Negorow’schen » » 1313» » >918»
Sieht man von diesem Unterschiede ab, so erhielt für dieselbe
Periode
in
1
Artel jeder Genosse
255
2
»
»
»
255
— 275
»
1
•
»
P
275
— 300
»
6
»
»
P
325
— 350
»
3
»
»
P
375
— 400
1
»
»
P
400
— 425
3
»
»
P
425
— 450
3
»
»
P
450
— 475
»
2
»
»
P
475
— 500
»
1
9
»
P
547
»
1
»
>
P
612
Diese ist die Summe, welche Jeder aus der Reineinnahme seiner
Artel empfing. Nach der eigentlichen Einnahme wäre sein Antheil
grösser gewesen; aber aus dieser eigentlichen Einnahme werden ge¬
wisse Abzüge einestheils zu Gunsten verschiedener Artelkapitalien,
andererseits zu Gunsten der Artelältesten, des Schreibers und einiger
anderer Genossen gemacht. Wir haben oben gesehen, dass die
Gesammteinnahme aller Artele im Jahre 1873/74 gleich 1,267,798
war. Zufolge der verschiedenen Abzüge betrug sie nur 1,035,041
Rbl., welche denn auch als Reineinnahme zur Vertheilung kamen. Im
Durschschnitt gibt dieses für jede Artel eine Reineinnahme von
43,125 Rbl. Es hatten aber
4 Artele eine Reineinnahme von weniger als 20,000 Rbl*
7
1
5
4
1
20,000 bis 30.000
30,000 » 40,000
40,000 » 50.000
75,000 » 100,000
mehr als 100,000 Rbl, ä
!
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Die Kapitalien derentwegen die Prozentabzüge gemacht werden,
haben verschiedene Bestimmungen: es sind entweder Reserve-,
Betriebs- oder Garantie-Kapitalien, oder endlich Kapitalien zu wohl¬
tätigem Zweck. Das- Reserve-Kapital soll dazu dienen, dem Be¬
triebs-Kapital in den Fällen eine Stütze zu gewähren, wo dieses sich
nicht als genügend erweist; das «besondere Betriebs-Kapital» be¬
steht für den Fall, dass nach Verteilung der Einnahme, nach dem
Duwan, in der Kasse nichts nachbleibt. Das Garantie-Kapital, erst
seit dem Jahre 1844 bekannt, ist nur in wenigen Artelen zu finden
und macht auch dort schlechte Fortschritte, obgleich es die Auftrag¬
geber vor Schaden schützen soll. Sämmtliche Kapitalien aller
Artele betragen ungefähr 350,000 Rbl., was auf jede Artel circa
15,000 Rbl. ausmacht. Diese Kapitalien werden entweder in der
Reichsbank oder bei dem jedesmaligen Aeltesten auf bewahrt. Schon
hieraus allein sieht man, ein wie grosses Zutrauen dem Aeltesten
gewährt wird. Seine Macht ist jedoch durch Gewohnheitsrecht
streng begrenzt: er darf nicht mehr sein, als der Ausführende des
auf den kleinen oder grossen Versammlungen ausgedrückten Artel¬
willens. Obgleich er nun so de jure den anderen Genossen absolut
gleichgestellt ist, so weiss er sich de facto doch eine bedeutende
Macht zu sichern. Ihn unterstützt ein ebenfalls alljährlich aus der
Mitte der Artelgenossen gewählter Schreiber.
Aus der Artel auszutreten ist jeder Genosse zu jeder beliebigen
Zeit berechtigt — wenn nicht auf ihn Schulden lasten. Geschieht
sein Austritt genau 6 Monate nach seiner Aufnahme, so erhält er
den ganzen Wkup zurück. Später gewöhnlich nur Vs des Wkup
aber den ganzen auf ihn fallenden Antheil aus dem VerSinskapital.
Der vorzügliche Ruf, den die Börsenartele durch ganz Russland
gemessen, bewirkt es, dass die einzelnen Genossen die verschie¬
densten Privataufträge erhalten. Jeder aus ihm und sonst irgendwie
resultirende Verdienst ist vollständiges und alleiniges Eigenthum
der betreffenden Genossen. Ein solcher Nebenerwerb bedingt es,
dass so mancher Artelgenosse über ein bedeutendes Privat-Vermögen
zu verfügen hat. Wenn er nichtsdestoweniger in der Artel verbleibt,
so geschieht dieses vor allen Dingen deshalb, weil er die goldbrin¬
gende Ader, seinen Namen als Artelgenossen, nicht unterbinden
darf. Freilich bringen solche wohlhabende Artele in die Artele,
die jetzt zum grossen Theil aus Nowiki bestehen, Ansichten über
Gelderwerb, Meinungen über Disziplin, die den jüngeren Elementen
durchaus nicht gefallen. Deshalb herrscht ein ewiger Kampf zwi-
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sehen den Alten und den Neuen: kommen die Alten an’s Ruder,
so mehrt sich der Verdienst und die Insubordination, herrschen die
Jungen, so nimmt der Verdienst rapid ab, während die Disziplin
und Gesittung sich wohl hebt. , Erst den kommenden Jahren ist es
Vorbehalten hier das richtige Mittelglied und Einigungsmittel zu
finden.
£JDie Drjagil-Kompagnien.
i. Obgleich sie nicht den Namen Artele führen, so gehören sie
doch zu ihnen, weil sowohl die Prinzipien, denen gemäss sie be¬
stehen; als auch ihre Verwaltung eine den Artelen absolut gleiche
ist Der einzige Unterschied zwischen jenen und diesen ist der, dass
hier das Zollamt, dessen Interessen die Kompagnie zu Vertreten hat,
jeden Aufgcnomtnenen als Drjagil bestätigt und für schwere, ihrem
Vortheil schädigende Vergehen das Recht hat den Betreffenden
zum Ausschluss aus der Kompagnie zu proponiren. Hierauf allein
beschränkt sich der Unterschied der Kompagnie von den Artelen:
übrigens ist man schon seit länge mit dem Gedanken beschäftigt,
sie richtiger, wie solches auch bereits in Odessa geschehen, Zollamts-
Artele zu benennen. In diesem Namen würde dann auch ihre ganze
Bedeutung enthalten, während der heutige «Drjagil* corrumpirt
aus dem deutschen «Träger» — nur auf eine einseitige Beschäf-
tigung hinweist, welche sie gemeinsam mit jedem beliebigen Tage¬
löhner haben.
In St. Petersburg existirt eine solche Kompanie schon seit dem
Jahre 1724. Ihre Einnahme bezieht sie nach einer im Jahre 1819
bestätigten Taxe von der Kaufmannschaft, für welche sie das
Löschen, Abfahren, Auspacken etc. der Waaren besorgt. Die Zahl
der Genossen ist seit dem Jahre 1827 auf 200 beschränkt. Es sind
ihrer in Folge zufälliger Umstände fast immer weniger gewesen,
so z. B.
im Jahre 1855 — 174
» 1856 — 193
* 1857 —194
» 1858 —199
» 1860 — 200
» 1861 — 200
,871 —73—195
Stets haben sich diese Kräfte als ungenügend erwiesen, so dass
die Drjagili zu fremder Hülfe greifen mussten. In den Jahren 1871 bis
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i873waren es sogar 1000Tagelöhner, welche auf Kosten der Drjagili
arbeiteten.
Die Einnahmen der Kompagnie betrugen:
Gesammt-Einn.
Unkosten
Rein-Einn.
fiir Jeden
_ Rbl. Kop.
im Jahre
Rbl.
Kop
Rbl.
Kop.
Rbl.
Kop.
1855
23,522
60
4,902
83
18,619
77
107
01
1856
125,469
54
56,638
75
68,830
79
356
63
1857
145,167
23
84,684
22
66,755
36
344
09
1858
126,288
53
• 60,099
57
66,188
96
334
28
1859
147.034
68
85,853
5 i
61,176
12
307
42
1860
146,594
88
85,521
26
62,210
—
3 * 1
05
1861
132.993
35
75.849
39
57 ,H 3
40
285
71
1871-73
166,809
—
98,046
68,713
—
360
—
Eintreten kann in die Kompagnie jeder unbescholtene Mann, be¬
sonders ein zu St. Petersburg angeschriebener Bürger. Als Wkup
gilt hier 600 Rbl. Verwaltet wird die Kompagnie nach Art aller
anderen Artele durch den jedesjahr neugewählten Aeltesten, gegen
dessen Beschlüsse Appellation an die allgemeine Versammlung ge¬
stattet ist.
2. In Archangel bestehen die Drjagili schon seit dem Ende des
16. Jahrhunderts. Sie nannten sich anfangs richtig Drjagil-Artele,
bis sie durch ministeriellen Befehl vom 5. Dezember 1827 auch in
eine Kompagnie umbenannt wurden. Ihr Alter weist schon darauf
hin, dass sie das Prototyp der St. Petersburger sind, noch mehr aber
ihre Organisation, welche in der St. Petersburger ihren genauen
Abdruck im grösseren Maassstab gefunden hat.
Sie haben eingenommen:
Rbl.
Kop.
d. h. für Jeden
Rbl. Kop.
oder ffor
einen Tag
Rbl. Kop.
im Jahre
1861
bei
5 i
Mann
4239
37
89
79
—
79 *'4
» »
1862
»
48
»
5011
38
106
25
I
I I
» »
1863
»
4 «
»
4674
47
105
69
—
77
» »
1864
»
54
»
3769
78
71
—
—
63
» »
1865
»
54
»
2053
64
41
39
—
53V2
» »
1866
»
39 ,
»
3128
56 •
82
24
—
76'/2
» »
1867
»
38
»
3431
—
102
74
I
06
» »
1868
»
38
»
4099
66
109
4 i
—
77
» »
1869
»
44
»
5069
99
119
04
—
79 '/*
» »
1870
»
43
»
4079
64
122
13
—
89
» »
1871
m
48
»
4621
92
«03
81
—
80
» »
1872
»
43
»
499I
52
121
12
—
9 1
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Die Durchschnittszahl der Jahreseinnahme beträgt demnach 97
Rbl. 887 a Kop. und der Tageseinnahme 75 V2 Kop. Es muss aber
hier bemerkt werden, dass sie diese Einnahme nur während des
Sommers beziehen: im Winter gibt sich Jeder auf eigene Rechnung
und Gefahr privaten Beschäftigungen hin, welche je nach der Ge¬
wandtheit und Anstelligkeit des Einzelnen mehr oder minder vor-
theilhaft ausfallen und über die uns keine Daten zü Gebote stehen.
Mit Beginn der Schifffahrt treten dann wieder sämmtliche vereinzelte
Drjagili als Korporation, als Artel zur Aufnahme der Vereins-Arbei¬
ten zusammen.
Die Eisenbahnen Russlands.
Von
S. M. Propper.
I.
Geschichtliches.
A. Das Durchgangs-Stadium 1835—1866.
Die erste in Russland gebaüte Eisenbahn ist die von St. Petersburg
nach Zarskoje-Sselo l . Wenige Jahre waren erst seit der Eröffnung
der ersten englischen Lokomotivbahn (1829) verflossen, in Frank¬
reich noch keine 1000 Kilometer gebaut, in Deutschland nur wenige
Kilometer (Nürnberg nach Fürth 8. Dezember 1835), Oesterreich
noch ganz ohne Eisenbahnschienen 2 . Nur das ferne Nord-Amerika
breitete sein Eisenbahnnetz immer gewaltiger aus; doch die fieber¬
hafte Thätigkeit und die gewagten Projekte, welche sich dort gel¬
tend machten, riefen eben Ende der Dreissiger Jahre eine Krisis
hervor, welche in wenigen Monaten Millionen an Kapital verschlang
und dem Eisenbahnwerke auch in Europa für viele Jahre einen
1 Wo fiir unsere Angaben keine besonderen Quellen angegeben sind, wurden die¬
selben den 'Statuten und Jahresberichten der betreffenden Gesellschaften entnommen.
* Die am 7. September 1824 der »Ersten Oesterreichischen Eisenbahn» (später
• Kaiserin Elisabeth Westbahn» genannt) konzessionirten Strecke von Mauthausen nach
Budweis wurde als Pferdebahn ausgeführt und erst laut Gesetz vom 23. Mai 1869 in
eine Lokomotivbahn umgebaut.
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140
schweren Schlag versetzte. Nahezu mit Misstrauen auf das neue
Eisenbahnwerk blickend, schrieben die Staaten des Kontinentes
demselben wenn ni<Jit selbst eine verderbliche, so jedenfalls keine
grössere Bedeutung zu. Allseitig wurde den Wasserstrassen der
Vorzug gegeben. In diese Zeit fällt in Russland die Herstellung des
Wolga-Doner Kanals, welcher eine Verbindung des Baltischen mit
dem Schwarzen und eine neue mit dem Kaspischen Meere bewirkte.
Leicht begreiflich sind also die Schwierigkeiten, welche die Kon.
zessionäre der Zarskoje-Sselo-Eisenbahn: Gr. Alexej Bobrinskij, die
Negozianten Benedikt Kramer und I. K. Pliet, sowie der österreichi¬
sche Ingenieur Gestner zu überwinden hatten. Das Baukapital
wurde durch eine Aktienemission von 17,500 Stück ä 60 Rbl.
= 1,050,000 Rbl. aufgebracht, welchen, zwar laut Konzessionsakten
vom 21. Dezember 1835 und 21. März 1836 der Besitz der Bahn für
unbestimmte Zeit zugesprochen, jedoch nicht gleichzeitig eine
Staatsgarantie verliehen ward 1 . Im Frühjahre 1836 wurden die
Bauarbeiten unter der Leitung des Ingenieurs Gestner in Angriff
genommen; in St. Petersburg bei der Kreuzung des Sagorodnyj-
Prospekt mit dem Wendenskij’schen Kanal beginnend, führte
man sie längs des Ufers des Letzteren, Hess sie den Obwodnij-
Kanal durchschneiden und nach Rechts kehrend direkt nach
Pawlowsk gehen. Zwei Jahre waren nöthig, um diese kaum
25 Werst = 37 Kilometer lange Strecke zum 4. April 1838
fertig zu stellen, trotz des günstigen Terrains, des Mangels jeg¬
licher bedeutenderen Bauten und des hinreichenden Kapitals von
42,000 Rbl. per Werst. Dieser Umstand in Verbindung mit dem
Ausbleiben der erwarteten Dividende 2 während der ersten Be-
1 Die Regierung ertheilte der Zarskoje-Sseio-Bahn in den Jahren 1837, 1838 und
1859 eine Anleihe von 625,000 Rbl., welche langsam amortisirt und mit 5 pCt ver¬
zinst werden sollte; ausserdem kontrahirte die Bahngesellschaft 183S, 1861 und 1S63
201,428 Rbl., sowie bei der St Petersburger Stadtkreditgesellschaft 160,000 Rbl.
Bis dahin war die Linie eingeleisig und zwar breitspurig mit 6' = 0,857 Faden gebaut.
Am 14. Juli 1873 wurde der Gesellschaft das Recht ertheilt, für 1,800.000 Metall Rubel
5 pCt. Obligationen zur Tilgung aller Schulden, zur Legung eines zweiten Geleises,
zur Erweiterung der Bahnhöfe, zur Vermehrung des Betriebsmaterials und zur Dotirung
des Reservefonds zu emittiren; selbe gelangten am 18. und 19. September 1873 in
St. Petersburg und Berlin zur Subskription. Die Obligationen sind vom Staate nicht
garantirt, haben jedoch das Recht der ersten Hypothek.
2 Die Dividende der Zarskoje-Sselo-Bahn betrug pro 1838 — 3,8 pCt, 1839 — 3,8^
1840 — 1,9, 1841 — 3,8, 1842 — 5,8, 1843 “ 6,8. 1844 — 6,6, 1845 — 7,5, 1846
— 7,5. «847 - 8.33, «848 - 8,33, 1849 - 7,5- >850 — 7,5, 1851 — 7,5, 1852 —
6,6, 1853 7,5, 1854 - 6,6, 1855 — 6,6, 1856 — 6,6, 1857 6 6, 1858 — 6,6,
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triebsjahre bewirkte einen Preisrückgang der betreffenden Aktien
und desavouirtq das Eisenbahngeschäft in Russland für eine lange
Reihe von Jahren. Nicht zu verwundern ist also, dass im grossen
Publikum damals keine Neigung für derartige Unternehmungen zu
erwecken war. Als nun die Nothwendigkeit und Nützlichkeit der
Schienenverbindung beider Hauptstädte Russlands immer mehr zu
Tage trat, da ward es auch gleichzeitig klar, dass sich hierzu die
Privatinitiative nicht heranziehen lasse, ja dass selbe'dem Eisenbahn¬
werke noch nicht traue und erst die Erfolge desselben abwarten
wolle. Mit Spannung ward der Lösung der Nikolaibahnfrage ent-
gegengesehen und die Regierung sah sich veranlasst, den Bau der
Bahn selbst und mit eigenen Mitteln in die Hand zu nehmen.
Am i. Februar 1842 erschien der Allerhöchste Ukas des Kaisers
Nikolai I. über den Bau einer Linie von St. Petersburg nach Moskau.
Im Sommer desselben Jahres wurden die Vorstudien vorgenommen,
im Winter die Pläne zusammengestellt und im Juni 1843 die Bau-
arbeiten unter der unmittelbaren Aufsicht des Oberdirigirenden der
Wegebauten, Gr. Peter Andrejewitsch Kleinmichel, und unter der
Leitung der Obersten Nikolai Ossipowitsch Krafft für die südliche,
und Pawel Petrowitsch Melnikoff 1 für die nördliche Theilstrecke
(zwischen St. Petersburg und Tschudowo, sowie Twer und Wishnij-
Wolostschok) in Angriff genommen. Doch «weder die Gewissen¬
haftigkeit der leitenden Persönlichkeiten selbst, noch deren That-
kraft und Umsicht — wie es in einem Amtsschreiben lautet — reich¬
ten hin, um die Lücken auszufüllen, welche ein jedes neue Werk
durchmachen muss, und Fehler zu verhüten, die sich in einem jeden
Staate ohne Ausnahme wiederholten». Nur so ist es zu erklären,
dass, während bei der Nikolaibahn die ganze Arbeit so zu sagen
unter der Hand und an der Linie selbst alles nöthige Material reich¬
lich vorhanden war, andererseits auch die äusserst billige und leicht
erhältliche Arbeitskraft keine grossen Opfer erforderte, der Bau der
Bahn sich dennoch volle 8 Jahre hinziehen und viel Ueberflüssiges
und Unnöthiges geschehen konnte, hauptsächlich aber dass Vieles
nicht fertig gebracht und Anlass zu Prozessen sowie Ansprüchen an
den Staat gegeben ward, von welchen manche bis jetzt nicht aus-
1859 — 3,3, 1860 — 6,6, 1861 — 6,6, 1862 — 6,6, 1863 — 8,33, 1864 — 7,5, 1865
— 6 6, 1866 — 8,33, 1867 — 8,33, 1868 — 6,6, 1869 — 7,5, 1870 — 8,36, 1871
— 8 36, 1872 — 8,36, 1873 — 7, 1874 — 6, 1875 ~ 6 pCt.
4 Letzterer trat m späterer Folge als Minister der Land- und Wasserverbindungen
unter Kaiser Alexander II. an die Spitze der Eisenbahnbewegung.
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142
geglichen sind. Der Mangel eines Eisenbahngesetzes nicht nur in
Russland, sondern auch in ganz Europa, zu welchem damals noch
eine jegliche Grundlage fehlte, machte sich hier eben geltend. Nach
und nach erschienen, wie im Auslande so auch in Russland, Ver¬
ordnungen über das Eisenbahnwesen, welche für die ausgebauten
Strecken ebenfalls Geltung erhielten.
Im Juli 1846 begann versuchsweise der Lokomotiv-Verkehr zwi¬
schen St. Petersburg und dem Alexandrower Etablissement und
dann mit Kolpino; am 7. Mai 1847 ward die Strecke zwischen
St. Petersburg und Kolpino in einer Länge von 23,3 Werst dem all¬
gemeinen Verkehr übergeben. Das folgende Jahr 1848 blieb auch
auf den Eisenbahnbau in Russland nicht ohne Einfluss. Die politi¬
schen Verhältnisse brachten es mit sich, dass die Anweisung der
Bausummen sehr spärlich vor sich ging, ja die ungarische Campagne
(1849) hatte zur Folge, dass die Bauarbeiten fast gänzlich stockten.
Indessen hatte im Juni 1849 der Dienstverkehr von Kolpino nach
Tschudowo (86 Werst) und zwischen Twer und Wishnij-Wolotschok
(111,2 Werst) begonnen; Im Jahre 1850 konnte der Dienstverkehr
vom Dorfe Tschudowo bis zum Endpunkte .der nördlichen Theil-
strecke (ca. 180 Werst) eingeführt und die Linie zwischen Twer und
Wolotschok am 29. Juni 1850 dem allgemeinen Verkehr übergeben
werden. - Mit der Eröffnung von 469,5 Werst von Kolpino nach
Wolotschok und von Twer nach Moskau wurde auf der ganzen,
604,2 Werst umfassenden Bahn St. Petersburg Moskau am 1. No¬
vember 1851 dem Betriebe eröffnet 1 .
Die Bahn beginnt in St. Petersburg bei der Snamjenskij-Brücke,
passirt den Obwodnij-Kanal, biegt an dem Gluchoje-Osero ab und
wendet sich direkt zum Dorfe Kolpino, an dem dicht bevölkerten
Newa-Ufer in einer Entfernung von 1 bis 4 Werst vorbeigehend;
nach Tosna kommend, geht sie dann längs der Moskauer Chaussee
in gerader Richtung nach Tschudowo, überbrückt auf der 118. Werst
* In der Zwischenzeit waren nachstehende Verordnungen erschienen: 1842: am 4
August Betreffs einer Anleihe zum Bau der Bahn, am 18. August Betreffs der Bildung
des Eisenbahn-Departements; 1843: am 26. April Betreffs einer Bauanleihe; 1844: am
23. März Betreffs der Ueberlassung des Alexandrower Mechanischen Etablissements an
die St Petersburg-Moskau-Bahn und am 16. November Betreffs einer Bauanleihe ^
1851 : am 6. August Betreffs der Regelung der Bahnverwaltung. — Am io. Juli 1852
erschien der Ukas über die Einführung einer Kommerziellen Bahn-Agentur. — Später
wurde am 8. September 1855 der St. Petersburg-Moskauer Litiie die Benennung
« Nikolaibahn'» verliehen .
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T 43
den Fluss Wolchow, durchschneidet nun waldige und sumpfige Ge¬
biete und tritt hinter der Station Malo-Wischera in eine wasserreiche
Gegend, passirt den Fluss Msta auf der 177. Werst und hebt sich in
einer starken, 14 Werst langen Biegung auf die Höhen des Waldai;
hier passirt die Bahn das Wasserbassin der Msta und, des Wishnij-
Wolotschok’schen Systems 1 , geht an dem See Mstino vorbei, über¬
brückt die Zna auf der 335. Werst, führt dann durch Wishnij-Wolo-
tschok und, an den Krümmungen des Flusses Twerza abbiegend,
wendet sie sich nach Twer, überschreitet hier auf der 432. Werst
die Twerza, dann auf der 444. Werst die Wolga, geht nach Klin,
passirt in der Nähe der Station Podsolnez den früheren Moskauer
Kanal und mündet in Moskau an der Ssokolniker Chaussee. — Die
ganze Bahn ist zweigeleisig angelegt; die wichtigsten Brücken sind:
a) über den Fluss Wolchow, Länge 127,5 Faden; b) über die Msta,
275,4 Faden; c) über die Wjereba bei Wjerebinskaja, 229,5 Faden;
d) über die Wolga, 91,8 Faden; e) über die Twerza, 89,5 Faden;
f) über die Schodnja bei Reschetnikowo, 115 Faden.
Der von dem Eisenbahn-Departement herausgegebene «CöopHHin»
CTaT. CB'fcaeHiü o meji^aux'h Aoporaxi» bt > Poetin» (Sammlung sta¬
tistischer Nachrichten über die russischen Eisenbahnen) proi868be-
ziflfert (pag. 94) die Bauausgaben des Staates für die Nikolaibahn
mit 76,181,629 Rbl. 09 Kop. und unter Zuschlag von 3,914,694 Rbl.
47 Kop. als Kostenpreis der nach Eröffnung der Bahn bis zum
1. Scpt. 1868 vorgenommenen Ergänzungsarbeiten mit 80,096,323
Rbl. 57K0P. (pag. 97); dieerstere Summe ergibt bei 604 Werst eine
Ausgabe von 126,128 Rbl., die zweite bei 604,2 Werst von 132,565
Rbl. 91 Kop. pro Werst. Das betreffende Kapital setzt sich aus
nachstehenden Summen zusammen: 1) aus den 5 ausländischen
Staatsanleihen der Jahre 1842, 1843, 1844, 1847 und 1850; 2) aus
den, in den Jahren 1846, 1849, 1850, 1854 und 1856, bei der Leih¬
bank (3aeMHi>iü BaHKi>) entliehenen Summen; 3 ) aus den im Jahre
1854 aus der St. Petersburger und im Jahre 1855 aus der Moskauer
Depositenkassa (CoxpaHHaa Ka3Ha) entnommenen Beträgen; 4) aus
der im Jahre 1847 erfolgten Emission von 4 Serien 3 pCt. Reiclis-
schatzbillete (6njieTa rocy^apcTBeHHaro KaaHaneflcTBa). Die be¬
treffenden Ausgaben vertheilten sich auf die einzelnen Jahre wie folgt:
* Ueber die drei, die Wolga mit der Ostsee verbindenden Wassersysteme: das Tich-
win'sche, dasjenige von Wishnij-Wolotschok und das Mariensystem bringen wir in den
nächsten Heften ausführliche Darstellungen. D. Red.
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Im Jahre •
Rbl.
Kop.
Im Jahre
Rbl.
Kop.
1842
M 7.293
43
Transport
71,881,040
89 '
1843
1,166,163
65
1855
1 , 274,339
96
1844
5 . 598,720
17
1856
1 . 322,779
89
*»45
. 7 , 329.587
68
1857
300,604
87
1846
"» 569 . 385 ^
02
1858
404,277
25
I847
9 . 735.814
38
1859
257,982
59
1848
7 , 320,440
33
1860
140,688
96
I849
4,516,508
48
1861
213,482
24
I85O
7 , 331,423
72
1862
188,457
9 *
1851
9,949,414
61
1863
6l,7IO
98
I852
4,251,908
37
1865
13,391
28
1853
1,881,664
70
1866
109,556
27
1854
1,082,716
35
1867
13 , 3*6
—
76,181,629 og
Hierzu werden allgemein das Damno bei der Kapitalbeschaffung
sowie die Zinsen während der Bauzeit zugeschlagen und der Ge-
sammtkostenpreis der Nikolaibahn demnach mit circa 165,000 Rbl.
pro Werst, d. i. ungefähr 100 Mill. Rbl,, angenommen.
Kommerzielle und strategische Gründe Hessen gleichzeitig den
Bau der Warschau-Granica-Bahn zur Verbindung mit der Oester-
reichischen Kaiserl. Ferdinand-Nordbahn bei Szczakowa wünschens-
werth erscheinen; der Bau in der Staatsregie unter der Leitung de s
Generalmajors E. I. Gerstfeld ging rasch von Statten und schon am
3. Juni 1845 konnten 28 Werst der Strecke von Warschau bis Grod-
ziska dem Verkehr übergeben werden; ihr folgten noch in dem¬
selben Jahre am 8. Oktober 33 Werst von Grodziska bis Sciernowice,
am 1. November 20 Werst von Sciernowice bis Lowicz, am 15-
November 28 Werst von Lowicz bis Rogowa; am 11. Oktober
1846 wurden 146 Werst der Strecke von Rogowa bis Piotrokow,
am 1. Dezember 80 Werst von Piotrokow bis Czenstochowa eröffnet;
mit der Vollendung der 59 Werst von Czenstochowa bis Somb-
kowice am 1. Dezember 1847 und der 13 Werst von Sombkowice
bis Granica war somit die ganze Linie von Warschau nach Granica,
sammt dem Flügel nach Lowitsch, eröffnet. Die Bauarbeiten 1 nah¬
men ungefähr 4 Mill. Pap.-Rbl. in Anspruch, was circa 129,870 Rbl.
pro Werst repräsentirt.
4 Die Bahn wurde eingeleisig gebaut; die Spurbreite 0,667 Faden =r 4' ; be-
merkenswerthe Bauschwierigkeiten waren keine vorhanden.
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145
Die Verbindung Moskau’s und der Centralgouvernements mit dem
Schwarzen Meere bildete nach der Inangriffnahme der Nikolaibahn
den Gegenstand anhaltender Bemühungen der Hauptverwaltung
(gegenwärtig Ministerium) der Wegebauten. Noch in den Jahren
1846 und 1847 na hm der belgische Ingenieur Siberg, beauftragt von
dem Fürsten Woronzow, Vorstudien für eine 162 Werst lange
Bahn von Odessa nach Olivjopol vor, deren Kostenpreis laut dessen
Projekt mit 11,530,000 Rbl. = 67,035 Rbl. pro Werst normirt wurde.
Die ungünstigen Verhältnisse des Geldmarktes staqden der Aus¬
führung dieses Projektes hindernd im Wege.
Ein ähnliches Schicksal verzeichnet die Frage der Verbindung des
Libauer Hafens mit den inneren Handelspunkten. Wiewohl noch
im Mai 1847 der Libauer Kaufmannschaft der Bau einer Eisenbahn.
linie von Jurburg nachLibau in einer Länge von 199 */* Werst gestattet
und dem mit 25,000 Rbl. pro Werst bemessenen Gesellschaftskapi¬
tal eine staatliche 4 pCt. Zinsengarantie eingeräumt wurde, so
konnte doch die nöthige Summe nicht aufgetrieben werden; die
Ausführung des Projektes musste im Jahre 1848 vertagt werden.
Die Nothwendigkeit, Polen, resp. Warschau, mit der Central¬
verwaltung in unmittelbare Verbindung zu bringen, brachte den
Kaiserlichen Ukas vom I. Februar 1851 zum Baue einer Eisenbahn¬
linie von St. Petersburg nach Warschau. Unter der Leitung des
Generalmajors Gerstfeld begannen im Mai 1852 die Bauarbeiten auf
den Strecken zwischen St. Petersburg und Dünaburg, sowie zwischen
Bjelostok und Warschau. Doch der im Jahre 1853 begonnene Krieg
störte den Fortgang der Bauarbeiten und die Regierung musste sich
am 1. November desselben Jahres auf die Eröffnung der bis dahin
fertig gestellten 42 Werst von St. Petersburg bis Gatschino be¬
schränken, während für den Bau und die Vorarbeiten selbst bereits
18 Millionen Rubel verausgabt waren.
Trotz des im Süden tobenden Krieges wandte sich noch im Jahre
1855 und dann wiederholt 1856 die Libau’sche Kaufmannschaft an
das Ministerium betreffs Durchführung einer Eisenbahn nunmehr
von Kowno über Jurburg nach Libau; die Eingabe ward jedes¬
mal wegen der unmässigen Staatsgarantie-Anforderung zurückge¬
wiesen; das Ministerium betonte gleichzeitig, dass die Linie über
Jurburg bei ihrer Richtung nächst der preussischen Grenze weder
einen Gewinn für Russland, noch einen Vortheil für den Libauer
Hafen involvire, welchem letzteren das Ministerium, seiner vortheil-
haften Lage wegen (der Hafen ist fast den ganzen Winter den
Boss. Berne. Bd. IX. 10
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146
Schiffen zugänglich und friert selten zu), seit Jahren besondere Auf¬
merksamkeit widmete. Noch im Beginne der Sechsziger Jahre ver¬
wendete die Regierung für die Verbesserung des Libauer Hafens
an 2 Millionen Rubel, ohne dass sich jedoch damals der auswärtige
Handel Libau’s gehoben hätte; im Gegentheil, derselbe fiel in Folge
des Ausbaues von Eisenbahnen in Preussen, welche am Baltischen
Meere ausmündend mit den russischen Nachbarbahnen in Verbin¬
dung traten und die Frachten Russlands von Libau nach Königsberg
und Memel ablenkten, welche Lage in späterer Folge die Verbin¬
dung Libau’s mit der Kowno-Linie bewirkte.
Das Beispiel des Westens Hess die Privatinitiative auch in Russr
land sich gelinde regen und am 9. August 1856 ward dem Baron
Stieglitz die Konzession für die Linie von St. Petersburg nach Peter¬
hof unter dem Namen «Peterhofer Bahn* auf 85 Jahre vom Tage
der Betriebseröffnung an, verliehen; der Staat behielt sich das Recht
vor, die Bahn schon nach fünfzehnjährigem Betriebe zu erwerben Der
Bau hatte zwar noch im Jahre 1853 begonnen, musste jedoch wegen
des Krimkrieges unterbrochen werden. Nach erlangter Konzession
wurden die Bauarbeiten energisch in Angriff genommen, und als die
am 21. Juli 1857 in einer Länge von 27,2 Werst eröffnete Bahn den
Anforderungen des Verkehrs vollkommen entsprach, da reichte
Baron Stieglitz ein Gesuch um Konzessionirung einer Zweigbahn
nach Krassnoje-Sselo ein; auf Grundlage der Bewilligung vom
4. August 1858 wurde dieser Flügel noch am 14. Juni 1859 * n einer
Länge von 12,5 Werst fertig gestellt. Am 14. Mai 1859 wurde der
Bau der Oranienbaumer Bahn gestattet; die Arbeiten begannen im
August 1862, die Eröffnung erfolgte am 7. Juni 1864 1 . Die Peter¬
hofer Bahn beginnt in St. Petersburg am Obwodnij-Kanal in der
Nähe der Station der St. Petersburg-Warschauer Linie; sie umkreist
die Finnische Bucht, und bei der Station Peterhof anlangend, welche
sich hinter dem Parke Alexandria befindet, geht sie weiter hinter
Alt- und Neu-Peterhof, kehrt beim Dorfe Martischkina zur Küste,
durchschneidet die Chaussee und der Küste folgend erreicht sie
1 Dem Besitzer wurde das Recht ertheilt, eine Aktiengesellschaft zu bilden, und zwar
für die Peterhofer Linie 2 Mill. Rbl. (4000 Aktien ä 500 Rbl ), für did Oranienbaumer
I Mill. Rbl. (2000 Aktien a 500 Rbl.) und für den Krassnoje-Sselo Flügel 300,000
Rbl., zusammen 3,300,000 Rbl. Eine staatliche Garantie erhielt nur der letztere Flü¬
gel mit 30.000 Rbl. jährlich für die ersten 10 Jahre bis zum 14. Juni 1869; der Zuschuss
durfte jedoch nicht 10,000 Rbl. übersteigen. — Die Bahn wurde im Jahre 1872 der
Baltischen Bahn für 3,496,000 Pap.-Rbl. verkauft.
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Oranienbaum. Von der Station Ligowo zweigt sich der Flügel nach
Krassnoje-Sselo ab und endet an der Chaussee, welche Krassnoje
Sselo mit Zarskoje-Sselo verbindet.
Die Wendung, welche der Krimkrieg auf allen Gebieten des poli¬
tischen, wirthschaftlichen und geistigen Lebens in Russland hervor"
rief, zeigte sich auch hinsichtlich des Eisenbahnwesens. Allseitig
wurde die unbedingte Nothwendigkeit und die Wichtigkeit der
Eisenbahnen für Russland erkannt. Die Regierung benutzte die sich
im Aus- und Inlande rege entwickelnde Unternehmungslust und
schritt zur Bildung einer Privatgesellschaft, mit Hülfe einer grössten-
theils aus Franzosen bestehenden Kapitalistengruppe. Am 26. Ja¬
nuar 1857 wurden die Statuten einer Gesellschaft bestätigt, welche
den Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes zum Zwecke hatte und
fortan den Namen der «Grossen Russischen Eisenbahngesellschaft*
(DiaBHoe OömecTBO PocciflcKHxi, Mcejrfc3Hbixi> aoporb, Grande So-
ci£t£' des Chemins der Fer Russes) 1 führte. Als Gründer dieses
Unternehmens traten nachstehende bekannten Bankhäuser, Indu¬
strielle und Kapitalisten auf: die Bankiers Stieglitz & Co. in St. Pe¬
tersburg, S. A. Fränkel in Warschau, Baring Brothers & Co. in Lon¬
don, Hope & Co. in Amsterdam, Hottinger & Co., B. L. Fould &
Fould-Oppenheim, Mailet freres, Desart-Musard & Co., N. I. von
Uribaren, Baron Seilliere in Paris, Mendelssohn & Co. in Berlin; der
Direktor der Paris-Lyoner Eisenbahn Isaac Pereire, der Verwal¬
tungspräsident der französischen Südbahnen und des Garonner Ka¬
nals Emile Pereire, der Direktor der französischen Westbahnen
August Thurneissen, der Präsident der Grossen Französischen See¬
gesellschaft Adolf von Eichthal, und die Pariser Kapitalisten Fried¬
rich Grüninger und Kasimir Salvador. Die Gesellschaft übernahm
die Verpflichtung, im Laufe von 10 Jahren ein 4000 Werst umfassen¬
des Schienennetz auszubauen, und zwar nachstehende Linien: 1) von
St. Petersburg (resp. Gatschino) nach Warschau, mit einem Flügel
über Kowno zur preussischen Grenze, 2) von Moskau nach Nishnij-
Nowgorod, 3) von Moskau über Orel und Kursk nach Feodosia, und
4) von Orel oder Kursk nach Libau. Das Grundkapital der Gesell¬
schaft wurde auf 275 Millionen Rubel normirt. An der 5 pCt. Staat"
liehen Zinsengarantie partizipirte die Warschauer Linie mit im Gan"
zen 85 Mill. Rbl., der Flügel zur preussischen Grenze mit einem
4 Die deutschen Börsen notiren die Aktien dieser Gesellschaft fälschlich als «Russi-
che Staatsbahn».
10*
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Kapital von 69,000 Rbl. pro Werst, die Moskau-Nishnij, Libauer
und Moskau-Feodosia Linien mit einem solchen von je 62,500 Rbl.
pro Werst.
Die damals in Europa zum ersten Male seit langen Jahren auf¬
tretende Gründungs- und Börsenspekulation bemächtigte sich mit
Vorliebe dieses Werthes und zog das grosse Publikum und das
kleine Kapital nach. Der mächtige Einfluss und die geschickte
Operirungsart der Gründer brachten es mit sich, dass die Zeichnun- *
gen einen glänzenden Verlauf nahmen und nach den übereinstim¬
menden Nachrichten der damaligen Tagesblätter, fanden die 600,000
Aktien ä 125 Rbl. = J 5 Mill. Rbl. den rapidesten Absatz bis in die
weitesten Kreise, so dass sie bald schon mit einer Prämie von 12 Rbl.
50 Kop. gehandelt wurden.
Unter dem Eindrücke dieses Erfolges konnte die Regierung noch
am 28. September 1857 1 zur Bildung einer Gesellschaft schreiten,
welche die ausgebaute Linie Warschau-Granica als « Warschau-
Wiener Eisenbahn > auf 85 Jahre in Pacht nahm und sich ausserdem
verpflichtete, eine Linie von ihrer Station Lowicz über Alexandrowo
zur preussischen Grenze in der Richtung gegen Thorn zu bauen,
wodurch ein Anschluss an die preussische Ostbahn gefunden ward.
Die Konzessionäre: Hermann Epstein, Karl August Milde, Graf
Andrei Renard und Baron Hermann Muschwitz emittirten für die
Warschau-Wiener Bahn ohne jegliche Staatsgarantie 10 Mill. Rbl.
in 100,000 Aktien 2 ä 100 Rbl., wovon die Aktionäre 60 Rbl. pro
Stück einzahlten und der Rest von 40 Rbl. pro Stück als Einlage
des Staates für die geleisteten 4 Mill. Rbl. Baukosten eingetragen
ward. Von diesen 4 Mill. Rbl. geniesst der Staat eine Jahresrente
von 200,000 Rbl., d. i. 5 pCt., während der ersten 5 Jahre (1858 bis
1862), von 225,000 Rbl., d. i. 5 5 /s pCt., während der zweiten 5 Jahre
(1863—1867) und 250,000 Rbl. pro anno, d. i. 6,25 pCt. seit dem
Jahre 1868. Die Gesellschaft übernahm die Verpflichtung, die 16,75
Werst lange Linie von Sombkowice nach Sosnowce zur preussischen
Grenze auszubauen und eröffnete selbe am 14. August 1859, wo ’
durch ein Anschluss an die Oberschlesische Bahn in der Richtung
gegen Kattowitz zu, erreicht ward.
1 Die bezüglichen Akte sind vom I. Oktober 1857 datirt.
* Laut Generalversammlungsbeschluss vom 23. Februar 1860 wurden 19,200 3 pCt.
Obligationen a 500 Frcs = 1,200,000 Rbl emittirt. Auf die später folgenden Emissio¬
nen kommen wir weiter unten zurück.
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149
Die gleichzeitig als « Warschau-Bromberger Bahn• gebaute Linie,
von der Station Lowicz der Warschau-Wiener Bahn zur preussischen
Grenze bei Alexandrowo, ward am 22. November 1862 in einer
Länge von 130,72 Werst dem Verkehr übergeben und der Betrieb
mit der Warschau-Wiener Eisenbahngesellschaft in dem Verhältnisse
vereinigt, dass die erstere 30 pCt., die letztere 70 pCt. der Gesammt-
ausgaben beitrage. Die zum Bahnbau nöthigen Mittel verschafften
die Konzessionäre im Jahre 1859 und 1860 durch eine Aktien-Emission
von 14,000 Stück ä 100 Rbl. 1 , welche sie al pari übernahmen, und
in den Jahren 1861, sowie 1862, durch die Ausgabe von ebenfalls
al pari gezeichneten 8972 Stück ä 500 Rbl., zusammen 5,886,000
Rbl. oder 44,930 Pap.-Rbl. pro Werst. Die Regierung garan-
tirte den Aktionären einen Reinertrag von 4 pCt. pro anno und */«
pCt. zur Amortisation.
In demselben Jahre suchten das Handelshaus Thomson Bonar &
Co., ferner die Grafen Rzewuski, Adlerberg II., Golenischtschew,
Kutusow und Lubjenski, die Fürsten C. Dolgoruki und Kotschubej,
sowie Benkendorf und Ssofronow bei dem Ministerium die Erlaubniss
nach, zur Bildung einer Gesellschaft für den Bau einer Eisenbahn
von Odessa über Balta, Braclaw, Kijew, Neshin und Krolewjez zur
projektirten Feodosia- oder Libauer Bahn, mit einem Flügel von
Braclaw nach Brody, in einer Gesammtlänge von 1400 Werst. Im
Mai 1858 petitionirte dasselbe Konsortium in Verbindung mit einer
neuen Gruppe um die Konzessionirung der Linien von Odessa nach
Berditschew, von Radsiwilowo über Berditschew nach Kijew und
von Kijew nach Kursk, in einer Gesammtlänge von 1200 Werst.
Während die zwei in Warschau von einheimischen Unternehmern
gebildeten Gesellschaften ihren Konzessionsverträgen in befriedigen¬
der Weise entsprachen, zeigte es sich bei der Grossen Russischen
Eisenbahngesellschaft bald, dass den ausländischen Gründern bei
dem ganzen Geschäfte der Börsengewinn als Hauptsache, die Art
der Ausführung der Bahn selbst aber als Nebensache erschien.
Zwar sollte von den 20 Verwaltungsräthen nicht weniger, als die
Hälfte in Russland domiziliren; der Bau der Bahn aber wurde dem
Franzosen Colignon übergeben, welcher mit dem Titel eines General¬
direktors ausgestattet, beinahe für alle Stellen französische Ingenieure,
1 Auf Wunsch der Aktionäre wurden später i960 Aktien ä 100 Rbl. in 392 Aktien
a 500 Rbl. umgetauscht. Am 8. September 1868 wurde bewilligt, einen 7 Werst larv*
gen Flügel von Alexandrowo nach Ciechocinek zu bauen.
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französische Techniker und französische Agenten berief. Dieselben
umgaben sich mit einem ungewöhnlichen Comforte, kümmerten sich
wenig um die Lokalverhältnisse und schritten, nach französischer
Methode, zum Bahnbau. Die verderblichen Folgen derselben waren
lange Zeit nicht zu tilgen, beispielsweise musste auf der Strecke
Moskau-Nishnij der grösste Theil der Brücken und Dämme umge¬
baut werden. Die Lieferungen wurden unerfahrenen Personen je
nach der Protektion der Franzosen übertragen und die zweideutige
Form der einzelnen Kontrakte rief zahlreiche Prozesse gegen die
Gesellschaft hervor, deren manche noch bis heute nicht entschie¬
den sind. '
Schon im Jahre 1858, also kaum ein Jahr nach der Bestätigung
der Statuten und erfolgten Aktien-Emission erwies sich, dass das
ganze Aktienkapital verausgabt war, trotzdem die Arbeiten nur an
der einen, Warschauer Linie im Gange waren und der Gesellschaft
die Zahlung der 18 Mill. Rbl. für die von der Regierung fertig über¬
nommene Strecke St. Petersburg-Gatschino (42 Werst) sammt allen
Bauteta, Bahn- und Heizungsmaterial, sowie für geleistete Vorarbei.
ten, gestundet ward 1 . Letztere mussten ziemlich bedeutend gewe¬
sen sein, wenn die Theilstrecke von Gatschino nach Luga (86 Werst)
noch am 5. Dezember 1857 eröffnet werden konnte 2 . Im Sommer
1858’schritten die Gründer zur Emission von 70,000 Stück 4 1 /* pCt.
Obligationen ä 500 Rbl. im Gesammtbetrage von 35 Mill. Rbl., auf
Rechnung der der Gesellschaft bewilligten 37,359,625 Rbl. Obliga¬
tionen; die Placirung derselben al pari nahm auch diesmal einen
guten Fortgang. Jetzt erst wurden die Arbeiten an der Strecke
Moskau-Wladimir der Nishnij-Bahn in Angriff genommen und im
Jahre 1859 zwischen Wladimir und Nishnij. Gleichzeitig schloss
die Verwaltung Kontrakte für die im Jahre 1859 in geringem Maasse
an der Feodosia-Linie 8 in der Krim begonnenen Arbeiten ab; die-
4 Es wurde bestimmt, dass diese 18 Mill. Rbl. zinsenlos aus der Hälfte des 5 pCt,
übersteigenden Reinertrages getilgt werden sollen.
a Zum Zeitpunkte der Uebergabe an die Grosse Russische Eisenbahngesellschaft
waren an der Strecke Gatschino-Luga alle Erdarbeiten und Brücken fertiggestellt;
zwischen Luga und Pskow, sowie zwischen Bjelostok und Warschau die Erdarbeiten
bedeutend vorgeschritten; zwischen Pskow und Dünaburg die Erdarbeiten begonnen.
3 Um den wiederholt veniilirten Plan der Verbindung Moskau’s mit dem Schwarzen
Meere der Realisirung näher zu bringen, waren bereits im Jahre 1855 und 1856 unter
der Leitung des Ingenieurs Generalmajor P. P. Melnikow die Voruntersuchungsarbeiten
für eine Linie von Moskau über Kaschira, Tula, Mtensk, Orel, Fatesh, Kursk, Obojan,
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i5i
selben mussten wegen Geldmangels im Jahre i86r aufgegeben
werden.
Inzwischen war das Riga’sche Börsenkomite bei der Regierung
um die Konzessionirung einer Linie eingekommen, welche Riga mit
den Linien der Grossen Russischen Eisenbahngesellschaft verbinden
würde, und am 23. Januar 1858 wurden die Statuten der •Riga-
Dünaburger Eisenbahngesellschaft» bestätigt. Die 10,200,000 Met.-
Rbl. 4V2 pCt. Aktien in 81,600 Stück ä 125 Met.-Rbl. wurden zu
80 pCt. begeben und die englische Kompagnie (Ingenieur Hackshaw),
welche den Bahnbau bewerkstelligte, konnte diese 204 Werst um¬
fassende zweigeleisige Linie, deren Bau am 8. Mai 1858 begonnen
wurde, bereits am 12. September 1861 dem Verkehr übergeben.
Die Riga-Dünaburger Bahn folgt in ihrer ganzen Länge dem Thale
der Düna; die Endstation der Bahn bei Riga befindet sich in der
Nähe der früheren Festung. Bei Dünaburg geht die Bahn an dem
Glacis der Festung vorbei, durchschneidet die Wahrschauer Bahn
und mündet bei der neuen Vorstadt Dünaburg’s aus 1 .
Gleichzeitig mit der Riga-Dünaburger Bahn wurde zur Förderung
des Verkehrs zwischen dem Don und dem Asow’schen Meere eine
Aktiengesellschaft unter der Firma: « Wolga-Doner Schifffahrts- und
Eisenbahngesellschaft* in’s Leben gerufen. Am 19. Juli 1858 er¬
folgte die Konzession zum Baue einer Eisenbahnlinie von Zarizyn an
der Wolga nach Kalatsch am Don in einer Länge von 72,5 Werst:
das gesammte Kapital der Gesellschaft wurde den Konzessionären;
Charkow, Jekaterinoslaw und Alexandrowsk nach Feodosia, sowie über Ssimferopol
nach Ssewastopol, dann von Charkow über Poltawa, Krementschug nach Olwjopol und
von der Feodosia*Linie ^50 Werst weit von Charkow) über die Steinkohlenfelder nach
Rostow a. D. vorgenommen worden. Diese Vorstudien gaben die ersten Anhalts¬
punkte zu weiteren mehr detaillirten Tracirungen, zum Zwecke des Auffindens der
vortheilhaftesten Richtung für die Südbahn. Auf Grundlage des Ukases vom 26. Januar
1857 ward auch der Bau der Moskau-Feodosia-Linie der Grossen Russischen Eisenbahn¬
gesellschaft übertragen. Am 3. November 1861 erfolgte die Lösung dieser Verpflich¬
tung und die bis dahin auf der südlichen Theilstrecke vorgenommenen Arbeiten und
angeschafften Materialien wurden durch den Staat übernommen.
1 Zur Verstärkung der Gesellschaftsmittel wurde der Riga-Dünaburger Bahn am
29. Mai 1863 gestattet, für 1,300,000 Rbl. Obligationen in 10,400 Stück a 125 Rbl,
mit 50 jähriger Tilgungsfrist zu emittiren. Am 3. November erfolgte die Bewilligung,
die zur Zinsen- und Amortisationszahlung dieser Obligationen nöthigen Summen in die
ßetriebsrechnungen einzustellen. — Laut den im «CöopHHicb CB-feflernft o p. *. fl.» pro
1867 enthaltenen Daten waren bis zum 1. Januar 1867 für den Bahnbau 10,926,62^
Rbl. 56 Kop., d. i. $3-561 Rbl. 91 Kop. pro Werst ausgegeben worden,
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152
;
Kommerzienrath Wassilij Kokorew, Staatsrath Nikolai Nowosselskij
und Ingenieur Generalmajor P. P. Melnikow, mit 6,400,000 Rbl. in
16,000 Aktien ä 400 Rbl. bemessen, wozu in der Folge eine Anleihe
von 1,600,000 Rbl. kam. Die Regierung garantirte dem ganzen
Kapital für die Konzessionsdauer von 80 Jahren (gerechnet vom Tage
der Vollendung der Bahn) eine Verzinsung von 4V2 pCt., doch
sollte die Zuzahlung nie 288,000 Rbl. pro anno übersteigen. Am
8. Mai 1859 begannen die Bauarbeiten unter der Leitung Melnikow’s.
Am 5. März 1862 wurde die Bahn dem öffentlichen Verkehr über
geben. Die Wolga-Doner Bahn beginnt am rechten Ufer der Wolga
bei der Stadt Zarizyn; von hier aus zweigt sich ein Flügel zu der
Frühjahrs- und Sommerbucht ab. Von der Wolgaer Station steigt
die Bahn in starken Krümmungen fast bis zur Station Krüta auf den
Bergrücken, welcher die Wasserscheide der Wolga und des Don
bildet; die eingeleisig gebaute Bahn endigt vor dem Kalatscher
Chutor (Vorwerk) bei der Bucht Kalatsch, indem sie zwei Flügel
bildet: einen zur Frühjahrsbucht und den andern zur Sommerbucht.
In Folge der schwierigen Lage der Gesellschaft und der Nothwendig-
keit, zur Regulirung des Donflusses und der Ausbreitung der Schiff¬
fahrt neue Ausgaben vorzunehmen, gestattete die Regierung am
12. Januar 1865 das Schifffahrtsunternehmen und die Bahn in zwei
separate Gesellschaften zu trennen. Das Aktienkapital der Wolga-
Doner Bahn wurde auf 4,800,000 Rbl. in 48,000 5 pCt. Aktien ä 100
Pap. Rbl. normirt; die restirenden 1,600,000 Rbl. kamen auf die
Schifffahrtsgesellschaft, zu welcher Summe auch die 288,000 Rbl.
zugeschlagen wurden, welche der Staat aus Anlass der Garantie
pro 1864 gezahlt hatte, so dass das Aktienkapital der Wolga-
Doner Schifffahrtsgesellschaft 1,888,000 Rbl. in 16,000 Aktien
ä 118 Rbl. umfasste K Der Eisenbahn garantirte der Staat 5 pCt.
Zinsen und 1 pCt. Amortisation d. i. 288,000 Rbl. pro anno, da¬
gegen wurde die Konzessionsdauer auf 37 Jahre (gerechnet vom
I. Januar 1865) beschränkt. Der «CöopHHia» pro 1867» Beziffert
die Bahnkosten per 1. Januar 1867 auf 4,470,624 Rbl. 7 Kop. d. i.
91,241 Rbl. 43 Kop. für die Werst.
Trotz der Proteste einer starken Minorität der Aktionäre in den
Generalversammlungen der Jahre 1859 und >860 blieb die Verwal¬
tung der Grossen Russischen Eisenbahngesellschaft inzwischen den-
1 Der Schifffahrtsgesellschaft wurde gestattet noch eine Anleihe von 1,312,000 Rbl.
aufzunehmen.
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153
noch in Händen der Pereire’schen Gruppe bis zum Jahre i 85 i d. i.
bis zu dem Zeitpunkte, als die ausländischen Gründer ihre Aktien an
den Mann gebracht hatten, eine neue Obligationen-Emission von
2,359,625 Rbl. in 18,877 Stück ä 125 Rbl. plazirt, das Kapital ver¬
schwendet und nichts mehr zu verdienen war. Als die Nachricht
über die Missbräuche der Verwaltung in’s Ausland drang, sank der
Aktienpreis bis 112 Rbl.; nunmehr ward es auch klar, dass in Folge '
der unerhörten Bau- und Rechnungsführung die Gesellschaft—trotz
der liberalsten Unterstützung von Seiten des Staates — nicht nur
nicht im Stande sei, den Bau der ferner vorgeschriebenen Linien in
Angriff zu nehmen, sondern auch nicht die Möglichkeit habe, die
bereits angefangenen St. Petersburg-Warschauer und Moskau-
Nishnij-Ijfowgoroder Linien zu beenden. Trotz des riesigen Kapital¬
zuflusses waren zu diesem Zeitpunkte kaum die Theilstrecken der
Warschauer Bahn von Luga nach Pskow 129 Werst am 10. Fe¬
bruar 1859, von Pskow nach Ostrow 49 Werst am 26. Januar, sowie
von Ostrow nach Dünaburg 191 Werst am 8. November 1860
eröffnet. Nur auf Grundlage der Regierungsvorschüsse konnten
am 11. April 1861 82 Werst von Kowno nach Wirballen und am
14. Juni 177 Werst von Moskau bis Wladimir dem Verkehr über¬
geben werden. Die sich persönlich eines enormen Kredites in
Europa erfreuenden Bankiers der Gesellschaft verloren selbst,
Angesichts dieser Verwaltung, das Zutrauen Zu dem Unternehmen
und gaben die Hoffnung einer weiteren Aktien- oder Obligationen-
Emission auf. Bei derartigen Umständen blieb Angesichts der Staats¬
garantie für das durch die Grosse Russische Eisenbahngesellschaft
emittirte Kapital der Regierung nichts anderes übrig, als bei Reorga-
nisirung der Verwaltung, Reduzirung der Aktionärvertreter auf 10
und Delegirung von 4 Repräsentanten der Regierung in die Direk¬
tion, die Verpflichtung der Grossen Russischen Eisenbahngesell¬
schaft im Jahre 1861 (am 3. November) auf den Ausbau der St. Pe¬
tersburg-Warschauer (mit dem Flügel Landwarowo-Kowno-Eydt-
kuhnen 1206 Werst) und Moskau-Nishnij-Nowgoroder Linie (410
Werst), zusammen 1616 Werst zu reduziren, sowie der Gesellschaft
zum Beenden der in Angriff genommenen Strecken die Baarvor-
schüsse nach Maassgabe der vorzunehmenden Arbeiten fortzu¬
setzen. Die Thätigkeit des Pariser Komit^’s und dessen Einfluss
ward beseitigt; in den Jahren, wo eine Garantiezahlung erforderlich,
räumte sich die Regierung das Recht ein, den vierten Theil der in
der Generalversammlung vertretenen Stimmen zu besitzen. Alle
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Vorstudien, Pläne und Vorarbeiten an den Feodosia und Libauer
Linien, wowie alle Arbeiten, Materialien, Vorräthe und ausgeführten
Bauten etc. verpflichtete sich die Gesellschaft dem Staate zu über¬
lassen, wogegen von den für die Warschauer Bahn schuldigen
18 Mill. Rbl. 6,400,000 Rbl. abgerechnet wurden. Nachdem sich
der erste Vorschuss von 28 Mill. Rbl. 1 trotz der starken Kosten-
reduzirungen, eingeführten Ersparnisse und Aufhebung der schäd¬
lichen Kontrakte ungenügend erwiesen, bewilligte die Regierung
der Gesellschaft in späterer Folge die Verwendung des Reinge¬
winnes pro 1862 (am 4. Oktober 1862) und gestattete (am 22. März
1864) aus den Reineinnahmen pro 1863, 1864 und weiteren Jahren
noch 5 Mill. Rbl. zu verwenden, während die volle Zinsenzahlung des
Gesellschaftskapitals von Seiten des Staates erfolgte.
Im Laufe des Jahres 1862 wurden nun die übrigen Strecken der
Grossen Russischen Eisenbahngesellschaft eröffnet, und zwar am
9. Mai 257 Werst von Dünaburg nach Kowno, am I. August
233 Werst von Wladimir bis Nishnij-Nowgorod und am 15. De¬
zember 371 Werst von Landwarowo bis Warschau.
Die St. Petersburg - Warschauer Linie beginnt bei dem Obwodnij
Kanal zu St. Petersburg. Auf der 665. Werst durchbricht sie die
Ponarer Anhöhe in einen 200 Faden langeji Tunnel. An der ersten
Station hinter Wilna in Landwarowo auf der 678. Werst von St. Pe¬
tersburg zweigt sich von der Warschauer Bahn der Flügel zur preussi-
schen Grenze ab. Die Bahn selbst geht über Grodno weiter, durch¬
schneidet den Fluss Niemen, geht an Bjalostok vorbei, überbrückt
den Bug auf der 974. Werst und mündet in die Warschauer Vor¬
stadt Praga. Der Flügel zur preussischen Grenze folgt anfänglich
von Landwarowo dem Thale der Wilja, passirt das Thal des Niemen,
nähert sich der Stadt Kowno in einem 600 Faden langen Tunnel,
hebt sich dann am Thale des Flusses Shessja und erreicht die preussi-
sche Grenze bei Eydtkuhnen. Bemerkenswerthe Brücken sind:
über die Luga 42 Faden, über die Düna bei Dünaburg 121,5 Faden,
über denNiemen bei Kowno 13 5,5 Faden, über den Niemen bei Grodno
87 Faden, über die Narew 75 Faden, über den Bug 130,7 Faden.
Die Moskau-NishniyNowgoroder Bahn geht in Moskau von dem
Pokrower Schlagbaum (3acTaßa) aus; auf der 6. Werst durch¬
schneidet sie die Moskau-Rjasaner Bahn, von hier führt sie gröss-
4 Auf Rechnung der vom Staate erhaltenen 28 Mill. Rbl. waren am 3« November
1861 bereits 13V1 Mill. Rbl. verausgabt.
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155
tentheils am' Thale des Flusses Klasma und überschreitet ihn drei
Mal; von den letzten 3 Stationen ab verfolgt sie die Richtung des
Flusses Oka und endet bei Nischnij-Nowgorod am linken Ufer der
Oka in der Nähe des Messplatzes. Die Bahn geht vorbei an den
Städten: Bogarodsk in einer Entfernung von ca. 13 Werst, Po-
krowka 3 Werst, Wladimir zwischen der Stadt und dem Flusse
Klasma, Kowrow ca. 12 Werst, Wjasnikij ca. 4 Werst, Gorochowje
ca. 8 Werst und Gorbatow ca. 8 Werst.
Der mangelhafte Bauerfolg der Linien der Grossen Russischen
Eisenbahngesellschaft in Verbindung mit den damals noch ungün¬
stigen Betriebsresultaten der Nikolai- und Warschau-Wiener Bahnen
paralysirten für lange Jahre das Vertrauen zum russischen Eisen¬
bahnwerke, nachdem bei der im Auslande herrschenden Unkenntniss
der wahren Ursache des Misserfolges der Grossen Russischen
Eisenbahngesellschaft sich dort allseitig die Ueberzeugung ungün¬
stiger Bedingnisse für den Eisenbahnbau in Russland Geltung ver¬
schaffte, eine Anschauung die selbstverständlich am meisten seitens
derjenigen Persönlichkeiten verbreitet wurde, welche auch die meiste
Schuld an den Missverhältnissen der Grossen Russischen Eisenbahn¬
gesellschaft trugen. Eine schwere Arbeit war es, das Vertrauen
wieder zu erwecken, es kostete Millionen Rubel, welche seitens der
Regierung für hohe Garantiezahlungen und eigene Bauten geopfert
werden mussten und es ist wohl zumeist der seltenen Energie und
rastlosen Thätigkeit der Finanz Verwaltung zu verdanken, dass Russ¬
land heute ein so ausgedehnte? Eisenbahnnetz aufzuweisen hat. Es
ist nicht ausser Acht zu lassen, dass durch volle 7 Jahre seit der
Baisse der Grossen Bahnaktien (im Jahre 1859) Russland bei
Unruhen im Westen, Kriegen in den Nachbarstaaten und Wirren
an den ausländischen Geldmärkten,. auf eigene Kräfte angewiesen
war. Und doch konnte man damals die wahre Geschichte der
Grossen Russischen Eisenbahngesellschaft nicht veröffentlichen, es
würde dies den Kredit der ohnehin geschwächten Gesellschaft gänz¬
lich vernichtet haben und auch nicht ohne Einfluss auf den Staats¬
kredit Russlands geblieben sein. Mit Recht scheint die Regierung
diesen Umstand erkannt zu haben, aber auch die Thatsache, dass
die Zeit des billigen Eisenbahnbaues noch ziemlich fern £ei. Wohl
bot das flache Terrain des grössten Theiles Russlands keine beson¬
deren Schwierigkeiten; wohl waren die russischen Rohmaterialien¬
preise in ihrer Billigkeit gar nicht mit den ausländischen zu ver¬
gleichen und auch die Arbeitskraft, namentlich aber deren Erhai-
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156
tungskosten bedeutend billiger, als in allen andern Staaten, aber die
grossen Verluste, welche beim Beschaffen der nöthigen Kapitalien
zu tragen waren, verschlangen alle Vortheile und nöthigten die
Finanzverwaltung auf Mittel bedacht zu sein, welche diesem Uebel-
stande abhelfen würden. Damals war allgemein die Meinung vor¬
herrschend, dass es weder der Staatsadministration noch der Privat¬
unternehmung gelingen werde neue Eisenbahnlinien auszuführen, und
wirklich waren eine Zeitlang alle Bemühungen, alle Opfer der Regie¬
rung und Bauunternehmer erfolglos; vergeblich vertheilte der Staat
die freigebigsten Konzessionspromessen, denn weder die hohen an¬
gebotenen Werstpreise, noch die verlockendsten Begünstigungen
hatten die Kraft, das Eisenbahnwerk dem gewünschten Ziele näher
zu rücken. Derart erschwerende Bedingnisse begleiteten den Eisen¬
bahnbau in Russland in den Anfängen der Sechsziger Jahre.
Wenige Jahre verflossen, Russland bedeckte sich dennoch mit
einem Schienennetze, das Kapital und die ausländischen Konzes¬
sionäre drängten sich um den Eisenbahnbau und nicht genug Bau¬
projekte konnten bewilligt werden.
Es tritt die Frage nahe welchem System dieser Erfolg zu ver¬
danken war?
Das «systemlose» System war die Urkraft des Gedeihens.
Die Antwort auf die zweite Frage, was der russische Staat bei
diesem systemlosen System des Eisenbahnbaues gewonnen, ist
nicht schwer. Bei dem hergestellten Staatskredit Russlands ward
durch den Ausbau von Eisenbahnen ^in neuer Unternehmungsgeist
eingeflösst; es stieg der Werth des Bodens und bei der Möglichkeit
des stärkeren Bebauens desselben, konnte auch der Handel einen
wesentlichen Aufschwung erfahren; es war mit einem Worte eine
schaffende Kraft im ganzen Reiche entstanden.
Während dessen führte das russische Finanzministerium diesen
oder jenen Gedanken zur praktischen Ausführung, dieselben zum
Eisenbahnwerke je nach den Umständen und dem beeilten Gange
der Dinge von Zeit zu Zeit anwendend. Die Finanzverwaltung ver¬
änderte oft die Bauart der Eisenbahnen und arbeitete neue Bedin¬
gungen aus, doch bei aller ihrer rastlosen Thätigkeit verfiel
sie nie auf Extreme; deshalb brachten auch derartige Neuerun¬
gen, wie wir bald sehen werden, nie eine Störung hervor, noch
hielten sie den Gang des Eisenbahnwerkes auf.
So ertheilte die Finanzverwaltung Konzessionen in Papierrubeln,
ßo oft dies gefordert ward; sie legte keinen Zwang durch Normirung
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eines festen bestimmten Kurses, zu dem die Aktien und Obligationen
begeben werden sollten, auf; sie verpflichtete Niemanden zu einem
gewissen Prinzip bei der Emission des Baukapitals, sondern gab
allen möglichen Geldkombinationen freien Spielraum, um dem Kre¬
dite einen Weg zu bahnen und diesen zum Eisenbahnbaue heranzu¬
ziehen; sie ertheilte die staatliche Zinsen- und Kapitalgarantie
sowohl vom Tage der Kapital-Emission, als auch vom Zeitpunkte
der Betriebseröffnung auf der zu bauenden Bahn, verlieh die Ga¬
rantie sowohl in Metallrubeln als auch in Papierwährung zu einem
Pflichtkurse, je nach der Forderung der Konzessionäre; ertheilte
die Baukonzession nur auf Aktienkapital oder zur Hälfte Aktien und
Obligationen, ein Drittel Aktien und zwei Drittel Obligationen, ein
Viertel Aktien und drei Viertel Obligationen, ja selbst ein Fünftel
Aktien und vier Fünftel Obligationen. Als der Eisenbahnbau im vollen
Gange war und allseitig neue Bewerber auftauchten, da konnte die Fi¬
nanzverwaltung die neuen Bahnkonzessionen schon mit einer nur
fünfzehnjährigen, ja selbst ohne jegliche Kapitalgarantie ausstatten,
übernahm dagegen einen Theil des Baukapitals für Rechnung des
Staatsschatzes, wobei die zum Bahnbau nöthigen Gelder baar aus¬
gezahlt wurden. Während dieser in der Geschichte der volkswirt¬
schaftlichen Regeneration Russlands beachtenswerthen Epoche des
systemlosen Eisenbahnbaues wurden alle Bauten ernst und vor¬
sichtig durchgeführt; die russische Finanzverwaltung war aber in
die Lage versetzt, in der Folge Maassnahmen auszuarbeiten, welche
einmal eingeführt, an allen#Geldmärkten Europas als äusserst zu¬
treffend und rationell anerkannt worden.
Doch wollen wir der Entwickelungsgeschichte der russischen Eisen¬
bahnen nicht vorgreifen und zum Bau derselben, wie wir sie in einem
schweren Durchgangsstadium in den Anfängen der Sechjziger Jahre
gelassen, zurückkehren.
Die erste Eisenbahngesellschaft, welche einen Misserfolg verzeich-
nete, war die noch am 17. Juli 1859 als *Moskau-Ssaratower Bahn»
bestätigte Linie von Moskau über Kolomna, Rjasan und Morschansk
nach Ssaratow, sammt Flügeln zu den Flüssen Moskwa, Oka, Pro na,
Zna und Wolga. Die Konzessionäre: General-Adjutanten N. N. An-
nenkow und S. A. Jurewitsch, Hofmeister A. I. Ssaburow, Geheim¬
rath K. I. Arsenjew, Generalmajor M. I. Poliwanow, Staatsrath
A. I. Ssafronow, Ingenieur-Oberst M. K. Krassowskij, Kollegien-Se-
kretärW. J.Shadimirowskij,EhrenbürgerG.A. Mark, K.T. Soldatjen-
kow und K. Kapherr, sowie die Astrachaner Kaufleute Gebr. Ssa-
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158
poshnikow., der Kaufmann F. M. von Bogau und der Belgier Brouver
de Hohendorp, verpflichteten sich die Bahn in 6 Jahren auszubauen,
erhielten dagegen das Recht des achtzigjährigen Bahnbesitzes. Das
Grundkapital wurde auf 45 Mill. Rbl. festgesetzt; der Staat garan-
tirte 4 1 /* pCt. des wirklich zum Bahnbau verwendeten Kapitals, doch
nicht von mehr als von 62,000 Rbl, per Werst, wobei die Bedin¬
gung stipulirt ward, dass die Summe der Garantiezuzahlung nicht
2,025,000 Rbl. übersteige. Trotz der staatlichen Garantie aller
Gesellschaftskapitalien war die Gesellschaft nicht im Stande, den
übernommenen Verpflichtungen nachzukommen. Schon die ur¬
sprüngliche Emission der mit 4V2 pCt. garantirten 98,324 Aktien
ä 100 Thaler im Gesammtbetrage von 10 Mill. Met. Rbl. erweckte
Schwierigkeiten und nur mit Mühe konnte der Preis von jo pCt.
erzielt werden. Mit den ersten Einzahlungen begann die Gesell¬
schaft im Frühjahre 1860 den Bahnbau nach Kolomna, doch die
Arbeiten gingen so langsam vor sich und verschlangen dabei derar¬
tige Summen, dass die Aktien bedeutend zurückgingen und viele
Aktionäre es vorzogen, die folgenden Einzahlungen nicht zu leisten,
aus Furcht auch diese zu verlieren. Die direkte Folge hiervon war,
dass die Gesellschaft sich des Gedankens der Durchführung einer
Bahn nach Ssaratow begeben musste. Am 20. April 1862
wandte sich die Verwaltung an den Staat um Aenderung der Sta¬
tuten; der endgiltige Bautermin wurde bis Ende 1868 prolongirt
und die Garantie auf 5 pCt. pro anno des nicht 62,000 Rbl. per Werst
übersteigenden Aktienkapitales, bis auf 2,250,000 Rbl. erhöht. Bei
der Unmöglichkeit, selbst zu diesen Bedingungen das ganze Grund¬
kapital aufzubringen, petitionirte die Gesellschaft Ende 1862 um die
Beschränkung des Bahnbaues auf die Linie von Moskau nach Rjasan.
Doch auch hierzu reichten die vorhandenen Geldmittel nicht aus; das
Gelingen einer neuen Aktien-Emission war aber schwer zu er¬
warten, da die erste Serie kaum 50 pCt. des Nominalwerthes no-
tirte. Der Staat griff auch hier helfend ein. Nachdem am 20. Juli
1862 die Strecke von Moskau nach Kolomna dem Verkehre über¬
geben worden, wurden am 8. Januar 1863 die neuen Statuten
bestätigt, in denen der Gesellschaft bewilligt wurde, sich auf den
Bau der Linie bis nach Rjasan zu beschränken, bei gleichzeitiger
Ausgabe von 5 Mill. Rbl. Obligationen in 26,875Stück ä 200 Thaler,
die auch ein Placement zu 70 pCt. fanden. Mit diesen Mitteln begann
die Gesellschaft den Bau der Kolomna-Rjasan Linie im Frühjahre
1863, eröflnete sie am 26. August 1864 m einer Länge von 79 */* Werst
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und führte fortan den Namen * Moskau-Rjasaner Bahn*. Laut de-
taillirter Berechnung des «C6. ct. cb. pro 1867» beziffert sich der
Kostenpreis der 196,4 Werst langen Moskau-Rjasaner Bahn mit
14,975,990 Rbl. 87 Kop., d. i. 76,252 Rbl. 50 Kop. pro Werst.
Die Moskauer Station befindet sich an der Ssokolniker Chaussee
gegenüber den Stationsgebäuden der Nikolai- und Jaroslawer Bahnen.
Auf der 3. Werst zweigt sich von der Hauptlinie ein 3,7 Werst lan¬
ger Flügel zur Verbindung mit der Nikolaibahn ab. Auf der 11. Werst
kreuzt sich die Hauptlinie mit der Moskau-Nishnij Bahn, geht dann
am linken Ufer des Flusses Moskwa, überbrückt ihn bei Kolomna;
hinter dieser Stadt ist ein 3 Werst langer Flügel zur Moskwa gebaut
(bei deren Mündung in die Oka); die Bahn passirt dann die Oka
und erreicht, deren rechtem Ufer folgend, Rjasan beim Flüsschen
Trubesch.
Verhältnissmässig leichter ging es mit der ebenfalls im Jahre
1859 (am 29. Mai) dem Ingenieur General-Major Andrei Delwig,
dem Ehrenbürger Iwan Mamontow, den Wirklichen Staatsräthen
Nikolai Rumin und Alexander Schipow, dem Oberst Dimitrij
Schipow, sowie dem Staatsrathe Nikolai Schipow konzessionirten
« Moskau-Ssergiejewsk Bahn » l . Die Gesellschaft verpflichtete sich,
im Laufe von 4 Jahren die Linie von Moskau zum Ssergiejew-'
skij Passad (Vorstadt} auszubauen, wozu ein Kapital von 4,050,000
Rbl. in 27,000 Aktien ä 150 Rbl. bewilligt wurde. In der Folge
konnten 5166 Aktien wegen n\chp geleisteter weiteren Einzahlun¬
gen getilgt werden, wobei ein Gewinn von 183,690 Rbl. erzielt
wurde; die 21,834 Aktien ä 150 Rbl. ergaben 3,275,000 Rbl.,
ausserdem verfügte die Gesellschaft über eine am 3. Juli 1866 beim
Staate aufgenommene Anleihe von 687,375 Rbl. 18 Kop. und über
fernere 161,715 Rbl. 82 Kop. (100,000 Rbl. vom Reservefond,
61,175 Rbl. nicht amortisier Schuld an den Staat), zusammen also
über 4,307,881 Rbl. Die Bauarbeiten begannen im Mai 1860 unter
der Leitung des Baron Delwig, nachdem die Aktien ä 75 pCt. be¬
geben waren, und am 18. August wurde bereits die 66 Werst langer
Bahn als betriebsfähig erklärt. Die Moskau-Ssergiejewsker Linie
beginnt bei der Ssokolniker Chaussee neben der Nikolaibahn;
2 Werst von hier durchschneidet sie den Verbindungsflügel der
Moskau-Rjasan Bahn; bei dem Chatkower Kloster in einer Ent-
\ Durch den Ausbau der Fortsetzungslinie nach Jaroslaw, wurde die Bahn in späterer
Folge t Mos kau-Jaroslaw er Eisenbahn-Gesellschaft « genannt.
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i6o
fernung von i Werst vorbeigehend, endet sie in dem Trojzk-Sser-
giejew Pässad knapp an der Lawra (Wallfahrtsort). Die Bauaus¬
gaben betrugen pro i. Januar 1866 4,258,939 Rbl. 78 Kop.=64,43i
Rbl. 77 Kop. pro Werst.
Die reichen Kohlengruben im Lande der Donischen Kosaken,
bewogen die Letzteren, die Regierung um die Bewilligung einer
Linie von Gruschewka nach Aksajskaja in Länge von 66 Werst
anzugehen und als die Konzession am 6. April 1861 erfolgte, schritt
das Donische Heer bereits einen Tag darauf zum Baue der Bahn
aus eigenen Mitteln unter der Leitung des Ingenieur-Oberst Pane-
jew II., ohne hierfür eine Aktiengesellschaft zu bilden; am 29. Dezem¬
ber 1863 wurde die Bahn eröffnet. Die Grushewka-Eisenbahn hatte
den Hauptzweck, die Grushewer Anthrazitgruben mit dem Don in
Verbindung zu bringen. Sie beginnt bei den Grushewer Gruben
in zwei Armen (wovon der eine an dem Flusse Atjukscha),geht durch
das Thal des Flusses Gfushewka fast bis nach Nowotscherkask,
wo sie, den Fluss Tuslow passirend, in das Thal des Flusses Aksaj
Übertritt und an dessen rechtem Ufer den Don bei der Station
Aksajskaja erreicht Die Länge der Hauptlinie beträgt 58 V* Werst,
die des Atjuk’schen Flügels 7V2 Werst; beide kosteten laut dem
«C6. ct. cb. pro 1867» 2,921,408 Rbl. 16 Kop. = 44,263 Rbl.
76 Kop. pro Werst
Wir haben nunmehr wieder eine ganze Reihe nicht zu Stande ge¬
kommener Unternehmungen zu verzeichnen.
Noch im Jahre 1857 petitionirte die Kaufmannschaft der Stadt
Rybinsk um die Bewilligung der Vornahme von Vorstudien und der
Aufstellung eines Projektes für den Bau einer Eisenbahn von Rybinsk
zurStationBologojeanderNikolaibahn, in einerLänge V011275 Werst.
Nachdem dieses am 25. April 1857 gestattet worden, begannen die
Vorstudien im Jahre 1857, wornach im Jahre 1858 das Projekt selbst
vorgelegt wurde, ohne dass jedoch die Möglichkeit vorhanden
gewesen wäre, dasselbe auch zur Ausführung zu bringen.
Viel schlimmer ging es mit der * Riga-Mitauer Bahn-Frage»,
die sich jahrelang hinziehen musste, um endlich unter gänzlich
veränderten Bedingungen und durch andere Personen als den ur¬
sprünglichen Konzessionär realisirt zu werden. Am 23. Oktober
1859 wurde dem livländischen Edelmann M. Bechagel von Adlers-
kron auf 80 Jahre die Konzession für die Linie von Riga nach Mitau
verliehen. Das staatlich nicht garantirte Aktienkapital wurde auf
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1,918,000 Pap. Rbl. d. i. bei einer Bahnlänge von 38,36 Werst mit
52,171 Rbl. 52 Kop. per Werst bemessen. Man beabsichtigte, die
Bahn, vom linken Ufer der Düna bei Riga beginnend, ohne
Brücke und ohne Verbindung mit der Riga-Dünaburger Bahn, bis
zum linken Ufer des Flusses Aa bei Mitau zu führen; am 10. De¬
zember 1859 erfolgte die Bestätigung des vorgestellten Baupro¬
jektes, die Bahn sollte im Jahre 1862 beendet werden. Doch in
Folge der äusserst schwierigen kommerziellen Verhältnisse konnte
der Bahnbau nicht in Angriff genommen werden und im März
1862 sah sich der Konzessionär Bechagel genöthigt, bei der Gene¬
raldirektion der Wegebauten einige Erleichterungen in den über¬
nommenen Verpflichtungen zu erbitten; dieselben bestanden in der
Erlaubniss, die Bahn auf der Riga-Mitauer Chaussee ausführen zu
dürfen, die Brücke über die Aa nicht zu bauen und die Station
Riga an einem anderen Orte, als ursprünglich bestimmt war, .zu
errichten. Auch hierauf ging die Regierung am 19. April 1862 ein,
gleichzeitig wurde das normirte Baukapital in Folge dessen auf
1,618,000 Rbl. reduzirt. Selbst diese Neuerung war nicht im Stande,
das Unternehmen zu verwirklichen; der Bahnbau war noch immer
nicht begonnen. . Im März 1863 wandte sich der Konzessionär an
das Ministerium um Verleihung einer staatlichen Garantie von
5 1 /* pCt. pro anno; Angesichts der nur lokalen Bedeutung der Riga-
Mitauer Bahn wurde dieses Gesuch abgelehnt. Im April 1863 reichte
Bechagel wiederum ein Gesuch ein, diesmal um die Bewilligung einer
Linie von Riga über Mitau nach Libau, auf Grundlage einer Staats¬
garantie, wie sie inzwischen der Dünaburg-Witebsker Bahn einge¬
räumt worden war. Der unermüdliche Konzessionssucher stellte
im Mai noch 2 separate Projekte vor, das eine für die Linie von
Riga nach Mitau, das andere für die von Mitau nach Libau; als
Vorlage dienten hierzu die seiner Zeit von Seiten der Grossen Russi¬
schen Eisenbahngesellschaft vorgenommenen Tracirungsarbeiten;
der Kostenanschlag bezifferte sich auf 53,000 Rbl. per Werst für
die Mitauer Bahn (ohne Brücke) und 70,000 Rbl. per Werst für die
Libauer Bahn; hierbei wurde eine Staatsgarantie von 5V1* pCt.
pro anno eines Gesammtkapitals von 13,963,000 Rbl. für einen Zeit¬
raum von 85 Jahren gefordert. Das Ministerium nahm diese Bedin¬
gungen nicht an.
Inzwischen hatte der frühere kaukasische Statthalter General-
Feldmarschall Fürst Barjatinskij eine Schrift über die Dringlichkeit
einer Eisenbahn, welche däs Schwarze mit dem Kaspischen Meere
Bus«. E*tm. Bd. ul 11
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IÖ 2
verbinden würde, vorgelegt und gleichzeitig auch auf die Nütz¬
lichkeit der Anlage eines Hafens am Ausgangspunkte der Bahn hin¬
gewiesen. Die Länge der Bahn war auf 77Ö a /s Werst und der
Kostenpreis der Bahn sammt Hafen am Schwarzen Meere laut
Berechnung des englischen Ingenieurs Bailey mit 49 Mill. Rbl.
bemessen. Die Ausführung dieses Projektes musste bis zum Jahre
1865 vertagt werden.
DieLibauer Kaufmannschaft, welche sich bereits wiederholt um die
Verwirklichung der Kowno-Libauer Bahn bemüht hatte, sah durch
das Lösen der Verpflichtung der Grossen Russischen Eisenbahn¬
gesellschaft zum Bau dieser Linie, das Projekt wieder in die Feme
gerückt und bewarb sich deshalb durch die Person ihres Repräsen¬
tanten Ulitsch im August 1862 um Konzessionirung der Libau-
Kowno Linie auf Grundlage einer staatlichen Garantie von 5 1 /* pCt.
füi* das mit 62,000 Metall-Rubel pro Werst berechnete Baukapital.
Das Eisenbahnkomite erklärte am 28. Oktober 1862, dass der Staat
«in Anbetracht der allgemein misslichen finanziellen Verhältnisse
der Kowno-Libauer Bahn die erbetene Garantie nicht verleihen
könne, dagegen bestrebt sein werde den Anschluss des Libauer
Hafens an <jas Eisenbahnnetz zu bewirken, sobald dieses die Ver¬
hältnisse gestatten werden».
Um nun weiteren fruchtlosen Konzessionsansuchungen aus dem
Wege zu gehen, entwarf die Generalverwaltung der Wegebauten Ende
Dezember 1862 und im Januar 1863 das Projekt eines Eisenbahnnetzes,
in welches die anerkannt wichtigsten Linien, die vor allen anderen
in der Garantiefrage den Vorzug haben sollten, einbegriffen wurden.
Dasselbe umfasste ausser den bereits eröffneten und im Bau befind¬
lichen Bahnen, nachstehende Linien:
a) die Südbahn: von Moskau über Tula, Orel, Kursk,
Charkow, Jekaterinoslaw und Alexandrowsk zum Sse-
wastopoler Hafen in der Krim.1440 Werst
b) die Ostbahn: von Orel über Tambow nach Ssaratow 680 *
c) die Westbahn: von Orel über Smolensk und Wi-
tebsk nach Dünaburg zur Verbindung mit der Riga-
Dünaburger - und Riga-Libauer Bahn.945 *
d)die Süd-Westbahn: von Odessa über Balta, Brazlaw,
Lipowjez, Kijew, Tschernigow zur Verbindung mit
der Westbahn zwischen Brjansk und Roslawl, sammt
Flügel nach Tiraspol am Dnjestr.1065 »
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t63
; e) die Süd-Ostbahn (sog. Anthrazitbahn): von Jekate-
rinoslaw nach Gruschewskaja.380 Werst
Zusammen 4510 Werst
Trotz der Beschränkungen denen dieser Entwurf eines Eisenbahn¬
netzes unterzogen wurde, wandte sich im Beginn des Jahres 1863
der Bevollmächtigte einiger Edelleute des Estländischen Gouverne¬
ments und Bürger der Stadt Reval, von Kurssei, an die Generalverwal¬
tung der Wegebauten (P. P. Melnikow) um dieBestätigungeiner Aktien¬
gesellschaft, die eineLinie von St. Petersburg zu den Baltischen Häfen
unter dem Namen cSt. Petersburg-Baltische Bahn* ausführen sollte;
gleichzeitig übergab von Kurssei eine annähernde Berechnung des er¬
forderlichen Kapitals von 26 Mill. Rbl., für welches ersieh eine staat¬
liche Garantie von 5 pCt. d. i. 1,300,000 Rbl. pro anno erbat; der
Kostenpreis der Werst wurde mit 73,240 Rbl. angegeben und gleich¬
zeitig angezeigt, dass einerseits der englische Kontrahent Thomas
Bassey den Bahnbau für 1,500,000 Pfd.Sterl., die ihm in Gesellschafts¬
aktien gezahlt werden sollten, übernehmen wolle, andererseits sich
die englischen Banquiers Thomson Bonar & Co. bereit erklärt haben,
sich im Falle der Staatsgarantie beim Unternehmen mit 961,000 Pfd.
Sterl. zu betheiligen. Die Generalverwaltung ertheilte den Bescheid,
«dass die Bahn nicht in den Verband des Eisenbahnnetzes gehöre,
für welches der Staat mit seiner Garantie eintreten wolle und dass
ausserdem die Berechnung der Baukosten allzuhoch gegriffen und
dem Projekte nicht entsprechend sei*.
Kurz vorher (am 2. Dezember 1862) wurde der alte Plan des
Odessaer Eisenbahnnetzes (von Odessa nach Berditschew, von Rad-
siwilow über Berditschew nach Kijew und von Kijew nach Kursk)
seitens eines neuen Konsortiums, dem sich das frühere hinzugesellte,
zum zweiten Male, diesmal mit einigen unwesentlichen Verände¬
rungen, vorgestellt. Die Petenten: die Grafen E. T. Baranow,
A. W. Adlerberg, A. W. und K. W. Branicki, A. A. Rzewuskij,
G. A. Strogonow, M. D. Tolstoj, die Fürsten S. Dolgoruki, L. W.
Kotschubej, der Oberhofmeister I. M. Tolstoj, die Generalmajore S.
W. Kerbeds und K. I. Martschenko; N. A. Nowosselskij, F. L. Sa-
banskij, A. A. Gisiko, sowie Gütschow und Co. wollten im Laufe
von 8 Jahren eine Eisenbahn von Odessa über Krishopol nach
Kijew sammt Flügel von Kapoklejewki über Tiraspol zum Dnjestr
bei Parkany bauen, bei 85jähriger Konzessionsdauer und staatlicher
Garantie von 5pCt. pro anno des Baukapitals von 8 5,000 Rbl. pro Werst;
11*
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164
am 21. März 1863 bestätigte das Ministerkomite die Statuten dieser
Gesellschaft, und bestimmte die Frist von einem Jahre zur Konsti-
tuirung derselben. Schon früher war jedoch eine ähnliche Eingabe
des Generalgouverneurs von Bessarabien und Neurussland einge¬
laufen, demzufolge am 15. Januar 1863 der Bau der Linie von Odessa
nach Farkany am Dnjestr anbefohlen wurde und zwar unter der
unmittelbaren Aufsicht des Generalgouverneurs v. Kotzebue, dem
ein Inspektor von Seiten des Kommunikations- Ministeriums zu-
kommandirt worden, und unter der Leitung des Kammerherrn
Baron Ungern-Sternberg. Der Odessa-Kijewer Eisenbahn-Gesell¬
schaft wurde gleichzeitig erklärt, dass, sobald selbe zu Stande
komme, ihr alles bis dahin Fertiggestellte zum Kostenpreise über-
% lassen werden solle; 14 Tage vor dem Endtermine, am 7. März 1864
zeigte die Odessa-Kijewer Gesellschaft der Generalverwaltung der
Wegebauten an, dass nur die Hälfte des Kapitals aufgebracht
worden sei, sich jedoch einige englische Häuser bereit erklärt hätten,
dem Unternehmen beizutreten, wenn einige Statutenänderungen
vorgenommen würden. Das Eisenbahnkomite 1 nahm am 29. April
1864 die neuen Vorschläge nicht an, erklärte die Konzession für
erloschen und ordnete die Fortsetzung der Bauarbeiten nunmehr
auch bis nach Balta an, wobei die neue Linie dem Unternehmen
des Baron Ungern-Sternberg zugeschlagen wurde. Dieser hatte
seinerseits die Arbeiten an der Odessaer Strecke bereits im Mai 1863
begonnen und wurden selbe durch hierzu speziell gebildete Straf-
Kompagnien ausgeführt; für die schwierigeren Erdarbeiten nahm
man jedoch freigemiethete Arbeiter zu Hülfe. An dem Kuli-
kower Felde in Odessa beginnend, geht die Bahn von der west¬
lichen Seite der Tiraspoler Vorstadt, wo sich ein Flügel abzweigt,
nach Rasdelnaja, nimmt eine Richtung nach Nord und Nord-West
an der Wasserscheide der Flüsse Dnjestr und Kujalnik, passirt den
Flecken Eforschtschi und erreicht in starken Krümmungen in einer
Entfernung von 2 Werst die Stadt Balta. An der 65. Werst von
Odessa bei der Station Rasdelnaja zweigt sich nach Südwest der
Flügel nach Tiraspol zum Flusse Dnjestr ab; derselbe berührt die
Kolonie Strassburg, passirt die tiefe Schlucht des Flusses Kut-
schurgan an der 75. Werst von Odessa und wendet sich dann nach
Tiraspol. Die Durchführung des 259,6 Werst langen Eisenbahn¬
netzes (Odessa-Balta i97,72Werst, der Flügel zur Quarantaine-Bucht
1 Errichtet am 18. Dezember 1858.
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i6j
in Odessa 9,84 Werst, Rasdelnaja-Tiraspol 43,23 Werst, der Flügel
zu den Kujalniker Salinen 8,81 Werst) kostete laut Angabe des
Barons Ungem-Sternberg am Tage der Uebergabe der Bahn
12.425.289 Rbl. 10 Kop., hierzu schlägt der «C6. ct. cb. pro 1868»
3,998,259 Rbl. 58 Kop. für Ergänzungsarbeiten zu, so dass sich ein
Gesammtkostenpreis von 16,423,548 Rbl. 64 Kop. ergibt, was
63.289 Rbl. 20 Kop. per Werst repräsentirt. Die meisten Schwie¬
rigkeiten boten die Flügel, sowohl zum Hafen als auch nach Ti-
raspol, die verhältnissmässig bedeutend theurer als die Hauptlinie
zu stehen kamen. Laut dem Rapporte des Barons Ungern-Sternberg
kosteten beispielsweise die Erdarbeiten auf dem Flügel nach Ti-
raspol mehr als 33,000 Rbl. pro Werst (33,151 Rbl. 85 Kop.), auf
dem zum Hafen über 31,000 Rbl. pro Werst. (31,486 Rbl. 82 Kop.)
und an der Hauptlinie nicht ganze 5000 Rbl. pro Werst (4873 Rbl.
41 Kop. Hierin liegt die Erklärung des theuren Baues; ausserdem
muss noch berücksichtigt werden, dass die Bahn durch wasserlose
Gegenden führte, wodurch eine Legung von schwierigen Wasser¬
leitungen erforderlich war, und auch, dass die Oberbauarbeiten sowie
die Anlagekosten an den Flügeln in keinem Verhältnisse zur Haupt¬
linie standen. Die Strecke von Odessa nach Balta sammt Zweig¬
bahn ward bereits am 4. Dezember 1865 dem Verkehr übergeben
und der Betrieb derselben am I. September 1866 durch das Kommu¬
nikations-Ministerium übernommen. Dagegen zog sich der Bau des
Tiraspoler Flügels bis zum 12. August 1867 und zu den Kujalniker
Salinen selbst bis zum I. Juni 1868. Es war dieses der erste
Versuch des Bahnbaues auf Staatskosten durch Uebemehmer grösserer
Strecken.
Inzwischen wurde am 19. März 1863 den Londoner Banquiers
Frühling und Göschen die Konzession einer 242 Werst langen Eisen¬
bahnlinie ertheilt, welche unter dem Namen * Dünaburg-Witebsker
Bahn • eine Fortsetzung der Riga-Dünaburger bildete. Die Gesell¬
schaft konstituirte sich in England auf Grundlage der dortigen Ge¬
setze; dort befindet sich auch das Domizil der Gesellschaft, während
in Russland die Bauleitung und der Bahnbetrieb mit dem Sitze in Riga
dreien Direktoren übertragen wurde, die unter russischem Gesetze
stehen. Mit Hülfe des englischen Konsortiums wurde das Gesellschafts¬
kapital von 2,600,000 Pfd. Sterl. = 16,250,000 Mill. Rbl. in 26,000
Stück Aktien ä 100 Pfd. Sterl. zum Kurse vom 80 pCt. in London
placirt, wobei die Regierung bei einer Konzessionsdauer von 8 5 Jahren
dem Kapital 5 pCt. Zinsen und ! /i* pCt. Amortisation, d. i. 132,167
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Pfd. Sterl. = 826,043 Mill. Rbl. 75 Kop. pro anno garantirte. Der
eingeleisige Bahnbau kostete 10,696 Pfd. Sterl. = 66,850 Met. Rbl.
pro Werst und ging unter der Leitung des englischen Ingenieurs
Williams derart langsam vor sich, dass die einzelnen Strecken erst
im Jahre 1866 und zwar am 25. Mai 150 Werst von Dünaburg bis
Polozk und am 5. Oktober 93 Werst von Polozk bis Witebsk eröffnet
wurden. Die Bahn beginnt bei der Station Dünaburg der Riga-
Dünaburger Bahn, geht der Warschauer Chausee entlang, wendet
sich dann zum rechten Ufer der Düna, nähert sich der Stadt
Drissa, überbrückt den Fluss Drissa auf der 110. Werst, passirt
Polozk, durchschneidet den Fluss Obol auf der 170. Werst und
erreicht dann die Stadt Witebsk vom Westen. Der Staat hat das
Recht, die Bahn vom 19. März 1909 an käuflich zu erwerben.
Nachdem die Regierung bei der Lösung der Verpflichtungen der
Grossen Russischen Eisenbahngesellschaft zum Bau der Feodosia-
Linie alle vorgenommenen Arbeiten und Vorräthe am 3. November
1861 übernommen hatte, wurde auf Ansuchen der Generalverwaltung
der Wegebauten beschlossen, neue Vorstudien zu der Schwarzen-
Meer Bahn zu veranlassen, zu welchem Zwecke am 27. Mai 1863
100,000 Rbl. angewiesen wurden; noch im April hatten die Traci-
rungsarbeiten an der Strecke Moskau-Orel begonnen. In demselben
Jahre ertheilte die Regierung zwei Baukonzessionen für südliche
Linien, von denen wir der einen: Odessa-Kijewer mit ihrem nega¬
tiven Resultate bereits gedacht haben; die zweite war die von
Moskau nach Ssewastopol sammt Flügeln zu den Anthrazitgruben
(am 25. Juli 1863). Die englischen Konzessionäre: Palmer, Früh¬
ling, Göschen, Gibson, Hubbard & Co. deponirten bei der russi¬
schen Staatsbank 1 Mill. Rbl. und verpflichteten sich, die Gesell¬
schaft im Laufe eines Jahres in England zu bilden, sowie die Bahn in
6 Jahren auszubauen, worauf der Gesellschaft der Betrieb auf
99 Jahre überlassen werden sollte. Das Nominalkapital wurde auf
22,500,000 Pfd. Sterl. = 140,625,000 Met. Rbl., d. i. bei 1446
Werst mit 97,251 Met. Rbl. pro Werst normirt. Der Staat garan¬
tirte für dieses Kapital 5 pCt. Zinsen und l ,u pCt. Amortisation
pro anno und bewilligte ausser den sonst üblichen Erleichterungen
ferner: 1. Die Zahlung aus dem Staatsschätze der 5 pCt. Zinsen
im Maassstabe der geleisteten Einzahlungen schon während der
Bauzeit, 2. den Ssewastopoler Hafen (den Ausgangspunkt der Bahn)
für einen Freihafen zu erklären, 3. die Regierungs-Hafenbauten der
Gesellschaft unentgeltlich abzutreten, etc. Ungeachtet dieses hohen
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Werstpreises und aller eingeräumten Rechte konnte sich die Gesell¬
schaft dennoch nicht konstituiren. Im Mai 1864 zeigten die Konzes¬
sionäre an, dass sich bei der Bildung der Gesellschaft und beim Auf¬
bringen des Kapitals zum bestimmten Termine (25. Juni 1864)
Schwierigkeiten herausstellten und sie deshalb genöthigt seien,
um die Gestattung der vorläufigen Gründung einer Gesellschaft für
die Moskau-Kursker Theilstrecke in der Weise zu petitioniren, dass
der Staat die Arbeiten zwischen Moskau und Orel aus eigenen Mitteln
und mit eigener Administration ausführe, worauf dann die Gesellschaft
alle diese Staatsbauten unter Rückzahlung der hierzu verwandten
Summen übernehmen werde, inzwischen aber ihrerseits die Bahn
von Orel nach Kursk bauen wolle. Dieser Modus wurde nicht ge¬
nehmigt und der Termin für das Zusammenbringen der Gesellschafts¬
kapitalien bis zum 1. November 1864 hinausgeschoben. Inzwischen
hatten die Bauarbeiten auf der Strecke Moskau-Orel für Rechnung
des Staatsschatzes am 3. Juli 1864 begonnen, bei gleichzeitiger Vor¬
nahme der Vorstudien für die Kursk-Charkower Linie. Als der
neue Termin zur Bildung der Gesellschaft am 11. November 1864
abgelaufen war, ohne dass sich dieselbe konstituirt hatte, wurde
die vom 25. Juli 1863 datirte Konzession der Moskau-Ssewastopoler
Eisenbahngesellschaft für erloschen erklärt und der englischen Kom¬
pagnie ihre Kaution zurückgezahlt.
Inzwischen erhielt der Warschauer Banquier Leopold Kronenberg
am 26. September 1864 eine 75 jährige Konzession für die Linie von
der Warschauer Vorstadt Praga nach Terespol in der Nähe der wich¬
tigen Richtung Brest. Der « Warschau-Ttresßoler Eisenbahn» (193,70
Werst)wurde gestattet für 5,200,000 Pap. Rbl. Aktien und für 5,000,000
Pap. Rbl. Obligationen zu emittiren und garantirte die Regierung dem
ganzen Kapitale von 10,200,000 Pap. Rbl. jährlich $ pCt. Zinsen und
l /i* pCt. Amortisation mit 2650 Met. Rbl. per Werst. Die 4600
Aktien ä lOOoRbl. und 6000 Aktien ä 100 Rbl. wurden zum Kurse von
90 pCt., die 3760 Obligationen ä lOOoRbl. und 12,400 Obligationen
ä 100 Rbl. zum Kurse von 85 pCt. placirt, und ist dieses verhältniss-
mässig glänzende Ergebniss der bekannten Energie des Konzessio¬
närs zu verdanken, der für sein Werk die polnische Kapitalisten¬
welt zu erwärmen wusste. Der Bahnbau selbst kostete 10,264,722
Rbl. = 52,992 Rbl. 82 Kop. per Werst und der Haupttheil der Linie
wurde noch am 28. September 1866 in einer Länge von 84 Werst %
von Praga nach Ssedlez und am 19. November eine Strecke von
26 Werst von Ssedlez bis Lukow eröffnet; die weiteren Theil-
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1 68
strecken im folgenden Jahre 1867 d. i. am 20. Mai 26 Werst von
Lukow bis Mendsireze am 28. Juni in 23 Werst von Mendsireze bis
Bela und am 6. September mit den 33,5 Werst von Bela nach Te-
respol die ganze Bahn dem Verkehr übergeben. Die Warschau -
Terespoler Bahn beginnt bei der Warschauer Vorstadt Praga in der
Nähe der Warschau-Terespoler Chausee und geht bis nach Ssedlez
in überwiegend östlicher Richtung; von hier wendet sie sich in einem
Bogen nach Süden nach Lukow, dann wiederum östlich nach
Terespol.
Im Jahre 1864 wurde nur eine neue Linie: der vom Besitzer der
Peterhofer Bahn erbaute Flügel von Peterhof zur Oranienbavmer
Bucht in einer Länge von nur 11,2 Werst am 7. Juni eröffnet.
Die Frage der Verbindung des Flusses Kama mit der in den To-
bol mündenden Tura rief noch im März 1862 die Bildung eines
Konsortiums hervor, welches eine Eisenbahn über das Ural-Ge¬
birge von der Stadt Perm nach Tjumen bauen wollte. In Anbe¬
tracht der hierdurch zu erweckenden Belebung des sibirischen Han¬
dels und der Möglichkeit einer Produktionsverstärkung der Uraler
Bergwerke wurde dem Konsortium bereitwillig gestattet, Vorstudien
vorzunehmen, welche auch in den Jahren 1862, 1863 und 1864 ge¬
macht wurden. In der Folge zog sich ein Theil der Unternehmer
zurück und es verblieben nur der General-Major W. Rachette und
Rittmeister N. Glasemann, welchen im Oktober 1864 die Konzession
auf 99 Jahre ertheilt wurde. Der Staat garantirte 5 pCt. Zinsen und
V24 pCt. Amortisation des - Baukapitals von 69,000 Met. Rbl. pro
Werst bei einer Bahnlänge von 679,3 Werst. Die Ausführung des
Projektes unterblieb.
Inzwischen war die volkswirthschaftliche Bedeutung der Eisen¬
bahnen im westlichen Europa immer mehr zum Vorschein gekom¬
men, weshalb sich die russische Regierung veranlasst sah, den Eisen¬
bahnbau mit grossen Opfern bei fast gänzlicher Unmöglichkeit der
Auinahme ausländischer Anleihen, mittelst « innerer» Prämienanleihen
fortzusetzen.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1864 regte der Generalgouvemeur
von Bessarabien und Neurussland — Angesichts der im Bau befind¬
lichen Odessa-Balta-Eisenbahn — die Frage der vorläufigen Fort¬
setzung dieser Linie nach Jelisawetgrad, Krementschug und Char¬
kow, aber nicht nach Kijew, an. Eine derartige Aenderung der
ursprünglich geplanten Eisenbahnrichtung würde den südlichen
Theil der «Schwarze Meer-Bahn» in dem Gebiete des Neurussischen
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Landes abgeschlossen haben, Kijew, das podolische Gouvernement
und die Krim ausserhalb des Eisenbahnnetzes gelassen und die Ver
bindung der letzteren mit Moskau, sowie den Centralgouvernements
Kijew’s und Podoliens aber mit dem Schwarzen Meere, für unbe¬
stimmte Zeit vertagt haben. Deshalb ward die aufgeworfene Frage
sofort in weiten Kreisen bekannt und zum Gegenstand reger und
anhaltender Besprechungen sowohl im Publikum, als auch in der
Presse, eine heisse Fehde entbrannte zwischen den Parteigängern
der Kijewer und der Krementschuger Richtung, die Regierungs¬
organe befassten sich eingehend mit dieser Angelegenheit und am
28. Dezember desselben Jahres erschien die Kaiserliche Entschei¬
dung, laut welcher der Bahn zwischen Moskau und dem Schwarzen
Meere der Vorzug gegeben ward; es wurde demnach beschlossen,
die bereits auf den Strecken Moskau-Sserpuchoiv und Odessa-Balfa
begonnenen Bauarbeiten an der Südbahn womöglich schnell für
Rechnung des Staatsschatzes fortzusetzen, einerseits von Sserpuchow
über Tula y Orel , Kursk nach Kijew , andrerseits von Balta über Kre -
mentsehug nach Charkow; die Frage der Verbindung Charkow’s mit
Kijew wurde noch offen gelassen.
Im Jahre 1865 wurden nun Seitens des Kommunikations-Ministe¬
riums die Vorstudien für die Linie von Orel über Kursk nach Kijew
an geordnet; gleichzeitig Hess der Generalgouverneur von Bessarabien
die Vorstudien für die Krementschuger Linie vornehmen. Laut
diesen wurde der Kostenpreis der Orel-Kursker Bahn mit Zuschlag
der Kapitalzinsen während der Bauperiode, doch ohne Berechnung
der Kosten für die Kapitalienbeschaffung, auf 59*383 Pap. Rbl. pro
Werst normirt. Ohne Zinsen repräsentirt dieses 55,235 Rbl. pro Werst
und nach Abzug der Schienen- und Fahrparkskosten 35,568 Rbl.
Zum Bau dieser Linie auf Kosten des Staatsschatzes liefen im Januar
1865 zwei Offerten ein, welche wohl geeignet sind, die damalige
Lage des Eisenbahnwerkes in Russland zu beleuchten, weshalb ich
es nicht unterlasse, dieselben hier (laut dem tC6.CT.ce.» pro 1867, 1 ,
pag. 134—135) wiederzugeben:
a) von Derwis und von Meck erklärten sich bereit, die Bau¬
arbeiten und Materialien-Lieferungen für die Orel-Kursk-Kijewer
Bahn gegen Zahlung von 51,885 Rbl. pro Werst (bei einer
Länge von 580 Werst) und Hinzuschlag der Kursverluste bei den
ausländischen Aufträgen zu übernehmen; dieses hätte, ohne Kapital"
zinsen für die Bauperiode, bei der eigentlichen Bahnlänge von 574,3
Werst, 56,010 Rbl. pro Werst ergeben. Das Baukapital für die
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Orel-Kursker Theilstrecke sollte von Seiten der Regierung beschafft
werden, das für die Kursk-Kijewer Linie wollten die Unternehmer
durch eine Emission von Obligationen aufbringen, unter Garantie
und ausschliesslicher Haftpflicht des Staates für die 5 pCt. Verzin¬
sung des Nominalwerthes. Der Hauptpunkt in der Offerte war
jedoch, dass den Unternehmern die volle und unbeschränkte Frei¬
heit bei der Wahl der für die Stationen und sonstige Bahnbauten
geeigneten Ortschaften eingeräumt werde, ohne dass sie erst die
Pläne dem Kommunikations-Ministerium vorzustellen hätten; die
Zahl, die Rechte und die Macht der Inspektoren sollten beschränkte
sein, das Ministerium sich des Einflusses begeben und die Unter¬
nehmer nach Beendigung des Baues aller Verantwortlichkeit für den¬
selben enthoben sein.
b) von Gubonin und Ssadowskij für den Bahnbau in Generalentre¬
prise mit Ausnahme der Schienen- und Fahrparkslieferung, auf
Grundlage der ministeriellen Pläne und bei strenger Aufsicht des
Staates, für den Gesammtpreis von 27,796 Rbl. pro Werst; mit
Hinzuschlag der Schienen- und Fahrparkskosten stellt sich der Preis
auf 48,763 Rbl. pro Werst, ungerechnet der Kapitalzinsen.
Indessen beauftragte die Regierung am 26. März 1865 den Baron
Ungern-Sternberg nunmehr den Bau der Linie von Balta nach Jeli-
sawetgrad und sodann von dort nach Krementschug in Angriff zu
nehmen, mit der Bedingung, dass der Werstpreis der ersteren Linie
nicht 45,000 Pap. Rbl. und der zweiten nicht 47,000 Pap. Rbl.
übersteigen solle. Von den eventuellen Ersparungen wurden dem
Entrepreneur 3 pCt. zugesprochen, der Rest sollte dem Staate zu
Gute kommen. Und in der Wirklichkeit haben sich die auf Baron
Ungern-Sternberg gerichteten Erwartungen glänzend gerechtfertigt,
denn nicht nur sind die beiden Linien vortheilhaft gebaut worden,
sondern es gelang ihm auch zu beweisen, dass man in Russland
Eisenbahnen selbst billiger, als in West-Europa, bauen könne. Die
beiden Bahnen kosteten im Ganzen 15,780,189 Rbl., was bei der
Ausdehnung von 375 Werst 42,080 Pap. Rbl. pro Werst repräsen-
tirt; hiervon entfallen speziell auf die Linie von Balta nach Jelisawet-
grad 9,624,061 Rbl. 90 Kop. = 39,339 Rbl. 69 Kop. pro Werst und
auf die Linie von Jelisawetgrad nach Krementschug 6,156,127 Rbl.
12 Kop. = 47,209 Rbl. 56 Kop. pro Werst. Die erstgenannte Linie
wurde in den Jahren 1867—1868 fertig gestellt, und zwar 109,2
Werst von Balta nach Olviopol am I. September 1867 und 135,4
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Werst von Olviopol nach Jelisawetgrad am 4. August 1868, die
zweite in ganzer Länge von 130,4 Werst am 8. Oktober 1869.
Die Wendung, welche der Anschlag und dann der Bau dieser
zwei Strecken in Russland hervorgerufen, ist nicht genug zu wür¬
digen. Es war dieses eine schlagende Dementirung der allseitigen
Ansicht, dass die Bahnen in Russland nicht billig gebaut werden
können; dass aber eine solche Anschauung allgemein war, bewiesen
wohl die oben zitirten zwei Offerten für die Orel-Kursker Bahn.
Am 11. Februar 1865 wurde die Leitung der Bauarbeiten zwischen
Moskau und Orel dem Ingenieur-Oberst W. S. Ssemitschew über¬
tragen. Die Lieferung der Schienen, defc Fahrparkes und der
Maschinenbestandtheile übernahm das Eisenbahn-Departement. Der
521 der Bauvorschrift lautete: «Wenn bei Durchführung der Arbei¬
ten der Werstkostenpreis der Bahn nach Abzug der Ausgaben für
Schienen und den Fahrpark durch die Bemühung der Bauunter¬
nehmer unter 45,000 Rbl. pro Werst ausfällt, so wird denselben von
dem Ersparnis 10 pCt. bewilligt.» Da nun die Schienen- und Fahr¬
parkskosten dieser Bahn 19,500 RbL pro Werst betrugen, so resul-
tirt, dass damals eine Gesammtausgabe von 64,500 Rbl. pro Werst
nicht als zu hoch angesehen wurde. Es zeigte sich indessen, dass
der Bahnbau ohne Schienen und Fahrpark 30,000 Rbl. pro Werst
und mit allem Zubehör 49,237 Pap. Rbl. pro Werst kostete.
Angesichts der starken Unvortheilhaftigkeit der ersteren und der
Unvollständigkeit der zweiten der beiden oben erwähnten Offer¬
ten für die Orel-Kursker Bahn, andererseits aber in Anbetracht
des Umstandes, dass der Bau der Moskau-Kursker Bahn Aller¬
höchst auf Rechnung des Staatsschatzes anbefohlen war und dass
auf Grund dessen bereits einige Bestellungen für die Orel-Kursker
Theilstrecke geschehen waren, ward am 8. Juli 1865 der Bau
der Orel-Kursker Bahn auf derselben Basis, wie die Moskau-
Orel-Linie (zu welcher die zweite zugefügt wurde) anbefohlen. Der
durchschnittliche Kostenpreis wurde ohne Schienen und Fahrpark
mit nicht höher, als 35,000 Rbl. pro Werst, festgesetzt. Am 2. De¬
zember 1865 erfolgte die Bestätigung der Bahnrichtung und im Mai
1866 begannen die Bauarbeiten.
Es ist eine unbestrittene Thatsache, dass die nunmehr 'Moskau -
Kursker» genannte Bahn bedeutend billiger, schneller und besser,
als der grösste Theil ihrer Vorgängerinnen, hergestellt wurde, jedoch
war die Arbeitsführung durch die ausserordentlich komplizirte Pro¬
zedur bei der Bestätigung der einzelnen Anschläge und durch die
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Bewerkstelligung der ausländischen Bestellungen ohne Theilnahme
der direkten Bauunternehmer recht erschwert. Die zur Bestätigung
eingereichten Baukontrakte wurden oft monatelang zurückgehalten
und nicht selten kam es vor, dass die Kontrakte den Unternehmern
zugestellt wurden, nachdem sich selbe Angesichts der veränderten
Sachlage von der Bewerbung zurückgezogen hatten. Man sah sich
dann genöthigt, neue Bauunternehmer zu suchen, wobei die normir-
ten Ausgaben oft um 20—40 pCt. gegen den Voranschlag über¬
schritten wurden. Doch konnten schon atn 17. November 1866
92 Werst von Moskau bis Sserpuchow, am 5. November 1867 89-
Werst von Sserpuchow nach Tula und am 15. August 1868 177,5
Werst von Tula nach Orel dem Verkehr übergeben werden; gleich¬
zeitig wurde am 7. September 1868 die 144 Werst lange Theil-
strecke von Orel nach Kursk als betriebsfähig erklärt.
Der Bau der Moskau-Kursker Bahn kostete, wie es sich später bei
der Uebergabe der Linie an eine Aktiengesellschaft erwies, dem
Staate 44,938,626 Rbl., incl. der Kapitalzinsen bis zum Jahre 1870
(wo die Unterhandlungen stattfanden) von 8,138,761 Rbl. und nach
Abzug der vom Staate in den Jahren 1867— 70 aus dem Betriebe
erzielten 4,605,113 Rbl. stellte sich der Kostenpreis der Bahn auf
48,472,274 Rbl. Hierzu wurden 1,621,029 Rbl. für zu leistende
Lieferungen und Arbeiten hinzugerechnet, so dass die Gesammt-
kosten 50,093,303 Pap. Rbl. = 40,074,642 Met. Rbl. betrugen. Die
Regierung erzielte beim Verkauf einen wesentlich höheren Kauf¬
preis.
Der Beginn der Arbeiten an der Moskau-Kursker Bahn fällt mit
dem Beginn des Baues der Rjasan- Koslower Bahn zusammen,
doch zeigen beide gänzlich verschiedene Bedingungen. Wäh¬
rend der Bau der ersteren für Rechnung des Staatsschatzes vorge¬
nommen wurde, erhielt die Konzession der letzteren der Staatsrath
P. G. von Derwis am 12. März 1865 mit der Verpflichtung, eine
Gesellschaft mit einem Aktienkapital von 4,890,625 Metall Rubel
= 782,500 Pfd. Sterl. zu bilden; gleichzeitig räumte die Regierung
der «Rjasan-Koslower Bahn» das Recht ein, 54,000 Obligationen für
einen Nominalbetrag von 10,074,627 Met.-Rbl. = 10,800,000 Thaler
zu emittiren und garantirte dem gesammten Kapital 5 pCt. Zinsen
und */t0 pCt. Amortisation pro anno für die 81 jährige Konzessions¬
dauer (bis 5. September 1947). Das Baukapital dieser 198,3 Werst
umfassenden Linie wurde demnach mit 14,965,252 Met.-Rbl., d. i.
75,965 Rbl. 45 Kop. pro Werst oder zum damaligen Kurse mit
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*73
91,158 Rbl. 50 Kop. pro Werst berechnet. Die 7825 Aktien k 100
Pfd. SterJ. und die 54,000 Obligationen ä 200 Thaler wurden sofort
in London zu 82 pCt. gezeichnet und sodann zum Bahnbau unter
der Leitung des Ingenieur-Obersten K. von Meck geschritten. Die
Gesellschaft hatte die Erleichterung, dass sie in Rjasan keinen eige¬
nen Bahnhof zu erbauen brauchte, indem sie sich mit der Moskau-
Rjasaner Bahn einigte, deren dortigen Bahnhof zu benutzen. Ueber-
haupt waren die Terrainverhältnisse äusserst günstig, da die von der
Bahn durchschnittenen Gegenden derart eben sind, dass beinahe auf
der ganzen Strecke die Schwellen ohne Vorarbeiten gelegt werden
konnten und nur mit Ballast zu überschütten waren; nur auf den
ersten 35 Werst von Rjasan mussten Erdarbeiten ausgeführt werden,
doch auch hier überstieg die Höhe der Dämme nicht 4 Fuss und
konnte demnach die im Frühjahre 1865 begonnene Bahnlinie noch
am 5. September 1866 dem allgemeinen Verkehr übergeben werden.
Die Rjasan-Koslower Eisenbahngesellschaft bildete in der Folge
das Muster beinahe aller russischen Bahnen; bis zu jener Zeit war
es üblich, das Gesellschaftskapital hauptsächlich durch eine Aktien-
Emission aufzubringen; von hier datirt dasUeberwiegen des Obliga-
tionen-Kapitals bei den russischen Eisenbahngesellschaften, wäh¬
rend die Aktien-Emission mehr in den Hintergrund trat. Durch das
Eröffnen dieser Bahn begann der Betrieb der benachbarten Moskau-
Rjasan-Linie glänzende Resultate abzuwerfen, wodurch den ausländi¬
schen Kapitalisten die wahre Ertragsfähigkeit der russischen Eisen¬
bahnen zum ersten Male bekannt wurde. Auf dieser Grundlage bil¬
det der Bau der Rjasan-Koslower Bahn eine Epoche in der Geschichte
des russischen Eisenbahnwerkes, denn hier ward es klar, welchen
hohen Ertrag der Staat garantire, um die Eisenbahnthätigkeit zu
fördern; hier ward den Konzessionären zum ersten Male das Recht
gegeben, das Obligationen-Kapital mehrmals das Stammkapital
übersteigen zu lassen; hier ward die Möglichkeit eines schnellen
Baues und einer leichten Kapitalien-Realisirung, hauptsächlich aber
hoher Gewinne für die Konzessionäre offenbar; hier beginnt auch
der Staat die Eisenbahnunternehmungen stärker zu unterstützen, da
die erfolgreiche Placirung der zweiten Prämienanleihe die Möglich¬
keit bot, den einzelnen Gesellschaften eine Hülfe nicht nur durch
Garantirung des Reinertrages, sondern auch durch den Ankauf eines
Theiles des zu emittirenden Kapitals zu erzeigen und hierdurch die
Ausführung der betreffenden Unternehmungen wesentlich zu er¬
leichtern. Die letzteren Maassnahmen bildeten einen bedeutenden
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*7 4
Fortschritt im Vergleiche mit den Bedingungen der Rjasan-Koslow-
Bahn und reduzirten in späterer Folge den Baukostenpreis der russi¬
schen Eisenbahnen auf ein Minimum.
Doch bevor der Staat diese Erleichterungen eintreten liess, lief
von Seiten der Kapitallistengruppe: J. G. Bloch, Ed. Frankenstein,
O Jablkowskij& Co., August Rengau& Co., M. Roden, K. Scheibler
und M. Mamroth ein Gesuch um Bewilligung der Vornahme von
Bauarbeiten und Bildung einer Aktiengesellschaft für eine Linie von
der Station Koljuschki der Warschau-Wiener Bahn zur bekannten
Fabriksstadt Lodz> beim Ministerium ein. Die Unternehmer be¬
schränkten ihre Forderungen auf eine staatliche Garantie von 5 pCt.
Zinsen, sowie ! /i* pCt. Amortisation pro anno, und als die Konzes¬
sion am 30. Juli 1875 für 75 Jahre, d. i. bis zum 19. Juni 1941 bestä¬
tigt wurde, emitirten sie 1,274,000 Met.-Rbl. in 12,740 Aktien ä 100
Rbl. zum Kurse von 92,5 pCt. und führten auf dieser Grundlage die
26 Werst lange Linie zum Preise von 49,000 Met.-Rbl. pro Werst
aus; die Bahn wurde am 20. Mai 1866 als betriebsfähig erklärt.
Nicht denselben Erfolg hatte die ungleich wichtigere Frage der
Orel-Witebsker Bahn, welche die süd- und centralrussischen Eisen¬
bahnen mit den nordwestlichen Linien in Verbindung bringen sollte.
An Konkurrenten fehlte es anfänglich nicht. Im November 1864
reichte der Ausländer Isidor Levi, im Januar 1865 E. Narischkin, im
Februar der Franzose Armand Bouquet, im März der englische Inge¬
nieur Hammond und im Juli 1865 der Engländer Sir Morton Pito Ge¬
suche um die Konzessionirung dieser Linie ein. Dieselbe wurde dem
Konsortium Pito auf Grundlage nachstehender Bedingungen am 17.
Dezember 1865 verliehen. Der Konzessionär verpflichtete sich bin¬
nen 6 Monaten eine Gesellschaft mit einem Kapital von 6,582,500
Pfd. Sterl. = 41,148,625 Met.-Rbl. zu bilden und deponirte als
Kaution hierfür 230,000 Pfd. Sterl. Der Staat bewilligte dagegen
dem Kapital eine 5 pCt. Zinsen- und */u pCt. Amortisationsga¬
rantie == 334,610 Pfd. Sterl. oder 2,091,315 Met.-Rbl. pro anno.
Am 17. Juni 1866 wurde der Konstituirungstermin auf weitere 3 Mo¬
nate verlängert, dann in Folge des Ansuchens des Brüsseler Bank¬
hauses Bischoflfsheim & Co., bis zum .1. Dezember 1866. Als auch
jetzt die Gesellschaft nicht zu Stande kommen konnte, wurde die
Konzession für erloschen erklärt.
Im März 1865 wandten sich die Unternehmer: Graf E. T. Bara-
now, Fürst A. Kotschubej, Graf G. A. Strogonow uud General-Major
K. J. Martschenko an das Kommunikations-Ministerium um die Kon-
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175
zessionirung einer Eisenbahnlinie von Orel über Kursk nach Tagati-
rog sammt Zweigbahn nach Rostow am Don in einer Gesammtlänge
von 900 Werst, wobei sie um eine Ueberlassung des Bahnbetriebes
für 99 Jahre bei einem Kostenpreise von 62,500 Met.-Rbl. pro Werst
nachsuchten. Recht sonderbar war die Forderung der Petenten, dass
der Staat 5 pCt. Zinsen und '/* pCt. Amortisation für das zum Bahn -
bau wirklich ausgegebene Kapital garantire und dass trotz des 99-jäh¬
rigen Betriebsrechtes die Tilgung des Kapitals in 50 Jahren erfol¬
gen solle.
Zuvörderst trennte das Ministerium von diesem Projekte die Theil-
strecke Orel-Kursk als einer bereits zum Bau auf Staatskosten anbe¬
fohlenen Linie ab, und beschränkte die neue Linie auf 727 Werst von
Kursk nach Taganrog; dann wurde den Unternehmern am 21. Okto¬
ber 1865 erklärt, dass der Staat eine Garantie nur für eine in Voraus
festgesetzte Summe bewilligen könne. Die Petenten forderten an¬
fänglich 122,000 Met.-Rbl. pro Werst, dann 100,000 Rbl., das Mini¬
sterium reduzirte die Summe auf 84,037 Met.-Rbl. pro Werst. Die
Konstituirung der Gesellschaft wurde 3 Mal vertagt: bis zum 5. Sep¬
tember 1866, bis zum 1. Januar 1867 und dann bis zum 31. Januar
1867; an diesem Tage erlosch die Vorkonzession.
Im Februar 1865 wandte sich der Bevollmächtigte der Estländi-
schen Edelleute von Kurssei an das Kommunikations-Ministerium zum
zweiten Male wegen Konzessionirung der Baltischen Bahn und
empfing am 25. Juli die ministerielle Versicherung, dass, «Falls er
binnen 3 Monaten die vorgeschriebene Kaution erlege und Beweise
beibringe, dass die nöthigen Baukapitalien zasammengebracht seien
das Ministerium sich bestreben werde, ihm die betreffende Konzes¬
sion zu verschaffen.» Im Dezember 1865 wurde das Dokument in
Folge des Nichteinhaltens der Bedingungen für nichtig erklärt.
Zur Vermeidung unnöthiger Geldverluste des Staates für zu hohe
Garantie-Verpflichtungen beim Konzessioniren noch nicht erforsch¬
ter und deshalb im Kostenpreise noch gänzlich unbekannter Bahn¬
linien an Privatunternehmer, liess das Kommunikations-Ministerium
in den Jahren 1864, 1865 und 1866 Vorstudien an den wichtigsten
zum Bau projektirten Linien vornehmen und die Kostenanschläge
hierfür zusammenstellen u. z. im Jahre 1864: t) von Kursk nach
Charkow 162 Werst, 2) von Kijew nach Krishopol 425 Werst; im
Jahre 1865: 3) von Orel nach Kursk in Fortsetzung der auf Staats¬
kosten gebauten Moskau-Oreler Bahn 144 Werst, 4) von Orel über
Smolensk nach Witebsk zur Verbindung mit der Witebsk-Rigaer
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Bahngruppe 493 Werst, 5) von Kijew über Tschernigow zur Ver¬
bindung mit der vorhergehenden Linie zwischen Brjansk und Ros-
lawl 427 Werst, 6 ) von Kursk nach Kijew 439 Werst, 7) von Kijew
nach Balta mit Zweiglinie zum Städtchen Woloczyska an der öster¬
reichischen Grenze und von Tiraspol über Bessarabien nach Nowo-
sielizy zur Verbindung mit der österr. Lemberg-Czernowitz Bahn
1256 Werst; in den Jahren 1865 und 1866: 8) von Riga nach Libau
212 Werst, 9) von Kursk über Charkow zum Asow’schen Meere,
über Taganrog, Rostow am Don, Marjupol und Berdjansk 1046
Werst, 10) von Jelez des Oreler Gouvernements zur Verbindung mit
der Moskau-Kursker Bahn 309 Werst, zusammen 4913 Werst. Alle
diese Arbeiten kosteten 237,874 Rbl. 24 Kop. pro Werst
Indessen versuchte die Regierung im Süden des Reiches einen
neuen Modus beim Bau der am 16. Juni 1865 anbefohlenen Poti-
Tiflis Bahn: lüer kamen die Lokalarbeiten durch Staatsingenieure, die
ausländischen Lieferungen durch eine englische Kompagnie zur Aus¬
führung . Das Resultat war wenig günstig; es mussten bedeutend
höhere Summen, als ursprünglich angenommen ward, angewiesen
werden, so dass es sich schliesslich als am geeignetesten herausstellte
die Vollendung der Bahn im Jahre 1867 einer Aktiengesellschaft zu"
übertragen.
Das ganze Jahr 1865 hindurch zog sich die noch im November
1864 durch den Direktor der österr. Lemberg-Czernowitzer Bahn an¬
geregte Frage betr. der Verbindung der Odessaer Eisenbahn mit
der erstgenannten Bahn. Die zahlreichen von Seiten des Unter¬
nehmers vorgestellten Projekte mussten stets wegen der exorbi¬
tanten Anforderungen zurückgewiesen werden, führten jedoch zu
eingehenden Voruntersuchungen seitens der Regierungsorgane, die
eine beschleunigte Ausführung der Balta-Kijew Linie sammt Zweig¬
bahnen nach Berditschew und zur österreichischen Grenze bei Wo¬
loczyska zur Folge hatten. Der Bahnbau wurde am 25. Mai 1866 einer
Gesellschaft übertragen, welche aus nachstehenden Unternehmern
bestand: Baron A. de Vri£re, Administrator der Brüsseler Banque
generale A. Lagrand-Dumonceau, Präsident der Banque generale,
die Eisenbahnkontrahenten P. Chaqun in Paris und A. B. Bruno in
Brüssel, ferner P. U. Quennard, Präsident mehrerer Eisenbahngesell¬
schaften in London. Die vereinbarte Gesammtzahlung betrug für
die ganze 622 Werst umfassende Linie 14,083,370 Rbl. 50 Kop. Met*
und 23,167,696 Rbl. 60 Kop. Pap., demnach per Werst 21,484 Rbl.
$0 Kop. Met. 4- 37,403 Rbl. 24 Kop. Pap. = ä 20 pCt 64,321 Pap.-
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177
Rbl. Es müssen hier die recht schwierigen Lokalverhältnisse in Be¬
tracht gezogen werden, indem die Linien zwei Wasserscheiden durch-
schneiden u. z. das Gebiet zwischen dem Bug und dem Dnjestr und
zwischen dem Dnjepr und dem Bug. Ein Beispiel der hügeligen
Gegend gibt die Station Shmerinka, die ioo Faden höher liegt als
die von Kijew; die Bahn senkt sich von dort langsam zum Flusse,
dessen Brücke nur um 34 Faden höher ist als die Kijewer Station»
wiederum steigt das Terrain auf dem die Wasserscheide zwischen
dem Bug und dem Dnjestr bildenden Gebiete; dort steigt es um 108
Faden über die Normalhöhe und sinkt dann wieder auf der 56. Werst
zur Odessa-Balta Bahn. Leicht begreiflich ist es nun, dass sich der
Bau bis zum Jahre 1870 hinziehen konnte. Ich bemerke hier noch»
dass die Richtung der Balta-Kijewer Bahn ursprünglich von Kijew
zum Dorfe Borschtschi bei Balta geplant war und in dieser Form
am 24. Februar 1866 bestätigt wurde. Die Richtung der Linie von
Shmerinka nach Woloczyska wurde am 27. April 1867 nur bis zum,
15 Werst von der österr. Grenze entfernten Orte Porachin, bestimmt,
da eine internationale Kommission die weiteren 15 Werst zu nor-
miren hatte.
Das erste Beispiel der Staatsvorschüsse, welches wir auf pag. 173
bei Besprechung der den Bahnbau in Russland begleitenden Finanz¬
maassregeln erwähnten, bildet die Kursk-Kijew er Bahn. Ursprünglich
beabsichtigte die Regierung dieselbe unter staatlicher Administra¬
tion zu bauen und die im Jahre 1865 zur Ausführung der Vorunter¬
suchungen abgesandten Staatsingenieure schätzten den Kostenpreis
der Bahn von Kursk nach Kijew auf 45,567 Rbl. pro Werst und mit
Hinzuschlag der Bauzinsen auf 50,118Pap. Rbl. pro Werst; ausserdem
sollte für die Herstellung einer Brücke über den Dnjepr 2,200,000
Rbl. ausgegeben werden, was sich bei 440 Werst der Gesammtaus-
dehnung der Bahn auf weitere 5000 Rbl. pro Werst oder zusammen
55,118 Rbl. pro Werst repartirt. Auf Grundlage dieser Schätzungen
reichte im März 1866 das Konsortium Gorbovv & Co. eine Offerte
betreffs der Uebernahme des Bahnbaues zu einem Gesammtpreise
von 28,100 Rbl. pro Werst ohne Schienen ein, was sich demnach
mit Hinzurechnung derselben auf ungefähr 48,000 Rbl. pro Werst
stellte. Eine neue Eingabe lief im September 1866 von Seiten der
Gesellschaft Pochitonow & Co. ein, welche sich bereit erklärte die
Bahn für 7,472,325 Met. Rbl. und i3,725,6ooPap.Rbl., also zusammen
für durchschnittlich 51,345 Pap.-Rbl. pro Werst herzustellen. Die
dritte Offerte war von dem Konsortium P. G. von Derwis (dem Er-
Knss. Rem». Bd IX. 12
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17 «
bauer der Rjansan-Koslower Bahn), Fürst C. A. Dolgoruki und K.
F. von Meck, welche wegen ihrer annehmbaren Form seitens des
Ministeriums eine rege Aufmerksamkeit zu Theil wurde. Die Unter¬
nehmer ersuchten um die Ueberlassung des Bahnbaues in Form
einer Konzession, welche in zwei Theile zerfalle: i) Entreprise für den
Bahnbau, Lieferung sämmtlicher Materialien und dann Uebergabe
der Linien an den Staat; 2) Betreffs Bildung einer Aktiengesellschaft,
welche den Bahnbetrieb nach Vollendung der Linie zu übernehmen
hätte. Die Gesellschaft forderte in dem Entreprisetheile 1,200,000
Pfd. Sterl. und 30,469,425 Pap.-Rbl., was laut dem damaligen Kurse
einer Summe von 29,889,439 Pap.-Rbl., also 67,464 Pap.-Rbl. pro
Werst entsprach. Die zum Bahnbau nöthigen Mittel sollte der
Staatsschatz nach Maassgabe der Ausführung der Bauarbeiten ver¬
schaffen, dagegen verpflichteten sich die Gründer nach Vollendung
der Bahn für eine Mill. Pfd. Sterl. Aktien und 3 Mill. Pfd. Sterl. Obli¬
gationen zu emittiren, wobei sie für sich einen Aktientheil von 375,000
Pfd. Sterl. zurückbehieltcn. Wiewohl diese Offerte auf den eisten
Blick bedeutend ungünstiger als die der anderen Konkurrenten
erscheint, konzessionirte die Regierung dennoch am 24. Dezember
1866 den Bahnbau an das Derwis’sche Konsortium, in Anbetracht»
dass bei dem ihr eingeräumten Rechte: die Obligationen ä 7 *,n pCt.
zu übernehmen, sich die Nettosummen beinahe auf die von Seiten
der beiden Anderen angegebenen Preise reduzire. Wiewohl sich der
bei der Kursk-Kijewer Bahn angewandte Modus wenig von dem
einer sofortigen Uebergabe des Bahnbaues an eine Aktiengesellschaft
unterschied, so brachte dieses dennoch den Vortheil für den Staat,
dass der Regierungskontrole die Möglichkeit geboten ward die Bau¬
tätigkeit genau zu beaufsichtigen. Mit Ausnahme des x /\ Theiles,
welchen die Gründer für sich behielten, übernahm der Staat sowohl
alle Aktien als auch die Obligationen; die letzteren traten in den Ver¬
band der Konsol-Obligationen-Emission vom Jahre 1871. Bei hin¬
reichenden Geldmitteln konnte auch der Bahnbau rasch vor sich ge¬
hen. Am 14. November 1868 wurden 165 Werst von Kursk bis
Waroshba, am 17. Dezember 250 Werst von Waroshba nach Bro-
wary dem Verkehr übergeben und bald darauf, am 28. August
1869 18 Werst von Browary bis zum Dnjepr; die Brücke über den
Dnjepr in einer Länge von 5 Werst ward dagegen erst am 14. Fe¬
bruar 1870 fertig gestellt.
Die zuletzt besprochenen Eisenbahnen gehören theilweise zu
dem am 23. April 1866 bestätigten Eisenbahnnetze, welches aus
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den nachstehenden als unumgänglich nothwendig anerkannten Linien
bestand:
1) von Moskau über Tula und Orel nach Kursk . .511 Werst.
2) von Kursk nach Kijew . . . . 438 «
3) von Kijew nach Balta sammt Zweiglinie zur öster¬
reichischen Grenze bei Woloczyska und nach Ber-
ditschew . .62 2 8 /* «
4) von Tiraspol nach Kischinjew. *65 *
5) von Balta nach Jelisawetgrad.245 «
6) von Jelisawetgrad über Krcmentschug und Poltawa
nach Charkow . . -.361 *
7) von Kursk über Charkow zum Asow’schen Meere . 727 «
8) von Rjashsk nach Morschansk.120 «
9) von Poti nach Tiflis. 284 «
Zus. 3373 s /* Werst.
A mio. Mai 1866 wurden bereits die Statuten einer Gesellschaft
bestätigt, welche den Ausbau der Linie von Rjashsk nach Morschansk
übernahm. Dem Baukapital von 7,115,500 Met. Rbl. = 374,500
Pfd. Sterl. in Aktien und 5,093,200 Thlr. in Obligationen garantirte
der Staat einen Reinertrag von 5 pCt. Zinsen und Vis pCt. Amorti¬
sation für die 85jährige Konzessionsdauer. Nach Ausgabe der
18275 Aktien ä 20 Pfd. Sterl. zum Kurse von 82 pCt. und der 25,466
Obligationen ä 200 Thlr. zum Kurse von 79,5 pCt. wurden die Bau¬
arbeiten in Angriff genommen und bei gänzlich fehlenden erschwe¬
renden Bedingnissen — es waren beispielsweise gar keine Erdarbei¬
ten nöthig und die Brückenbauten auch nur unwesentliche — konnte
die ganze Linie von 121,1 Werst schon am 2. Dezember 1867 für
betriebsfähig erklärt werden.
Beinahe gleichzeitig mit der Rjashsk-Morschaftsker Bahn wurde am
12. August 1866 die Konzession für eine Bahn von Koslow (dem End¬
punkte der Rjasan-Koslower Bahn) nach Woronesh in einer Länge von
169 Werst auf 81 Jahre vom Tage der Betriebseröffnung, und dieses
zum ersten Male einem Semstwo (Landschaft): der von Woronesh
ertheilt, mit der Verpflichtung eine Aktiengesellschaft zu bilden
und das Kapital in Aktien für 7,495,000 Pap. Rbl. und in Obliga¬
tionen für 4,562,400 Thaler = 4,220,220 Met. Rbl. zu emittiren, bei
einer staatlichen Garantie von 5 pCt. Zinsen und Vio pCt. Amorti¬
sation. Die 74,950 Aktien ä 100 Rbl. wurden zu 80 pCt. und die
22,812 Obligationen ä 200 Thaler zu 72 pCt. begebep, die Bahn
1a*
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selbst in einer Länge von 167,2 Werst am 1. Februar 1868 dem Ver¬
kehr übergeben.
Gleich nach Bestätigung der Koslow-Woronesh Linie trat die
Frage der Durchführung der Woronesh-Rostower Linie in den Vor¬
dergrund; man hatte hier die Nothwendigkeit der Verbindung
zweier bereits bestehenden Linien: der Woronesh-Rostow und Gru-
shewka-Aksaiskaja Bahnen mit einer Fortsetzung der Letzteren
nach Rostow, im Auge. Die Hauptbedingung der Durchführung
dieser Bahn war, dass sie von Woronesh nach Rostow gehe und sich
hierbei auf eine möglichst kurze Entfernung dem Donezer Stein¬
kohlenbassin nähere. Durch eine Verbindung der Grushewkaer
Bahn mit den anderen Eisenbahnlinien und durch die Fortsetzung
derselben nach Rostow sollte sich der Export des südöstlichen
Steppenlandes Russlands bedeutend günstiger gestalten und hier¬
durch einen Aufschwung der Industrie des Woronesher Gouverne¬
ments und des Landes der Donischen Kosaken herbeiführen. Um
jedoch die Schwierigkeiten, welchen inzwischen die bereits konzes-
sionirten Eisenbahnen bei der Realisirung ihrer Kapitalien im Aus¬
lande begegnen konnten, nicht noch zu vermehren, wurde am
21. März 1867 beschlossen, die Frage des Ausbaues der Linie
Woronesh-Grushewka, laut dem Rapporte des Ministerkomites,
zu vertagen.
Demnach umfasste das russische Eisenbahnnetz am I. Januar 1867
19 eröffnete Eisenbahnlinien in einer Gesammtlänge von 4,332 Werst,
7 im Bau befindlichein einerLängevon 1694,5 Werst,3bereits konzes-
sionirte doch noch nicht im Angriff genommene Bahnen in einerLänge
von 940 Werst, zusammen 6966,6 Werst; ausserdem waren 3 Bahnen
in einerLänge von 1713,3 Werst projektirt, deren Tracirungsarbeiten
bereits bewerkstelligt waren.
Von den eröffneten Bahnen waren 14 3640 Werst repräsentirend
im Inneren des Reiches, 4 in einer Länge von 492 Werst in den
polnischen Gouvernements und eine IOO Werst lange Bahn in
Finland; hiervon waren 5 dem Staate gehörig u. z. 604 Werst der
Nikolaibahn (St. Petersburg-Moskau, 92 Werst von Moskau nach Sser-
puchow der Moskau-Kursker Bahn, 66 Werst der Grushewka-Doner
Bahn, 206,7 Werst der Balta-Odessaer Bahn, 100 Werst der finländi-
schen Helsingfors-Tawasthusser Bahn, zusammen io67,7Werst; eine
Bahn, die 325 Werst lange Warschau-Wiener, war einer Aktiengesell¬
schaft in Pacht gegeben. Nachstehende 14 Privatbahnen genossen
eine staatliche Garantie: St. Petersburg-Warschau sammt Zweig-
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bahn zur preussischen Grenze 1206 Werst, Moskau-Nishnij-Now¬
gorod 410 Werst, Moskau-Rjasan 196,4 Werst, Rjasan-Koslow
197 Werst, Riga-Dünaburg 204 Werst, Dünaburg-Witebsk 243
Werst, Wolga-Don 73 Werst, die Krassnoje-Sselo Strecke der Peter¬
hofer Bahn (garantirter Bruttoertrag) 12,5 Werst, Warschau-Brom¬
berg 131 Werst, Lodz-Koljuschkin 26 Werst, Theilstrecke der
Warschau-Terespoler Bahn von Praga nach Lukow 110 Werst, zu¬
sammen 2,808,9 Werst. Schliesslich 3 staatlich nicht garantirte
Privatbahnen: Zarskoje-Sselo 25 Werst, Peterhof 38,4 ;Werst,
Moskau-Ssergiejewsk 66 Werst. Ein doppeltes Geleise hatte die
ganze Nikolaibahn 604 Werst, der Zweig zum Hafen der Balta-
Odessaer Bahn 9 Werst, die St. Petersburg-Warschauer Bahn von
St. Petersburg nach Gatschino 57,5 Werst, die ganze Riga-Düna-
burger Bahn 204 Werst, die Peterhofer Bahn mit Ausnahme des
Krasnoje-Sselo Zweiges 38,4 Werst, zusammen 912,9 Werst. Von
den eröffneten Bahnen verzeichneten 3725 Werst eine Spurweite
von 5 Fuss = 0,714 Faden, 25 Werst (die Zarskoje-Sselo Bahn) eine
von 6 Fuss = 0,857 Faden un< ^ 482 Werst (die Warschau-Wiener
Bromberger und Lodzer Bahnen) eine solche von 4 4 8" — 0,667
Faden.
Im Bau befindlich war für Rechnung und auf Anordnung des
Staates: eine Bahn, die Moskau-Kursker (exclusive Moskau-Ser-
puchow) 410 Werst; 3 staatliche an Private und Gesellschaften zum
Ausbau übergebene Bahnen: Kijevv-Balta sammt Zweigbahnen von
Kasatin nach Berditschew und von Shmerinka nach Woloczyska
622 Werst, Balta-Jelisawetgrad 244,5 Werst, dieRasdelnaja-Tiraspoler
Strecke der Balta-Odessaer Bahn 43 Werst, zusammen 909,5 Werst;
3 Aktienbahnen: Rjashk-Morschansk 120 Werst, Koslow-Woronesh
169 Werst, Warschau-Terespoler Theilstrecke von Lukow nach
Terespol 86 Werst, zusammen 375 Werst; alle diese Linien sind
eingeleisig, haben eine Spurweite von 5 Fuss = 0,714 Faden und
umfassen zusammen 1694,5 Werst.
Die 3 konzessionirten doch am 1. Januar 1867 noch nicht begonnenen
Bahnen sind: Orel-Witebsk 493 Werst, Kursk-Kijew 440 Werst
und Alexandrowa-Ciechocinek Strecke der Warschau-Bromberger
Bahn 7 Werst, zusammen 940 Werst.
Die 3 projektirten und bereits tracirten Bahnen waren nachste¬
hende: von Rybinsk nach Bologoje zur Nikolaibahn 275 Werst,
von Kursk über Charkow nach Taganrog und Rostow am Don 759
Werst, von Perm nach Tjumen 679,3 Werst zusammen 1,713,3 Werst.
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1$2
Laut dem «C6. ct. cb.» pro 1867 betrug das Grundkapital aller
eröffneten Eisenbahnen am I. Januar 1867: 176,324,877 Met. Rbl.
und 28,600,000 Pap. Rbl. Die Staatsbahnen kosteten 94,562,632 Rbl.
Das Stammkapital der im Bau befindlichen und konzessionirten
Bahnen betrug 59,430,245 Met. Rbl. und 77,811,657 Pap. Rbl.;
der Kostenpreis sämmtlicher Eisenbahnen belief sich demnach auf
235,755,122 Met. Rbl. und 200,974,289 Pap. Rbl., d. i. zum dama¬
ligen Kurse auf London von 32 5 /si pCt. = 19 pCt. Kursverlust,
zusammen 481,522,884 Pap. Rbl. Der durchschnittliche Kostenpreis
war am 1. Januar 1867 bei den eröffneten Bahnen 71,921 Rbl.
30 Kop., bei den im Bau befindlichen und konzessionirten 59,711 Rbl.
93 Kop. Met. d. i. im Gesammt-Durchschnitte 67,579 Rbl. 20 Kop.
Met. = 74,510 Rbl. 31 Kop. Papier.
(Fortsetzung folgt )
Kleine Mittheilungen.
Den Stand der Viehzucht im Gouvernement Ssamara
in den Jahren 1851—1874
unterwirft Hr. Kermel im «Archiv für Veterinärkunde» einer ein¬
gehenden Untersuchung, welcher wir folgende statistische Daten
entnehmen. Es befanden sich:
Auf eine Schafe
T , Einwohner- Pferde Rindvieh gewöhn- fein- Schweine Ziegen
re zahl von liehe wollige
1851 1,294,080 619,708 624,166 1,462,094 85,367 192.31442,516
1856 1,424,659 706,574 437,943 1,675,880112,011 158,62734,550
1861 1,566,117 816,577 465.332 1,499,388132,653 235,84439,879
1866 1,634,107 698,437 470,889 1,386,236128,794 157,30149,177
1871 1,805,371811,639501,543 1,665,318 62,959 249,797 37,628
1873 1,948,594 701,578 445.894 1,074,408 47,861 174,637 30,563
1874 1,988,134 752,674 472.186 1,128,199 57,044 141,29136,011
Auf je 10 Einwohner würden mithin kommen:
Im
Jahre
Schafe
Pferde
Rindvieh
gewöhn¬
fein¬
Schweine
Ziegen
liche
wollige
1851
4,7
4,8
11,2
0,6
1,4
0,3
1856
4,9
3,07
n ,7
0,7
1,1
0,2
1861
5,2
2,9
9,5
0,8
*»5
0,2
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*83
Im
Jahre
Pferde
Rindvieh
Schafe
gewöhn- fein- Schweine Ziegen
liehe wollige
18 66
4.2
2,8
8,4 0.7 0.9
0,2
1871
4.4
2,7
9.2 0,3 1,3
0,2
fehlen d. A
1872
4.3
3.3
9,8 fehlen d. Ang. 0,9
1873
3.6
2,2
5.5 0,2 0,8
0,1
1874
3.7
2,3
5.6 0,2 0,7
0,1
Nach den Kreisen gerechnet vertheilten sich im Jahre 1874 die
verschiedenen Hausthiere folgendermaassen:
p. , Schafe
Kreis mwo ner pf er( j e Rindvieh gewöhn- fein- Schweine Ziegen
zam liehe wollige
Ssamara . . 261,591 79,528 43,908 160,048 2,421 16,080 558
Stawropol . 221,436 82,933 64,055 175,263 10,800 3,678 1,636
Busuluk . . 364,599 142,684 63,754 128,122 29,601 11,067 2,298
Bugurusslan 294,666 97,574 49.413 202,445 13,950 25,817 3,945
Bugulma. . 222,328 61,023 43,862125,378 — 16,83017,432
Nikolajewsk 367,215 126,870 72,889 164,960 — 24,612 2,071
Nowij-Usen 256,299 162,062 134,305 171,983 272 43,207 8,071
Nach dem Flächeninhalt vertheilt, befanden sich im Jahre 1874 auf
eine DMeile gerechnet:
Anzahl Schafe
In der Stadt der Pferde Rindvieh gewöhn- fein- Schw. Zieg.
P~[Meil. liehe wollige
Ssamara m. d. Kreise 242 328,6 181,02 661,3 10,00466,4 2,3
Stawropol m. d. Kr. 206 402,5 310,9 850,7 52,4 17,8 7,9
Busuluk » * * 403 354,05 158,1 324,2 73,4 27,4 5,7
Bugurusslan * * * 329 296,4 150,1 615,3 42,4 78,4 11,9
Bugulma » * » 214 285,1 204,9 585,8 — 78,6 81,4
Nikolajewsk* * * 623 203,6 116,9 264,7 — 39,5 3>3
Nowij-Usen * * » 868 186,7 154,7 198,1 0,3 49,7 9,2
Im Ganzen im Gouv. 2,885 226,2 163,6 391,05 19,7 48,9 12,4
Wenn man die Hausthiere nach den verschiedenen Völkerstämmen*
welche das Gouv. Ssamara bewohnen, vertheilt, so ergibt sich, dass
Pferde und Rindvieh vorherrschend von den Baschkiren und Wotja-
ken gezüchtet werden und dass die Schafzucht am stärksten bei den
Mordwinen, Wotjaken und Kleinrussen vertreten ist. Mit der
Schweinezucht, welche im Ganzen nicht sehr entwickelt ist, be¬
schäftigen sich die hier angesiedelten deutschen Kolonisten und
Kleinrussen. Die Tataren und Baschkiren, als Muhamedaner, halten
keine Schweine, statt diesen züchten sie Ziegen.
Nach den Angaben des Hrn. Kermel hat die Viehzucht in den
letzten 24 Jahren im Gouvernement Ssamara abgenommen, und zwar
ist die Anzahl der Pferde um 1 pCt. gefallen, die des Rindvieh’s um
2,5 pCt., der gewöhnlichen Schafe um 5,6 pCt., der feinwolligen um
0,4 pCt., der Schweine um 0,7 pCt., der Ziegen um 0,2 pCt. Diese
Verminderung schreibt der Verfasser einzig den leider hier so oft
herrschenden Viehseuchen zy.
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Die Goldgewinnung auf den Privat-Wäschereien in Ostsibirien
im Jahre 1875 betrug im Vergleich zu 1874:
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Literatorbericht.
Asien, seine Zukunftsbahnen und seine Kohlenschätze. Eine geographische Studie
von Ferdinand v. Hochstetter , Präsident der K. K. Geogr. Gesellschaft in Wien.
Mit i Karte. Wien 1876. 8°. 188 S.
Vor einiger Zeit behandelte Referent in dieser Zeitschrift (II. Bd.
pag. 33 ü). «Die Kaukasischen Eisenbahnen und der UeberlancU
weg nach Indien* — ein Thema, welches man seit nunmehr 8 Jahren
in Tiflis in Betracht zu nehmen begann. Von dem damals ange¬
deuteten Grundsätze ausgehend, dass der mächtige asiatische Kon¬
tinent gar vieler Eisenbahnen bedürfe, um einige Gliederung in
seine ungeschlachte Masse zu erhalten, können wir nicht anders als
mit grosser Genugthuung dem bedeutenden Geologen, der Neu¬
seeland und jüngsthin auch Sibirien zum Gegenstände seiner Studien
gemacht, auf einem Felde zu begegnen, auf welchem die Interessen
Russlands mit denen sämmtlicher Kontinentalmächte Europas we¬
sentlich dieselben sind. Ganz Ost-Asien, China eingeschlossen, dem
westlichen Europa zugänglich zu machen und durch Eisenbahnen
mit ihm in genauesten Kontakt zu bringen, ist eine Aufgabe, welche
gewiss der Aufmerksamkeit europäischer Staats- und Finanzmänner
werth und höchstens durch die neuesten politischen Verwicke¬
lungen zeitweilig in den Hintergrund gerückt sein dürfte. Herr
v. Hochstetter behandelt «die grossen internationalen Transitlinien ,
welche dazu bestimmt sind, Europa nicht nur mit Klein-Asien und
Persien oder mit Sibirien, sondern selbst mit dem ferneren und
fernsten Osten Asiens, mit Indien und China in Verbindung zu
setzen — jene Linien erster Ordnung also, welche sich als die Haupt¬
arterien des Völkerverkehrs der Zukunft auf der östlichen Hemi¬
sphäre darstellen* — hauptsächlich vom geographischen Gesichts¬
punkte, ohne auf die technische, kommerzielle und finanzielle Seite
der beregten Projekte näher einzugehen. Deutschland, meint der
Präsident einer der ersten geographischen Gesellschaften Europa’s
mit einem im Orient bewanderten und centralasiatischen Eisen¬
bahnstudien obliegenden Oesterreicher, Hr. Amand Freiherr von
Schweiger-Lerchenfeld, — Deutschland sehe sich heute in die
absolut zwingende Nothwendigkeit versetzt, gleich den Engländern
und Russen Geographie zu lernen — um eine klare Vorstellung von
den gewaltigen, und überraschend schnell an die Tagesordnung ge¬
brachten, internationalen Verkehrswegen zu erlangen.
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An die sibirisch-chinesische Bahn des Obersten Bogdanowitsch
mit der Variante des Hrn. Meyssel (Die europäisch-asiatische Eisen¬
bahnlinie Rotterdam-Tientsin. Berlin 1871), an die chinesische
Linie des Hrn. von Richthofen aus Semipalatinsk nach Hankau und
Schangha und endlich an das Tifliser Projekt einer kaukasisch-indi¬
schen Bahnlinie, knüpft Hr. v. Hochstetter den Vorschlag einer russi¬
schen Ringbahn von Moskau über Kasan, Katharinenburg, Omsk,
Semipalatinsk, Wernoje, Turkestan, Balch, Mesched, Teheran,
Tabris, Tiflis nebst der Strecke Wladikawkas-Moskau. Schon ferner
liegen ihm die, von dem Hrn. Baranowski und Lesseps vorgeschla¬
genen, inner-asiatischen Projekte.
Die Kohlenfelder China’s sind auf die beigegebene Karte von
Europa und Asien nach den Forschungen des Dr. Freiherrn v.Richt-
hofen, jene Indiens nach den Angaben des Hrn. Forbes Watson
in London, die Kohlenvorkomnisse im asiatischen Russland nach
den Mittheilungen des Prof. Barbot-de-Marny in St. Petersburg und
jene Persiens nach den jüngsten Forschungen des Hrn. Dr. E. Tietze
in Wien, aufgetragen worden.
N. VON Seidlitz.
Revue Russischer Zeitschriften.
«Das Wissen» (Snanie — 3 HaHie). 1876. März. Inhalt:
Das Leben in anderen Welten. Von 1 ?. A. Proktor . — Materialien zur Beobachtung
des gesellschaftlich ökonomischen Lebens in russischen Städten. Von N. y. Sichert, —
Die Ehe zwischen Blutsverwandten. Nach A. Iluth und y. Darzoin , — Auf dem Kon¬
gress zu Nantes und in der Bretagne. Schluss. Von IV. N. Mainow, — Die gegen¬
wärtige Biologie und Ernst Haeckel. Von IV. D. Wolfsohn . — Kritik und Biblio¬
graphie. — Verschiedene Nachrichten. — Bibliographischer Anzeiger. — Bekannt¬
machungen. — Beilage.
-April. Inhalt:
Materialien zur Beobachtung des gesellschaftlich-ökonomischen Lebens in russischen
Städten. Schluss. Von N . y. Sichert . — Der Islam im XIX. Jahrhundert. V. Die Re¬
formen. Von G. Vdmb£ry. — Die Mineralwässer des Kaukasus. Von Dr. A. Grigorjezo.
— Die vergleichende Psychologie des Menschen. Von G. Spencer . — Kritik und
Bibliographie. — Verschiedene Nachrichten, — Bibliographischer Anzeiger. — Beilage.
— — Mai. Inhalt:
Leonardo da Vinci als Gelehrter. Schluss. Von /. L — i. — Ueber die Grenzen der
Tonwahrnehmung. Von Prof. Prcyer. — Die ewige Bewegung. Nach S. Roberts. —
Die Kolonisation Russlands, der Norden Skandinaviens und die ältesten Zustände ihrer
Kolonisation. Schluss. — Die gegenwärtige Biologie und E. Haeckel. Schluss. Von
W. D t Wolfsohn . — Kritik und Bibliographie. — Verschiedene Nachrichten. —
Bibliographischer Anzeiger, — Beilage.
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186
•Journal für Civil- und Kriminalrecht# (Journal grashdanskawo i
ugolovvnawo Prawa —>KypHajib rpaHcaaHCKaßo h yrojioßHaro npaßa).
VL Jahrgang. 1875. Mai—-Juni. Inhalt:
Gesetze und Verordnungen der Regierung. — Das Erbrecht der Frauen in Russland.
Von J. Orschanskij, — Die Begrenzung des Civil- und Kriminalgerichts nach der be¬
stehenden Gesetzgebung und der Kassalionspraxis. Von K. Postowskij. — Projekt
eines Reglements der Handelsgerichtsordnung und des Handelsgerichtsverfahrens.
Von A, Pestrschetzkij. — Die Kassationspraxis nach den Fragen des Civilgerichts-
verfahrens im Jahre 1872. Von P. Mullow. — Juridische Chronik. — Bibliographie.
«Russisches Archiv# (Russkij Archiv — PyccKiü Apxnßb) heraus¬
gegeben von Peter Bartenjew XIV. Jahrgang. 1876. Heft 7. Inhalt:
Historische Nachrichten über die Beziehungen Russlands zu Montenegro. Auszüge
aus den Papieren des Fürsten Potemkin. Von G . /V. Alexandroav. — Zur Biographie
des Grafen A. G. Orlow-Tschesmenskij und Briefe während der Morea-Expedition.
Auszüge aus den Papieren des Vice-Kanzlers Fürsten Golitzin. Von A. IV. Ratschinskij.
— Die Franzosen in Moskau im Jahre 1812. Kap. VI. Von A. N . Popow. — Das
zwölfte Jahr. Erzählungen aus der Gegenwart, Briefe, Anekdoten, Gedichte etc. —
Tagebuch des polnischen Bischofs Butkewitsch. — Andrei Nikolajewitsch Murawjew. —
Ein Brief Belinskij’s an seinen Freund I. I. Ch.Die Verpflegung der Geisteskranken
unter der Kaiserin Katharina II.
Russische Bibliographie.
Antepowitsch, A. D. Bericht über die Thätigkeit der süd-westlichen
Abtheilung der Russischen Geographischen Gesellschaft in Kijew
für 1875. Kijew. 8°. 46 S. (AirrenoBimb, A. A. OT^erb o A'haTejib-
hocth K>ro3ana£Haro oTyrfejia pyccxaro reorpa<x>HHecKaro oömecTBa
3 a 1875 r. Kießb.)
Kilhn, A- Abriss des Chanats Chokand. St. Petersburg. 8°. 12 S.
(KyHb, A. O^epKb KoicaHCKaro xaHCTßa. Cn6.)
Olesnttzkij, A. Das heilige Land. Bericht über die Expedition nach
Palästina und den angrenzenden Gegenden. I. Band. Kijew 1875. 8°.
556 S. mit einem Plan. (OjieCHMUitiR, ÄKMMb. CßBTaH 3eMJia. OTqeTb
no KOMaHAnpoBK'h Bb IlaJiecTHHy h npHJieraiomia Kb wefl CTpaHbi.
Kießb 1875.)
Archiv des Fürsten Woronzow. Neuntes Buch. Moskau. 8°. 208 S.
(ApxHBb khb3£ Bopomioßa. Kimra 9-ä. Mockbö.)
Wesselowskij, G M. und Woskresenskij, N. W. Die Städte des Woro-
nesh'scher Gouvernements, ihre Geschichte und ihr gegenwärtiger
Bestand; mit einer kurzen Beschreibung des ganzen Woronesh'scher
Gouvernements. Woronesh. 8°. II -f- XVI 4- 130 S. (BeceJiOBCKiM,
T. M. h BocKpeceHCKiH, H. B. Topo^a BopoHeaccieofi rybepHin, nxb
HCTOpin h coßpeMeHHoe cocTORHie Cb KpaTKnMb onepxoMb Bcett
BopoHexecxofi ryöepHin. BopoHexcb.)
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129
Kostomarow, N. Die russische Geschichte in Biographien ihrer her¬
vorragendsten Persönlichkeiten. II. Abtheilung. Die Regentschaft
des Hauses Romanow bis zur Thronbesteigung der Kaiserin Katha¬
rina II. 6. Lieferung. Das achtzehnte Jahrhundert. St. Petersb. 8°.
537 — 885 S. (KocTON&pOBi), H. PyccKaa ncTopia bt> xcH3HeonHca-
hlhxt> ea rjiaBH'höuiHX'b A'feaTejieft. Otx II. TocnoACTBo AOMa Po-
naHOBbixi> äo BCTyiuieHix Ha npecTo;n> ExaTepuHbi II. Bun. VI.
XVIII. CTOJi'feTie. Cn6.)
Ausführliche historisch-archäologische Beschreibung der Stadt
Moskau. Beilage zum ersten Bande: 1) Das Wappen der Stadt Mos¬
kau. 2) Der Plan Moskau’s voA J. Mitschurin aus dem Jahre 1739.
3) Der Plan Moskau’s der gegenwärtigen Zeit. 4) 5 Blatt Ansichten
von Moskau im XVIII. Jahrhundert und 5) 8 Blatt Ansichten von
Moskau im Jahre 1865. (MocKBa. üoApoöHoe HCTopaqecKoe h
apxeojiorHHecKoe onacaHie ropoaa. IIpnjio>KeHiB kt> I. t.: i) Tepöi»
ropo^a MocKBbi. 2) IIjiaHT, Mockbbi, H. MnqypHHa 1739 r. 3) rLiafn»
Mockbm HacToamaro BpeMeHH. 4) ühtb Taöjimvb naHopaMbi Mock-
bu XVIII. B'hica h 5) BoceMb Taöjinivb naHopaMbi Mockbu 1865 roaa.)
Russische historische Bibliothek. Herausgegeben von der arcliäo-
graphischen Kommission. Band III. St. Petersb. 4 0 . VIII 4- 1502 S.
(PyccKax HCTopHHecicaÄ 6n6jiioTeKa, HSAaBaeMaa apxeorpa<t>H-
HecKoio KOMMHCcieio. T. HI. Cn6.)
Sammlung historischer Materialien des Archives der ersten Ab¬
theilung der Höchsteigenen Kanzlei Seiner Majestät des Kaisers. 8°.
XXXVI 4.466 4- XIII S. mit einer Tabelle Zeichnungen. (CöopHHKi*.
HCTopimecKHXi> MaTepiajiOBT*, H3Bjie4eHHbixT> H 3 T, apxnna nepBaro
OTÄ'h^ieHiH. C. E. H. B. KaHU.)
Wladimirskij-Budanow, M. Chrestomathie der Geschichte des russi¬
schen Rechts. 9. Lfg. 2. vermehrte Ausgabe. Kijew. 8°. II 4- 228 S.
(BiiaAMiipCKiil-ByAaHOBi, M. XpucTOMaTia no ncTopin pyccicaro npaßa.
Bbin. I. H3 A- 2 -e, Aon. KieBT*.)
Martinow, N. und Wiktorowskij, I. Erste Beilage zum militärgericht¬
lichen Reglement. Warschau. 8°. 40 S. (MapTfalHOBb, H. h BüKTOpOB-
CKiH, M. IlepBoe npHAoxceme kb bochho* cyAeÖHOMy ycTaßy. Bapui.)
Martinow, N. und Anissimow, A. Erste Beilage zum Militär-Strafgesetz¬
buche. Warschau. 8°. II 4- 31 S. (MapTfaiHOBi, H. h Ahmcmiobi», A.
IlepBoe npHJioMceHie kt* BOHHCKOMy ycTaßy o HaKa3aHiaxT>. Bapui.)
Nekljudow, N. A. Handbuch des speziellen Theiles des russischen
Kriminalrechts. II. Theil: Das Vergehen gegen das Eigenthum.
St. Petersb. 4 0 . XII 4- 747 -f- 49. (HeKJIlOAOBl, H. A. PyKOBOACBo kt»
ocoöeHHOft nacTH pyccicaro yrojioßHaro npaßa. T. II. üpecTyiuie-
Hia h npocTynKH npoTHBT* coöctbchhocth. Cn6.)
Pestrschetzkij, A. A. Ueber die Advokatur bei den Römern, in
Frankreich und in Deutschland. Moskau. 8°. 125 S. ((leCTpiKetlitifl,
A. A. 06t, aABOKaTyp'h y phmjibht», bo OpaHi^in h TepMaHm. MocKBa.)
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Carl Röttger.
AoaBOJieHo ueHsypoio. C.-rieTepßyprb, 5-ro Aarycra 1876 roaa.
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Zur Geschichte der didaktischen Literatur in Russ¬
land im achtzehnten Jahrhundert.
(Schluss.)
III1.
Das «Testament» Tatischtsehew’s.
Wassilij Nikititsch Tatischtschew war einer der tüchtigsten Beamten
in Russland in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Er
stammte aus der Schule Peter’s des Grossen. Mit diesem hat er die
Vielseitigkeit der Interessen, die Rührigkeit und Arbeitskraft gemein.
Wie dieser, ist er sehr häufig auf Reisen, in den verschiedensten
Wissensgebieten bewandert, anregend, fördernd, schaffend, zum
Theil ganz Russe, zum Theil den Einflüssen der westlichen Kultur
ausgesetzt, wie dieser ist er von einem Gefühl der Verantwortlichkeit
beseelt, unaufhörlich thätig, Andern zur Thätigkeit anspornend,
mit vielen in Konflikt gerathend, hier und da wie ein Autodidakt
dilettantisch, aber stets voll Strebsamkeit und Eifer. Er ist der erste
russische Geschichtschreiber geworden und dass ein solcher Mann,
welcher das praktische Leben so wohl kannte, als Diplomat und
im Bergwesen, im Finanzfach und bei der Verwaltung des, an
halbwilden Stämmen so reichen, Südostens Russlands thätig ge¬
wesen war, der bald in Sibirien, bald im Auslande, namentlich in
Stockholm, bald in der Hauptstadt, bald in der Steppe beobachtet,
wirkt, schafft, — dass ein solcher Mann gleichzeitig als einer der
frühesten Gelehrten unter den Russen auftritt, — ist eben dieser
wissenschaftlichen Thätigkeit zu Gute gekommen.
Zuerst nahm Tatischtschew an einigen Feldzügen Peters des
Grossen Theil, an dem nordischen Kriege und an der Expedition
an den Pruth. Hierauf befand er sich einige Jahre im Auslande, in
Berlin, Breslau, Dresden, wo er Studien machte und viele Bücher
kaufte. Sodann nahm er Theil an dem Friedenskongress auf den
Alandsinseln. Zu Peter’s Zeit; musste Jedermann Alles können.
Tatischtschew wurde beauftragt eine Geographie Russlands zu ver-
* S. «Russ. Revue* Bd. VIII, pag. 267 ff.
Rum. Bavn«. Bd. IX 13
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igo
fassen; er war als Landmesser thätig; er wurde Bergingenieur und
als solcher wirkte er in den Uralgegenden. Wie Peter bis an sein
Ende lernte, studirte, so hat auch Tatischtschew in dieser Zeit
Sprachstudien getrieben. Er nahm zwei Studenten in seinen Dienst,
um sich durch ihre Hülfe im Lateinischen, Französischen, Schwedi¬
schen und Deutschen zu vervollkommnen. In den Jahren 1724—26
befand er sich in Schweden, um das Münz- und Bergwesen kennen
zu lernen, Techniker für russische Dienste zu gewinnen, einige junge
Russen im Artillerie- und Seewesen unterrichten zu lassen, daneben
auch, wie seine Instruktion lautete, «um die politischen Zustände
Schwedens, die Handlungen und verborgenen Absichten der schwe¬
dischen Regierung auszukundschaften*. Später weilte er eine Zeitlang
in Dänemark; hierauf nahm er bei Gelegenheit der Thronbestei¬
gung der Kaiserin Anna Antheil an der Abfassung staatsrechtlicher
Entwürfe, welche den Sturz der in den ersten Wochen der Regie¬
rung Anna’s herrschenden Oligarchie zum Zwecke hatte, wirkte für
den Staatsstreich, welcher die absolute Monarchie wieder herstellte
und fungirte bei der hierauf folgenden Krönung Anna’s als Ober¬
zeremonienmeister. Als die Gründung einer polytechnischen Aka¬
demie in Aussicht genommen wurde, gedachte man Tatischtschew
die Leitung der Abtheilung der Mechanik zu übertragen. Doch
trat die Anstalt nicht ins Leben und Tatischtschew ward Ober¬
richter im Münzkomptoir und hierauf, da in Folge eines Konflikts
mit Biron, seine Entfernung aus der Hauptstadt wünschenswerth
erschien, mit dem Aufträge betraut, in Sibirien für die Entwicke¬
lung des Bergwesens zu wirken. Hier war denn seine Thätigkeit
eine ganz besonders fruchtbare. Im Jahre 1739 wurde Tatischtschew
aus Sibirien abberufen und zum Chef der sogenannten «Orenbur-
gischen Expedition» ernannt. In dem Streben den Rebellionen der
Baschkiren und Kalmüken ein Ende zu machen*, suchte er Strenge
mit Milde zu vereinigen. An Konflikten mit Dienstgenossen fehlte
es ihm nicht. Oft wurde er bei der Regierung verläumdet; wieder¬
holt wurde sogar ein Gerichtsverfahren gegen ihn eingeleitet. So
war denn in der letzten Zeit der Regierung der Kaiserin Anna seine
Stellung erschüttert und erst nach dem Sturze Birons nahm Tatischt¬
schew im Südosten Russlands bei der sogenannten «Kalmücken-
Kommission» und als Gouverneur von Astrachan eine Stellung ein.
Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er auf seinem Gute
Boldino in der Nähe von Moskau, indem er sich verschiedenen
wissenschaftlichen Arbeiten widmete. Er starb 1750 im Alter von
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65 Jahren. Seine zahlreichen Schriften, die Geschichte Russlands,
rechtshistorische Abhandlungen, ein Wörterbuch und sein an den
Sohn gerichtetes «Testament* erschienen erst in der Zeit der Re¬
gierung Katharina’s im Drucke Ä .
Für uns hat dieses «Testament* bei dem Zwecke unserer gegen¬
wärtigen Abhandlung das grösste Interesse. Es war im Jahre 1739
verfasst worden, ward aber erst im Jahre 1773 von Sergij Dru-
kowzow herausgegeben. Derselbe hatte die Handschrift unter den
Papieren seines Vaters gefunden 2 .
Auf dem Titelblatte ist fälschlich das Jahr 1733 als die Zeit der
Abfassung des Schriftchens angegeben. Da Tatischtschew im
Jahre 1750 65 Jahre alt starb, und pag. 8 der Broschüre erwähnt ist,
dass Tatischtschew nun, da er schreibe, sein 54. Jahr zurückgelegt
habe, so muss die Abfassung des «Testaments* im Jahr 1739 statt¬
gefunden haben, zu einer Zeit als in der Beamtenthätigkeit Ta-
tischtschew’s in Folge der Ungnade Biron’s eine Pause einge¬
treten war.
Bei den vielen Verfolgungen, denen Tatischtschew ausgesetzt
gewesen war, hat man u. A. auch den Vorwurf der Ketzerei
gegen ihn erhoben. Er galt für einen Freigeist. Es gehörte frei¬
lich damals nicht viel dazu sich solch einem Gerede auszusetzen.
Sowohl aus den Schriften Tatischtschew’s, insbesondere aus der
für den Sohn bestimmten, so wie aus mehreren Zügen des
Lebens Tatischtschew’s, namentlich aus seinem Benehmen am
späten Lebensabend, als er seinen Tod herannahen fühlte, wissen
wir, dass Tatischtschew den Satzungen seiner Kirche treu blieb, am
Glauben festhielt.
Betrachten wir zuerst diese Seite seiner an den Sohn gerichteten
Ermahnungen. Das Schriftchen beginnt mit religiösen Betrach¬
tungen. In der Jugend heisst es da, denke der Mensch wenig an die
Angelegenheiten der Kirche und des Glaubens, wie auch manche
Aussprüche Salomo’s, Davide, Hiob’s und des Apostels Paulus be¬
stätigen. Im Alter dagegen, wenn der Mensch im Kampfe mit
dem Leben ermatte, da suche er sein Heil zu erlangen, den Willen
Gottes zu erkennen, und ein solches Alter trete dann frühzeitig ein,
wenn man mit allerlei Widerwärtigkeiten, mit Krankheit, Anfein-
4 Vergl. d. Biographie Tatischtschew's von Nil Popow. Moskau. 1861.
* «Ayxoimax TaJtaaro coB’fcTiraia h AcTpaxatfCicaro rydepnaTopa Bacmiia Hmurni'ia
TaTameBa, coHaHeimaa bt» 1733 r. Cuny ero Earpa<*»y BacmibeBHHy». 57 Seiten.
13 *
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192
düngen u. s. w. zu kämpfen habe. In der Jugend sei der Geist dem
Fleische unterthan. Im Alter werde der Geist freier. Das Unglück
erzieht den Menschen zum Glauben, das Glück mache ihn vergessen,
dass er nach dem Seelenheil zu ringen habe. Man solle aber nicht
zu spät seine Sünden bereuen; auch nütze es nichts in dem Ver-
mächtniss Schenkungen an Kirchen oder religiöse Zeremonien anzu¬
ordnen. Solche gute Werke seien sogar schädlich, wenn man nicht
im Geiste gebessert sei.
Nun kommt Tatischtschew auf sich selbst zu reden. Mit 54 Jahren
sei er schon krank und schwach und gebrochen durch alle Verfol¬
gungen, denen er ausgesetzt gewesen sei, er sei ein reuiger Sünder—
folgen viele Bibelstellen über Gottes Gebot die Liebe betreffend —
und er wolle nun seinem Sohne einige gute Lehren als ein Ver-
mächtniss hinterlassen (pag. 1—n).
Die Hauptsache sei der Glaube: der Vater habe mit dem Sohne
wiederholt darüber geredet und ihm mündlich Ermahnungen ertheilt.
Tag und Nacht müsse man nach der Erkenntniss des Willens Gottes
trachten, fleissig in der Bibel und im Katechismus lesen, so wie die
Schriften der Kirchenväter, des Chrysostomus, Basilius des Grossen,
Gregor’s von Nazianz, Athanasius des Grossen u. s. w. Auch andere
Schriften empfiehlt der Vater seinem Sohne, z. B. den «Jugend¬
spiegel». Obwohl nun derselbe im Grunde wenig Erbauliches ent¬
hält, so müssen wir doch vermuthen, dass jene von uns bereits be¬
trachtete Schrift gemeint gewesen sein müsse.
Merkwürdig ist folgender Rathschlag: wenn der Sohn hinreichend
mit den Satzungen der orientalischen Kirche vertraut sei, so solle er
doch auch lutherische, calvinistische und papistische Bücher stu-
diren, da man doch fortwährend mit den Vertretern dieser Konfes¬
sionen zusammenkomme, mit ihnen oft Unterredungen über den
Glauben habe und es nützlich sei, ihre Lehren genau zu kennen,
um nicht von denselben berückt zu werden. Am meisten habe man
sich vor den Papisten zu hüten, weil sie in manchen Dingen den
Lehren der orientalischen Kirche nahe kämen, aber in anderen
wiederum so weit sich von denselben entfernten, dass man sie kaum
noch für Christen halten könne. Hierauf folgen Ermahnungen, der
Sohn solle stets an dem Glauben seiner Väter fest halten; ohne seine
Ehre zu verletzen könne niemand zu einer anderen Konfession über¬
treten ; auch solle der Sohn nie mit seinen Glaubensgenossen über
kirchliche Fragen, streiten, weil man dadurch leicht ungünstige
Meinungen über sich hervorrufe, wie er, der Vater selbst, dies erfahren
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habe. Weil er gelegentlich sich über derartige Dinge geäussert
habe, sei er für einen Ketzer, ja sogar für einen Gottesläugner ge¬
halten worden.
Noch an einer anderen Stelle am Schlüsse des Schriftchens
pag. 48 ff. kommt Tatischtschew auf die Kirche zu sprechen, indem
er dem Sohne empfiehlt, wenn er sich in den Ruhestand zurückge¬
zogen habe und auf dem Gute lebe, für die Kirchen in den Dörfern
Sorge zu tragen, die Heiligenbilder — besser ohne Silber, da dieses
doch nur ein Lockmittel für die Diebe sei — in Stand zu halten, bei
der Wahl des Dorfgeistlichen auf Tüchtigkeit zu sehen, denselben
reichlich mit Geldmitteln zu versorgen, mit ihm in Verkehr zu
stehen. Der gute Einfluss eines tüchtigen Dorfgeistlichen für die
Bauern, sei sehr hoch anzuschlagen, weil dann die letzteren nicht
so leicht mit allerlei Dieben und Räubern Verbindungen anküpften,
dagegen in der Erfüllung ihrer religiösen Pflichten pünktlicher
seien.
Auch Possoschkow hatte in verschiedenen seiner Schriften gründ¬
liche Reformen in der materiellen Stellung der Dorfgeistlichen her¬
beizuführen beantragt, damit sie an den bäuerlichen Arbeiten nicht
Theil zu nehmen brauchten. Ebenso befürwortet Tatischtschew
eine reichliche Besoldung der Priester, «damit sie nicht nach Dünger
riechen». Die Schilderung des Verhaltens untüchtiger, dem Trunk
ergebener Geistlichen (pag. 50) gestattet uns einen Einblick in die
Mängel des Dorfgeistlichenstandes in jener Zeit.
Wir sehen, dass diese die Religion betreffenden Ermahnungen
Tatischtschew’s sich wesentlich von denjenigen in Possoschkow’s
«Testament* unterscheiden. Die innere Religiosität ist eine freiere,
nicht vorwiegend dogmatische; von dem Reiche und Einflüsse des
Teufels ist gar^keine Rede. Es ist nichts Mönchisches, Finsteres in
diesen Anschauungen des europäisch-gebildeten russischen Aristo¬
kraten. Der Gesichtskreis des «Domostroi» erscheint als über¬
wundener Standpunkt. In Betreff des Verhaltens in kirchlichen
Dingen werden Klugheitsregeln gegeben; das Disputiren wird als
unvorsichtig verboten; die Rathschläge in Betreff der Dörfgeist-
lichen werden durch Zweckmässigkeitsgründe unterstützt. So er¬
scheint der Standpunkt Tatischtschew’s als ein vorgeschrittener,
moderner. Er ist gleich weit davon entfernt die abgedroschenen
Gemeinplätze zu wiederholen, welche sich im «Jugendspiegel*
finden, wie die oskelischen, mittelalterlichen Ideen vorzutragen, von
denen Possoschkow’s Schrift wimmelt Es ist mehr Tiefe und
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m
Gesundheit in diesen Betrachtungen Tatischtschew's als in den vor¬
hergehenden.
Die geistige Ausbildung, welche Possoschkow seinem Sohne
empfohlen hatte, war eine fast ausschliesslich theologische. Namentlich
sollten seiner Ansicht nach die Sprachen, deren Studium angerathen
wird, ein Mittel sein den Sohn Possoschkow’s in die geistliche Lite¬
ratur einzuführen. Der in Holland studirende junge Russe soll,
dem Rathe seines Vaters zufolge besonders angewandte Mathe¬
matik treiben, um gelegentlich seinem Vaterlande Ingenieurdienste
leisten zu können. Der «Jugendspiegel * entwirft gar keinen Lehr¬
plan, sondern spricht nur in Gemeinplätzen von der Nützlichkeit der
Kenntnisse. Die Uebung in fremden Sprachen soll dieser Schrift
zufolge den Vornehmen von dem Pöbel unterscheiden, den Ari¬
stokraten in den Stand setzen in Gegenwart der Dienstboten über
Gegenstände, welche eine gewisse Diskretion erfordern, sich zu
unterhalten.
Der Standpunkt Tatischtschew’s in Bezug auf diesen Gegenstand
ist ein unvergleichlich höherer. Er schreibt pag. 16 ff: «Es ist drin¬
gend erforderlich, dass Du in allen weltlichen Wissenschaften Dich
unterrichtest, insbesondere im Schreiben und Redigiren, in der
Arithmetik, Geometrie, Artillerie und Fortifikation, so wie in den
anderen Theilen der Mathematik; die Kenntniss der deutschen
Sprache ist durchaus erforderlich, wenn Du die Zustände unseres
Landes genau kennen lernen willst; die russische Geschichte wirst
Du, wenn auch noch nicht vollständig geordnet, in meinen Papieren
vorfinden; da gibt es auch allerlei Anmerkungen und Ergänzungen
zu derselben aus ausländischen Werken auf besonderen Papieren
ausgezogen; wenn Du Lust hast, magst Du dieses Alles ordnen und
zu dem eigenen, sowie zu dem Nutzen des Vaterlandes verwenden;
ferner ist es für jeden russischen Edelmann unerlässlich die russi¬
sche Geographie zu kennen; ein solches Werk hat allerdings noch
Niemand geschrieben; ich habe viel auf diesem Gebiete gearbeitet,
kann aber nicht hoffen mein Werk zu einem Abschlüsse bringen zu
können: denn ohne Unterstützung desKaisers ist dieses nicht möglich;
übrigens wirst Du aus meinen Zusammenstellungen den Nutzen der
Geögraphie genügend erkennen. Durchaus nothwendig ist es sodann
die Civil- und Militärgesetze seines Vaterlandes zu kennen; zu dem
Zwecke musst Du nicht nur alle das Heerwesen zur See und zu
Lande betreffenden Reglements, sondern auch die einzelnen hierauf
bezüglichen Verordnungen bereits in der Jugend eifrig studiren,
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um sogleich, wenn du angestellst wirst, den Sinn und Inhalt dieser
Gesetze genau zu kennen; es ist zu empfehlen, dass Du Dich mit
kundigen Leuten über diese Gegenstände unterhaltest, die Inter¬
pretation der Gesetze und zu welchen Ränken und Verdrehungen
dieselben gebraucht werden können, erkennen lernst, nicht um die
letzteren selbst zu üben, sondern um sich vor denselben zu hüten
u. s. w.».
Wir sehen: Tatischtschew ist vielseitiger als seine Vorgänger.
Da giebt es Mathematik, Sprachen, Humaniora, Jurisprudenz. Er
hatte den Nutzen der Sprachkenntnisse u. A. für die Erforschung
der russischen Zustände selbst erfahren, als er z. B. in Schweden
Strahlenberg’s bedeutendes Werk: «Der nord- und östliche Theil
von Asien und Europa* kennen und schätzen gelernt hatte. Einen
Grundriss der Geographie hatte er bereits um die Zeit des Friedens¬
kongresses auf den Alandsinseln auszuarbeiten begonnen. Das
Entwerfen von Landkarten hatte er mit den Arbeiten einer genauen
Landvermessung zu verbinden gesucht. Die Volksbildung und
deren praktischen Nutzen wusste er zu schätzen, indem er den
Bauern in den Uralgegenden vorstellte, sie sollten ihre Kinder doch
wenigstens im Lesen unterrichten lassen, «damit sie von den Schrei¬
bern nicht so arg hinter's Licht geführt werden möchten*. Für
grosse wissenschaftliche Entdeckungen hat er in der Zeit als die
St Petersburger Akademie der Wissenschaften die an Resultaten
so reichen Expeditionen nach Sibirien auszusenden begann, ein
ungewöhnlich reges Interesse gezeigt, hier und da Gutachten über
derartige wissenschaftliche Unternehmungen ausgearbeitet und in
mündlichen Unterredungen mit den reisenden Naturforschern, welche
den vielseitigen, erfahrenen Mann aufzusuchen pflegten, fruchtbar
anregend gewirkt. In seiner Russischen Geschichte endlich hat er
ein Werk hinterlassen, dem die historische Forschung, obgleich
sie gegenwärtig mit unvergleichlich reicherem Material operirt, auch
heute noch um so mehr Belehrung verdankt, als manche Quellen¬
schriften und Aktenstücke, welche Tatischtschew benutzte, seit¬
dem unwiderbringlich verloren gegangen sind. So steht denn Ta-
tischtschew’s Lehrplan, so kurz und aphoristisch er ist, hoch über
den entsprechenden Andeutuhgen in den obenerwähnten Schriften.
Nicht umsonst war er, einer der begabtesten Schüler Peter’s in
Europa’s Schule gegangen. Er stand in Bezug auf wissenschaft¬
liche Bestrebungen auf der Höhe seines Jahrhunderts.
Wie manche Zeitgenossen Possoschkow’s eben durch die Berüh-
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fung mit dem Westen in Bezug auf Religionsunterricht und allge¬
mein wissenschaftliche Lehrpläne einen unvergleichlich weiteren
Gesichtskreis erlangen, sieht man u. A. auch an dem bekannten
Erzbischof von Nowgorod, Feofan Prokopowitsch, so wie an dem
berühmten Staatsmanne, Grafen Ostermann. Beide entwarfen für
den Grossfürsten Peter Alexejewitsch, welcher im Jahre 1727 den
Thron bestieg, Studienpläne. Im dem «Vorschlag wie der Grossfürst
in der christlichen Religion unterrichtet werden soll», welches den
Feofan zum Verfasser hatte, findet sich keine Spur der Possoschkow-
schen Ansichten auf diesem Gebiete. Da wird das Dasein Gottes
bewiesen, das Wesen der «falschen Religionen» beleuchtet, die
christliche Lehre beurtheilt, die Göttlichkeit der heiligen Schrift
dargethan u. s. w. Alles in durchaus moderner, relativ freisinniger
Weise, ohne dass der Pharisäismus als etwas Nachahmungswürdiges,
ohne dass dem Lernenden die Hölle mit allen ihren Schrecken
gezeigt würde. In dem Aufsatze: «Einrichtung der Studien Ihro
Kayserlichen Majestät Petri des Andern, wie solche von dem Reichs-
Vice-Kanzlef und Grafen von Ostermann als des Kaysers Ober-Hofe-
meistern angeordnet werden» — sind durchaus moderne pädagogi¬
sche Grundsätze ausgesprochen. In verschiedenen Kapiteln «vom
Studiren überhaupt», «von der neuen Staatsgeschichte», «von deren
allgemeinen Regeln der Staatsklugheit», «von der Kriegskunst», «von
der alten Historie», «von der Arithmethik, Geometrie und Trigono¬
metrie», «von der Kosmographie oder Weltbeschreibung*, «von
den physikalischen Wissenschaften», «von der bürgerlichen Bau¬
kunst», «von den galanten und wohlanständigen Wissenschaften»,
«von Einrichtung der Tage und Stunden» wird eine breit angelegte
Encyklopädie entworfen, wie sie für einen jungen Fürsten sich eig¬
nete. Es handelt sich um eine zweckmässige Vertheilung des Lehr¬
stoffs in vier Semester, um einen vielseitigen, nicht allzusehr ins
Einzelne eingehenden Unterricht in den Wissenschaften, auf welche
man damals im Westen Gewicht legte. Da wird auf den Nutzen
hingewiesen, den «Petrus primus aus Erlernung der sogenannten
lebendigen Sprachen gezogen», auf den Vorzug, den das Deutsche
und Französische habe, auf das Lateinische, dessen Kenntniss sich
«alle deutschen Kaiser des österreichischen Hauses angelegen sein
lassen», da wird der Vorschlag gemacht für alle die obenerwähnten
Disciplinen von der Akademie der Wissenschaften Lehrbücher aus¬
arbeiten zu lassen, da wird empfohlen den Unterricht so aneulegen,
dass allezeit einige Erlustigung mit untergeschoben werde», — da
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wird dem Kaiser der Rath ertheilt, «e^; werde Sr. Majestät zu so
grossem Nutzen als Vergnügen gereichen, wenn dieselbe in denen
zwei letzten halben Jahren und so fernerhin allergnädigst belieben,
die memoires grosser Ministers und Generalen, auch die Lebens¬
beschreibungen berühmter Könige ein Paar Stunden des Tages sich
vorlesen zu lassen» K
Genug, diese Erzieher des Kaisers Peters II. standen durchaus
auf westeuropäischem Boden und hatten mit der Welt des «Do-
mostroi» gar nichts gemein. Sie brauchten die europäischen päda¬
gogischen Grundsätze nicht mechanisch zu kopiren, die Anschauun¬
gen der abendländischen Kultur waren ihnen in Fleisch und Blut
übergegangen.
Dass ein solcher Assimilationsprozess, wie derselbe sich in Feofan,
Ostermann oder Tatischtschew darstellt, nicht immer so glücklich
verläuft, dass bei der Einführung westeuropäischer Schuleinrich¬
tungen in Russland auch in ungeschickter Weise verfahren wurde
lehrt das Beispiel der von dem Pastor Glück in den ersten Jahren
des achtzehnten Jahrhunderts in der Nähe von Moskau errichteten
Lehranstalt. Dieselbe war für Kinder verschiedener Stände be¬
stimmt (ajih pa 3 H 04 HHi;eBT>). Unter den Lehrgegenständen findet
sich dem Programme zufolge: die Ethik, die Politik, die Rhetorik
die cartesianische Philosophie, das Tanzen und die französischen
und deutschen «Höflichkeiten» (yHTHTbCTBa), das «ritterliche« Reiten
und das Dressiren von Pferden. Unter den von Glück selbst ins
Russische übersetzten Lehrbüchern findet sich — was hätte Pos-
soschkow dazu gesagt, wenn er davon erfahren hätte? — der luthe¬
rische Katechismus! 2
Si duo faciunt idem non est idem. Tatischtschew kam es auf
den Kern, nicht auf die Schale, der in West-Europa herrschenden
Geistesbildung, an. Jede seiner Reisen im Auslande benutzte er, um
Bücher zu kaufen. Bis auf den heutigen Tag befindet sich in Jeka¬
terinburg (Gouv. Perm) eine Sammlung der von Tatischtschew ge¬
schenkten, auf dessen Reise nach Berlin, Breslau, Dresden gekauften
Bücher mathematischen, historischen, geographischen, kriegswissen¬
schaftlichen Inhalts. Auch während seines Aufenhaltes auf den
Alandsinseln kaufte er allerlei Bücher. Dem Zaren Peter gab er,
1 Weber, das veränderte Russland. 2. Aufl. Frjtf. und Lpzg. 1744. III pag. 186—210.
* Die Schule trat 1703 ins Leben. 1705 starb Glück. Das fernere Schicksal der
Lehranstalt ist unbekannt, s. IleKapcKiö : Hayica h JiirrepaTypa npn rieTpi Be^uKOMi»
Bd. I. pag. 127—131.
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als derselbe seinen persischen Feldzug unternahm, eine «Chronik
von Murom* zur Lektüre mit. In Schweden hatte er eine Menge
Bücher, Instrumente, Zeichnungen gekauft. In dem «Testament*
an den Sohn schrieb er S. 13: «Du wirst allerdings sehr viele
Bücher von mir erben; suche indessen deren noch viel mehr zu
sammeln, sowohl geistliche als weltliche. Sie werden Dir als
nicht genug zu schätzendes Kleinod in Deinem Leben nützlich
sein*.
Tatischtschew war nicht glücklich verheirathet gewesen und hatte
sich von seiner Frau trennen müssen. Nähere Umstände dieses
Verhältnisses sind uns nicht bekannt S. 17 finden sich einige Er-
mahnungen: der Sohn solle Vater und Mutter ehren. Dieser Satz
wird wiederum mit zahlreichen Bibelstellen unterstützt. Das Ver¬
hältnis zur Mutter wird kurz berührt: der Umstand, dass der Vater
sich von der Mutter habe trennen müssen, befreie den Sohn keines¬
wegs von seinen Pflichten gegen die Mutter.
Von sonstigen Familienverhältnissen erfahren wir aus S. 11,
dass Tatischtschew eine Tochter hatte, welcher ihr Erbtheil bei
ihrer Verheirathung vollständig mitgegeben worden war, so dass der
Sohn der alleinige Erbe des Restes blieb.
In Betreff der Ehe gibt Tatischtschew seinem Sohne folgende
Rathschläge. Man solle nicht zu früh heirathen: es sei zweck¬
mässiger zuerst, mit etwa achtzehn Jahren, in den Staatsdienst zu
treten und erst mit etwa dreissigJahren zu heirathen; ein solcher Auf¬
schub sei nothwendig, weil sonst die jungen Ehegatten, in Folge der
staatsdienstlichen Pflichten des Mannes, gleich in den ersten Jahren
der Ehe getrennt werden können und dadurch die eheliche Liebe
oft völlig zerstört werde. Auch hindere, meint Tatischtschew eine
zu frühe Ehe die Studien, ja selbst der Gesundheit sei sie nach¬
theilig. In Betreff der Wahl der Frau warnt Tatischtschew seinen
Sohn ohne den Rath erfahrener Freunde oder Verwandten sich zu
entscheiden, weil oft eine maasslose Liebe die Urtheilskraft lähme;
doch soll man sich wohl vorsehen, dass solche vermeintliche
Rathgeber nicht zwischen Braut und Bräutigam allerlei Ränke
stiften, loben, wo man tadeln muss, klatschen und verläumden, wo
keine Schuld ist. Schönheit, Gestalt und gesellige Talente, fahrt
Tatischtschew fort, seien oft trügerisch, wie der schönste, roth-
backige Apfel auch wohl wurmstichig zu sein pflegt. Eine ältere
Frau dürfe man nicht heirathen, weil man hinterdrein leicht zu einer
jüngeren Neigung fassen könne, und damit werde alles Glück unter-
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199
graben; sei die Frau zehn Jahre jünger als der Mann, so seijdaS
am zweckmässigsten. Auf Reichthum solle man, fährt Tatischt-
schew fort, nicht sehen; der Sohn erhalte ein Erbe, welches ihm
genügen müsse. Dagegen sei auf die Verwandschaft der Frau zu
achten; gute Verwandte seien besser, als eine reiche Mitgift. Auch
wenn die Verwandten der Frau niederen Standes seien, entständen
dem Ehemann hieraus allerlei Ungelegenheiten l . Ueber die Pflichten,
der Frau gegenüber, spricht Tatischtschew in Gemeinplätzen. Er
warnt vor Eifersucht, bemerkt, die Frau sei nicht die Sklavin,
sondern die Gefährtin und Gehülfin des Mannes: mit ihr gemeinsam
habe man die Erziehung der Kinder zu leiten und ebenso das ganze
Hauswesen. Sehr eindringlich warnt Tatischtschew seinen Sohn
vor dem Pantoffelheldenthum, welches «in letzter Zeit, so viel Bei¬
spiele aufweise*; gerade die dümmsten, die läppischsten Frauen
verständen es, Gewalt über den Mann zu erlangen, sie schwatzten
oft wie Papageien oder wie Fieberkranke und stürzten ihren Mann
ins Unglück. Ferner räth der Vater, bei den Hochzeitsfeierlich¬
keiten Einfachheit an: der Sohn solle nicht «aus sich ein Bild
machen, gleich denjenigen, wo die Mönche den Kater begrabend
dargestellt sind*. Zum Schlüsse warnt er den Sohn vor Ohren¬
bläsern und Heuchlern, welche «schellende Glöckchen für Geld,
Andere und sich selbst verrathen und verkaufen*, und das Glück
der Ehe untergraben.
Ein so erfahrener Militär, Beamter und Hofmann wie Tatischtschew
musste in seinen an den Sohn gerichteten Ermahnungen den Staats¬
dienst und die denselben betreffenden Pflichten mit besonderer
Ausführlichkeit behandeln. Seine vieljährige und vielseitige Praxis
musste ihn in den Stand setzen gerade auf diesem Gebiete dem
Sohne besonders nützliche Rathschläge ertheilen zu können. Auch
nehmen die hierauf bezüglichen Abschnitte reichlich die Hälfte des
ganzen Schriftchens ein.
Diese Betrachtungen eröffnet Tatischtschew mit einem den
Mann und die Verhältnisse charakterisirenden Grundsätze: «man
solle im Staatsdienst nie eine Pflicht ablehnen, aber auch nie aus
freien Stücken eine nicht ausdrücklich übertragene Pflicht über¬
nehmen», Dieser von einigem Kleinmuth zeugende Grundsatz
war traditionell in der Familie: der Vater Tatischtschew's hatte dem
1 Hier gibt sich ein lebhaftes Standesbewusstsein kund: oacTaphBmaa no&ftoCTb
*b cepAUarb hxt, oäp'feraen» caoc »fuiuine».
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Sohne im Jahre 1704 denselben auf den Weg zum Staatsdienste mit¬
gegeben: ein Menschenalter später wurde er der folgenden Gene¬
ration vorgepredigt. Unbedingter Gehorsam des Beamten, Ver¬
zichtleistung auf alle und jede Initiative schon um die aus der letz¬
teren erwachsende Verantwortlichkeit zu vermeiden — das ist
der Grundzug des Beamtenthums jener Zeit. Jeder Beamte war
durch Herkommen und Praxis daran gewöhnt ganz ausschliesslich
nach sehr weitläufigen und gründlich von der Centralregierung aus¬
gearbeiteten Instruktionen zu handeln. Alles selbständige Handeln
war damit ausgeschlossen. Schöpferische Ideen, Eingebungen, wie
der augenblicklichen Lage gemäss gehandelt werden müsse, konnten
und sollten die Beamten nicht haben. Möglichst mechanisch dem
vorgeschriebenen Programm folgend, konnte der Beamte die auf
ihm unter allen Umständen lastende Verantwortlichkeit sehr be-
träglich verringern. Wer sich zu einem Amte drängte, wer eine
neue Pflicht freiwillig übernahm, musste tüchtiger, strebsamer, ge¬
wissenhafter sein als der automatische Beamte, welcher als ein Rädchen
im Mechanismus in bescheidenem Kreise seine Arbeit that, ohne
das Ganze ins Auge zu fassen, ohne ein Interesse zu haben für die,
ausserhalb der ihm obliegenden Pflichten vorkommenden Geschäfte.
Diese kleinliche Aengstlichkeit, dieses Nichterkennen der grossen
Aufgaben eines idealer gefassten Staatsdienstes ist eine Folge der
unzähligen Gefahren, welche die Büreaukratie jener Zeit dem Ein¬
zelnen bot. Das unmoralische Verhalten der Beamten unterein¬
ander, wie wir dasselbe u. A. aus der Biographie Tatischtschew’s,
aus den Memoiren Schachowskoi’s und anderer Würdenträger
kennen lernen, macht einen widerwärtigen Eindruck. Anfein¬
dungen, Verläumdungen, Angebereien, Hass und Verfolgung
waren an der Tagesordnung. Allerlei verdriessliche Konflikte mit
den Kollegen, unliebsame Auftritte in den Sitzungen der Behörden,
Ränke und Chikanen — sind der rothe Faden in der Beamtenlauf¬
bahn jener Zeit. Gerade die strebsamen und gewissenhafteren Be¬
amten wurden am gehässigsten angeschwärzt und verfolgt, konnten
leicht Opfer von Denunciationen, in den Sturz Mächtigerer ver¬
wickelt werden, nach Sibirien wandern oder mindestens sich die
Ungnade des Herrschers zuziehen.
So erzählt denn auch Tatischtschew, indem er dem Sohne eine
unbedingte Ergebenheit gegen die Regierung einschärft, wie er von
allerlei Widerwärtigkeiten heimgesucht worden sei so oft er nach
irgend einer Stelle getrachtet habe: da sei man von Neidern und
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Intriganten umringt; da sei er bei Peter dem Grossen ganz un¬
verdient verläumdet worden und habe nur mit Mühe eine Re¬
habilitation durchgesetzt, so dass seine Verläumder beschämt
waren.
Der Sohn, fährt Tatischtschew fort, solle keiner Ränke achten,
treu bleiben, für das Gemeindewohl thätig sein und die Ehre des
Fürsten bis zum letzten Blutstropfen schützen. Und nun folgt ein
politisches Glaubensbekenntniss, wobei der Verfasser auf die Ereig¬
nisse des Jahres 1730, an denen er als Parteigänger der absoluten
Monarchie gegen die Oligarchie lebhaften Antheil genommen hatte,
anspielt. «Niemals», bemerkt Tatischtschew, «darfst Du Dich mit
denjenigen einverstanden erklären, welche die Freiheiten anderer
Staaten rühmen und die monarchische Gewalt zu verringern trachten
dies kann dem Staate äussersten Schaden bringen, wie aus manchen
Beispielen der Geschichte unseres Staates klar zu ersehen ist, und
zwar noch vor wenigen Jahren aus dem Beginnen einiger Unbeson¬
nener u. s. w.» (S. 28). Es folgen dann Lehren über die bei Staats¬
geschäften unerlässliche Diskretion, so dass wenn Jemand einen
Beamten gesprächsweise auszuforschen suche, man sogleich die
Unterhaltung auf ein ganz anderes Gebiet hinüberleiten müsse.
Tatischtschew war von altem Adel, er sieht den Staatsdienst als
ein Adelsvorrecht an, indem er bemerkt, der Dienst des Adels sei
ein dreifacher: der Kriegsdienst, der Civildienst und der Hof¬
dienst. Dass der Adel jetzt nur selten und nur etwa durch den
Mönchsstand den geistlichen Beruf wähle, findet er nicht lobens-
werth.
Er selbst hatte mit dem Kriegsdienst begonnen und räth dem
Sohne ebenso zu verfahren. Er meint indessen, man dürfe nicht
zu früh in das Militär eintreten, weil bei noch nicht entwickelter
Charakterstärke der Verkehr mit der Soldateska die Sitten leicht
verderbe, aber auch nicht zu spät, weil man sich nicht zu sehr an
häuslichen Komfort und an die eigene Macht gewöhnt haben dürfe,
um sich als Militär völlig dem Willen Anderer subordiniren zu
können. Die Tugenden eines Offiziers werden kurz aufgezählt:
Tapferkeit sei gut, Waghalsigkeit verderblich, weil man dem Vater¬
lande durch die nutzlose Hinopferung der Untergebenen Verluste
bereite; die Feigheit sei schimpflich; es folgen sodann allerlei gute
Lehren, wie man seinen Vorgesetzten gefallen könne.
Was den Civildienst anbetrifft, so lobt Tatischtschew das Streben
Peters des Grossen, den Adel zu demselben herbeizuziehen; seine
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Absichten, manche Beamtenstellen ausschliesslich dem Adel vorzu¬
behalten, seien leider unausgeführt geblieben, wie denn die Selbst¬
süchtigen während der Regierung Peter’s II. so manches von Peter
Begonnene vernichtet hätten. Er findet es um so richtiger, dass der
Adel genöthigt worden sei, sich für den Civildienst durch den Be¬
such von Schulen und durch Staatsexamina vorzubereiten, als «der
Civildienst die Hauptsache im Staate sei, weil ohne tüchtige Ver¬
waltung im Staate gar keine Ordnung sein könne und der Civildienst
unvergleichlich grössere Geistesgaben erfordere, als der Kriegsdienst.
Jeder Beamte müsse mit den Zuständen und den im Lande herr¬
schenden Gesetzen ganz vertraut sein und genau erkennen können,
woraus dem Lande Schaden oder Nutzen erwachse.»
So hofft denn Tatischtschew, sein Sohn werde bald nach dem
Eintritt in den Militärdienst zum Civildienst übergehen. Für diesen
Fall soll er sich der Gerechtigkeit und Ehrlichkeit befleissigen. Hier
folgt nun ein Excurs über das Sporteln-Nehmen, welcher für die
Beurtheilung der damaligen Verhältnisse ausserordentlich lehr¬
reich ist.
In früheren Zeiten war ein Amt in der Regel zum Zwecke der
Versorgung des damit Belohnten ertheilt worden. Dieser Begriff
der «KopMJieHie» war in den Zeiten, als Peter den russischen Be¬
amtenstand zu reformiren suchte, sehr schwer auszurotten. Un-
nachsichtlich streng beseitigte Peter bestechliche Beamte, legte
ihnen hohe Geldstrafen auf, liess angesehene Würdenträger, wie
z. B. den Generalfiskal Nesterow, den Gouverneur von Sibirien,
Gagarin, u. A. grausam hinrichten, drohte seinem Schützling Men-
schikow mit derselben Strafe, wenn er seine Durchstechereien nicht
lasse, musste es aber erleben, dass der Generalfiskal Jaguschinskij,
als Peter auf die geringste Bestechung die Todesstrafe setzen wollte»
ihm entgegnete: «Wollen Ew. Majestät allein im Staate Zurück¬
bleiben? Wir Alle stehlen, die Einen mehr und plumper, die Andern
weniger und geschickter.» 1
Tatischtschew unterscheidet nun ein statthaftes Sporteln-Nehmen
(M3fla) von einem unstatthaften (jihxohmctbo). Es sei, meint er,
ganz unzulässig, Beides über einen Kamm zu scheeren, Beides zu
verdammen, und die ungerechten Richter, welche so handelten,
machten sich eines grösseren Vergehens schuldig, als diejenigen,
welche die erlaubten Sporteln nahmen. Erlaubt seien die Sporteln
4 CoJioBbes*b: IIcTOpia Poccrn XVffi, pag. 137.
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dem Grundsätze der heiligen Schrift zufolge: «Ein Arbeiter ist sei¬
nes Lohnes werth». Hier erzählt Tatischtschew, wie er im Jahre
1722 auf die Anklage, er sei bestechlich gewesen, vor Gericht dem
Kaiser Peter gegenüber die Theorie entwickelt habe, dass ein Rich¬
ter für die Führung einer gerechten Sache, für eine besondere Mühe¬
waltung, wenn er z. B. für dieselbe über die der Kanzleiarbeit be¬
stimmten Vormittagsstunden hinaus arbeite, wenn dem Prozess¬
führenden ein materieller Vortheil hieraus erwachse, dass der Rich¬
ter seine ganze Müsse auf die Angelegenheit verwende, Tag und
Nacht thätig, Tanz und Jagd, Kartenspiel und gesellige Unterhaltung
darüber versäume — dass in einem solchen Falle ein Richter vor
Gott und dem Kaiser die Annahme einer Belohnung sehr wohl ver¬
antworten könne. Dazu bemerkt Tatischtschew, Peter habe hierauf
geantwortet: das Alles sei wahr und bei gewissenhaften Richtern
unbedenklich, doch könne man dergleichen minder Gewissenhaften
nicht ohne Gefahr gestatten.
Tatischtschew fährt fort, der Sohn solle als Richter nie den
Schwachen dem Starken opfern, nie um einer gerechten Sache
willen den Zorn der Mächtigen fürchten, stets in solchen Fällen auf
Gottes Schutz vertrauen. Bittstellern gegenüber solle der Sohn nie
hochmüthig sein, die Armen und Geringen nicht kränken; er er¬
innert ihn daran, wie seine, des Vaters, Thür stets geöffnet und er
stets bereit gewesen sei, Alle anzuhören und Allen ohne Zeitverlust
zu helfen. In Betreff des Verhaltens gegen Untergebene räth der
Vater dem Sohne, sich nie in eine gewisse Abhängigkeit von ihnen
zu begeben; ihre Meinung könne man vernehmen, aber nicht immer
müsse man derselben folgen; ja es sei sogar, wenn man unter dem
Einflüsse eines Untergebenen handele, zweckmässig, den Schein des
selbständigen Handelns zu wahren. Es folgen sodann Aeusserungen
darüber, wie die Subalternen leicht sich zu viel einbilden und dann
lässig werden oder schädlich wirken.
Der Rath, die streitenden Parteien bei Civilprozessen nach Mög¬
lichkeit zu versöhnen, erinnert an die entsprechenden Ermahnungen
Possoschkow’s. Gegen schlechte Beamte, die Einem untergeben
seien, formell Klage zu führen, bezeichnet Tatischtschew als «un¬
anständig». An ihrer Entfernung aus dem Dienste müsse man sich
genügen lassen. Gewissenlose Kollegen müsse man in ihrem
schlechten Treiben zu durchschauen suchen, aber in offene Feind¬
schaft mit ihnen zu treten oder gegen ihre Handlungen zu protesti-
ren oder gar sie zu verklagen, erscheint als nicht rathsam.
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Hierauf wird der Hofdienst charakterisirt. Die russische Bezeich¬
nung für Edelmann «äbophhhht>» komme von «Hof» (äbop'b); es
würden die Reichsten und Angesehensten an den Hof genommen,
um demselben Glanz zu verleihen; die Hofleute erhielten mehr Gna¬
den und Geschenke, als andere, weil sie dem Monarchen naheständen.
Sie hätten eben der letzteren Ursache wegen Macht zu verläumden
und würden daher mehr gefürchtet, als geliebt.
Es entspricht der tüchtigen, für wirkliche Arbeit geeigneten Natur
Tatischtschew's, wenn er mit einiger Geringschätzung von dem Be¬
rufe des Hofmannes redet. Er stimmt Peter dem Grossen darin
vollkommen bei, dass der Letztere während seiner Regierung die
Bedeutung des Hofdienstes herabsetzte. Erst unter der Kaiserin
Anna hätten die Hofbeamten höhere Rangstufen erhalten. Seinem
Sohne räth Tatischtsehew, nicht nach Hofstellen zu trachten, weil
dort nur Heuchelei und Intrigue, Neid und Hass, Ohrenbläserei und
Laster herrsche, so dass der Sohn nur auf ausdrücklichen Befehl
der Kaiserin eine solche Stelle annehmen, in einem solchen Falle
aber auch seine Stellung dazu benutzen solle, wohlthätigen Einfluss
zu üben, die Verfolgten zu beschützen, pflichttreu dem Staatsinter¬
esse zu dienen. Sehr eindringlich warnt Tatischtschew seinen Sohn
vor dem Hochmuth;! nie solle er sich für unersetzlich halten; solche
Menschen schaffe Gott gar nicht (pag. 40—43).
Noch eine Lehre gibt Tatischtschew seinem Sohne: er solle nur
ja bei Zeiten aus dem Staatsdienste treten und nicht warten, bis man
ihn verabschiede. Letzteres sei ungemein schimpflich und wer gegen
einen solchen Schimpf unempfindlich sei, den könne man mit dem
Vieh vergleichen. Wenn Jemand sein fünfzigstes Jahr erreicht habe,
so fangen seine Kräfte an abzunehmen; es kann dann die Tüchtig¬
keit zum Dienste aufhören und da sei es denn viel besser, freiwillig
sich in den Ruhestand zu begeben.
Tatischtschew selbst hat, nachdem er dieses im fünfundfünfzigsten
Jahre schrieb, dem Staate noch sehr bedeutende Dienste geleistet,
und ist, ehe er von den Geschäften entfernt wurde, noch einige Jahre
thätig gewesen. Der Gedanke der Pflicht beseelte ihn. Sehr ent¬
schieden tadelt er es als eine Art Eidbruch, wenn dienstfähige Per¬
sonen, nach dreissigjährigem Dienste, sich durch Bestechung eines
Arztes ein ärztliches Zeugniss verschaffen, um aus dem Dienste aus-
treteji zu dürfen. Dergleichen mochte damals oft Vorkommen.
Tatischtschew war ein guter Haushalter. Er hatte es verstanden
sein Vermögen zu mehren und ordnete seinen Nachlass in gewissen-
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hafter Weise. Seinen Sohn warnte er ebenso sehr vor dem Geiz,
wie vor der Verschwendung. Er hatte ein Verzeichniss seiner Kre¬
ditoren und Debitoren für seinen Sohn angefertigt. In Betreff seines
Leichenbegängnisses hatte er angeordnet, dass dasselbe ohne Prunk
stattfinden solle (pag. 12). #
Er legt dem Sohne um so mehr eine besonnene Verwaltung des
Vermögens an’s Herz, als derselbe von den Emolumenten des Staats¬
dienstes unter allen Umständen nicht werde leben können. Sehr
schön geisselt er die Habsucht: der Geizige suche Gott durch stren¬
ges Fasten und ostensibles Almosengeben zu bestechen, indem er
hofft, dass seine den Bettlern gespendeten Heller ihm sackweise
wieder zurückerstattet würden; dagegen denke er nie an wahres
Wohlthun, lasse die Wittwen und Waisen in der Noth stecken, weil
sie nicht in dem offiziellen Bettlergewande, in Lumpen, erscheinen.
Es kann eine solche Aeusserung gewissermaassen als eine Kritik
der Auffassung vom Almosengeben gelten, welche wir bei Possosch-
kow wahrzunehmen Gelegenheit hatten. Der Letztere hatte die
äussere Werkheiligkeit, ein formelles Almosenspenden an öffentliche
Bettler, empfohlen.
Tatischtschew als Grossgrundbesitzer und Edelmann war von
einem ständischen Vorurtheil gegen den Kaufmannstand erfüllt,
welcher allerdings, wie wir u. A. aus Possoschkow’s Schriften wissen,
allerlei sittliche Missstände aufwies und im Grunde eine nur geringe
kaufmännische Bildung repräsentirte. Indem Tatischtschew zugibt,
dass die Kaufleute am ehesten Reichthümer erwerben können, macht
er denselben Ignoranz zum Vorwurfe: sie verständen nicht zu lesen
und zu schreiben, sie hätten keine Kenntniss von Handelsverhält¬
nissen, keine Bank, keine Comptoirs im Auslande. Solche Vor¬
würfe waren zu einem grossen Theil begründet. Gebildete, ge¬
schäftskundige Kaufleute, wie Possoschkovv einer war, gab es sehr
wenig. Dass in der Zeit Peters der russische Kaufmann Solowjew
in Amsterdam ein grosses Geschäft nach allen Grundsätzen des
westeuropäischen Handels betrieb, konnte als eine Ausnahme gelten.
Dagegen hat man Beispiele, dass Versuche, russische Kaufleute im
Auslande zu etabliren, misslangen. In Stockholm spottete man über
die russischen Kaufleute, welche, statt Grosshandel zu treiben, auf
den öffentlichen Plätzen allerlei Kram feilboten und sich plump und
bäurisch betrugen. Eine Bank entstand erst in späterer Zeit. Die
Kenntniss einer ordentlichen Buchhaltung fehlt einem grossen Theile
der russischen Kaufleute auch heute noch.
Uw. Revue. Bd. IX.
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Tatischtschew tadelt das damalige Gründerthum: die Kronliefe-
ranten, welche ihre Nächsten auf alle Weise benachteiligten; die
Wucherer, welche schlimmer als Diebe und Räuber hausten; die
falschen Bankrotte, welche im ganzen Lande allen Kredit unter,
gruben ui)d doch ungestraft blieben. Peter der Grosse, fährt Ta¬
tischtschew fort, habe alle diese Missstände beseitigen wollen, doch
habe ihn der Tod an der Ausführung seines Vorhabens gehindert:
daher seien falsche Wechsel, gefälschte Waaren, betrügerische
Kontrakte, fingirte Geschäfte an der Tagesordnung. Es ist bei
einer solchen Auffassung von den damaligen kommerziellen Zustän¬
den nicht zu verwundern, wenn Tatischtschew seinen Sohn dringend
ermahnt, mit diesen »gottlosen und gierigen Schuften» (noAJien,aMn)
alle Berührung zu vermeiden.
Dagegen widmet Tatischtschew dem Gutsleben einige eingehende
Betrachtungen in seinem «Testament», wie er denn später eine Art
Leitfaden der Landwirthschaft verfasst hat l .
Wenn man sich in den Ruhestand begebe, meint Tatischtschew,
so thue man am Besten, zunächst seine Güter zu bereisen und deren
Geschäfte zu ordnen, wobei man sich vor Konflikten mit den Nach¬
barn hüten müsse. Am allerwenigsten dürfe man von Habsucht
bewogen, irgend welche Prozesse anstrengen: das müsse den Ränke¬
schmieden, Seelenverderbern, Hallunken überlassen bleiben. Es ist
seltsam, dass hier mit dem Begriffe des Civilprozesses etwas so
Schlimmes verbunden erscheint. Darin liegt eine strenge Kritik
der damaligen öffentlichen Moral, wie auch der gerichtlichen
Praxis *.
Was nun das Gutsleben anbetrifft, so spricht Tatischtschew sehr
tüchtige nationalökonomische Ansichten aus. Er befürwortet die
Errichtung steinerner Gebäude, um das Holz zu schonen, spricht
von Zeitersparniss bei den landwirthschaftlichen Arbeiten durch
zweckmässige Anordnung derselben, von der Behandlung der
Bauern u. s. w.
Damals gab es noch keine «Bauernfrage», dennoch erwähnt Ta¬
tischtschew (pag. 53) der Maassregeln Peteris durch Verleihung von
Krön- und Klostergütern an Private, das Loos der von den Gutsver¬
waltern schrecklich geplagten Bauern zu mildern, fügt aber hinzu,
1 Den Auszug aus diesem Schriftchen in dem Werke Nil Popow’s über Tatischtschew
pag. 227 ff.
a Puschkin hat in einer anziehenden Novelle «ÄyöpoBCKiä» diese Verhältnisse sehr
anschaulich geschildert.
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dass er über die Zweckmässigkeit einer solchen Maassregel sich
kein Urtheil zutraue: darin könne nur die Regierung, welche für das
Volkswohl im Ganzen sorge, Einsicht haben. Diesen und ähnlichen
Aussprüchen Tatischtschew’s merkt man es an, dass Russland Theil
zu nehmen anfing an den Erscheinungen des damals im Westen
herrschenden «aufgeklärten Absolutismus*.
Peter der Grosse hatte gar keine Neigung für die Jagd gehabt.
Im siebenzehnten Jahrhundert war Demetrius ein gewandter Jäger
gewesen. Der Zar Alexei Michailowitsch liebte die Jagd leiden¬
schaftlich. Unter Peter II. hatten die Freuden der Jagd, denen der
junge Kaiser sich wochenlang hingab, ohne sich um die Geschäfte
zu bekümmern, Aergerniss und allgemeines Missfallen erregt. —
Ebensowenig, wie sein Meister Peter der Grosse, liebte Tatischtschew
die Jagd. Indem er seinem Sohne räth, wenn er auf seinen Gütern
leben werde, sich mit Veredelung des Viehs und des Geflügels zu
beschäftigen, Gärten, Stutereien anzulegen, Teiche graben zu lassen
u. s. w., bemerkt er, dass die Jagd mit Hunden nicht zu den empfeh-
lenswerthen Lustbarkeiten eines Edelmannes gehöre. Man könne
dabei seine Gesundheit einbüssen, Arme und Beine brechen, un¬
nützer Weise viel Zeit todtschlagen u. s. w. Daher, meint Tati¬
schtschew, wäre es sehr nützlich, eine Steuer von i Rubel jährlich
für jeden Jagdhund zu erheben. Die Jagd schade oft den Feldern
und dem Vieh, gebe Anlass zu allerlei Rohheiten, h^be eine Ver¬
nachlässigung der Gutswirthschaft zur Folge u. dgl.
Solche wirthschaftspolizeiliche, gegen die mittelalterliche «noble
Passion* gerichtete, etwas philiströse Betrachtungen kennzeichnen
den modernen Standpunkt Tatischtschew’s.
Ebenso berührt er einen andern Gegenstand der Polizei: die
Hygieine, indem er dem Sohne empfiehlt, auf seinen Gütern für ein
ordentliches ärztliches Personal zu sorgen, da in Folge des Mangels
an Aerzten die Sterblichkeit in den Dörfern so gross sei. Allerlei
Geheimmittel von Gauklern und Charlatans fügten dem Volke sehr
viel Schaden zu. Auch müsse der Gutsherr für Krankenhäuser sor¬
gen, deren Obhut er selbst übernehmen müsse (pag. 55).
Noch einem wichtigen Punkte der allgemeinen Verwaltung widmet
Tatischtschew einige Aufmerksamkeit, nämlich der das Branntwein¬
brennen betreffenden Gesetzgebung. Er spricht sich für das freie
Branntweinbrennen aus, welches durch die Mehrung vonDüngemitteln
auch der Viehzucht aufhelfen könne. Sehr schneidend tadelte er
das Gebahren der von ihm auf 50,000 Personen veranschlagten
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Armee von Beamten, welche bei dem Branntweinmonopol der Re¬
gierung angestellt seien. Er nennt sie Tagediebe und Heuschrecken;
sie seien meist von ganz dunkler Herkunft. Werde ein freies Brannt¬
weinbrennen gestattet, so könnten, hofft Tatischtschew, viele arme
Leute dabei, wie bei dem freien Branntweinverkauf ein sorgenfreies
Dasein gewinnen, wie man dieses in Westeuropa sehen könne. Wer
anders darüber denke, kenne die Verhältnisse nicht: wo freier
Branntweinverkauf sei, da gebe es weniger Trunksucht, weniger
Raub und Mord, während die Monopolschenken mehr Schlupfwinkel
aller nur möglichen Verbrechen seien. Lobend erwähnt Tati-
schtschew der schwedischen Verhältnisse, wo der Branntwein verkauf
stets frei sei, und nur in Ausnahmefällen, wenn Misswachs eintrete,
das Branntweinbrennen zeitweilig verboten werde l .
Das Schriftchen Tatischtschew’s schliesst mit der Mittheilung, er
habe die darin ausgesprochenen Grundsätze «im vergangenen Jahre
1733» mehreren Männern vorgetragen, und zwar dem Fürsten Ser¬
gius Dolgorukow, dem Erzbischof von Nowgorod Feofan Prokopo-
witsch und dem Fürsten Alexei Michailowitsch Tscherkasskij, sowie
einigen «Professoren der Akademie* der Wissenschaften von St. Pe¬
tersburg. Er wolle Niemandem seine Meinungen aufzwingen, aber
diese seine Wohlthäter und Freunde hätten seine Ansichten gelobt
und seien dabei gewiss aufrichtig gewesen. Indessen: Irren sei
menschlich, und da könne dann der Sohn, wenn er mit manchen ihm
ertheilten Rathschlägen nicht übereinstimme, sich darüber äussern.
«Obgleich ich», so schliesst Tatischtschew, «nur für Dich und nicht
für Andere geschrieben, so kann doch diese Schrift von Anderen
eingesehen und gut befunden werden, wiewohl ich sehr gut weiss,
dass sich auch noch Andere finden werden, welche diese meine Dir
ertheilten Rathschläge tadeln und dieselben falsch deuten werden.
Dieses wird mich nicht überraschen, da ich zur Genüge sehe, dass
nicht bloss die berühmtesten Männer, welche die Mathematik, die
Rechtspflege und andere hohe Wissenschaften förderten, geschmäht
werden, sondern auch diese Wissenschaften selbst. Was soll man
davon sagen? Sehen wir denn nicht, dass selbst die Aussprüche
Christi und der Apostel von Jedermann ganz willkürlich interpretirt
werden. Noch weniger zu verwundern wäre es, wenn dies mit mir
1 Welche grosse Wichtigkeit diese Frage bereits in jener Zeit hatte, ist u. A. daraus
zu ersehen, dass die hervorragenden Publizisten in Russland im siebenzehnten Jahr¬
hundert dieselbe eingehend untersuchen. So der geistvolle Serbe Krischonitsch, so
Possoschkow in seiner Schrift «Ueber Armuth und Reichthum» u. A.
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geschähe. Kommt aber erst mein Schriftchen in die Hände von
Papisten und Heuchlern, so mag man von ihnen allerlei darüber
hören, ohne dass sie bessere Lehrer wären. Mag die Spinne ihr
Gift verspritzen; sauge Du wie eine Biene den Honig aus der Blüthe
zur leiblichen und geistigen Erquickung. Dies wünsche ich Dir und
verbleibe mit väterlicher Liebe Wassilij Tatischtschew.
Diese kurzen Auszüge aus diesem merkwürdigen Schriftchen mö¬
gen genügen, um zu zeigen, dass Tatischtschew in einer ganz andern
Welt lebte wie Possoschkow, und welch ein Abstand ist von dem
«Domostroi» zu dem Russland Peters des Grossen* Nicht die Ge¬
schichte der Kriege oder der diplomatischen Beziehungen Russlands
zum Westen, ja nicht einmal die Darstellung der administrativen
und legislativen Thätigkeit der Regierung sind im Stande, uns einen
so tiefen Einblick in den Umwandelungsprozess zu gestatten, in
welchem die geistige Atmosphäre Russlands in Folge der reformi-
renden Thätigkeit Peters des Grossen begriffen war. An der Hand
solcher Schriften, wie das Schreiben des unbekannten Vaters an den
in Holland studirenden Sohn und das «Testament» Tatischtschew’s
können wir beurtheilen, wie die Reisen der Russen nach dem Westen,
was die reformirende Polizei und Gesetzgebung in dem Zeitalter
Peter’s, was geistige Anregungen, wie die Gründung der Akademie
der Wissenschaften, für die höheren Stände in Russland bedeuteten.
Die Annäherung an Europa, der Einfluss europäischer Wissenschaft,
die Versuche, einen Beamtenstand nach westeuropäischem Muster
zu bilden, die allmälig sich entwickelnden Begriffe von Standesehre
und politischer Pflicht — das sind die Züge, welche uns in diesen
Schriften entgegentreten. Sowohl der Verfasser des Schreibens
vom Jahre 1709, wie Tatischtschew beweisen, dass die Europäisirung
Russlands nicht bloss eine äusserliche, conventionelle, formelle war.
Freilich legte man viel Gewicht auf die äussere Dressur, freilich
suchte man die feinere, in Europa herrschende Sitte mechanisch zu
kopiren; man hielt es für nöthig, solche Katechismen der Salon¬
fähigkeit, wie der «Jugendspiegel», übersetzen und verbreiten zu
lassen, aber derselbe Tatischtschew, welcher seinem Sohne die Lek¬
türe dieses «Jugendspiegels» empfahl, beweist durch sein «Testa-
v ment», dass er in der Schule Westeuropas viel mehr gelernt hatte,
als sauber zu essen, höflich zu grüssen und den Dienstboten gegen¬
über sich gentlemanlike zu benehmen.
Die didaktischen Betrachtungen dieser Art in Russland beginnen
mit der alleinigen Darstellung der Pflichten des Menschen im Gottes-
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dienst und im Hause. So war das Programm des «Domostroi*,
dessen Beschränktheit, dessen Uebergehung alles Berufslebens uns
auffiel. Es ist, als wäre in jenen Zeiten der Begriff des Staats und
der Gesellschaft nicht vorhanden gewesen. Die Kirche und die
Küche sind die Hauptgegenstände der Darstellung im «Domostroi».
Das Ausland lieferte dann das Modell feinerer Sitte, moderner
gesellschaftlicher Bildung. In dem «Jugendspiegel» wird von Reli¬
gion und Hauswirthschaft nicht gesprochen, ebensowenig von Staats¬
dienst oder Berufsleben, sondern lediglich vom Salon.
Possoschkow hatte den Versuch gemacht, in seiner «geistlichen
Ermahnung an den Sohn# ganz andere, wichtigere “Kategorien zu
behandeln. In Betreff der geistlichen Fragen stand er noch durch¬
aus auf dem Boden des «Domostroi#. Dagegen betont er schon
neben den Pflichten des Menschen gegenüber der Kirche und dem
Hause, das Berufsleben. Der Begriff der Gesellschaft, des Staats
war weiter gediehen; man empfand, dass man Pflichten hatte gegen¬
über dem Gemeinwesen. Wenn er von Industrie und Handelsstand,
von Rechtspflege und Polizei spricht, so sieht man, wie hier der
Einfluss Westeuropas noch nothwendiger und erfolgreicher war, als
in der Komplimentirkunst, dass der Mittelstand in Russland nicht
weniger vom Auslande zu lernen hatte, als die Höflinge und Edel¬
leute.
Als unmittelbarer Zögling der westeuropäischen Civilisation er¬
scheint endlich Tatischtschew, dessen «Testament# am allermeisten
Gewicht legt auf die politische Laufbahn, auf den Staatsdienst, wie
denn schon in dem «Schreiben an den im Auslande studirenden
Sohn# dieser Pflichten erwähnt wurde.
Der Mensch war vorwiegend Mönch und gutentheils Dienstbote
gewesen im «Domostroi#, zum Theil noch bei Possoschkow. Der
Mensch war als eine Zierpuppe auf dem Parquet erschienen im
«Jugendspiegel*. Der Mensch erscheint als Staatsbürger im Berufs¬
leben, als Weltbürger in seiner sittlichen und intellektuellen Aus¬
bildung bei Tatischtschew.
Im «Domostroi* und zum Theil im «Testament* Possoschkow's
treten uns das Mittelalter und der Orient entgegen: Russland er¬
scheint als abgeschlossen und sich abschliessend von den die Welt
beherrschenden geistigen Strömungen. Aber schon in einzelnen
Zügen der Schrift Possoschkow’s können wir den Tagesanbruch
einer neuen Zeit begrüssen; in seinen übrigen Schriften erscheint
Possoschkow vollends als ein Zögling, wenn auch als ein indirekter
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Schüler der occidentaüschen Kultur. Tatischtschew zeigt, wie
Russlands Einreihung in die europäische Völkerfamilie eine voll¬
zogene Thatsache und die Bedingung fernerer gedeihlicher Ent¬
wickelung geworden war. Es war ein weiter Weg gemacht, eine
Rückkehr nicht mehr möglich, ein Fortschreiten auf diesem Wege
das allein Wünschenswerthe.
Das Wyschnij-Wolotschok-System.
Von
Theodor Schmidt.
✓
Das Wolga-Bassin ist mit dem Ladoga-See und durch die Newa
mit der Ostsee durch drei künstliche Wasserwege verbunden, welche
allgemein unter den Namen: Wyschnij-Wolotschok-, Tichwinka-
und Marien-System bekannt sind.
Das Wolga- und das Ladoga-See-Bassin werden von einander
durch einen Höhenzug getrennt, welcher sich von den Wolga-Quellen
nach Nord-Osten bis zur Suchona und Onega erstreckt.
Der Abhang dieses Höhenzuges, welcher zum Wolga-Bassin
gehört, repräsentirt ein ziemlich ebenes Terrain, das nur ganz all-
mälig und fast vollkommen einförmig nach Süden abfällt; der Boden
gehört zum Alluvium.
Diese Terraineigenschaften bedingen, dass
1. die Strömung der auf diesem Höhenzuge entspringenden
Nebenflüsse der Wolga eine langsame ist;
2. die Ufer und das Strombett leicht unterspülbar sind;
3. die Untiefen — Sandbänke sind.
Dagegen Anden wir das Terrain des nördlichen Abhanges hügelig,
von Thälern und Schluchten, welche einen steinigen Boden zu Tage
treten lassen, zerrissen, die allgemeine Bodenneigung nach Norden
schnell abfallend.
In den Thälern und Schluchten haben sich eine grosse Anzahl
Seen gebildet, die Niederungen sind hier häuflg von Sümpfen
bedeckt.
Die Flüsse, welche das Wasser dieser Seen nach Norden führen,
haben, dem Terrain entsprechend, einen viel unruhigeren und für
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die Schifffahrt gefährlicheren Charakter, als die obenerwähnten süd¬
lichen. Ihr Fall ist bedeutend, die Strömung äusserst schnell, das
Flussbett in den Stromschnellen grösstentheils steinig.
Die Thäler, in denen die Hauptwassermassen von diesem Höhen¬
zuge der Wolga und dem Ladoga- und Onega-See zufliessen, nähern
sich einander auf eine ganz geringe Entfernung; es hat also der
Bergrücken, welcher sie von einander trennt, nur eine unbedeutende
Breite. Diese Lage der Thäler und der Reichthum an Seen auf
dem Höhenzuge, welchen man leicht, als natürliche Wasserreservoire,
der Schifffahrt nutzbar machen konnte, machten es möglich, mittelst
kurzer Verbindungs-Kai\äle drei wohlpassirbare, wasserreiche Wasser¬
wege zu schaffen, welche eine direkte Schiffsverbindung vom Kaspi¬
schen Meere zur Ostsee ermöglichen, nämlich:
dasWyschnij-Wolotschok-System: mittelst Verbindung derTwerza
mit der Zna,
das Tichwinka-System: mittelst Verbindung der Woltschina mit
der Tichwinka;
das Marien-System: mittelst Verbindung der Kowsha mit der
Wytegra.
Jedes dieser Systeme besteht demnach
1. aus einem, den genannten Höhenzug durchschneidenden Ver¬
bindungskanal, welcher zugleich den höchsten Punkt des Systems
abgibt;
2. aus einem Zweige im Wolga-Bassin;
3. aus einem Zweige im Ladoga-Bassin.
Diese drei Systeme entstanden natürlich ganz allmälig und vervoll-
kommten sich je nach den Erfordernissen der Schifffahrt und den
Mitteln, welche zur Zeit zur Verfügung standen. Wenn man auch nicht
behaupten kann, dass sie in administrativer und technischer Be¬
ziehung auf der erforderlichen Höhe stehen, so dürfte es nichts desto-
weniger von Interesse sein, sich einigermaassen mit den immerhin
grossartigen Werken bekannt zu machen und zu sehen, aus welchen
Initiativen, wann und wie sie entstanden und von welchem Nutzen
sie in den verschiedenen Zeiten ihrer Existenz für die Schifffahrt
gewesen sind.
Die grössere oder geringere Wassermenge, die Länge der Wasser¬
strasse, die Dimensionen der Schleusen und Kanäle eines jeden
dieser Systeme, geben die Hauptbedingungen ab für die Art
und Weise der Schifffahrt auf demselben. Andererseits liängtaber
die Masse des der Schifffahrt nutzbaren Wassers, der grössere oder
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213
geringere Aufenthalt beim Passiren des Systems, so wie auch der
ganze Charakter desselben in bedeutendem Grade von dem Thei-
lungs- (Kulminations-) Punkt der Navigationslinie ab, weshalb wir
auch seine hydrographische Beschreibung genauer geben wollen,
als die Beschreibung der übrigen System-Elemente.
. 1 .
Das Wysohnij-Wolotschok-System.
Das Wyschnij-Wolotschok-System beginnt im Süden bei der Mün¬
dung der Twerza in die Wolga, bei der Stadt Twer, und endet im
Norden mit der Mündung des Wolchow-Flusses in den LadogaSee.
Die einzelnen Elemente des Systems sind: die Twerza, welche
ganz in der Nähe des rechten Ufers der Zna entspringt, die Kanäle
um Wyschnij-Wolotschok, die Zna, der Msta-See, die Msta, der
Wyschera- und der Sievers-Kanal und endlich der Wolchow. Aus
dem Wolchow gelangt man in den Ladoga-Kanal und ferner auf
der Newa nach St Petersburg. Die Gesammtlänge des Systems,
von der Twerza- bis zur Wolchow-Mündung, beträgt 806 Werst,
und kommen auf: die Twerza 175 Werst, die Kanäle um Wyschnij-
Wolotschok, die Zna und den Msta-See 25 Werst, die Msta 396
Werst, den Sievers-Kanal ca. 7 Werst, den Wolchow 203 Werst.
Die ganze Strecke Rybinsk-Petersburg pr. Wyschnij-Wolotschok-
System beträgt 1315 Werst.
Der erste und bedeutendste Schritt zur Schaffung des ganzen frag¬
lichen Systems war natürlich die Durchstechung der Wasserscheide bei
dem Orte Wyschnij-Wolotschok, oder das Graben des Twerza-Kanals
welcher die Verbindung der Twerza mit der in der Msta-See sich er-
giessenden, also zum Ladoga-See-Bassin gehörenden Zna vermitteln
sollte. Die Wassermenge aber, welche der Schifffahrt a priori nutz¬
bar gemacht werden konnte, war nicht hinreichend, der Wasser¬
horizont auf dem System während der, etwa 6 monatlichen Na¬
vigationsperiode in nöthiger Höhe zu erhalten, es konnte also der
Kanal nur bei Hochwasser, d. h. hauptsächlich nur im Frühling, von
Nutzen sein, während zur Sommerzeit die Schifffahrt auf dem Sy¬
stem ganz in Frage gestellt war. Da drängte sich natürlich der
Gedanke auf, ja es trat die gebietende Nothwendigkeit ein, aus¬
gerüstet mit weit grösseren Mitteln, als sie zur Grabung des Verei-
nigungs-Kanales erforderlich gewesen waren, die vielen um Wyschnij-
Wolotschok befindlichen Seen, die sämintlich über dem Theilungs-
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214
punkt der Navigationslinie liegen, durch Ableitungsgräben zur
Navigationsaxe zuführen und durch Erbauung von Stauschleusen an
ihnen ihr Wasser bis zu dem Moment in Reserve zu halten, wo man
dessen benöthigt sein könnte. Im Frühjahr litt die Schifffahrt eher
durch zu grosse Wasserfülle, als durch Wassermangel; es konnten
also solche Reservoire, welche das Wasser der erwähnten Seen und
der Nebenflüsse der in’s System eingeschlossenen Ströme zu gewissen
Zeiten in sich ansammelten und nicht in diese Hauptströme gelangen
Hessen, sehr wohl ohne Beeinträchtigung der Schifffahrt angelegt
werden.
Dieser Erwägung verdankt auch das grösste, bei Wyschnij-Wolo-
schok, also beim Kulminationspunkt der Navigationslinie, bele-
gene Wasserreservoir, das sog. Fabrik - (Sawod-) oder Servjukow-
Reservoir , seine Entstehung. Dasselbe entstand durch Verbindung
der Zna mit der Schlina und durch Schliessen derselben durch den
Borosda- und andere kleinere Dämme, in der Nähe ihrer Mündung
in den Msta-See. Dadurch war bei Wyschnij-Wolotschokein Wasser
reservoir von 60 Quadratwerst Fläche geschaffen, welches 17 Mill.
Kubik-Sashen 1 Stauwasser fassen kann. Ausserdem wurde der obere
Lauf der Zna und Schlina mit einer Menge Seen (s. unten) in Ver¬
bindung gebracht und durch Dämme mit Freischleusen geschlossen ;
es wurden also Wasserreservoire geschaffen, welche höher gelegen
waren, als das Fabrik-Reservoir, aus denen man also letzteres wieder
rasch anfüllen konnte, wenn seine Wassermassen schon verbraucht
waren.
Diese Wassermassen benutzt man nun, um, je nach Erforderniss,
den Wolga- oder den Ladoga-Systemzweig zu speisen. Zu diesem
Zweck sind folgende Arbeiten ausgeführt.
Um einem etwaigen Durchbruch vorzubeugen und das Fahrwasser
zu bewältigen, ist die Zna, nach ihrer Vereinigung mit der SchUna,
durch zwei Dämme zu je 5 Freischleusen, den sog. Fabrik- (Sawod-)
Beyschloten geschlossen. Vier Werst von dem letzten derselben,
weiter unterhalb, stösst an die Zna — auf ihrem rechten Ufer — der
obenerwähnte, die Wasserscheide durchschneidende Twerza-Kanal,
welcher 2 x /i Werst lang, mit einer Neigung nach Süden, an seinem
unteren Ende, d, h. bei seiner Vereinigung mit der Twerza, durch
die Twerza-Schleuse geschlossen ist. Nach weiteren 22J Sashen
macht die Zna eine scharfe Biegung nach links, und an dieser
1 1 Sashen 7 Fuss englisch.
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Biegung vereinigt sich mit ihr, wiederum auf dem rechten Ufer,
der Zna-Kanal, welcher etwa i Werst lang ist und schliesslich wieder
an die Zna stösst, in der Nähe ihrer Mündung; dieser Kanal liegt,
seiner ganzen Ausdehnung nach, im Weichbild der Stadt Wyschnij-
Wolotschok. Etwa in der Mitte derselben ist die sog. Schandoren-
Halbschleuse, am Ende die Zna-Schleuse angelegt, durch welch
letztere die Schiffe in den unteren Theil der Zna und weiter, durch
die zwei sog. Zna-Beyschlote in den Msta-See gelangen. Hinsichtlich
dieser Zna-Beyschlote ist zu bemerken, dass es möglich ist, vermit¬
telst derselben das Wasser in derselben Höhe zu erhalten, wie in
der Twerza- und Zna-Schleuse.
Diese Bauten haben nun, wie gesagt, den Zweck, bei niedrigem
Wasserstand auf der Navigationsaxe für einige Zeit die Schifffahrt
dennoch zu ermöglichen. Bei Hochwasser dagegen sind alle Schleusen
geöffnet und passiren die Flussfahrzeuge ganz ohne ihre Beihülfe
sowohl die beiden, auf entgegengesetzten Seiten der Wasserscheide
gelegenen Systemzweige, als auch die Wyschnij-Wolotschok-Kanäle
selbst.
Bei niedrigem Wasserstand ist das Schleusenspiel einfach folgendes:
schliesst man die Twerza-Schleuse, die beiden Zna-Schleusen und die
zuletzt erwähnten Zna-Beyschlote und öffnet dann die Fabrik-(Sowod-)
Beyschlote, so füllen sich, aus dem Fabrik-Reservoir, der Twerza-
und der Zna-Kanal. Oeflfnet man jetzt die Twerza-Schleuse, so
ergiesst sich das Wasser in die Twerza, und es .wird möglich, so
lange das Reservoirwasser eben reicht, die Barken von der Wolga die
Twerza stromaufwärts nach Wyschnij-Wolotschok, bis in den, zwi¬
schen den Kanälen gelegenen, erweiterten Theil der Zna zu bringen.
Es ist fast überflüssig noch hinzuzufügen, dass man jetzt, nachdem die
Twerza- resp. Wolga-Barken nach Wyschnij-Wolotschok gekommen
sind, die Twerza-Schleuse schliesst und, sobald sich genügend Wasser
im Fabrik-Reservoir angesammelt hat, die beiden Zna-Schleusen
öffnet und die Fahrzeuge durch den Zna-Kanal in den unteren Lauf
der Zna und weiter in den Msta-See und die Msta bringt. Selbst¬
verständlich ist die Schifffahrt auf der Twerza während dessen unter¬
brochen.
Dieses Verwenden des Stauwassers aus dem Fabrik-Reservoir,
sei es zum Heben des Wasserspiegels der Twerza, sei es der Msta,
mit den erwähnten künstlichen Wasserwerken, sind das Bemerkens¬
wertheste und Charakteristische des Systems. Alle übrigen Werke
und Anlagen haben nur den Zweck, den Wasserzufluss zum Fabrik-
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21 6
Reservoir, zur Msta und Twerza zu vergrössern und je nach Bedürf¬
nis zu reguliren, sowie an gefährlichen Stellen die Fahrzeuge so
gut als möglich vor einem Verunglücken zu schützen. Wir wollen
nur des Hauptsächlichen derselben kurz Erwähnung thun, da sie ja
alle im Grunde sehr einfach sind und nur durch ihre kolossalen Di¬
mensionen bemerkenswerth ^ein können.
Zum Zweck der Vergrösserung und Regulirung des Wasser •
Zuflusses zum Fabrikreservoir sind folgende Arbeiten ausgeführt:
Das höchstgelegene Gewässer des Wyschnij-Wolotschok-Bassins
ist der Serem-See, aus dem ein unbedeutendes Flüsschen, die
Tscheremaschka, auf dem entgegengesetzten Abhang sich in den
Seliger-See ergiesst. Dieses Flüsschen wird durch einen Damm ver¬
sperrt, das Wasser des Sees aber, sowie noch dreier kleinerer Seen,
in die Schlina geleitet, die kurz nach ihrem Austritt aus dem Schlino-
See — mit welchem seinerseits der sehr bedeutende Welje-See ver¬
bunden ist—durch einen Damm mit einem Wasserüberfall ge¬
schlossen ist. Durch letzteren ist man im Stande, ein Wasserre¬
servoir von etwa 48 Quadrat-Werst mit 6 Mill. Kubik-Faden Stau¬
wasser zu bilden, welches etwa Mitte Juli geöffnet, bei starkem Wasser¬
verbrauch aus dem Fabrilo*Reservoir, der Schifffahrt von grossar¬
tigem Nutzen sein muss. Aus demselben Gesichtspunkt sind die Zna,
so wie ihre Nebenflüsschen in ihrem mittleren und oberen Lauf mit
Sperrdämmen und Freischleusen versehen, vermittelst deren man
den Wasserzufluss zum Fabrikreservoir nach Belieben reguliren
kann.
Von den Sicherheitswerken an diesem Reservoir selbst wäre,
ausser den schon genannten Borosdno-Dämmen und den beiden
sog. Fabrik-Beyschloten, besonders der Schischkow-Ueberfall zu
nennen, welcher den Zweck hat, das überflüssige Wasser aus dem Re¬
servoir in die Tobolka und weiter direkt in den unteren Lauf der
Zna gelangen zu lassen, ohne dass dabei die Schleusen geöffnet zu
werden brauchen und die Kanal-Böschungen unterspült werden.
Der Stauwasserspiegel kann dabei auf die kolossale Höhe von
17 1 /* Fuss engl, gehoben werden.
Nach dieser Uebersicht des Wyschnij-Wolotschok-Bassins selbst,
wenden wir uns zu den beiden Zweigen des Systems. Vorher
dürfte es aber vielleicht, zum besseren Verständniss des Folgenden,
nicht überflüssig sein, in Betreff der Schifffahrt auf dem System zu
bemerken, dass sie keine kontinuirliche sein kann, weil die Ver¬
wendung der zum Speisen des Systems dienenden Wassermassen
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eine durchaus unökonomische ist. Um unter den gegebenen Um¬
ständen eine kontinuirliche Schifffahrt herzustellen, müsste man di«
Systemflüsse kanalisiren 1 und Schleusen errichten, welche mit mög¬
lichst geringem Wasserverlust das Hinüberpassiren aus einem Theil
des Flusses in den andern ermöglichen. Bei dem hier bestehenden,
man möchte sagen, naturwüchsigen Zustand, wo man die kostspie¬
lige Errichtung von Wehren und Schleusen auf dem System-Zweige
vermieden hat, ist die an sich kolossale Stauwassermenge nicht
im Stande, die Schifffahrt länger als 45 bis 55 Tage im Jahr zu er¬
möglichen. Die Zeit des Frühjahrs-Hochwassers dauert etwa
14 bis 20 Tage. Mit einem Wort, wir haben es hier auf dem
System nicht mit einer kontinuirlichen, sondern mit einer Kara-
wanen-Schifffahrt zu thun, und zwar ziehen jährlich drei Karawanen
von der Wolga nach Norden zur Newa. Die erste im Jahre heisst
die Frühjahrs-Karawane, die zweite die Sommer-, die dritte die
Herbst-Karawane. Die beiden letzteren werden ausschliesslich
durch die künstlichen Werke vermittelt; die erstere passirt das
System entweder ganz ohne ihre Beihülfe, oder wird doch nur, bei
geschlossener Twerza-Schleuse, in dem nach Norden abfallenden
Systemzweig von ihnen unterstützt.
Wenn hier nur besonders diejenige Schifffahrt erwähnt worden
ist, welche von Süden nach Norden gerichtet ist, so geschah es des¬
halb, weil der Natur der Sache gemäss die Menge der mit Vortheil
zu Wasser — also langsam — transportirten Waaren, welche aus den
nördlichen Gouvernements und auch selbst aus St. Petersburg der
Wolga zugeschickt werden, verschwindend klein ist gegen die aus
den südlichen, reichen Gebieten Russlands zur Ostsee schwimmenden.
Ja selbst die Zahl der auf dem Wyschnij-Wolotschok-System aus
St. Petersburg leer zurückkehrenden Barken ist nur eine sehr ge-*
ringe, weil die Eigenthümer derselben es vortheilhafter finden, sie
nur eine Reise machen zu lassen und sie dann in St. Petersburg für
einen Spottpreis zu verkaufen, vortheilhafter, als sie die schwierige
und also kostspielige Reise die Newa hinauf zum Ladoga-See und
* Will man grössere Kosten auf die Anlageu verwenden, so lässt sich der für die
Schifffahrt erforderliche Wasserstand dauernd erhalten, wenn man Wehre in solcher
Höhe auffiihrt, dass der grösste Theil des Gefälles durch sie aufgehoben wird. Als¬
dann muss aber zur Seite jedes Wehres eine Schiffsschleuse oder sonstige Vorrichtung
zur Ueberwindung des Gefälles angebracht werden. Wenn in dieser Art die einzelnen
Stromstrecken zwischen den Wehren bei kleinem Wasser sehr wenig Gefälle behalten,
so sagt man, dass der Strom «kanalisirt» sei. (Hagen: die Wasserbaukunst),
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hierauf den Wolchow und besonders die Msta hinauf (s. unten)
machen zu lassen. So haben wir es also auf der Twerza fast
ausschliesslich mit einer Schifffahrt stromaufwärts, auf der Msta
dagegen ausschliesslich mit einer Schifffahrt stromabwärts zu
thun.
Die Twerza.
Eingangs wurde bei der Beschreibung des Höhenzuges erwähnt,
dass die auf ihm entspringenden, sich in die Wolga ergiessenden
Flüsse, bei geringem allgemeinen Fall und langsamer Strömung,
der Schifffahrt weder durch Stromschnellen und Wasserfälle ernste
Schwierigkeiten entgegenstellen, noch durch Untiefen besonders
gefährlich sind.
So finden wir denn auch, dass die Twerza, bei einem allgemeinen
Durchschnittsfall von nur 13 7 * Zoll auf eine Werst, fast durch¬
gängig die geringe Stromgeschwindigkeit von 2 s /i Fuss in 1 Sek.
hat, während der Zeit, wo die Twerza-Schleusen bei Wyschnij-
Wolotschok geöffnet sind, die Schifffahrt also vor sich geht. Den
stärksten Fall hat sie auf einer Strecke von etwa 30 Werst in der
Gegend der Mündung ihres Hauptnebenflusses, der Osuga. Da ist
auch die bedeutendste Stromschnelle , der sog. Golonistschew-Wasser¬
fall, mit einem Fall von 0,007, bei einer Ausdehnung von ca. 200
Sashen. Um diese stromaufwärts zu passiren, sind die Barken ge¬
zwungen, ausser der regulären, durch’s Gesetz festgesetzten Anzahl
von 10 Zugpferden (bei der grössten, hier auf dem System ge¬
bräuchlichen) noch 20, ja bei hohem Wasserstande 30 Extrapferde
vorzuspannen.
Die übrigen Stromschnellen (man zählt ihrer 9) haben eine
geringere Länge und geringeren Fall und erfordern fünf bis zwanzig
Extrapferde. Zur Beseitigung der Schwierigkeiten beim Passiren
der Stromschnellen hat man verschiedene, durch die Hydrotech¬
nik bei Stromregulirungen gebotene Arbeiten ausgeführt, bei denen
man unmittelbar im Auge gehabt hat, das Fahrwasser zu reinigen
und das starke Gefälle dadurch auszugleichen, dass man es auf eine
längere Strecke vertheilt, oder relativ vermindert. Zur Vermei¬
dung einer dieser Stromschnellen (der Prutenskij’schen) und der
gleich nach ihr folgenden scharfen Strombiegung, welche die Passage
noch bedeutend erschwert und gefährdet, hat man einen langen
Faschinendamm und einen Derivationskanal angelegt, mit einer
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einkammerigen Schleuse von 171 Sashen Länge und 10 Sashen
Breite. Die Kammer fasst 14 bis 16 Barken.
Bei Untiefen, Sandbänken, ist das Fahrwasser durch Faschinen-
Einengungsdämme vertieft. Solcher Dämme zählt man auf der
Twerza im Ganzen 56. Nichts desto weniger verändert sich ihr
Flussbett und verschieben sich die Untiefen auf ihr alljährlich und
zwar in stärkerem Grade, als man es bei anderen, durch ange¬
schwemmtes Land fliessenden Strömen, von gleicher Stromgeschwin¬
digkeit, beobachtet, weil, wie oben angedeutet, bei ihr drei Mal im
Jahr, zur Karawanenzeit, sehr starke Niveauveränderungen Vor¬
kommen, also bedeutende Uferabbrüche unvermeidlich sind, der
Strom demnach grössere Sandmassen zu translociren hat, als andere
Ströme ähnlicher Beschaffenheit.
Die Breite der Twerza beträgt 20 bis 40 Sashen. Sie ist, wie
gesagt ein ziemlich wasserarmer Fluss, und ist von ihren Neben -
flüssen nur die Osuga mit ihren drei Nebenflüssen, der Toloshnja,
Powedj und Raitschina, erwähnenswerth. Diese freilich gibt, an ihrer
Mündung, so wie im mittleren Lauf durch Mühlendämme versperrt,
ein repräsentables Wasserreservoir von 6 Quadrat-Werst Ausdeh¬
nung ab, mit ca. 1 Va Mill. Kubik-Sashen Stauwasser.
Nehmen wir nun dazu die 20 bis 21 Mill. Kubik-Sashen Stau¬
wasser, welche während jeder Karawanenfahrt aus dem Fabrikreser¬
voir sich in die Twerza stürzt, so sehen wir, dass dadurch noch an
ihrer Mündung, also auf 175 Werst Entfernung, der Wasserspiegel
bis auf 3 Fuss gehoben wird, und müssen schon jetzt sagen, dass
wir es hier mit einem Wasserwerk zu thun haben, welches in Betreff
kolossaler Dimensionen sich den grössten ähnlichen Werken an die
Seite stellen kann.
Der Ladoga-Systomzweig.
Die Wasserwerke, welche geschaffen worden sind, um die Schiff¬
fahrt auf dem nördlichen Zweig des Systems zu unterstützen, resp.
zu ermöglichen und zu reguliren, tragen denselben Charakter an
sich, wie die soeben betrachteten; die Wasserwege sind unruhiger,
die Wassermengen dagegen grösser. So repräsentirt der gleich am
Anfang des Zweiges gelegene Msta-See , mit seinen Haupt-Hülfs-
reservoiren, ein Gesammtbassin von mehr als 39 Quadrat-Werst, in
welchem Stauwasser in der Menge von 15 bis 16 Mill. Kub.-Sashen
gesammelt werden kann. Der Msta-See selbst repräsentirt, bei einer
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22Ö
Länge von 12, und einer Breite von I bis 2 Werst eine Wasser¬
fläche von 20 Quadrat-Werst. Im Norden ist er, vor dem Aus¬
fluss der Msta, mit der sog. Msta-Schleuse geschlossen. Die Wasser¬
tiefe ist abhängig sowohl von dieser Schleuse, als auch von den bei
Wyschnij-Wolotschok gelegenen und schwankt zwischen i und
6 Arschin.
Im Frühjahr ist die Tiefe bei der Msta-Schleuse oft bis 7 Arschin
über der Normaltiefe.
Der an und für sich nicht breite See verringert sich etwa in der
Mitte seiner Ausdehnung so bedeutend, dass man ihn hier ohne
sehr grossen Kostenaufwand mittelst eines Dammes, nebst einer
Schleuse — der sog. Usy-Schleuse — hat versperren, also in zwei
Theilen trennen können. Der südliche Theil bildet, bei geöffneter
Zna-Schleuse und geschlossener Usy-Schleuse ein Einzelbassin mit
den Wyschnij-Wolotschok-Kanälen und dient im Nothfall als Anker¬
platz für die, das Ansammeln einer genügenden Reservoir-Wasser¬
menge hier abwartenden Flussfahrzeuge; andererseits dient er als
Reserve-Wasserbassin für den nördlichen, zwischen der Usy- und
Msta-Schleuse gelegenen Theil.
Der Msta-See bedeckt sich mit Eis Ende Oktober oder Anfang
November und ist wieder passirbar Ende April, 7 bis 14 Tage später
als die Msta und Twerza.
Seine Hülfsreservoire sind auf gleiche Weise, wie die früher be¬
trachteten durch Vereinigen von Seen und Versperren der aus
ihnen in den Hauptsee fliessenden Flüsse gebildet. Die bemerkens-
werthesten zwei Hülfsreservoire sind: 1. das Beresow-Reservoir,
belegen östlich vom Msta-See und gebildet durch Vereinigung
einiger 10 Seen, von denen als die bedeutendsten zu nennen sind:
der Bereska-, Taretschje-, Imoloshje- und Borowno-See. Das
Flüsschen Radonka, welches aus dem Bereska- 1 in den Msta-See sich
ergiesst, ist in seinem unteren Lauf auf 3 Werst kanalisirt und
an seinem Ende mit einem Damm nebst Freischleusen gesperrt.
Dieses Reservoir birgt, bei einem Flächeninhalt von 10 Qua¬
drat-Werst, 6 Mill. Kub.-Sashen Stauwasser; 2. das Rudnjew-
Reservoir, gebildet durch Versperren der mit dem Jaschtschino-See
durch einen Kanal von gegen 3 Werst Länge, 21 Fuss Breite und
10 Fuss Tiefe verbundenen Rudnjewka und Heben des Wasser-
1 Von diesem der Name des Reservoirs.
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Spiegels um 21 Zoll. Flächeninhalt 9 Quadrat-Werst; 3 Mill. Kub.-
Sashen Stauwasser.
Die Msta ist bloss 14 Tage, etwa vom 25. April bis zum 9. Mai,
ohne Reservewasser für Barken passirbar; die künstlich unterhaltene
Schifffahrt aber dauert im Jahr 45 bis SS Tage. Für diese Zeit
sind, wenn eine Tiefe von 21 bis 28 Zoll erhalten werden soll,
im Ganzen 40 bis 44 Mill. Kub.-Sashen Reservewasser nöthig. Diese
Quantität erhält nun die Msta, ausser aus dem schon behandelten
Fabrik-Reservoir und dem Msta-See, noch im weiteren Lauf aus
4 abschliessbaren Reservoiren , welche eines nachdem andern geöffnet
werden, sobald die Barkenkarawanen in die Nähe ihrer Ausmün¬
dungen gekommen sind. Von ihnen muss besonders das, kurz
vor den gefährlichen Barowitschi-Wasserfällen in die Msta einmün¬
dende, Uwerj-Reservoir genannt werden, weil es, bei einer Aus¬
dehnung von ca. 15 Quadrat-Werst ausnehmend wasserreich und
beim Passiren der gefährlichsten Msta-Strecke von dem allergrössten
Nutzen ist. Zu diesem Reservoir gehören, ausser einer Menge
kleinerer, die 4 grossen Seen: der Karabosha-, Welikoje-, Meglino-
und Udomlja-See. Dasselbe liefert jeder Karawanen Fahrt 8 1 /2 Mill.
Kub.-Sashen Stauwasser.
Ferner verdienen genannt zu werden:
1. das Dubkow-Reservoir, genannt nach dem Flüsschen Dubowka,
welches die, mit einander vereinigten Tischedro- und Pudor-Seen
mit der Msta verbindet. Es mündet etwa 17 Werst von der Msta-
Schleuse in die Msta und kann ihr in kurze Zeit gegen 7 Mill. Kub.
Sashen Stauwasser zuführen;
2. das Beresai-Reservoir, genannt nach dem Nebenfluss der Msta-
Beresai. Die bedeutendsten Elemente desselbsen sind: derWaldai See,
der Piros-See, und die, diese mit einander verbindende Waldaika; ferner
derKrjaktschi- und Kaftino-See und der aus ihnen in die Beresai sich
ergiessende Kemka-Fluss; endlich der Beresai selbst, welcher die
Wassermassen genannter Flüsse und Seen der Msta zuführt.
Zu der Beschreibung der Msta selbst übergehend, wollen wir
zuerst erwähnen, dass das Flussbett derselben, den Formationen der
Flussufer entsprechend, grösstentheils grandig und mit Steinen be¬
decktest; die vorherrschende Steinarten sind hier der Kalk- und Sand¬
stein; auch Quarzarten und Schwefelkies Anden sich hier und da. Das
Flussbett der Borowitschi-Stromschnellen und Wasserfalle besteht
aus festem Fliesstein. In dieser, auch an Steinkohlen reichen Gegend
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finden sich Steinkorallen und Versteinerungen von Seethieren; in
dem Flüsschen Welgeja, welches unterhalb des Landungsplatzes Peter-
pelitzy, also dicht unterhalb der Borowitschi-Fälle in die Msta mündet,
findet man mitunter kostbare Perlen.
Ferner muss in Betreff des Flussbetts der Msta hervorgehoben
werden, dass es im Allgemeinen sehr gewunden ist.
Nimmt man nun hinzu, dass die Stromgeschwindigkeit der Msta
eine bedeutende ist, so leuchtet sofort ein, dass die Passage auf ihr
mit Schwierigkeiten und Gefahr verbunden sein muss. Besonders
ist dieses natürlich der Fall bei den, auf der Msta sich reichlich
findenden Stromschnellen und Wasserfällen . Wir erwähnen von die¬
sen nur die sog. Borowitschi-Fälle, welche von jeher die Angst der
Kaufleute und Schiffer und die beständige Sorge der Regierung
gewesen sind. Sie erstrecken sich von der Landungsstelle von
Opotschi bis zu der über 30 Werst entfernten Ortschaft Borowitschi
fast in ununterbrochener Folge. Ausser dem starken Fall, welcher
auf 30 Werst 29 Sashen 5 Fuss (208 Fuss engl.) beträgt, ist auch
das Flussbett steinig und äusserst gewunden, die Wassertiefe an
vielen Stellen bloss. 18 bis 21 Zoll. Die Stromgeschwindigkeit der
Msta ist, wie oben angeführt, an und für sich auf ihrem ganzen Lauf
bedeutend; hier aber steigert sie sich zu einer rasenden Schnelle:
kleinere Fahrzeuge durchfliegen bei Hochwasser diese Strecke in
70 Minuten, was auf eine deutsche Meile nur i6 l /s Minuten machen
würde.
Natürlich musste unter solchen Umständen, so lange dieser
Theil des Systems in seinem natürlichen Zustand blieb, die Zahl
der Unglücksfälle an den durchpassirenden Flussfahrzeugen eine
grosse sein. Um nun diese Unglücksfälle zu verhüten oder doch
auf ein Minimum zu reduziren, ist hier eine Menge umfangreicher
und kostspieliger Arbeiten ausgeführt worden. Hier finden wir
eine Reihe Einengungs- und Direktionsdämme; in scharfen Biegun¬
gen sind schwimmende elastische Balkensysteme, sog. Saplywy, an¬
gebracht, welche das Anfahren an die Ufer an solchen Stellen ver¬
hüten und die Schiffe wieder in’s Fahrwasser zurückstossen; an Un¬
tiefen ist der Steingrund geebnet und gereinigt, auch wohl mit einer
elastischen Bretterbekleidung ausgelegt; jähe Tiefen sind zur Ver¬
nichtung der oft so verderblichen Strudel mit steingefüllten Holz¬
kasten ausgefüllt. An besonders gefährlichen Stellen sind umfassende
Vorrichtungen getroffen, um für den Fall eines Unglücks den Barken
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jede mögliche Hülfeleistung schnell angedeihen lassen zu können.
Das Ufer entlang zieht sich ein Signaltelegraph 1 etc.
Nichtsdestoweniger haben alle hier gemachten Arbeiten sich nur
als mehr oder weniger vollkommene Palliativ-Sicherheitsmittel er¬
wiesen; die Gefahr der Havarie überhaupt würde sich nur durch den
freilich kostspieligen Bau von Schleusen heben lassen.
Dass die Anzahl der jetzt zur Zeit verunglückenden Flussfahrzeuge
gegen früher abgenommen hat, dazu trägt wohl auch hauptsächlich
der Umstand bei, dass die Zahl der Fahrzeuge überhaupt, welche jetzt
das System und speziell diese Stromschnellen passiren, gegen früher
sehr gering ist. Je grösser die Karawane, desto kürzer müssen die
Zwischenräume zwischen zwei auf einander folgenden Barken sein^
weil die Menge des Reservoirwassers, welche jeder Karawane zu
Gebote steht, bei der unökonomischen Verwendung derselben, eine
relativ geringe ist und man sich beeilen muss, weiter stromabwärts zu
kommen, ehe es versiegt. So mussten denn früher, bei der starken
Frequenz, die Barken in kurzen Entfernungen hinter einander die
Stromschnellen hinabgehen; und hatte nun eine Barke ihre volle,
der Stromgeschwindigkeit entsprechende Geschwindigkeit erlangt,
so war keine Macht der Erde im Stande, sie wieder in den Strom¬
schnellen anzuhalten. Daher war es denn unvermeidlich, dass, wenn
eine von ihnen verunglückte und im Fahrwasser stecken blieb, auch
eine grosse Anzahl der hinter ihr folgenden durch den Zusammen-
stoss mit ihr Havarie litten. Dagegen lassen sich jetzt, wo die
Schifffahrt auf dem System so unvergleichlich abgenommen hat
(siehe unten), die Intervalle vergrössern, die Gefahr eines Zusammen-
stosses also verringern. Wie eben gesagt, ist in diesem Umstand
sowohl, als auch in den immer mehr und mehr sich vervollkomm¬
nenden Sicherheits-Bauten und -Maassregeln der Grund dafür zu
suchen, dass in neuerer Zeit von Unglücksfällen auf der Msta, und
speziell auf den Borowitschi-Fällen, fast nichts mehr zu hören ist.
Diese Msta-Stromschnellen sind es auch, welche hauptsächlich die
Konstruklionsform der System-Fahrzeuge bedingen: diese dürfen näm¬
lich beladen nicht tiefer, als 21 Zoll gehen (was zur Karawanenzeit
die Normaltiefe auf den Stromschnellen ist) und müssen zugleich so
elastisch sein, dass sie dem heftigen Biegen und Brechen beim Passi-
1 Auf diese technisch sehr interessanten, zum grössten Theil von dem Ingenieur
Koritzkij ausgeführten Arbeiten können wir hier nicht näher eingehen, wollen jedoch
hier auf dieselben besonders hingewiesen haben, weil sie überall, auf jedem ähnlich
schwierigen Fluss, wie es die Msta ist, der Schifffahrt vom grössten Nutzen sein müssen.
> 5 *
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224
ren der Wasserfälle, etwas nachgebend, Widerstand leisten können,
ohne zu brechen. Man zimmert sie deshalb aus einem ziemlich
dichten Gerippe bestehend aus primitiv behauenen jungen Bäu¬
men mit einer starken rechtwinklig gebogenen Wurzel daran —
und einer, mit Holznägelrt an dieses Gerippe befestigten, zweizölligen
Bretterbekleidung. Schnabel und Hintertheil sind abgerundet; der
Boden flach. Diese, freilich primitiv konstruirten Fahrzeuge be¬
währen sich jedoch, bei einigermaassen gewissenhafter Arbeit, recht
gut. Die elastische Bretterbekleidung hält das Gerippe zusammen,
erlaubt ihm aber doch, beim Passiren der Fälle sich auf- und abwärts
zu bewegen, wodurch ein Gebrochenwerden des ganzen Fahrzeuges
verhindert wird. Das Werg und die Hoizspäne, welche zum Kalfa¬
tern benutzt werden, fallen bei der Gelegenheit freilich reichlich aus
den Spalten zwischen den Brettern heraus und müssen eilig neu
ersetzt werden, auch hat man wohl viele Hände nöthig, welche das
einströmende Wasser wieder hinausschöpfen. — Die Fahrzeuge sind
mit einem Mast zur Befestigung der Zugleine versehen. Vor dem
Passiren der Borowitschi-Fälle wird der Mast herabgelassen, das
Steuer herausgenommen und durch 8 bis 9 Sashen lange Ruder
ersetzt; die Form und die Befestigung der letzteren ist die der ge¬
wöhnlichen Rieme. Ihre Handhanbung ist schwieriger, als die der
Steuer, aber sie sind dafür auch wirksamer, indem man sie wieder-
holentlich ausheben und dadurch die Drehung des Schiffes schneller
bewirken kann.
Die Tragkraft der Systemfahrzeuge beträgt 4500 bis 8000 Pud.
Sind sie bis Borowitschi glücklich gelangt, so ist alle Gefahr für
sie vorüber. Die Msta hat hier schon die Breite von 60 Sashen
erreicht, und es haben fernerhin auch die schwierigsten Parthien
nichts Gefährliches mehr für die Schifffahrt. Bei der Mündung
in den Ilmen-See, beträgt ihre Breite HO Sashen.
8V2 Werst oberhalb dieser Mündung stösst an sie der Sievers-
Kanal , welcher es dem Flussfahrzeuge möglich macht, die Passage
über den Ilmen-See zu vermeiden und dicht unterhalb Nowgorod
direkt in den Wolchow zu gelangen. Der Kanal ist fast ohne alle
hydrotechnischen Werke; daher hängt sein Wasserstand von dem
schwankenden Niveau der Msta und des Wolchow ab, welches
wieder zu dem des Ilmen-See in Beziehung steht. In sehr regen¬
armen Sommern (welche man glücklicherweise nur sehr selten zu
registriren gehabt hat), z. B. im Jahre 1826, wird er zeitweilig un¬
schiffbar. Wie man damals diese Schwierigkeit hob und die Passage
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225
wieder flott machte, wird weiter unten in der Geschichte des Wyschnij-
Wolotschok-Systems gesagt werden.
16 Werst oberhalb des Sievers-Kanals beginnt der diesem ziem¬
lich parallele Wischera-Kanal, welcher die Msta mit einem Neben¬
fluss des Wolchow, der Wischera, verbindet und bei hohem Wasser¬
stand reichlich von Schiffen, welche nicht Nowgorod selbst zu passi-
ren haben, benutzt wird. Ebenso, wie der Sievers-Kanal, ist
auch er ohne Schleusen, d. h. seine Sohle ist so tief unter dem Ni¬
veau des Wasserspiegels der Msta und des Wolchow angelegt, dass
die Barken ihn zu jeder Zeit passiren können, ohne durch Schleusen
gehoben und herabgelassen werden zu müssen. Seiner ganzen
Länge nach — 14 Werst — durchzieht er ein niedriges und sumpfi¬
ges, von vielen Quellen durchzogenes Wiesenland. Seine Breite
beträgt 70 Fuss, seine Normaltiefe 7 F.
Bei seinem Anfang an der Msta ist ein Schutzstauwerk erbaut,
welches ihn im Frühling gegen den zerstörenden Andrang des Eises
und den schnell anschwellenden und heftigen Stromzug der Msta
schützt, welcher hier bis um 24 Fuss über den Sommerstand steigt.
Ein ähnliches Werk verwahrt die andere Mündung von der Seite der
Wischera.
Das letzte Element des Ladoga-Systemzweiges bildet der Wolchow-
Fluss. Er entspringt 5 Werst oberhalb Nowgorod aus dem Emen-
See, fliesst darauf direkt nach Norden, mit einer kleinen Neigung
nach Osten, und ergiesst sich schliesslich, 198 Werst von Nowgorod,
in den Ladoga-See. — 70 Werst vom Emen See liegt die Sosninski-
sche Landungsstelle, wo alljährlich eine namhafte Menge Getreide
an’s Land abgeladen wird. Auf der 134. Werst beginnen die
Ptschew-Stromschnellen, welche in Folge schmalen Fahrwassers und
scharfer Strombiegungen der Schifffahrt merkliche Schwierigkeiten
bereiten; auf der 174. Werst liegt der Hafen von Gostinopolj, bei
welchem die 8 V a Werst langen Wolchow- öder Ladoga-Strom-
schneUen ihren Anfang nehmen. An der Wolchow-Mündung hegt
die Stadt Nowo-Ladoga.
Die Ufer repräsentiren bis zu den Ptschew-Stromschnellen ein
niedriges Wiesenland; von hier an werden sie höher und bestehen
aus Fliesschichten. Weiter zur Mündung hin, 2 Werst oberhalb
Nowo-Ladoga, ziehen sich den Wolchow entlang feste Fliesfelsen
und Kalkbrüche, welche nicht selten 100 und mehr Fuss über dem
Wasserspiegel liegen. In diesen Kalkbrüchen gewinnt man ausge¬
zeichneten hydraulischen Kalk, welcher von jeher zu vielen Monu-
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226
mentalbauten in St. Petersburg mit dem besten Erfolg benutzt wor¬
den ist. Das rechte sowohl, als das linke Ufer sind von tiefen Thä-
lern und Schluchten zerrissen, in welchen eine Menge von Neben¬
flüsschen dem Wolchow zufliessen.
Der eben angedeuteten Uferbeschaffenheit gemäss ist denn auch
das Flussbett bis zu den Ptschew-Stromschnellen sandig, mitunter
lehmhaltig und hie und da mit losem Kalk- und Feldsteingeröll be¬
säet. In den Ptschew-Stromschnellen ist das Flussbett mit Steinen
bedeckt; in den Wolchow-Stromschnellen besteht es aus festen
Fliessteinen, welche im Sommer, bei niedrigem Wasserstand, über
den Wasserspiegel herausragen.
Die Breite des Wolchow beträgt bei seinem Ursprung gegen 600
Sashen, bei Nowgorod beträgt sie nur noch 100 bis 110, und im
unteren Lauf, bis zur Mündung, 120 bis 180 Sashen.
Die Tiefe des Fahrwassers ist oberhalb der genannten Strom¬
schnellen 1 bis 4 Sashen; in den Ptschew-Stromschnellen min. 28,
in den Wolchow-Stromschnellen 18 bis 21 Zoll. Fahrzeuge, welche
einen tieferen Wasserstand erheischen, müssen einen Theil ihrer
Ladung auf andere Reserve-Fahrzeuge hinüberladen.
Das Passirett des Wolchow , stromaufwärts und stromabwärts, ist
mit grossen Schwierigkeiten, aber nicht mit Gefahr verbunden. Auch
die verhältnissmässig schwierigste Strecke über die Wolchow-(La-
doga-)Stromschnellen hat nur einen halb so starken Fall, wie die
oben näher beschriebenen Borowitschi-Fälle der Msta.
Aus dem Wolchow gelangen die System-Fahrzeuge in die Ladoga -
Kanäle und treten endlich aus diesen in die Newa. Da diese beiden
letzgenannten Wasserstrassen streng genommen nicht zum Wyschnij-
Wolotschok-System gerechnet werden können, so wollen wir ihre
nähere Beschreibung erst nach der Betrachtung des Marien- und
Tichwinka-Systems geben.
Wir müssen hier noch des im Jahre 1843 hergestellten sog. %Bey -
Schlot der oberen Wolga » Erwähnung thun, weil es mit der Entwicke¬
lung des Wyschnij-Wolotschok-Systems in engem Zusammenhang
steht. Der Beyschlot ist in der Nähe der Vereinigung der Seli-
shorowka mit der Wolga angelegt und erschliesst ein Wasserbassin von
150,000 Quadrat-Werst Flächeninhalt. Dieses kolossale Bassin wird,
wie alle früher genannten, im Frühling und bei besonderem Hoch¬
wasser angefüllt; im Sommer wird es zu gewissen Zeiten geöffnet
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227
und hebt dann den Wasserspiegel der oberen Wolga so bedeutend,
dass die dortigen Untiefen passirbar werden. Bei geöffneten Bey-
schloten steigt das Wasser bei Twer um ii, ja bei Rybinsk selbst
noch um 2 bis 3 Zoll. Ohne die Wassermassen dieses Reservoirs
wäre das Passiren der Sandbänke der oberen Wolga im Sommer
schwierig, ja mitunter unmöglich.
Wir haben in die geschichtliche Skizze nur insoweit statistische
Daten hineingezogen, als nöthig erschien, um zu zeigen, wie mit der
Entwickelung der Wasserstrasse die Frequenz auf derselben stieg
und, umgekehrt, auf wie grosse Mittel das System zu seinem
Ausbau und zu seiner Verwaltung zu den verschiedenen Zeiten mit
Recht Anspruch machen konnte. Auf die Bedeutung der Schiff¬
fahrt der neueren Zeit wollen wir jedoch etwas näher eingehen, und
zwar betrachten wir bloss die letzten 25 Jahre, weil für die vorher¬
gehende Zeit das oben für den Anfang des Jahrhunderts Gesagte
gleich anwendbar ist und erst in den fünfziger Jahren ein starker
Umschwung in der Bedeutung des Systems vor sich gegangen ist.
DatainBetreff der Schifffahrt auf dem Wyschnij-Wolotschok-System
besitzen wir: 1) für die Jahre 1850 bis 1857, wo dasselbe in voller
Blüthe stand, weil ihm damals noch die Nikolai-Eisenbahn (St. Pe¬
tersburg-Moskau), welche das System in Twer und Wyschnij-Wolo-
tschok berührt, nur einen geringen Prozentsatz an Waaren, und
zwar Eilgütern, entzog, und die Möglichkeit selbst, die Güter,
im Fall es nothwendig werden sollte, von Twer oder Wolotschok
aus per Eisenbahn schnell nach St. Petersburg befördern zu können,
hier der Entwickelung der Schifffahrt von der mittleren und oberen
Wolga aus förderlich sein musste. Ja es muss sogar, nach der Zahl
der in Twer ausgeladenen Barken zu schliessfcn, von dort ein Theil
Waaren nach Moskau expedirt worden sein, was bis dahin, bei dem
theuren Transport per Axe, nur in sehr bescheidenem Maasse der
Fall gewesen sein konnte. Ein weiterer Grund der Blüthe lag darin,
dass die Transportkosten sich in dieser Periode — gegen jetzt —
bedeutend niedriger stellten (s. unten).
2) Besitzen wir Data für die Jahre 1860 bis 1874, wo mit der Ver¬
vollkommnung des Marien-Systems die Schifffahrt auf dem Wyschnij-
Wolotschok-System zu erlahmen anfing, bis sie, nach der Eröffnung
der Rybinsk-Bologoje-Bahn, zu den jetzigen, verhältnissmässig ge¬
ringen Dimensionen herabsank.
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228
I. Periode.
Jahr
Es kommen nach Twer Auf d. Twerza
von d. unte- von d. obe- bis Wyschnij-
ren Wolga ren Wolga Wolotschok
Auf den
Msta-See
Auf der Msta
bis Solpenskij-
Posad
1852
3370
509
2920
2869
2914 Barken
1853
4193
717
3806
3697
3757 *
1855
3280
328
2063
2025
2066 »
1856
3640
355
2571
2497
2548 »
1857
3830
462
3025
2970
3011 .
Tab. II.
Die Borowitschi-Fälle
passiren
Barken
davon stranden werden beschädigt
Böte Barken Böte Barken Böte
1852
2773
3° 4
—
1
—
1853
3664
23 3
—
10
—
1854
3007
24 —
—
4
—
1855
2055
9 6
—
11
—
1856
2457
23 6
—
4
—
1857
3 I2 3
23 iS
—
8
—
II. Periode.
Tab. L
Jahr
Es kommen nach Twer 1
von d obe- von d. unte
ren Wolga ren Wolga
Auf d. Twerza
bis Wyschnij-
Wolotschok
Auf den
Msta-See
Auf der Msta
bis Solpenskij-
Posad
1860
887
396
1255
1225
1236 Barken
1872
447
60
397
343
344 »
1873
244
191
410
374
374 *
1874
194
181
340
341
343 *
Tab. 11.
Die Borowitschi Fälle
passiren
davon stranden
werden beschädigt
Barken
Flösse
Barken
Flösse
Barken
Flösse
1860
1258
205
5
—
• —
—
1872
375
248
9
—
—
—
1873
406
211
10
—
—
—
1874
376
277
3
—
—
—
1 Die Barken, welche in Twer selbst beladen werden, sind hier nicht inbegriffen.
Ihre Zahl beträgt jährlich 700 bis 900.
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229
Wir wollen hier zu diesen einfachen Zahlentabellen weiter kein
Kommentar geben. Am deutlichsten tritt wohl aus ihnen hervor
das Sinken der Bedeutung des Wyschnij-Wolotschok-Systems, als
Verbindungsstrasse St. Petersburg^ mit der Wolga, in der zweiten
Periode. Deshalb ist es von grossem Werth, sich klar zu machen
über die innere Bedeutung des Systems für die angrenzenden Gouver¬
nements selbst. Aus unsern angeführten Daten können wir uns
nun aber darüber nur ein ziemlich dunkles Bild machen.
Die Differenz der Anzahl der Barken, welche von der oberen und
unteren Wolga nach Twer kommen und derjenigen, welche in die
Twerza einlaufen, zeigt, wie viele von, ihnen in Twer ausgeladen
sind, sei es, dass ihre Ladung zum dortigen örtlichen Gebrauch be¬
stimmt war, sei es zur Weiterbeförderung per Nikolai-Bahn nach
St. Petersburg; auf gleiche Weise erhalten wir ähnliche Zahlen¬
angaben für Wyschnij-Wolotschok, die obere Msta, Borowitschi und
andere Landungsplätze, welche aber alle nicht sowohl den örtlichen
Handel und Bedarf allein ausdrücken, als vielmehr auch andere Fak¬
toren, z. B. den Transithandel, in sich schliessen. Aus diesem un¬
vollkommenen statistischen Material lässt sich also nur ein unvoll¬
kommenes Bild über die innere Bedeutung des Systems machen.
Ein etwas besseres Mittel zur Aufklärung über diesen Punkt gibt
die Vergleichung der Ergebnisse der im Jahre 1847 eingeführten,
gleich beim Verladen der Waaren zu erhebenden Steuer von l U pCt.
des Waarenwerthes, mit dem Ergebniss der Steuer von V« pCt.,
welche zum Besten des Ladoga-Kanals im Jahre 1859 eingeführt
wurde und vor dem Passiren dieses Kanals erhoben wird. Der erste
Steuerertrag gibt nämlich, mit 400 multiplizirt, den Werth aller in’s
Wyschnij-Wolotschok-System von der Wolga gesandten, sowie auch
an den Systemhäfen selbst verladenen Waaren, der andere gibt, mit
200 multiplizirt, den Werth der Waaren an, welche durch den
Ladoga-Kanal nach St. Petersburg oder dessen Umgegend befördert
worden sind. Diese Vergleichung ergibt nun für den inneren
Handel
des Jahres 1860 in runder Summe gegen 6 Millionen
» » 1863 » > • » 4,2 »
» » 1867 * » » »7 9
» » 1869 » » » »3 v* •
» » 1872—1874 . 2 bis 3 Millionen.
Es muss hier aber noch bemerkt werden, dass ein grosser Theil
der örtlichen Ladungen im Frühjahr bei Hochwasser befördert wird,
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230
also nicht die künstlichen Werke des Systems zu benutzen braucht
und so einer Besteuerung nicht unterliegt, und ferner muss bemerkt
werden, dass das Zurückschliessen von einer erhobenen Steuer £uf
den wirklichen Werth der besteuerten Waare selten zu richtigen
Resultaten wird führen können. Alles in Allem schätzt man den
Jahresumsatz auf mehr als 5 Mill. Rbl.
Wir schliessen hier unsere statistischen Betrachtungen, in denen
wir einen so wichtigen Funkt, wie die örtliche Bedeutung des
Systems es zur Zeit sein muss, nicht haben aufklären können. An
der Hand genauerer statistischer Daten über die Handelsbewegung
an den einzelnen Punkten würden sich interessante Schlüsse über die
Industrie und die Produktivität dieses hier angrenzenden Theils des
russischen Reiches ziehen lassen.
Die Gründe fiir das rapide Sinken der Bedeutung des Wyschnij-
Wolotschok-Systems — als Verbindungsstrasse der Wolga mit dem
St. Petersburger Hafen — liegen in den Mängeln des Systems gegen¬
über anderen neuerdings vervollkommneten Strassen. Diese Mängel
lassen sich kurz etwa darin zusammenfassen:
1) Die Schifffahrt auf dem System ist wegen der Stromschnellen
der Msta nur in einer Richtung möglich, nämlich nach St Peters¬
burg zu.
2) Die Bewegung geschieht nur periodenweis, d. h. nur in drei
Karawanen jährlich.
3) Die Msta ist bloss während 70 Tage schiffbar, daher für La¬
dungen, welche von der mittleren oder unteren Wolga kommen und
also verhältnissmässig spät im Jahr in’s System einlaufen, das Ueber-
wintern zu befürchten.
4) Das Passiren der Msta-Fälle ist riskant.
5) Der Transport ist auf dem System theurer geworden, als auf
den neueren Wegen, dem Marien-System und den Rybinsk-Bologoje-
St. Petersburger Bahnen.
Die Reisedauer für die beiden Wasser-Systeme bleibt fast die¬
selbe, nämlich von der Wolga bis St. Petersburg etwa 2 Monate,
für das Wyschnij-Wolotschok-System ist aber noch die 10— I2tägige
Reise von Rybinsk bis Twer hinzuzurechnen für den Hauptwaaren-
kontingent, welcher bekanntlich von der mittleren Wolga herstammt.
Die 4 ersten Punkte sind oben erörtert worden; hier wollen wir
nur noch etwas auf den fünften näher eingehen, und zwar die Un¬
kosten, welche mit dem Transport auf dem Wyschnij-Wolotschok-
System verknüpft sind, mit dem Tarif der Rybinsk-Bologoje- und
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231
der Nikolai-Bahn vergleichen. Die einschlägige Frage für’s Marien-
System soll weiter unten behandelt werden.
Jetzt zur Zeit kostet eine Barke im Frühjahr und Sommer in
Rybinsk 350—400 Rbl., im Winter 250—300 Rbl. Das Ausrüsten
zum Passiren der Borowitschi-Fälle (als Umtakeln und Kalfatern)
100 bis 150 Rbl. In Wolotschok kostet eine Barke, reisefertig,
300 bis 400 Rbl. In St. Petersburg wird sie, wie oben erwähnt, als
Holz für 50 bis 100 Rbl. verkauft.
Ihre Tragfähigkeit ist: bei einem Tiefgang von 15 Werschok
(26 1 /« Zoll) 7500 bis 8000 Pud; bei einem Tiefgang von 14 Werschok
(24 Zoll) 7000 Pud. (Die sog. Halbbarken sind fast ganz ausser
Gebrauch gekommen. Die Böte sind ähnlich konstruirt, wie die
Barken, nur am Schnabel und Hintertheil mehr spitz zulaufend und
werden grösstentheils nur zum Transport lokaler Waaren, und zwar
hauptsächlich unterhalb der Borowitschi-Fälle, gebraucht.)
Das Hinaufschaffen einer beladenen Barke von Rybinsk bis
Wyschnij-Wolotschok kostet 800 bis 900 Rubel; für die Strecke
Wyschnij-Wolotschok-St. Petersburg zahlt man 350 bis 450 Rbl.
Nehmen wir nun die Durchschnitts-Kostenpreise und nehmen wir
die Tragkraft einer Barke auf 7500 Pud an, so kostet der Transport
eines Pudes von Rybinsk bis Wyschnij-Wolotschok 13 Vs Kop., von
Rybinsk bis St. Petersburg 22 Vs Kop. Unter den allergünstigsten
Bedingungen verringern sich die Unkosten um 4 Kop. pro Pud bis
St. Petersburg; mithin stellt sich jetzt das Minimum auf i8Vs Kop.,
während in den Fünfziger Jahren das Maximum nur 13, in den
Sechsziger Jahren 14 bis 16 Kop. betrug.
Diese Preissteigerung hängt nicht bloss mit dem Steigen der
Holz- und also Barkenpreise und der allgemeinen Vertheuerung der
Arbeitskräfte zusammen (wenn auch dieses die Hauptfaktoren sind),
sondern es hat, in Folge des raschen Sinkens der Schifffahrt,
auch das Angebot von Arbeitskraft sich hier so verringert, dass die
Nachfrage kaum gedeckt wird, woher denn mitunter eine lokale,
ungewöhnliche Preissteigerung resultirt.
Nächst dem Marien-System ist der bedeutendste Konkurrent des
Wyschnij-Wolotschok-Systems die im Jahre 1870 eröffnete Rybinsk -
Bologoje-Bahn: im Jahre 1874 expedirte sie an Gütern über 20V2
Mill. Pud, und davon Getreide — zum grössten Theil nach St. Peters¬
burg bestimmt — 16V2 Mill. Pud, und zwar letzteres, nach erzieltem
Einvernehmen mit der Nikolai-Bahn, für 13 V2 Kop. das Pud, incl.
Auf- und Abladungsspesen. Mithin ist die Waarenbeförderung zu
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232
Wasser, über Wyschnij-Wolotschok, auch unter den günstigsten Be¬
dingungen theurer, als per Bahn. Der einzige Vortheil des Wasser¬
transportes ist der, dass die Barken in St. Petersburg zugleich als
Niederlagen dienen können, und man die Ladung bis zu einer etwai¬
gen Preissteigerung in ihnen liegen lassen kann, ohne Miethzins
zahlen zu müssen. Hierin sowohl, als auch in dem Uebelstand, dass
die Schleusen desMarien-Systems nicht mehr, als 3000Barken während
der Navigationsperiode durchlassen können, und dass letztgenanntes
System bei Hochwasser wegen Ueberschwemmung der Leinpfade
schwer zu passiren ist (z. B. 1867 fast den ganzen Sommer über),
hierin also liegt die Erklärung dafür, dass überhaupt von Rybinsk
aus Barken in’s Wyschnij-Wolotschok-System einlaufen. Jedenfalls
braucht die Rybinsk-Bologoje-Bahn die Konkurrenz dieses Wasser¬
weges nicht besonders zu fürchten, sondern passt ihren Tarif den
für das Marien-System geltenden Transportkosten an.
Aus dem Vorhergehenden könnte man nun den Schluss ziehen,
dass das Wyschnij-Wolotschok-System, dessen Instandsetzung, Er¬
haltung und Verwaltung kolossale Summen verschlungen haben und
noch verschlingen, jetzt sich überlebt habe und die für dasselbe aus¬
geworfenen Gelder, im Betrage von gegen 140,000 Rbl., eine un¬
nütze Last für den Staat sei, zum Vortheil der Besitzer von einigen
400 Barken, welche es vortheilhafter finden, höhere Transportkosten
zu tragen, um nur in St. Petersburg keinen Miethzins zahlen zu
müssen. Ja, es liegt, könnte man ferner sagen, auf der Hand, dass
für die eben bezeichnete Summe an den besten Plätzen der Haupt¬
stadt Lokale gemiethet werden können, welche die Ladung dieser
400 Barken leicht bergen könnten. Auch auf die Entgegnung,
dass ja das System auch den Transport lokaler Waaren vermittele,
welche zur Zeit den Werth von mehr als 5 Mill. Rbl. repräsentiren,
könnte die Antwort gegeben werden, dass zur Zeit die künstlichen
Wasserwerke hauptsächlich nur für die Schifffahrt auf der oberen
Wolga von Nutzen sind, und zwar das Beyschlot der oberen
Wolga und die die Twerza speisenden Reservoire, die sonstigen
örtlichen Waaren aber das Frühjahrhochwasser benutzen und die
künstlichen Reservoire wohl entbehren können.
Solche Folgerungen, welche darauf hinzielen, das Unnütze der
Instandhaltung des Systems und der Verausgabung der bedeuten¬
den, zu diesem Zwecke ausgeworfenen Summen darzuthun, wären
jedenfalls nicht ganz am Platz. Denn abgesehen davon, dass das
System an und für sich für den Handel von Nutzen ist, so ist auch
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nicht zu übersehen, dass es, im Verein mit dem Marien-System, die
Rybinsker- und Nikolai-Bahn nöthigt, einen mässigen Tarif anzu¬
setzen, und dass es dadurch, so zu sagen, indirekt dem Handel von
Nutzen ist
Andererseits muss aber auch Jeder einsehen, dass im Augenblick
im Staat wichtige ökonomische Umwälzungen vor sich gehen, deren
Endresultate Niemand voraussehen kann. Auf diese Umwälzungen
hat aber nicht allein das schon jetzt so bedeutende, sich immer mehr
und mehr ausbreitende Eisenbahnnetz Einfluss, sondern alle Refor¬
men der jetzigen Regierung. Da haben wir die Aufhebung der
Leibeigenschaft, deren Folgen in einem, anfangs vielleicht kaum
vorausgesehenen Maasse, in allen Gebieten der Volkswirthschaft zu
merken sind; da ist die Aufhebung des Otkup 1 , die Gerichtsreform,
da sind die Landschafts-Institutionen und die Städteordnung, Schu¬
len etc. etc., — alle arbeiten sie auf eine ökonomische Entwickelung
des Staates hin, über deren Endresultate keine genauen Schluss¬
folgerungen gemacht werden können.
Welche Dimensionen die Handelsbewegung auf der Wolga in
Folge der Sibirischen Bahn annehmen wird, welche Waaren vom
Ural dorthin ihren Weg nehmen werden u. s. w. — über all das
kann man nur mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen auf¬
stellen. Nur das kann mit Sicherheit vorausgesagt werden, dass
der Waarentransport immer mehr und mehr wachsen wird, und
dass die Rybinsker Bahn und das Marien-System nicht wohl im
Stande sein könnten, ihn zu bewältigen. Auch die örtlichen
Fliesbrüche und die Steinkohlenlager um Borowitschi, welche bis
jetzt nicht ausgebeutet worden sind, auch sie können mit der Zeit
ein beträchtliches Waarenkontingent für das Wyschnij-Wolotschok-
System stellen.
Der radikalen Meinung über die Nutzlosigkeit des Wyschnij-Wolo-
tschok-Systems kann man, in Folge der Erwartung künftiger Ver¬
kehrszunahme zwischen der Wolga und St. Petersburg, mit einem
grandiosen Projekt antworten, welches darin besteht, die obere
Wolga, die Twerza und Msta zu kanalisiren und auf diese Weise die
Wassermassen, welche die genannten Flüsse speisen, in mehr ratio¬
neller und ökonomischer Weise zu verwerthen, dadurch eine kon-
tinuirliche Schifffahrt zu ermöglichen und einen Handelsweg herzu-
* Durch die Aufhebung des Otkup (Pacht) wurde es auch den früheren Leibeigenen
möglich, Eigenthum zu erwerben.
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234
«teilen, mit welchem eine Eisenbahn durchaus keine Konkurrenz aus-
halten könnte.
Ein solches Projekt, radikal im entgegengesetzten Sinn, ist vom
technischen Standpunkt durchaus ausführbar, nur ist es für den
jetzigen Handelszustand nicht am Platze, oder mit andern Worten:
es ist jetzt nicht zeitgemäss. Dagegen muss wohl jedenfalls zur
Zeit das Bestreben dahin gehen, die mit grossen Opfern geschaffenen
Werke zu erhalten, der Jetztzeit und ganz besonders den kommen¬
den Zeiten zum Nutzen. Ob nicht vielleicht bei dem unbedeutenden
Verkehr einige Ersparnisse im Budget würden gemacht werden kön¬
nen, das zu untersuchen ist hier nicht der Ort.
Zur Erklärung dessen, warum Rybinsk gleichsam als Ausgangs¬
punkt der Schifffahrt auf dem Wyschnij-Wolotschok-System behan¬
delt wurde, möge Folgendes hinzugefügt werden.
Der Wasserweg, welcher die kornreichen Gouvernements der
mittleren Wolga mit St. Petersburg verbindet, zerfällt in zwei cha¬
rakteristische Hälften: die eine erstreckt sich von der mittleren
Wolga bis Rybinsk und hat ein freies Fahrwasser, auf welchem
Barken ganz kolossaler Dimension, mit einer Tragfähigkeit bis
60,000 Pud, wohl passiren können; die andere, von Rybinsk
bis St. Petersburg, auf welcher leichtere Fahrzeuge von solchen
Dimensionen benutzt werden müssen, dass sie die Untiefen, Wasser¬
fälle und Schleusen passiren können. Ihre Maximal-Belastung be¬
trägt 20,000 Pud (die Unshaken des Marien-Systems). Daher ist
Rybinsk der Ort, an welchem die nach Norden bestimmten Waaren
umgeladen werden müssen und welcher also als Ausgangspunkt der
Navigation zu betrachten ist. (Der Export aus den Gouvernements
der oberen Wolga kommt erst in zweiter Reihe in Betracht.)
Die Masse der auf der Wolga nach Rybinsk kommenden Waaren
beziffert sich auf ungefähr 60—70 Mill. Pud jährlich, davon etwa
85 pCt. Getreide, die übrigen 15 pCt. Talg, Salz, Potasche, Eisen etc.
Wir haben es hier also grösstentheils mit Waaren zu thun, welche
bei grossem Gewicht einen geringen Werth repräsentiren, für welche
also die Transportkosten sich auf ein Minimum zu stellen haben,
selbst auf Kosten der Schnelligkeit der Beförderung. Daraus sieht
man deutlich, eine wie kolossale Bedeutung die Wasserwege für
Russland haben, sie, die bei weiten Transportstrecken in Bezug auf
Billigkeit allen andern Wegen voranstehen, wenn sie nur genügend
vervollkommnet sind.
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*35
Es kann daher die besondere Aufmerksamkeit, welche der jetzige
Minister der Wegekommunikation den in neuerer Zeit durch die
Eisenbahnen ganz in den Hintergrund gedrängten grossen Wasser¬
strassen des Reiches zuwendet, nicht dankbar genug anerkannt
werden.
Geschichtliches.
Die Geschichte der von der Wolga zur Ostsee führenden, daher
für Russland so bedeutenden Verkehrsstrassen dürfte insofern nicht
ohne Interesse sein, als sie mit zur Illustrirung des Verkehrslebens
des Staates überhaupt beiträgt, daher auch nicht interesselose Streif¬
lichter auf das Kulturleben in demselben, für eine längere Zeit¬
periode, werfen muss.
Die älteste Handelsstrasse der Slaven zum Waräger Meer (Ost-See),
so berichtet die Chronik Nestor’s, war: vom Dnjepr zu Lande
zur Lowatj, dann diese zu Boot hinauf in den Ilmen-See, aus dem
Ilmen den Wolchow hinab, durch den Ladoga-(früher Newa ) See in
die Newa und weiter zum Finnischen Meerbusen.
Die Msta und Twerza gewannen erst mit dem Wachsen der poli¬
tischen Macht und des Handels der Stadt Nowgorod Bedeutung als
Verkehrsstrassen. So lesen wir, dass der Grossfürst von Wladimir
im Jahre 1182 die Stadt Twer an der Twerza-Mündung anlegt, um
sein Fürstenthum vor den Ueberfällen der die Twerza herabfahren¬
den Nowgoroder besser beschützen zu können. In ihrer an der
Twerza belegenen Grenzfestung Torshok trieben diese einen schwung¬
haften Handel und hatten hier ihre kolossalen Niederlagen schon zu
jener Zeit, wo sie, mit zum Hansa-Bund gehörend, hauptsächlich
den Austausch ausländischer mit den aus den Wolga-Gegenden, dem
Kaspischen Meer und Persien kommenden russischen und persischen
Waaren vermittelten. Schon damals hatte also durch die Nowgoro¬
der der Verkehr auf der Twerza, der Msta und dem Wolchow be¬
deutende Dimensionen angenommen, obgleich die Passage auf ihnen
eine ungemein schwierige war. Man fuhr damals nämlich von der
Wolga in kleinen Böten die Twerza hinauf bis zur Einsiedelei des
Nikola-Stolb und musste dann, um zur Zna zu gelangen, über die
Wasserscheide einen Landweg von 10 Werst machen. Den Namen
Wyschnij-Wolotschok, welcher so viel als «oberer Fahrweg» bedeutet,
hat die hier an der Zna gelegene Ortschaft, und später das ganze be¬
trachtete Wassersystem eben von diesem Landweg erhalten. Nach
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kurzer Wasserfahrt, die Zna, den Msta-See und die obere Msta hinab,
mussten die Waaren, zur Vermeidung der Borowitschi-Fälle, auf
dem sog. «unteren Fahrweg» 93 Werst zu Lande transportirt wer¬
den, während die Wasserfahrzeuge den schwierigen Flussweg leer
hinuntergeleitet wurden, ja bis zur Zeit Peters des Grossen passirten
nur kleine Flösse beladen diese Stromschnellen und auch nur in der
kurzen Hochwasserperiode. War man die Msta glücklich herab¬
gekommen, so hatte man noch die gefährliche und schwierige
Passage des Ilmen- und Ladoga-Sees und des Wolchow zu bestehen.
Natürlich war unter diesen Umständen der Waarentrasport mit
grossen Unkosten verknüpft, der Handel der Wolga mit der Ostsee
sehr gehemmt. Dass aber die erwähnten Uebelstände, bei der
offenbar grossen Wichtigkeit einer direkten Verbindung der Wolga
mit der Ostsee, bis zur Zeit Peter’s des Grossen fortdauern konnten,
erklärt sich aus dem Umstande, dass die schwedischen Festungen,
welche die Newa-Mündung beherrschten, schon an und für sich den
Handel Russlands mit der Ostsee in der Hand hatten und Regierung
wie Kaufmannschaft den im XVI. Jahrhundert entdeckten Wasser¬
weg, die Dwina hinauf in’s Weisse Meer, poussirten und die Ostsee
ganz vergassen, natürlich mit Ausnahme Nowgorods.
Erst Peter der Grosse erkannte in einer direkten Wasserverbindung
der Wolga mit der Ostsee ein Mittel zur Vergrösserung der See¬
macht, zur Entwickelung des Handels und zur Einführung Russlands
in den europäischen Staatenbund, ja für die neue Hauptstadt, welche
in den unwirklichen Newa-Sümpfen angelegt wurde, war ein solcher
Wasserweg eine Lebensfrage ersten Ranges.
So erliess denn auch der Zar im Jahre 1703, gleich nach der Er¬
oberung Ingermanlands, den Befehl, die Twerza und Zna mit einem
Kanal zu verbinden und durch zweckmässig angelegte Schleusen das
Speisen der Msta sowohl, als auch der Twerza von der Zna aus zu
ermöglichen 1 . #
Mit der ohne Aufenthalt ausgeführten Grabung des Twerza- (da¬
mals Gagarin-) Kanals ging natürlich Hand in Hand das Reinigen
und Reguliren des Fahrwassers in den Stromschnellen und Untiefen
der System-Zweige.
1 Es ist fUr unsere Zeit etwas befremdend, in diesem Kaiserlichen Befehl zu lesen,
dass die bei den Kanal-Arbeiten zu beschäftigenden Tagelöhner für je 8 Tage — 3 Kop.
pro Mann an Lohn erhalten sollen. Dann ist die Monatsgage von 80 Gulden, welche
den speziell zu diesen Arbeiten in’s Land berufenen holländischen Schleusen meistern
gezahlt werden sollte, jedenfalls als eine sehr grosse anzusehen.
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Nichtsdestoweniger konnte, wegen Wassermangels, der Tiefgang
der den neuen Weg passirenden Fahrzeuge nur ein sehr geringer
sein, ja eine grosse Zahl derselben musste gleich in den ersten Jahren
seiner Existenz, wegen zu niedrigem Sommer- und Herbstwasser¬
stand, im System selbst überwintern. Diese Uebelstände bewogen
den Zar, andere Wege, als den eben geschaffenen Twerza-Msta-Weg
zur Verbindung der Wolga und Ostsee zu suchen. Die Folge dieser
Voruntersuchungen war, dass der Kaiser die Vereinigung derjenigen
Flüsse wählen zu müssen glaubte, welche später in der That Zweige
der nach ihm geschaffenen Marien- und Tichwinka-Systeme gewor¬
den sind. So gehört denn auch der erste Gedanke zur Herstellung
dieser letztgenannten Wasserwege, welche in der neueren Zeit,
wo der Stern des Wyschnij-Wolotschok-Systems sich stark zum Unter¬
gang geneigt hat, die grösste Bedeutung gewonnen haben, dem
Genius des grossen Reorganisators des russischen Reiches. Seine
einflussreichsten Berather aber vertheidigten konsequent die Ansicht,
dass das Wyschnij-Wolotschok-System leichter und billiger in einen
genügend guten Zustand gebracht, als die projektirten Wasserwege
neugeschaffen werden könnten. Man legte sich also mit aller Macht
auf den weiteren Ausbau des Systems. Es erfolgten Regeln über
die Art und Weise der Schifffahrt, über Lootsen, über obligatorische
verbesserte Konstruktion der System-Schiffe etc., und Tausende von
Arbeitern wurden wiederum bei den Stromregulirungsarbeiten der
Msta und Twerza beschäftigt. Dem Hauptübel, dem Wasser¬
mangel, war aber immerhin nicht abgeholfen. Daher, nach wie
vor: minime Fahrzeuge, Unglücksfälle, Zeitverlust, Ueberwintern
auf dem System.
Da macht, Anfang 1719, Michael Iwanowitsch Serdjukoiv , ein
Handelskommis aus Nowgorod, dem Zaren den Vorschlag, sowohl
bei Wyschnij-Wolotschok, durch Vereinigung der Zna und Schlina,
und, durch entsprechende Zuleitungskanäle und Sperrdämme, ein
grosses Wasserbassin zu schaffen, als auch das Wasser der Neben¬
flüsse anzusammeln und zur nöthigen Zeit gehörig zu verwenden,
d. h. in die Hauptströme, zur zeitweiligen Hebung des Wasser¬
spiegels, zu leiten ; kurz, er schlägt vor, dem System den Charak¬
ter zu verleihen, welchen wir in der oben gebrachten Beschreibung
desselben als noch jetzt bestehend gefunden haben. Sofort übergab
ihm der Zar, dessen grosses Verdienst stets darin bestanden hat,
die richtigen Männer zur Ausführung seiner grossen Pläne gewählt
und nie mit der Belohnung gekargt zu haben, wenn sie seinen Er-
Kuss, Bevno. Bd. IX l 6
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Wartungen entsprochen hatten, die Instandsetzung, resp. Instand¬
haltung des Systems nach dem von ihm entwickelten Plan, wofür
ihm dann folgende eigentümliche Remuneration zu Theil wurde:
die an den System-Flüssen anliegenden Ländereien, in einem Strich
von 30 Faden Breite auf jedem Ufer, erhält er zu freier Nutzniessung,
welcher Art diese Ländereien auch seien, wem sie auch gehören
mögen; er kann auf diesem Strich, wo es ihm gut dünkt, Mühlen,
Fabriken und Schenken anlegen und abgabenfrei exploitiren; zum
Bau der Systemwerke, wie auch seiner eigenen Etablissements steht
ihm freie Benutzung aller Wälder zu, welche ihm an jedem Bauplatz
gerade am bequemsten liegen sollten; er hat das Recht, einen be¬
stimmten Zoll von den durchpassirenden Barken und Flössen zu
erheben, von ersteren pro Längenfaden 5, später 10 Kop., von letz¬
teren im Ganzen 11 Kop. pro Stück. Alle diese Einnahmen und
Nutzniessungen werden ihm (Serdjukow) anfangs nur zeitweilig, nach
seinen ersten erfolgreichen Arbeiten (1722) aber auf Erben und
Erbeserben übertragen *.
Es scheint das ein gefährliches Spiel, einem Privatmann, ohne
Kontrolle, sowohl Eingriffe zu erlauben in fremdes Eigenthum (hier
z. B. Waldbenutzung) zu des Staates, wie auch zum eigenen Nutzen,
als auch freie Hand zu gestatten, die Bewegung der Flussfahrzeuge
nach Gutdünken hemmen und freigeben zu können. Aber der grosse
Zar verstand es, den Charakter eines Jeden richtig abzuschätzen;
und in der That rechtfertigte auch Serdjukow vollständig das in ihn
gesetzte Vertrauen, trotz der Schwierigkeiten von Seiten aller Neidi¬
schen, trotz der Störungen der Bewohner anliegender Ortschaften,
welchen bei direkter Kommunikation und bei abnehmenden Un¬
glücksfällen an den durchpassirenden Barken gegen früher materielle
Nachtheile erwachsen mussten.
Wir können hier nicht genauer auf die interessanten Arbeiten ein-
gehen und erwähnen nur, dass in kurzer Zeit die Werke auf der
Twerza und um Wyschnij-Wolotschok im Grunde fast in derselben
Weise (nur die Dimensionen der Bauten am letzteren Orte waren
kleiner) dastanden, wie man sie jetzt findet; dass ferner eine grosse
Zahl von Mahl- und Sägemühlen und drei grössere Fabriken (für Seife-,
Branntwein- und Bierfabrikation) erbaut und in Gang gesetzt waren;
und bei alle dem war von Klagen gegen Serdjukow über ungerechte
1 Die Grundbesitzer, deren Land durch die projektirten Anstauungen unter Wasser
gesetzt werden sollte, erhalten, nach diesem Kaiserlichen Ukas, Entschädigung aus
dem Rcichsschatz, «da es Sache des ganzen Reiches ist», heisst's im Ukas.
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Eigenmächtigkeiten und Eingriffe in fremdes Eigenthum fast nichts
zu hören l .
Die Ehrlichkeit, der klare Verstand und die rastlose Thätigkeit
zum Nutzen des Landes haben den Serdjukow, Vater und Sohn, ein
Anrecht erworben, dass die Nachwelt ihre Namen mit Achtung und
Dankbarkeit erwähnt. Bei ihrer Thätigkeit und Umsicht versteht
es sich von selbst, dass sie sich auch eine materiell glückliche Lage
schufen. So waren schon 1743 ihre Verhältnisse derart, dass sie
sich erbieten konnten, auf eigene Kosten die Reinigung und Schiffbar¬
machung der Borowitschi-Fälle, welche bis dahin nicht zu ihrem
Rayon gehört hatten, vorzunehmen. Rasch und genial führten
sie diese Arbeiten aus, welche eine merkliche Abnahme der Zahl
der Unglücksfälle zur Folge hatten. (Die möglichst vollständige
Beseitigung aller Gefahr blieb der Folgezeit Vorbehalten.) Man
erstattet ihnen ihre Auslagen zurück, erhebt sie in den Adel und
verleiht ihnen eine hohe Stellung in der von Peter dem Grossen ge¬
schaffenen Rangordnung.
Mit der Abnahme der Gefahr und der Transportkosten beim
Passiren unseres Systems stieg natürlich auch die Frequenz auf ihm,
so dass es schon in der oben betrachteten Zeit, d. h. um die Mitte
des XVIII. Jahrhunderts, unbedingt die erste Stelle unter allen Ver¬
bindungswegen zwischen der Wolga und der Ostsee eingenommen
hatte, ja eine Bedeutung gewonnen hatte, wie sie Peter der Grosse
wohl nicht geahnt hatte. So ist schon 1757 der Waarentransport
hier auf ca. 10 bis 12 Mill. Pud gestiegen.
Da starben kurz hinter einander die beiden Serdjukow, Vater und
Sohn, und es übernahm ihre Rechte und Pflichten der Enkel des
Michael, ein leichtlebiger und unerfahrener junger Mann, welcher,
wie die vielen bald eingelaufenen Klagen der Schiffer und Kaufleute
zeigen, weder moralisch noch geistig seiner Stellung gewachsen
war. Eine 1764 aus St. Petersburg abgeschickte Untersuchungs-
Kommission, unter Vorsitz des in der Wasserkommunikation Russ¬
lands rühmlichst bekannten Generals Dedenjew, findet die Kanäle
und Wasserbauten in argem Zustande und, was die administra¬
tive Seite betrifft, dass die Barken-Bewegung, resp. Sistirung
dem materiellen Vortheil der Serdjukow’schen Etablissements,
1 Die Fabriken Serdjukow’s, welche jetzt zur Zeit verfallen sind, lagen am grossen
Wasserbassin bei Wyschnij Wolotschok, welches in Folge dessen den Namen Fabrik-
(auch Serdjukow-) Reservoir erhielt.
* 16*
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insbesondere der Schenken und Fabriken, untergeordnet ist 1 .
Es war also gekommen, wie es kommen musste, wenn der Mann,
welcher die von Peter dem Grossen gegebenen Vollmachten in die
Hand bekam, nicht die intellektuellen und moralischen Eigenschaften
hatte, welche als Grundbedingung der Ausstellung jener Vollmach¬
ten gedient hatten. — Der junge Serdjukow wurde gegen eine Geld¬
entschädigung von seinem Posten entfernt, welchem er seit 1764
noch einige Zeit formell vorgestanden und auch dann sich immer
mehr und mehr unmöglich gemacht hatte; seine Kumpane, die, die
Aufsicht führenden Kronsbeamten wurden entlassen; mit einem
Wort, die ganze Verwaltung wurde gewissenhafteren Händen an¬
vertraut und auf einer gesunderen Basis aufgebaut, wo nicht der
persönliche Vortheil eines Mannes der maassgebende Faktor war.
Die Klagen der Handeltreibenden verstummten so ziemlich, der
Handel belebte sich und nahm einen bedeutenden Aufschwung, so
dass für die Jahre 1765 bis 1775^ die Durchschnittszahl der das
System jährlich passirenden Fahrzeuge sich auf 3000 belief, mit
einer Gesammtladung von 13 bis 15 Mill. Pud.
Ein so bedeutendes Steigen des Handels zwang natürlich die Re¬
gierung, nicht mit Mitteln zu kargen, sondern alles nur Mögliche zu
thun, um der Schifffahrt alle Gefahr und allen Aufenthalt aus dem
Wege zu räumen. Neues wurde in der folgenden Zeit freilich
wenig geschaffen, dagegen das Alte, mit grossem Kostenaufwand,
zweckmässig umgebaut und hauptsächlich das Augenmerk darauf
gerichtet, durch Erhöhung des Wasserspiegels auf den Systemflüssen
den Tiefgang, und also die Tragkraft der Fahrzeuge, zu erhöhen,
was hauptsächlich durch Erhöhung der Reservoir-Sperrdämme und
Verbindung neuer Gewässer, mittelst Kanälen, mit den schon be¬
stehenden Wasserreservoirs erzielt wurde, weil es so möglich wurde,
die Masse des, zum Speisen der Navigationsstrasse dienenden Stau¬
wassers zu vergrössern.
4 Welche Ordnung damals auf dem System geherrscht haben mag, davon zeugt
unter Anderem folgende, auf die Nachwelt überkommene Begebenheit: Eine Barken¬
karawane sollte aus den Wyschnij-Wolotschok-Kanälen in die Msta abgehen; die Re-
servoir-Beyschlote und Schleusen waren bereits geöffnet, da entspann sich zwischen der
Flusspolizei und den Schilfern ein Streit in Betreff der Reihenfolge beim Passiren der
Schleusen, welcher richtig so lange dauerte, bis das Reservoir leer war. Die Bey-
schlote und Schleusen mussten wieder geschlossen werden, ohne dass auch nur eine
Barke hindurchgegangen wäre, und die Karawane musste ruhig liegen bleiben, bis sich
wieder eine genügende Wassermenge angesammelt hatte.
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Nach dieser kurzen Charakterisirung glauben wir die detaillirte
Aufzählung der Arbeiten, welche in der nächsten Periode, bis zum
Jahre 1797, d. i. bis zum Eintritt des Grafen Sievers in die Verwal¬
tung der Wasserwege des Reiches, geschaffen wurden, unterlassen
zu können. Als neu wäre besonders das Schaffen des Beresow- und
Rudnjew-Reservoirs, das Graben des Welje-Kanals zur Schlina und
andere ähnliche Bauten zu nennen; die übrigen Arbeiten bestanden
im zweckmässigen Umbau alter, grösstentheils aus Holz ausgeführ¬
ter und daher stark die Remonte erheischender Bauten in Stein.
Die Arbeiten wurden solid und dauerhaft und mit grossem Kosten-
aufwande ausgeführt. So verausgabte man z. B. für den Umbau
der, schon von Serdjukow angelegten Msta-Schleuse, allein über
133,000 Rbl. Am eifrigsten betrieb man die Arbeiten vom Jahre
1785 an, wo die Kaiserin Katharina mit Potemkin auf ihrer Rund¬
reise durch Russland auch das Wyschnij-Wolotschok-System bereiste
und die ausgiebigsten Geldmittel zur Disposition stellen Hess (gegen
900,000 Rbl.) \
Im Jahre 1797 beginnen die Arbeiten beim Sievers-Kanal und
dauern bis 1805. Die flachbödigen, schwerbeladenen und wenig
lenksamen Barken der Msta mussten früher, um zum Wolchow zu
gelangen, eine kurze Strecke über den Ilmen-See schiffen, welches
aber nur bei stillem Wetter möglich war. Ein etwas heftiger Wind,
er mochte wehen aus welcher Richtung er wollte, unterbrach die
Navigation entweder gänzlich oder verknüpfte wenigstens die grösste
Gefahr mit ihr; denn die Barken wurden entweder durch den Wellen¬
schlag mit Wasser vollgeschüttet, oder erhielten durch das Schau¬
keln Lecke, oder wurden auf den Strand geworfen und zuweilen
wohl gar in die See hinausgetrieben, zu geschweigen, dass es bei
widrigem Winde äusserst schwierig war, sie vorwärts zu bringen.
Mit einem Wort, die kurze Fahrt über den See war gewöhnlich mit
mehr oder weniger Gefahr und Schwierigkeit verknüpft und zuweilen
mussten die Barken an der Msta-Mündung still liegen, um günstiges
Wetter zu erwarten. Als natürliche nächste Folgen äusserten sich
verspätete Ankunft an den Ort der Bestimmung und Ueberwinterung
an irgend einem Uferpunkt der Fahrlinie zwischen Nowgorod und
St. Petersburg, Ereignisse, welche stets mit empfindlicher Ver¬
mehrung der Transportkosten verbunden waren, ungünstig für die
1 In den Jahren 1789 und 1790 wurden gegen 2000 kriegsgefangene Schweden bei
diesen Arbeiten beschäftigt.
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Konsumenten auf die Preise der ersten Lebensmittel in der Haupt¬
stadt wirkten und für den Kaufmann das Stellen der Waare zu einem
etwa kontraktlich bestimmten Termin illusorisch machte. Ausserdem
befreite sich der See im Frühjahr geraume Zeit später von seiner
Eisdecke, als die in ihr und aus ihr fliessenden Systemströme.
Dieses waren die Gründe, welche die Regierung bewogen, eine
halbe Million Rubel zur Schaffung des genannten Sievers-Kanals
auszuwerfen, um so die Barken des mühevollen Passirens der Msta-
Mündung zu überheben und zu verhindern, dass sie ein machtloses
Spielzeug der hochgehenden Wellen würden.
Mit zum Beweis dafür, dass eine so bedeutende Ausgabe gerecht¬
fertigt, ja geboten war, werfen wir einen Blick auf die Zahlen, welche
die Frequenz auf dem System für die Zeitperiode 1775—1812 aus-
drücken. Wir finden in ihnen wiederum eine deutliche Bestätigung
des Satzes, dass die Entwickelung des Handels mit der Vervoll¬
kommnung der Kommunikationswege gleichen Schritt hält. Die
Handelsbewegung nahm alljährlich zu und in den 12 ersten Jahren
des XIX. Jahrhunderts passirten jährlich durchschnittlich 4750 Bar¬
ken die Twerza 1 , was mit dem Maximum der Periode 1765—1775
verglichen, eine 1 */» Mal so grosse Zahl gibt. Berücksichtigt man
nun noch, dass die Tragfähigkeit der Barken durch das Anlegen
neuer und Vergrösserung der alten Reservoire um’s i l /2 fache ge¬
stiegen war, so findet man, dass der Güterverkehr sich in der kurzen
Zeit von 40 Jahren verdreifacht hatte.
So war denn nach den, freilich kostspieligen Arbeiten, welche
nach dem Abtreten der Familie Serdjukow von Seiten der Krone
ausgeführt worden waren, das Wyschnij-Wolotschok-System eine so
bedeutende Verkehrsader geworden, dass auf ihm von der Wolga aus
1 Anm. Das Kriegsjahr 1812 gibt bloss die Zahl 3062, was wohl, ausser durch* die
allgemeine Handelsstockung, auch mit dadurch zu erklären ist, dass die Flusspolizei
den Befehl hatte, im Fall einer Annäherung des Feindes die Getreide-Ladungen aller
etwa überwinternden Barken in’s Wasser zu schütten.
Einem ähnlichen Befehl, lautend auf Vernichtung der Ladung, begegnen wir unter
Peter dem Grossen. Damals (1718) handelte es sich darum, die Barken alter Kon¬
struktion, welche, trotz des erlassenen Verbots, dennoch im Verkehr waren, zu ver¬
nichten und dadurch die Kaufleute, welche die obligatorische neue Konstruktion nicht
angenommen hatten, zu bestrafen. Der Befehl wurde vom Mandator, dem Garde-
Lieutenant Fedor .Pumjanzow, nicht ausgefuhrt; er (Rumjanzow) wmrde dafür vor ein
Gericht, unter Vor itz des erzürnten Zaren selbst gestellt, aber nach einer gut geführ¬
ten Selbstverteidigung freigesprochen und mit Gunstbezeugungen, für das muthvolle
Vertreten seiner rationellen Ansichten, bis in sein spätes Alter überhäuft.
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nicht nur St. Petersburg versorgt wurde, sowie ein Theil de$ Gou¬
vernements Twer und die Gouvernements Petersburg und Nowgorod
(deren Ernteertrag selten den Konsum decken konnte), sondern
dass auf ihm auch der bedeutendste Theil der Waaren, welche der
St. Petersburger Markt verschiffte, dem auswärtigen Handel zuge¬
führt wurde.
Diese Waaren bestanden hauptsächlich in Koni und Mehl , welches
letztere wiederum zum grossen Theil aus den um Borowitschi liegen¬
den Mühlen verladen war. So lange nämlich das Passiren der dorti¬
gen Stromschnellen mit Gefahr verbunden war, pflegten die Kauf¬
leute das Korn oberhalb derselben auszuladen, auf den dortigen
Mühlen, wo eine grosse Wasserkraft mit leichter Mühe nutzbar
gemacht werden konnte, mahlen zu lassen und dann, unterhalb der
Stromschnellen, an dem Flusshafen Poterpeliky, auf die leer herunter¬
geleiteten Barken zu verladen.
Wie gross der eben erwähnte Absatz in die anliegenden Goiruer-
nements , vom System aus, zur betrachteten Zeit gewes^i sein
mag, lässt sich wegen Mangels an statistischen Daten nicht genau
angeben; so viel sich aber aus dem Ertrag einer Steuer, welche zum
Besten des Sievers-Kanals von allen die untere Msta passirenden
Barken erhoben wurde, ersehen lässt, ist die Zahl der, in die Twerza
eingelaufenen, nur etwa um 800 durchschnittlich verschieden
von der Zahl der besteuerten. Dieser Unterschied repräsentirt nun
die Zahl der unterwegs, d. i. auf dem System ausgeladenen, aber
zugleich auch der Kronsbarken, welche beim Einlaufen in die Twerza
mitgezählt wurden, aber, wie überall auf dem System, so auch an
der unteren Msta, keiner Steuer unterlagen. Für den Wolchow ha¬
ben wir nicht einmal solche Annäherungswerthe. Wie gross der
Export aus den System-Hafenplätzen zur Zeit gewesen sein mag,
darüber liegen keine Angaben vor. So viel steht jedenfalls fest,
dass der Absatz in die, in Frage kommenden Gouvernements, damals
relativ nicht sehr bedeutend war, während er jetzt, bei der starken
Abnahme der Frequenz auf dem System überhaupt, relativ eine
ansehnliche Rolle spielt.
Die grosse, soeben skizzirte Bedeutung des Systems in dieser
Zeitperiode, erheischte natürlich, dass die Regierung ihn nicht nur in
technischer, sondern auch in administrativer und polizeilicher Hin¬
sicht in einen möglichst vollkommenen Zustand zu bringen bestrebt
war. Aus der Zahl der dahin zielenden Maassregeln und Verord¬
nungen heben wir nur einige hervor: es wird festgesetzt, die Zeit des
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Barkenbeladens im Frühling und die dabei zu befolgende Ordnung,
der Tiefgang der Fahrzeuge (im Frühling 25, sonst 21 Zoll oder
weniger, je nach dem Dafürhalten des Borowitschi-Comptoirs), die
Dimensionen der Barken (Länge bis 17 Sashen, Breite bis 4 Sashen),
der sog. Halbbarken (Länge 9 bis 12 Sashen, Breite weniger als
3 Sashen), Regeln in Betreff des Ausladens und Ueberwinterns, über
das Engagement von Arbeitern, die Besichtigung; ferner Regeln,
welche sich auf das Passiren der Kanäle und Stromschnellen bezogen,
Strafgesetze für Nichtbesetzung etc. etc. Ja, man hält es für gebo¬
ten, zum Besten der Schifffahrt zu folgender Zwangsmaassregel zu
greifen: falls, auch bei erhöhtem Tagelohn, nicht die Anzahl von
Extra-Arbeitern zu erlangen wäre, welche eine Karawane zum
Passiren von schwierigen Stromparthien (z. B. der Borowitschi-Fälle)
nöthig haben sollte, so ist der betreffende Kreishauptmann gehalten,
sie auf eine erfolgte Requisition hin sofort zu beschaffen, wogegen,
im Fall einer der Arbeiter verunglückt, den Seinigen eine einmalige
Entschädigung von 360 Rbl. von Seiten der Krone zugesichert wird.
Dass die Ausführung obenerwähnter Vorschriften und eine der Be¬
deutung des Systems angemessene Instandhaltung desselben ein
grosses Personal erheischte, lässt sich leicht denken: 1809 bestimmt
der damalige Chef der Wegekommunikation, Herzog Georg von
Holstein-Oldenburg, dafür jährlich die Summe von 141,000 Rbl.
(incl. für Krankenhaus und Schule).
Ueberhaupt sind die Geldmittel, welche dem Unterhalten, dem
Ausbau und der Verwaltung des Systems zu Gebote stehen, sehr
erheblich, sowohl in der eben betrachteten Periode, als auch in der
Folgezeit. Von all den Werken, welche in der Folgezeit,— nehmen
wir die Jahre 1812 bis 1843 — dafür geschaffen wurden, Hesse sich
dieselbe kurze Charakteristik geben, wie für die vorhergehende Pe¬
riode, d. i. vor dem, die Handelsthätigkeit lähmenden Kriegsjahr.
Wir können uns aber mit dieser kurzen Charakterisirung nicht be-'
gnügen, sondern müssen einige Bauwerke namentlich anführen, weil
sie nicht nur in technischer Hinsicht bemerkenswerth sind und stu-
dirt zu werden verdienen, sondern auch weil sie dem System die
Vollkommenheit verliehen haben, welche es im Augenblick besitzt.
Hierher gehören vor Allem die vom Ingenieur Koritzkij 1820—1831
genial erdachten und ausgeführten Arbeiten, welche seinem Namen
nicht nur in den Annalen des Wyschnij-Wolotschok-Systems, son¬
dern auch in der Baukunst, speziell Hydrotechnik, einen ehrenvollen
Platz verschafft haben. Ihm gehört das Verdienst, die Schleusen
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wesentlich vervollkommnet, durch seine Arbeiten an den Borowitschi-
Fällen das Barkenverunglücken ganz beseitigt oder, schlimmsten
Falles, wesentlich abgeschwächt und das Hauptübel der Kommu¬
nikation auf dem System, das Ueberwintern , fast ganz aufhören
gemacht zu haben. Auf die beiden ersten Kategorien können wir
nicht näher eingehen, in Bezug auf die letztere wollen wir Folgendes
anführen: bei dem immer mehr und mehr steigenden Verkehr,
welcher in der genannten Periode den Höhepunkt erreicht hat,
reichte die an und für sich kolossale Masse Stauwasser nicht hin,
das System so lange schiffbar zu erhalten, als jetzt erforderlich war,
und so konnten denn viele von der Wolga kommende Fahrzeuge
nicht in einem Jahre nach St. Petersburg kommen, sondern mussten,
weil sie aus Wassermangel nicht in die Karawanen eingeschlossen
werden konnten, auf dem Wolchow, der Msta oder gar Twerza
Zurückbleiben und überwintern. (Es sind das meist Privatfahrzeuge,
denn laut Gesetz haben Kronsbarken den Vortritt.) Ihre Zahl über¬
stieg stets ein Tausend, ja ging bis 2000 und drüber in trockenen
Sommern. Ein solch trockener Sommej- war denn auch der im Jahre
1826 und diente unmittelbar zum Impuls, dass Koritzkij seine beson¬
dere Aufmerksamkeit den System-Reservoiren zuwandte. Da schuf
er seine in hydrotechnischer Hinsicht besonders bemerkenswerthen
Arbeiten am Fabrik-Reservoir, die Borsda-Dämme, die Sawod-
(Fabrik-)Beyschlote, den sog. Schischkow-Ueberfall, welche es, nach
geringem Kostenaufwand, möglich machen, das Wasser auf 17 7 »
Fuss zu dämmen und dadurch das System eine längere Zeit hin¬
durch schiffbar zu erhalten; er errichtete neue und erhöhte die alten
Sperrdämme der Systemzweig-Reservoire. Die Folge dieser Arbei¬
ten ist, dass die Zahl der überwinternden Fahrzeuge auf Vs gegen
früher herabgesunken ist.
Ist es, wie wir oben gesehen, Serdjukow, welcher dem System
den spezifischen Charakter aufgeprägt hat, so ist es Koritzkij, welcher
dem einmal gegebenen Grundgedanken technisch die möglichste
Vervollkommnung lieh und das System so ziemlich in den Zustand
brachte, in welchem es sich jetzt befindet. In der Zeit, wo Koritzkij
die Leitung des Wyschnij-Wolotschok-Systems inne hatte, begannen
auch — 1826 — die Arbeiten am Wischera-Kanal . Die Ursachen
ihrer Inangriffnahme waren folgende: einerseits fing der Sievers-
Kanal an zu verschlammen, abgesehen davon, dass er bei ungünsti¬
gem Winde wegen seiner flachen Ufer nur mit Mühe und Zeit¬
verlust zu passiren war, andererseits fiel die projektirte Führung der
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grossen Moskauer Chaussee zwischen Nowgorod und Bronnizy,
welche in einem zum Theil sehr hohen Damm besteht, gerade
mit der Axe zusammen, welche man für die Derivation des Ilmen
am zweckmässigsten glaubte; und so entschied sich die Regierung
für die Grabung des Wischera-Kanals, da die aus ihm ausgeführte
Erde unmittelbar zum Weg-Damm verwandt werden konnte. Die
Kanalarbeiten, incl. Bau der Schutzstauwerke, dauerten 10 Jahre und
erheischten einen Kostenaufwand von 650,000 Rbl.
Das Jahr 1826 ist auch noch deshalb für die Geschichte des
Wyschnij-Wolotschok- und des Marien'Systems bemerkenswerth,
weil es so regenarm war, dass die Schifffahrt an verschiedenen
Stellen der Systeme wegen Wassermangels temporär geradezu auf¬
hören musste und daher verschiedene Arbeiten und Maassregeln
nach sich zog, welche ein ähnliches Unglück verhüten sollten.
Solche unpassirbare Parthien waren z. B. der Sievers- und der La¬
doga-Kanal. Ersteren machte Koritzkij einfach dadurch schiffbar,
dass er die Msta unterhalb der Kanalanlagen durch einen Bretter¬
schirm schloss und dadurch einen grossen Theil der Msta-Wasser-
massen in den Kanal leitete, dessen Wasserhorizont in wenigen
Stunden um 22 Werschok stieg. Technisch war hier die Schwierig¬
keit gelöst worden, allein der Schifffahrt und dem Handelsstande
war dadurch wenig geholfen; denn der Ladoga-Kanal konnte durch
keine Mittel (z. B. grosse Pumpenanlagen) schiffbar gemacht werden.
Abgesehen davon, dass man von jetzt ab allen hydrotechnischen
Anlagen auf den Systemen eine gewissenhaftere Remonte und Be¬
aufsichtigung angedeihen Hess, so führte auch der letztgenannte
Uebelstand in der Folgezeit zur Anlage eines neuen, dem alten
Ladoga-Kanal ziemlich parallel laufenden, rationeller angelegten
Kanals.
Zum Schluss unserer Skizze der Entstehung und des Ausbaues des
Wyschnij-Wolotschok-Systems müssen wir noch des Jahres 1843 be-
sonders erwähnen, wo unter dem, 1842 zum Minister der Wege¬
kommunikation ernannten Grafen Kleinmichel die Bezirke der
Wegekommunikation anders als bisher begrenzt wurden und unser
System unter die Verwaltung des dritten Bezirks gestellt wurde,
welche ihren Sitz in der Stadt Wyschnij-Wolotschok selbst zu neh¬
men hatte. Von diesem Jahre an wurden, abgesehen von den
der Schifffahrt direkt zu Gute kommenden, den obigen gleichen
Bauten, nicht nur in der genannten Stadt selbst für die Verwal¬
tung erforderliche pompöse Gebäude gebaut, ein Granitquai errich-
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tet und die Ufer mit Gärten und Boulevards geschmückt, sondern
an allen Landungsstellen und Beyschloten wurden gute Kasernen
errichtet und zur Zierde Gärten angelegt; mit einem Wort, man
liess sich’s angelegen sein, dem System auch ein elegantes Aeusscre
zu geben.
In der neueren und neuesten Zeit hat man sein Augenmerk haupt¬
sächlich darauf gerichtet, dass das früher Geschaffene in gutem Zu¬
stand erhalten bliebe, zu welchem Zweck für die Jahre 1853—1875
jährlich die Summe von über 70,000 Rbl. von der Krone ausgewor¬
fen worden sind. Der Etat der Verwaltung des III. Bezirks selbst
beträgt eine dieser sehr nahe kommende Summe.
Die Eisenbahnen Russlands.
Von
S. M. Propper.
I.
Geschichtliches.
B.
1867—1869 \
Die Schwierigkeiten, welche die Regierung in der ersten Hälfte
der Sechsziger Jahre bei dem Eisenbahnbau zu bekämpfen hatte
und die öfter eintretende Unmöglichkeit, selbst die zu den weit¬
gehendsten Bedingungen konzessionirten Linien zur Ausführung zu
bringen, brachten es mit sich, dass die Regierung den in diesen
Jahren gegründeten Gesellschaften ungewöhnliche Rechte und Er¬
leichterungen einräumen musste.
Vielfach hervorgetretene Uebelstände veranlassten nun das Mini¬
sterium u. A.: keine Bahn neu zu konzessioniren, bevor nicht die
Tracirungsarbeiten in gründlicher Weise vorgenommen wären, und
bald zeigte es sich, dass sich nicht nur die Bedingungen, unter
welchen die Konzessionäre zum Bahnbau sich bereit erklärten, we¬
sentlich vortheilhafter für den Staat gestalteten, sondern auch dass
der Eisenbahnbau in Rüssland überhaupt bedeutend billiger wurde.
1 Vergl. «Russ. Revuet Bd. IX, pag. 139 ff.
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248
Es darf hierbei nicht unbetont bleiben, dass das Ministerium eine
kräftige Unterstützung schon in der inneren Lage des Landes fand.
Die Ausfuhr Russlands, welche in dem Jahre 1861: 163,721,863 Rbl.
betragen hatte, war im Jahre 1866 bereits auf 201,049,471 Rbl. ge¬
stiegen, dieselbe Erscheinung wies auch die Einfuhr auf, welche von
144,971,791 Rbl. sich auf 180,573,208 Rbl. gehoben hatte. Es blieb
dies nicht ohne Einfluss auf das Erträgniss der Eisenbahnen. Die
Warschau-Wiener Bahn, welche im Jahre 1861 nur eine Reinein¬
nahme von 658,507 Rbl. verzeichnete, wies im Jahre 1866 eine
solche von 1,061,646 Rbl. auf, bei der Riga-Dünaburger Bahn hatte
sich der Ertrag von 34,796 Rbl. auf 222,600 Rbl., bei der Moskau-
Rjasaner von 289,973 Rbl. des Jahres 1863 auf 1,391,561 Rbl. pro
1866 erhöht. Zu diesen Resultaten gesellte sich der grosse Auf¬
schwung des russischen Getreidehandels im Jahre 1867; die Preise
stiegen um 13,94 pCt., der Wechselkurs um 4,3 pCt., die Ausfuhr
auf 220,154,466 Rbl., die Einfuhr auf 236,845,719 Rbl.
Im Auslande hatte sich nach dem Ende des preussisch-öster-
reichisch-italienischen Krieges ein Eisenbahnbaufieber beinahe in
allen Staaten des Kontinentes entwickelt, das Publikum trug willig
seine Kapitalien bei, die Eisenbahnwerthe wurden das beliebteste
Anlagepapier. Die ausländische Spekulation übertrug ihre Thätig-
keit auch nach Russland: englische, französische und deutsche Un¬
ternehmer traten der Reihe nach als Konzessionsbewerber auf. Das
Finanzministerium liess diesen Zeitpunkt nicht unbenutzt vorüber¬
gehen: im Jahre 1867 wurden 4 neue Gesellschaften, im Jahre 1868
12 neue Eisenbahnlinien konzessionirt.
Dabei liess die Regierung in Folge privater Initiative zahlreiche
Voruntersuchungen von Eisenbahnlinien durch Regierungsorgane
auf eigene Kosten vornehmen, welche zur Aufstellung des nach¬
stehenden, als nothwendig anerkannten Eisenbahnnetzes führten:
Eine Linie von der Charkow-Asower Bahn nach Ssewastopol, mit
einer Zweigbahn nach Feodosia und zum Dnjepr.
Von Woronesh nach Gruschewskaja.
Von Morschansk über Pensa nach Ssamara und von Borissoglebsk
nach Zarizyn, zur Verbindung des bestehenden Eisenbahnnetzes mit
der Wolga, sowie die Ssamara-Orenburger Bahn als Fortsetzung der
Morschansk-Ssamara-Linie.
Von Kowno nach Libau sammt Zweig nach Mi tau; von Riga nach
Windau; von Witebsk über Orscha und Mohilew nach Njeshin; von
Brest über Kobrin, Pinsk und Shitomir nach Berditschew; von Brest
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nach Lyk (zur preussischen Grenze); von Kischinew nach Jassy; voll
der projektirten Brest-Berditschewer Bahn nach Brody (zur öster¬
reichischen Grenze); von Roslavvl nach Bachmatsch (an der Kursk-
Kijewer Bahn); von Sserpuchow zur Orel-Witebsker Bahn (bei
Brjansk).
Von Iwanowo nach Kineschma, als nothvvendige Fortsetzug der
Schuja-Iwanowo Bahn.
Von Jaroslawl nach Kostroma, Wjatka und Perm; von Perm nach
Tjumen; von Jerschowka an der Kama über Jekaterinburg nach
Tjumen; von Ossa nach Jalutorowsk; von dem Eitoner See zur
Wolga, gegenüber Kamyschin; vom Eitoner See nach Astrachan.
Das Ministerium beschloss gleichzeitig, keine neue Eisenbahnlinie
mit staatlicher Garantie zu konzessioniren, bevor nicht die Ausfüh¬
rung der Linien des am 23. April 1866 bestätigten Eisenbahnnetzes
gesichert wäre.
Die erste unter den Letzteren war die am 1. März 1867 bestätigte
Linie von Jelez nach Grjasi. Die Jelezer Landschaft (Semstwo),
welcher die Konzession verliehen wurde, bildete eine Eisenbahn¬
gesellschaft mit einem Kapital von 3,021,500 Pap. Rbl. in Aktien
und 773,460 Pfd. St. in Obligationen, zusammen 7,857,625 Met. Rbl.,
welchen die Regierung 5 pCt. Zinsen und 0,1 pCt. Amortisation ga-
rantirte. Während die 38,673 Obligationen ä 20 Pfd. St. zum Kurse
von 73 pCt. im Mai 1867 placirt wurden, konnten die 30,215 Aktien
k 100 Rbl. al pari untergebracht werden. Die Bahn ward bereits
am 30. August 1868 in ihrer ganzen Länge von 103 Werst durch
den Unternehmer S. S. Poljakow vollendet. Bemerkenswerthc
Bauschwierigkeiten bot nur die 65 Faden lange Brücke über
den Don.
Nachdem die dem Baronet Sir Morton Pito ertheilte Konzession
der Orel- Witebsker Bahn am 1. Dezember 1866 als erloschen erklärt
worden war, entschloss sich die Oreler Landschaft, die Ausführung
der Bahn selbst in die Hand zu nehmen. Nach mehrfachen Ab¬
änderungen der Garantie- und Baubedingungen wurde am 21. März
18670er Oreler Landschaft die Bewilligung zur Bildung einer Ge¬
sellschaft zum Bau der genannten Linie ertheilt. Dem Gesammt-
kapital der Gesellschaft von 6 Mill. Pfd. St. = 37,5 Mill. Rbl. Met.
garantirte der Staat einen Reinertrag von 5 pCt. Zinsen und V12 pCt.
Amortisation pro anno für die 85jährige Konzessionsdauer; der Bau
sollte binnen 3 Jahren, d. i. bis zum 21. März 1870 vollendet werden.
Bei der Finanzirung des Bahnkapitals zeigte die Gesellschaft keine
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250
besondere Geschicklichkeit: die 75,000 Aktien ä 20 Pfd. St.
(1,500,000 Pfd. St. = 9,375,000 Rbl. Met.) bedangen kaum 80 pCt.
und von den 45,000 Obligationen ä 100 Pfd. St. (4,500,000 Pfd. St.
= 28,125,000 Rbl. Met.) wurde ein Theil zu 69 pCt., der andere
selbst nur zu 67 pCt. begeben. Ein bei weitem günstigeres Resultat
zeigt dagegen der Bahnbau: bei energischer Leitung konnte die
ganze Linie von 488 Werst noch im Jahre 1868, 16 Monate vor dem
Endtermine, dem Verkehr übergeben werden; am 11. Oktober 1868
erfolgte die Eröffnung der Strecke von Witebsk nach Roslawl (239
Werst), am 24. November die der Strecke von Roslawl nach Orel
(249 Werst). Die Orel-Witebsker Linie beginnt bei der Oreler
Station der Moskau-Kursker Bahn, geht dem Flusse Oka entlang
und sich nach Westen wendend, durchschneidet sie die Wasser¬
scheide zwischen Dnjepr und Wolga, überbrückt zweimal den Fluss
Sneshat, nähert sich Brjansk, geht dann an dem linken Ufer der
Djessna, überbrückt sie auf der 178. Werst von Orel, passirt den
Dnjepr vor Smolensk und durchschneidet die Düna vor Witebsk, wo
sie sich mit der Dünaburger Bahn verbindet.
Auf Grundlage der am 29. Mai 1859 und am 3. Mai 1860 bestätig¬
ten Statuten reichte die Moskau-Ssergijewsk(-Jaroslawl) Eisenbahn¬
gesellschaft im Februar 1867 beim Kommunikations-Ministerium das
Statutenprojekt für eine bis zum eigentlichen Endpunkte der Bahn,
bis Jaroslawl, fortgesetzte Linie ein. Die Gesellschaft normirte laut
demselben die Länge der ganzen Linie von Moskau nach Jaroslawl
auf 262 Werst, demnach die neue Strecke auf 196 Werst; ausserdem
wurde ein Zweig zur Wolga in einer Länge von 4 Werst projektirt.
Den Kostenpreis der Bahn incl. der eröffneten Strecke von Moskau
nach Ssergijewsk mit 74,000 Rbl. Pap. pro Werst, was bei 266
Werst (mit der Zweigbahn zur Wolga) ein* Kapital von 19,684,000
Rbl. Pap. repräsentirt, normirend, petitionirte die Gesellschaft um
die Verleihung einer staatlichen Garantie von 5 pCt. pro anno, indem
sie hiermit auch die Ausgaben für die Amortisation des Obligationen¬
kapitals bestreiten wollte. Die Höhe der staatlichen Garantie sollte
nicht 984,200 Rbl. pro anno übersteigen und gleichzeitig erklärte
die Bahnverwaltung, dass nach Abzug der, für die erste im Betriebe
befindliche Strecke eingehenden Reineinnahme, die Garantiezuzah-
lung nicht über 624,000 Rbl. pro anno gehen, folglich geringer, als
wie dies im § 45, Abschn. c. der Statuten verzeichnet (680,000 Rbl.)
ausfallen werde. Im Mai 1867 zeigte die Bahnverwaltung in einer
neuen Eingabe an, dass die Gesellschaft bereit sei, die Fortsetzungs-
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251
linie für nunmehr nur 68,000 Rbl. pro Werst zu bauen, das Kapital
der Moskau-Jaroslawl Bahn möge demnach wie folgt normirt werden:
1) auf 3,275,100 Rbl. Pap. Aktien, 2) auf 687,375 Rbl. Pap. Staats¬
vorschuss und 3) auf 11,200,000 Rbl. Met. Obligationen; die Aktien
sollten mit 5 pCt., die Schuld an den Staat zur Zinsen- und Amor¬
tisationszahlung mit 6 pCt. und die Obligationen mit 5 Vis pCt., vom
Tage der Emission an gerechnet, garantirt werden. Das Eisenbahn-
komite 1 erklärte am 17. November 1867, im Einvernehmen mit dem
Finanz-Ministerium, dass mit dem Zeitpunkte der Obligationen-
Emission noch gewartet werden müsse, bis sich die Verhältnisse
des Geldmarktes günstiger gestalteten.
Im März 1867 suchte die Landschaft des Kreises Borissoglebsk
(im Gouvernement Tambow) um die Bewilligung der Vornahme von
Tracirungsarbeiten für eine Eisenbahnlinie von Tambow nach Bo¬
rissoglebsk mit Fortsetzung nach Zarizyn oder Kamyschin nach, um
die kürzeste Verbindung des unteren Laufes der Wolga mit Moskau
und den baltischen Häfen herzustellen. Nachdem das Gesuch am
10. Mai 1867 unter aller üblichen Reserve genehmigt worden war,
liess die Borissoglebsker Landschaft die nöthigen Voruntersuchun¬
gen vornehmen, doch schon am 7. Juni 1867 wurde derselben in Folge
der Eingabe der Ssaratovver und Kirssanower Landschaften mit-
getheilt, dass das von den Letzteren vorgestellte Konzessionsprojekt
einer Eisenbahnlinie von Tambow über Kirssanow und Atkarsk nach
Ssaratow den Vorzug vor dem Borissoglebsker finde. Die Borisso¬
glebsker Landschaft stellte in Folge dessen ein neues Projekt für
eine Bahn nunmehr nicht von Tambow, sondern von der Station
Grjasi (der Koslow-Woronesh Bahn) aus, nach Borissoglebsk, welches
im Jahre 1868 auch konzessionirt wurde.
1 Am 18. Dezember 1858 erschien der Allerhöchste Befehl an den Regierungssenat
betr. der Errichtung eines sich speziell mit Eisenbahnfragen befassenden Komitcs,
unter dem Namen « Eisenbahneti-Komite *. An den Berathungen des Komitcs nehmen
Theil: der Finanz Minister und der Hauptverwalter der Wegebauten (jetzt Kommuni¬
kations-Minister); bei deren Abwesenheit die betr. Minister-Stellvertreter; die andern
Mitglieder werden vom Kaiser ernannt. Die in dem Komite berathenen Fragen wer.
den entweder dem Minister-Komite oder direkt dem Kaiser vorgelegt. Das erste, am
18. Dezember ernannte Eisenbahnkomite bildeten : der Reichskanzler Minister des
Aeusscren Graf Nessel rode, als Vorsitzender; der Finanz-Minister, der Hauptverwalter
der Wegebauten; General-Adjutant Graf Strogonow, wirkl. Geheimrath Baron Meyen.
dorf, General-Adjutant Baron Lieven, Ingenieur General-Lieutenant Gerstfeld, General“
Adjutant Totleben, General-Major Timaschew und Ingenieur General-Majore Melnikow,
Jasykow und Kerbeds als Mitglieder.
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Inzwischen wurde die Ssaratower Landschaft davon in Kenntniss
gesetzt, dass »sobald die Ausführung der in dem Eisenbahnnetze
vom 23. April 1866 verzeichneten Linien gesichert sei, zur Inangriff¬
nahme der Tambow-Ssaratower Bahn geschritten werden solle».
Im April 1867 regte der Generalgouverneur von Orenburg die
Frage einer Pferdebahn von Orenburg zum Dorfe Bugultschan und
von Orenburg nach Ssamara an, wobei er beim Minister Komite
auch um die Regulirung des Flusses Bela petitionirte. Das Minister-
Komite zog es vor, im Einvernehmen mit dem Kommunikations-
Ministerium an den genannten Strecken Eisenbahnlinien ausführen
zu lassen und beschloss Angesichts der hohen Wichtigkeit dieser
Bahn für den russisch-asiatischen Handel, das Orenburg-Ssamara
Bahnprojekt energisch zu betreiben.
Zur Feststellung der vortheilhaftesten Richtung einer Eisenbahn
von Kursk über Charkow zum Asow’schen Meere wurde noch am
24. Februar 1866 das Kommunikations-Ministerium beauftragt, die
nöthigen Vorarbeiten vornehmen zu lassen. Es wurden in diesem
Jahre die Richtungen über die Donezer Steinkohlenfelder nach
Taganrog mit den Nebenlinien nach Rostow a. D. und nach Marju-
pol und Berdjansk, ferner über die Höhe und den Werth des Ex-
und Importes derselben statistische Daten aufgenommen. Als End¬
resultat dieser Arbeiten wurde die Richtung von Kursk über Char¬
kow und die Donezer Steinkohlenfelder nach Taganrog mit einer
Zweigbahn nach Rostow a. D. als die geeignetste Linie dem Eisen-
bahnkomite vorgestellt und von diesem bestätigt. Nachdem am
31. Januar 1867 die dem Konsortium des Grafen E. T. Baranow für
die Kursk-Taganroger Bahn ertheilte Vorkonzession erloschen war,
reichten die Ausländer Marmont und Gregori ein Gesuch um Kon-
zessionirung dieser Linie auf 85 Jahre bei staatlicher Garantie von
5 V12 pCt. des Gesellschaftskapitals von 8,865,000 Pfd. St., d. h. ca.
73,500 Rbl. Met. pro Werst ein; die Garantie sollte bei den für den
vierten Theil des Gesammtkapitals emittirten Aktien am Tage der
Bahneröffnung und bei den Obligationen am Emissionstage beginnen.
Die Charkower Landschaft schloss sich diesem Projekt an und stellte
im April 1867 zusammen mit Marmont einen Konzessionsentwurf bei
Vergrösserung des Kapitals auf 9,120,000 Pfd. St. vor. Im Mai
ermässigte die Landschaft neuerdings die Summe auf 73,000 Rbl.
Met pro Werst, d. h. 55,690,000 Rbl. Met. für 763 Werst und
suchte die Ertheilung der Vorkonzession nach, da gleichzeitig der
Bevollmächtigte eines Londoner Konsortiums, Bouquet, im Verein
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mit der Gruppe des Grafen E. T. Baranow als Bewerber um diese
Bahn bei einem Preise von 78,947 Rbl. Met. pro Werst aufgetreten
war. Angesichts der hohen Wichtigkeit die Kursk-Taganroger
Bahn (als Mittel zur Förderung der Donezer Steinkohlen-Industrie,
zur Einführung einer Schienen- und Maschinen-Industrie, sowie zur
Belebung des Handels der Asow’schen Häfen) rasch herzustellen,
wurden die betreffenden Anträge von Seiten des Kommunikations-
Ministeriums dem Eisenbahn-Komite vorgestellt, mussten jedoch
wegen der unverhältnissmässig hohen Werstpreise zurückgewiesen
werden. Das Eisenbahn-Komite beschloss gleichzeitig am 21. März
1867 im Einvernehmen mit dem Finanz-Ministerium, sofort nach der
Beendigung der Moskau-Kursker Bahn, zum Bau der 230 Werst
langen Strecke von Kursk nach Charkow, ebenfalls auf Kosten des
Staates, zu schreiten und erklärte der Finanzminister, hierzu im Jahre
1868 6, (XX), 000 Rbl. anweisen zu können. Auf Grundlage der im
Jahre 1867 vorgenommenen Tracirungsarbeiten wurde der Kosten¬
preis der Linie Kursk-Charkow auf 11,784,199 Rbl. 65 Kop. Pap.
= 51,235 Rbl. 65 Kop. pro Werst berechnet.
Am 9. Mai 1867 wurde dem Ehrenbürger M. A. Gorbow und dem
Kaufmann I. A. Bussurin die Konzession für eine Bahn von der Sta¬
tion Nowki der Moskau-NishnijNowgoroder Linie über Schuja zum
Dorfe Iwanowo als *Schuja-Iwanowo Eisenbahngesellschaft* ertheilt.
Das Baukapital wurde auf 760,000 Pfd. St, d. i., zum Normalkurse
von 6 Rbl. 25 Kop. umgerechnet, auf 4,775,750 Rbl. Met. bemessen;
da die Linie laut dem Bauplane 84 Werst umfasste, so wurde für die
Werst 56,616 Rbl. 10 Kop. Met. bewilligt. Zum damaligen Wechsel¬
kurse auf London von 3 3 7 /s Pence stellte sich das Gesellschafts¬
kapital auf 5,391,019 Rbl. Pap. und die Werst auf 64,178 Rbl. 80
Kop. Pap. Die Gesellschaft emittirte 12,746 Aktien ä 20 Pfd. St.
= 254,920 Pfd. St. = 1,593,250 Rbl. Met. und Obligationen für
506,000 Pfd. St. = 3,162,500 Rbl. Met. Ursprünglich wurde dem
Gesellschaftskapitale von Seiten des Staates keine Garantie verliehen
und nur ein Staatsvorschuss von 1,000,000 Rbl. zugesagt. Nachdem
der Bauplan am 17, Mai 1867 bestätigt worden, begann man den
Bahnbau, und als die Obligationen Ende März 1868 Placement zu
74,5 pCt. gefunden hatten, konnten die Arbeiten derart energisch
fortgeführt werden, dass die Eröffnung der Linie schon am 16. Sep¬
tember 1868 erfolgte. Die Bahn beginnt beim Dorfe Iwanowo des
Kreises Schuja (im Gouvernement Wladimir) am linken Ufer des
Uwod, berührt das Industriedorf Kochma, überbrückt die Tjesa in
Kuss. Bovu0. Bd. IX. \*J
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254
der Nähe von Schuja, wendet sich dann vom Südwesten neuerdings
zum Flusse Uwod, durchschneidet denselben und mündet bei Nowki
auf der 223. Werst von Moskau l .
Noch am 9. Juli 1865 hatte sich der Staatsrath P. G. von Der-
wis an das Kommunikations-Ministerium 2 um die Bewilligung der
Vornahme von Vorarbeiten für eine Bahn von Koslow nach Ssara-
tow, mit einer Zweigbahn nach Pensa, gewandt; auf Grundlage die¬
ser Arbeiten stellte von Derwis das Projekt einer Eisenbahn von
Koslow nach Tambow, sowie den Entwurf einer Konzession vor,
worin das Nominalkapital mit 5,921,000 preuss. Thlr. = ca. 73,612
Rbl. pro Werst angegeben war. Im März desselben Jahres erbat
auch die Landschaft des Tambower Kreises die Konzessionirung der
Tambow-Koslower Bahn unter nachstehenden Bedingungen: das
Bahnkapital mit 5,968,000 preuss. Thlr., d. i. zum Kurse von 92 Kop.
pro Thaler mit 5,242,160 Rbl. Met. oder bei 74 Werst mit 70,840
Rbl. pro Werst zu bemessen; dem für 2 3 zu emittirenden Obligationen¬
kapitale von 3,732,000 Thlr. (3,433,440 Rbl. Met.) solle der Staat
5V18 pCt. pro anno für die 85jährige Konzessionsdauer garantiren.
Zwar erkannte die von dem Departement für Eisenbahnen 3 gebildete
Kommission das von der Landschaft eingereichte Projekt für wesentlich
günstiger, als das Derwis’sche, doch wurde der Landschaft angezeigt,
«dass die Regierung überhaupt keine Bahnkapitalien mehr garantiren
wolle, was jedoch die Durchführung des Unternehmens ohne staat¬
liche Garantie nicht verhindere». Die Kommission des Departements
für Eisenbahnen wollte die Bahn auch nicht über Koslow, sondern
über Arinino und Murawjewo durchgeführt sehen; dagegen petitio-
nirte die Koslower Landschaft, welcher sich die Tambower ange-
1 Am 8. März 1868 wurden die neuen Statuten der Gesellschaft bestätigt, laut
welchen sowohl den Aktien, als auch den Obligationen eine 5*/«s pCt. Zinsen- und
Amortisations-Garantie für die 83jährige Konzessionsdauer eingeräumt wurde.
2 Die Bezeichnung « Gcneralvenvaltung der Wegebauten » kommt am 21. Mai 1865
zum letzten und die Benennung « Kommunikations Ministerium* am 18 . Juni 1865 zum
ersten Male vor.
* Errichtet am 18. August 1842. Der betreffende an den Regierungssenat gerich¬
tete Ukas lautete: «Angesichts der Nothwendigkeit, die Bauarbeiten an der St. Peters¬
burg-Moskauer Bahn der Hauptverwaltung der Wegeverbindungen und öffentlichen
Bauten unterzustellen, befehlen Wir (Kaiser Nikolai), zur Leitung der Bauarbeiten
dieser Bahn, sowie überhaupt zur Verwaltung und Vollziehung Alles dessen, was auf
das Eisenbahnwerk Bezug hat, bei der Hauptverwaltung der Wegeverbindungen und
öffentlichen Bauten, ein separates Departement unter dem Namen « Eisenbahn-Departe¬
ment* zu bilden.
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255
schlossen hatte. Gleichzeitig reichte die Jelez-Grjasi Eisenbahn¬
gesellschaft 3 Bauprojekte auf Grundlage bewerkstelligter Tracirungs-
arbeiten für eine Linie von Tambovv zur Koslow-Woronesher Bahn
ein: i) zur Station Grjasi in einer Länge von 107 Werst, 2) über das
Dorf Kotschetowka in einer Länge von 120 Werst und 3) über das
Dorf Murawjewo in einer Länge von 80 Werst ein; die Jelez-Grjasi
Eisenbahngesellschaft erklärte sich bereit, die Tambower Bahn in
jeder der drei Richtungen für 58,000 Rbl. Met. pro Werst auszu¬
führen. Ende November 1867 lief noch eine Eingabe des Moskauer
Kaufmanns A. E. Charitow ein, welcher die Tambow-Koslower Bahn
auf Grundlage des Projektes der Landschaft für 5,106,000 Rbl.
= 69,000 Rbl. pro Werst bei 88jähriger Konzessionsdauer bauen
wollte. Die Tambower und Koslower Landschaften sahen sich in
Folge dessen veranlasst, einen neuen Konzessionsentwurf einzu¬
reichen, in welchem bei Verzichtleistung auf die Staatsgarantie das
erforderliche Kapital auf 5,100,000 Rbl. Met. = 68,919 Rbl. 89 Kop.
pro Werst normirt war K
Inzwischen hatte sich in Riga eine aus kurländischen Edelleuten
und Rigaer Handelsfirmen bestehende Gesellschaft zum Ausbau der
Riga-Mitauer Bahn gebildet. Da die erbetene Staatsgarantie nicht
bewilligt wurde, beschloss die Gesellschaft, die Bahn ohne jegliche
Staatshülfe auszuführen, doch wurde in der Konzessionsurkunde vom
9. Juni 1867 den Gründern: Baron E. von Hahn, Konsul A. Heimann,
Manufakturrath Adolf Thilo, D. Armstädt, Rathsherren I. Branden¬
burg, G. D. Gernmark, Reinhold Pichlau im Namen der Firma The¬
odor Pichlau, Karl Luger im Namen der Firmen Wöhrmann & Söhne,
Graf Friedr. Medern, F. G. Nipp im Namen der Firma Th. Renny,
Graf L. von der Pahlen und Baron Al. Heyking im Namen der Kur¬
ländischen Bodenkredit-Gesellschaft, Konsul B. E. Schnackenburg
und Kaufmann August Westermann, die Versicherung gegeben,
dass, sobald die Hälfte des Kapitals verausgabt sein werde, die Ge¬
sellschaft eine staatliche Garantie von 5 l /i2 pCt. pro anno erhalten
solle. Das Bahnkapital wurde auf 2,652,000 Rbl. Met. oder zum
damaligen Kurse von 33 5 /ie Pence (für London) auf 3,055,104 Rbl.
Pap. = 78,336 Rbl. Pap. pro Werst festgesetzt. Die Gesellschaft
emittirte 15,000 Aktien ä 100 Rbl. und für 1,152,000 Rbl. Met. Obli¬
gationen, Die Bauarbeiten begannen am 18. Juni 1867 und am
21. November 1868 wurde die 39,3 Werst lange Bahn dem Verkehr
1 Die endgültige Losung dieser Bahnfrage fallt in das Jahr 1868.
* 7 *
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256
übergeben; von dem letzteren Tage datirt die 85 jährige Konzession;
am 14. März 1869 wurde dem Gesellschaftskapital eine staatliche
Garantie von 5V12 pCt. verliehen.
Im Frühjahr 1867 übertrug das Heer der Donischen Kosaken den
Bau der früher angeregten Aksajskaja-Kostower Bahn in einer Länge
von 12 1 2 Werst dem Rjasaner Kaufmanne S. S. Poljakow, welcher
die Bahn — nach am 30. Juli 1867 erlangter Konzession — mit
eigenen Mitteln längst dem Don-Ufer baute; am 1. Februar 1868
erfolgte die Eröffnung dieser Linie.
Zu Anfang des Jahres 1867 nahm die Regierung den Antrag der
englischen Unternehmer Sir Thomas, G. A. Parkins und Frederic
Power betr. der Uebernahme der bisher für Rechnung des Staates
gebauten Poti-Tiflis Bahn an und bestätigte am 25. Juni 1867 den
vorgestellten Cessionsvertrag. Das Grundkapital der Gesellschaft
wurde mit 17,650,000 Rbl. Met. bemessen und durch die Emission
von 2 /ö Aktien und 8 /5 Obligationen gebildet, welchen die Regierung
für die Dauer von 81 Jahren einen Reinertrag von 5 pCt. Zinsen und
0,1 pCt. Amortisation garantirte. Für die bisher geleisteten Arbei¬
ten verpflichtete sich die Gesellschaft, dem Staate 4,210,000 Rbl.
Met. in eigenen Aktien zurückzuerstatten. Bei der Realisirung der
Kapitalien begegnete die Gesellschaft bedeutenden Schwierigkeiten,
die Aktien konnten nur zu 80 pCt., die Obligationen nur zu 68—72
pCt. placirt werden. Die ganze Bahn wurde in drei Strecken zer¬
legt: von Poti nach Kwirily 118 Werst, von Kwirily nach Kaschuri
58 Werst und von Kaschuri (Michailowo) nach Tiflis 113 Werst.
In Folge des ungünstigen Terrains waren am 7. April 1870, wo die
Statuten der Gesellschaft verändert wurden, keine 25 Werst fertig¬
gestellt.
Mit jedem Monat des Jahres 1867 mehrten sich die Eisenbahn¬
projekte, welche beim Ministerium von verschiedenen Konzessions-
ansuchern eingereicht wurden. Kaum wurde es bekannt, dass sich
das Eisenbahnkomite mit der Prüfung dieser oder jener Bahn be¬
fasse, so liefen schon zahlreiche Eingaben um Verleihung der Kon¬
zession ein, welche mitunter um unglaubliche Summen differirten.
Angesichts dieses Umstandes war die Ertheilung der Konzessionen
dem Ministerium sehr erschwert und dadurch erklärt sich auch, dass
Monate — und oft Jahre — vergingen, bis ein Projekt zur Ausfüh¬
rung kam. Namentlich waren es die einzelnen Landschaften, welche
bei dem Bestreben, die Konzession um jeden Preis zu erhalten, am
weitesten gingen; wiewohl das Durchführen der Bahn ohnehin ge-
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sichert war, so stritten sie doch um das Recht, selbst die Gesell¬
schaft bilden zu dürfen und hatte dabei eine jede partikularistische
Zwecke. Es würde den Leser ermüden, wenn wir die einzelnen
Stadien des Kampfes, denn dies ist der rechte Ausdruck, um
diese einzelnen Bahnen vorführen würden; die Gründe, welche die
einzelnen Landschaften leiteten, waren mehr persönliche, als kom¬
merzielle oder strategische. Namentlich kommt dies bei der Orel-
Jelez Bahn zum Vorschein. Einerseits bewarben sich um die Kon¬
zession die Landschaften von Jelez und Liwny, andererseits die von
Jefremow. Nicht weniger als fünf verschiedene Entscheidungen des
Ministeriums sind in dieser Frage getroffen worden, bis endlich nach
sorgfältiger Prüfung der Baupläne der Jelezer Landschaft im Namen
der Jelez-Grjasi Eisenbahngesellschaft der Vorzug gegeben wurde.
Am 22. April 1868 erfolgte die Bestätigung der Orel-Jelez Linie
und führte die neue Eisenbahngesellschaft von nun an den Namen
Orel-Grjasi-Bahn . Bei einer Gesammtlänge von 280 Werst wurde
das Kapital der ersten Strecke von Grjasi nach Jelez auf 30,215
Aktien für 3,021,500 Rbl. und auf 38,673 Obligationen für 5,259,528
Thlr., der zweiten Strecke von Jelez nach Orel auf 3,009,000 Rbl.
Met. in Obligationen bemessen. Dem ganzen Kapital der Jelez-
Grjasi Strecke und dem Obligationenkapital der Orel-Jelez Strecke
garantirte der Staat für die 81 jährige Konzessionsdauer 5 pCt. Zin¬
sen und 0,1 pCt. Amortisation pro anno. Der Bau der Orel-Jelez
Linie begann im September 1868 und wurde am 15. Februar 1870
die Strecke von Orel nach Kasaki (163 Werst), am 9. Juni die Strecke
von Kasaki zum Flusse Tosna bei Jelez fertiggestellt; am 13. August
1870 war die ganze 180,56 Werst lange Linie durch den Bauunter¬
nehmer S. S. Poljakow dem Verkehr übergeben.
Früher noch war dem Kommerzienrath S. S. Poljakow, am 1. März
1868 der Bau der Kursk-Charkower und Charkow-Aswer Bahn über¬
tragen worden. Der Bauvertrag zerfiel in zwei Theile. Der erstere
umfasste die Bahn von der Kursker Station der Moskau-Kursker
Bahn nach Charkow in einer Länge von 230 Werst, der zweite die
Linie von Charkow nach Taganrog und Rostow a. D. in einer Länge
von 533 Werst. Der Konzessionär verpflichtete sich, die Kursk-Char-
kower Linie bis zum I. August 1869 betriebsfähig herzustellen und
den Kostenpreis von 68,000 Rbl. pro Werst nicht zu überschreiten.
Der Staat räumte dem Konzessionär das Recht eines Staatsvor¬
schusses von 9 Mill. Rbl. ein; dieselben Bedingungen galten für die
Charkow-Asower Linie; bis zum 1. Dezember 1868 sollten die be-
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258
züglichen Aktiengesellschaften gebildet werden. Im Mai 1868 be¬
gannen die Bauarbeiten unter der Leitung von M. A. Danilow und
wurde die erste Theilstrecke von Kursk nach Charkow am 6. Juli
1869, die zweite Strecke am 23. Dezember 1869 dem Verkehr über¬
geben. Inzwischen hatte Poljakow am 24. Juni 1868 11,730,000 Rbl.
Met. Kursk-Charkower Obligationen zu 77 V* pCt. und am 3. Novem¬
ber 1868 27,183,000 Rbl. Met. Charkow-Asower Obligationen zu 80
pCt. emittirt. Die 3,910,000 Rbl. Met. Kursk-Charkower und
9,061,000 Rbl. Met. Charkovv-Asower Aktien wurden dagegen nicht
auf den Markt gebracht. Bei dieser Bahn ist die Anomalie zu
verzeichnen, dass die Statuten erst bestätigt wurden, als die Bahn
schon beinahe ganz hergestellt war. Die Statuten sind vom 13.
November i869datirtj laut denselben wurde der * Kursk-Charkow-
Asou'er» Eisenbahngesellschaft das Recht ertheilt, 31,280 Kursk-
Charkower Aktien ä 125 Rbl. Met. und 45,115 Kursk-Charkower
Obligationen für 11,730,000 Rbl. Met. (wie dies bereits geschehen
war), sowie 72,488 Charkow-Asower Aktien ä 125 Rbl. Met. und
27,183,000 Rbl. Met. (war geschehen) zu emittiren; dem gesanvmten
Kapitale von 51,884,000 Rbl. Met. garantirte der Staat einen Ertrag
von 5 pCt. Zinsen und V12 pCt. Amortisation pro anno für die Dauer
der 85 jährigen Konzession.
Es ist nunmehr eine Reihe zu Stande gekommener Eisenbahn¬
gesellschaften zu verzeichnen, deren Linien in den vorhergehenden
Jahren wiederholt angeregt waren. Die erste derselben ist die der
Landschaft von Borissoglebsk konzessionirte Linie von der Station
Grjasi der Jelez-Grjasi und Koslow-Woronesher Bahn zur Stadt
Borissoglebsk . Die Landschaft bildete eine Gesellschaft unter dem
Namen Grjasi-Borissoglebsker Bahn, welche für das gesammte Bau¬
kapital von 13,440,000 Rbl. Met. Aktien zu 80 pCt. emittirte; die
Dauer der Konzession wurde auf 85 Jahre vom Tage der Eröffnung
an bemessen; die Landschaft garantirte dem Aktienkapital einen
Reinertrag von 2*/2 pCt. = 326,000 Rbl. pro anno. Der Staat über¬
nahm für 5,000,000 Rbl. Nominalwerth Aktien und ertheilte ausser¬
dem einen Baarvorschuss von 1 Milk Rbl., welcher in Aktien der
Gesellschaft ä 80 pCt. zurückzuzahlen war. Die Bahnanlage war
mit 70,000 Rbl. Met. pro Werst normirt. Die Gesellschaft schloss
am 30. l^ärz 1868 einen Bauvertrag mit Kosakovv, Gubonin, Ssa-
dowski und Pawlow ab, am 15. April wurde die Verwaltung gewählt
im Mai begannen die Bauarbeiten und am 12. Dezember 1869 wurde
die Linie in einer Länge von 195 Werst für betriebsfähig erklärt.
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Unter den drei im Jahre 1867 vorgelegten Projekten einer von
Tambow ausgehenden Eisenbahn erwies sich das von den Tambower
und Koslower Landschaften vorgestellte als das vorteilhafteste, wes¬
halb am 22. April 1868 die Konzession für die Tambow-Koslower
Bahn den benannten Landschaften ertheilt wurde. Das Kapital der
Gesellschaft wurde auf 5,100,000 Rbl. Met. = 68,918 Rbl. 92 Kop.
Met. pro Werst festgesetzt und garantirten die Landschaften demsel¬
ben für die Dauer der 85jährigen Konzession 2 pCt. Reineinnahme
= 102,000 Rbl. pro anno. Die 35,960 Aktien ä 100 Rbl. = 3,596,000
Rbl.Pap. (3,100,000 Rbl. Met.) wurden ä 85 pCt., die 3200 Obliga¬
tionen ä 100 Pfd. St. = 2,000,000 Rbl. Met. ä 74—75 pCt. begeben
und begannen die Bauarbeiten im Juni 1868 unter der Leitung des
Ingenieurs Michalzew. Am 22. Dezember 1869 wurde die 67,5 Werst
lange Bahn dem Verkehr übergeben. Laut dem vom 29. Mai da-
tirten Nachtrage zu den Statuten wird der von der Landschaft ga-
rantirte Jahresertrag von 102,000 Rbl. zur Deckung der 5 pCt. Zin¬
sen und *12 pCt. Amortisation des Obligationenkapitals verwendet.
Am 23 Juli 1868 erfolgte die Konzessionirung der Rybinsk-Osse-
tschenki Bahn. Es ist bereits erwähnt worden, dass die Wichtigkeit,
welche man der Verbindung des Endpunktes der Wolgaer Schiff¬
fahrt: Rybinsk mit St. Petersburg allseitig beimass, das Ministerium
veranlasst hatte, das Projekt einer derartigen Linie in das zweite
aus 12 Linien bestehende Eisenbahnnetz aufzunehmen und der
Bahn selbst eine grössere/ Aufmerksamkeit zu widmen; am 7. Juni
1867 erfolgte die Bestätigung dieser Bahn, und damit war das Signal
zu zahlreichen Offerten und Vorschlägen gegeben. Von den schliess¬
lich angenommenen vier Hauptprojekten unterschied sich ein jedes
durch den Modus der Ausführung und den Betrag der Staatshülfe.
In der Folge lehnte die Regierung zwei dieser Vorschläge ab: 1) des
Generallieutenants Oserskij und Konsorten, welcher die Bahn von
Rybinsk nach Twer in einer Länge von 216 Werst für ein Kapital
von 15,142,205 Rbl. Pap. =69,940 Rbl. pro Werst bauen wollte;
motivirt wurde die Ablehnung des Projektes damit, dass bei der
Twerer Richtung die Bahn beinahe parallel und sehr nahe der
Jaroslawer Bahn und dem Rybinsk-Twerer Wasserwege gehen würde,
während die Regierung bereits am 1. Juli 1868 die Vornahme der
Arbeiten an der Verbesserung des Wasserweges zwischen Rybinsk
und Twer anbefohlen und hierzu 1,110,587 Rbl. angewiesen hatte;
ausserdem wäre die Linie nach Twer um 75 Werst länger, als die
nachOssetschenki, und hierdurch würde eine unnöthige Verteuerung
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der Transportkosten hervorgerufen worden sein; — 2) des General¬
majors Heuroth und Konsorten, welcher die Bahn vom Städtchen
Lubjez (in der Nähe von Tscherepowez) am Flusse Scheksna nach
St. Petersburg in einer Länge von 415 Werst mit einem Kapi¬
tal von 34,737,500 Rbl. Met., d. i. 83,705 Rbl. Met. pro Werst aus¬
zuführen beabsichtigte; das Kommunikations-Ministerium entschied,
dass diese Linie zu lang wäre, da die Waaren sonst von Rybinsk
nach Lubjez mit der Scheksna 173 Werst gehen müssten und hier¬
durch der Weg von Rybinsk nach St. Petersburg 588 Werst lang
wäre; ausserdem hatte Generalmajor Heuroth noch die Verleihung
einer Staatsgarantie für das ganze Kapital nachgesucht.— Diebeiden
andern Projekte waren einander derart ähnlich, dass das Ministerium
die beiden Konsortien: Gorodow und Konsorten für eine Linie von Ry¬
binsk nach Bologoje (278 Werst) einerseits und Kirejew und Konsor¬
ten für eine Linie von Rybinsk nachOssetschenki (240 Werst) anderer¬
seits, zur Einreichung einer zweiten Offerte auffordern musste. Goro¬
dow forderte in der Folge eine Betheiligung des Staates an der Ge¬
sellschaft mit 3,000,000 Rbl. resp. 2,400,000 Rbl. durch Uebernahme
von 30,000 Aktien ä 80 Rbl., wogegen sich Kirejew bereit erklärte,
den Bahnbau ohne jegliche Staatshülfe in die Hände zu nehmen.
Beide Konkurrenten forderten 69,000 Rbl, pro Werst. In Folge
dessen wurde die Konzession am 12. Juli 1868 dem Obersten Kirejew
zugesprochen, am 3. September der ganze Bahnbau den Brüdern
Löwenstamm übertragen und am 9. September der Bau begonnen.
Der Rybinsk-Osetschenki Bahn wurde das Recht ertheilt, für
16,560,000 Rbl. Met. Aktien zu emittiren, welche binnen der 85jäh¬
rigen Konzessionsdauer zu tilgen waren.
Bei der Rybinsk-Osetschenki Bahn hatte die Regierung zum ersten
Male den Modus der « Torge », d. i. Uebergabe der Konzession auf
Grundlage emgercichter Offerten , versucht. Dieser neue Modus be¬
stand darin, dass das Kommunikations-Ministerium, nachdem es die
Voruntersuchungen und technischen Bedingungen bestätigt, das
betreffende Konzessionsprojekt ausarbeitete und die Bewerber ein¬
lud, auf Grundlage dieses Projektes die Baupreise in versiegelten
Couverts anzugeben; letztere wurden dann im Beisein der Kon¬
kurrenten im Finanzministerium geöffnet und die Konzession fiel
dem, den niedrigsten Preis vorlegenden Unternehmer zu.
Am 19. Oktober 1868 petitionirte der Konzessionär der Rybinsk*
Ossetschenki Bahn beim Kommunikations-Ministerium um Verände¬
rung der Bahnrichtung nach Bologoje zu. Es wurde dies mit dem
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Wunsche der Rybinsker Kaufmannschaft, welche einen bedeutenden
Theil des Aktienkapitals gezeichnet hatte, motivirt und betont, dass
bei Durchführung der Bahn nach Bologoje sich zuvörderst die Ent¬
fernung zwischen Rybinsk und St. Petersburg wesentlich vermindern
würde, dies zum Ermässigen der Transportkosten von Rybinsk nach
St. Petersburg namhaft beitragen und in direkter Folge ein Steigen
des Güterquantums bewirken würde. Die Bewilligung hierzu er¬
folgte am 29. Januar 1869, wobei das Baukapital der Rybinsk-Bologoje
Bahn von 16,560 000 Rbl. Met. auf 19,320,000 Rbl. Met. erhöht
wurde. Auf die Schwierigkeiten, welche die Gesellschaft zu be¬
kämpfen hatte, kommen wir in weiterer Folge zurück.
Am 10. August 1868 wurde dem Bevollmächtigten der Estländi-
schen Ritterschaft, Baron Alex. Pahien, welcher in den Jahren 1866
und 1867 wiederholt Bauprojekte vorgelegt hatte, die Konzession
der «Baltischen Bahn» von Baltischport über Reval, Wesenberg,
Narwa zur St. Petersburg-Warschauer Bahn auf 85 Jahre ertheilt.
Das Kapital der Gesellschaft wurde auf 26,390,000 Rbl. Met.
= 70,000 Rbl. Met. pro Werst bemessen, wobei der Gesellschaft im
§13 der Konzession das bisher nicht geübte Recht ertheilt wurde,
für 2 /a des Kapitals Prioritätsaktien zu emittiren. Die Gesellschaft
benützte nicht dieses Recht und verkaufte die gesammten 211,120
Aktien ä 125 Rbl. Met. den Gebr. Sulzbach in Frankfurt a. M. zum
Kurse von 60 pCt; die Aktien gelangten am 15. Dezember 1868 in
St. Petersburg zu 94 Rbl. 50 Kop. Pap., d. i. 65 pCt., zur Emission
Am 27. März 1869 schloss die Baltische Bahn einen Vertrag mit der
Grossen Russischen Eisenbahngesellschaft betr. der Vereinigung der
Baltischen Eisenbahn mit der Station Gatschino der St. Petersburg-
Warschauer Linie vermittelst eines Zweiges nach Tosna, ab und be¬
gann die Bauarbeiten im Mai 1869.
Inzwischen war am 24. August 1868 dem Hofmeister Abasa und
dem Geheimrath Baron Ungern-Sternberg die Konzession für eine
Eisenbahn von Charkow über Poltawa nach Krementschug unter
dem Namen »Charkcnv-Kremenlschuger Eisenbahn» ertheilt worden.
Die Konzessionäre verpflichteten sich, die Bahn binnen vier Jahren
auszubauen. Das Kapital der Gesellschaft wurde auf 14,300,000
Rbl. Met. normirt, wovon l U = 3,575,000 durch Emission nicht ga-
rantirter Aktien und 8 ,4 = 10,725,000 Rbl. Met. durch Emission mit
5 pCt. staatlich garantirter Obligationen aufgebracht werden sollte.
Am 16. Mai 1869 wurde der Gesellschaft bewilligt, die auf Rbl. Met.
lautenden Aktien in Rbl. Pap. umzuwandeln, wodurch das Gesell-
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schaftskapital auf 4,256,000 Rbl. Pap. und 10,725,000 Rbl. Met.
gebracht wurde. Die Obligationen wurden im November 1868 in
Berlin und London ä 80 pCt. emittirt und am I. September 1868
der Bahnbau begonnen. Die Theilstrecke von Krementschug nach
Poltawa (112,2 Werst) wurde am 30. Juli 1873 und die von Poltawa
nach Charkow (130,9 Werst) am 15. Juni 1871 dem Verkehr über¬
geben.
Am 18. Oktober 1868 wurden gleichzeitig mit der Bestätigung
des bei der Rybinsk-Ossetschenki (ßologoje) Bahn erörterten neuen
Konzessionsmodus die Minister der Wegebauten und der Finanzen
aufgefordert, dem Eisenbahnkomite ein Netz derjenigen Eisenbahnen
vorzustellen, welchen die staatliche Garantie der Baukapitalien ver¬
liehen werden könnte. Das Kommunikations-Ministerium reichte in
Folge dessen, laut dem *C6. ct. cb. pyccK. hc. a .» pro 1870—1872,
einen Bericht ein, in welchem es hiess: In dem bestehenden Eisen¬
bahnnetze existiren Lücken, deren Beseitigung aus politischen und
volkswirtschaftlichen Rücksichten des Reiches Noth thue. So wäre
beispielsweise Ssewastopol nicht mit den fruchtbaren Produktions¬
gebieten des schwarzerdigen Landes verbunden und die Krim mit
ihren reichen Schätzen von dem Innern Russlands isolirt. Mit den
Centralgouvernements sei wederdasOrenburger Land, durch welches
die Hauptstrasse des central-asiatischen Handels führe, noch das
Kaspische Meer, trotz seiner Bedeutung für den Handel mit Persien
und den Zusammenhang mit dem Kaukasus, verbunden. Im Norden
fehle ein Schienenweg zum Ural, zu dessen Bergwerken und Mineral-
reichthümern, es fehle eine Eisenbahn zum Weissen Meere, dessen
angrenzende Gebiete Noth leiden. Im Westen wären die Häfen
Libau und Windau zurückgesetzt, während die preussischen Eisen¬
bahnen bereits einen grossen Theil Wolhyniens und Lithauens zum
Schaden des Libauer und Windauer Handels in ihr Rayon gezogen
haben. Auch die Bahnen des Königreichs Polen kämen nicht mit
Moskau und Kijew in Berührung, trotzdem dies aus strategischen
Gründen sehr wichtig wäre. — Zur Beseitigung dieser Lücken wären
nach der Meinung des Kommunikations-Ministeriums 5—6000 Werst
neuer Eisenbahnen erforderlich; dasselbe theilte diese Bahnen in
zwei Kategorien ein:
I. a) von der Station Losowo (der Kursk Charkow-Aso-
wer Bahn) nach Ssewastopol.525 Werst
b) von Morschansk nach Pensa.258 »
c) von Pensa nach Ssamara.325 »
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d) von Borissoglebsk nach Zarizyn.350 Werst
(Wiewohl die Linie von Borissoglebsk nach Kamyschin um 73
Werst kürzer als die Zarizyner war, so wurde doch der letzteren
der Vorzug gegeben, denn durch die Verbindung mit der Wolga-
Doner Bahn wurde ein direkter Schienenweg von den Central-
Gouvernements zum Kaspischen Meer gebildet.)
e) von Ssamara nach Orenburg.380 »
f) von Kowno nach Libau.285 *
g) von Berditschew (an der Kijcvv-Balta Bahn) nach
Brest über Shitomir und Pinsk oder Kowel . . 470 »
II. a) von Woronesh nach Gruschewskaja.503 *
b) von Bachmut nach Marjupol.240 »
(zur Förderung des Asow’schen Exporthandels und der Industrie-
thätigkeit der Bachmuter und Marjupoler Kreise.)
c) von Kamyschin nach dem Elton-See.140 »
d) von Kischinew gegen Jassy.74 •
c) von Wilna über Pinsk zur Brest-Berditschew Bahn 300 »
f) von Njeshin nach Witebsk.485 *
g) von Ssarapul, Ossa oder Perm über Jekatcrinen-
burg nach Tjumen, Jalutorowsk oder einem andern
Punkte der Schifffahrt an den sibirischen Flüssen 680 »
h) von Smolensk nach Brest.656 »
i) von Riga nach Windau.170 *
Nach der Ansicht des Kommunikations-Ministeriums sollten die
Bahnen der ersten Kategorie gleich nach der Sicherstellung der
Ausführung aller bisher bestätigten Linien in der angeführten
Reihenordnung bewilligt werden, und zwar in der Weise, dass kein®
Linie früher konzessionirt werde, bevor nicht das Zustandekommen
der vorhergehenden gesichert sei; alle Linien der ersten Kategorie
sollten binnen 2—4 Jahren ausgeführt, und Bahnen, welche weder
der ersten, noch der zweiten Kategorie angehörten, nur ohne jeg¬
liche Staatshülfe bewilligt werden.
Das Finanz-Ministerium bemerkte hierzu, dass das gleichzeitige
Ankündigen des Baues von nahezu 6000 Werst, welchen der Staat
die Baukapitalien zu garantiren hätte, nicht nur den Eisenbahn-, son¬
dern auch den Staatskredit schädigen würde; es seien in Folge die¬
ses Gerüchtes bereits starke Befürchtungen laut geworden. Ausser¬
dem wünschte das Finanz-Ministerium die Woronesh-Gruschewskaja-
Strecke unter die ersten Linien aufgenommen zu sehen, wogegen
die Bahnen Pensa-Ssamara, Kowno-Libau und Berditschew-Shitomir
ausgeschlossen werden könnten.
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Nunmehr stellte das Kriegs-Ministerium die aus strategischen
Rücksichten erforderlichen Eisenbahnen vor; als die wichtigsten
wurden bezeichnet: a) die Ssewastopoler, b) von Smolensk über
Mohilew und Minsk nach Brest, c) von einem Punkte der Kijew-
Balta Bahn über Shitomir und Rowno nach Brest mit einem Zweige
nach Brody, d) von Kijew oder Njeshin über Mohilew nach Witebsk
oder über Minsk nach Wilna, e) von Brest oder Kobrin nach Grodno
zur Verbindung mit der St. Petersburg-Warschauer Linie.
Das Eisenbahnkomite erkannte als unumgänglich nöthig nur drei
von allen diesen Linien an; aus strategischen und volkswirtschaft¬
lichen*. [) eine Linie zwischen Njeshin und Mohilew, welche, gedeckt
durch den Djepr, eine Basis zu Kriegsoperationen bietet; 2) von
Mohilew über Minsk und Kobrin nach Brest, als Operationslinie in dem
nördlichen «Polesje» (Waldgebiet); 3) von der Kijew-Balta Bahn
überShitomir, Rowno und Kowel nach Brest. Die erste würde eine
volkswirthschaftiiche Bedeutung als Handelsweg nach Riga gehabt
haben, ein Theil der zweiten von Mohilew nach Minsk mit Fort¬
setzung nach Wilna als Handelsweg von Kleinrussland zum Libauer
Hafen, die dritte als Verbindung Wolhyniens mit dem Königreich
Polen.
Inzwischen wurden am 7. Juni 1868 die neuen Statuten der Moskau-
Ssergiejewsk Bahn bestätigt, laut welchen der Gesellschaft nunmehr
bewilligt wurde, die Fortsetzungslinie von Ssergiejewsk nach Jaro¬
slawl in Angriff zu nehmen. Der von nun an * Moskau-Jaroslawer»
genannten Eisenbahngesellschaft wurde gestattet, i2,ooo,cxx) Rbl.
Met. Obligationen zu emittiren, welchen der Staat 5 pCt. Zinsen und
0,13 pCt. Amortisation für die Dauer der 80jährigen Konzession
garantirte. Die Arbeiten begannen am 8. Juli 1868 unter der Leitung
des Ingenieurs W. A. Titow, nachdem die Obligationen zu 74 pCt.
begeben waren; am I. Januar 1870 wurde die Strecke von Ssergie¬
jewsk nach Rostow in einer Länge von 142 Werst und am 18. Fe¬
bruar mit der 52 Werst langen Rostow-Jaroslawl Strecke die ganze
Bahn in einer Länge von 260,1 Werst eröffnet.
Am 8. Juni 1868 erschien der Allerhöchste Befehl: *die Nikolai¬
bahn der Grossen Russischen Eisenbahngesellschaft zu übergeben *.
Die Frage des Verkaufs der Nikolaibahn war noch im Jahre 1861
angeregt worden; die Grosse Russische Eisenbahngesellschaft peti-
tionirte damals um die Ueberlassung dieser Linie, welche zur Ver¬
besserung der Lage der Gesellschaft beitragen sollte; da die Grosse
Russische Eisenbahngesellschaft zu diesem Zeitpunkte aber ohnehin
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ihren Verpflichtungen nicht nachkommen konnte, so wurde dieses
Gesuch abschlägig beschieden. Der mit jedem Jahre steigende
Verkehr auf der Nikolaibahn rief die Nothwendigkeit hervor, den
Fahrpark, Lagerhäuser und sonstige Ergänzungsarbeiten ent¬
sprechend zu vermehren. Die Unzulänglichkeit der Bahnerforder¬
nisse brachte es mit sich, dass wiederholt bedeutende Gütertrans¬
porte längere Zeit an den Stationen unbefördert lagen, trotz der
verstärkten Zahl der Züge und aller Bemühungen von Seiten der
Betriebsdirektion. Die Nikolaibahn benützte während dieser Zeit
den Fahrpark der Nachbarbahnen; ausserdem verfügte sie über
Lokomotiven, welche für die Moskau-Kursker Bahn gekauft wurden
bis zur Eröffnung der letzteren. Diese Umstände brachten die
Nikolaibahn in Abhängigkeit von den andern Eisenbahngesellschaf¬
ten. Im Beginne des Jahres 1867 schlug das Finanz-Ministerium den
Verkauf der Nikolaibahn vor und am 18. Juli 1867 erschien ein Ukas,
welcher den Verkauf der Nikolaibahn auf 85 Jahre anbefahl und zur
Erleichterung desselben die Emission von Eisenbahn-Obligationen 1
anordnete, welche zur Bildung eines ausschliesslich zu Eisenbahn¬
zwecken zu benützenden Fonds dienen sollten. Es wurde anbefohlen:
1) 600,000 Obligationen zu je 500 Frcs. = 20 Pfd. St. = 236 holl. Guld.
= 125 Rbl. Met. zu emittiren; 2) diesen Obligationen einen Ertrag von
4pCt. pro anno zu garantiren; 3) dieselben binnen 84 Jahren vom 20.
Oktober 1868 an zu tilgen; 4) die Subskription bei Gebr. Baring & Co.
in London, bei Hope & Co. in Amsterdam, bei Hottinger & Co. und
bei dem Comptoir d’escompte in Paris stattfinden zu lassen, und
5) dass im Falle des Verkaufs der Nikolaibahn der Käufer die Ver¬
pflichtungen betr. der Nikolaibahn-Obligationen auf sich nehme. Als
Käufer für die Nikolaibahn trat die Grosse Russische Eisenbahn¬
gesellschaft auf und auf Grund des Generalversammlungsbeschlusses
vom 3. Mai 1868 und des Ukas vom 8. Juni 1868 ging die St. Peters¬
burg-Moskau (Nikolai-) Bahn an die Grosse Russische Eisenbahn¬
gesellschaft über. Die Regierung zahlte der Grossen Russischen
Eisenbahngesellschaft 13,250,000 Rbl. zur Vornahme der nöthigen
Ergänzungsarbeiten an der Nikolaibahn, wogegen sich die Gesell¬
schaft verpflichtete, in den Staatsschatz jährlich 7,200,000Rbl. Pap. zur
Zahlung der 4 pCt. Zinsen und der Amortisationsquote sowohl für
die am 18. Juli 1867 im Betrage von 75 Mill. Rbl. emittirten 600,000
Nikolai-Obligationen, als auch für die laut Ukas vom 25. März 1869
1 Fundirt durch die Nikolaibahn.
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ausgegebenen 555,500 Nikolai-Obligationen (2. Serie) für 69,437,500
Rbl., zusammen für ein Kapital von 144,437,500 Rbl. einzutragen.
Am 17. Oktober 1868 wurde den Landschaften des Ssaratower
Gouvernements und des Kirssanower Kreises (des Tambower Gouver¬
nements), sowie der Stadt Ssaratow die Konzession der Tambow -
Ssaratower Eisenbahn ertheilt. Das Projekt dieser Bahn zog sich
seit dem 17. März hin und war manigfaltigen Zwischenfällen unter¬
worfen. Die Landschaften hatten sich bereit erklärt 1 pCt. des
gesammten Baukapitals zu garantiren, was einer Höhe von 5 pCt.
des zum Ausbau der ersten Theilstrecke (von Tambow nach Kirssa-
now) nöthigen Kapitals von ca. 5 Mill. Rbl. repräsentirte und baten
um die Bewilligung zur Bildung einer Aktiengesellschaft mit einem
Kapitale von l /4, von der Landschaft garantirten Aktien und von
s /4 vom Staate garantirten Obligationen; die Länge der Bahn war
mit 347 Werst und das erforderliche Kapital mit 27,734,236 Rbl.
Met. angegeben; sofort nach Realisirung der Aktien sollte zum
Bahnbau geschritten werden. Inzwischen petitionirten die Land,
schäften von Pensa und Ssimbirsk um Durchführung der Morschansk-
Ssamara Bahn; der Generalgouverneur von Orenburg stellte ein auf
Voruntersuchungen basirtes Projekt der Ssamara Orenburger Bahn
vor und wies auf die Nothwendigkeit hin, diese Bahn auch bis zu
den neuen russischen Gebieten in Centralasien zu verlängern; die
Borissoglebsker Landschaft bat im Namen der Grjasi-Berisso-
glebsker Eisenbahngesellschaft um Fortsetzung dieser Linie nach
Kamyschin. So verfügte das Ministerium gleichzeitig über drei Pro¬
jekte zur Verbindung der Centralgouvernements Russlands mit der
Wolga: nach Ssamara, Ssaratow und Kamyschin. Die Ssamaraer
Richtung hatte den Vorzug, dass sie einen Bestandtheil des Weges
nach Centralasien bilden konnte und ausserdem durch dicht be¬
völkerte Gegenden führte. Die Bahn nach Kamyschin bildete eine
kürzere Verbindung des unteren Laufes der Wolga mit den Balti¬
schen Häfen, als die Tambow-Ssaratower Linie, wodurch die auf
dem Kaspischen Meere kommenden Produkte und Waaren we¬
sentlich billiger und schneller zur Ostsee befördert werden konnten;
namentlich war dies wichtig in Bezug auf das Salz des Elton Sees,
da der letztere Kamyschin um 200 Werst näher liege als Ssaratow.
Das Kommunikations-Ministerium entschied demnach im Einver¬
nehmen mit dem Ministerkomite, dass die Linie von Borissoglebsk
wesentlich vortheilhaftcr sei. Daraufhin erklärten die Ssaratower
und Kirssanower Landschaften am 24. Mai 1868; die Bahn von
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Tambcnv nach Ssaratovv ohne jegliche Staatsgarantie oder Hülfe mit
eigenen Mitteln bauen zu wollen. Es entstand nun eine interessante
Kompetenzfrage, ob der Landschaft auch das Recht zustehe, Eisen¬
bahnen zu bauen und ob überhaupt die Mitglieder der Landschaften
mit diesem Projekt# einverstanden seien. Nachdem die Land¬
schaften sich mehrmals an das Ministerium gewendet und auch die
Generalversammlung der Ssaratower Landschaft beschlossen hatte*
einen Theil der Garantie zu übernehmen, erfolgte am 17. Novem¬
ber 1868 die betreffende Konzession unter nachstehenden Bedin¬
gungen : die Landschaften des Ssaratower Gouvernements und des
Kirsanower Kreises übernehmen im Verein mit der Stadt Ssaratow
die Verpflichtung zur Bildung der aTambow-Ssaratower Eisenbahn¬
gesellschaft». Die Gesellschaft hat die Bahn und einen Zweig zur
Wolga bei Ssaratow binnen 5 7 * Jahren auszubauen und sie mit dem
nöthigen Fahrparke und Betriebsmaterial zu versehen. Die Kon¬
zessionsdauer wurde auf 85 Jahre bemessen, die Länge der Bahn
(excl. Zweig) auf 340 Werst, das Kapital der Gesellschaft auf
27,734,236 Rbl. Met., gebildet durch Emission von 7,573,326 Rbl.
Aktien und 20,160,910 Rbl. Obligationen. Für das Aktienkapital,
dem die beiden Landschaften und die Stadt Ssaratow 5 pCt. Zinsen
und l /i* pCt. Amortisation garantirten, wurde die erste Theilstrecke
der Bahn gebaut. Ausgegeben wurden nur 48,470 Aktien zum
Preise von 103,5 pCt., die restirenden 12,118 Aktien ä 125 Rbl. Met.
übernahm das Baukonsortium Gebr. Gladin, von Desen und Luka¬
schewitsch. Die Obligationen übernahm die Regierung am 4. Juli
1869 zum Preise von 66 pCt., mit der Verpflichtung denUeberschuss
bei dem Verkauf der Gesellschaft zurückzuerstatten. Die Linie
selbst wurde in drei Baustrecken getheilt: 1) von Tambow zur
110. Werst (Station Um je t), 2) von der 110. Werst (Umjet) nach
Atkarsk (147 Werst) und 3) von Atkarsk nach Ssaratow (83 Werst).
In der Folge wurde wegen eingetretener Veränderung die Länge
der Bahn auf 354 Werst normirt. Die erste Theilstrecke wurde am
9. August 1870, die zweite am 15. Januar 1871 (16 Werst) und die
dritte (84 Werst) am 3. Juli 1871 eröffnet.
Ein ähnliches Durchgangstadium verzeichnet die am 15. De¬
zember 1868 konzessionirte Moskau-Stnolensker Bahn. Nachdem in
Folge der Eingabe des Statthalters im Königreich Polen Grafen Berg
im Beginn des Jahres 1866 anbefohlen worden war die nöthigen Traci-
rungsarbeiten für eine Warschau mit Moskau verbindende Bahn vor¬
zunehmen, überreichte im Februar 1866 der Smolensker Gouverneur
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268
die Petition dfer Smolensker Gouvernements-Landschaftsverwaltung,
diese Bahn durch Smolensk durchzuführen. Die Landschaft wies
auf die wichtige strategische Bedeutung der Warschau-Moskauer
Linie hin, betonte die volkswirtschaftliche Nothwendigkeit der Ver¬
bindung des Centrums der russischen Manufakturindustrie Moskau’s
mit Warschau und dem nordwestlichen Lande, welches überhaupt in
Bezug auf Manufakturen stark zurück sei und erwähnte der Schädi¬
gung der russischen Interessen bei der Isolirung und Entfremdung der
polonisirten Weissrussischen und Lithauischen Gouvernements von
dem Centrum des russischen Geistes und des russischen Lebens. In
Moskau fand die Anschauung der Smolensker Landschaft die freund¬
lichste Aufnahme. Inzwischen petitionirte Graf Berg auf Grund¬
lage vorgenommener Voruntersuchungsarbeiten im Februar 1867
um die Bestätigung der Hauptlinie von Brest nach Smolensk mit
einer Zweigbahn von Sielze nach Pinsk und um die Bewilligung,
sich betreff des Ausbaues dieser Linien mit Kapitalisten in Verbin¬
dung setzen zu dürfen. Nach der Meinung des Grafen Berg hatte
die Smolensk-Brester Linie eine überwiegend strategische Bedeu¬
tung; zwei Defensivlinien: den Bug und den Dnjepr verbindend,
bilde sie eine Operationslinie für einen Kriegsschauplatz inLithauen,
indem eine im Süden der Linie stehende Armee in der linken Flanke
durch die Sümpfe des «Polesje» und in der rechten durch Truppen
unterstützt werden könne, welche aus dem Innern Russlands mit den
St. Petersburg-Warschauer und Dünaburg-Witebsker Bahnen heran¬
zuziehen seien; dazu würden die Reserven aus Moskau kommen.
In kommerzieller und industrieller Beziehung verspreche die Brest-
Smolensker Bahn anfänglich zwar keine grossen Gewinne, doch
könne sie zur Förderung der Waidprodukt-Industrie beitragen,
namentlich der Theer-, Terpentin- und Pottascheproduktion, für
welche im Auslande eine rege Nachfrage vorhanden sei; gleich¬
zeitig könne sie die Entwickelung der Glasfabrikation und die Eisen¬
gewinnung aus den Morast-Erzen unterstützen, hauptsächlich aber
zur Transportirung russischer und centralasiatischer Waaren nach
Central-Europa und von Kolonial- sowie Manufakturartikeln nach
Moskau, Nishnij-Nowgorod und überhaupt nach Mittelrussland
dienen. Den Zuzug russischer Grundbesitzer und Industrieller ins
1 Die Obligationen der Tambow-Ssaratower Bahn bildeten einen Bestandtheil der
im Jahre 1871 emittirten II. Emission von konsolidirten Eisenbahnobligationen. Der
Eisenbahngesellschaft wurden weitere 1,135,282 Rbl. 31 Kop, für die Obligationen
ausgezahlt
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269
westliche Land fördernd, unterstütze die Smolensk-Brester Linie
das leichtere Russifiziren der genannten Gebiete; sie solle auch die
kommerzielle und politische Bedeutung Smolensk wieder hersteilen,
welche dasselbe in Folge der Durchführung von Chausseen von
Moskau nach Warschau und von St. Petersburg nach Kijew, mit
Umgehung Smolensk’s, eingebüsst. Der Zweig von Sielze nach Pinsk
würde das Letztere, den wichtigsten Markt des Westlichen Landes,
mit der Smolensk-Warschauer Linie verbinden und zur leichteren
Versorgung der angrenzenden Gebiete mit Getreide, Salz und son¬
stigen nothwendigen Produkten beitragen. Nach der Ansicht des
Grafen Berg sollte die Hauptlinie von Brest über Kobrin, Sielze,
Slonim, Minsk, Mohilew und Gorki führen, Smolensk vom Süden
umgehen und drei Werst hinter Smolensk sich mit der Orel-
Witebsker Bahn verbinden. Die Länge derselben war mit 656 Werst,
die der Pinsker Zweigbahn mit 102 Werst angenommen. Zum Bau
der Hauptlinie wären 33 V 2 Mill. Rbl. und für die Zweiglinie 4 1 /» Mill.
Rbl. erforderlich. Beides ungerechnet der Verluste bei der Kapitals¬
beschaffung und exclusive der Bauzinsen». Nach der Erklärung
des Grafen Berg hatte sich der englische Ingenieur Marmont bereits
mit englischen Kapitalisten betreffs der Herbeischaffung der zum
AÄsbaue der Smolensk-Brester Bahn erforderlichen Kapitalien in's
Einvernehmen gesetzt.—Gegen dieses Projekt sprach sich in Folge
eines Berichtes des Kommunikations-Ministers das Eisenbahnkomite
aus, indem es der Linie über Bobrujsk (als wichtigem strategischem
Punkte) und Pinsk den Vorzug vor der über Min^k gab; es wurde
die Vornahme von Tracirungsarbeiten am 26. Mai 1867 angeordnet
und am 7. Juni bestätigt. Inzwischen petitionirten die Landschaften
der Moskauer und Smolensker Gouvernements im Verein mit der
Moskauer Ritterschaft und der Moskauer Stadt-Duma im März 1867
um die Konzessionirung der Moskau-Smolensker Bahn an die beiden
Landschaften. Die Petition hatte jedoch keinen Erfolg und am
7. Juni wurde angezeigt, dass die Konzession der Moskau-Smo¬
lensker Linie erst dann verliehen werden könne, wenn die Möglich¬
keit vorhanden sein werde, die ganze Bahn von Moskau nach Brest
auszuführen; doch wurde die Smolensker Landschaft beauftragt die
Vorarbeiten für die Moskau-Smolensker Strecke vornehmen zu
lassen. In Folge der Missernte, von der das Smolensker Gouver¬
nement im Jahre 1867 betroffen wurde, sah sich das Ministerium,
um der nothleidenden Bevölkerung Mittel zum Geldverdienen zu
geben, bald darauf veranlasst den Beginn der Bauarbeiten an der
Rus«. Revuo. Bd. IX. l8
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270
Moskau-Smolensker Bahn anzuordnen, ohne erst das Bestätigen der
Konzession derselben abzuwarten. Die hierzu nöthigen Geldmittel
wurden der Landschaft aus dem Staatsschätze verabfolgt. Die Frage
der Konzessionsertheilung selbst wurde inzwischen in der üblichen
Weise erledigt: es wurden Konkurrenten zum Baue der Bahn einge¬
laden und die Konzession am 15. Dezember 1868 dem Konsortium:
Ehrenbürger Alex. Schepeler und Bankhaus Gebr. Sulzbach in Frank¬
furt a. M., welches den billigsten Preis gestellt hatte, zugesprochen.
Die «Smolensk-Moskauer Eisenbahngesellschaft» verpflichtet sich,
dem Staate die inzwischen verausgabten Summen zurückzuzahlen,
die von der Landschaft ausgeführten Arbeiten zu übernehmen und
die Bahn binnen 3 Jahren zu vollenden. Die Länge der Bahn
wurde auf 390 Werst bestimmt, ausser dem Verbindungszweige
zur Nikolaibahn (6 Werst). Das Gesellschaftskapital wurde auf
21,156,130 Rbl. Met. normirt, davon 1 Ia nicht garantirte Aktien und
s /4 Obligationen mit einem staatlich garantirten Ertrag von 5 pCt.
Zinsen und 0,1 pCt. Amortisation pro anno; die Gesellschaft hatte
das Recht über die Bahn 81 Jahre zu verfügen. Die 42,314 Aktien
ä 125 Rbl. Met. = 5,289,250 Rbl. Met wurden ä 75 pCt. emittirt
und die 58,957 Obligationen = 15,886,860 Rbl. Met. zum Preise
von 78—80 pCt. im März 1869 in St. Petersburg, Berlin, Frankfurt
a. M. und Amsterdam zur Subskription aufgelegt. Die von A.M.War-
schawski gebaute Bahn wurde am 20. September 1870 eröffnet.
Inzwischen hatte Graf Berg im Beginn des Jahres 1868 die Frage
der Richtung der Smolensk-Brester Bahn von Neuem angeregt. Am
15. Februar 1868 reichte derselbe beim Kommunikations-Ministe¬
rium eine Eingabe ein, in der er darauf hinwies, dass Bobrujsk keines¬
wegs die ihm zugeschriebene wichtige strategische Bedeutung
habe, weder als Durchgangspunkt über die Beresina, noch als
Befestigungspunkt einer Operationslinie auf der Moskau-War¬
schauer Chaussee, noch als befestigter Lagerplatz für Kriegs- und
Proviantvorräthe. In topographischer Hinsicht wäre die Bobrujsker
Richtung sehr ungünstig; in volkswirthschaftlicher ebenfalls ein
grosser Fehler, indem hier die Bahn nur kleine Städte, wieKobrinund
Sluzk berühren würde und an wenig bevölkerten und unfruchtbaren
Gebieten Vorbeigehen, dagegen Slonim, Minsk und die bevölkertesten
und fruchtbarsten Kreise Nowogrodok und Minsk bei Seite lassen wür¬
de. Die Strasse von Polen nach Moskau sei seit jeher über Minsk und
Borissow, nie aber über Bobrujsk gegangen; dieselbe Richtung
nehmen die Post- und Handelstrakte. Die Befürchtung, das« die
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271
neue durch Minsk geführte Bahn mit der St. Petersburger-War¬
schauer Eisenbahnlinie konkurriren werde, sei unbegründet; die
von Warschau nach St. Petersburg gehenden Güter würden weiter
mit der St. Petersburg-Warschauer Bahn transportirt werden. Dieje¬
nigen aber welche nach Central-Russland gesandt würden und die der
Smolensk-Brester Bahn zuzufallen haben, würden auch bisher nicht
mit der Warschau-St. Petersburger Bahn transportirt, sondern theils
per Schiff nach St. Petersburg, theils per Achse direkt von War¬
schau nach Moskau. Im Gegensätze zu der Ansicht des Grafen Berg
verfocht in einer Eingabe an das Eisenbahnkomite der Chef des
Generalstabes Graf Heyden den Vorzug der Bobrujsker Richtung.
Graf Heyden hob die militärische Bedeutung der Festung Bobrujsk
für den Fall eines Krieges hervor, cda dieselbe ein sehr bequemer
Punkt für ein befestigtes Lager und die Deponirung von Kriegs¬
und Proviantmaterial sein und von hier aus die Verbindung des
Feindes bedroht werden könne». Am I. März 1868 theilten sich in
der Sitzung des Ministerkomites, an welcher Graf Berg und der
Kriegsminister theilnahmen, die Meinungen laut dem «C6. ct. cb. o
«ex Aop. bt> Pocciö» pro 1870—1872 in nachstehenderWeise:
Die Majorität von 8 Mitgliedern gab der Bobrujsker Richtung den
Vorzug; die Majorität hatte ausser der strategischen Bedeutung von
Bobrujsk, noch die Wahrscheinlichkeit des billigeren Ausführens
dieser Strecke im Auge, da die Bobrujsker Linie zwar über sum¬
pfige doch mehr ebene Ortschaften, als das durchschnittene und
hügelige Terrain der Minsker Richtung führe; der Kommunikations-
Minister der sich dieser Anschauung anschloss betonte, dass die
Bobrujsker Richtung um 9 — 10 Mill. Rbl. weniger kosten und
rascher ausgeführt werden könnte, indem hier für die Bahn die fertige
Bobrujsker Chaussee zu benutzen wäre; dabei rieth der Kommuni¬
kations-Minister statt die Bahn von Bobrujsk über Mohilew nach
Smolensk zu führen, die Brest-Bobrujsker Linie nach Rogatschew
am Dnjepr fortzusetzen und von hier aus einen Zweig über Mohilew
zur Witebsk-Smolensker Linie zu bauen; unser Zweig könnte einen
Theil der projektirten Witebsk-Tschernigow-Kijewer Bahn bilden.
Die aus 5 Mitgliedern (Graf Berg, Graf Strogonow, dem Kriegs¬
minister, General-Adjutanten Totleben und dem Hofmeister Abasa)
bestehende Minorität negirte gänzlich die strategische Bedeutung
einer Linie über Bobrujsk und Pinsk, sie betonte, dass für einen
Kriegsschauplatz im nordwestlichen Lande nur die Gegend zwischen
dem «Polesje» und den Quellen des Niemen und der Düna, keineswegs
18*
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272
aber das sumpfige und waldige «Polesje» selbst geeignet sei. Die
Meinung der Minorität, die Bahn über Minsk zu führen, erhielt am
11. März 1868 die Allerhöchste Bestätigung. Die Ausführung der
Smolensker-Brester Bahn konnte jedoch erst 1870 zu Stande
kommen.
Inzwischen hatte das Eisenbahnkomite am 25. November 1868
das nachstehende Eisenbahnnetz bestätigt:
1. die Losowo Ssewastopoler Bahn.588 Werst
2. die Linie von Libau über Schaulen nach Kowno oder
dem nächsten Punkte der Kovvno-Landwarowo Linie 275 »
3. die Linie von Njeshin (an der Kursk-Kijewer Bahn)
über Tschernigow nach Mobilew.340 »
4. von Mohilew über Minsk nach Brest.530 »
5. von Borissoglebsk nach Zarizyn.350 »
6. von Woronesh nach Gruschewskaja.503 »
7. von Ssamara nach Busuluk.150 »
8. von einem Punkte der Kijew-Balta Bahn nach Brest . 500 »
Zusammen 3,236 Werst
Das Komite beschloss gleichzeitig die Konzessionen in der Weise
zu ertheilen, dass alle diese Linien binnen 3 bis 4 Jahren vollendet
sein würden, ferner, keine neue Konzession früher zu ertheilen
bevor nicht die Geldmittel für die vorherbestätigten Eisenbahn¬
unternehmungen gedeckt wären und überhaupt nur kleinere Zufuhrs¬
zweige, womöglich ohne staatliche Garantie, zu bestätigen.
Von diesem Eisenbahnnetze wurden im Laufe des Jahres 1869
die Kowno-Libauer, Borissoglebsk-Zarizyner und Woronesh-Gru-
schewskaja Linien konzessionirt; ausserdem, die diesem Netze nicht
angehörenden: Brest-Grajewo, Skopiner und Iwanowo-Kineschma
Bahnen.
Vorher war jedoch die im August 1868 nachgesuchte Konzession
einer Eisenbahn von der Station Ostaschkowo der Nikolaibahn nach
Torshok dem Fürsten Trubezkoj am 20. Dezember 1868 auf 81 Jahre
verliehen worden. Ursprünglich wurde das Aktienkapital der «Nowo-
torshokschen Eisenbahngesellschaft» auf 46,000Rbl. Met. pro Werst,
demnach bei 30Werst mit 1,380,000Rbl.Met. bemessen; in der Folge
wurde der Gesellschaft im Februar 1869 gestattet, die Metallwährung
in Papierwährung ä5Rbl-98Kop. zu konvertiren. Dabei erwiessich,im
Mai 1869, bei Vorlage des Bauplanes, dass die eigentliche Bahn¬
länge 32 Werst betrage und wurde deshalb der Gesellschaft im
September 1869 bewilligt, ihr Kapital auf 1,760,000 Rbl. Pap. zu
erhöhen. Die 17,608 staatlich nicht garantirten Aktien wurden
ä 75 pCt. begeben, der Bahnbau begann im Mai 1869 und wurde
am 30. Mai 1870 beendet.
Am 15. März 1869 legte der Kommunikations-Minister dem
Minister-Komite die Eingabe des Engländers John Hughes vor, der
sich verpflichten wollte die »Neurussische Steinkohlen-Eisen- und
Schienenindustrie-Gesellschaft» zu gründen und einen Seitenzweig
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273
von einem Punkte der Charkow-Asower Linie nach Süden in der
Richtung nach Stila oder Nowotroizk, auszubaucn. Das am 18. April
1869 bestätigte Projekt verpflichtete den Unternehmer Hughes zur
Bildung einer Aktiengesellschaft für den Ausbau einer Eisenbahnlinie
(von der Charkow-Asower Bahn in der Nähe von Bachmut) zu den
Gruben und zu den aufzuführenden Fabriksetablj$sements, in einer
Länge von 85 Werst. Die Regierung sollte dem Unternehmer 8 /* des
Werstpreises als Vorschuss ertheilen, der restirende */4 Theil durch
Emission nicht garantirter Aktien beschaffen werden. Der Werstpreis
sollte nicht 65,000 Rbl. Met. übersteigen, von dem Reinertrag zuvör¬
derst die zur Zinsenzahlung der Aktien erforderlichen Summen abge¬
schieden und der Rest dem Staate auf Rechnung des Vorschusses zur
Verfügung gestellt werden. Sobald die Reineinnahme 5 pCt. des
Gesammtkapitals übersteigt, soll die Hälfte des Ueberschusses zur
Zinsenzahlung und Tilgung des Staatsvorschusses verwendet werden.
Nach erfolgter gänzlichen Tilgung dieses Vorschusses jedoch der
ganze Ueberschuss zwischen dem Staate und der Gesellschaft im
Verhältnis der beiderseitigen Betheiligung am Grundkapital getheilt
werden. Die Ausführung dieses Projektes fällt in das Jahr 1870,
nachdem die betr. Bahn am 27. März 1870 in das Netz der besonders
wichtigen Eisenbahnlinien als Theil einer dieser Linien, und zwar
von der Kursk-Charkow-Asower Bahn über das Hughes'sche
Etablissement nach Marjupol, einbezogen wurde.
Ich habe bereits erwähnt, dass die Libauer Kaufmannschaft in den
Jahren 1855, 1856 und 1862 um Durchführung der Libau-Kowno
Bahn petitionirt habe; dieselbe wiederholte ihre Eingabe im März
1867, und im Januar 1868. Am 17. Dezember wurde die Libauer
Bahn dem neuen Eisenbahnnetze laut dem Beschlüsse des Eisen-
bahnkomite’s einverleibt auf Grundlage dessen liefen nachstehende
Offerten ein: I. von der Libauer Kaufmannschaft, 2. von dem Ehren-
bürgerGorbow, 3. von demBaron Vietinghoff und Staatsrath Schipow,
4. von dem Kollegienrath Baschmakow, 5. von dem General-Lieute¬
nant Fürsten Urussow, 6. von dem Ehrenbürger Meinhardt und der
Berliner Handelsgesellschaft, 7. von dem Ehrenbürger Wargunin,
8. von Wöhrmann et Co., 9. von dem Londoner Bankier Wak-
staphe, 10. von Lepenau und dem Fürsten Golizyn, 11. von dem
Wilnaer Kaufmann Milis. Mit Ausnahme Baschmakow’s und War-
gunin's forderten Alle eine staatliche Garantie. Baschmakow wollte
die Bahn für 63,500 Rbl. Met., Wargunin für 67,000 Rbl. Met.
bauen. Ausserdem erklärten an den «Torgen» theilzunehmen, sobald
die Konkurrenz ausgeschrieben werde: 1. Graf Subow, 2. General-
Major Awerkiew, 3. Stabs-Rittmeister Kirejew, 4. Gutsbesitzer
Schidlowskij, 5. Kaufmann Warschawski, 6. Graf Wassilij Wl. Adler¬
berg, 7. Gebrüder Gladin, 8. Ehrenbürger Daschkiewitsch, 9. Cornet
Butkowitsch.
Dieser so enorme Konkurrenzandrang erklärt sich durch das
wilde Haussespiel, welches an den russischen Börsen vom Sommer
1868 bis August 1869 herrschte. Alle auf den Markt gebrachten
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Werthe wurden mit unglaublichem Agio bezahlt, das Publikum
drängte sich zu den Subskriptionen, maasslos trieb man die Preise
ohne an einen unausbleiblichen Rückschlag zu denken.
Das Ministerium lud auf Grundlage der am 18. Oktober 1868
bestätigten Konzessionsbedingungen am 30. Mai 1869 die nach¬
stehenden Personen zur Einreichung von Offerten ein: 1. den Bevoll¬
mächtigten der Libauer Kaufmannschaft Schnabel, 2. Wargunin,
3. Warschawskij, 4. Günzburg, 5. Gebrüder Gladin, 6. Gorbow,
7. Daschkiewitsch, 8. Graf Subow, 9. Gebrüder Struve, 10. Baron
Vietinghoff und Schipow. 11.Baron Frankel und Potjemkin, 12. Mo-
rosow. Die Bahnlänge wurde auf 294 Werst bemessen, das Gesell¬
schaftskapital sollte aus ‘/s nicht garantirter Aktien und 2 /s Obliga¬
tionen, die der Staat ä 75 pCt. übernehmen würde bestehen. Den
niedrigsten Preis forderten Baron Vietinghoff und Staatsrath Schipow,
es wurde ihnen demnach am 21. Juni 1869 die Konzession der
Libauer Bahn ertheilt. Das Gesellschaftskapital war auf 12,789,000
Rbl. Met. =: 43,500 Rbl. Met. pro Werst bei 294 Werst Bahnlänge
bemessen worden. Den Konzessionären schlossen sich als Gründer
die Bankhäuser J. G. Bloch in Warschau, Jos. Jaques in Berlin und
Simon Wittwe und Söhne in Königsberg an. An Stelle der ur¬
sprünglichen 4,263,000 Rbl. Met. Aktien wurden 4,950,000 Rbl. Pap.
in 49,500 Aktien ä 100 Rbl. Pap. emittirt. Die Einzahlung war
ä 20 Rbl. in 5 Terminen: am 1. August, I. September und I. De¬
zember 1869, sowie I. März und I. Juni 1870 zu leisten. Die Aktien
wurden bald eines der gefährlichsten Spielobjekte an der Börse und
nachdem sie bis über 150 gestiegen waren, fielen sie im Dezember 1869
bis 91. Die Gesellschaft sah sich in der Folge genöthigt, um die Ver¬
schiebung des Einzahlungstermines für die letzten 20 Rbl., d. i. bei
49,500 Aktien 990,000 Rbl., zu petitioniren, die Aktien wurden
schliesslich auf 80 Rbl. abgestempelt. Der Bauplan musste wieder¬
holt verändert werden, so dass der Bahnbau erst im Februar 1870
begann und am 4. September 1871 beendet wurde. Die Libauer
Bahn beginnt bei der Station Koschedary (Etkany) der Kowno-
Wilnaer Eisenbahnlinie.
Am. 20. Juni 1869 wurde der Borissoglebsker Landschaft im
Namen der Grjasi-Borissoglebsker Eisenbahn die Konzession der
Fortsetzungslinie von Borissoglebsk nach Zarizyn ertheilt und beide
Bahnen in die *Grjasi’Zarizyner Eisenbahn* vereinigt. Die Gesell¬
schaft emittirte für diese zweite 390 Werst lange Strecke 62,400
Aktien ä 125 Rbl. Met. — 7,800,000 Rbl. Met. zum Kurse von
120 Rbl. Pap. für jede Aktie, wogegen die 15,600,000 Rbl. Met.
Obligationen von der Regierung zu 75 pCt. übernommen wurden.
Das Aktienkapital der beiden Strecken umfasste demnach 21,240,000
Rbl. Met. mit einem von der Landschaft garantirten Reinerträge
von 336,000 Rbl. Met. Am 26. Dezember 1870 erfolgte die Eröff¬
nung der Linie von Borissoglebsk nach Filonowo in einer Länge von
103 Werst und am 27. Juli 1871 von Filonowo nach Zarizyn.
Am 26. Juli 1869 wurde dem Ehrenbürger A. M. Warschawskij
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die Konzession einer Eisenbahnlinie von Skopin zur Rjasan-Koslower
Eisenbahn ertheilt. Die Frage der Skopiner Bahn war noch im
Jahre 1866 durch die Skopiner Kreislandschaft, die um eine Linie
Skopin-Korablinsk petitionirte, angeregt worden. Die Landschaft
wollte die Bahn bei einer staatlichen Garantie von 5,1 pCt. anfänglich
für 70,000 Rbl. pro Werst bauen, dann für nur 63,000 Rbl. Das
nachher von der Moskauer Technischen Kommissarow-Schule einge¬
reichte Projekt verdient seiner Originalität wegen ein näheres Ein¬
gehen. Die Schule suchte um die Bewilligung nach, eine Gesell¬
schaft mit einem Kapitale von 980,000 Rbl. Aktien und 1,000,000
Rbl. Obligationen ohne staatliche Garantie zum Ausbaue der Sko¬
piner Bahn bilden zu dürfen; der Direktor der Komissarow-Schule
solle Präsident der Gesellschaft werden, welche für diese Schule
in Skopin einen Lokomotiven- und Waggonslagerraum zu bauen
habe; alle Remontirungsarbeiten sollten durch Zöglinge dieser
Schule ausgeführt werden. Selbstverständlich wies der Kommu¬
nikations-Minister diesen Vorschlag zurück, mit der Motivirung,
«dass eine Eisenbahn ein kommerzielles Unternehmen aber kein
Wohlthätigkeitsinstitut sei». Bei der Anfang Juli 1869 stattgefun¬
denen Offerteneinreichung bot Warschawski mit 36,840 Rbl. Pap.
proWerst den niedrigsten Preis und wurde ihm daher dieKonzession
zugesprochen. An Stelle der Richtung von Skopin nach Korablinsk
wurde die nach Rjashsk gewählt und das Kapital der Gesellschaft
auf 1,584,120 Rbl. Pap. in Aktien normirt. Die Bauarbeiten be¬
gannen am 1. Oktober 1869 und waren am 7. Dezember 1870
beendet. Die 42,87 Werst lange Bahn ging in der Folge in die
Rjashsk-Wjasma Bahn auf.
Inzwischen wurden am 17. Juli 1869 die Offerten für die Woronesh -
Gruschcwskaja Bahn eingereicht; das Konsortium Gladin forderte
52,793 Rbl., Struve 55,307 Rbl., Poljakow 58,620 Rbl. und Gubonin
62,383 Rbl. pro Werst. Wiewohl sich die Mehrheit des Minister-
komites für Gladin aussprach und nur 3 Mitglieder für Poljakow
eintraten, wurde der Bahnbau dennoch am 16. August auf Aller¬
höchsten Befehl an Poljakow übertragen. In Verbindung mit den
Aksajsk- Gruschewskaja und Aksajsk-Rostower Linien wurde die ganze
Bahn als einiges Unternehmen «Woronesh-Rostower Eisenbahn* ge¬
nannt. Das Kapital für die ganze Woronesh-Rostower Bahn wurde
auf 36,168,600 Rbl. Met. festgesetzt. Für die Aksajsk-Gruschew-
skaja Strecke wurde dem Donischen Heere 3,021,203 Rbl. 73 Kop.
Pap. bezahlt. Für die erste Theilstrecke von Woronesh zur Station
Maximowka der Gruschewskaja Bahn sollten 31,479,000 Rbl. Met.,
und zwar 1 /s Aktien und 2 /» garantirte Obligationen, für die zweite
Theilstrecke von Maximowka nach Rostow a. D. 4,680,600 Rbl. Met.
in nicht garantirten Aktien emittirt werden. Die 20,986,000 Rbl. Met.
Obligationen wurden von der Regierung zum Kurse von 75 pCt.
übernommen. Von den 104,930 Aktien ä 100 Rbl. Met. reservirte
sich der Gründer 24,930 Aktien, die restirenden 80,000 Aktien wur¬
den am 16.—18. Februar 1870 zu 115 Rbl. 62 Kop.* Pap. zur Sub-
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skription aufgelegt und waren die einzelnen Einzahlungen im Zeit¬
räume vom I. März 1870 bis 5. Januar 1871 zu leisten. In der Folge
wurde die Metallwährung auf Papierwährung ä 5 Rbl. 98 Kop. kon-
vertirt und bestimmt, dass an Stelle von 115 Rbl. 62 Kop. Pap. pro
100 Rbl. Met. nunmehr nur 99 Rbl. Pap. für 100 Rbl. Pap. einzu¬
zahlen seien. Die Bauarbeiten begannen im Mai 1870 und wurde
am 27. Dezember 1870 die Strecke von Woronesh nach Liski am
Don (86 Werst) eröffnet. Der Bau der weiteren Strecken konnte in
Folge der durch den deutsch-französischen Krieg verursachten
Unterbrechung in der Lieferung des im Auslande bestellten Eisen¬
bahnmaterials, nur langsam vor sich gehen; am 28. November 1871
wurde die ganze Woronesh-Rostower Bahn für betriebsfähig erklärt.
Die Bahn beginnt bei der Station Rasdelna der Koslow-Woronesh
Bahn. Die Länge der Bahn bis Maximowka (an der Gruschewskaja
Linie) beträgt 523,5 Werst; die Gruschewskaja Linie sammt Zwei¬
gen (von Maximowka zu den Steinkohlengruben bei Gruschewskaja
5 Werst, bei Atjukta 6 Werst, und von Rostow zu der Gnilower
Station der Asower Bahn 2,47 Werst) umfasst 81 Werst; die ganze
Woronesh-Rostower Bahn demnach 604,5 Werst. Die im Septem¬
ber 1869 stattgefundene konstituirende Generalversammlung bevoll¬
mächtigte die Verwaltung um Fusionirung mit der Koslow-Woronesh
Bahn zu petitioniren.
Gleichzeitig wandte sich die Woronesh-Rostower Eisenbahngesell¬
schaft mit der nachstehenden Eingabe an das Kommunikations-
Ministerium: «Laut der Normalkonzession, welche der Gesellschaft
am 16. August 1869 das Recht zum Bau der Woronesh-Rostower
Bahn gab, sollte das für die Woronesh-Gruschewskaja Strecke erfor¬
derliche Kapital durch Emission von V* Aktien = 10,493,000 Rbl.
Met. und von */8 Obligationen == 20,986,000 Rbl. Met. aufgebracht
werden. Bei Annahme dieser Bedingungen rechnete die Gesell¬
schaft auf eine günstige Lage des Geldmarktes für Eisenbahnwerthe.
Die Folge zeigte, dass die Subskription der Aktien den Erwartungen
nicht entsprochen und viele der Subskribenten die weiteren Ein¬
zahlungen sistirt haben. Angesichts derartiger Schwierigkeiten,
welchen die Realisirung der Aktien begegne und in Anbetracht der
Nothwendigkeit, einige Ergänzungsarbeiten auszuführen, sehe sich
die Gesellschaft genöthigt, um Veränderung des Kapitalien-
Beschaffungsmodus in der Weise zu petitioniren, dass das Obliga¬
tionenkapital auf 8 / 4 der Gesammtsumme erhöht und das Aktien¬
kapital auf l U reduzirt werde. Dabei wolle der Gründer diejenigen
Aktien, auf welche die restirenden Einzahlungen nicht geleistet
wurden, unter Rückgabe des eingezahlten Betrages zurücknehmen.»
Diese Eingabe wurde auf Beschluss des Minister-Komite’s am 23.
April 1871 bewilligt. Das Grundkapital der I. Theilstftcke reprä-
sentirte demnach V« Aktien = 7,869,750 Rbl. Met. und */« garantir-
ter Obligationen = 23,609,250 Rbl. Met. Die der Vermehrung der
Obligationen entsprechende Aktienzahl wurde vernichtet.
Am 1. Oktober 1869 gelang es der Grossen Russischen Eisenbahn-
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geseÜschaft , die Lösung des s. Z. von der Regierung am 19. Juli 1866
auf 8 Jahre mit den Gebr. Wynans abgeschlossenen Pachtvertrages
der Nikolaibahn herbeizuführen. Als Entschädigung hierfür zahlte
die Regierung den Gebr. Wynans 5 Mill. Rbl. und für Vorräthe,
Bauten, Maschinen etc. weitere 500,000 Rbl., zusammen 5,500,000
Rbl. aus. Es wurde gleichzeitig bestimmt, dass bis zur gänzlichen
Tilgung dieser Schuld und der hierauf anwachsenden Zinsen, die
sich ergebenden Reineinnahmen der Nikolaibahn in nachstehender
Weise regelmässig jedes Jahr verwendet werden sollen: 1) 1,5 pCt.
des Bruttoertrages für das zum Umbau der hölzernen Brücken in
eiserne bestimmte Reserve-Kapital; 2) 7,200,000 Rbl. zur Zahlung
der Zinsen- und Amortisationsquote der Nikolaibahn-Obligationen in
den Staatsschatz; 3) 1,600,000 Rbl. sollten in Abzug gebracht und
von diesen 1,200,000 Rbl. dem Staate und 400,000 Rbl. der Grossen
Russischen Eisenbahngesellschaft (zur Dividendenvertheilung) aus¬
bezahlt werden; 4) der sich schliesslich ergebende Ueberschuss hatte
zur Tilgung der 5 Millionen-Schuld und der anwachsenden Zinsen
zu dienen.
Am 12. ünd 26. Dezember 1869 wurde die Konzession und die
technischen Bedingungen der Brest-Grajewo Bahn bestätigt und
dadurch eine Frage gelöst, welche sich seit dem Beginn der Sechs¬
ziger Jahre hingezogen hatte. Vergebens hatte bereits im Januar
1861 die preussische Königsberg-Lyk Bahn um Konzessionirung der
Fortsetzungslinie nach Grodno bei der Generalverwaltung der Wege¬
verbindungen petitionirt, dann im Januar 1863 Baron Pirch und im Ok¬
tober 1863 der preussische Gesandte in Russland, Graf Redern, in Ver¬
bindung mit Murawjew, dem Generalgouverneur von Wilna, Kowno,
Grodno und Minsk, welcher diese Frage im Juni 1864 wiederholt
anregte; denselben negativen Erfolg hatte im Oktober 1865 die
Eingabe des Statthalters von Polen, Graf Berg. Von der Ansicht
ausgehend, dass die projektirte Lyk Grodno Bahn parallel und nahe
der geplanten Kowno-Libauer Bahn auszuführen wäre und deshalb
unabwendbar alle mit dem Flusse Niemen kommenden Güter zu
Gunsten des Pillauer Hafens ablenken müsste, erklärte sich die
Generalverwaltung der Wegeverbindungen und dann das Kommu-
nikations - Ministerium stets gegen die Richtung über Grodno,
proponirte dagegen die Linie von Lyk über Bjelostok nach Brest-
Litowsk, welche als strategische Defensivlinie für Russland von
Bedeutung wäre. Das Eisenbahnkomite beauftragte den Grafen Berg
auf Grundlage dieser Richtung mit der Ostpreussischen Südbahn-
Gesellschaft in Unterhandlungen zu treten, dieselben fanden in den
Jahren 1867—1868 statt und nahmen erst Ende 1869 eine greifbare
Gestalt an. Am 15. Dezember 1869 legten Graf Lehndorf-Steinort,
Präsident, und Baron Romberg-Gerdauen, Verwaltungsmitglied der
Ostpreussischen Südbahn, dem Ministerkomite das Konzessions¬
projekt der Lyk-Brester Bahn vor; die Dauer der Konzession war
auf 81 Jahre, das Grundkapital auf 12,396,280 Rbl. Met., d. i. ca.
62,000 Rbl. Met. pro Werst, bemessen. Die Gesellschaft nahm den
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Vorschlag des Ministerkomites, den Werstpreis auf 57,500 Rbl. Met.
zu reduziren, an und am 26. Dezember 1869 erfolgte die Bestätigung
der neuen Konzession. Das Gesellschaftskapital sollte aus 13,353,300
Rbl. Pap. in 133,533 nicht garantirten Aktien ä 100 Rbl. bestehen.
Die Gründer der Gesellschaft übertrugen den Bahnbau gegen den
vollen Konzessionsbetrag dem Dr. Strousberg, welcher auch die
Financirung der Kapitalien übernahm. Die Gesellschaft hatte mit
einer Reihe von Misserfolgen zu kämpfen. Bei der im März 1870
zu 87 pCt. stattgefundenen Subskription wurde bestimmt, dass ausser
der bei der Subskription geleisteten ersten Einzahlung von 20 Rbl.
pro Aktie, die nächsten 15 Rbl. im Juni 1870, 20 Rbl. im August
1870, 15 Rbl. im Oktober 1870 und die restirenden 17 Rbl. im Januar
1871 gezahlt werden sollten. Die Subskription hatte insofern Er¬
folg, als alle Aktien gezeichnet und von den Subskribenten auch 20
Rbl. pro Stück eingezahlt wurden; Angesichts der schwierigen Lage
des Geldmarktes prolongirte die Verwaltung den zweiten Einzahlungs¬
termin anfänglich bis zum 5. Oktober 1870 und dann bis zum Februar
1871. Trotz alledem wurde auf 63,423 Aktien die zweite Einzahlung
nicht geleistet, in Folge wessen Dr. Strousberg mit der Berliner
Handelsgesellschaft und der St. Petersburger Privat-Handelsbank
einen Vertrag betr. Herbeischaffung der den 63,423 Aktien ent¬
sprechenden Kapitalsumme abschloss, worauf ich im folgenden Ab¬
schnitte zurückkomme.
Das russische Eisenbahnnetz umfasste am I. Januar 1868 4790,2
Werst; im Jahre 1868 wurden 1775 Werst 1 , im Jahre 1869 1241
Werst 8 dem Verkehr übergeben, so dass das russische Eisen-
1 Und zwar am 1. Februar die Koslow-Woronesh Bahn 167,2 Werst, 10. Februar
die Theilstrecke der Gruschewskaja Rostow Bahn von Aksaisk nach Rostow 12 Werst,
I. Juli der Zweig von dem Quarantaine Flügel der Odessa-Balta Bahn zu den Kujalniker
Salzwerken 8,6 Werst, I. August die letzte Theilstrecke der Balta-Jelisawetgrad Bahn
von Olviopol nach Jelisawetgrad 135,4 Werst, 15. August die Theilstrecke derMoskau-
Kursker Bahn von Tula nach Orel 177,5 Werst, 24. August die letzte Theilstrecke der
Warschau-Terespoler Bahn von der Terespoler Station zum Endpunkte der Linie 1,2
Werst, 30. August die Theilstrecke der Orel-Gijasi Bahn von Jelez nach Gijasi 108
Werst, 6. September die letzte Theilstrecke der Moskau-Kursker Bahn von Orel nach
Kursk 144 Werst, 16. September die Schuja Iwanowo Bahn 84 Werst, 10. Oktober die
Theilstrecke der Orel-Witebsker Bahn von Witebsk nach Roslawl 249 Werst, 14. No¬
vember die Theilstrecke der Kursk-Kijew Bahn von Kursk nach Woroshba 165 Werst,
21. November die Riga-Mitauer Bahn 39 Werst, 24. November die letzte Theilstrecke
der Orel-Witebsker Bahn von Roslawl nach Orel 249 Werst, 17. Dezember Theil¬
strecke der Kursk-Kijewer Bahn von Woroshba nach Browary 250 Werst, zusammen
1774,9 Werst.
2 Und zwar am 23. Januar die letzte Theilstrecke der Balta-Jelisawetgrad Bahn (von
der provisorischen zur definitiven Station) 2,2 Werst, 5 Juli die Theilstrecke der Kursk -
Charkow-Asow Bahn von Kursk nach Charkow 230 Werst, 30. August die Theilstrecke
der Kursk-Kijew Bahn von Browary zum Dnjepr 18 Werst, 8. Oktober die Jelisawet-
Krementschuger Bahn (zur Station Krukow) 134,5 Werst, 1. November die Theil¬
strecke der Finländischen Eisenbahn von Richimjaki nach Lachtis 55 Werst, 1. Novem¬
ber die Linie von Terespol nach Brest (-Litowsk) ohne Zweig (2,5 Werst) zum Flusse
Muchawjez 5,8 Werst, 4. Dezember die Theilstrecke der Grjasi-Zarizyn Bahn von
Gijasi nach Borissoglebsk 195 Werst, 21. Dezember die Koslow-Tambow Bahn 67,5
Werst, 23. Dezember die letzte Theilstrecke der Kursk-Charkow-Asow Bahn von
Charkow nach Taganrog und Rostow a. D. 533 Werst, zusammen 1241 Werst,
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bahnnetz am i. Januar 1870 7807,7 Werst umfasste; hiervon waren
4 Bahnen dem Staate gehörig, u. zw. die Odessa-Balta-Kremen-
tschuger, Moskau-Kursker, die (inländische Helsingfors-Tavasthusser
und Terespol-Brester Linien, zusammen 1304 Werst; eine Bahn,
die 325 Werst lange Warschau-Wieneiy war einer Aktiengesellschaft
in Pacht gegeben. Im Laufe des Jahres 1868 wurde der Bau der
Terespol-Kischinew Linie (67 Werst) auf Rechnung des Staates be¬
fohlen und ausserdem 11 Privatlinien in einer Länge von 3080
Werst mit einem Baukapital von 203,360,366 Rbl. Met. und 1,760,800
Rbl. Pap. konzessionirt. Im Jahre 1869 erfolgte die Konzessionirung
von weiteren 7 Privat-Linien in einer Länge von 1639 Werst mit
einem Kapital von 88,363,600 Rbl. Met. und 1,584,120 Rbl. Pap.
Folglich umfasste das russische Eisenbahnnetz am 1. Januar 1870
12,838,1 Werst, wovon 7807,7 Wers*, u.zw. 1303,5 Werst Staats- 1 und
6504,2 Werst Privat 2 -Bahnen im Betriebe und 5030,4 Werst, nämlich
978,9 Werst Staats- 8 und 4051,5 Werst Privat 4 -Bahnen, im Bau
waren.
Von 26 Privatbahnen verzeichneten nur die Zarskoje-Sselo, Peter¬
hofer, Gruschewskaja-Rostow und Moskau-Jaroslawer (von Moskau
bis Ssergiejewsk) Bahnen keine Staatsgarantie.
Die volle Summe der laut den Statuten oder Konzessionsverträgen
berechneten Staatsgarantie betrug Ende 1868: 13,676,321 Rbl. und
4 Und zwar: die Odessa-Balta Bahn sammt Zweiglinien: zum Hafen, nach Tiraspol
und nach Kujalmk (259,4 Werst); die Balta Jelisawetgrader (246,5 Werst), die
Moskau-Kursker samrat Zweigbahn zu den Nikolai- und Moskau-Nishnij-Nowgoroder
Bahnen sowie zur Oka (508 Werst), die Jelisawetgrad-Krukower (134,6 Werst), Hel-
singfors-Tawasthuser (100 Werst) und ein Theil der Fiuländischen von Richimjaki
nach Lachtis (55 Werst).
2 Und zwar: die Zarskoje-Sselo Bahn (25 Werst), die Warschau-Wiener (325 Werst),
die Nikolaibahu (604 Werst), die St. Petersburger-Warschauer sammt Zweiglinie zur
preussischen Grenze (1207 Werst), die Moskau Nishnij-Nowgoroder (410 Werst), die
Peterhofer sammt Zweig nach Krasnoje-Sselo (50,9 Werst), die Riga-Dünaburger (204
Werst), die Wolga-Doner (73 Werst), die Moskau-Rjasaner (196,4 Werst), die Theil-
strecke der Moskau Jaroslawer Bahn von Moskau nach Ssergiejewa Possad (66,1 Werst),
die Warschau-Bromberger (138 Werst), die Gruschewskaja-Rostower Theilstrecken
der Woronesh-Rostower Bahn (78 Werst), die Lodzer (26 Werst), die Dünaburg-
Witebsker (244 Werst), die Rjasan-Koslower (198,3 Werst), die Warschau-Terespoler
(193,7 Werst), die Rjashsk-Morschansker (121,4 Werst), die Koslow-Woronesher
(167,2 Werst), die JelezGrjasi Theilstrecke der Orel-Grjasi Bahn (103 Werst), die
Schuja Iwanover (84 Werst), die Orel-Witebsker (487,5 Werst), die Kursk-Kijewer
(433 Werst), die Mitauer (39 Werst), die Kursk Charkow-Asower (763 Werst), die
Tambow-Koslower (67,5 Werst), die Grjasi-Borissoglebsker Theilstrecke der Grjasi-
Zarizyner Bahn sammt Zweigen (199,2 Werst).
8 Und zwar: Kijew-Baltaer, Lachtis-St. Petersburger Theilstrecke der Finländischen
Bahn sammt Zweigen, die Terespoler-Brester und Tiraspol-Kischinewer Linien.
* Und zwar: die Poti-Tiflis Bahn, 2 Zweige der Moskau-Rjasaner (Sarajsker und
Jegorewer), die Ssergiejewsk-Jaroslawcr Theilstrecke der Moskau-Jaroslawer Bahn,
die letzte Theilstrecke der Woronesh-Rostower Bahn, die Jelez Orel Theilstrecke der
Orel-Grjasc Bahn, die Fortsetzung der Schuja-Iwanowo Bahn von Iwanowo nach Kin-
jeschma, die letzte Theilstrecke der Kursk-Kijewer Bahn sammt Brücke über den Dnjepr,
die Borissoglebsk-Zarizyn Strecke der Gijasi-Zarizyn Bahn, die Rybinsk- Bologoje,
Baltische, Charkow-Krementschuger, Moskau* Smolensker, Nowotorscher, Konstante *
nower, Libauer, Skopiner, Brest-Grajewoer und Tambow-Ssaratower Bahnen.
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Ende 1869: 22,492,545 Rbl. Davon zahlte der Staat, nach Abzug
der von den Eisenbahnen erzielten Reineinnahmen, in Wirklichkeit
im Jahre 1868: 5,370,000 Rbl. (nahezu 40 pCt.) und im Jahre 1869
7,764,700 Rbl. (nahezu 34,5 pCt.).
Durch Garantieleistungen hatte der Staat überhaupt bis zum 31.
Dezember 1869: 48,500,000 Rbl. verausgabt, was mit Zinsen
57,257,000 Rbl. beträgt.
Zu demselben Zeitpunkte hatten die von Seiten des Staates er-
theilten Vorschüsse den Betrag von 69,734,000 Rbl. und die Gesammt-
schuld der Eisenbahnen an den Staat die Summe von 127,000,000
Rbl. erreicht.
(Schluss folgt.)
Literatnrbericht.
Friedrich Bienemann . Briefe und Urkunden zur Geschichte Livlands in den Jahren
1558—156a. Aus inländischen Archiven. Bd. V. 1561. 1562. Nebst Nach¬
trägen. Riga. 1876. 539 S.
Vor nunmehr elf Jahren unternahm Friedrich Bienemann im An¬
schluss an Schirren’s Quellen zur Geschichte des Untergangs In¬
ländischer Selbständigkeit, welches dort dem Stockholmer Archiv
entnommene Material, durch die reichen Schätze zu ergänzen, die
noch ungehoben und kaum beachtet in den grossen Archiven von
Riga und Reval ruhten.
Heute liegt mit dem 5. Bande das Werk abgeschlossen vor uns;
vom Herausgeber nicht nur mit gleicher Liebe und Sorgfalt, son¬
dern mit stetig gesteigerter Sachkenntniss glänzend zu Ende geführt.
Von jenem Ausschreiben des Ordensmeisters Heinrich von Galen,
welcher am 9. Januar 1557 in Angst und Sorgen ein gemein Gebet
begehrte, für die Gesandschaft, die er an den Grossfürsten nach
Moskau abgefertigt, geht der erste Band aus; der fünfte schliesst
mit der Bittschrift, in welcher am 5. März 1562 Erzbischof Wilhelm
von Riga seinen neuen Herrn, den König von Polen, demüthigst
anfleht um bessere Versorgung, als er sie bisher erlangt.
Die kurze Spanne Zeit, welche der enge Rahmen jener fünf Bände
umschliesst, ist maassgebend geworden für die ferneren Geschicke
Livlands, und es ist nicht als eine Zufälligkeit historischer Lieb¬
haberei zu betrachten, dass gerade auf diese Periode seit Jahren
bereits die baltischen Geschichtsforscher die volle Energie ihrer
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Arbeitskraft geworfen haben. Schon die Zeitgenossen erkannten
die welthistorische Bedeutung der Ereignisse, welche vor ihren
Augen sich zutrugen; für keine Periode livländischer Geschichte
sind die Chronisten so beredt, die Archive so reichhaltig. Russow,
Henning, Renner, Tiesenhausen und wie sie Alle heissen, wetteifern
in ausführlichen, noch von der Glut der Tagesereignisse erhitzten
Darstellungen; aus den Archiven aber geht uns erst das wahre Licht
auf für die Geschichte jener Tage. Während die Chronisten, selbst
bei der Absicht grösster Gewissenhaftigkeit — welche leider nicht
immer vorhanden ist — uns die Zeit darstellen durch den Spiegel
ihres Parteistandpunktes getrübt, tritt uns hier die wirkliche leben¬
dige Geschichte entgegen. Wir erhalten einen Einblick in die Par¬
teiungen, welche das Land zerrissen; Orden und Landadel, Städte
und Geistlichkeit, wir hören sie alle selbst ihre Sache vertreten, und
die Bestrebungen der auswärtigen Mächte, der Schweden, Dänen,
Polen und Russen liegen klar zu Tage. Sich vor dem gefährlichsten
Feinde zu schützen, gab Livland den Nachbarn im Norden, Westen
und Süden immer mehr preis. Immer enger wurde dem Lande die
Brust, die Pulsschläge eigenen Lebens immer spärlicher. Die letzte
traurigste Periode dieses aussichtslosen Ringens schildert uns der
fünfte, abschliessende Band der Bienemann'schen Briefe und Urkun¬
den. Schon wird nicht mehr gekämpft, sondern nur unterhandelt.
Das Beglaubigungsschreiben Sigismund August’s für Nikolaus Radzi-
wil an die livländischen Stände eröffnet das Buch, und in nicht unter¬
brochener Reihenfolge, fast von Tag zu Tage, gewähren Briefe,
Urkunden und Tagebücher uns den Einblick in den Gang der Ver¬
handlungen. Jeden ernsten Widerstand hatten die übrigen Stände
bereits fallen lassen, nur Riga sucht noch bis zum letzten Augen¬
blick zu retten, was sich irgend retten lässt. Vergebens ist die Stadt
bemüht, den König Sigismund August zu energischer Offensive
gegen Iwan den Schrecklichen zu bewegen. Hoffte man doch, wenn
erst etwas freie Luft nach Osten hin gewonnen sei, in Livland selbst
mehr Nachhaltigkeit und Eintracht in der Stellung gegen oder zu
Polen erwirken zu können. Auch Ordensmeister und Erzbischof
suchten umsonst den König für den Feldzugsplan zu gewinnen,
welcher, wie später Stephan Bathory erwies, der allein richtige war.
Wenn des Königs Majestät, schrieben sie, nicht in Feindes Land
eindringe, werde Livland immer mehr zu Grunde gerichtet werden.
Aber die Antwort Radziwil’s ist ein scharfer Verweis. «Nichts war
von jeher dem Könige verhasster und erregte seine Entrüstung in
höherem Grade, als wenn man ihm Gesetze diktiren und Mittel und
Wege vorschreiben will, wie er dies Land vertheidigen soll.* So
geht die Zeit hin, Livland wird immer machtloser, Polens Forderun¬
gen werden immer bestimmter. Aus dem bisherigen Schutzverhält-
niss soll völlige Unterwerfung unter Polens Oberherrlichkeit werden
und bereits am 4. August 1561 hat Radziwil seine dahin gehenden
Forderungen formulirt. Und der erste Punkt lautet: «ut civitas
Rigensis veniat in fidem ac potestatem majestatis regiac». Es war,
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wie Bienemann treffend bemerkt, der Gedanke des Schutzverhält¬
nisses durch den der Unterwerfung eskamotirt worden. Bis auf Riga
waren die übrigen Stände, zumal der Ordensmeister und der Erz¬
bischof, von Polen gewonnen, der weitere Widerstand wurde nun
fast ausschliesslich von Riga fortgesetzt.
Wir müssen uns leider versagen, den Gang der hochinteressanten
und spannenden Verhandlungen weiter zu verfolgen. Hoffentlich
führt der Herausgeber recht bald sein Versprechen aus, uns diese
Zeit selbst darzustellen. Auf einige Punkte nur sei es gestattet,
hier noch hinzuweisen.
Unter dem vielen Neuen, welches uns der fünfte Band der Briefe
und Urkunden bietet, ragt besonders das Tagebuch hervor, welches
die Riga’schen Gesandten über die Subjektionsverhandlungen zu
Wilna vom 8. Oktober bis n. Dezember 1561 geführt haben. In
schlichter Darstellung ein Bild der Wirren und Intriguen jener Tage,
welchem wir nichts Gleichartiges zur Seite zu stellen haben. Ein
Ehrenzeugniss zugleich für die Stadt Riga, welche bis zuletzt fast
ganz alleinstehend, den Muth fand, gegen die Uebermacht ihr gutes
Recht zu vertreten. Gerade dieses Verhalten der Stadt Riga ist
neuerdings in der Beilage zur ♦ Augsburger Allgemeinen* Nr. 223
durch W. v. B. in gehässiger Weise — als ob Stadt und Land noch,
wie vor 400 Jahren, im Kriege lägen — angegriffen und verlästert
worden. Vergeblich sucht man nach Beweisen. Sie scheinen zum
Theil auf falsche Deutung der Marginalarten zu Nr. 898 zurück¬
zugehen, nur dass Hr. W. v. B. übersehen hat, dass diese bissigen
Glossen, welche er als Schibolet politischer Weisheit acceptirt, offen¬
bar von polnischer Hand herrühren. Wir können hier nur Protest
dagegea einlegen, wenn der Verfasser jener Anzeige den eigenen
Parteistandpunkt auf die Ereignisse längst entschwundener Jahr¬
hunderte überträgt.
Zu dem Neuen, welches uns Bienemann’s Werk bietet, gehört
auch das beinahe vollständige Material zur Kritik der pacta sub-
jectionis und des Privilegiums Sigismundi Augusti. Der Kampf um
die einzelnen Artikel, welche wieder und wieder angegriffen wurden,
die politischen und persönlichen Momente, welche zur schliesslichen
Annahme oder Ablehnung führten, treten uns in erwünschter Klar¬
heit aus den zahlreichen hierher gehörigen Nummern entgegen. Aus
diesem Gesichtspunkte verdienten jene wichtigen Staatsurkunden
einer gründlichen wissenschaftlichen Bearbeitung unterzogen zu
werden.
Zwei Exkurse sind dem Buche angeschlossen. Der erste gibt
nach dem Original die Varianten der vielfach gedruckten sogenann¬
ten provisio ducalis, der zweite behandelt das pnivilegium Sigismundi
Augusti, und macht die vielfach angestrittene wirkliche Ausfertigung
dieses wichtigsten livländischen Privilegiums im höchsten Grade
wahrscheinlich. Ein mit bekannter Sorgfalt angefertigtes Register
und einige Seiten Zusätze und Berichtigungen zu allen fünf Bänden
bilden den Abschluss des trefflichen Werkes.
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283
Zum Schluss sei es gestattet, einige Textverbesserungen für Stel¬
len in Vorschlag zu bringen, deren Korrumption der Herausgeber
meist selbst erkannt hat:
pag. 13 Zeile 12 von unten zu ergänzen Osiliam
22
155
157
339
12
3
11
l 7
statt quia facere — quia faceret.
* venire — unire.
» eam — iam.
er im Sinne von eher (nicht sie).
Dr. Th. Schiemann.
Berne Russischer Zeitschriften.^
ä
Der «europäische Bote» (Wjestnik Jewropy — BiscTHHifbEBponu).
XI. Jahrgang 1876. August. Inhalt:
Aus der Zeit des Krimmkrieges I—II. Von Th, Stully. — Sein eigener Feind.
Psychologischer Abriss aus dem Roman der Miss Rhoda Broughton «Good-bye Sweet-
heart.» Von O, P — skaja, — Die türkische Civilisation, ihre Schulen, Softas, Biblio¬
theken und Literatur. Aus einer Reise nach Konstantinopel im Sommer 1875. Von
W . Smirnojf. — Abriss der Frage über die Entstehung der Ansichten. X—XI. Von
y. y. Metschnikow . — Unsere Reichs-Assignationen vor Umwechslung auf Kredit-
billete. Materialien und Factas aus der Geschichte der russischen Finanzen. I—VI.
Von y. Pctschorin . — Der ländliche Gemeindebesitz in Russland. Von Mackenzie
Wells. (Uebersetzt nach dem englischen Manuscript). Von Helene Besah . — Neue
Versuche zur Entwickelung der russischen Geschichte. Von A, Pypin, — Die Für¬
stenbunde und die deutsche Politik. Katharina II. Friedrich Wilhelm II. Joseph II.
1780-1786. XIV. Friedrich II und die Vorbereitung zum Fürstenbunde XV.
«Die Fürsten ersten Ranges». Kassel und Würtembcrg. XVI. Die Fürsten Joseph
und Katharina am Vorabend des Fürstenbundes. XVII. Der Beschluss des Fürsten¬
bundes. Von A, S, Iratsehewsky. — Rundschau im Inlande. — Ausländische Politik.
— Korrespondenzen aus Berlin. — Pariser Briefe. — Bibliographische Blätter.
«Das alte Russland» (Russkaja Starina — PyccKax GrapHHa)
herausgegeben und redigirt von M. J. Ssemewskij Siebenter Jahrgang. Heft VIII.
August. Inhalt:
Aufforderung des slavischen Komite’s zur Unterstützung zum Besten der flir ihre
Unabhängigkeit kämpfenden Südslaven. — Katharina II. und Fürst Potemkin. Origi¬
nal-Korrespondenz aus dem Jahre 1788. — Fürst Platon Alexandrowitsch Suboff. Bio¬
graphischer Abriss. 1768 - 1822. Cap. I. —Die Hauptmitschuldigen Pugatschew’s.
Abrisse und Erzählungen nach Thatsachen. 1773 — 1774* —Tagebücher J. S. Shir-
kewicz’s 1795—1848. Von S. D. Karpow, — Erinnerungen Passek's. Kap. XXVI.
1834 — 1836. Der Krieg Russlands mit der Türkei. 1853 - 1854. Blätter aus dem
Notizbuch der «Russkaja Starina». — Bibliographische Mittheilungen über neue rus¬
sische Bücher (auf dem Umschläge).
«Russisches Archiv» (Russkij Archiv — PyccKifl ApxHBi) heraus¬
gegeben von Peter Bartenjew. XIV. Jahrgang. 1876. Heft 8. Inhalt:
Die Franzosen in Moskau im Jahre 1812. VII. Von A. N. Popo ff": Das zwölfte
Jahr. Erzählungen aus der Gegenwart. Briefe, Anekdoten, Gedichte etc. — Ueber
die Medaille zur Erinnerung der Einnahme Moskau’s durch die Franzosen im Jahre
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1812. — Korrespondenz der Gebrüder Korostowzow über das Denkmal der Kaiserin
Katharina II. in Jekaterinoslaw. — Auszüge aus einem alten Tagebuche. — Tagebuch
des polnischen Bischofs Butkewitsch. — Ein Pole im Dienste Pugatschew’s. - Zehn
nichtveröffentlichte Gedichte A. S. Puschkin’s. — Eine Zuschrift Shukarsky’s an A. S.
Puschkin. — M. M. Karniolin-Pinskij in Simbirsk. Von J. N . Christo/crow . — Be¬
merkungen über Karniolin-Pinskij. Von A. F. Tomaschewskij . — lieber die Erinne¬
rungen O. A. Prshewalskij’s. Von S, P. Suschkow . — Berichtigung zum Aufsatz über
den Grafen G. W. Orloff. Von G. G. Grigorjeff . — Inhaltsverzeichnis und alphabe¬
tisches Register zum II. Bande des «Russischen Archiv* Jahrgang 1876.
Russische Bibliographie.
Pisemskij, P. Die Aktiengesellschaften vom Standpunkte des Civil-
gesetzes. Moskau. 8°. 229 +IV S. (flHCeMCKifl, flaaeJiv Aio;ioHep-
hwä KOMEiaHin cb to*ikh ap'feüia rpaauiaHCKaro npaßa. MocKBa )
Anders, Wilfried. Beiträge zur Statistik Livland’s. Riga. 8°. 95 S.
Annuaire diplomatique de l’Empire de Russie pour Pannde J876.
Seizteme annee. St. Petersb. 12 0 . 255 S.
Apergu statistique de l'agriculture, de la sylviculture et des peche-
ries en Russie. Rddig£ par I. Wilson. St. Petersb. 8°. VIII 4- 182 S.
mit einer Karte.
Bienemann, Friedr. Briefe und Urkunden zur Geschichte Livland’s
in den Jahren 1558 —1562. Aus inländischen Archiven. Band V.
1561 — 1562. Riga. 8°. L4-539S.
Schmidt, Karl. Wasserversorgung Dorpat’s. II. Eine hydrologische
Untersuchung. Dorpat. 8°. VIII 4- 144 S. mit einer Tafel.
Bunge, N. H. Kursus der Statistik, zusammengestellt für Studenten
in der ersten Hälfte des Jahres 1876. 2. Ausg. Kijew. 4 0 . IV4- 175 S.
(Bynre, H. X. Kypc t> CTarHCTHKH, cocTamieHHbitt bt> nepBofl nojio-
BHH'fe 1877 r. äjia CTy^eHTOB-b. H3 a. 2-e. KieBT>.)
Historisch-statistische Nachrichten über die St. Petersburger
Eparchie. 5. Lfg. St. Petersb. 8°. 389 S. (HcTopmco-CTaTHCTH-
Hecxia CB'feÄ'feHia o c.-neTepöyprcKoft enapxin. Bbin. 5-ft. Cn6.)
Materialien zu einer Statistik des Turkestan-Gebiets. Herausgeg.
vom Turkestanischen Statistischen Komite, unter der Redaktion von
N. A. Majew. Lfg. 4. St. Petersb. 8°. 3134. 204 S. (MaTepiaJiw
AAa CTaTHCTHKH TypKecTaHCKaro Kpaa. H 3 A. TypKecT. CTaT. K-Ta,
doai» peA. H. A. Maeßa. Bbin. IV. Cn6.)
Sabelin, Iwan. Geschichte des russischen Lebens in der ältesten
Zeit. I. Theil. Moskau. 8°. XII 4- 647 S. ( 3 a(tJHfHV HßaH*b. Hcto-
pia pyccKofl kh 3 hh ct> ApeBH'fettuinx'b BpeMeHB, H. I. MocKBa.)
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Carl Röttger.
AoasoJieHo ueH3ypoio. C,-rieTep6yprb, 5-ro CeHTsÖpa 1876 ro^a.
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Areal und Bevölkerung von Ost-Sibirien.
i.
Das in lebhafter Zunahme begriffene Interesse für Sibirien hat
jüngst in einem literarischen Unternehmen Ausdruck gefunden,
welches der wissenschaftlichen Kunde Sibiriens wesentliche Dienste
zu leisten vermag. Es ist dies die « Sammlung historisch-statistischer
Nachrichten über Sibirien und die ihm angrenzenden Länder» (C6op-
HHKT> HCTOpHKO-CTaTHCTHHeCKHXT» CB'fcA'fcHift O Cn6lfpH H COnpe-
Ä'fejibHMX’b eö CTpaHaxi»), ein in unbestimmten Zeiträumen erschei¬
nendes periodisches Werk, welches speziell der Geschichte, Statistik,
Geographie und Ethnographie Sibiriens gewidmet ist.
Der Herausgeber der «Sammlung» hat sich vor Allem zur Aufgabe
gemacht, jenes rohe Material, welches sich in verschiedenen Regie¬
rungs- und Familien-Archiven aufgesammelt hat und das aus Mangel
an Mitteln und anderen Gründen bis jetzt nicht hat veröffentlicht
werden können, in seiner Schrift zur allgemeinen Kenntniss zu brin¬
gen, um sowohl die kepräsentanten der lokalen sibirischen Intelli¬
genz, als auch alle Diejenigen, welche sich für Sibirien interessiren,
zu ernster wissenschaftlicher Arbeit über dieses Land anzuregen und
ihnen überhaupt den Stoff zu dieser Arbeit herbeizuschafifen. Ferner
soll-aber auch Alles, was auf Sibiriens Gegenwart oder Vergangen¬
heit Bezug hat und den Stempel der Wahrscheinlichkeit an sich
trägt, ohne Rücksicht auf die Form, Aufnahme finden.
Dieses in kurzen Worten das Programm des Unternehmens, dessen
Nothwendigkeit und Nutzen nicht erst bewiesen zu werden braucht
und dem nur gewünscht werden muss, dass es recht energisch fort¬
geführt werde.
Unter den verschiedenen Aufsätzen dieses ersten vorliegenden
Bandes der «Sammlung» findet sich nun auch eine grössere statisti¬
sche Arbeit über das Areal und die Bevölkerung von Ost-Sibirien ,
eine mit grossem Fleisse abgefasste, stellenweise jedoch auch von
eben so grosser Flüchtigkeit zeugende Abhandlung, welcher wir
nachfolgende Daten entnehmen.
Bus. IUvu®, Bd. X. 19
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286
Mit dem Namen «Sibirien* bezeichnet man den ganzen nördlichen,
zwischen dem Eismeer und China liegenden Theil Asiens; begrenzt
im Westen vom Ural-Gebirge, im Osten vom Stillen Ocean.
Diese grosse Fläche, zwischen dem 45 0 bis 78° n. Br. und 76° 1
bis 208° ö. L. gelegen, hatte viele Phasen administrativer Einthei-
lung durchzugehen, bis endlich im Jahre 1822 die Theilung in Ost-
und West-Sibirien festgestellt wurde. Wir können in dieser Beziehung
folgende, nicht uninteressante Daten aus der Geschichte der Erobe¬
rung und der administrativen Eintheilung Sibiriens mittheilen.
Die ersten am 10. Mai 1583 ernannten Wojewoden Sibiriens waren
der Fürst Ssemen Bolchowskij und Iwan Gluchow. Das im Jahre
1590 gegründete Tobolsk wurde zur Hauptstadt bestimmt; der Fluss
Irtysh bildete damals die Grenze. Im Jahre 1600 drangen die Russen
in das jetzige Ost-Sibirien vor und gründeten nach einander die Städte:
1600 — Mangaseja und Turinsk, 1609 — Tomsk, 1617 — Kusnetzk,
1618 —Jenisseisk; im Jahre 1620 waren die Russen bis zum Flusse
Wilui gekommen; 1621 wurde Bjelskij-Ostrog (jetzt ein Dorf im
Kreise Balagansk), 1626 — Krassnojarsk gegründet; im Jahre 1627
erschienen die Russen an der Angara, im folgenden Jahre an der
Lena; 1629 wurden darauf Kafnsk und Ischim, 1630 —Ilimsk, 1632
Jakutsk angelegt; 1633 drangen sie bis nach Kamtschatka; 1635
gründeten sie Kurgan und Olekminsk, 1638 — Wercholensk, 1639
Jalutorowsk, 1641 — Werchojansk, 1642 — Atschinsk; im Jahre
1643 gelangten die Russen an den Baikal-See; 1644 wurden Nishne-
Kolymsk und Werchne-Angarsk gegründet, 1645 — Kansk und
Ochotsk, 1652 — Irkutsk, 1654 — Balagansk, 1656 — Nertschinsk,
1668 — Werchne-Udinsk; im Jahre 1699 wurde endlich Kamtschatka
vollständig erobert.
Dem allmäligen Vordringen der russischen Eroberer ent¬
sprechend veränderte sich auch die administrative Eintheilung
Sibiriens. Ausser der schon erwähnten Wojewodschaft Tobolsk
entstand im Jahre 1638 die Wojewodschaft Jakutsk, darauf 1676
die Wojewodschaft Jenisseisk, wozu auch Irkutsk gehörte, bis
im Jahre 1682 eine selbständige Wojewodschaft Irkutsk gebildet
wurde. Im Jahre 1708 wurde ein sibirisches Gouvernement mit
Tobolsk als Gouvernements - Stadt errichtet; 1719 wurden das
jetzige Gouvernement Irkutsk und das Gebiet Transbaikalien zu
einer «Provinz*, welche jedoch dem Gouverneur von Tobolsk unter-
1 Im Original heisst’s: 35 0 östl. Länge, was wohl ein Druckfehler ist.
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2$7
geordnet war, vereinigt. Im Jahre 1736 wurden dann zwei von
einander unabhängige «Provinzen»: Tobolsk und Irkutsk, gebildet;
1750 wurden die eben genannten «Provinzen» zu Gouvernements
erhoben, wobei Jakutsk und Ochotsk dem Gouvernement Irkutsk
einverleibt wurden. Im Jahre 1805 wurde das Gebiet Jakutsk aus¬
geschieden, worauf 1806 der Posten eines sibirischen General-
Gouverneurs geschaffen wurde. 1822 wurde ganz Sibirien in Ost-
und West-Sibirien eingetheilt; das Erstere wurde gebildet aus den
Gouvernements Irkutsk (mit Einverleibung von Transbaikalien),
Jenisseisk und dem Gebiet Jakutsk. Im Jahre 1851 wurde endlich
Transbaikalien als selbständiges Gebiet ausgeschieden, und eben so
im Jahre 1854 Ssemipalatinsk, 1857 das Amur-Gebiet, 1867 endlich
Akmolinsk ! .
Obgleich jetzt von einer neuen administrativen Eintheilung Sibi¬
riens die Rede ist, so muss doch bemerkt werden, dass die gegen¬
wärtige Eintheilung des Landes im Vergleich zu den früheren Ver¬
suchen wenigstens das Verdienst beanspruchen kann, dass sie auf
natürlicher Grundlage ausgeführt ist, indem West-Sibirien die Strom¬
gebiete des Irtysch und des Ob zuertheilt sind, Ost-Sibirien aber
einerseits die Stromgebiete des Jenissei und der Lena, andererseits
die des Amur und der Angara umfasst. Diese Eintheilung ist in
der That die natürlichste und beste.
Wir gehen nun zur statistischen Beschreibung von Ost-Sibirien
über, welches bekanntlich aus 2 Gouvernements und 4 Gebieten
gebildet wird. Die vier Gebiete sind:
1. Das Amurgebiet.
2. » Küstengebiet.
3. » Gebiet Transbaikalien.
4. » » Jakutsk.
Die zwei Gouvernements:
1. Das Gouvernement Irkutsk.
2. » » Jenisseisk.
In Betreff des Areals dieser sechs Theile Ost-Sibiriens finden wir
bei dem Verfasser der oben genannten Abhandlung eine besondere
1 Der Verfasser der oben genannten Abhandlung, so wie der Herausgeber der
«Sammlung historisch statistischer Nachrichten» erklären in einer Anmerkung, dass sie
sich an die administrative Eintheilung des Grafen Speransky vom Jahre 1822 halten
d. h. dass sie die jetzigen Gebiete Ssemipalatinsk und Akmolinsk zu West-Sibirien,
zählen werden, da sie in ihren Untersuchungen nicht selten das jetzige Sibirien mij
dem Sibirien zu Zeiten des Grafen Speransky zu vergleichen haben.
*9*
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288
Tabelle, in welcher verschiedene Daten über das Areal Ost-Sibiriens
aus den Kalendern der Herren Ssuworin und Hoppe, aus dem Sibi¬
rischen Kalender für 1874 und 1876 und aus dem Werke des Ober¬
sten Strelbitzky über das Areal des russischen Reichs zusammen¬
gestellt sind, ohne dass sich der Verfasser des Weiteren darüber aus¬
gelassen hätte. Er wendet sich mit Recht direkt den Angaben des
Obersten Strelbitzky, als den zuverlässigsten, zu. Darnach enthält:
Quadrat-
Quadrat-
Quadrat-
Werst
Meilen
Kilometer
1. Das Amurgebiet ....
394,984,2
8,163,39
449.500,1
2. » Küstengebiet . . .
1,665.743.0'
34,426,98
1,895,649,7
3. » Geb. Transbaikalien
547,965.6
11,325,15
623,596,1
4. » » Jakutsk:
Kreis Jakutsk.
761,760,4
15,743,79
866,899,0
» Olekminsk ....
317,792.2
6,568,01
361,654,1
» Wiluisk.
995.494.6
20,574,52
1,132,893,3
» Werchojansk . . .
707,301,5
14,618,25
804,923,6
» Kolymsk.
670,306,6
13,853.65
762,822,7
Summe .
3.452,655,3
71,358,22
3,929,192,7
5. Das Gouvernement Irkutsk:
Kreis Irkutsk.
70,169,4
1,450,23
79,854.2
» Balagansk ....
38,379,4
793,21
43,676,5
* Werkolensk . . .
77,397,3
1,599,62
88,079,7
» Nishne-Udinsk . .
106,798,3
2,207,26
121,538,7
» Kirensk.
410,905,9
8,492,45
467,619,3
Summe .
703,650,3
14,542,77
800,768.4
6. Das Gouvernement Jenisseisk:
Kreis Jenisseisk.
399,012,7
8,246,65
454,084.5
» Krassnojarsk . . .
18,011,4
372,25
20,497,4
» Kansk.
72,989,5
1,508,52
83,063,6
» Atschinsk.
5 »,i 77 ,o
1,057,70
58,240,5
» Minushinsk ....
93,497,1
1,932,36
106,401,6
» Turuchansk....
1,624,874,6
33,582,32
1,849,140,6
Summe .
2,259,562,3
46,699,80
2,571,428,2
09 t-Sibirien Total .
9,024,560,7
186,516,11
10,270,135,2
4 Bei Strelbitzky und dem Verfasser der Abhandlung in der
«Sammlung* —
1,669,060,6, da sie irrthiimlicher Weise die Insel St. Laurent (3317,4 Quadrat-Werst
— 68,563 Quadrat-Meilen = 3775,3 Quadrat-Kilometer) als noch zu Russland gehö¬
rend rechnen (vergl. Behm und Wagner, Bevölkerung der Erde, III. Jahrg., pag. 96,
Anmerkung 6).
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289
Da das Areal des gesammten russischen Reiches 401,452,55
Quadrat-Meilen 1 beträgt, so kommt fast die Hälfte davon, oder
46,46 pCt., auf Ost-Sibirien, im Verhältnis zu den asiatischen Be¬
sitzungen Russlands (303,200,45 Quadrat-Meilen 2 ) aber 61,52 pCt.
Ferner ist Ost-Sibirien 3,15 Mal grösser, als West-Sibirien; 4,51 Mal
grösser, als die mittel-asiatischen Gebiete; 1,90 Mal grösser, als das
europäische Russland und um 6632,01 Quadrat Meilen grösser, als
der Kontingent Europa.
Wenn wir nun das Verhältnis der einzelnen Theile Ost-Sibiriens
zu einander und zum Ganzen betrachten, so erhalten wir folgendes
Resultat:
Auf das Gebiet Jakutsk kommen 38,26 pCt. d. Areals v. Ost-Sibir.
» » Gouv. Jenisseisk » 25,04 » » » • »
» • Küstengebiet » 18,46 » » » > »
» * Gouv. Irkutsk » 7,80 • » » » »
» » Geb. Transbaikalien » 6,07 » • » » »
» * Amurgebiet » 4,37 » * » » »
Geht man von diesen grösseren administrativen Einheiten, den
Gebieten und Gouvernements, zu den kleineren administrativen Ein¬
heiten, den Kreisen, über, so ist auch hier, wie dort, die ungleiche
Grösse derselben auffällig, wobei wir zwischen dem kleinsten Kreise
(Krassnojarsk im Gouvernement Jenisseisk, 372,25 Quadrat-Meilen)
unddem grössten (Turuchansk, in demselben Gouvernement, 33,582,32
Quadrat-Meilen) eine Differenz von über 33,000 Quadrat Meilen zu
verzeichnen haben. Aber auch dieser kleinste Kreis ist relativ so
gross, wie z. B. Estland oder das Königreich Württemberg, während
der Kreis Turuchansk noch viel grösser ist, als das ganze südliche
Europa. Will man diese Kreise der Anschaulichkeit ^pgen noch
mit europäisch-russischen Gouvernements vergleichen, so wird man
finden, dass die grösseren Gouvernements, wie z. B. Wologda, Perm,
kleiner sind, als die Kreise Jenisseisk und Kirensk, dass der Kreis
Nishne-Udinsk im Gouvernement Irkutsk ungefähr so gross ist, wie
die zehn kleineren polnischen Gouvernements zusammengenommen
u. s. w.
Neuere und wichtigere Resultate finden wir im zweiten, um ein
Bedeutendes umfangreicheren Theile des vorliegenden Artikels.
f .Nach Behm und Wagner, Bevölkerung der Erde, III. Jahrg., pag. 89.
* Nach Behm und Wagner, Bevölkerung der Erde, III. Jahrg., pag. 95.
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290
Der Verfasser wendet sich hier der Statistik der Bevölkerung von Ost-
Sibirien zu und versucht, das vorhandene Material in möglichst
gediegener Weise zu verwerthen. Leider ist aber das Material
noch so lückenhaft, dass die Untersuchung ungeheuer erschwert
wird. So ist der Verfasser gezwungen, um nicht Ungleichartiges
zusammenzufügen, wegen Mangels an genaueren Angaben, das
Amur- und das Küstengebiet für’s Erste auszuscheiden und nur mit
den zwei anderen Gebieten: Jakutsk und Transbaikalien, und den
beiden Gouvernements: Jenisseisk und Irkutsk, zu rechnen.
Die Bevölkerung dieser vier Theile Ost-Sibiriens betrug in den
Jahren 1867, 1871 und 1873:
Gouvernements und Gebiete
1867
1871
*»73
Jenisseisk.
350,848
345,586
396,783
Irkutsk.
372,833
370,155
358,629
Transbaikalien . . .
419,843
467,427
430,780
Jakutsk.
228,363
229,463
236,067
Total .
1,371,887
1,412,631
1,422,259
Durchschnittlich kamen also in Ost-Sibirien (mit Ausschluss des
Amur- und des Küstengebietes) auf die Quadrat-Meile:
1867 .... 9,52 Einwohner.
1871 .... 9,80 •
1873 ... . 9,87
Nach den einzelnen Gouvernements und Gebieten betrachtet,
kamen auf eine Quadrat-Meile :
Im Gouvernement Irkutsk: im Jahre 1867 . . . 25,64 Einwohner.
* * 1873 . . . 24,67 »
Im Gouvernement Jenisseisk: » » 1867 ... 7,54 »
* * » 1873 • • • 8,53
In Transbaikalien: » » 1867 . . . 37,07 »
» • 1870 . . . 41,27 »
Im Gebiet Jakutsk: > » 1867 . . . 3,20 »
9 * 1873 . . . 3,33
Wie man sieht, ist die Dichtigkeit der Bevölkerung hier so gering,
dass zum Vergleich herangezogen werden könnten, aus Europa
höchstens das Gouvernement Archangelsk im europäischen Russ¬
land (mit 20 Einwohner auf 1 Quadrat-Meile) und sonst nur einige
wenige aussereuropäische Länder, wie Patagonien (1,3 Einw. auf
1 Da eine nähere Angabe über die Bevölkerung von Transbaikalien irn Jahre 1873
nicht vorhanden ist, so setzt der Verfasser die Bevölkerungszahl von 1870 hin.
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291
i Qu.-M.), die Falklands-Inseln (3,6 Einw. auf 1 Qu.-M.), Canada
(22 Einw. auf 1 Qu.-M.), Australien und Polynesien (27 Einw. auf
1 Qu.-M.) und die Wüste Sahara (30 Einw. auf 1 Qu.-M.).
Was die Bevölkerung des Amurlandes (Amur- und Küstengebiet)
betrifft, so betrug dieselbe in den Jahren 1861 und 1873:
1861 1873
Amurgebiet . . . 13^854 25,204
Küstengebiet. . . 35,683 50,512
49.537 75,726
Es kamen also auf I Quadrat-Meile im Amurlande überhaupt:
Im Jahre 1861 . . . 1,16 Einwohner.
* > 1873 . . . 1,77
Im Amurgebiet: im Jahre 1861 . . . 1,69 Einwohner.
» » 1873 . . . 3,08 *
Im Küstengebiet: > » 1861 . . . 1,03 »
* > 1873 . . . 1,46 »
Wie ungleichmässig jedoch die Bevölkerung sich auf die einzel¬
nen Kreise der Gouvernements und Gebiete vertheilt, zeigt uns
nachfolgende Tabelle über die Bevölkerung in den Kreisen der
Gouvernements Jenisseisk und Irkutsk und des Gebietes Jakutsk:
Namen der Kreise
in den Gouv. u. GebJ
t
Areal
in. Qu.-Meilen
“ 18 6 3 |
1 8 7 3
Bevölke¬
rung
Einw. auf,
1 Qu.-M. 1
Bevölke¬
rung
Einw. auf
1 Qu.-M.
Gouv. Jenisseisk:
Kreis Krassnojarsk.
372,25
64,120
172,09
84,473
00
K
N
0*
^ Jenisseisk...
8,246,65
48,709
5 , 9 °
59,197
7,«7
» Kansk ....
1,508,52
55,468
36,77
64,588
42,82
» Atschinsk . .
1 . 057 , 7 «
56,791
53,73
70,810
66,99
» Minussinsk . .
1,932,36
90,612
46,90
110,288
57,08
» Turuchansk .
33,582,33
7,314
0,218
7,427
0,221
Gouv. Irkutsk:
Kreis Irkutsk ....
1,450,23
122,916
84,76
116,598
80,41
» Balagansk . .
793,21
108,876
«38,42 1
108,341
137,70
» Nishne-Udinsk
2,207,27
42,278
19,16
41,784
« 8,93
» Wercholensk.
1 , 599,62 !
55,863
34,93
55,851
34,92
» Kirensk. . . .
8,492,46
35,877
4,22
36,055
4,24
Gebiet Jakutsk:
•
Kreis Jakutsk ....
15 , 743,80
«39,799
8,88
140,435
8,92
» Olekminsk . .
6,568,03
12,068
1,84
13,817
2,10
» Wiluisk....
20 , 574,55
56,155
2,73
61,212
2,97
» Werchojansk.
14,618,27
13,365
0,914
13,802
0,944
» Kolymsk . . .
«3,853,7«
6,673
: 0,418,
6,8n
0,491
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292
Aus dieser Tabelle, in welcher, als auf ein besonders charakte¬
ristisches Moment für die unregelmässige Vertheilung der Bevölke¬
rung in Ost-Sibirien, darauf hingewiesen werden kann, dass der an
Flächeninhalt kleinste Kreis (Krassnojarsk im Gouvern. Jenisseisk,
372,25 Qu.-M.) die relativ grösste Bevölkerung (227,8 Einw. auf
1 Qu.-M.) aufzuweisen hat, während in dem an Flächeninhalt gröss¬
ten Kreise (Turuchansk in demselben Gouvern., 33,582,33 Qu.-M.)
nur 0,221 Einwohner auf 1 Qu. M. kommen, — aus dieser Tabelle
ersieht man also, wie grossen Schwankungen in Hinsicht auf die
Dichtigkeit seiner Bevölkerung eines jeden Gouvernements nach sei¬
nen Kreisen betrachtet, unterworfen ist und welcher geringe Werth
daher, speziell in Hinsicht auf Ost-Sibirien, diesen Durchschnitts¬
werten der Volksdichtigkeit der ganzen Gouvernements und Ge¬
biete beizulegen ist.
Vergleicht man übrigens Ost-Sibirien mit den nördlicheren
Gouvernements des europäischen Russland, so findet man dort
eine ähnliche Unregelmässigkeit in der Vertheilung der Bevöl¬
kerung. Im Gouvernement Archangelsk schwankt die Bevölke¬
rung in den einzelnen Kreisen, bei einer durchschnittlichen Dich¬
tigkeit von 20 Einw. auf 1 Qu.-M., zwischen 6 und 144 Einw. auf
I Qu.-M.; irn Gouvern. Wologda, bei einer durchschnittlichen Dich¬
tigkeit von 135 Einw. auf 1 Qu.-M., zwischen 24 und 1203 Einw. auf
I Qu.-M.; im Gouvern. Olonetz, bei durchschnittlich 125 Einw. auf
I Qu.-M., zwischen 32 und 266 Einw.; im Gouvern. Perm, bei durch¬
schnittlich 353 Einw. auf 1 Qu.-M., zwischen 64 und 838 Einw. In
Ost-Sibirien schwankt die Bevölkerung aber, bei einer durchschnitt¬
lichen Dichtigkeit von 3, 8, 24 und 41 Einw. auf 1 Qu.-M., zwischen
0,221, 0,441, 0,944, 137,70 und 227 Einw. auf 1 Qu.-M.
Diese ungleiche Vertheilung findet ihre theilweise Erklärung so¬
wohl in den natürlichen Bedingungen jener Landstriche, als auch in
der Geschichte der Ansiedelung Sibiriens. Der unwirthbare Norden
Ost-Sibiriens ist in der That so wenig kolonisationsfähig, dass weder
in nächster Zukunft, noch überhaupt je zu erwarten ist, dass dort
ein auch nur einigermaassen reges Leben erblühen könnte.
Wir gehen jetzt zur statistischen Darlegung des Verhältnisses der
beiden Geschlechter innerhalb, der Bevölkerung Ost-Sibiriens über.
Wie früher, spricht der Verfasser auch hier zuerst im Allgemeinen
von der männlichen und weiblichen Bevölkerung des ganzen Landes,
und wendet sich erst später dem Besonderen, der genaueren Darle-
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293
gung des betreffenden Verhältnisses in den Gouvernements, den
Städten und den Kreisen zu.
Indem wir die Resultate seiner Studie hier folgen lassen, bemer¬
ken wir, dass wir sie nur in verkürzter Form wiedergeben, mit
Weglassung der Zwischenglieder, welche für uns von keiner wesent¬
lichen Bedeutung sind.
Es betrug in den Gouvernements Irkutsk und Jenisseisk und in
den Gebieten Transbaikalien und Jakutsk zusammengenommen in
den Jahren: 1867:
Die männliche Bevölkerung 726,034 Seelen = 52,93 pCt.
» weibliche * 645,853 * = 47,07 »
Uebergewicht der männl. Bevölk. 80,181 Seelen = 5,86 pCt.
1873:
Die männliche Bevölkerung 793,335 Seelen = 54,34 pCt.
» weibliche » 666,171 » —45,66 »
Uebergewicht der männl. Bevölk. 126,864 Seelen = 8,68 pCt.
Es kamen also auf 100 Männer:
Im Jahre 1867 . . . 88,956 Frauen.
» * 1873 . . . 84,003 *
Mithin nahm die männliche Bevölkerung im Laufe von 6 Jahren
um 67,001 Seele, die weibliche Bevölkerung dagegen nur um 20,318
Seelen zu, oder mit andern Worten: die männliche Bevölkerung hat
sich in dieser Zeit um % 9,230 pCt. vergrössert (durchschnittliche jähr¬
liche Zuwachsquote 1,538 pCt.), die weibliche dagegen um 3,145
pCt. (durchschnittliche jährliche Zuwachsquote 0,524 pCt.)
Anders gestaltet sich nun dieses Verhältniss, wenn man, die Be¬
völkerung der einzelnen Gouvernements, Städte, Kreise einer geson¬
derten Betrachtung unterwirft. Wenn wir für die Gouvernements
Irkutsk und Jenisseisk und für das Gebiet Jakutsk einen Zeitraum von
10 Jahren (1863—1873), für das Gebiet Transbaikalien einen Zeitraum
von 12 Jahren (1858 bis 1870) zu Grunde legen, so erhalten wir:
I. Gouvernement Irkutsk.
1 863:
Männliche Bevölkerung . . . 193,189 Seelen = 52,81 pCt.
Weibliche » ... 172,621 » =47,19 »
Uebergewicht der männl. Bevölk. 20,568 Seelen — 5,62 pCt.
1873:
Männliche Bevölkerung . . . 187,063 Seelen = 52,14 pCt.
Weibliche » ... 171,666 » =47,86 »
Uebergewicht der männl. Bevölk. 15,397 Seelen = 4,28 pCt.
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294
Es kamen somit auf ioo Männer:
Im Jahre J863 . . . 89,36 Frauen.
* * i8 73 • •• • 91,77
II. Gouvernement Jenisseisk.
1863:
Männliche Bevölkerung . . . 169,856 Seelen = 52,58 pCt.
Weibliche » ... 153,158 » =47,42 »
Uebergewicht . . . 16,698 Seelen = 5,16 pCt.
1873:
Männliche Bevölkerung . . . 218,773 Seelen — 55,14 pCt.
Weibliche . ... 178,010 » =44,86 »
Uebergewicht . . . 25,090 Seelen = 10,28 pCt.
Folglich kamen auf 100 Männer:
Im Jahre 1863 . . . 90,17 Frauen.
» » 1873 . . . 81,37
BI. Gebiet Jakutsk.
1863:
Männliche Bevölkerung . . . 116,899 Seelen = 51,22 pCt.
Weibliche » ... 111,311 » =48,78 »
Uebergewicht . . . 5,588 Seelen = 2,44 pCt.
1873:
Männliche Bevölkerung ... 120,704 Seelen = 51,14 pCt
Weibliche » ... 115,363 > =48,86 »
Uebergewicht . . . 5,341 Seelen = 2,28 pCt.
Es kamen also auf 100 Männer:
Im Jahre 1863 . . . 95,22 Frauen.
» » 1 873 . . . 95,58 »
IV. Gebiet Transbaikalien.
1858:
Männliche Bevölkerung . . . 179,765 Seelen = 50,99 pCt.
Weibliche » ... 172,769 » = 49,01 »
Uebergewicht . . . 6,996 Seelen = 1,98 pCt.
1870:
Männliche Bevölkerung . . . 227,151 Seelen = 52,73 pCt.
Weibliche » . . 203,629 » = 47,27 »
Uebergewicht . . . 23,522 Seelen = 5,46 pCt.
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295
Folglich kamen auf ioo Männer:
Im Jahre 1858 . . . 96,01 Frauen.
» » 1870 . . . 89,64 »
Man ersieht aus diesen Zahlen, dass erstens die beiden Geschlech¬
ter am gleichmässigsten im Gebiet Jakutsk vertheilt sind, was den
natürlichen Bedingungen dieses Landstriches, in welchem eine be¬
wegliche, nomadisirende Bevölkerung weniger stark vertreten ist,
als in anderen Theilen Ost-Sibiriens, genau entspricht; ebenso geht
der nicht gerade bedeutende Zuwachs in beiden Geschlechtern ziem¬
lich gleichmässig von Statten; zweitens findet sich eine annähernd
gleichmässige Vertheilung der beiden Geschlechter iffTransbaika-
lien im Jahre 1858 und im Gouvernement Irkutsk im Jahre 1873;
drittens findet man im Gouvernement Jenisseisk, welches in Hinsicht
der Vertheilung der Geschlechter 1863 gleichsam die Mitte zwischen
dem Gouvernement Irkutsk und Transbaikalien einnahm, im Jahre
1873 die ungleichmässigste Vertheilung, eben das Minimum: 81,37
Frauen auf 100 Männer.
Zur Statistik der Städte von Ost-Sibirien übergehend, müssen wir
bemerken, dass hier, während für die Gouvernements Jenisseisk und
Irkutsk und das Gebiet Jakutsk derselbe Zeitraum von IO Jahren
(1863—1873) zu Grunde gelegt werden konnte, für Transbaikalien
nur ein Zeitraum von 7 Jahren (1863—1876) angenommen werden
kann, da über einen grösseren Zeitraum ausgebreitete Angaben
über die städtische Bevölkerung Transbaikaliens nicht vorhan¬
den sind.
Wir stellen aus den uns vorliegenden Tabellen über die Ver¬
theilung der Geschlechter in den Städten folgende kürzere Ueber-
sicht zusammen:
Namen
der
Jahr
Bevölkerung
9
s § 2
5 o| j
Auf 100
Männer
Städte
Männlich
Weiblich
im G *-5
« u : 2
•2 «3 £
kommen
Frauen
Gouv. Irkutsk:
Irkutsk.|
Balagansk . j
1863
1873
in 10J.
1863
1873
in 10J.
15,159
18,661
+ 3.502
413
484
+ 7 »
12,850
13,211
+ 361
386
417
+ 31
2,309
5,450
27
67
84,76
70,79
93,46
86,15
Digitized by
Google
2 g6
Namen
Bevölkerung
M • b/>
u — c
Auf 100
Männer
der
Jahr
u £ =£
kommen
Städte
Männliche
Weibliche
4 ) u ^
X v Z
D
Frauen
Nishne-Udinsk.J
1863
1.544
1,502
42
97,28
1873
1,916
1,406
510
73,38
in 10 J.
+ 372
— 96
Wercholensk.j
|i8 6 3
388
336
52
86,59
1873
504
467
37
92,66
in 10J.
-f 116
+ 131
Kirensk . . T.j
1863
839
722
117
86,05
1873
480
343
137
71,46
in 10J.
— 359
- 379
Ilimsk.|
1863
279
284
— 5
101,79
' 1873
275
267
8
97,09
in 10J.
— 4
— *7
Städte im Goiev . Irkutsk (
11863
18,622
16,080
2,542
86,35
überhaupt .}
1873
22,320
i6,m
6,209
72,18
in 10J.
4-3.698
+ 31
Gouv, Jenisseisk:
Krassnojarsk.J
1863
1873
5.382
7.7 1 9
4,615
6,440
767
1,279
85,75
83,43
in 10J.
+ 2,337
+1,825
Atschinsk.j
1863
1,654
1,523
* 3 i
92,08
1873
2,103
1,836
267
87,30
in 10J.
+ 449
+ 313
81,79
Jenisseisk.j
1863
3,757
3,073
684.
1873
4,046
3,135
911
77,48
in 10 J.
+ 289
62
Kansk.J
1863
i,H 5
1,086
59
94,84
1873
i, 57 °
1,201
369
76,49
in 10 J.
+ 425
+ rI 5
156
342
Minussinsk.j
1863
1873
2,014
2,388
1,858
2,046
92,25
85,67
in 10J.
+ 374
-f- 188
60,00
107,69
Turuchansk.j
cn cn
00 00
•—1 Hl
155
104
93
112
62
— 8
in 10J.
- 5 i
+ «9
86,82
Städte im Gouvemem . i
1863
14,107
12,248
1,859
Jenisseisk überhaupt j
1873
17.930
14,770
3,160
82,37
in 10J.
+ 3,823
+ 2,522
Gebiet Jakutsk:
Jakutsk.|
1863
2,983
2,682
301
89,90
1873
2,713
2,117
565
596
78,03
in 10 J.
+ 143
!
1
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297
Namen
der
Städte
Jahr
Bevöl
Männliche
<erung
Weibliche
—
Ueberge wicht]
der männl.
Bevölkerung
Auf 100
Männer
kommen
Frauen
Olekminsk.J
1863
147
15*
— 4
102,70
1873
29O
208
82
71,73
in 10J.
+ 143
+ 57
Wiluisk.|
1863
187
154
33
82,35
1873
193
194
— I
100,51
in 10J.
+ 6
+ 40
Werchojansk.j
1863
95
81
h
85,27
1873
l6l
130
31
80,74
in 10J.
+ 66
+ 49
Ssredne-Kolymsk . . . j
1863
1873
2 37
229
221
261
16
38
93,25
87,29
Städte im Geb . Jakutsk |
in 10J.
-f 62
+ 40
1863
3.649
3,289
360
90,13
überhaupt . 1
1873
3.656
2,910
746
79,59
in 10 J.
+ 7
— 379
Gebiet Transbaikalien:
Tschita. j
1863
1,962
1,057
905
53,87
1870
1.723
875
848
50,78
'
in 7 J.
— 239
— 182
Wcrchne-Udinsk . . . {
! 1863
2,171
1,861
3*0
85,72
1870
1,969
1,551
418
78,77
in 7 J.
— 202
— 310
Nertschinsk ...... j
1863
2,081
1,693
388
81,35
1870
2,054
1,693
361
82,42
in 7J.
— 27
—
Sselenginsk.j
1863
1870
552
568
447
45 i
105
117
80,98
79,40
in 7 J.
+ 16
+ 4
Bargusin.j
1863
516 |
465
51
90,11
1870
383 1
326
57
85,11
in 7 J.
— '33
— 139
Troitzkossawsk . . . . j
1863
3,223
2,208
1,015
68,50
t
1870
2,454 1
2,221
233
90,50
Städte in Transbaikalien (
in 7 J.
— 769 1
+ *3
1863
10,505
7,731
2,774
73,59
überhaupt .1
1870
9,151
7 ,H 7
2,034
77,77
in 7 J.
- 1,354 ■
— 614
1
Nimmt man in Ermangelung genauerer Angaben an, dass die
städtische Bevölkerung Transbaikaliens im Jahre 1873 dieselbe ge«
blieben ist, wie im Jahre 1870, so erhält man für die gesammte
städtische Bevölkerung Ost-Sibiriens Folgendes:
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Im Jahre 1863 . . 46,883 M. — 39,348 Fr. — Total. . 86,23
» * l8 73 - - 53>°57 > — 40,908 » — > .. 93 , 965 »
In 10 Jahren . 4- 9,174 M. + 1,560 Fr. — Total -f 7,734.
Es kamen also auf 100 Männer:
Im Jahre 1863 . . . 83,92 Frauen.
• <♦ 1873 . . . 77,11
Bemerkenswerth ist, dass auch in dem Falle, wenn man Irkutsk,
welches als Hauptstadt von Sibirien eine gewisse Ausnahmestellung
einnimmt, aus dem Ganzen ausscheidet, kein wesentlicher Unter¬
schied in der Vertheilung der Geschlechter zu vermerken ist. Es
kommen dann nämlich auf 100 Männer:
Im Jahre 1863 ... 82,33 Frauen.
* » 1873 . . . 80,65 »
Blickt man nun noch auf die Vertheilung der Geschlechter in den
einzelnen Städten zurück, so fallen ganz besonders die Städte Tu-
ruchansk und Troitzkossawsk auf, in welchen die starke Verminde¬
rung der Zahl der Männer bei gleichzeitiger Zunahme der Zahl der
Frauen eine wesentliche Umgestaltung im Verhältniss der beiden
Geschlechter nach sich gezogen hat. Sonst ist in den Städten fast
überall ein gesteigerter, auf den Prozentsatz der Vertheilung der
beiden Geschlechter mehr oder weniger wesentlich einwirkender
Zuwachs der männlichen Bevölkerung zu verzeichnen.
Der städtischen Bevölkerung steht die Bevölkerung in den Krei¬
sen der Gouvernements und Gebiete, die Bevölkerung im Innern des
Landes, in den Dörfern und sonstigen Ansiedlungspunkten gegen¬
über. Indem wir auch hier die Vertheilung der Bevölkerung nach
dem Geschlecht in den Kreis der statistischen Beobachtung ziehen,
müssen wir zuvor bemerken, dass der Zeitraum der Beobachtung für
Transbaikalien wieder um zwei Jahre eingeschränkt werden muss,
d. h. dass es jetzt nur die Jahre 1865 und 1870 sind, aus welchen
Angaben über die Kreisbevölkerung in diesem Gebiete vorhanden
sind; sonst bleiben es die früheren 10 Jahre, welche der Unter¬
suchung zu Grunde gelegt werden.
Demselben Plane folgend, wie vorhin bei der städtischen Bevöl¬
kerung, gelangen wir zu folgenden Resultaten:
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299
Namen
der
Kreise
Gouv. Irkutsk:
Kreis Irkutsk . . .
Kreis Balagansk . .
Kreis Wercholensk
Kreis Nishne-Udinsk *
Kreis Kirensk . . .
In den Kreisen d. Gouv .
Irkutsk überhaupt .
Gouv. Jenisseist::
Kreis Krassnojarsk
Kreis Atschinsk . .
Kreis Jenisseisk . . .
Kreis Kansk . . . .
Kreis Minussinsk . .
Kreis Turuchansk . .
In den Bergwerken
Jahr
Bevölkerung
Ueber-
gewicht
der
männl.
Bevölke¬
rung
Auf io«
Männer
kommen
Frauen
Männliche
Weibliche
(
1863
49,563
45,344
4.219.’
91,48
(
1873
43,802
40,924
2,878
93,43
in 10J.
- 5,761
- 4,420
(
1863
57,432
50,645
6,787
88,19
(
1873
54 , 9 J 5
52,525
2,390
95,64
in 10J.
- 2,5x7
4- 1,880
(
1863
28,953
26,186
2,767
90,44
(
1873
28,172
26,708
1,464
94,80
in 10J.
_ 781
+ 552
(
1863
21,253
17,979
3,274
84,59
(
1873
19,935
18,525
1,408
92,93
in 10 J.
- 1,3x8
4 548
(
1863
17,366
16,387
979
94,36
(
1873
17,819
16,871
948
94,67
in 10J.
+ 453
4 - 484
(
1863
174,567
156,541
18,026
89,67
(
1873
164,643
155,555
9,088
94,48
in 10J.
- 9,924
- 986
(
1863
28,981
25,142
3,739
86,75
(
1873
39,887
30,427
9,460
76,28
in 10J.
-(.10,906
4- 5,285
(
1863
26,124
27,090
866
103,69
(
, i8 73
35,045
31.343
3,702
89,43
in 10J.
+ 8,921
4 3,253
(
1863
19,201
18,680
521
97,28
(
1873
22,725
19,966
2,759
87,86
in 10J.
+ 3,524
-t- 1,286
(
1863
28,199
24,364
3,835
86,40
(
1873
34,207
25,633
8,574
74,93
in 10J.
+ 6,008
4- *,269
(
1863
44,756
41,604
3.152
92,95
(
1873
54,586
50,968
3 , 6 i 8
93,37
in 10J.
4 - 9,830
4 - 9,364
(
1863
3,892
3 ,i 74
718
81,55
(
1873
3,935
3,276
659
83,25
in 10J.
+ 43
-|- 102
(
1863
4,596
856
3,740
18,62
(
1873
10,458
1,627
8,831
15,53
in 10J.
5,862,
-i- 77 1
Digitized by
Google
3oo
Namen
der
Kreise
In den Kreisen d, Gouv. (J
Jenisseisk überhaupt (||
Gebiet Jakutsk:
Kreis Jakutsk . . •
Kreis Olekminsk . .
Kreis Wiluisk . . .
Kreis Werchojansk .
Kreis Kolymsk .
ln den Kreisen im Geb.
Jakutsk überhaupt
Gebiet Transbaikalien:
Kreise Nertschinsk und
Tschita . . - •
Kreis Werchne-Udinsk
Kreis Selenginsk . . |
Kreis Bargusinsk . . |
Kosaken-Ansiedelung. |
ln den Kreisen im Geb . (
Transbaikalien über - (
haupt x .(
4 Nach Ausschluss der Kosaken-Ansiedelungen.
Jahr
Bevölkerung
Ueber-
gewicht
der
xnännl.
Bevölke-
ning
Auf 100
Männer
kommen
Frauen
Männliche
Weibliche
1863
155.749
140,910
14,839
90,84
1873
200,843
163,240
37,603
81,27
in 10J.
+45.094
+22,330
1863
67,884
65,250
1,634
97,59
1873
67,804
67,801
3
99.99
in 10 J.
- 80
+ 1,551
89.31
1863
6,270
5,600
670
1873
7.257
6,062
+195
83,53
in 10 J.
_ 80
+ 1,551
1863
29,116
26,698
2,318
91,69
1873
3+807
29,008
2,799
91,20
in 10J.
+ 2,691
+ 2,310
469
1863
6,829
6,360
93,13
1873
7,080
6,431
649
90.83
in 10J.
+ 251
+ 71
98,82
1863
3,151
3,114
37
1873
3,100
3,151
— 51
101,64
in 10 J.
51
+ 37
5,128
95,38
1863
113,250
108,022
1873
117,048
112,453
4,595
96,07
in 10 J.
t
+ 3,798
+ 4,431
1865
47,536
38,859
8,677
81,74
1870
54,032
41,445
12,587
76,70
in 5 J.
+ 6,496
+ 2,586
1865
52,659
49,514
3,145
94,02
1870
54,577
50,929
3,648
93,31
in 5 J-
+ 1,918
+ +415
276
1865
30,637
30,361
99,09
1870
32,641
31,809
832
97,45
in 5 J.
+ 2,004
+ 1,448
86,08
1865
9,626
8,479
1,147
1870
9,836
8,871
965
90,18
in 5 J.
-|- 210
+ 392
93,66
1869
63,766
59,727
4,039
1870
66,914
63,458
3,456
94,83
in 1 J.
+ 3 ,m 8
+ 3,731
1865
140,458
127,213
1 3 i 2 45
90,57
1870
151,086
133,054
28,032
88,01
in 5 J.
4-10,628
+ 5,841
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30i
Wie man aus dieser Tabelle ersieht, bietet sich im Gouverne¬
ment Irkutsk die auffallende Erscheinung dar, dass die männliche
Landbevölkerung in beständiger Abnahme begriffen ist. Dieses
kann theilweise dadurch erklärt werden, dass sich die städtische
männliche Bevölkerung desselben Gouvernements in dieser Zeit um
ein Bedeutendes (fast um 20 pCt.) vergrössert hat; andrerseits ist
diese Verminderung aber auch eine Folge der Missernten während
der letzten fünf Jahre, welche im Lande fast eine Hungersnoth her¬
vorgerufen haben. Es war daher natürlich, dass die Männer nach
allen Seiten auszogen, um Brod und Nahrung zu suchen, und dass
Reisende ganze Dörfer antrafen, in welchen die Häuser verlassen
waren. Dies hatte zur Folge, dass die Zahl der Frauen relativ zu¬
nahm und dass in der Vertheilung der beiden Geschlechter ein
annähernd normales Verhältniss ermöglicht wurde.
In dem Gouvernement Jenisseisk dagegen ist das Verhältniss von
90,48 Frauen auf 100 Männer bis auf 81,27 gefallen. Auch dieses
kann durch bedeutenden Zuwachs der männlichen Bevölkerung
(über 22 pCt), hauptsächlich in Folge des starken Zuflusses von
Sträflingen, erklärt werden.
In den beiden Gebieten endlich ist, wie man sieht, keine wesent¬
liche Veränderung in der Vertheilung der beiden Geschlechter zu
vermerken.
Im Ganzen kamen auf die Landbevölkerung von Ost-Sibirien:
Im Jahre 1863 . . . 584,024 M. 532,686 Fr.
» » 1873 l . . . 633,720 » 564,312 >
+ 49,590 M. + 31,626 Fr.
Es kamen folglich auf 100 Männer:
Im Jahre 1863 . . . 91,21 Frauen.
* * 1873 . . . 89,06 »
Wenn auch hier, wie bei der städtischen und der Bevölkerung des
ganzen Landes eine relative Verminderung der Zahl der Frauen zu
bemerken ist, so ist das Verhältniss dieser Abnahme, wie es ja auch
natürlich ist, bei der Landbevölkerung weniger bedeutend, als bei
der städtischen.
1 Mit Ausschluss der Kosaken* Ansiedelungen in Transbaikalien.
Kuss. Boyue. Bä. IX. 20
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3Ö2
Ueber die Bevölkerung des Amurlandes sind die Angaben noch
so unvollständig, dass eine eingehende Untersuchung unmöglich ist,
und wir nur einen flüchtigen Blick auf die Vertheilung der beiden
Geschlechter werfen können.
Im Jahre 1861 zählte man im Amurgebiet 8,075 Männer, 5,779
Frauen, oder im Ganzen 13,854 Seelen; es kamen also auf 100
Männer 71,56 Frauen.
In der einzigen Stadt des Amurgebietes, Blagoweschtschensk,
waren 1,711 Männer und 339 Frauen, mit andern Worten: 19,81
Frauen auf 100 Männer.
Im Jahre 1867 betrug die Bevölkerung des Amurgebietes 22,297
Seelen, d. h. 12,307 Männer und 9,990 Frauen, so dass jetzt bereits
81,24 Frauen auf 100 Männer gerechnet werden konnten, — eine
wesentliche Verbesserung des Verhältnisses.
Im Küstengebiet kamen im Jahre 1861 bei einer Bevölkerung von
21,035 Männern und 14,648 Frauen auf 100 Männer 69,64 Frauen;
im Jahre 1872 hatte dies Verhältnis auch hier eine wesentliche
Aenderung erlitten, da man jetzt 28,369 Männer und 22,143 Frauen
zählte und 78,06 Frauen auf 100 Männer rechnen konnte.
Wir wenden uns jetzt dem wichtigsten Theile der Bevölkerungs¬
statistik, der sogenannten Bewegung der Bevölkerung zu.
Der Verfasser der Abhandlung über das Areal und die Bevölke¬
rung Ost-Sibiriens hat diesem Theile seiner statistischen Arbeit mit
Recht die grösste Aufmerksamkeit zugewandt und diesen Gegen¬
stand in überaus ausführlicher Weise behandelt. Ohne ihm in die
Einzelheiten seiner Untersuchung folgen zu wollen, halten wir uns
auch hier hauptsächlich an die erlangten Resultate und die denselben
zunächst zu Grunde liegenden Faktoren.
In den vorhin zum Zweck der Uebersicht der Vertheilung der Be¬
völkerung nach dem Geschlecht angeführten Tabellen, sind die
Zahlen, welche die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung in einem
gewissen Zeitraum ausdrücken, bereits angegeben, so dass wir sie
jetzt nur zusammenzufassen und daraus das Verhältniss der Zu- oder
Abnahme der Bevölkerung zu berechnen brauchen. Wir erhalten
dann, wenn wir mit den Städten, welchen wir die Bevölkerung der
Kreise und Gouvernements folgen lassen, anfangen, nachstehende
Resultate:
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303
i) Städtische Bevölkerung .
a) Städte im Gouvernement Irkutsk.
Im Jahre 1863 . . .
» > 1873 . . .
18,622 Männer
22,320 »
16,080 Frauen.
16, m .
4- 3,698 Männer
4-31 Frauen,
Zuwachs in io Jahren
19,90 pCt.
0,019 pCt.
Ueberhaupt Zuwachs
• • • • 10,74 pCt.
b) Städte im Gouvernement Jenisseisk.
Im Jahre 1863 . . .
14,107 Männer
12,248 Frauen.
» » 1873 . . .
17,930 »
14,770 »
-f 3,823 Männer 4- 2,522 Frauen.
Zuwachs in io Jahren
. 27,09 pCt.
20,59 p ct -
Ueberhaupt Zuwachs
. . . . 24,07 pCt.
c) Städte
im Gebiet Jakutsk.
Im Jahre 1863 . . .
3,649 Männer
3,289 Frauen.
» » 1873 . . .
3,656 ,
2,910 »
+ 7 Männer
— 379 Frauen.
Zuwachs in 10 Jahren
0,19 pCt.
Abnahme in io Jahren
11,52 pCt.
Ueberhaupt Abnahme
.... 5,88 pCt.
d) Städte im Gebiet Transbaikalien.
Im Jahre 1863 . . .
10,505 Männer
7,731 Frauen.
» * 1870
9,151 »
7,117 .
— i,3S4 Männer
— 614 Frauen.
Abnahme in 7 Jahren
. 12,88 pCt.
7,94 pCt.
Ueberhaupt Abnahme
.... 10,79 pCt.
e) Städtische Bevölkerung überhaupt.
Im Jahre 1863 . . .
46,883 Männer
39,348 Frauen.
» . 1873 . . .
53.057 »
40,908 »
4- 6,174 Männer
4- 1,560 Frauen.
Zuwachs in io Jahren
. 13,16 pCt.
3,96 pCt.
Ueberhaupt Zuwachs .
.... 8,94 pCt.
20*
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304
2) Land-Bevölkerung.
a) In den Kreisen des Gouv. Irkutsk.
Im Jahre 1863 . . 174,567 Männer 156,541 Frauen.
• * 1873 ■ - 164,643 > 155*555 *
— 9,924 Männer — 9,86 Frauen.
Abnahme in 10 Jahren 5,68 pCt. 0,62 pCt.
Ueberhaupt Abnahme . . . . 3,29 pCt.
b) In den Kreisen des Gouv. Jenisseisk.
Im Jahre 1863 . . 155,749 Männer 140,910 Frauen.
* » 1873 . , 200,843 » 163,240
+ 45,094 Männer -f- 22,330 Frauen.
Zuwachs in 10 Jahren 28,95 pCt. 15,84 pCt.
v y
Ueberhaupt Zuwachs .... 22,72 pCt.
c) In den Kreisen des Gebiets Jakutsk.
Im Jahre 1863 . . 113,250 Männer 108,022 Frauen.
> » 1873 . . 117,048 » 112,453 >
4- 3,798 Männer -f 2,586 Frauen.
Zuwachs in 10 Jahren . 3,35 pCt. 4,11 pCt.
N -v-'
Ueberhaupt Zuwachs.3,71 pCt.
d) In den Kreisen des Gebiets Transbaikalien.
Im Jahre 1865 . . 140,458 Männer 127,213 Frauen.
> » 1870 . . 151,086 > 133,054 »
-f 10,628 Männer 4. 5,841 Frauen.
Zuwachs in 5 Jahren . 7,63 pCt. 4,59 pCt.
* - V '
Ueberhaupt Zuwachs.6,15 pCt.
v e) Insgesammt in den Kreisen.
Im Jahre 1863 . . 584,024 Männer 532,686 Frauen.
» » 1873 . . 633,620 » 564,312 »
+ 49,596 Männer + 31,626 Frauen.
Zuwachs in 10 Jahren . 8,32 pCt. 5,93 pCt.
Ueberhaupt Zuwachs.7,36 pCt.
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305
3) Bevölkerung der Gouvernements und Gebiete .
a) Gouvernement Irkutsk.
Im Jahre 1863 . . 193,187 Männer
» » 1873 . . 187,063
172,621 Frauen.
171,666 »
— 6,126 Männer
Abnahme in 10 Jahren . 3,17 pCt.
— 955 Frauen.
0,55 pCt.
V
Ueberhaupt Abnahme .... 1,93 pCt.
b) Gouvernement Jenisseisk.
Im Jahre 1863 . . 169,856 Männer
. » 1873 . . 218,773
153,158 Frauen.
178,010 »
4- 48,917 Männer
Zuwachs in 10 Jahren 28,79 pCt.
+ 24,852 Frauen.
16,22 pCt.
Ueberhaupt Zuwachs .... 22,83 pCt.
c) Gebiet Jakutsk.
Im Jahre 1863 . . 116,899 Männer
» » 1873 . . 120,704 »
111,311 Frauen.
11 5 > 3<53 »
4. 3,805 Männer
Zuwachs in 10 Jahren . 3,25 pCt.
4 4,052 Frauen.
3,64 pCt.
Ueberhaupt Zuwachs .... 3,44 pCt.
d) Gebiet Transbaikalien.
Im Jahre 1858 . . 179,765 Männer
» » 1870 . . 227,151 »
172,769 Frauen.
203,629
+ 47,386 Männer + 30,860 Frauen.
Zuwachs in 12 Jahren . 26,35 pCt. 17,86 pCt.
'- : — * - '
Ueberhaupt Zuwachs .... 22,19 pCt.
In 1 Jahre.1,85 »
Fasst man diese Zahlen, ungeachtet des zwölfjährigen Zeitraumes
für Transbaikalien zusammen, um wenigstens annähernd das Prozent
der Zunahme der Bevölkerung in Ost-Sibirien (mit Ausschluss des
Amurlandes) zu erlangen, so erhält man:
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306
Im Jahre 1863 . . 726,034 Männer 645,853 Frauen.
> » 1873 . . 793.035 * 666,171
4- 67,001 Männer 4- 20,318 Frauen.
Zuwachs in 10 Jahren . 9,22 pCt. 3,14 pCt.
Ueberhaupt Zuwachs .... 6,36 pCt.
Die auffallend grosse durchschnittliche jährliche Zuwachsrate im
Gouvernement Jenisseisk (2,28 pCt.) und im Gebiet Transbaikalien
(1,85 pCt.) lenkt, auch ohne den Gegensatz, in welchem dieselbe zu
den andern jährlichen Zuwachsraten (im Gebiet Jakutsk: Zuwachs
0,34 pCt., im Gouv. Irkutsk: Abnahme o, 193 pCt.) steht, die Auf¬
merksamkeit des Beobachters auf sich. Der Verfasser unserer Ab¬
handlung versucht denn auch diese Angaben kritisch zu beleuchten
und zu erklären. Obgleich wir nun nicht finden können, dass die
Schwierigkeiten endgültig gelöst worden wären, wollen wir doch
wenigstens für das Gouvernement Jenisseisk die Resultate seiner
allerdings annähernd vielleicht richtigen Berechnung zur Mittheilung
bringen.
Es hat sich im Gouvernement Jenisseisk in einem Zeitraum von
10 Jahren die Bevölkerung um 48,917 Männer und 24,858 Frauen ver-
grössert, und zwar in Folge des Ueberschusses der Geburten über die
Gestorbenen, d. h.
durch natürlichen Zuwachs . . . um 13,803 M. und um 15,028 Fr.
also » 8,126 pCt. » 9,812 pCt.
durch Deportation. » 23,141 M. und » 6,901 Fr.
also » 13,623 pCt. » 4,506 pCt.
durch freiwillige Einwanderung . * 11,973 M. und » 2,929 Fr.
also * 7,049 pCt. > 1,912 pCt.
In dem Prozent des Zuwachses, welches für die Männer 2,87
pCt., für die Frauen 1,62 pCt. betrug, war bei der männlichen
Bevölkerung der Hauptfaktor die Deportation (1,36 pCt. jährlich),
dann kam der natürliche Zuwachs (0,81 pCt.); bei der weiblichen
Bevölkerung ist hingegen in erster Reihe der natürliche Zuwachs
(0,98 pCt.) zu nennen und dann erst die Deportation (0,45 pCt.);
den letzten Faktor bildet bei beiden Geschlechtern in gleicher
Weise die freiwillige Einwanderung (0,704 pCt. Männer und 0,191
pCt. Frauen).
Daraus würde folgen, dass die Bevölkerung des Gouvernements
Jenisseisk unter beständiger Mitwirkung dieser drei Faktoren sich
verdoppeln würde:
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307
die männliche Bevölkerung in 24,49 Jahren.
* weibliche » »31,12 »
Würde die Bevölkerung jedoch auf den natürlichen Zuwachs allein
angewiesen sein, so könnte die Verdoppelung bei der männlichen
Bevölkerung erst in 86,01 Jahren, bei der weiblichen in 71,16 Jahren
stattfinden.
Wenn indessen im Gouvernement Jenisseisk eine wenigstens nicht
ganz unrichtige Erklärung der hohen Zuwachsrate möglich war, so
fehlt bei dem Gebiet Transbaikalien, in Folge der mangelhaften
statistischen Angaben, jeder Anhaltspunkt zu einer eingehenden
kritischen Prüfung. Das dortige statistische Komite hat, wie der
Verfasser versichert, in den zwölf Jahren seines Bestehens keine
einzige selbständige statistische Arbeit zu Tage gefördert und über¬
haupt nur ein höchst unvollständiges Material zusammengebracht,
so dass jede kritische Erörterung desselben unmöglich ist. Zwar
versucht der Verfasser der statistischen Abhandlung, etwas Licht in
die Sache zu bringen, doch ist sein Bemühen, nicht durch seine
Schuld, so wenig von Erfolg gekrönt, dass wir es unterlassen, an
dieser Stelle seinen Ausführungen zu folgen und es bei der unerklär¬
ten Zuwachsrate 1,85 pCt. bewenden lassen.
Zum Gouvernement Irkutsk übergehend, finden wir eine kleine,
aber sehr werthvolle Tabelle, welche wir hier reproduziren, über
die Bevölkerung dieses Gouvernements im Verlauf von 13 Jahren,
von 1860 bis 1873:
Jahre
Männer
Frauen
Total
Zuwachs (-{-) oder Abnahme (—) gegen
das Vorjahr
Männer
Frauen
Total
1860
1861
163,940
174,407
352,664
370,455
+ 7,324
+ * 0,457
+ *7,79*
1862
193.189
172,621
365,810
- 2,859
- 1,786
- 4,645
1863
172,340
365,240
— 289
— 281
- 570
1866
197.87s
*73,586
371,461
+ 4,975
+ 1,246
+ 6,221
1867
173.634
372,833
+ *.324
+ 48
4- 1,372
1868
199.957
374,964
+ 758
+ *>373
+ 2,131
1869
203,010
* 75,995
+ 3,053
+ 948
+ 4,001
1870
203,837
174,407
378,244
+ 827
- i ,548
— 721
1872
186,562
169,818
356,380
-17,275
- 4,589
— 21,864
1873
186,963
* 71,736
358,699
+ 401
+ 1 , 9*8
+"2,319
In 13 Jahren . .
.
.
- 1,761
+ 7,796 j
+ 6,035
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308
Diese Tabelle ist dadurch werthvoll, dass sie das beständige
Schwanken veranschaulicht, welchem zu Folge die Bevölkerung
bald zu-, bald abnahm, so dass von einem regelmässigen Zuwachs
nicht die Rede sein konnte. Wenn sich die Bevölkerung in 13 Jah¬
ren aber auch vergrössert hat, so hat sich dieser Zuwachs doch nur
auf die weibliche Bevölkerung erstreckt, und zwar beträgt die
Zuwachsrate in 13 Jahren nur 1,71 pCt. Berechnet man aber das
Prozent der Zunahme oder Abnahme von einem Jahr zum andern, so
wird man finden, dass die jährliche Zuwachsrate zwischen 0,269 pCt.
(1867) und 5,04 pCt. (1861) schwankt, das Prozent der Abnahme
aber zwischen 0,15 pCt. (1863) und 4,41 pCt. (1872), es wird also
das positive Resultat vom negativen fast vollständig aufgehoben.
Dieses Schwanken in genügender Weise zu erklären ist jedoch un¬
möglich, da zu wenig statistisches Material vorliegt, welches weite¬
ren Forschungen als Ausgangspunkt dienen könnte. Auf eine
allgemeine Ursache der Abnahme der Bevölkerung im Gouverne¬
ment Irkutsk haben wir schon oben hingewiesen; eine genaue that-
sächliche Begründung und Formulirung des Zurückgehens der Be¬
völkerung aber muss der Zukunft Vorbehalten bleiben, welcher viel¬
leicht genauere Materialien zu Gebote stehen werden.
Bevor wir jedoch weitergehen, müssen wir noch bei der Stadt
Irkutsk selbst, als der grössten und bedeutendsten Stadt Sibiriens,
ein wenig verweilen, und dieses um so mehr, da uns hier durch zwan¬
zig Jahre hindurch, von 1838 bis 1857, ein genaues Verzeichniss
der Geburten und Sterbefälle vorliegt, und folglich eine ziemlich
richtige Anschauung über die Bewegung der Bevölkerung ermög¬
licht wird.
Diese Tabelle ist dadurch von Wichtigkeit, dass sie den Beleg
dafür bietet, dass in Irkutsk, sowie in allen andern sibirischen
Städten die Bevölkerung sich beständig vermindern würde, wenn sie
auf den natürlichen Zuwachs allein angewiesen wäre.
Eine Angabe über die Bevölkerung der Stadt Irkutsk finden wir
in dieser Tabelle bereits aus dem Jahre 1823. Damals hatte Irkutsk
8,820 männliche, 6,923 weibliche Einwohner, also im Ganzen 15,743
Einwohner beiderlei Geschlechts. Im Jahre 1836 finden wir daselbst
aber schon 9,800 männl., 6,769 weibl., im Ganzen 16,569 Einwohner.
Wie sich nun in den folgenden 20 Jahren, bei der fortwährend
wachsnden Bevölkerung, der natürliche Zuwachs zum Zuwachs von
Aussen verhält, können wir vermittelst nachstehender Tabelle er¬
fahren :
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309
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00
NH
IX
NH
NH
IX
NH
NH
NH
NH
NH
NH
NH
NH
NH
NH
Nehmen wir nun an, die Bevölkerung von Irkutsk sei im Jahre
1838, da keine Angabe darüber vorhanden ist, gleich der vom Jahre
1836 gewesen, und addiren das Resultat des natürlichen Zuwachses
(resp* der Abnahme) für 20 Jahre hinzu, so erhalten wir:
9,800 M. 6,769 Fr. — Total: 16,569 Einw.
Natürl. Zuwachs: — 1,256 » — 169 » — » — 1,425 »
8,544 M. 6,600 Fr. — Total: 15,144
Statt dessen finden wir aber, dass Irkutsk im Jahre 1858: 23,989
Einwohner zählte, und dass der Zuwachs von Aussen in 20 Jahren
(23,989 — 15,144) also 8,845 Seelen betrug.
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3io
Die Abnahme der Bevölkerung von Irkutsk in zwanzig Jahren be¬
trug also:
für die Männer . . . 12,81, jährlich 0,640 pCt.
» » Frauen . . . 2,49, » 0,125 »
überhaupt. 8,6o, » 0,430 »
Während in diesen zwanzig Jahren eine fortwährende Steigerung
der Einwohnerzahl zu beobachten war, finden wir plötzlich, dass die¬
selbe sich im Jahre 1860 wieder um 4,120 Seelen vermindert hat,
d. h. dass sie von 23,989 Einwohner auf 19,869 gefallen ist. Diesem
plötzlichen Sinken gegenüber müssen wir wieder auf eine ebenso
plötzliche, unregelmässige Zunahme der Bevölkerung in den 4 Jahren
1851—1855 hinweisen, wo sich die Bevölkerung von 16,759 Seelen,
bei einem natürlichen Zuwachs von — 242, bis zu 23,856 gestei¬
gert, also einen Zuwachs von Aussen von 7,581 Seelen erhalten
hatte. Dieses konnte durch die Anhäufung von Sträflingen in Ge¬
fängnissen, durch Ansammlung von Kolonisten, welche zum Amur
gingen, u. s. w., erklärt werden. Achnliche Ursachen im entgegen¬
gesetzten Sinne müssen nun auch der angeführten auffallenden Ver¬
minderung der Bevölkerung zu Grunde gelegen haben.
In den folgenden Jahren, 1860—1871, ist es wieder unmöglich,
den natürlichen Zuwachs vom Zuwachs von Aussen zu scheiden, da
für diesen Zeitraum keine Angaben über die Zahl der Geburten und
Todesfälle vorhanden sind. Wir wissen nur, dass die Bevölkerung
um 12,376 Seelen zugenommen, d. h. dass sie sich in 11 Jahren um
62,29 pCt. (jährlicher Zuwachs: 5,66 pCt.) vergrössert hatte.
Im Jahre 1873 finden wir darauf im Verhältniss zum Vorjahr wie¬
der eine Verminderung:
1872 .... 20,151 M. 13,032 Fr. Zusammen: 33,183
1873 .... 18,661 » 13,211 » » 31,872
— 1,490 M. 4. 179 Fr. Total: — 1,311
Hiervon kommen, da für dieses Jahr die Zahl der Geburten und
Todesfälle angegeben ist, auf Verminderung
durch natürlichen Zuwachs: — 179 M. 4 47 Fr. = 132 Einw.
durch Zuwachs von Aussen: — 1,311 » +132 » =1,179 »
— 1,490 M. 4 139 Fr. = 1,311 Einw/
Wir fügen noch hinzu, dass die Bevölkerung von Irkutsk nach der
Zählung vom 8. März 1875 betrug:
17,929 M. 14,392 Fr. Total: 32,321 Einw.
also gegen 1873: 18,661 » 13,211 » » 31*872 »
— 732 M. 4 1,181 Fr. Total: 4 449 Einw.
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Aus dieser, über 52 Jahre sich erstreckenden Untersuchung
ergibt sich also, dass sich die Bevölkerung von Irkutsk in dieser
Zeit um 105,30 pCt. vergrössert hat, und zwar die männliche um
io 3) 2 7 pCt., die weibliche um 107,88 pCt. Ferner unterliegt es
keinem Zweifel, dass dieses verhältnissmässig günstige Resultat nur
vermittelst Zuwachses von Aussen, nicht vermittelst natürlichen
Zuwachses erlangt worden ist. Zur Erklärung der Schwankungen
in der Zunahme der Bevölkerung muss jedoch bemerkt werden, dass
Irkutsk gleichsam den Knotenpunkt der drei Verbindungslinien :
St. Petersburg und Amurgebiet, St. Petersburg und China, St. Peters"
bürg und Lena-Gebiet mit Jakutsk bildet. Es ist daher natürlich,
dass in dieser Stadt beständig eine Masse Menschen, so zu sagen,
ein und aus gehen, und durch den fortwährenden, von den verschie¬
densten Ursachen bedingten Wechsel in ihrer Anzahl jene Schwan¬
kungen hervorrufen, auf welche wir oben hinwiesen.
Die Zuwachsrate im Gebiet Jakutsk betrug, wie vielleicht erinner¬
lich, jährlich 0,34 pCt. Wie viel hiervon auf den natürlichen Zuwachs
kam, können wir nur für die Jahre 1872 und 1873 bestimmen.
Der Ueberschuss der Geburten über die Todesfälle betrug im
Jahre: 1 8
7 2:
Männer
Frauen
Total
In der städtischen Bevölkerung
+ 127
+
149
+ 274
» » Land-Bevölkerung . . .
+1,082
+1.
047
+ 2,129
+1.209
+ !•
,196
+ 2,403
Auf 100 Seelen.
+1,032
+ 1>
073
+1,096
1 8
7 3:
In der städtischen Bevölkerung
_ 8
+
8
+ IO
» » Land-Bevölkerung . . .
-f 662
+
903
+1,565
Auf 100 Seelen.
+"654
+
921
+1,575
+ 0,538
+ 0,
1805
+ 0,667
Man zählte zum Jahre 1872 im
Gebiet Jakutsk:
männl.
weibl.
überhaupt Einw.
117,773
111,690
Total:
229,463
Der natürliche Zuwachs betrug:
1+09
1,194
»
2,403
118,962
112,884
Total:
231,866
In der That waren daselbst zum Jahre 1873 Einwohner:
121,546 männliche, 114,410 weibliche, im Ganzen 235,95^.
Somit betrug der Zuwachs von Aussen im Jahre 1872: 1355 M.>
332 Fr., also im Ganzen 1687 Seelen.
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312
Ferner zählte man im
Jahre 1873:
Id den Städten Auf dem Lande Im Gebiet
Männer Fraoeo lauer Fraoei || lauer
Fratea
Natürlicher Zuwachs . .
3,78312,887 117,7631111,523! i2i,546|i 14,410
— 8|+ 181 . 4 - 6624 903'+ 6541 + 921
Also müsste sein 1874 .
In der That waren aber
3,775 2,9051 n 8,425 112,4261122,200
3,65612,910' 117,048 112,4531120,704
"5.331
"5.363
1—1271+ 23 il— 7151 + 93 °U— 842!+ 953
Es verhielten sich somit der natürliche Zuwachs und der Zuwachs
von Aussen, wie folgt:
Natürlicher Zuwachs .
.1— 8j+ 184 662
903 +
6544
921
Zuwachs von Aussen
-! —119!+ 5-*.377
+
271 -
1,496 4
32
Ueber den Gegensatz in den beiden Jahren hinsichtlich des Zu¬
wachses von Aussen (1872: 4- 1355 für die männliche Bevölk., 1873:
— 842 M.) finden wir keine genügende Erklärung vor. Der blosse
Hinweis auf eine Auswanderung bringt keine Klarheit in die Sache.
Um endlich auf die Bewegung der Bevölkerung im Amurlande
(Amurgebiet und Küstengebiet) zu kommen, so sind die Angaben
so lückenhaft und unvollständig, dass wir es nothgedrungen unter¬
lassen müssen, diesen Gegenstand hier zu erörtern. Wir können
nur sagen, dass die Bevölkerung dieses Landstriches im Verlauf von
6 Jahren (1867—1873) von 65,617 Einw. auf 76,uoEinw. gestiegen
ist, sich also um 15,98 pCt., oder um 2,664 pCt. jährlich, vergrössert
hat. Doch ist bei dem vorhandenen Material weder eine detaillirte,
einigermaassen wissenschaftlich begründete Erläuterung dieser all¬
gemeinen Angaben, noch eine kritische Prüfung derselben möglich.
C. I.
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lieber den Ursprung einiger geographischer Orts¬
namen auf der Halbinsel Taurien.
Vortrag
von
Dr. A. Harkavy.
Mit der Prüfung verschiedener schriftlicher Denkmäler, welche in
der Krim gefunden worden, beschäftigt, war es mir häufig von
Wichtigkeit, die Abstammung und die Zeit der Entstehung einiger
geographischer Bezeichnungen zu kennen, welche in jenen Doku¬
menten Vorkommen. Da ich in der umfangreichen Literatur über
die Geschichte und Geographie der Krim eine befriedigende Ant¬
wort auf die auftauchenden Fragen nicht fand, so musste ich mich
unwillkürlich selbst an den Versuch ihrer Lösung machen. Die
Frucht dieser meiner Versuche sind die folgenden Bemerkungen,
weihe, wie ich hoffe, von Seiten der Fachleute Beachtung und, wenn
nöthig, Berichtigung finden werden.
I. Krim.
Denjenigen, welche sich für die historische Geographie der Halb¬
insel Krim interessiren, drängt sich vor allem Anderen die Frage
auf, woher der Name Krim selbst entstanden. Die Griechen nann¬
ten diese Halbinsel bekanntlich i\ XepdovTjoo; (oder attisch Xeppo-
vtjao;) Taopot, Taoptx*q, später Exo&ixtq, ExoÖixtq noch später,
bei den Byzantiniern, Hepaxsia oder KXtpiata (KX^p-aTa); die beiden
letzteren Bezeichnungen bezogen sich übrigens nicht auf die ganze
Halbinsel, sondern nur auf die Besitzungen der Griechen, Gothen
und Chasaren. Die Römer gebrauchten griechische Namen. In
russischen Quellen kommen auch Tawriani und Korsun vor. Bei
den arabischen Schriftstellern vor dem XIV. Jahrhundert findet man
überhaupt keine allgemeine Bezeichnung für die ganze Halbinsel,
sondern sie sprechen von Städten an der Küste des Pontus. Noch
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Marco Polo kennt in seiner Erzählung von der Reise, welche sein'
Vater und Oheim im Jahre 1250 von Konstantinopel nach Soldai
(Sudak) unternommen, den Namen Krim nicht. Derselbe taucht
zuerst in den Sechsziger Jahren des XIII. Jahrhunderts auf, dann auf
Münzen der Chane der Krim'schen Horde, welche in den Achtziger
Jahren des XIII. Jahrhunderts geprägt worden, bei arabischen Geo¬
graphen aber nicht früher, als zu Anfang des XIV. Jahrhunderts.
Dieser Umstand lässt es schon a priori als wahrscheinlich erscheinen,
dass das Wort Krim als geographische Bezeichnung seinen Ursprung
den Tataren verdankt. Zu einer solchen Schlussfolgerung führt auch
eine genauere Prüfung der bisher gegebenen Erklärungen des Wor¬
tes. Mir sind folgende Erklärungen des Namens Krim bekannt:
1) Er ist abgeleitet von dem biblischen Namen Gomer , des Sohnes
Japhet’s und dessen Nachkommen, den Kimmeriern (Wiener, Gese-
nius, Fürst, Neumann, Knobel, Murawjew-Apostol u. v. Ä.).
2) Er stammt ab von dem Namen der Stadt Kremny oder Krimny
(oi Kpir)[j.vot), welchen schon Herodot kannte.
3) Er ist der Stadt Kijxiiiptxov (Cimmericum) entnommen.
Diese Muthmassungen habein schon deshalb keine Wahrschein¬
lichkeit für sich, weil sie einen in der Geschichte der Geographie
so beispiellosen Sprung präsumiren, wie der von den biblischen
Zeiten oder denen der alten Kimmerier bis zum XIII. Jahrhundert
wäre, da in der Zwischenzeit die Halbinsel Tauris mit keiner aller
der Formen benannt worden ist, von welchen der Name Krim an¬
geblich abstammen soll. Im XIII. Jahrhundert aber hat sich auf der
taurischen Halbinsel nichts Derartiges ereignet, was längst in Ver¬
gessenheit gerathene biblische, hellenische oder kimmerische Remi¬
niszenzen wieder hätte in’s Leben rufen können, denn bis jetzt ist es
Niemandem gelungen, an den Tataren, welche in das südliche Russ¬
land eindrangen und das Krim-Chanat gründeten, eine so eifrige
Vorliebe für altklassische Namen wahrzunehmen.
Ausser dieser allgemeinen Widerlegung hält auch keine der ange¬
führten Erklärungen einzeln genommen die Kritik aus. So muss
der biblische Gomer , wenn man den ganzen Charakter der Genea¬
logie der Völker im Buche der Genesis in Betracht zieht, mit viel
grösserem Recht in Klein-Asien gesucht werden, worüber gegen¬
wärtig in der That auch der grösste Theil der Gelehrten einig ist.
Die Stadt Kremny lag nach der Beschreibung Herodot’s (IV, 20. 110)
nördlich vom Asow'schen Meer. Von Kimmerikon aber spricht
schon Strabo (XI, 2, 5. pag. 494) wie von einer längst nicht mehr
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3i5
existirenden Stadt und überdies befand diese Stadt sich vielleicht
auf der asiatischen Seite der Meerenge von Kertsch. Auf diese
Weise stellen sich alle Chancen auf die Seite der tatarischen Ab¬
stammung des Namens Krim. Die bis jetzt gegebenen tatarischen
Etymologien des Wortes aber sind gleichfalls sehr unbefriedigend.
Mir sind drei Versuche, dieses Wort aus der tatarischen Sprache zu
erklären, bekannt:
1) Der Reisende Förster glaubte im vorigen Jahrhundert in dem
Namen Krim die Bedeutung einer Festung zu finden, indem er wahr¬
scheinlich annahm, wie schon Koppen in seinem «KpbiMCKittC6opHHKT>»
bemerkt, dass dieses Wort identisch mit dem tatarischen kernten , kyr -
man sei; in diesem Falle ist es aber unbegreiflich, warum die Tata¬
ren schon zur Zeit ihrer Invasion auf der taurischen Halbinsel ein
bei ihnen so gewöhnliches Wort verunstalteten, welches überdies in
seiner richtigen Form als Bestandteil vieler geographischer Be¬
nennungen von Ortschaften in der Krim vorkommt, wie z. B. Inker¬
men, Saru-Kernten , Mankermen , Tepe-Kermen u. v. A., und warum
gerade die entstellte Form dieses Wortes zu solchem Ruhme ge¬
langte, dass sie der ganzen Halbinsel den Namen gab.
2) Die zweite Erklärung gehört dem Autor einer unlängst erschie¬
nenen «Universalbeschreibung der Krim», einer voluminösen Arbeit,
deren Werth leider dem Umfang bei Weitem nicht entspricht. Die¬
ser Verfasser, Hr. Kondaraki, behauptet ziemlich kühn: *Chyrym
heisst im Tatarischen: Niederlage. Das Wort ist leicht auf die Be-,
gebenheit anzuwenden, welche die Tataren zur Invasion in die tau¬
rische Halbinsel zwang.» (IV, Th. 14, pag. 101.) Aller Wahr¬
scheinlichkeit nach dachte er an das tatarische Verbum kyrmak ,
schneiden, wovon dann kyrynt , Gemetzel, herkäme. Die Unzulässig¬
keit einer solchen Interpretation liegt auf der Hand, denn kein Volk,
wie demuthsvollen Charakters es auch sein mag, wird dem eroberten
Territorium eine Benennung beilegen, welche an die eigene Nieder¬
lage erinnert, ganz abgesehen davon, dass von einer Niederlage der
Tataren zu damaliger Zeit die Geschichte nichts weiss. Wenn aber
Hr. Kondaraki seinen Schnitzer durch die Annahme verbessern will,
dass Krim nicht die Niederlage der Tataren bedeute, sondern das
Gemetzel, welches sie selbst unter den übrigen Bewohnern der
Halbinsel angerichtet, so dürfte es ihm auch in diesem Falle kaum
gelingen, eine historische Basis zu finden, denn die Geschichte weiss
nichts von irgend einem besonderen Gemetzel zur Zeit der Invasion
der Tataren in Taurien zum Unterschied von anderen Gegenden, in
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6
welche die Tataren damals gleichfalls eindrangen. Und dann sagt
Hr. Kondaraki selbst, dass mit der Benennung Chyrym die Tataren
die Gegend bezeichneten, in welcher sie zuerst anlangten, und dass
diese Benennung später auf die ganze Insel ausgedehnt wurde. Der
erste Punkt aber, von welchem die Tataren auf der taurischen Halb¬
insel Besitz ergriffen, war nicht Solchat, welches vorzugsweise Krim
genannt wird, sondern Sugdaja, , das tatarische Sudak und das Surosh
russischer Quellen.
3) Die dritte Erklärung des Wortes aus der tatarischen Sprache
gründet sich auf ein Postscriptum zu einer angeblich in Derbend
gefundenen Handschrift, welches ich jedoch für eine neuere Fabri¬
kation halte. Nach der Erzählung des Autors dieses Postscriptums
hätte der persische König Cambyses die alt-judäischen und medi-
schen Krieger in das Lland der Scythen geschickt, um an der Köni¬
gin Tomyris für die Ermordung seines Vaters Cyrus Rache zu neh¬
men und für die erfolgreiche Ausführung seines Willens diesen
Judäern und Medern die taurische Halbinsel geschenkt, in Folge
dessen letztere den Namen Kerim erhielt, was im Medischen (nach
diesem Autor ist Medisch und Tatarisch einerlei) Gnade , Geschenk
heisst. Wenn überhaupt solche phantastische Erfindungen einer
Widerlegung bedürften, so genügte es, zu bemerken, dass das Wort
kerim , Gnade ein arabisches und von den Tataren erst nach der
Annahme des Islam adoptirt worden ist, keineswegs aber von den
alten Medern zur Zeit des Cambyses.
Das ist, meiner Meinung nach, Alles, was bisher über die Etymo¬
logie des Wortes Krim gesagt worden ist. Man braucht wohl nicht
übermässig anspruchsvoll zu sein, um diese Erklärungen ungenügend
zu finden.
Bevor ich nun meine eigene Vermuthung ausspreche, glaube ich
bemerken zu müssen, dass nach Durchsicht der Quellen über die
Geschichte und Geographie der Krim, meiner Ueberzeugung nach
Karamsin Recht hatte, wenn er behauptete, dass Krim ursprünglich
der Name der Stadt Solchat (ebenso Eski-Kirim, Alt-Krim) war und
erst in der Folge auf die ganze Halbinsel ausgedehnt wurde, nicht
aber umgekehrt, wie Abulfeda irrthümlich glaubte. Die erste
Ortschaft, welche die Tataren in der Krim eroberten, war, wie
schon erwähnt, Sugdaja , zu ihrer Residenz aber wählten die Chane
das unweit von Sugdaja gelegene Solchat wahrscheinlich deshalb,
weil die Lage des letzteren am Fusse und Abhange des Berges
Agirmysch gegen feindliche Ueberfälle grössere Sicherheit bot.
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3*7
Dabei begnügten sich die Tataren nicht mit den natürlichen Ver-
theidigungsmitteln allein. Koppen sagt in seiner Beschreibung: An
der Nordseite der Stadt, auf einer Erhöhung, welche jetzt den Na¬
men Nogaily Oglu Oba führt, sind die Spuren einer Befestigung
bemerkbar, hinter welcher sich ein alter Graben hinzieht, der, wie
man sehen kann, sehr tief war und bis zur Stadt verlief. (Kp. C6. 346.)
Dasselbe erzählt auch Frau Ssossnogorow in ihrer Beschreibung der
Krim (2. Ausg. pag. 296). Es ist nicht bekannt, ob die Tataren
diese Vertheidigungsmittel der Stadt, die Befestigung und den tiefen
Graben, schon fertig vorfanden, da nach der Ansicht Einiger an
dieser Stelle die altgriechische Stadt Corea lag, oder ob die Tataren
dieses Alles selbst anlegten. Wie dem aber auch sein mag, in allen
ausführlichen Beschreibungen der Stadt Alt-Krim, welche ich gelesen
habe, wird jedoch auf diesen tiefen Graben ein besonderes Augen¬
merk gelenkt. Und dieser Umstand könnte, meiner Meinung nach,
die Entstehung der Benennung Kirym erklären, welches Wort Grube ,
Graben , Erdwall bedeutet. Diese Erklärung scheint mir um so
wahrscheinlicher, als die Benennung einer Lokalität nach einem be¬
stimmten, sie kennzeichnenden Merkmal ganz im Geiste der orien¬
talischen Völker liegt.
II. Solchat.
Der zweite Name der ehemaligen Residenz der Chane, Solchat,
wurde auf zweierlei Weise gedeutet. Die Bedeutung der ersten
Silbe sol ist klar; es ist das tatarische Wort links. Schwieriger ist
die Erklärung der letzten Silbe chat . Nach dem von mir vorhin
erwähnten verdächtigen Dokument erhielt derjenige Theil der Stadt,
in welchem sich die judäischen Krieger des Cambyses niederliessen,
den Namen Solchat , was im Medischen heissen soll Linksschreib en>
weil die Hebräer von rechts nach links schreiben. Dagegen habe
man den andern Theil der Stadt, wo die Griechen ansässig waren,
Onchat benannt, d. h. Rechtsschreiben i weil die Griechen von links
nach rechts schreiben. Auch dieses Mal ist es nicht schwer, dem
Verfasser de^ angezogenen Dokuments mangelhafte philologische
Kenntnisse nachzuweisen. Denn das Wort chat , Schreiben, welches
die Türken hat , hatti aussprechen und das aus verschiedenen hatti -
humayuns und hatti-scherifs der Sultane bekannt ist, ist arabischen
Ursprungs' und von den türkisch-tatarischen Völkern erst nach der
Annahme des Islam entlehnt worden, nicht aber von den vermeint¬
lichen Medern zur Zeit des Cambyses. Andere wollen in der En-
Ruse. Kerne. Bd. IX. 21
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düng des Namens Solchat oder Solkat eine Abkürzung des Wortes
kand, kend , Ortschaft, Städtchen, erblicken; bis jetzt aber ist kein
Beispiel einer solchen Abkürzung bekannt und in einer grossen An¬
zahl türkisch-tatarischer Städtenamen auf kand und kend, wie z. B.
Samarkand, Jarkend , Taschkend , Dshanikend u. a., ist der Nasallaut
stets beibehalten. Es wäre eigenthümlich, als ursprüngliche Form
Solkand oder Solkend anzunehmen, von welcher in den ältesten
Nachrichten über diese Stadt nicht ein Beispiel erhalten ist. Ueber-
dies wurde das Wort kend von den Krim Tataren nicht zur Bildung
geographischer Namen gebraucht.
Die Erklärung wird übrigens durch zwei Umstände erschwert:
erstens dadurch, dass die doppelte Schreibweise, Solchat und Solkat
(Solgat), sich schon in den ältesten Nachrichten über diese Stadt
vorfindet, und zweitens dadurch, dass die Krim-Tataren, nach dem
Zeugniss des Reisenden Ibn-Batuta, in der Aussprache der Guttural¬
laute keinen scharfen Unterschied zu machen verstanden. Diese
Erscheinung kann man auch noch jetzt in der Krim wahrnehmen,
wo häufig statt ch gesprochen wird g, statt k — ch etc.
Am Einfachsten wäre es, den ganzen Namen aus der tatarischen
Sprache abzuleiten und in der zweiten Hälfte das tatarische Wort
kat, Seite, anzunehmen In diesem Falle wäre die Hauptstadt, deren
allgemeiner Name Krim war, in zwei Theile getheilt gewesen: Solkat\
die linke Seite, und Onkat, die rechte Seite, wobei der erste Theil,
in welchem der Chan, seine Würdenträger und die dominirende
Klasse der Einwohnerschaft ihren Sitz hatten, die Hauptrolle spielte
und häufig den Gesammtnamen Krim ersetzte, besonders seit der
Zeit, als man angefangen hatte, mit dem letzteren die ganze Halb¬
insel zu bezeichnen. Wenn es aber gelingen sollte, mit Hülfe von
Dokumenten nachzuweisen, dass die ursprüngliche und richtige
Aussprache Solchat gelautet hat, so müsste in diesem Falle in der
zweiten Hälfte des Namens das arabische Wort chat in dem Sinne
von Strich, Linie angenommen werden, wie es auch in türkisch¬
tatarischen Dialekten gebraucht wird.
Ich muss übrigens noch hinzufügen, dass die Existenz eines Stadt-
theils in Alt-Krim unter dem Namen Onkat oder Onchat mir bis
jetzt allerdings nur aus Dokumenten bekannt ist, deren Echtheit ich
selbst anzweifle. In seiner, im Jahre 1872 erschienenen Schrift
aber versichert Abraham Firkowitsch, dass ein Stadttheil unter jenem
Namen noch heute in Alt-Krim existire. Immerhin wäre eine Nach¬
forschung an Ort und Stelle wünschenswerth.
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319
III. Kerker.
Drei Werst von Bachtschissarai auf hohem Felsen liegt eine ver¬
fallene und von den Bewohnern verlassene Stadt Namens Dschufut-
Kale, d. i. Judenfeslung. Dieser Name ist der Stadt nicht früher
als im XVII. Jahrhundert beigelegt worden und findet sich zuerst in
entstellter Form bei dem bekannten niederländischen Reisenden
Nicolaas Witsen. Bevor jedoch die Residenz der Krim’schen Horde
nach Bachtschissarai verlegt wurde, diente die Felsenstadt den Cha¬
nen zur Residenz und trug den Namen Kirker oder Kerkeri , woraus
verschiedene Verstümmelungen, als Kirkor, Kirkiel , Cherchiel etc.,
hervorgingen. Das Wort wird gewöhnlich für ein türkisch-tatarisches
gehalten; eine genauere Prüfung lässt darüber aber Zweifel auf-
kommen. Allerdings heisst das Wort kirk — vierzig und wird in
den türkisch-tatarischen Dialekten überhaupt viel zur Bildung geo¬
graphischer Namen benutzt, wie z. B. Kirk-Agatsck, 40 Meilen, oder
40 Bäume, Kirk-Asis, 40 Heilige, Kirk-Kilisa , 40 Kirchen, u. dgl.
Die Endung r in Kerker aber lässt eine solche Erklärung nicht zu.
Im Tatarischen kann es heissen: zu vierzig , je vierzig , was bei dem
Namen einer Stadt keinen Sinn hätte. Abulfeda brachte in Erfah¬
rung, Kerkeri heisse türkisch 40 Männer , was aber nur eine tatarische
Volksetymologie ( kirk — 40, ar — Männer) des ihnen unbekannten
Wortes sein mag. Später kam man darauf, das Wort habe ursprüng¬
lich Kirkier gehiessen, was 40 Orte bedeutet. In den ältesten Quellen
aber findet sich das Wort niemals mit dem Buchstaben je geschrieben,
d. h. dem arabischen ia vor dem r am Schluss. In einer Quelle von
zweifelhaftem Werth findet sich die Nachricht, 40 Karaimen hätten sich
im Jahre 1396 mit Tochtamysch aus der Stadt Sarkel nach Tschufut-
Kale begeben und dieses in Folge dessen den Namen Kirkjurd , d. i.
40 Häuser , erhalten; dieses ist aber augenscheinlich eine neuere Er¬
findung, denn den Namen Kerkeri kannte Abulfeda schon fast ein
Jahrhundert früher, zu Beginn des XIV. Säkulums. In dieselbe Ka¬
tegorie neuerer Machwerke ist auch die Nachricht zu verweisen, die
genannte Stadt sei von judäischen Kriegern zur Zeit des Cambyses
erbaut worden.
Hr. Kondaraki, dem allein bekannt ist, dass Tschufut-Kale von
dem taurisch-scythischen König Skiluros erbaut worden, behauptet,
die Tataren hätten diese Befestigung Chyr-Chyr> d. h. der Fels auf
dem Felsen (I, 65) genannt (wie sie aber früher geheissen, ver¬
schweigt er). Wahrscheinlich denkt er dabei an das türkische Wort
ai*
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320
Kyr , was bei den Altaibewohnern und Kirgisen unter Anderem Ufer ,
Rand , auch dasjenige bezeichnet, was scharf auslaufende Ränder
hat, wie z. B. ein spitzer Stein . Die Sache ist aber die, dass die
Krim-Tataren dieses Wort in der angegebenen Bedeutung nicht
besitzen, sondern sich zur Bildung geographischer Namen stets ent¬
weder des Wortes tasch (Stein), wie z. B. Kysyl-tasch (rother Stein),
Tasch-duwar (steinerne Wand), oder des Wortes kaja (Fels), wie
z. B. Kusch-kaja (Doppel-Fels), Kysyl kaja (rother Fels) etc. bedie¬
nen. Aus alledem geht hervor, dass der Name Xirker nicht tatari¬
schen Ursprungs ist, an welchem man durchaus eine türkische Ety¬
mologie herausfinden will. Wenden wir uns der Geschichte zu, so
leuchtet gleichfalls ein, dass die erwähnte Benennung gar nicht tata¬
risch sein kann. Schon aus den Schriften des Konstantin Porphyro-
genetes wissen wir, dass sich ein Theil der Alanen, welche sämmt-
liche Gelehrte mit den Osseten und Jassu* identificiren, sich auf
der taurischen Halbinsel in der Nachbarschaft des Krim sehen Cha-
sarien, niederliess. In der ältesten Nachricht über die Stadt Kerker
aber, bei Abulfeda, welcher etwa 80 Jahre nach der Invasion der
Tataren in die Krim schrieb, heisst es, dass die Bewohner dieser
unzugänglichen Feste die al-Ass (Jassen) sind. Noch später war,
nach dem Zeugniss Schiltberger’s, Karkcri von griechischen, d. h.
rechtgläubigen, Christen bewohnt, während wir aus arabischen
Quellen wissen, dass ein grosser Theil der kaukasischen Alanen
gleichfalls die christliche Religion bekannte. Diese Alanen waren
rühmlich bekannt durch ihre Kunstfertigkeit im Bau starker Festun¬
gen, wie das Zeugniss des Geographen Jakut nachweist, dass Kalat
Alan (die Alanen-Festung) unweit Derbend für ein Weltwunder ge¬
golten habe. Ebenso lässt sich an dem jetzigen halbzerstörten
Tschufut-Kale erkennen, dass Abulfeda diese Festung nicht ohne
Grund unzugänglich nannte; sie war somit des Ruhmes ihrer wahr¬
scheinlichen Erbauer würdig. Es ist daher begreiflich, dass die Tata¬
ren, da sie lange Zeit nicht im Stande waren, Kirker zu bewältigen,
es den Alanen zum ausschliesslichen Besitz überlassen und sich mit
einer nominellen Gewalt begnügen mussten.
Die direkte Folge dieser Kombinationen aber ist, dass auch nicht
die Tataren der Festung ihren Namen gegeben haben, sondern ihre
wahrscheinlichen Erbauer und langjährigen Bewohner, die Alanen,
d. h. ein Zweig der Osseten, in jedem Falle Iranier. Und aus die¬
sem Grunde scheint die Erklärung des Namens Kerker aus den indo¬
europäischen Sprachen vollkommen gerechtfertigt. Und in der
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321
That ist es nicht schwierig, eine arische Etymologie herauszufinden.
Das lateinische Wort carcer , welches in der Form Kerker in’s
Deutsche übergegangen ist, bezeichnet bekanntlich nicht nur einen
Ort der Haft, sondern überhaupt einen abgesperrten, verschlossenen
Raum. Das Wort ist eine Reduplikation des Stammes kar , daher
Bopp in dem sanskritischen kara und tschara die Prototypen des
lateinischen carcer erkannte. Die verdoppelte Wurzel karkara heisst
aber in der Sanskritsprache fest , was auch auf die Stärke einer Fe¬
stung angewandt werden kann. Sehr möglich ist es, dass auch die semi¬
tischen Worte kar — Festung im Alt-Assyrischen, kir — Benennung
einer Festung im Moabitischen und kiria — befestigte Stadt im
Alt-Hebräischen mit der arischen Wurzel verwandt sind. Wie dem
aber auch mit dieser Verwandtschaft sei, so finde ich den Beweis,
dass die Iranier das Wort kerker als geographische Bezeichnung
gebrauchten. So geschieht in der vom Akademiker Dorn mitge¬
brachten Handschrift eines befestigten Ortes, in der am Kaspi See ge¬
legenen Provinz Gilan , nördlich von Tabaristan, Erwähnung, welcher
sich Kerkeri-puscht nennt {puscht heisst im Persischen Rücken und
Wehr \ die wahrscheinliche Bedeutung wird sein Festung zum Schutz
oder Festungsiuehr ). Die jetzigen Osseten gebrauchen, nach dem
Zeugniss Sjögren’s, in der ossetischen Grammatik allerdings ent
weder das arabische kala oder das Wort bru in der Bedeutung
Festung; dass sie einstmals aber auch die Wurzel kar gebraucht,
beweisen viele Ortsnamen in Ossetien mit der Endung kari , welche
Golowin in seinem Artikel über Ossetien (im Kaukasischen Kalen¬
der, Jahrgang 1854, pag. 467— 468) anführt; dort findet sich auch
eine Ortschaft mit dem Namen Karku-zaantkari , in welchem wahr¬
scheinlich die Wurzel kar in verdoppelter Form enthalten ist Es
ist sehr möglich, dass die vielgerühmte Alanenfestung, welche schon
den Alten unter dem Namen ’AXßaviat 7tt>Xa(, Portae Albaniae, Alba¬
nisches Thor, bekannt war, als Pass aus Albanien, dem nachmaligen
Alanien, in die Berge, bei den Eingeborenen den Namen Kerker
oder eine andere ähnliche Bezeichnung trug. Für diese meine Ver-
muthung habe ich folgenden Anhaltspunkt. Der persische Dichter
Nizami, welcher zu Anfang des XIII. Jahrhunderts starb, hat bekannt¬
lich eine Dichtung verfasst unter dem Titel Iskender-nameh, d. i.
Alexandriade, in welcher unter Anderem die Thaten Alexander von
Macedonien in seinem Feldzug gegen die Russen gepriesen werden.
Die Veranlassung zu diesem Feldzug ist aber in der Dichtung eine
Klage des Herrschers von Abchasien, welcher zu Alexander (nach
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der Uebersetzung Charmoy’s) sagt: «Le Russe avide de combats est
venu, pendant la nuit, du pays des Allains et de Guerk (Variante
d’Erek) fondre sur nous comme la grele. N’ayant pu se frayer un
chemin par Derb&nd et ses environs il s’est fraye un passage par les
d^files de cette contr£e.» (Ich übergehe hier die verschiedenen
Varianten.) Was das für eine Gegend oder Ortschaft: Gerk oder
Kerk ( G und K haben im Persischen dasselbe Schriftzeichen) ist,
konnte Charmoy nicht angeben, wie er denn auch in seinen Hand¬
schriften keine andere Variante, ausser Erek, gefunden hat, während
sich in den Handschriften, welche Erdmann zugänglich waren, an¬
statt der beiden Namen Alan und Gerk — Alan-Kerk findet, was
Erdmann irrig Alan-Warjag interpretirt. Dieser Fehler ist unlängst
von dem Fürsten P. P. Wjasemskij nachgewiesen worden. Offenbar
ist hier eben von der Schlucht die Rede, welche die Bezeichnung
Alanen-Thor führte, welches im Alanischen wahrscheinlich Alan-
Kerker oder abgekürzt Alan-Kerk hiess, und dieser Name wurde
von den Arabern mit den Worten Kalat-Alan , Alanen-Festung#
übersetzt. In diesem Falle hätten wir bei den alten Albanen im
Kaukasus das Prototyp des späteren krimschen Kerker.
IV. Alupka.
An der Südküste der Krim erfreut sich eines weit verbreiteten
Rufes die Besitzung des Fürsten Woronzow, Alupka. Die Ueber-
bleibsel einer alten Festung, deren Plan wir in der Schrift Köppen’s
(pag. 195) finden, legen Zeugniss dafür ab, dass man es hier nicht
mit einer neuen Ortschaft zu thun hat, welche der ehemalige Statt¬
halter vom Kaukasus hat gründen lassen. Uebrigens wird in einem
unlängst edirten genuesischen Dokument aus dem Mittelalter bereits
Lupico erwähnt. Fr. Ssossnogorow theilt als Ergänzung zu den
Angaben Köppen’s mit, die Ueberbleibsel einer Festung wiesen
darauf hin, dass hier die grösste der Befestigungen an der Südküste
gelegen, welche, nach der Bauart und den noch vorhandenen Resten
zu urtheilen, der griechisch byzantinischen Epoche allgehörte (pag.
119). Daraus geht hervor, dass der Ort ursprünglich einen griechi¬
schen Namen hätte führen müssen; so viel mir aber bekannt ist, hat
Niemand den Versuch gemacht, diesen Namen zu ermitteln. Im
vergangenen Jahre hatte ich Gelegenheit, eine Handschrift einzu¬
sehen, welche eine Kopie eines um das Jahr 960 geschriebenen
Briefes des Chasarenkönigs Joseph enthält und unter anderen Qrt-
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323
schäften der Krim auch ein Alubika erwähnt; zieht man aber die
Art der Transkription der Eigennamen in diesem Dokument in Be¬
tracht, so kann das Wort auch Alopeka gelesen werden. Dieser
Umstand hat mich auf den Gedanken gebracht, dass der Name
Alupka nichts Anderes ist, als das griechische Wort Alopekia (aXto-
Tnqxi'a), welches auch in anderen Gegenden als geographische Bezeich¬
nung gebraucht wurde. Unter Anderem führt Strabo einen Ort
Alopekia in dem Don-Delta an. Die Bezeichnung ist wahrschein¬
lich auf die grosse Menge von Füchsen (griechisch alwTzrfi) in der
betreffenden Gegend zurückzuführen. An der Südküste der Krim
sind, wie mir Hr. Th. P. Koppen in verbindlicher Weise mitgetheilt,
in der That Füchse sehr zahlreich vorhanden. Bei den byzan¬
tinischen und anderen Schriftstellern des Mittelalters verstand man
unter Alopekia wahrscheinlich eines der befestigten Schlösser (ta
xaotpa, castella) an der Südküste der Krim.
Schliesslich glaube ich nicht unterlassen zu dürfen, nochmals zu
bemerken, dass diese Versuche, einige geographische Namen zu
erklären, in tjieinen Augen vorläufig nur den Werth einfacher Ver¬
muthungen haben und erst dann eine Bedeutung erlangen werden,
wenn sie die Zustimmung unserer kompetenten Kenner der histori¬
schen Geographie Süd-Russlands finden.
Der dritte internationale Orientalisten-Kongress
in St. Petersburg.
Vom 20. August (1. September) bis zum 1. (13.) September 1870.
In der Neuzeit sind die Zusammenkünfte von Fachmännern auf
jedem Wissensgebiete ganz an der Tagesordnung und sind die
Gelehrten-Kongresse zu solchem Bedürfniss geworden, dass es kaum
nöthig sein dürfte, von ihrem Nutzen zu sprechen. Kein Wunder
also, wenn auch die Orientalisten hierin dem Beispiele anderer Ge¬
lehrten folgen. Die deutschen Orientalisten haben schon längst den
Nutzen solcher Kongresse anerkannt, und seit dem Jahre 1844, als
die Mitglieder der * Deutschen Morgenländischen Gesellschaft»
zuerst in Dresden zusammentrafen, versammeln sie sich nun all-
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jährlich im Oktober, und zwar als besondere Abtheilung der Ver¬
sammlung deutscher Philologen und Schulmänner. An jenem ersten
Orientalisten-Kongress nahmen auch ausserhalb Deutschland woh¬
nende Fachmänner Theil, weshalb auch der Bericht «Verhandlungen
der ersten Versammlung deutscher und ausländischer Orientalisten
in Dresden, den i.—4. Oktober 1844 (Leipzig 1845)* betitelt ist. *
Aber erst 30 Jahre nach der Versammlung in Dresden, im Jahre
1873, versammelte sich in Paris ein wirklicher internationaler Orien¬
talisten-Kongress, von welchem Zeitpunkt an dieses Institut als
regelmässig organisirtes zu betrachten ist. Im Jahre darauf, im
September 1874, tagte der Kongress in London und dieses Jahr
hielt er seine dritte Versammlung, und zwar in St. Petersburg, ab.
Der verschiedenartige Nutzen von wissenschaftlichen Kongressen
überhaupt, muss für das orientalische Fach bedeutend höher ange¬
schlagen werden, wie wir es neulich bei einer andern Gelegenheit
erörterten und hier kurz resumiren. Die neuesten Entdeckungen
und die darauf neugegründeten Wissenschaften, wie z. B. die Aegyp-
tologie, die Assyriologie, die Kunde der altpersischen Keilschriften,
die indische und die oranische Alterthumskunde, die vergleichende
Religionswissenschaft u. s. w., unterordneten dem Orientalismus fast
das ganze historische und philologische Wissensgebiet. Wenn man
einst mit Hülfe der klassischen Literatur-Denkmäler die dunkelsten
Fragen über Ursprung und Entwickelung der verschiedenen Wissens¬
zweige lösen zu können glaubte, so herrscht dagegen jetzt auch
unter allen besonnenen Vertretern der klassischen Wissenschaften
die Ansicht, dass alle Fragen über Origines auf dem Gebiete der
orientalischen Wissenschaft ventilirt werden müssen, so dass der
Schwerpunkt der Geschichte und Philologie, natürlich für diejenigen
Gelehrten, welche nach dem Uranfang jeder Disziplin forschen, vom
Occident nach dem Orient, von Europa nach Asien verschoben wor¬
den ist. So z. B. wenn der jetzige Europäer den Ursprung der
Wörter, der grammatischen Formen in seiner eigenen Muttersprache
erfahren will, so muss er sich nach Indien und dem alten Eran
wenden; wünscht er die älteste Gestalt und die allmälige Heran¬
bildung der jetzt in Europa gebräuchlichen Schriftzüge zu erken¬
nen, so wird er auf Aegypten und Vorder-Asien angewiesen; um
wahre und gesunde Begriffe über den Glauben und die Religions¬
gebräuche der jetzigen europäischen Völker zu bekommen, muss
man in Gedanken nach Palästina und zum Theil abermals nach
Indien und Persien übersiedeln; verlangt endlich Jemand, den Ur-
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anfang der Wissenschaften und Künste zu erforschen, so hat er
wiederum nöthig, nach den Ufern des Nil, des Tigris, des Euphrat’s
und des Ganges sich umzusehen.
Dies Alles in Betreff des hohen Alterthums. Aber ebenso sind
fiir europäische Gelehrte von hohem Interesse die relativ späteren
historischen Epochen des Orients, sowie die genaue Bekanntschaft
mit dem gegenwärtigen Zustande der orientalischen Völker. Im
Vergleich mit der immer allgemeiner werdenden Nivellirung der
Kultur bei den europäischen Völkern, welche interessante und
höchst belehrende Erscheinung bietet uns der Orient dar mit sei¬
nen verschiedenartigsten materiellen wie geistigen Manifestationen.
Wie viele Fragen sind da zu beantworten, wie viele Probleme zu
erforschen und wie viele Räthsel zu lösen! Japanesen, Chinesen,
Central-Asiaten, Tibetaner, Indier, Perser, Araber und afrikanische
Stämme, alle diese Völker und Rassen, auf einer verschiedenen
Kulturstufe stehen bleibend, schufen sich ein jeder eine ihm eigen-
thümliche Weltanschauung und einen eigenarfigen geistigen Typus.
Brahmanismus, Buddhaismus, Schamanenthum, Parsismus (Zoroaste-
rische Lehre) und Islam, alle diese Religionssysteme haben ver¬
schiedene Phasen durchgemacht, von welchen eine jede für ihr all¬
seitiges Erforschen das fleissigste Studium mehrerer Gelehrten in
Anspruch nimmt. Die reiche einheimische Literatur des Orients
über verschiedene Zweige des menschlichen Wissens ist erst seit
verhältnissmässig kurzer Zeit, und zumeist noch sehr ungenügend,
in Europa bekannt geworden. Zu einer tieferen Erkenntniss der
menschlichen Kulturentwickelung und zu einem genauen Verständ¬
nis seines geistigen Lebens wird zu allererst eine genaue Bekannt¬
schaft mit all diesen Erscheinungen vorausgesetzt, und ist es höchst
nothwendig, dass alle Lücken in unserem darauf bezüglichen Wissen
ausgefüllt werden.
Wie man sieht, zeichnet sich die Aufgabe der orientalischen
Wissenschaft durch ihren gewaltigen Umfang aus, und um die
Anstrengungen der einzelnen Gelehrten zweckdienlich zu machen,
ist ein Zusammenhalten aller auf diesem Gebiete arbeitenden
Kräfte mehr als irgend anderswo geboten. Dessen ungeachtet
war es leider bis jetzt so, dass vielleicht auf keinem anderen Ge¬
biete die gegenseitige Abgeschlossenheit der Spezialisten und die
Centrifugalkraft in solchem Maasse herrschten, wie in der kleinen
Orientalistenwelt. So mancher Sinolog oder Arabist pflegte sich in
seinem Fache dermaassen zu vertiefen, dass er von nichts Anderem
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wissen wollte und konnte. Diese Erscheinung hatte natürlich die
schädlichsten Folgen, von welchen gar zu oft die Arbeiten ausge¬
zeichneter Fachmänner nicht frei waren. Deshalb ist zu erwarten,
dass die öfteren Zusammenkünfte der Orientalisten und der dadurch
bedingte öftere Gedankenaustausch zwischen den Vertretern ver¬
schiedener Zweige des Orientalismus Vieles zur Beseitigung des
bezeichneten Uebels tmd zur Erweiterung des oft gar zu beschränk¬
ten Gesichtskreises beitragen werden.
Ausser dem oben bezeichneten wissenschaftlichen Interesse, stehen
noch fast alle europäischen Nationen auch in anderen Beziehungen
zum Orient, wie z. B. in politischen, merkantilen u. dgl., weshalb die
Erforschung des Orients für jene Nationen geradezu als Staats¬
angelegenheit erscheint. Russland nimmt in dieser Hinsicht den
ersten Platz ein. Unter den Unterthanen des russischen Reiches
befinden sich die Repräsentanten der meisten asiatischen Rassen
und Stämme; im Osten und Süden ist Russland von mohammedani¬
schen Völkerschaften umgeben, mit welchen es seit Jahrhunderten
zu kämpfen genöthigt ist; die Kulturmission Russlands in Asien
ist auch jedem Unvoreingenommenen, von Vämbery’s russophobi-
schen Theorien nicht Angesteckten, augenscheinlich. Diese Um¬
stände lassen für Russland die allseitige Bekanntschaft mit dem
• Orient sehr wichtig erscheinen, was auch die wissenschaftliche Thä-
tigkeit russischer Orientalisten und anderer Fachmänner zur Auf¬
hellung der Geschichte, Geographie, Ethnographie und der natur¬
wissenschaftlichen Zustände im Orient hinreichend beurkunden. Es
gibt bekanntlich nicht wenige asiatische Gegenden, über welche
Europa nur das weiss, was in Russland erforscht und bekannt ge¬
worden ist.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen wenden wir uns zu den
eigentlichen Beschäftigungen des Kongresses *.
Die Verhandlungen des Kongresses wurden in neun Sektionen
eingetheilt, nämlich:
1. Sibirien.
2. Central-Asien.
3. Der Kaukasus.
4. Transkaukasien.
5. Der äusserste Orient (China und Japan).
1 Ueber das Organisations-Komite des Kongresses vergl. «Russ. Revue« Band VIII,
pag. 577 «• ^ .
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327
6. Indien und Persien (Arier).
7. Türkei (sammt Arabien und Aegypten).
8. Orientalische Archäologie und Numismatik.
9. Religiöse Systeme und Mythologie der orientalischen Völker.
Für alle diese Sektionen wurden mehrere gelehrte Fragen (38)
zur Verhandlung vorgeschlagen, von welchen jedoch nicht alle auf
dem Kongress diskutirt wurden. Wir geben hier nur diejenigen,
welche wissenschaftliche Debatten hervorriefen und auf das asiati¬
sche Russland nebst den angrenzenden .Ländern Bezug haben.
In der ersten Sitzung (21. August [2. September], Morgens),
welche Central-Asien gewidmet war, wurde zuerst die Frage vor¬
gelegt: «Gab es vor Dschengis-Chan (Tschingischan) ein Volk oder
einen Stamm unter dem Namen Mo?igol> oder wurde Letzterer nur
zur Benennung der Dynastie des von Dschengis-Chan gegründeten
Reiches gebraucht?* Zur Beantwortung dieser Frage hat der eng¬
lische Major Raverty eine ausführliche Abhandlung zugeschickt,
deren Resultate Hr. Howorth (aus Manchester) folger.dermaassen
resumirt. Für die Geschichte der Mongolen gäbe es Quellen zweier¬
lei Art: persische, welche mit dem Historiker Raschid-eddin anfan¬
gen, und chinesische. Raverty unterzieht die persischen Nachrich¬
ten der Kritik und weist nach, dass sie für die ältere Epoche wenig
Werth haben. Schon der äussere Umstand, dass die älteste per¬
sische historische Quelle über die Mongolen, das oben erwähnte
Werk des Raschid-eddin, erst im XV. Jahrhundert, in der fünften
Generation nach Dschengis-Chan, niedergeschrieben wurde, spricht
wenig zu Gunsten der persischen Nachrichten über die älteste
Epoche der mongolischen Geschichte. Viel besser sind die chine¬
sischen Berichte über den Ursprung der Mongolen. Diese Berichte
sind von Schott (aus Berlin) ausführlich bearbeitet worden, und aus
ihnen geht hervor, dass der Name Mongol identisch sei mit Sc/irvei ,
wie der grösste Theil des chinesischen Grenzlandes hiess; Mongol
wäre demnach der spezifische und Schivei der generische Name
eines und desselben Volkes. Bei dieser Gelegenheit bekämpft
Hr. Howorth auch die Meinung des Prof. Wassiljew, wonach die
chinesischen Nachrichten über die Mongu und Mongkuli sich auf
die Mandschu und die Tungusen beziehen sollten.
Darauf hin wurden folgende zwei Fragen verlesen:
1) Sind die Benennungen Turan und Turanier bei den modernen
europäischen Gelehrten dem Sinne nach übereinstimmend mit den¬
selben Namen in altpersischen Quellen, oder bezeichneten jene
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328
Ausdrücke ursprünglich blos geographische und keine ethnographi¬
schen Begriffe?
2) Seit welcher Epoche siedelten sich die turanischen (im ge¬
wöhnlichen Sinne des Wortes) Völker an in Central-Asien, im Süden
von Thian-Schan, und waren nicht diese Gegenden einst von ari¬
schen (indo germanischen) Völkern bewohnt?
Dazu macht Hr. Prof. Grigorjew folgende Bemerkung. Es kommt
manchmal in der Wissenschaft vor, dass der Gebrauch eines unge¬
nauen und ungegründeten Ausdrucks viel Verwirrung hervorruft.
Dasselbe gilt auch von den Benennungen Turan und Turanier . Die
Altperser nannten Turan das nördlich vom Amu-Darja liegende Land,
ebenso wie Iran das südlich von diesem Flusse gelegene Land; sie
gebrauchten also die bezeichneten Namen rein geographisch. Da
jetzt türkische Stämme nördlich vom Amu-Darja wohnen, so glaubte
man, dass jene Länder von jeher von Völkern türkischer Rasse be¬
setzt waren. Aber aus chinesischen Quellen erfahren wir, dass im
heutigen Chiwa, Buchara, Chokand und im östlichen Turkestan, in den
ältesten Zeiten arische Völkerschaften gewohnt hatten. Die Mei¬
nungen der Fachmänner sind aber verschieden in Betreff der Frage:
zu welcher indo-germanischen Familie jene Ureinwohner des heuti¬
gen Turan gehört haben mögen. Manche, wie z. B. Hr. Lerch,
glauben, dass sie persischer Zunge wären; Hr. Grigorjew dagegen ist
der Meinung, dass wir dort den Ursitz der Vorfahren der Slaven,
Germanen und Lithauer zu suchen haben, von wo aus sie durch
Central-Asien nach Europa einwanderten.
Die darauf folgende Frage: «Welche Beweise hat man für die
in Europa allgemein * angenommene Meinung, dass das Mawaran-
nahr (Transoxanien) durch die Ujguren, und nicht durch einen
anderen türkischen Stamm, im X. Jahrhundert \öd n den Samaniden
erobert wurde?# gab Hrn. Grigorjew Veranlassung zu folgender
Bemerkung: Dieselbe Ungenauigkeit in der geographischen und
ethnographischen Nomenklatur, welche kurz vorher bezeichnet
wurde, herrscht auch in Betreff der gegenwärtigen Frage. Die
Ujguren nämlich sind ein Volk, von welchem man ohne nähere
Sachkenntniss viel Phantastisches gesprochen hat. Bekannt ist
nur, dass es einst ein Volk dieses Namens, im äussersten Osten
vom Thian-Schan gegeben hat. Jetzt ist es, in Folge der neulich
stattgefundenen grossen chinesischen Kämpfe, in Erfahrung ge¬
bracht worden, dass jene Gegenden von einer mohammedanischen
Bevölkerung türkischer Zunge bewohnt sind. Nur ein gelehrter
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329
Orientalist wäre im Stande, zu bestimmen, welcher türkischen
Gruppe der dort herrschende Dialekt angehöre ; aber kein solcher
Gelehrte ist bis jetzt in das Gebiet des alten Ujguriens eingedrungen.
Die orientalischen Quellen über Central-Asien berichten, dass zu
Ende des X. Jahrhunderts die Türk-Ujguren Mawarannahr von den
Samaniden-Fürsten erobert hätten. Nun wissen wir aus mohamme¬
danischen, den einzigen für jene Epoche existirenden Nachrichten,
dass das Mawarannahr speziell durch die in Kaschgar und Balasgun
wohnenden Türken erobert wurde; in den letztgenannten Ländern
aber wohnten, wie man aus arabischen Quellen weiss, die türkischen
Charlochen. Man hat folglich ebensowenig Recht, die von Letzte- .
ren vollbrachte That den Ujguren zuzuschreiben, wie etwa die russi¬
schen Siege über die Mongolen den Polen anzurechnen.
Ein viertes Referat theilte Hr. Grigorjew mit, über die Frage:
Ob die dem Abu-Dolef (arabischer Schriftsteller aus dem X. Jahr¬
hundert) zugeschriebene Reise durch Central-Asien und verschiedene
türkische Staaten in der Wirklichkeit stattfand, und ob die Risaleh
(Sendschreiben) wirklich dem genannten Araber gehöre oder eine
werthlose Kompilation sei? G. berief sich auf seine Analyse aller
geographischen und ethnographischen Angaben in der vermeint¬
lichen Reisebeschreibung und auf den Vergleich dieser Angaben
mit dem aus anderen Quellen Bekannten, welche am allerwenigsten
zu Gunsten der sogenannten Risaleh des Abu-Dolef sprechen *.
Von andern Mittheilungen in der ersten Sitzung notiren wir noch
folgende:
Hr. Tscharykow (aus Moskau) verlas einen Aufsatz über eine Reise
nach Usbekistan, welche von Pasuchin, dem Gesandten des Zaren
Alexei Michailowitsch, im Jahre 1671 —1672 unternommen wurde,
nach dem handschriftlichen Rapport, welcher sich im Archiv des
Ministeriums des Aeussern (in Moskau) befindet. Der Gesandte des
Zaren gibt darin detaillirte Nachrichten über die Wegekommunika¬
tionen, die ökonomischen und socialen Verhältnisse der durchge¬
reisten Länder, über den Handel mit russischen Sklaven, welcher in
Chiwa organisirt war, über die Audienzen, welche er bei den Chanen
von Chiwa und Buchara hatte u. dgl.
Halb politisch und halb gelehrt waren die einleitenden Bemerkun¬
gen des Pastors Long (aus Calcutta) zu seiner Abhandlung über die
arische Rasse und ihren Ursprung in Central-Asien. «Die englischen
1 Vgl. auch über diesen Gegenstand «Kuss Revue* Bd. II, pag. 296 u. ff..
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330
und russischen Mitglieder des Orientalisten-Kongresses», sagte
Hr. Long, «gehören einem Stamme an, welcher vor 5000 Jahren aus
Central-Asien nach Europa und Indien auswanderte. Nach der fast
gleichzeitigen Gründung von St Petersburg und Calcutta haben die
Grenzen der russischen und britischen Besitzungen in Asien immer
näher an einander gerückt, so dass sie jetzt, zum Glück für die
Menschheit, nicht mehr als 300 Meilen von einander entfernt sind.
Möge also die gemeinschaftliche Abstammung und das gemeinschaft¬
liche Interesse der Russen und Engländer diese beiden Nationen
zum friedlichen Wetteifer in der Verbreitung der Civilisation und
des Christenthums in den Gegenden, welche die Wiege ihrer ari¬
schen Urahnen waren, künftighin führen!» Hr. Long drückt die
Hoffnung aus, dass die Aegyptologie, die Assyriologie und haupt¬
sächlich die Forschungen der russischen und englischen Gelehrten
(warum auch nicht die anderer Nationen?) Vieles dazu beitragen
werden, um folgende sehr schwierige Punkte aufzuklären:
1. Aus welchem Lande sind die Arier nach Central-Asien ge¬
kommen?
2. Zu welcher Epoche sind sie dahin gekommen?
3. Wie lange sind sie da verblieben?
4. Was war die Ursache ihrer Auswanderung?
5. Durch welchen Weg sind sie nach Europa und Indien ge¬
kommen?
6. Welche waren die Grenzen ihres Gebietes in Central-Asien?
7. Welchen Theil Indiens besassen die turanischen Eingeborenen
Indiens zur Zeit der Ankunft der Arier dorthin?
8. War die arische Civilisation in Central-Asien der ägyptischen
und assyrischen vorangegangen, und befindet sich irgend ein Zu¬
sammenhang zwischen diesen verschiedenen Kulturarten?
9. Wer gelangte früher nach Europa, die Griechen oder die
Etrusker?
10. Waren die Kelten bald nach diesen beiden in Europa an¬
gelangt?
11. Haben die Slaven zuletzt das gemeinsame ursprüngliche Vater¬
land verlassen?
12. Kamen die indischen Arier nach Indien durch den Hindu-
Kusch?
13. Welche Spuren der arischen Emigration sind noch zu finden
im Bassin des Oxus, des Kaspischen und Schwarzen Meeres, am
Kaukasus und am Don?
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33i
Es dürfte eine schwierige, wenn nicht unlösbare Aufgabe sein, die
Mehrzahl dieser Fragen in zufriedenstellender Weise zu beantworten.
Bei Weitem nicht so reichhaltig ist die nächste Sitzung, den 21.
August Abends, welche der kaukasischen Sektion gewidmet war,
ausgefallen. In dieser Sitzung gab Hr. Berger einige Erläuterungen
über die Muster der kaukasischen National Industrie, welche zur
Ausstellung beim Kongresse zugeschickt wurden. Hr. Grigorjew
setzte die Unzulässigkeit der Benennung »kaukasische Rasse» in der
Ethnographie auseinander, welcher Name übrigens von den meisten
Gelehrten bereits aufgegeben ist. Bei dieser Gelegenheit entwickelte
er seine Meinung, dass die Indo-Germanen nicht durch den Kaukasus,
sondern von Central-Asien durch die Uralgebirge in Europa er¬
wanderten.
In der Sitzung der türkisch-arabischen Sektion (23. August [4. Sept.],
Morgens), gab Hr. Harkavy die Erklärung einer arabischen Nachricht
über die ältere Geschichte der Slaven. Hr. Howorth las eine Ab¬
handlung über die Chasaren vor, in welcher er deren türkische Ab¬
stammung nachzuweisen suchte. Wie sich erwarten lässt, waren ihm
die Arbeiten, welche über diesen Gegenstand in der neuesten Zeit
in Russland veröffentlicht wurden, unbekannt geblieben.
Darauf hin wurde verhandelt über die Frage: Was war die Ur¬
sache dessen, dass am Anfang des XI. Jahrhunderts der Handels¬
verkehr zwischen dem mohammedanischen Orient und dem euro¬
päischen Norden, welcher Verkehr seit dem VII. Jahrhundert un¬
unterbrochen geblüht hat, plötzlich aufhörte? Hr. Chwolson glaubt,
dass der Fall des Chasarenreichs, welches den Handelskarawanen
gegen die Raubzüge der alten Russen Schutz gewährte, auch das Auf¬
hören des Handels zur Folge hatte. Diese Meinung theilt auch
Hr. Howorth. Dagegen wendet aber Hr. Grigorjew ein, dass der
Fall der Chasarenherrschaft durch Swiatoslaw schon in den Sechs¬
ziger Jahren des zehnten Jahrhunderts, die Spuren des kommerziellen
Verkehrs sich aber noch, durch Münzfunde, bis zum Jahre 1011
nachweisen lassen. Diese Schwierigkeit sucht Hr. Harkavy durch
die historische Thatsache zu erklären, dass nach dem Fall des Cha¬
saren- Chanats an der Wolga, sie noch längere Zeit am Ufer des
Schwarzen Meeres herrschten, bis die Byzantiner zu Anfang des
XI. Jahrhunderts den letzten chasarischen König gefangen nahmen
und seinem Reiche ein Ende machten.
In derSitzung der Sektion vom äussersten Orient (23. Aug. [4. Sept.],
Abends), theiite Hr. Lagus (aus Helsingfors) eine Nachricht mit über
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die erste russische Expedition nach Japan, welche unter der Leitung
eines geborenen Finländers, des Lieutenants Adam Laxman, in den
Jahren 1792—1793 stattfand. Nach einer Schilderung der Reise
und des Aufenthalts der russischen Mission in Japan, suchte der
Referent nachzuweisen, dass jene Mission, gegen die Meinung
mancher Schriftsteller, ihr Ziel erreicht habe, nämlich dass dem
russischen Reiche dieselben Handelsprivilegien damals japanesischer-
seits wie den Holländern gewährt wurden, welche Privilegien erst
während der zweiten russischen Mission (1803) verloren gingen.
Hr. Raczynski (aus Moskau) lenkte die Aufmerksamkeit des Kon¬
gresses auf die reiche Sammlung von Dokumenten über den Ver¬
kehr Russlands mit dem äussersten Orient, und die vielen geo¬
graphischen Karten jener Länder, welche in den Central-Archiven
von Moskau aufbewahrt, und für den Historiker, den Geographen,
den Linguisten und den Naturforscher gleich wichtig sind.
Der Referent suchte verschiedene sehr interessante Dokumente
hervorzuheben, unter anderen über den Tabakshandel, welcher die
Ursache eines zwanzigjährigen Krieges zwischen Russland und Per¬
sien war; über den Rhabarber, welchen die russischen Fürsten bis
zu den Besitzungen des Dalai-Lama aufzusuchen schickten, und zwar
deshalb, weil es damals Gebrauch war, die Freundschaftsgeschenke,
welche man damals an den persischen Schah und den türkischen
Sultan zu schicken pflegte, von diesem Heilmittel begleiten zu
lassen; über den handschriftlichen Nachlass des Orientalisten Georg
Kehr u. s. w.
Hr. de Rosny berichtete über die Ergebnisse seiner Untersuchun¬
gen betr. die Distanzmessungen bei den Chinesen äu verschiedenen
Zeiten und hob die Nothwendigkeit hervor, mehrere noch dunkele
Punkte in den chinesischen geographischen Maassen aufzuklären.
Bei dieser Gelegenheit bezeichnete er als sehr beacbtenswerth eine
Abhandlung über das Fusongmaass, welche den Hrn. Bretschneider,
den Arzt der russischen Legation in Peking, zum Verfasser hat.
Unter den andern gelehrten Fragen, über welche in dieser Sitzung
verhandelt wurde, zeichnen sich durch allgemeines Interesse aus die
über die ältesten historischen Nachrichten bei den Japanesen, über
die Verwandtschaftsverhältnisse der chinesischen und coräischen
Sprachen, über das gegenseitige Verhältniss der Mikado- und Siogun-
Dynastien in Japan u. dgl., über welche die Herren de Rosny, Wassil-
jew und Machow Referate verlasen.
In der Sitzung der transkaukasischen Sektion (25. August, [ö.Sept.],
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333
Morgens) stellte Hr. Berger eine handschriftliche Sammlung vori
adserbidschanischen Liedern vor, welche er mit folgender Bemer¬
kung begleitete. Zu den kaukasischen Stämmen, d^jen Sprache und
Volkspoesie noch sehr wenig untersucht worden ist, gehören die
adserbidschanischen Tataren. Ihre Sprache herrscht noch weit
über die Grenzen Adserbidschans; sie wird auch im persischen Kur¬
distan, im eigentlichen Iran bis zur Stadt Kazwin, und auf russischem
Gebiete im östlichen Transkaukasien, südlich vom Kura-Fluss, ge
sprochen, so dass in den Schemacha’schen und Nucha’schen Kreisen
die Adserbidschan-Tataren die Hauptmasse der Bevölkerung bilden,
im Eriwan’schen Gouvernement dringen sie unter die armenische
Bevölkerung ein. Auch im Kuban’schen Distrikt und noch weiter
in der Richtung von Derbend, trifft man sie vereinzelt an. Trotz
dieser räumlichen Ausdehnung dieses Dialekts weiss die gelehrte
Welt noch sehr wenig über die in ihm geschriebene Literatur, so
dass die kleine, 1868 in Leipzig von Hrn. Berger erschienene Samm¬
lung, betitelt: «Dichtungen transkaukasischer Sänger des XVIII.
und XIX. Jahrhunderts in adserbidschanischer Mundart#, wohl das
erste in Europa gedruckte Buch in diesem Dialekte sein wird. Der
grösste Theil der Auflage wurde in 2—3 Monaten unter den Moham¬
medanern von Transkaukasien ausverkauft, was auf den Geschmack
für die nationale Literatur bei der dortigen Bevölkerung, wie auf die
Unentbehrlichkeit solcher Ausgaben schliessen lässt. Aber jene
erste Sammlung war bei Weitem nicht vollständig. Der Autor sah
sich daher veranlasst, eine zweite Sammlung zu veranstalten, wo
auch die Biographien der adserbidschanischen Poeten und eine geo¬
graphische Karte, welche die Ausbreitung jener Mundart veranschau¬
licht, aufgenommen sind.
Hr. Bonneil verlas einen Auszug aus einem ausführlichen Werke
über die Scythen, Sarmaten und andere Völker. Der Hauptinhalt
des vorgelesenen Fragments ist folgender. Vor zehn Jahren (in
den Sitzungsberichten der Berliner Akademie 1866) hat Hr. Müllen-
hoff den eranischen Ursprung der pontischen Scythen und der Sar¬
maten, ebenso wie die Identität dieser beiden Völker, nachgewiesen.
Dieser Gelehrte vermuthet, dass jene Eranier den Einwanderungs¬
zug der arischen Völker in Europa beschlossen hätten, und glaub
deshalb auch Manches in Betreff der Zeitfolge der Einwanderung
jener Arier und ihrer Gruppeneintheilung genauer bestimmen zu
können. Hr. Bonnell glaubt durch die Untersuchung der griechi¬
schen und lateinischen Nachrichten über die Scythen und Sarmate n
Buss. Revue. Bd. IX. 22
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334
und über das Verhältniss dieser Völker zu einigen orientalischen
Völkern und zu ihren europäischen Nachbaren die Meinung Müllen-
hoflfs bestätigeivzu können. Herodot, Tacitus und andere klassi¬
sche Schriftsteller berichten von einem Konflikte zwischen den Scy-
then und den Aegyptern. Aus der Zusammenstellung jener Be¬
richte mit den ägyptischen Angaben folgert Referent,' dass der
Kaukasus und der Cimmerische Bosporus die nördliche Grenze der
ägyptischen Herrschaft waren zur Zeit des Königs Sesostris der
klassischen Autoren, oder Ramses II. der hieroglyphischen Inschrif¬
ten (1392 —1326 v. Chr.). Unter den Völkern, mit welchen dieser
König am meisten zu kämpfen hatte, nennen die ägyptischen In¬
schriften die Cheta in Syrien, was Hr. Bonneil auf einen Einfall der
Scythen in Syrien und West-Asien, von welchem die klassischen
Schriftsteller berichten, beziehen möchte. Auf dieselbe scythische
Expedition nach Syrien bezieht sich, nach der Meinung des Refe¬
renten, die Prophezeihung des Ezechiel im 38. und 39. Kapitel seines
Buches. Die Völker, welche damals den Israeliten drohten, werden
vom Propheten folgendermaassen aufgezählt: Gog im Lande des
Magog, der Fürst von Rosch, Meschech und Thubal, und die Ver¬
bündeten: Paras, Kusch, Put, Gomer und Thogarma. Hr. Bonneil
identifizirt mit Tuch (im Kommentar zur Genesis) die Magog mit
den Scythen, die Gomer mit den Cimmeriern, die Thogarma mit
den Armeniern und Iberiern, Meschech mit den Moschern (im Kau¬
kasus), Thubal mit den Tibarenern und Paras mit den Persern. Das
Merkwürdigste, nach der Meinung des Referenten, ist das Wort
Rosch , welches auch ein Volk bezeichnet, wie dies Hr. Harkavy in
seinem Werke über die Chasaren nachgewiesen hat. Dieses Volk
ist zweifellos dasselbe, welches die Byzantiner durch Rhos (Tu>;)
bezeichnen und welche Referent mit den aus Skandinavien eingela¬
denen Russen, um über die Slaven von Nowgorod und die benach¬
barten Finnen zu herrschen, identifizirt. Nach dem Annalisten von
Perejaslaw-Susdalski wären jene Russen gothischer Abstammung.
Dies führt Hm. Bonneil auf die Identität der Ros mit den Roxolanen.
In dem oben bezeichneten Werke Harkavy’s, sagte der Referent,
werden viele Autoritäten zu Gunsten der eben erwähnten Identität
citirt, auch des Referenten eigene Meinung ist, dass der Name Ros
in dem der Roxolanen enthalten sei, dass er die Russen bezeichne
und dass Letztere gothischer Abstammung gewesen seien. Für
den germanischen Ursprung der Roxolanen, oder wenigstens für das
Vorhandensein von germanischen Elementen unter ihnen, spricht
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335
der Umstand, dass Strabo, Plinius und Tacitus die Bastarner als
germanisches Volk betrachten; die Roxolanen werden wiederum
von Strabo ein bastamisches Volk genannt.
Wir machen den Hn. Referenten darauf aufmerksam, das in seinen
Auszug sich ein Fehler eingeschlichen haben muss, da doch der
Einfall der Scythen in Syrien und Palästina, von welchem der Prophet
Ezechiel und Herodot sprechen, am Ende des VII. Jahrhunderts v.
Chr. stattfand, folglich unmöglich mit dem Kampfe des Königs
Ramses II. mit den Cheia , im XIV. Jahrhundert v. Chr., identisch
sein kann.
Der Vorsitzende in dieser Sektion, Hr. Prof. Patkanow, beantwor¬
tete die Frage über die Zeit, wann die dem Moses von Chorene
fälschlich zugeschriebene armenische Geographie verfasst wurde,
dahin, dass nach seinen Untersuchungen jenes Werk einem armeni¬
schen Schriftsteller aus dem Anfänge des VII. Jahrhunderts, Namens
Anania Schirakazi, angehöre. Bei dieser Gelegenheit machte Refe¬
rent darauf aufmerksam, dass die dem Cosmas Indicopleustes zuge¬
schriebene sogenannte «Christliche Topographie» in der erwähnten
armenischen Geographie dem Konstantinus von Antiochien vindizirt
wird, was Hr. Patkanow auch wahrscheinlich findet.
Hr. Oppert (aus Paris), der Einladung des Vorsitzenden folgend,
gibt einige Aufklärung über die sogenannten «armeniakischen Keil¬
schriften», d. i. die in Armenien (um den Wansee) aufgefundenen,
in einer völlig unbekannten Sprache abgefassten Inschriften. Nach
der Versicherung Oppert’s steht die Sprache dieser Inschriften we¬
der mit dem Armenischen, noch mit sonst irgend einer bekannten
Sprache im Verwandtschaftsverhältniss, auch hat man bis jetzt keine
zweisprachige Inschrift, wo der armeniakische Text in eine andere
Sprache übersetzt wäre, aufgefunden. Zum Glück begegnet man
in diesen Inschriften vielen ideographischen Zeichen, welche uns aus
den assyrischen Keilinschriften bekannt sind, so dass es leicht zu
errathen ist, worauf sich der Text bezieht. So merkt man z. B.,
dass es sich um einen Tempel oder einen Palast, um eine Schlacht,
um von dem Feinde erbeutetes Gold, Silber und Vieh u. dgl. han¬
delt Hr. Oppert nannte mehrere alte Könige (Lutibri, Miliduri^
Minyas, Argistis), von welchen in den Texten die Rede ist, und
durch die Entzifferung einer kleinen Legende zeigte er, mit welchen
Schwierigkeiten man bei der Interpretation zu kämpfen hat und
welche Mittel man gebrauchen muss, um den Sinn solcher Texte zu
errathen.
2£*
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336
Hr. Eristow theilte die Ergebnisse seiner Untersuchungen über
die armenische Schrift mit. «Es ist bekannt,» sagte er, «dass die
Schrift bei den Armeniern im fünften christlichen Jahrhundert ent¬
standen ist. Von jener Zeit bis jetzt hat die armenische Schrift
sieben Perioden durchgemacht; so z. B. haben die Buchstaben in
einer in Kanlidscha (im Alexandroporschen Kreise) befindlichen
Handschrift, aus dem Jahre 693, noch ganz die regelmässige Quadrat¬
form, während sie jetzt dem gothischen Charakter der deutschen
Schrift ähnlich aussieht. Einmal hat sich die armenische Schrift
transformirt zur Zeit der Wiederherstellung des Bagratidenreiches,
ein anderes Mal während der blühenden Epoche des cilicischen
Reiches. Die Buchstabenverzierungen tragen die Spuren byzanti¬
nischen, arabischen und persischen Einflusses.» Referent ertheilt
darauf Auskunft über die Zahl der vorhandenen armenischen Hand¬
schriften. Trotz der grossen Verluste an Manuskripten, welche die
Armenier zu verschiedenen Zeiten erlitten hatten, ist die Anzahl der
Ersteren noch immer beträchtlich genug. Die reichste Handschriften-
Kollektion befindet sich im Kloster von Etschmiadsin, unweit Tiflis.
Hr. Akademiker Brosset hat einen Katalog der Bibliothek zu Etsch¬
miadsin angefertigt; leider hatte dieser Gelehrte nicht die erforder¬
liche Müsse, um seiner Arbeit die gehörige Vollständigkeit zu geben.
Nach der muthmaasslichen Schätzung des Referenten, würde jene
Bibliothek etwa 32,000 Handschriften enthalten. Freilich entspricht
die Qualität der Letzteren bei Weitem nicht ihrer Quantität. Die
armenischen Manuskripten-Kollektionen von Rom und Venedig sind
höchst interessant und enthalten die zahlreichsten Denkmäler der
armenischen Literatur seit dem XIII. und XIV. Jahrhundert. Ausser¬
dem befinden sich noch in Europa armenische Handschriften-Samm-
lungen in Paris, London, Berlin und Wien; Russland besitzt deren
viele in der Kaiserl. öffentlichen Bibliothek, in*der Akademie der
Wissenschaften, an dem Lazarew’schen Institut in Moskau, wie auch
in verschiedenen Universitäts-Bibliotheken. Zum Schluss berichtete
Referent über einen eigenen Fund. Es war nämlich historisch be¬
kannt, dass im Kloster von Achpat eine beträchtliche Anzahl von
armenischen Handschriften aus dem V. Jahrhundert gesammelt wor¬
den war, von deren späterem Schicksal man aber nichts wusste, bis
Hr. Eristow jenes Kloster im Jahre 1872 besuchte und in einem
Keller eine Sammlung von ungefähr 180 Handschriften entdeckte,
welche sich leider in sehr schlechtem Zustande befanden. Refe¬
rent hält es für möglich, dass diese Handschriften, von welchen
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337
er manche als Proben zum Kongress mitbrachte, eben jene Kollek¬
tion aus dem V. Jahrhundert bildeten.
Hr. Zagareli gab eine Notiz über eine Sammlung von georgischen
(grusinischen) Fabeln und Märchen aus dem XVII. Jahrhundert,
mit deren Uebersetzung er beschäftigt ist. Referent schickte die
Bemerkung voraus, dass man die georgische Literatur in drei Ab¬
theilungen einzutheilen hat: die theologische, die historische und die
poetische (aber Hr. Z. hat ja selbst noch auf grammatische Schriften
der Georgier aufmerksam gemacht? 1 Gewiss werden auch philo¬
sophische und naturwissenschaftliche Werke in der georgischen
Literatur vorhanden sein), von welchen Letztere durch ihren Reich¬
thum und ihre Wichtigkeit sich auszeichnet. Von den 150 Fabeln
und Märchen, welche in jener Sammlung enthalten sind, kann man
bloss bei einigen von Letzteren auf analoge Märchen in der asiati¬
schen und europäischen Literatur nachweisen; der Mehrzahl
nach sind sie unzweifelhaft auf georgischem Boden entstanden.
Hr. Zagareli schliesst mit einer allgemeinen Bemerkung über die
Wichtigkeit der Veröffentlichung und der gründlichen Prüfung der
georgischen poetischen Produktionen, wodurch, nach seiner Meinung,
Vieles zur Aufklärung der gegenseitigen Verhältnisse zwischen den
orientalischen und occidentalischen Sagen gewonnen werden könnte.
Hr. Tschubinow lenkte die Aufmerksamkeit der Versammlung
auf die georgische Gesetzsammlung, wobei er durch einige Bei¬
spiele zeigte, welche interessante Folgerungen für die Geschichte
der georgischen Einrichtungen und Sitten man aus dieser Sammlung
ziehen kann. Referent theilte mehrere Details über das Feudal¬
system in Georgien mit, dessen näheres Studium ihm von Wichtig¬
keit für die Geschichte dieses Systems in Europa zu sein scheint.
In der Sitzung der sibirischen Sektion (24. August [5. Sept.J, Abends)
wurde über folgende Gegenstände verhandelt. Hr. Slowzow las einen
historischen Ueberblick über den öffentlichen Unterricht in West-
Sibirien vor. Die ersten Versuche darin gehören der Geistlichkeit,
namentlich dem Metropoliten Philotheus, dessen civilisatorische
Mission bei den Ostjaken und Wogulen besonders hervorgehoben
zu werden verdient. Dann trugen auch die von Peter dem Grossen
gefangen genommenen und nach Sibirien verbannten Schweden das
Ihrige zum Unterricht der Eingeborenen bei; eine schwedische
Schule existirte in Tobolsk. Später erst haben die Civil- und Militär-
1 Vgl. »Russ. Revue» Bd. VII, pag. 220 u. ft
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33 »
behörden für die Beförderung der nützlichen Kenntnisse in Sibirien
Sorge getragen. Referent schildert den Zustand der Elementar¬
schule in Tobolsk, der asiatischen Schule in Omsk u. s. w., erwähnt
die Versuche, welche zum Erleichtern und Ausbreiten des Studiums
der orientalischen Sprachen gemacht worden sind, und schliesst mit
der Darlegung seiner Ansichten über die Organisation der Elementar¬
schulen für die sibirischen Eingeborenen.
Frau Olga Fedtschenko (Witwe des berühmten Reisenden) über¬
reichte ein von der Societe des amateurs de Sciences naturelles,
d'anthropologie et d’ethnographie veröffentlichtes Werk, betitelt:
«Mat^riaux pour servir ä Tetude de Tanthropologie des peuples de
PAsie orientale. I. Les Ainos, par D. Anoutchine. Moscou 1876.
(Supplement au XX 0 Tome du Bulletin de la Societe des Amateurs
etc.)*. Bei dieser Gelegenheit wurde in der Sitzung folgender Aus¬
zug aus dem Schreiben des Autors vorgelesen: «Ich suchte*, schreibt
Hr. Anutschin, «in dieser Abhandlung Alles, was bis jetzt über die
Ainos geschrieben worden ist, zu vereinigen und mit neuen Daten
zu vermehren. Dank der Liberalität des Prof. A. Bogdanow, hatte
ich zu meiner Verfügung: I. eine beträchtliche Photographien¬
sammlung von Ainos aus der Sachalin-Insel; 2. zwei Skelette und
einen unvollständigen Schädel, ebenfalls aus Sachalin; 3. eine Samm¬
lung von verschiedenen, den Ainos gehörenden Gegenständen,
worunter auch mehrere heilige Stäbe (baguettes sacr^es), inau ge¬
nannt; 3. eine Sammlung von Gegenständen, welche aus der Stein¬
periode stammen und im nördlichen Theile von Sachalin aufgefunden
wurden. Meine Abhandlung zerfällt in vier Theile, von welchen
der erste eine historische Uebersicht aller seit dem XVI. Jahrhundert
über die Ainos angestellten Forschungen, ebenso wie ein Verzeich¬
niss aller Werke und Aufsätze über die Ainos enthält Der zweite
Theil handelt von der Morphologie der Ainos. Der dritte Theil
führt den Titel: «Materiaux pour servir ä Tetude de Panatomie (ost6o-
logie) des Ainos». Im vierten Theile werden die ethnographischen
Eigenthümlichkeiten dieses Volksstammes und sein Verhältniss 2u
den Nachbaren (den Japanesen, Giljaken, Kamtschadalen u. s. w.)
auseinandergesetzt. Der Abhandlung sind vier Tafeln beigegeben,
auf welchen verschiedene Typus der Ainos, drei Schädel, ihre inau
und mehrere Gegenstände aus der Steinperiode von Sachalin, abge¬
bildet sind.»
Hr. Neumann gab eine Notiz über die Tschuktschen. «Der ganze
Nord-Osten von Sibirien», sagte er, «ist von drei verschiedenen Völ-
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339
kern bewohnt, welche unter der allgemeinen Benennung Tschuk-
tschen bekannt sind: i. Rennthier-Tschuktschen, welche das Terri¬
torium, das einerseits von der Behringsstrasse und dem Kolyma-
Fluss, und andererseits vom Eismeer und dem Anadyr-Fluss einge¬
schlossen ist, bewohnen; 2. die Aigwanen, längs des Tschuk-
tschen-Vorgebirges; 3. die Nammolo, östlich vom Cook’schen Vor¬
gebirge. Was die Ersteren betrifft, so ist ihr Land von solchem
strengen Klima, dass es im ganzen Jahre nur wenige Nächte gibt,
wo es nicht friert. Unter solchen ungünstigen Umständen ist die
Vegetation, wie selbstverständlich, ganz elend; sie besteht zum
grossen Theil aus Moos (lichens). Vom animalen Reich befinden
sich hier*, das Rennthier, der schwarze Bär und gewisse Vögel,
welche im Frühling nur eine kurze Zeit hier verbleiben und durch
ihren Gesang die düstere Einsamkeit der weiten Tundras etwas be¬
leben. Hier sind weder kostbare Metalle, noch sonst, was den Men¬
schen anlocken könnte, vorhanden. Die Tschuktschen sind aber
nicht die Ureinwohner des Landes; auch die Jakuten sind erst zur
Zeit des Dschingischan vom Baikal hier eingewandert. Nach Miller
(soll heissen : Gerh. Fr. Müller), welcher die Geschichte dieser Ge¬
genden schrieb, sollen die Tschuktschen von jenseits der Behrings¬
strasse gekommen sein und hier die Koriaken vorgefunden haben, mit
welchen sie bis 1740 blutige Kämpfe führten. Gegenwärtig ist die
Zahl der Tschuktschen gegen 3000; die Lamuten sind im Ganzen
2700; die Omoken dagegen sind ganz verschwunden. Am Kolyma-
Fluss erlitten die Tschuktschen eine gänzliche Niederlage durch die
Russen unter Schestakow und Pawluzki. Um das Jahr 1767, durch
Mangel an Moos für ihr Vieh gedrängt, baten sie die russische Re¬
gierung, sie möchte sie in Schutz nehmen und auf das linke Ufer der
Kolyma übersiedeln lassen. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
knüpften die Russen mit den Tschuktschen Handelsverbindungen an.»
Hr. Sobrin (Ostjake von Geburt) hielt eine Vorlesung über die
alten Götzen der Ostjaken und der Wogulen. «Jetzt,» berichtete der
Referent, «werden die Idole selten von den Ostjaken und Wogulen
öffentlich angebetet, und diejenigen Götzen, welche sich noch erhal
ten haben, mussten in die Wohnungen der Gläubigen sich zurück¬
ziehen. Viele Idole wurden durch die zum Christenthum bekehrten
Ostjaken vernichtet; der grösste Theil aber verschwand schon zur
Zeit der Eroberung des Landes durch Jermak. Vor der Eroberung
Sibiriens durch Letzteren hatten die Ostjaken acht Hauptgötzen:
I. Di zjagdgötlin, welche neben dem jetzigen Dorfe Bjelogorskoje,
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340
unweit vom Zusammenflüsse des Irtysch und des Obi, aufgestellt
war. Sie war dargestellt in Gestalt einer Frau, welche mit ihrem
Kinde auf einem hölzernen Sessel sitzt. Die Wogulen und Ostjaken
glaubten, dass diese Göttin denjenigen, welche ihr reiche Opfer
spendeten, Wohlgelingen bei der Jagd, im Fischfang und häusliches
Glück gewährte; diejenigen aber, welche das Opfer nicht aufrichti¬
gen Herzens darbrachten oder die versprochene Spende zurück¬
hielten, wurden von der Göttin mit grausamen Tod bestraft.
2. Neben dem Orte, wo jetzt das Dorf Samarowo liegt, am Zu¬
sammenfluss des Obi und des Irtysch, stand •der Alte von Obi *, der
Gott der Fische. Er hatte Menschengestalt mit entstelltem Gesicht,
hatte Hörner und Nase aus Eisenblech und Augen aus Glas, trug
mehrere Kleider, über welche ein Mantel (Kaftan) aus rothem Tuche
angezogen war. Um ihn her lagen zerstreut ein Köcher, Pfeile, eine
Lanze und ein Panzerhemd. Die Ostjaken glaubten, dass dieser
Gott in den Meeresabgrund hinuntergestiegen sei, um mit den
Wellengöttern zu kämpfen. Sein Fest pflegte bei der Rückkehr des
Frühlings gefeiert zu werden. Nach dem ersten Fischfang pflegten
die Ostjaken ihm ein Opfer darzubringen, welches darin bestand,
dass man das Gesicht des Götzen mit dem Fette des besten Fisches
zu bestreichen pflegte, während dessen man seinen Beistand zum
Fischfang erflehte.
3. In den Lagern (Jurti) von Bielgorod, auf den Ufern des Obi,
befand sich *das Kupferei », der Gott der Vögel; sein Sitz hatte die
Form eines Vogelnestes. Die Ostjaken glaubten, dass dieser Gott
den Flug der Vögel zum Orte, wo sie jagten, zu richten pflegte.
4. In demselben Tempel, wo der eben genannte Götze, befand
sich auch der Hauptgott der Ostjaken und der Wogulen. Als diese
Stämme im Jahre 1712 getauft worden waren, da versteckten sie
ihn in den Wäldern neben dem Konda-Flusse.
5. In der Burg von Scharkan stand der Tempel des Götzen Orlik ,
welcher ein Gesicht aus Silber hatte; der Torso bestand aus einem
mit Pelzwerk angefülltem Sacke; Aermel aus Tuch stellten die
Hände vor und die Beine fehlten ganz.
6. Der Masterko genannte Götze befand sich in der Gegend des
jetzigen Dorfes Troizkoje. Auf dem Ehrenplätze in seinem Tempel
stand ein Sack, welcher mit mehreren andern Säcken gefüllt und
oben festgebunden war, in seiner Mitte hatte man einen silbernen
Teller befestigt. Masterko war der Gehülfe des Ortik und durch
hn manifestirten auch alle übrigen Götter ihren Willen. Er war
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34t
zugleich auch der Gott der Gesundheit, und die Kranken spendeten
ihm Säcke, welche Manche mit Silber und kostbaren Gegenständen
anzufüllen pflegten.
7. Eliane war der Diener und Bote der Götter; er war aus Holz, be¬
schlagen mit Tuch; auf dem Kopfe hatte er einen Hut aus Hundefell.
8. Endlich Meiko> der Gott des Bösen, war aus Holz verfertigt und
trug ein Kleid aus Biberpelz. Diejenigen, welche sich auf der Reise
verirrten, mussten sich an diesen Gott wenden, um ihren Weg wie¬
der aufzuflnden. (Fortsetzung folgt.)
Das russische Telegraphenwesen im Jahre 1874.
Im Anschluss an die im vergangenen Jahre («Russ. Revue» B. VI,
pag. 591 ft.) gebrachten Mittheilungen über das Telegraphenwesen
im Jahre 1873 geben wir, nach dem offiziellen Bericht des Tele-
graphen-Departements für das Jahr 1874, nachfolgende, auf dieses
Jahr bezügliche, Daten.
I. Telegraphennetz.
A. Staatstelegraphen.
i) Linien . Linienlänge. Drahtlänge
Im Jahre 1874 wurden an Staatstelegraphen: Werst
a) neu erbaut 19 Linien mit Stangen von der Re¬
gierung.. . . 1327V2 158174
b) neu erbaut 1 Linie an Stangen der Eisenbahn 280 282
c) vervollständigt 8 Linien, durch Anlegung
neuer Drahtleitungen an den Staatslinien . . — 1406
d) vervollständigt 5 Linien an den Eisenbahnen — 1434 1 /2
e) übergeführt 5 Linien auf neu angelegte Post¬
strassen .. 285 285
f) übergeführt von 4 Poststrassen auf Eisen¬
bahnen . 396 3316 8 /*
Im Ganzen neu erbaut . 22887* 8306
Aufgehoben wurden dagegen 13 Linien behufs
ihrer Ueberführung in neuer Richtung . . . 11667« 3674V«
So dass im Jahre 1874 im Ganzen hinzukamen 112174 46317«
Am 1. Januar 1875 besass demnach Russland an
Staatstelegraphen 1 .57718 3 /« 111813V«
1 Laut dem offiziellen Berichte für das Jahr 1873 betrug die Linienlänge der Staats¬
telegraphen am 1. Januar 1874 . . . 55,644*12 und die Drahtlänge 106,591*/* Werst.
Zuwachs im Jahre 1874(5. oben) . . 1,121* 4 » » » 4,631*'* »
Gesammtlänge am I. Januar 1875 • • 56,766* 4 111,222 3 /* Werst.
Es scheint demnach ein Irrthum obzuwalten. Anm. d* Red.
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342
2) Stationen.
Im Jahre 1874 wurden eröffnet: Stationen
Im europäischen Russland.29
» Kaukasus. 3
» asiatischen Russland. 1
In verschiedenen Städten (St. Petersburg, Ssaratow, Kasan) 4
Im Ganzen . 37
Aufgehoben wurden .. 3
So dass im Jahre 1874 hinzukamen . 34
Am 1. Januar 1875 besassen demnach die Staatstele¬
graphen im Ganzen.. 701 1
Von diesen dienten zur Annahme von Depeschen . . . 693
Zur Kontrolle und Aufsicht, ohne Annahme von Depeschen 8
701
Im Laufe des ganzen Jahres waren beständig geöffnet . . 669
Zeitweise: während der Anwesenheit von Allerhöchsten
Personen. 9
während der Dauer der Badesaison, Jahrmärkte etc. . 23
701
Nach der Art der Korrespondenz geordnet empfingen:
inländische und internationale Korrespondenzen . . 485
nur inländische.205
Setnophoren. 3
Kontroll Stationen, ohne Annahme von Depeschen . 8
701
Nach der Empfangszeit geordnet waren geöffnet:
Tag und Nacht . *. 122
bis Mitternacht. 20
nur des Tages ..268
mit beschränkter Annahme-Zeit.280
Semophoren. 3
Kontröllstationen. 8
3) Apparate .
701
Zu den schon bestehenden Apparaten kamen im Jahre 1874 hinzu:
49 Morse’sche Apparate, 22 Hughes'sche (I 03 a) mit 2705 Mei-
dinger’schen Elementen, so dass zum 1. Januar 1875 auf den Staats¬
telegraphen im Ganzen in Thätigkeit waren:
1656 Morse’sche, 98 Hughes’sche Apparate mit 54,291 Meidinger-
schen Elementen.
1 Dem offiziellen Bericht für das Jahr 1873 gemäss gab es am I. Januar 1874
681 Stationen, es kamen (vergl. oben) im Jahre 1874 hinzu 34 Stationen, demnach
müssten also am 1. Januar 1875 715 Stationen in Thätigkeit gewesen sein. D. Red.
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343
B. Privattelegraphen,
i) Eisenbakntelegraphen .
Linienlänge Drahtlänge Statio-
Der regelmässige Telegraphendienst auf e 1 &1 nen
den Eisenbahnen des russischen Reiches
erstreckte sich am i. Januar 1874 auf . 12,973 29,070 793
Im Laufe des Jahres kamen hinzu 7 Linien
mit. . . . 2 ,009 _3> 994 8 /* 108
Demnach beliefen sich zum 1. Januar 1875
die Privattelegraphen auf.14,982 33,064 901
2) Die angloindische Telegraphenlinie .
Diese Linie war auch im Jahre 1874 keiner
Veränderung unterworfen, sie besitzt
nach wie vor eine.3,407 7,083 53
3) Telegraphenlinien von Privatgesellschaften und Privatpersonen .
Ausser den Eisenbahn-Telegraphenlinien
waren zum 1. Januar 1874 noch vorhan¬
den Privat-Telegraphenlinien von . . 324V2 32574 29
Im Jahre 1874 wurden erbaut:
a) Von der Tschulkow’schen Kohlen¬
gesellschaft, zwischen der Station
Tschulkow und der Rjashk-Wjasma-
Bahn . 9 3 /i 9 3 /4 2
b) Von der Gesellschaft zur Rettung
von Schiffbrüchigen, zwischen der
Rettungs-Sstation in Oranienbaum,
dem Polizeigebäude und dem Hause
des Herrn Goworow. 6 6 3
c) Von der Kurskischen Stadtverwal¬
tung (ayMa), zwischen der Wasser¬
pumpe und dem Wasser-Reservoir
der Stadt Kursk.
2*/«
2 »/«
2
Im Ganzen wurde neu erbaut .
187*
i8>/s
7
So dass in Summa am 1. Januar 1875 die
Privattelegraphen sich erstreckten auf .
342 V*
342 '/»
36
Demnach bestand das gesammte Telegraphennetz des russischen
Reiches am 1. Januar 1875 aus
Linienlänge Drahtlänge
Werst
Statio¬
nen
Staatstelegraphen.
. . 57,718»/« 111,813'/«
701
Eisenbahntelegraphen.
. . 14,982
33,064
901
Anglo-indische Telegraphenlinie .
• • 3,407
7,083
53
Privattelegraphen.
• • 342'(2
342'.2
36
Zusammen . 76,45074 152,303*/* 1691
Am 1. Januar 1875 mehr als am 1. Januar
1874 um. 4,101V* 9,233»/ « 135
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344
C. Postkomptoire mit Annahme von Depeschen.
Zum i. Januar 1874 konnten auf 128 Poststationen Depeschen
aufgegeben werden. Zu diesen kam im Laufe des Jahres 1874 noch
1 Station hinzu, während auf 3 anderen die Annahme und Beförde¬
rung von Telegramme eingestellt wurde, und verblieben demnach
zum 1. Januar 1875 zur Depeschenbeförderung 126 Postkomptoire
geöffnet.
II. Personalbestand.
Am 1. Januar 1875 belief sich der gesammte Personalbestand des
Telegraphenressorts auf 6393 Personen, und hatte sich gegen das
Jahr 1873 um 380 Personen, oder 6,3 pCt., vermehrt. Von dieser
Zahl waren angestellt: bei der Telegraphen-Administration 150
(3, oder 1,9 pCt., weniger als im Jahre 1873) und bei den Stationen
6243 (<h h. 348, oder 8,4 pCt., mehr als im Jahre 1873), von welchen
waren: 576 Stations-Chefs (+23), 112 Mechaniker (— 5), 2923 Tele¬
graphisten (-f- 271), 520 Telegraphistinnen (+ 24), 55 Lehrlinge
(dieselbe Anzahl), 574 Aufseher (4- 7) und 1483 Boten und Bedie¬
nung (+ 74).
Theilt man die Gesammtzahl der int Telegraphen wesen angestell-
ten Beamten nach der Art der denselben übertragenen Beschäfti¬
gungen, so ergibt sich, dass von dem Gesammt-Personalbestande
beschäftigt waren:
Bei der Administration. . . ..2,3 pCt #
Bei der Beaufsichtigung der Linien (Aufseher u. Mecha¬
niker) . 10,8 »
Bei den Stationen, d. h. mit der Abfertigung und Annahme
der Depeschen (als Stations Chefs, Telegraphisten und
Lehrlinge) beschäftigt . 63,7 »
Bei der Zustellung der Telegramme an die Adressaten
und der Bedienung.23,2 »
Summa . 100 pCt.
III. Telegraphen-Korrespondenz.
Der Depeschenverkehr des Jahres 1874, im Vergleich zum vorher¬
gehenden Jahre stellt sich folgendermaassen heraus:
Inländische Korrespondenz. Zuwachs im J. 1874
1873 1874 Telegr. in pCt..
Aufgegebene bezahlte Telegr. 2,631,004 2,920,071 289,067 4- io*/4
» frei beförderte » 188,614 1 90,097 7, 483 -f- 3*/*
Summa . 2,819,618 3,116,168 296,555 4- 10*/•
Ausländische Korrespondenz .
1) Aus Russland abgesandte
bezahlte Telegramme . .
274,813
305,537
30,724 +
7 V*
Aus Russland abgesandte frei
beförderte Telegramme . .
7.723
7,431
292 —
3 */«
Summa .
282,536
312,968
30,432 4-
IO */4
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345
2) In Russland eingetroffene
bezahlte Telegramme . .
In Russland eingetroffene frei
beförderte Telegramme . .
1873
277,274
6,600
1874
307,130
5,666
Zuwachs im J. 1874
Telegr. in pCt.
29,856 IO l /4
934 -15V2
Summa .
283,874
312,796
28,922 + IO 8 , 4
Zusammen abgegangene und
eingetroffene ausländische
Telegramme.
3) Transito-Telegramme • . .
566,410
45.536
625,764
58,493
59,354 + io 8 /4
1 2,957 +28'/*
Zusammen Telegramme im
internationalen Verkehr . .
611,946
684,257
72,312 + n 4 ,5
Summa aller beförderten Tele¬
gramme .3,43*,574 3.800,425 368,851 + 10®4
Von der gesammten telegraphischen Korrespondenz entfielen:
1873 *874
auf die inländische Korrespondenz 76,7 pCt. 76,8 pCt.
» » internationale » 17,4 » 17,7 »
» » frei beförderte » 5,9 * 5,5' *
Der internationale Depeschenverkehr, während der Jahre 1873 und
1874, nach den einzelnen Staaten, nach welchen die Depeschen ab¬
gesandt wurden, geordnet, ergab folgende Resultate:
Es wurden Depeschen aufgegeben nach und erhalten aus:
1874 mehr
«873
1874
oder weniger
als 1873
Oesterreich-Ungarn ....
85.235
74,953
—
10,282
Belgien . . .
. • • . •
13,419
15,949
+
2,530
Grossbritannien
London . . .
übrige Städte .
57,867
41,592
66,469
50,645
+
4-
8,602
9,053
Deutschland .
187,491
206,137
1,885
+
18,646
Griechenland .
1,646
+
239
Dänemark . .
6,640
8,787
+
2,147
Spanien . .
1,310
2,029
+
719
Italien . . .
20,382
22,316
+
1.934
Luxemburg .
6
l6
+
IO
Malta (Insel) .
389
537
+
148
Niederlande .
..
17,889
22,283
+
4,394
Norwegen . .
8,205
10,234
+
2,029
Portugal . .
520
628
+
108
Rumänien . .
9,722
9,295
427
Serbien. . .
203
227
+
24
der Türkei (europäische) . . .
9,022
11,825
+
2,803
Frankreich
52,768
61,246
+
8,478
Montenegro .
• •••••
21
44
+
23
der Schweiz .
9,098
9,199
+
IOI
Schweden . .
21,216
29,366
+
7.150
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e
34<5
Nach und von aussereuropäischen Ländern:
1874 mehr
1873
1874
oder weniger
als 1873
Australien.
2
I
— ~ I
Algier, Tunis und Tripolis . .
47
124
+ 77
Amerika.
377
819
+ 442
Arabien.
6
—
- 6
Aegypten.
876
575
- 3 °l
Indien.
87
145
+ 68
China.
340
379
+ 39
Persien.
3 . 034 ’
3,002
- 32
der Türkei (asiatische) ....
1,560
3,289
+ i ,729
Japan .
207
267
-f 60
Summa .
552,087
612,667
-|- 60,580
Im Jahre 1874: 60,580 Telegramme, oder 10,9 pCt. 1 , mehr als im
vorhergehenden Jahre.
Von der Gesammtzahl der in die ausländischen Staaten aus Russ¬
land abgesandten und, umgekehrt, aus diesen erhaltenen Tele¬
gramme, betrug der Verkehr mit:
Deutschland . . . 33,9 pCt, 33,6 pCt.
Grossbritannien . . 17,1 » 19,1 »
Frankreich .... 9,3 » 9,9 »
Somit betrug der Verkehr Russlands mit diesen 3 Staaten im
Jahre 1873: 60,3 pCt., im Jahre 1874: 62,6 pCt. der gesammten
internationalen Korrespondenz. Im Allgemeinen ist der Verkehr
mit diesen 3 Staaten im Jahre 1874 um 13 pCt. gestiegen, mit jedem
einzelnen aber:
mit Grossbritannien . . . um 17,7 pCt.
* Frankreich.» 16,0 »
* Deutschland .... ^ 9,9 »
Mit den übrigen Staaten stieg der Verkehr: mit Amerika um
117,2 pCt., mit Spanien um 54,8 pCt., mit Dänemark um 32,3 pCt.,
mit Schweden um 32,1 pCt., mit der europäischen Türkei um 31
pCt., mit Norwegen um 24 pCt., mit Belgien um 18 pCt., mit der
asiatischen Türkei um 11 pCt., mit Italien um 9,4 pCt.
Verringert hat sich der Verkehr: mit Aegypten um 34 pCt., dann
folgen Oesterreich-Ungarn um 12 pCt., Rumänien um 4,3 pCt.,
Persien um 1,05 pCt.
Die Transite- Telegraphen-Korrespondenz im Jahre 1874 weist die
Summe von 58,493 beförderten Telegramme auf, d. h. um 12,95 7
Telegramme, oder 28V2 pCt., mehr als im Jahre 1873.
Die Transito-Korrespondenz wird auf 2 Wegen über Russland be¬
fördert, und zwar die Korrespondenz des westlichen Europa’s und
1 Bei der Zusammenstellung dieser Tabelle sind nur die bezahlten Telegramme
berücksichtigt worden.
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347
Amerika’s mit Persien, Indien und Australien über Warschau und
Kertsch nach Djulfa; die Korrespondenz mit China und Japan über
Sibirien nach Wladiwostok.
Auf dem ersten Wege wurden befördert im Jahre 1874:
Aus Europa und Amerika nach Asien und Australien 23,761 Telegr.
Retour aus Asien und Australien nach Europa und
Amerika.23,261 »
Summa . 47,022 Telegr.
Auf dem zweiten Wege:
Aus Europa nach China und Japan.4,57* Telegr.
Retour aus China und Japan nach Europa .... 6,900 >
Summa . 11,471 Telegr.
Im Ganzen . 58,493 Telegr.
Von dieser Korrespondenz fallen:
auf Grossbritanien . . 48,838 Telegr.,' oder 83,5 pCt.
Deutschland . . .
3.844 *
» 6,5 •
Amerika ....
2,365 »
» 4,0 »
Frankreich ....
*,473 »
• 2,6 »
die übrigen Staaten .
1,973 *
» 3,4 *
Im Ganzen . 58,493 Telegr., oder 100 pCt.
Wenden wir uns dem Verkehr der einzelnen Stationen zu, so finden
wir während des Jahres 1874 deren 30, welche die Höhe von mehr
als 15,000 Depeschen jährlich erreichten, und unter diesen wiederum
13, auf welchen mehr als 30,000 Depeschen zur Annahme gelangten
(im Jahre 1873 betrug die Zahl dieser Stationen 27, resp. 11, sie hat
sich also um 3, resp. 2 vergrössert). Auf diesen letztgenannten 13
Stationen betrug die Zahl der Depeschen:
In
Aufgegeben
Im Ganzen
St. Petersburg ....
449,680
1,113,188
Moskau.
289,748
1,183,906
Odessa.
107,697
325,519
Warschau . . . . .
80,297
385.895
Kijew.
61,131
198,860
Nishnij-Nowgorod . . .
60,161
169,076
Riga.
57,047
229,216
Kasan.
44,470
297,264
Charkow.
44,344
288,007
Tiflis.
42,088
147,003
Rostow am Don . . .
39 , 73 «
379,678
Taganrog.
35,478
78,724
Ssaratow .
32,592
235,859
den übrigen 17 Stationen:
Astrachan.
24,820
63,715
Jekaterinenburg . . .
23 , 95 «
149,743
Irkutsk.
23,687
77,687
Nikolajew.
22,796
134,138
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34 »
In
Aufgegeben
Im Ganzen
Perm.
21,096
50,742
Helsingfors.
20,478
89,349
Orel.
20,228
104,670
Ssamara.
19,5U
39,695
Rybinsk.
19,466
47,365
Wilna.
19,120
112,930
Kischinew.
18,497
5Ij43 2
Kronstadt.
17,260
34,879
Kertsch.
17,091
54,638
Krementschug ....
16,876
163,619
Ssimferopol.
16,164
186,808
Tomsk.
15,923
68,969
Cherson.
15,865
33,389 "
Im Ganzen wurden auf den angeführten 30 Stationen aufgegeben
1,677,293 Depeschen und gewechselt 6,498,329, während auf den
übrigen 671 Stationen des russischen Reiches im Jahre 1874: 1,548,315
Depeschen aufgegeben und 6,02 5,327 überhaupt gewechselt wurden,
mithin sich in obenerwähnten 30 Stationen von dem gesammten
Depeschenverkehr Russlands konzentrirten:
von aufgegebenen Depeschen.52 pCt.
von den überhaupt gewechselten Depeschen 51,8 »
so dass dieselben mehr als die Hälfte der gesammten Telegraphen-
thätigkeit besorgten.
Im Vergleich zum vorhergegangenen Jahr 1873 hat auf jenen 30
Stationen die Thätigkeit sich auf 26 Stationen vergrössert und auf
4 Stationen vermindert.
Im Durchschnitt beförderte endlich jeder der vorhandenen Appa¬
rate im Jahre 1874: 7140 Depeschen, gegen 6223 Depeschen im
Jahre 1873, was demnach für einen jeden Apparat eine um 917 De¬
peschen gesteigerte Thätigkeit im Vergleich zum vorhergehenden
Jahre ergibt.
Die Vertheilung des gesammten Depeschenverkehrs, sowohl des
inländischen wie des internationalen, auf die verschiedenen Monate
des Jahres ergibt, wie die beifolgende Tabelle, in welcher wir die
Monate je nach der Menge der während derselben gewechselten
Depeschen auf einander folgen lassen, darlegt: '
Inländische Depeschen .
Mai.277,228
April .... 272,720
August . . . 269,657
Januar .... 269,431
September . 267,394
Dezember . 261,352
Juni.260,240
J uli .258,333
Ausländische Depeschen .
Juli.31,123
August . . . 30,471
Dezember . . 29,561
November . . 28,825
Mai.28,728
Juni.25,711
April.24,590
September. . 24,393
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349
Inländische Depeschen .
März .... 251,513
November . 247,821
Oktober . . 243,744
Februar . . 236,735
Summa 3,116,168
Ausländische Depeschen .
Oktober . . . 24,012
März ..... 23,104
Februar . . . 21,420
Januar.21,030
Summa 312,968
Depeschenverkehr auf den Stationen der Städte
' St. Petersburg und Moskau.
In St . Petersburg waren im Jahre 1874, incl. der Central-Station, in
Thätigkeit 37 Stationen. Diese beförderten:
Stadttelegramme . . . 88,415 od. 19,8 pCt.
Inländische.270,501 »60 »
Ausländische.90,764 » 20,2 »
Summa . 449,680 = 100 pCt.
Von diesen beförderten:
die Central-Station.38,7 pCt.
die übrigen Stationen . . . . 61,3 »
Von den auf der Central-Station abgegebenen Telegrammen be¬
trugen die:
Stadttelegramme.4,0 pCt.
Inländische ........ 63,4 *
Ausländische.32,6 *
Von den auf den übrigen Stationen abgegebenen betrugen die:
Stadttelegramme.29,2 pCt.
Inländische.. , 58,0 »
Ausländische.12,8 »
In Moskau waren in demselben Jahre, incl. der Central-Station, in
Thätigkeit 30 Stationen. Diese beförderten:
Stadttelegramme . . . 68,825 od. 23,7 pCt.
Inländische.189,949 » 65,6 »
Ausländische. 30,974 » 10,7 »
Summa . 289,748 — 100 pCt.
Von diesen beförderten:
die Central-Station . . . • . . 28,7 pCt.
die übrigen Stationen . . . . 71,3 »
Von den auf der Central-Station abgegebenen Telegrammen be¬
trugen die:
Stadttelegramme.n,5pCt.
Inländische . . . *. . . . 68,3 »
Ausländische.20,2 *
Von den auf den übrigen Stationen abgegebenen betrugen die:
Stadttelegramme.28,7 pCt.
Inländische.64,3 »
Ausländische.7,0 »
Uns«, Bortfe. Bd. IX. 23
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350
IV. Einnahme und Ausgabe der Telegraphen-Verwaltung.
Die Einnahmen des Telegraphen-Departements betrugen im Jahre
1874: 4,822,661, gegen 4,630,029 des vorhergehenden Jahres, und
weisen mithin eine Steigerung von 192,632 Rbl. oder 4,1 pCt. auf.
Diese Brutto-Einnahme vertheilt sich folgendermaassen:
1873 *874 Zuwachs
Einnahmen vom inneren und inter¬
nationalen Verkehr .... 4,561,542 4,760,638 4-4,3 pCt.
Verschiedene Einnahmen . . . 68,487 62,023 — 9,4 »
Summa . 4,630,029 4,822,661 -f-4,ipCt.
Die Ausgaben dagegen beliefen sich im Jahre 1874 auf 3,899,748,
gegen 3,646,220 während des Jahres 1873, mithin um 253,528 Rbl.
oder 6,9 pCt. mehr.
Die genannten Summen wurden folgendermaassen verausgabt:
Unterhalt des Personalbestandes . . . . :
Miethe der Stations-Lokale, Heizung und Er-
• leuchtung derselben.
Remonte der Linien, Unterhalt der Batterien,
Apparate und allmälige Erneuerung der
Linien.
Telegraphen-Blanquette und Versendung der¬
selben .
Kanzlei-Ausgaben.
Gelder zu Dienstreisen, Diäten und andere
Extra-Ausgaben.
Herausgabe von Telegraphen - Tarife und
Karten. . . *_._
Summa . 3,646,220 3,899,748
Mithin war die Reineinnahme während des Jahres 1874: 922,913,
gegen 983,809 Rbl. des Jahres 1873, d. h. um 60,896 Rbl. geringer.
Vertheilt man die Summe der Brutto-Einnahme (4,760,638 Rbl.)
auf die Zahl der beförderten Telegramme (3,225,608 l ), so ergibt sich
eine durchschnittliche Einnahme auf jede beförderte Depesche von
1 Rbl. 48 Kop.
Auf jede Werst Drahtlänge betrugen:
' 1873 1874
die Einnahmen.32 Rbl. 36 Kop. 42 Rbl. 58 Kop.
die Ausgaben.25 » 2 6 » 34 * 93 *
die Reineinnahmen . . 7 » 10 » 7 » 6 3 »
1873
197,306
1874
2,469,889
344.252
387.539
842,482
789,598
122,857
36,017
132,457
32,089
103,306
85,682
_
2,404
1 d. h. bezahlte inländische Telegramme . . 2,920,071
bezahlte internationale Korrespondenz_30 5.537
Summa . 3,225,608
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3Si
Reklamationen und Klagen wegen Verstümmelung, verzögerter
oder unterlassener Beförderung von Depeschen, liefen ein:
1873
1874
in Bezug auf die inländische Korrespondenz
202
168
» » » » ausländische »
175
160
Summa
377
328
Von diesen Klagen wurden begründet gefunden:
«873
1874
in Bezug auf die inländische Korrespondenz
127
118
» » » » ausländische »
I IO
105
Summa
237
223
und wurden für die erstgenannten 118 Beschwerden den Reklaman¬
ten die Summe von 145 Rbl. 65 Kop. zurückgezahlt, und für die
anderen 105 kamen auf Rechnung:
Russlands . . . . 3,133 Frcs. 61 Cent,
ausländischer Staaten 866 » 83 »
Summa . 4,000 Frcs. 44 Cent.
Die neuesten russischen Forschungen in Asien*.
Rheinthars Reise nach Kaschgar.
Im Frühjahr 1875 wurden aus Wjernaja Geschenke nach Kasch¬
gar abgefertigt, welche von der russischen Regierung dem Gebieter
von Djityschar bestimmt, und als Gegengeschenke auf schon früher
von diesem der russischen Regierung gesandte, dienen sollten. Mit
der Ueberbringung war Hr. Rheinthal betraut, welcher schon 1870
in Kaschgar gewesen war.
Am 8. Mai betrat dieser Offizier bei der Grenzwache von Kara-
kurum das Gebiet Kaschgar. Diese Wache bestand aus acht
kaschgarischen Kriegern, welche mit Säbeln (maunea) und Flinten
verschiedener Systeme — vom Luntenschloss bis zum englischen
Percussionsgewehr — bewaffnet waren. Von hier zog sich der mit
kleinen Steinen bedeckte Weg, 20 Werst weit, im Zickzack, längs
dem Flusse Tojun, bis zur gleichnamigen beständigen Grenzwache,
hin. Diese Wache besass zwei Magazine und einen Hof, geräumig ge¬
nug um 6 Mann mit eben so vielen Pferden aufzunehmen. Hier war
für Hm. Rheinthal ein Filzzelt (ropica) und das Mittagsessen bereitet.
Von Tojun zieht sich der Weg längs einer Schlucht, welche je wei¬
ter, desto unfruchtbarer wurde. Der Weg war steinig und führte
1 Aus den «H3B. Ham. PyccK. Teorp. Oöiu.«
23*
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35 2
die Reisenden zur Grenzwache von Ssuek, wo Hr. Rheinthal nächtigte.
Ssuek liegt bei derVereinigung des gleichnamigen Flüsschens mit dem
Tojun und hier theilt sich die Strasse: die südliche führt nach Kasch¬
gar, die westliche nach Andidshan. Die Strasse nach Kaschgar ist
sehr steinig und traf Hr. Rheinthal auf der Strecke bis Tschokmak
(15 Werst) keine einzige Stelle, wo der Boden weich gewesen wäre,
auch war er auf dieser Strecke genöthigt, mehr als zwanzig Mal das
von Felsen eingeengte Gebirgsflüsschen Tojun zu überschreiten.
Die Befestigung Tschokmak liegt auf einem Felsen am rechten
Ufer dgs Tschokmak und hat einen mit Zinnen (3y6naTan) versehe¬
nen Lehmwall. Auf dem Walle befanden sich 2 Kanonen, welche,
um sie den Blicken der Russen zu entziehen, mit rothem Tuch be¬
deckt waren. Hier ist die Schlucht so eng, dass sie nur im Fluss¬
bett selbst zu passiren ist. Um dieses zu verhindern und die Reiter
zu zwingen, ihren Weg durch die Befestigung zu nehmen, ist die
Schlucht hier mit einer eisernen Kette gesperrt. Hr. Rheinthal
nahm seinen Weg durch die Befestigung, wobei er bemerkte, dass
hinter dem ersten Walle sich noch ein zweiter, auf einem npch höher
gelegenen Felsen, befand, welcher ebenfalls mit 2 Kanonen armirt
war. Die Garnison von Tschokmak besteht aus 100 Ssarbasen,
welche mit Flinten verschiedener Systeme, vorherrschend aber mit
Luntenschloss-Gewehren, bewaffnet sind.
Da die Wegstrecke von Ssuek bis hierher nur gegen 15 Werst
betrug, so wollte Hr. Rheinthal hier keinen längeren Aufenthalt
nehmen, sondern setzte seinen Weg bis zu der jetzt verlassenen
Befestigung Mursa-Terek weiter fort, wo er übernachtete. Ein
schlechterer Weg, als der von Tschokmak bis zu dieser Befestigung,
ist kaum denkbar. Die Strasse ist mit grossen Steinen besäet und
waren die Reisenden, auf einer Strecke von 15 Werst, gezwungen,
einen Bach, welcher in die Schlucht floss, an vierzig Mal zu über¬
schreiten. Hinter Mursa-Terek betrat Hr. Rheinthal am 10. Mai
das Gebiet von Ak-Tschiu, wo er eine neue kaschgarische Wache
antraf. Auf diesem Marsche (gegen 30 Werst), sowie auch auf dem
folgenden, welcher die Reisenden zum Flusse Artysch brachte, fan¬
den dieselben stellenweise schon kleine Wäldchen, aus Weiden
(TaMBOtt jrfccb) bestehend, vor. Am 11. Mai verliess die Karawane
die Schlucht, auch wurde der Weg besser, indem er weniger steinig
war. 20 Werst von Ak-Tschiu liegt die alte Befestigung von Tessen-
Tasch. Beim Weitermarsch hielt Hr. Rheinthal, auf Aufforderung
des ihn begleitenden kaschgarischen Beamten, bei Musar, 12 Werst
vor Janyschar, der Residenz des Jakub-Beg, an, um nicht in Kaschgar
Abends, sondern am Morgen des folgenden Tages einzutreffen. Am
13. Mai langte Hr. Rheinthal auf der russischen Einfahrt (pyccKoe
noÄßopbe), nördlich von Janyschar gelegen, an, und bemerkte so¬
gleich, dass auf der sonst mit Erdhügeln (KOHKOBaxaH paBHHHa) be¬
deckten Ebene, welche diese Festung von Kaschgar trennt, jetzt
eine ungefähr 5—6 Werst lange ausgezeichnete Chaussee ange¬
legt war.
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353
Obgleich der Aufenthalt unseres Reisenden in der Hauptstadt von
Djityschar nur 3 Tage währte, wobei es ihm nicht gelang, die Stadt
und die Karavanserais einer genauen Besichtigung zu unterwerfen,
so wurde es ihm doch möglich, viele interessante Notizen, besonders
in Bezug auf den ökonomischen und politischen Einfluss Englands
auf dieses Gebiet zu sammeln. Es stellte sich heraus, dass die Eng¬
länder eine ansehnliche Anzahl Percussionsgewehre an Jakub-Beg
geschenkt haben, welche übrigens in keinem guten Zustande erhal¬
ten werden. Sich hiermit nicht begnügend, haben sie dem Besitzer
von Djityschar noch geholfen, eine Gewehrfabrik einzurichten, wo
die gewöhnlichen Gewehre in schnellfeuernde Hinterlader umge¬
arbeitet werden. Die Anzahl solcher Gewehre beläuft sich gegen¬
wärtig schon auf etwa 4000 Stück. Hr. Rheinthal wurde das Exer-
citium der kaschgarischen Infanterie, circa 6000 Mann stark, ge¬
zeigt; nach seiner Vermuthung war sie grösstentheils mit gezogenen
Hinterladern bewaffnet. In der Gewehrfabrik von Kaschgar können
täglich ungefähr 16 gewöhnliche Gewehre in Hinterlader umge¬
arbeitet werden. In der Stadt befinden sich gleichfalls einige Pulver-
mühlen, welche ein sehr gutes polirtes Schiesspulver anfertigen.
Auch eine Kanonengiesserei ist angelegt und hat Hr. Rheinthal
4 dort gegossene gezogene Geschütze gesehen. Die länglichen
Projektile für diese Geschütze werden ebenfalls in Kaschgar ange¬
fertigt. Der englische Meister, welcher diese Projektile anzuferti¬
gen gelehrt Jiat, ist von Jakub-Beg reich beschenkt worden. .Solcher
englischer Techniker, zu militärischen Zwecken, gibt es viele in
Kaschgar. Als Instrukteure beim Militär aber sind Türken ange¬
stellt, welche die gewöhnliche türkische Militäruniform tragen. Jakub-
Beg soll die Absicht haben, seine Armee, gegen 18,000 Mann, in Tuch
zu kleiden, zu welchem Zwecke schon 800 Stück Tuch angekauft sind.
Die eingeborenen Kaschgaren lieben Jakub-Beg nicht, welcher
seinerseits auch zu ihnen kein Zutrauen hat. Nur aus Furcht
vor ihren finsteren und grausamen Herrscher revoltiren sie nicht.
Todesstrafen finden beständig im ganzen Djityschar statt. Dieb¬
stähle, Fluchtversuche, eheliche Untreue — Alles wird mit dem
Tode bestraft. Ja, die dort lebenden Chinesen verfallen dieser
Strafe sogar auf den Verdacht hin, keine wohlwollenden Gesinnun¬
gen für Jakub-Beg zu hegen. Als Jakub-Beg eine neue Münze aus¬
gab und dieser einen ihren inneren Werth übersteigenden Kurs be¬
stimmte, so weigerten sich die Einwohner von Jarkent, jene Münze
al pari anzunehmen. Auch für dieses Vergehen wurden gegen 100
Mann mit dem Tode bestraft.
Jakub-Beg ist stets besorgt, Arsenale und Kriegsmagazine anzu¬
legen, welche stets mit allem möglichen Kriegsmaterial gefüllt sind.
Jakub-Beg liebt die Einsamkeit nicht. Er schläft täglich nur drei
Stunden, umgeben von sogenannten «Duwanen» (Bettelmönche,
Humie CBOTomn), welche während seines Schlafes Verse aus dem
Koran singen müssen. Diese Duwanen sind seine besten Freunde
und beläuft sich ihre Anzahl auf gegen 2000.
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354
Nikitin’s Reise aus Chokand nach Djityschar.
Hr. Nikitin, einer von den in Mittel-Asien Handel treibenden russi¬
schen Kaufleuten, hat einige interessante Notizen über seine im ver¬
gangenen Frühjahr von der Stadt Usclia nach Kaschgar unter¬
nommenen Reise geliefert. Er machte diese Reise mit Bewilligung
des Chans von Chokand, welcher sogar befohlen hatte, um den Rei¬
senden den Uebergang über den Bergrücken von Terek-Daban zu
erleichtern, Hm. Nikitin kirgisische Führer und 5 bis 6 Bergochsen
zu stellen. Indess wurden die Befehle des Chudojar-Chans im Osten
von Uscha schlecht erfüllt; die Kirgisen weigerten sich die bedun¬
genen Ochsen zu liefern, obgleich das Geld für diese, als wie auch
für die Führer schon in Uscha bezahlt war, und war daher Hr. Niki¬
tin gezwungen, den Uebergang über jenen Bergrücken nur mit sei¬
nen eigenen Packthieren zu bewerkstelligen. Der ■ 7 m\fc*-Weg von
Uscha nach Chokand, schreibt Hr. Nikitin, ist nur zu passiren, wenn
die Gebirgflüsse mit Schnee und Eis bedeckt sind, d. h. von der
zweiten Hälfte des Februar bis zum 15. April; von da ab wird der
sogenannte *Alaiskische» Weg eingeschlagen. Dieser ist zwar wei¬
ter, bietet aber reichlicheres Futter für die Packthiere dar. Auf den
Bergen, welche die Wasserscheide zwischen Uscha und Kaschgar
bilden, leben Kirgisen, welche zu denUnterthanen des Chans von Cho¬
kand gerechnet werden und aus folgenden Geschlechtern bestehen:
Das Geschlecht:
Ssartar,
Kok-Tschully,
Ulsjan,
Galdai,
Rachan,
Galtschalar,
Sju wasch,
Sjura,
Tauk,
Ssauai,
Mumak,
zählt 50 Heerde, lebt bei Terek-Davan,
50
»
»
»
Dsj ulbars,
3,000
»
»
»
Utsch-tjuba,
40
»
»
»
Jugatsh-art,
40
»
»
»
Artschaty,
100
»
»
»
Ssujut,
300
»
»
»
Kulduk,
2,000
»
»
»
Karakul,
1,000
»
»
»
Tjurgolak,
1,000
»
»
»
Gultscha,
2,000
»
»
>
Murdam.
Diese Kirgisen nomadisiren im Winter am Fusse des Gebirges,
zum Sommer aber ziehen sie in die Berge. Stellenweise treiben sie
auch Ackerbau. Die hier durchziehenden Karawanen versorgen sich
bei diesen Kirgisen mit Lebensmitteln und Futter für ihre Packthiere,
Hrn. Nikitin jedoch, welcher den Terek-Weg im März passirte, fiel
es sehr schwer, solches selbst für Geld von den hier lebenden No¬
maden zu erhalten.
Der Weg von Uscha nach Kaschgar wurde in 17 Tagen zurück¬
gelegt. Die Marschroute war folgende:
1) Die Wache Mady 1 7 * Tasch (= 12 Werst), auf ebenem, san¬
digen Wege. Beim Nachtlager gutes Trinkwasser.
2) Kalaivan-kul , 3 Tasch, auf bergigem, steinigem Wege.
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355
3) Kaplanbek , 3 Tasch, auf bergigem Wege. Beim Nachtlager
salziges Trinkwasser.
4) Gultscha , 2V2 Tasch, der Weg bergig und steinig, das Trink¬
wasser gut.
5) Kysyl-Kurgan , 2 X U Tasch, der Weg steinig und ohne Beschädi¬
gung der dort gebräuchlichen zweiräderigen Wagen (apöa) nicht zu
passiren.
6) Sufi oder Musulmann - Wacht , die letzte Station des Chanats
von Chokand.
' Hier theilt sich der Weg: rechts zweigt sich die «Alaiskische»
Strasse ab. Den linken, den «Terek*-Weg verfolgend, war unser
Reisender genöthigt, einige Kirgisen vorauszusenden, um im Gebiete
Ak-kija Brennholz zu sammeln, da solches auf den nun folgenden
drei Nachtlagern nicht mehr zu erhalten war. Mit dem im Weiter¬
marsch gesammelten Brennholze mussten die Packthiere beladen
werden. Der Weg geht hier allmälig bergan bis zu
7) Sir Ui, 2 Tasch steinigen Weges mit vielen Schluchten durch¬
zogen. Hierauf folgt
8) Katta-Kunotsch , 2 Tasch. Dieses Nachtlager liegt schon jen¬
seits des Bergrückens von Terek-Davan.
9) Kok-su, ein Flüsschen, über welches drei schmale Brücken
führen. Nachdem diese und das Thor von Kirkitschin passirt waren,
stiess Hr. Nikitin auf kirgisische Ansiedelungen (ayjibi). Die hier
nomadisirenden Kirgisen sind Unterthanen des Chans von Kasch¬
gar, sie zahlen keinerlei Abgaben, sind aber dafür verpflichtet, längs
dem Wege nach Chokand zu nomadisiren, um den hier durchziehenden
Karawanen Beistand zu leisten. Die Reisenden sind auch hier voll¬
kommen sicher, denn der Badaulet bestraft jeden hier verübten Raub
oder Diebstahl mit dem Tode.
10) Ikisai , 3 Tasch, steiniger Weg. Wasser und Brennholz gut.
11) Sigin, 4 Tasch, der Weg ist bald sandig, bald steinig und
hügelig.
12) Der erste kaschgarische Wachtposten, wo sich ein «Dajus-
baschi» (aaiocb öaiuH, Hundertmann, cothhkt») mit 50 Soldaten,
Dunganen, befinden. Hier musste Hr. Nikitin sich 1V« Tage auf¬
halten, bevor er vom Badajulet die Erlaubniss zur Weiterreise erhielt.
13) Der Wachtposten Uksalur , 4 Tasch, hier befindet sich schon
als Befehlshaber ein Fünf hundertmann mit 400 Soldaten, ebenfalls
Dunganen.
14) Gansigalyk , 772 Tasch, bergiger und steiniger Weg, es ist
die schwierigste Stelle auf dem ganzen Wege zwischen Uscha
und Kaschgar. Beim Nachtlager befand sich ein Wachtposten von
50 Dunganischen Soldaten.
15) Min-dsiol (Tausend Wege), der letzte Wachtposten vor
Kaschgar, es gehen von hier aus Wege nach allen Richtungen,
die Garnison des Postens besteht hier nicht mehr aus Dunga¬
nen, sondern aus 100 Kaschgaren. Der Weg von hier bis
Kaschgar, 5 Tasch, ist eben; beim letzten Tasch trifft man viele
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356
Ansiedelungen und bebautes Land. Die Bewohner dieser An¬
siedelungen sind arm, die Hütten zerfallen. Bei der Annäherung
an Kaschgar bietet sich den Blicken zuerst die 8 Werst lange und
mit nur drei Thoren versehene Stadtmauer dar. Ein diplomatischer
Agent Jakub-Beg’s, ein gewisser Mir-Kassym-Bäi Ssalihadjai, welcher
früher in Ssemipalatinsk gelebt hatte und der russischen Sprache
mächtig war, empfing Hrn. Nikitin. Dieser Mir-Kassym wies un-
sern Reisenden ein Caravanserai an und vertrat bei Hrn. Nikitin die
Stelle eines Agenten.
Hr. Nikitin hatte eine Audienz beim Badaulet, welcher sich zwar
über die Absicht, nicht nur in Kaschgar, sondern auch in Jarkent
und Chotan Handel zu treiben, wunderte, jedoch Hrn. Nikitin sehr
freundlich empfing und ihm sagte: «Sei fröhlich und handle frei;
wenn Du was brauchst, so sage es dem Dachta (Stadthauptmann).»
Die Abschätzung der nach Kaschgar eingeführten Waaren fand
nach gegenseitiger Verständigung zwischen Hrn. Nikitin und Mir-
Kassym statt, so dass über die Grösse der zu zahlenden Abgaben
kein Streit mehr erhoben werden konnte, obgleich einige Versuche
zur Erhöhung dieser gemacht wurden. Der Handel ging gut; da
es aber unmöglich war, sämmtliche Waaren in Kaschgar abzusetzen,
so bat Hr. Nikitin um die Erlaubniss, nach Chotan zu reisen, was
ihm auch gestattet wurde. Seine Karawane, welche nach dort ging,
bestand aus 20 Pferden.
Bolschew’s geographische Arbeiten in Ost-Sibirien.
Hr. L. A. Bolschew wurde, wie bekannt, im Jahre 1874 aus Irkutsk in
das Küstengebiet abkommandirt, um dort geodätische Arbeiten längs
dem Ufer des Japanischen Meeres vorzunehmen, wo die Küste vom Kai¬
ser-Hafen, ja sogar von der Bucht De-Castri bis zur Bucht des Heiligen
Wladimir noch nicht genau aufgenommen war. Dieses Unternehmen
war kein leichtes, da die Arbeiten in einer unbewohnten, gebirgigen,
stark bewaldeten und dabei von einer Menge wasserreichen Flüsschen
durchschnittenen Gegend vorgenommen werden mussten. Ausser¬
dem ist das Klima, wie bekannt, ein höchst unfreundliches, der ein¬
zige Zutritt, von der See, sehr beschwerlich; schon Lapererouse
überzeugte sich, dass hier keine Buchten vorzufinden wären, wo
Schiffe gefahrlos landen und gelöscht werden könnten. Alle diese
ungünstigen Verhältnisse übten Ihren Einfluss auf die Arbeiten* des
Hrn. Bolschew und seiner Gefährten aus, von welchen einige der
Gefahr ausgesetzt waren, dem Hungertode zu erliegen. Dessen un¬
geachtet erzielte die Expedition folgende wichtigen Resultate:
1) Es wurden 900 Werst Küstenlandes theilweise mit Instrumenten
aufgenommen.
2) Hr. Bolschew bestimmte acht neue Punkte astronomisch, so
dass mit Hülfe dieser und der schon früher von Hrn. Staritzki be¬
stimmten, man jetzt eine genügende Karte des Japanischen Meeres,
von Nikolajewsk bis Korea, zusammenstellen kann.
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357
Ausser diesen neu bestimmten astronomischen Punkten sind noch
die vom Dorf Nikolskoje und dem Kamjen-Rybolow revidirt worden.
3) Die Höhe von 260 der am meisten über den Meeresspiegel sich
erhebenden Bergen ist bestimmt worden.
4) Längs dem ganzen Küstenstrich ist die Tiefe der Flüsse ge¬
messen, wodurch zugleich auch ihr grösserer oder geringerer Wasscr-
reichthum theilweise bestimmt wurde.
5) Auf 10 Stationen wurden meteorologische Beobachtungen an¬
gestellt, und lässt sich jetzt das Klima des Küstengebietes genauer
bestimmen, als bisher, wo man nur auf die unsichern Aussagen der
Seefahrer angewiesen war. Die Beobachtungen wurden regelmässig
jeden Tag gemacht.
6) Es wurden Sammlungen von Mineralien, Pflanzen und Insekten
gemacht. Laut Aussage der Herren Tschekanowski und Tscherski
in Irkutsk, sind in diesen Sammlungen Gattungen anzutreffen, welche
theils noch unbekannt, theils noch nicht genau bestimmt sind.
7) Sämmtliche hier vorkommenden Holzarten wurden beschrieben
und könnte sich hier mit der Zeit, in Folge der Höhe des Meeres,
ein nicht unbedeutender Holzhandel entwickeln.
8) Jede von den Topographen aufgenommene Oertlichkeit ist von
diesen auch beschrieben worden. Aus diesen Beschreibungen ist
zu ersehen, dass die Ufer des Meeres, besonders im südlichen Theile,
sehr felsig sind, so, dass Abhänge von 100 Faden in vertikaler Rich¬
tung anzutreffen sind.
Die von Hrn. Bolschew angefertigten - topographischen Karten
langten schon im Frühjahr 1875 in St. Petersburg an. Dank dem
liebenswürdigen Entgegenkommen des in St. Petersburg lebenden
Bruders unseres Reisenden, Hrn. A. A. Bolschew, war es uns mög¬
lich, auf die oben angeführten wichtigsten Resultate der Expedition
hinzuweisen und bleibt uns nur noch zu wünschen übrig, dass die
Veröffentlichung der Details recht bald erfolgen möge. Wir können
hierbei nicht unterlassen zu bemerken, dass Hr. Bolschew sich nicht
mit der Untersuchung des Küstengebietes allein begnügt hat. Kaum
vom Amur zurückgekehrt, erhielt er den Auftrag, die chinesische
Grenze im Gouvernement Irkutsk und Transbaikalien zu bereisen,
um die Punkte zu bestimmen, über welchen es am vortheilhaftesten
wäre, einen Handelsweg nach der Mongolei herzustellen. Da aber
die zu diesem Zweck ernannten chinesischen Bevollmächtigten nicht
angekommen waren, so musste dieses Unternehmen bis äuf Weiteres
unterbleiben. Statt dessen benutzte Hr. Bolschew den Sommer
1875, um in Transbaikalien astronomische Bestimmungen vorzu¬
nehmen, und sind von ihm schon über 10 Punkte astronomisch be¬
stimmt. In der Zwischenzeit beschäftigte sich Hr. Bolschew mit
der Ausarbeitung der Resultate seiner vorigjährigen Reise.
M. Wenjukow.
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Kleine Mittheilungen.
Der Theehandel in Turkestan 1
steht, so sonderbar es auch klingen mag, in enger Verbindung mit
der Jagd auf die sogenannten * Marali» (Berghirsche). Das Geweih
dieser pirsche enthält nämlich in der ersten Hälfte des Sommers
einen Stoff, welcher von den Chinesen als Reizmittel besonders hoch
geschätzt ist und in China buchstäblich mit Gold aufgewogen wird.
Zu früheren Zeiten waren die Marali auf dem Gebirge von Alatau
und seinen Ausläufern in grosser Anzahl anzutreffen. Gegenwärtig
aber sind sie, in Folge der zu grossen Vernichtung, welcher sie in
den letzten Jahren unterworfen waren, dort viel seltener anzutreffen.
In Alatau, im östlichen Turkestan und besonders in der früheren
Djungarei fand, Dank der dort zahlreich lebenden Marali, seit Alters
her ein lebhafter Handel mit den Geweihen dieser Hirsche statt.
Das Geweih wurde in die inneren Provinzen des chinesischen Reiches
ausgeführt, wo übrigens die Abnehmer dieses so kostspieligen Mit¬
tels nur hochgestellte oder sehr reiche Personen waren. Die stete
Nachfrage und der Umstand, dass die Geweihe von den einzelnen
Jägern nur in geringen Quantitäten — zu ein, zwei, höchstens drei
Paaren — zu beziehen waren, bewog einzelne Chinesen, sich hier zu
diesem Zwecke beständig aufzuhalten. Diese Aufkäufer betrieben
zugleich auch den Theehandel in dem benachbarten Chanate, und
so entstand dann die Verbindung des Theehandels mit dem Ankauf
der Geweihe jener Hirsche.
Der Handel besteht auch jetzt noch, wenngleich in veränderter
Form; dennoch aber halten sich gegenwärtig in Wernoje zu diesem
Zwecke die Vertreter von io chinesischen Handelsfirmen auf.
Bis vor wenigen Jahren befand sich der Theehandel Mittel-Asiens
ganz in den Händen der Chinesen, ohne jegliche Konkurrenz, und
da diese, besonders in Betreff ihrer Handelsangelegenheiten, sehr
misstrauisch und unzugänglich sind, so ist es schwer, selbst an¬
nähernd, wahrheitsgetreue Angaben über die Quantität des von
ihnen hier abgesetzten Thees zu erhalten. Im vergangenen Jahre
(1875) soll, wie es heisst, jede Firma 400 Zibiki 2 , was also im Ganzen
1 Nach einer Mittheilung der «TypKecT. BKaom. ».
* Zibik heissen die Kasten, in welchen der Thee transportirt wird und auch in den
Handel kommt. Das Gewicht eines solchen Zibik ist verschieden, je nach der Sorte
des Thees, welchen er enthält. So z. B. wird Ziegelthee in Zibiki a 3 Pud, gewöhn¬
licher Familienthee ä 2 1 / 3 » feinere Sorten ä 1 */a Pud verpackt.
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359
4000 Zibiki, oder gegen 8000 Pud Thee ausmachen würde, verkauft
haben. Nimmt man den Durchschnittspreis eines solchen Zibiks
mit 60 Rbl. an, so würde der jährliche Umsatz dieser Handelshäuser
240,000 Rbl. betragen.
Seit Konstituirung des Generalgouvernements von Turkestan und
in Folge einiger, von der Regierung den russischen Theehändlern ge¬
währten Privilegien, von welchen die chinesischen Händler ausge¬
schlossen sind, hat jedoch die russische Konkurrenz sehr fühlbar auf
das chinesische Theemonopol eingewirkt.
Die erste Folge war, dass vor ungefähr 7 Jahren die bekannte
russische Firma Njemtscliinow & Co. eine grosse Ladung Thee nach
Ssemiritschje sandte; eine Ladung, für welche allein gegen 70,000
Rbl. Abgaben erhoben wurden.
Gegenwärtig erstehen hier von Jahr zu Jahr immer mehr und mehr
russische Theehandlungen und konkurriren diese mit den Chinesen
auch schon im Ankauf jener Geweihe. Ueberhaupt geht, seit der Auf¬
hebung unserer Faktoreien in Tschugutschak und Kuldgja, seit der
Eröffnung des Generalgouvernements von Turkestan und der ge¬
statteten zollfreien Einfuhr des Thees über Kjachta und Irkutsk,
der Theehandel immer mehr und mehr in russische Hände über,
wobei der Thee-Transit über Sibirien steigt und das Monopol der
Chinesen, sowohl was den Thee-, als auch den Handel mit den Ge¬
weihen der Marali betrifft, von Jahr zu Jahr mehr und mehr ver¬
schwindet.
Zur Beschiffung des Amu-Darja.
Aus Kuldgja wird geschrieben \ dass im vergangenen August
ein neuer Versuch der Beschiffung des Amu-Darja gemacht worden
ist. Der Dampfer «Ssamarkand», unter dem Befehl des Kapitän-
Lieutenant Brjuchow I., verliess, mit Heizmaterial auf 2 Tage ver¬
sehen, am 6 August Petro-Alexandrowsk. 65 Werst von hier, in
der Umgegend von Pitnjak, wurde übernachtet, und zwfcr 4 Werst
vor der Stelle, an welcher im vergangenen Jahre die Strömung nicht
hatte überwältigt werden können. Am folgenden Tage gelang es
dem Dampfer, die Strömung mit einer Schnelligkeit von 3 Werst
pro Stunde zu bezwingen. Weiter hinauf erreichte der *Ssamar-
kand* schon eine Schnelligkeit von 6 Werst pro Stunde. Derselbe
fuhr bis Mittag in dieser Weise stromaufwärts, als jedoch das Heiz¬
material anfing auf die Neige zu gehen, kehrte der Dampfer um und
gelangte, bei einer Schnelligkeit von 25 Werst pro Stunde, den¬
selben Abend in Petro-Alexandrowsk an._
Auf die bei dieser Probefahrt gemachten Beobachtungen hin, ist
der Befehlshaber des «Ssamarkand* zu der Ansicht gekommen, dass
1 Aus dem «Hpau. BkcTHwcb» 1876, Nr, 208.
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360
eine beständige Beschiffung des Amu-Darja, und zwar bis zur Grenze
unserer Besitzungen, d. h. bis zu Meschekli, möglich ist, nur brauche
man hierzu eines stärkeren Dampfers, als es der «Ssamarkand» ist.
Der Fluss Syr-Darja hatte in diesem Jahre einen so niedrigen
Wasserstand, dass die Schiffe der Aral-Flotille ihre Fahrten ein¬
stellen mussten.
Literatnrbericht.
D. A. Timirjasew . Uebersicht der Entwickelung der wichtigsten Zweige der Gewerbe
und des Handels in Russland, für die letzten zwanzig Jahre. Graphische Ta¬
bellen. St. Petersburg. Folio 5 S. und 13 Tafeln, (ß. A. TuMupR 3 ees: O63opt
pa 3 BHTifl rjiaBH'bfimux’b OTpaaieft npoMbiniJieHHOCTu h ToproBJia n» Poccin 3a
nocJiliAHee ABauariurfeTie bt> rpa<nmecicHXT> Taöjimxax-b. C.-rieTep6ypn> 1876 r.)
Vor uns liegt eine der interessantesten und umfassendsten statisti¬
schen Arbeiten über die Industrie und den auswärtigen Handel
Russlands, welche in ihrer höchst gelungenen graphischen Aus¬
führung, mehr wie tabellenreiche Bände geeignet ist, eine wenn auch
nicht so genaue, doch lesbare und anregende Uebersicht über Ent¬
wickelung und Stand der Hauptfabrikationszweige und des auswär¬
tigen Handels und seiner Hauptartikel zu geben. So viel uns be¬
kannt, existirte eine derartige Arbeit für Russland noch nicht, auch
sind dieselben selbst im Auslande nur sehr spärlich vorhanden. Die
vorliegende Arbeit ist von einem, auch schon durch frühere Arbei¬
ten über die russische Industrie und den Handel verdienstvollem
und kompetentem Manne, dem Chef der Manufaktur-Abtheilung im
Handels- und Manufaktur-Departement des Finanz-Ministeriums
angefertigt; sie umfasst einige Seiten erläuternden Textes und
13 graphische Tabellen.
In seiner Einleitung hebt der Verfasser mit Recht hervor, dass
bei fehlendem regelrechtem System der offiziellen statistischen Daten¬
aufnahme und einer Kontrolle derselben, die von ihm gegebenen
Daten daher nur Anspruch auf eine aproximative Vollständigkeit
und Zuverlässigkeit machen können, und daher nicht im Stande
sind, mit absoluter Genauigkeit den Stand irgend eines Industrie¬
zweiges zu einer bestimmten Epoche wiederzugeben, für den be¬
absichtigten Zweck aber, übersichtliche Darstellung des fortlau¬
fenden Entwickelungsganges der Hauptzweige der Industrie und
des auswärtigen Handels, genügt ihre relative Richtigkeit und Voll¬
ständigkeit vollkommen, zumal in der betrachteten Periode von
1854—1874 keine wesentlichen Verbesserungen in der statistischen
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3^1
Datenaufnahme stattgefunden haben. Die graphischen Tabellen
sind auf Grundlage offizieller Daten entstanden: für die Industrie¬
zweige sind letztere den Jahresberichten der Gouvernements-Chefs
an das Handels- und Manufaktur-Departement, über Zahl, Stand
u. s. w. der in ihrem Gouvernement bestehenden Fabriken u. s. w.
entnommen; für den auswärtigen Handel den jährlich erscheinenden
Handelsausweisen des Zolldepartements. Zum Schluss seiner Ein¬
leitung betont der Verfasser, dass die Herausgabe dieser Arbeit
einen ausschliesslich statistischen Zweck verfolge: auf eine über¬
sichtliche Weise das Material daczulegen, nach welchem die in den
letzten zwanzig Jahren von der russischen Industrie und dem russi¬
schen auswärtigen Handel gemachten Fortschritte beurtheilt werden
könnten.
In Folgendem wollen wir nun unsere Leser in Kürze mit dem
Inhalte der 13 graphischen Tabellen bekannt machen, wir sagen in
Kürze, da eine eingehende Besprechung, wie sie diese interessante
und lehrreiche Arbeit gewiss in vollstem Maasse verdiente, uns zu
weit führen würde, wir können aber nicht umhin, gleich hier einem
Jeden, welcher sich für die statistisch-geschichtliche Entwickelung
unserer Industrie und unseres auswärtigen Handels interessirt, ein
eingehendes Studium der mühevollen Arbeit des Hin. Timirjasew
anzuempfehlen, wobei wir noch bemerken wollen, dass es auch
Exemplare mit englischem Texte gibt.
Blatt I: Die Woll-Industrie. Auf dem Blatte sind durch farbige
fortlaufende und durchbrochene Linien, wie auch auf allen übrigen
Blättern, die einzelnen Zweige ausgedrückt, hier folgende: 1) Werth
der jährlichen Produktion: a) der Tuchfabriken, b) von ungewalkten
Geweben, c) der Woll-Spinnereien; 2) Werth des Importes: a) von
Roh- und Kunst-Wolle, b) von Wollgarn, c) von Woll-Fabrikaten;
3) Werth des Exportes: a) von Wolle, b) von Woll-Fabrikaten;
Alles in Millionen Rubel ausgedrückt.
Das Verhältniss der drei Produktionszweige war 1857 circa wie
1 : 8 :44 (gesponnene Wolle, ungewalkte Gewebe, Tuch), 1873 da¬
gegen wie 6: 44 : 87; der Importzweige 1857 wie I : 17 : 17,5 (Roh-
und Kunst-Wolle, gesponnene Wolle und Woll-Fabrikate), 1873 wie
16 : 50: 65; der Exportzweige 1857 wie 1,5 : 8 (Woll-Fabrikate, rohe
Wolle), 1873 wie 1,75 : 5,75. Die im Jahre 1861 erfolgte Aufhebung
der Leibeigenschaft hatte ein unmittelbares Zurückgehen der Woll-
produktion zur Folge, welche sich aber seit 1863 wieder in allen
ihren Zweigen stetig entwickelte; ähnliche Erscheinungen bietet der
Woll- Import, der Export dagegen zeigt bis 1864 eine stete, wenn
auch in den einzelnen Jahren sehr schwankende Zunahme, dagegen
nach 1864 eine ebenso stetige und schwankende Abnahme, herbei¬
geführt theilweise durch den verstärkten einheimischen Verbrauch
an Wolle, theilweise aber auch in Folge der versäumten rechtzeiti¬
gen Einführung langhaariger, edler Schaf-Arten Seitens unserer
Schafzüchter. Der Import an roher und verarbeiteter Wolle bildet
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3Ö2
nur einen geringen Prozentsatz des einheimischen Verbrauchs, so
z. B. 1873 38,7 pCt.
Blatt II: Die Baumic oll -Industrie. 1. Werth der jährlichen Produk¬
tion: a) von Baumwollgeweben, b) von Baumwollgarn, c) der Kattun¬
druckereien, Färbereien u. s. w.; 2. Werth des Importes: a) von
Baumwollgeweben, b) von Baumwollgarn, c) von roher Baum¬
wolle — 1. amerikanischer, indischer und ägyptischer, 2. persischer
und mittel-asiatischer; Alles in Millionen Rubel ausgedrückt.
Sowohl alle Zweige der Produktion, als auch der Import amerika¬
nischer, indischer und ägyptischer Baumwolle zeigen eine stete
starke Zunahme, mit nur einer bedeutenden Unterbrechung in Folge
des amerikanischen Bürgerkrieges von 1861. So wurde von der
genannten rohen Baumwolle 1861 für 20,8 Mill. Rbl. importirt, 1862
dagegen nur für 5 Mill. Rbl., aber 1864 schon wieder für 22,5 Mill.
Rbl. Die Produktion von Baumwollgeweben war auch dem ent¬
sprechend zurückgegangen, erhielt aber nach 1863 einen fabelhaften
Aufschwung in Folge des sich immer mehr und mehr verbreitenden
Konsums von Baumwollzeugen unter dem Volke. Der Import von
asiatischer Baumwolle ist sich in den 20 betrachteten Jahren ziemlich
gleich geblieben und gegen den amerikanischer ganz unbedeutend,
nur im Jahre 1864, nach der amerikanischen Baumwollkrisis, er¬
reichte er die Höhe von 9 Mill. Rbl., während derselbe 1861 nur
eine V2 Mill. Rbl. betrug und 1865 war er bereits wieder auf 4 l /a
Mill. Rbl. gesunken und sank von da an beständig, so dass derselbe
1872 wieder bloss 2 Mill. Rbl. ausmachte. Der Import von Baum¬
wollgarn und Baumwollzeugen war und ist unbedeutend, er beträgt
nicht einmal l /s der einheimischen Fabrikation.
Blatt III: Die Leinwand - und Flachsgarn-Produktion. I. Werth der
jährlichen Produktion in Millionen Rubel; 2. Anzahl der Fabrik¬
arbeiter in Tausenden; 3. Werth des Importes von Lein-Fabrikaten;
4. Werth des Exportes: a) von Flachs und Flachsheede, b) von
Leinwand; 3. und 4. in Millionen Rbl.
Diesen Aufzeichnungen hat nur sehr mangelhaftes Material zur
Verfügung gestanden, da nur die grossindustrielle Produktion be¬
rücksichtigt werden konnte, während bei uns noch ein grosser Theil
der Leinwand und des Flachsgarns ihren Ursprung der Handarbeit
verdanken. Der Grossbetrieb der Leinwandweberei und Flachs¬
garnspinnerei hat, abgesehen von ganz unbedeutenden Schwankun¬
gen, konstant zugenommen; trotzdem, meint der Verfasser, macht
er nicht V« des Handbetriebes aus, ersterer ist von 1854 —1874 um
fast das Dreifache gewachsen, von 7 auf 20 Mill. Rbl. Der Flachs¬
und Flachsheede-Export hat sich seit 1854 um fast 13 Mal ver-
grössert. Während das Rohprodukt sich eines solchen Absatzes in’s
Ausland erfreut, hat sich der des verarbeiteten Materials so gut wie
gar nicht entwickelt, ja derselbe nimmt seit 1869 beständig ab, wäh¬
rend sich der Import der Lein-Fabrikate gerade seit jenem Jahre be¬
deutend verstärkt hat, derselbe betrug 1874 7 Mill. Rbl., der Export
dagegen nur 1 Mill. Rbl., der des Rohmaterials dagegen 51 Mill.
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Rbl., während wir gleichzeitig für ungefähr dieselbe Summe ein
gleichartiges Garnmaterial einführen, nämlich die Baumwolle.
Blatt IV: A. Hanf- und Taue-Produktion . i. Werth der jährlichen
Produktion; 2. Werth des Exportes: a) von Hanf und Hanfheede,
b) von Hanfgarn, c) von Tauen und Stricken; Alles in Millionen
Rubel.
Nur von einer Entwickelung des Hanf- und Heede-Exportes kann
die Rede sein, derselbe ist in 20 Jahren von 2,8 auf 13,7 Mill. Rbl.
gewachsen, dagegen ist die jährliche Produktion kaum aufs Doppelte
gestiegen und der Export von Hanfgarn betrug 1854 0,5 Mill. Rbl.,
erreichte 1860 seine höchste Höhe mit 1,6 Mill. Rbl. und sank dann
mit einigen Schwankungen bis 1874 wieder auf 0,8 Mill. Rbl. Hier¬
bei muss aber bemerkt werden, dass dieser Zweig unserer Industrie
zu den wenigen gehört, welche im Stande gewesen sind, alle aus¬
ländische Konkurrenz zu verdrängen.
B. Seidengespinnst- und Seidengewebe-Produktion . 1. Werth der
jährlichen Produktion; 2. Werth des Importes: a) von ganz und
halb Seidengeweben, b) von roher und gesponnener Seide; 3. Werth
des Exportes von roher Seide, Seiden-Abfällen und Seidencocons;
Alles in Millionen Rubel.
Alle aufgeführten Zweige haben sich ansehnlich entwickelt. Der
Import von roher und versponnener Seide weist eine beständige
Zunahme auf, namentlich seit 1864,‘wo er den Import von Seiden-
Fabrikaten erreichte und seit 1869, wo er ihn überholte. Der Ex¬
port einheimischer Seide hat den Import ausländischer nur in einem
Jahre überstiegen, nämlich 1865, wo ersterer 3,5, letzterer aber nur
2,7 Mill. Rbl. betrug. 1874 war der Unterschied schon wieder 5,8
Mill. Rbl. zu Gunsten des Importes, indem dieser 7,8, der Export
aber nur 2 Mill. Rbl. ausmachte. Ein starkes Zurückgehen der
Produktion, so wie aller Zweige des Importes ist um 1861 wahr¬
zunehmen, in Folge der verbreiteten Seidenraupen-Krankheit. Seit
1866 hat sich die Produktion von Seidenzeugen besonders stark
entwickelt, dem entsprechend hat denn auch der Import roher Seide
zugenommen, der Export derselben dagegen, so wie der Import von
Seidenzeugen abgenommen.
Blatt V: Die Leder-Industrie . I. Werth der jährlichen Produktion;
2. davon kommen auf Gerbereien in Millionen Rubel; 3. Anzahl der
Gerbereien in Hunderten; 4. Anzahl der Arbeiter auf denselben in
Tausenden; 5. Werth des Exportes von Häuten und Leder; 6. davon
Leder; 7. Werth des Importes von Leder; 5., 6., 7. in Mill. Rbl.
Die Produktion zeigt folgende Entwickelung: starkes Wachsen
von 1857 bis 1861,. von da bis 1868 fast Stillstand, dann aber ein
mächtiges Emporblühen bis 1872, das Jahr 1873 zeigt ein ganz ge¬
ringes Sinken. Der Werth der Produktion betrug 1857 9,3 Mill. Rbl.,
1861 hatte er 19 Mill. erreicht, 1868 20,1 Mill. und 1872 nicht we¬
niger als 36,5 Mill. Rbl., 1873 war er dann auf 35,2 Mill. Rbl. zurück¬
gegangen. Fast ganz dieselben Stadien sind bei der Produktion der
Gerbereien, ihrer Anzahl und der von ihnen beschäftigten Arbeiter
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3^4
wahrzunehmen. • Während der Export von Leder eine ziemlich
schwankende und unbedeutende Entwickelung zeigt, so ist letztere
beim Import dagegen ganz konstant gewesen und hat der Werth
des Importes den des Exportes seit 1S6S überholt, 1874 z. B. betrug
ersterer 2,3, letzterer nur 1,3 Mill. Rbl. Fügt man aber dem Ex¬
porte von Leder den von rohen Häuten hinzu, so erreicht der Werth
des gesammten Exportes den des Leder-Importes.
Wir vermissen auf dieser Tafel den Werth des Importes roher
Häute, welcher gar nicht unbedeutend ist, er betrug z. B. 1874 1,25
Mill. Rbl., und gewiss einen Platz auf derselben beanspruchen dürfte,
schon des Vergleiches wegen.
Blatt VI: Die Run kelrübenzitck er-Fabrikation. 1. Produktion an
Sandzucker in Millionen Pud; 2. Anzahl der im Betrieb stehenden
Runkelrübenzucker-Fabriken in Hunderten; 3. davon mit Dampf¬
betrieb in Hunderten; 4. Accise-Ertrag des Zuckers in Millionen
Rubel; 5. Import: a) von ausländischem Zucker in Millionen Pud,
b) von Thee und c) von Kaffe in Hunderttausenden Pud.
Leider hat sich auf dieser Tafel, sowie im erläuternden Texte zur
Tafel, ein sinnstörender Fehler eingeschlichen, indem beim Thee,
wie beim Kaffe steht: in Hunderttausenden Rubel, statt in Hundert¬
tausenden Pud.
Nach einem geringen Zurückgehen der Sandzucker-Produktion
nach dem Jahre 1861 hat sich dieselbe von 1863—1874 um das
Zwölffache verstärkt, wobei es höchst interessant ist, dass die An¬
zahl der im Betrieb stehenden Zuckerfabriken nicht unbedeutend
abgenommen hat, nämlich von 300 auf 245, allerdings ist aber dafür
die Zahl der mit Dampf arbeitenden Fabriken, welche in jenen Zah¬
len inbegriffen ist, bedeutend gewachsen, während es solche 1863
nur 190 gab, war ihre Anzahl 1874 auf 240 gewachsen, so dass es
also in dem Jahre nur noch 5 Runkelrübenzucker-Fabriken ohne
Dampfbetrieb gab. Die jährliche Zuckerproduktion schwankt nicht
unbedeutend von Jahr zu Jahr, je nach der vorhergehenden Runkel¬
rübenernte, jedoch ist der Ausfall bis auf das Jahr 1866 und 1872
seit 1863 nie so gross gewesen, dass er die Tendenz des Zucker-
Importes abzunehmen gestört hätte, dessen Werth 1854 noch
1,2 Mill. Rbl. und 1874 kaum 0,2 Mill. Rbl. betrug. Sehr ähnlich
der Zunahme der Zuckerproduktion ist die Zunahme des Thee-
Importes gewesen, nur ohne so grosse Schwankungen von Jahr
zu Jahr, derselbe ist von 1863 —1874 fast ums Vierfache ge¬
stiegen,. er betrug 1863 260,000 Pud und 1874 1 Mill. Pud, die
Sandzuclcerproduktion betrug 1863 2,8 Mill. Pud und 1874 9,1 Mill.
Pud, woraus sich ergibt, dass im Jahre 1874 auf den Konsum eines
Pfundes Thee 9 Pfund Zucker kamen; der Kaffe-Import hat sich
dagegen nur schwach entwickelt, er ist von 340,000 Pud 1863 auf
430,000 Pud 1874 gestiegen, ein Beweis, dass sein Konsum sich
unter dem Volke noch nicht verbreitet, wie dies beim Thee im hohen
Grade, und von Jahr zu Jahr zunehmend, der Fall ist. Eine ziemlich
verfehlte graphische Darstellung ist a\if dieser Tafel die der Zucker-
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3^5
Accise, da der Verfasser uns nicht den richtigen Ertrag zeigt, son¬
dern, wie er es im erläuternden Texte sagt, nur nach einem berech¬
neten durchschnittlichen Maassstabe der Accise von beispielsweise
50 Kop. für das Pud Sandzucker, während der Besfeuerungsmaass-
stab in dem Zeitraum von 20 Jahren ein wechselnder gewesen ist.
Blatt VII: Produktion des Maschinenbaues , der mechanischen Werk¬
stätten und Giesseremu 1. Werth der jährlichen Produktion in Mil¬
lionen Rubel; 2. Anzahl der Fabriken in Zehnern; 3. Zahl der von
ihnen beschäftigten Arbeiter in Tausenden; 4. Werth des Importes
von Maschinen: a) überhaupt, b) davon zollpflichtiger und c) wirk¬
lich verzollter, in Millionen Rubel.
Die einheimische Produktion zeigt ein stetes, ziemlich gleich-
mässiges Wachsen, der Werth derselben ist nur von 1857—1862
und im Jahre 1869 von dem Werthe importirter Maschinen über¬
troffen worden. Der jährliche Werth der Produktion ist von 2 Mill.
Rbl. 1854 auf 31,5 Mill. Rbl. 1873 gestiegen, er hat sich also fast ver-
sechszehnfacht, der des Importes im selben Zeitraum von 0,5 Mill. Rbl.
auf 25,5 Mill. Rbl., also mehr als verfünfzigfacht. Da die Anzahl
der in den Fabriken beschäftigten Arbeiter in bedeutend stärkerem
Maasse gewachsen ist, als die Anzahl der Fabriken, so deutet dieses
auf eine Vergrösserung des Betriebes der einzelnen Fabrik. Das
Verhältniss der wirklich verzollten Maschinen zu den zollpflichtigen
(nachdem Zolltarif vom Jahre 1868) hat sich bedeutend verändert,
im ersten Jahre nach der Inkrafttretung des Tarifs, d. h. 1869, waren
zollpflichtige Maschinen im Werthe von 17 Mill. Rbl. importirt wor¬
den und von diesen wurden Maschinen im Werthe von nur 4,9 Mill.
Rbl. wirklich verzollt, im Jahre 1874 dagegen von 17,5 Mill. Rbl.
15,8 Mill. Rbl.
Blatt VIII: GusseisenEisen - und Stahlproduktion . 1. Werth der
jährlichen Produktion: a) Gusseisen, b) Eisen, c) Stahl; 2. Werth
des Importes: a) Gusseisen, b) Eisen, c) Stahl; 3. davon zollfrei:
a) Eisen, b) Stahl; 4. davon wieder zollfrei auf Grundlage der den
Maschinenbauern gewährten Vergünstigungen: a) Gusseisen, b) Eisen;
Alles in Millionen Rubel.
Beim Import ist der Import von Schienen mit eingerechnet. Die
Verarbeitung von Eisen und die Gusseisenproduktion zeigt im An¬
fänge der Sechsziger Jahre ein starkes Zurückgehen, herbeigeführt
durch die Aufhebung der verpflichteten Bauernarbeit, und erst nach
9 Jahren wurde das Produktionsniveau wieder erreicht, doch ist die
Entwickelung dieser Produktionszweige noch immer keine bedeu¬
tende. Von der Stahlproduktion lohnt es sich kaum zu reden, denn
ihr Werth betrug 1854 keine 100,000 Rbl. und hatte 1873 noch
keine Million erreicht, er betrug nur 600,000 Rbl., dagegen hat der
Import von Stahl, welcher bis 1872 auch ganz unbedeutend war,
sein Werth betrug kaum 300,000 Rbl., in den beiden nächstfolgen¬
den Jahren enorm zugenommen, sein Werth betrug 1873 2,2 Mill.
Rbl. und 1874 6 Mill. Rbl., bedingt durch massenhaften Import von
Stahlschienen, von welchen jedoch mehr als die Hälfte zollfrei
Kubb. B*vue. Bd. IX. 24
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366
importirt worden ist. Der Zunahme des Stahl-Importes geht ein
Zurückgehen des Eisen-Importes parallel. Der Import an Gusseisen
bildet nur einen geringen Bruchtheil der einheimischen Produktion,
so betrug z. B. 1873 der Werth der Gusseisenproduktion 23,6 Milk
Rbl., der des Importes an Gusseisen nur 2,8 Mill. Rbl.; der Werth
des verarbeiteten Eisens, 15,5 Mill. Rbl., übersteigt dagegen den
Werth des importirten Eisens, 13,6 Mill. Rbl., nicht bedeutend.
Die nächstfolgenden vier Tafeln sind dem auswärtigen Handel
gewidmet. Ein fortlaufender Vergleich wird bei diesen Aufzeich¬
nungen so gut wie unmöglich gemacht, da die Werthberechnungen
für die exportirten wie importirten Waaren während der zwanzig
betrachteten Jahre nach verschiedenem Modus ausgeführt wurden.
Bis zum Jahre 1865 dienten die Deklarationen der Kaufleute als
Grundlage der Werthbestimmungen, 1865 wurden aber offizielle
unveränderliche Preise eingeführt, welche bis 1868 Bestand hatten,
in diesem Jahre wurden sie, in Folge des neuen Zolltarifs, revidirt,
und blieben so bis zum Jahre 1872, wo dann wieder die Deklaratio¬
nen der Kaufleute als Grundlage der Werthbestimmungen eingeführt
wurden, und diese so wenig rationelle Grundlage dient leider auch
noch jetzt zu allen Preisbestimmungen. Aus diesem Grunde und
zumal weil dieser Jahrgang der «Russ. Revue* bereits eine aus¬
führliche Besprechung der Handelsresultate in den beiden letzten
Jahren 1873 und 1874 gebracht hat, werden wir uns begnügen, nur
ganz kurz den Inhalt der vier auf den auswärtigen Handel bezüg¬
lichen Blätter anzugeben.
Blatt IX: Die Entwickelung des auswärtigen Handels . 1. Werth
des Waaren-Importes: a) im Ganzen, b) davon zollpflichtiger Waa¬
ren; vom gesammten Import kamen: c) aus Grossbritanien, d) aus
Deutschland; 2. Werth des Waaren-Exportes: a) im Ganzen, b) davon
gingen nach Grossbritanien, c) nach Deutschland; 3. mittleres Werth-
ergebniss zwischen Import und Export; 4. Werth des Importes an
Gold und Silber; 5. Werth des Exportes an Gold und Silber; 6. die
Zolleinnahmen; 1.— 5. in Zehnern Millionen, 6. in Millionen Rubel.
Blatt X: Vergleichende Uebersicht der wichtigsten Exportartikel .
1. Gesammtwerth des Exportes; davon kommen auf 2. Getreide,
3. Flachs und Flachsheede, 4. Lein- und andere Oelsaat, 5. Wald¬
produkte, 6. Hanf, Hanfgarn und Hanfheede, 7. Wolle, 8. Vieh,
9. Borsten und 10. Talg; 1. und 2. in Zehnern Millionen, 3.—10. in
Millionen RubeL
Blatt XI: Vergleichende Uebersicht der 'wichtigsten Importartikel .
1. Gesammtwerth des Importes (3); davon kommen auf: 2. Mineral¬
öl (8), 3. unverarbeitete unedle Metalle (7), 4. Steinkohle (5,4),
5. Salz (3,6), 6. verarbeitete Metalle (3,2), 7. Maschinen (3,2),
8. Baumwolle (ausser mittel-asiatischer) (3,2), 9. Tabak (2,7),
10. Thee (2,6), n. chemische Produkte, Farbholz und Farben (2,3),
12. Manufaktur-Produkte (aus Seide, Wolle, Baumwolle und Flachs)
(2,3), 13. Baumöl und andere Pflanzenöle (2), 14. Lebensmittel
(ausser den angeführten) und Getränke (1,7), 15. Kaffe (1,6), und
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3 67
i6. Zucker (1,5); 1. in Zehnern Millionen, 2.—16. in Millionen Rubel;
die eingeklammerten Zahlen zeigen an, um wie viele Mal sich der
Import der betreffenden Waaren # während der letzten zehn Jahre
verstärkt hat.
Blatt XI bis: Der Waaren-Exporl und Import , nach den Grenzen
und den wichtigsten Häfen des Reiches betrachtet. A. Ueber die euro¬
päische Grenze. 1. Werth des Exportes über die Landgrenze,
2. Werth des Importes über die Landgrenze; 3. Werth des Exportes
aus den Häfen des Weissen Meeres, 4. aus den Häfen des Baltischen
Meeres; 5. davon kommt: a) auf den St. Petersburger und Krön-
Städter, b) auf den Rigaischen Hafen; 6. Werth des Importes nach
den Häfen des Baltischen Meeres; 7. davon kommt: a) auf den
St. Petersburger und Kronstädter, b) auf den Rigaischen Hafen;
8. Werth des Exportes aus den Häfen des Schwarzen und Asow-
schen Meeres; 9. davon kommt auf den Odessaer Hafen; 10. Werth
des Importes nach den Häfen des Schwarzen und Asowschen Mee¬
res; 11. davon kommt auf den Odessaer Hafen. B. Ueber die asia¬
tische Grenze. 1. Werth des Exportes; 2. Werth des Importes.
Alles in Zehnern Millionen Rubel.
Die letzte Tafel, Blatt XII, enthält: Die vergleichende Entwickelung
der Hauptzweige der Industrie und des Handels , mit dem Nachweise
des Einflusses der Bauem-Reform im Jahre 1861. A. Auswärtiger
Handel, Mittlere zwischen Export und Import (2,3) in Zehner Millio¬
nen Rubel. B. Hauptzweige der Industrie in Millionen Rubel: 1. der
Baumwollenindustrie (1,7), 2. der Runkelrübenzucker-Fabrikation
(4.8) , 3. der Tuchfabrikation (1,8), 4. der Lederindustrie (2), 5. des
Maschinenbaues, der mechanischen Werkstätten und der Giessereien
(2.9) , 6. der Gusseisenproduktion und der Eisenverarbeitung (1,7),
7. der ungewalkten Wollzeugfabrikation (2,4), 8. der Flachsgarn¬
spinnereien und Leinwandindustrie (2,1), und 9. der Seidenspinne¬
reien und -Webereien (2,3). Die eingeklammerten Zahlen weisen
nach, um das wie viel Fache sich der jährliche Umsatz während des
letzten Jahrzehntes vergrössert hat.
Dieses Blatt hat nur einen sehr relativen Werth, indem der Ver¬
fasser dem Einflüsse der Bauernemanzipation ein viel zu grosses
Gewicht beilegt. Gewiss hat dieselbe einen grossen Einfluss auf die
Entwickelung unserer Industrie gehabt, welcher sich auch fühlbar in
dem Zurückgehen fast sämmtlicher Hauptzweige der Industrie gleich
nach dem Jahre 1861 und ihrem verstärkten Emporblühen, nach,
Verlauf einiger Jahre nach der Einführung der Bauern-Reform, kenn¬
zeichnet, bei alle dem ist dies aber gewiss doch nur ein Faktor, wenn
4uch ein wesentlicher, welcher auf die Entwickelung unserer In¬
dustrie und unseres Handels im letzten Jahrzehnt eingewirkt hat,,
denn bei Manchen Zweigen der Industrie hatte das Zurückgehen
auch schon vor der Bauernemanzipation begonnen, so z. B. bei den
Baumwollwebereien, der Gusseisenproduktion, bei manchen begann
andererseits die Zunahme bereits im Jahre 1862, so z. B. bei der
Tuchfabrikation,
*4*
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Bei aller Anerkennung der besprochenen verdienst- und mühe¬
vollen Arbeit, müssen wir jedoch auch auf einige Mängel derselben
aufmerksam machen —so ist die Korrektur sehr flüchtig besorgt wor¬
den, eines sinnstörenden Fehlers haben wir bereits bei der Be¬
sprechung der Zuckerfabrikation erwähnt, aber da fehlen noch an
manchen Stellen die Ueberschriften auf den, den Industriezweig be¬
zeichnenden Linien, so auf dem Blatte VII und VIII; auf Blatt V
sind die Jahreszahlen verdruckt, desgleichen auf mehreren Stellen
im Text. Ferner halten wir es für unzulässig, oder doch wenigstens
den Vergleich unmöglich machend, wenn auf ein und demselben
Blatte gleichartige Gegenstände mit verschiedenem Maassstabe ge¬
messen werden, so z. B. auf Blatt X beim Export, alle Zweige des¬
selben sind in Millionen Rubel ausgedrückt, bis auf den wichtigsten,
das Getreide, dessen Maassstab Zehner Millionen sind, hierdurch ist
der übersichtliche Vergleich der einzelnen Zweige unter einander,
wenn nicht ganz unmöglich gemacht, so doch äusserst erschwert;
dasselbe wiederholt sich auf Blatt XII mit dem auswärtigen Handel
und den einzelnen Industriezweigen. Die Uebersichtlichkeit hätte
noch mehr gewonnen, wenn die Carreaueintheilung auf allen Blättern
dieselbe gewesen wäre, so aber sind die meisten Blätter in 60 Car-
reaus der Höhe nach eingetheilt, dann aber manche nur in 40, 30
und 15. Endlich vermissen wir, dass der Verfasser nicht auch die
Zunahme der wichtigsten Exportartikel während der letzten zehn
Jahre auf der Tafel X in Zahlen ausgedrückt hat, wie er es doch für
die wichtigsten Importartikel auf der Tafel XI und für die Industrie¬
zweige auf Tafel XII gethan. A. S.
Johann Renner s Inländische Historien. Herausgegeben von Richard Hausmann und
Konstantin Hoehlbaum. Göttingen. 1876. 4 0 . 427 S.
Schon lange hat man das Erscheinen der Renner’schen Chronik
in Livland und wohl auch in weiteren Kreisen ersehnt; denn bereits
im März 1870 verlauteten die ersten Nachrichten über diese wich¬
tige, von Dr.G.Kohl entdeckte livländische Geschichtsquelle. Daran
schloss sich eine Reihe historischer Untersuchungen, welche theils an
den Namen des zweiten der Herausgeber, theils an den Stadtbiblio¬
thekar G. Berkholz in Riga geknüpft sind. Nach den verschieden¬
sten Richtungen regte die neuentdeckte Quelle Fleiss und Scharf¬
sinn der baltischen Historiker an; umfasste sie doch in ihrem älte¬
ren Theile die bisher nur dem Namen nach bekannte jüngere livlän¬
dische Reimchronik, während der zweite Theil eine den Chroniken
Russow’s und Henning’s gleichzeitige, im Wesentlichen selbststän¬
dige Darstellung der Geschicke Livlands von 1554—1582 versprach.
Ein Aufsatz in der «Russischen Revue, 1873, Heft II» aus Professor
Hausmann’s Feder, hat das Verdienst, die Ausgabe der Chronik er-
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möglicht zu haben, denn durch ihn angeregt gab Graf W.Broel Plater
die erforderlichen Mittel her; dass aber die Arbeit den rechten Hän¬
den anvertraut wurde, beweist die uns heute vorliegende Ausgabe.
Schon der erste Blick zeigt dem Kundigen, dass diese Arbeit sich
wesentlich zu ihrem Vortheil von den bisherigen baltischen Chronik¬
editionen unterscheidet. Es ist, um die Hauptsache kurz zu fassen,
die erste livländische Chronik im Monumentendruck; das dem Ver¬
fasser Eigenthümliche ist durch grösseren Druck von dem geschie¬
den, was er anderen Werken entlehnte, dabei sind am Rande die
Quellen bezeichnet, auf welche derText zurückzuführen ist, während
die, wie billig, kurz gehaltenen Anmerkungen einen zuverlässigen
sachlichen Commentar geben. Buch i—3 hat Dr. Höhlbaum bear¬
beitet und so sehr wir auch die Sorgfalt seiner bereits durch mehrere
Jahre sich ziehenden Rennerstudien anerkennen müssen, ruft doch
seine absprechende und sachlich nicht schlagende Polemik gegen
Berkholz unsernTadel hervor. Gerade diejenigen Punkte, auf welche
Hoehlbaum das meiste Gewicht zu legen scheint, mögen als Beleg
dienen.
* Renner benutzte bekanntlich als Quelle seiner Darstellung auch
die ältere livländische Reimchronik. Er gibt sie meist kürzer wie¬
der und ergänzt nur da, wo er aus dem Zusammenhänge glaubt
sichere Folgerungen ziehen zu dürfen. Nun kommt es mitunter vor,
dassRenner kurze Zusätze gibt, welche entweder auf ein Missverstehen
der Reimchronik oder auf anderweitige Quellen zurückgehen müssen.
Hoehlbaum glaubt diese Quelle inMarginalnoten zu erkennen, welche
sich an der von Renner benutzten Handschrift der Reimchronik be¬
funden hätten; Berkholz sucht die Erklärung in Missverständniss des
Textes. Genug, die Frage ist strittig und wir wollen sie hier nicht
entscheiden, nur verwahren wollen wir uns dagegen, dass sachlichen
Gründen mit einem oberflächlichen «verfehlt» oder «ungenügend
und gewaltsam» begegnet wird. Doch der Leser urtheile selbst.
Die ältere Reimchronik erzählt in ihren letzten Versen vom Kampf
des Ordens mit den Litthauern am Flusse Schenen. Wie die Heiden
in Kurland einfielen, unter Maseke, ihrem Könige, wie dann die Brü¬
der ihnen nachgejagt und es am Flusse zu blutigem Streit gekom¬
men, da, heisst es weiter
«Da hüben in der not
Ein bruder und drie dutschen tot.»
Wie gibt nun Renner diese Verse wieder? «Hir blef doth ein Or¬
densbrüder her Schure genomet und ein dutsch.» Woher hat hier
Renner den Namen Herr Schure? Hoehlbaum vermuthet am Rande
des von Renner benutzten Textes der Reimchronik habe zu v. 11943
die Glosse «Schenen», der Name des dort angeführten Flusses ge¬
standen. Der Glossator habe aber zu tief geschrieben, so dass seine
Notiz nicht bei Vers 11943, sondern bei v. 11959 zu stehen gekom¬
men sei. Dieses «Schenen» habe Renner dann, wie er bereits
v. 11881 gethan, zu Schuwen umgebildet, dabei sei die Erinnerung
an den Namen des ihm bekannten Comturs Ewert von Schuiren in
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370
ihm aufgestiegen und er habe getrost daraus «her Schure genomet»
gemacht. Dies Hoehlbaums wol allzuscharfsinnige Combination.
Berkholz nimmt dagegen an, die von Renner benutzte Handschrift
der Reimchronik habe ein Wort mehr enthalten und so gelautet:
• Da bliben in der not
Ein bruder schire und drie flutschen tot».
Er beruft sich dabei auf die Analogie von Vers 1303, wo schire
in gleichem Sinne gebraucht wird. Schire habe Renner für den Na¬
men gehalten und daraus Schure gemacht Aber was sagt Hoehl-
bäum dazu? «Die Erklärung von Berkholz ist ganz verfehlt: seine
Einschaltung in v. 11959 widerspricht dem Versbau der Reimchro¬
nik. » Doch wahrscheinlich weil durch Berkholzens Einschaltung ein
Vers von 10, resp. u Silben entsteht, wenn man drie zweisilbig
lesen will und die Reimchronik solche Verse nicht kennt? Zehnsil-
bige Verse sind aber durchaus nicht selten, z. B. v. 177, 345, 363,
364, 981, oder weiter zum Ende hin v. 9875, 9867, 9859, 9821, 9659;
9610; und auch elfsilbige Verse kommen vor, z. B. v. 8939, 9808,
9378, 9513. Wo bleiben nun Hoehlbaums Bedenken, und worauf
hin macht er einem so gewiegten Forscher und Kenner balti¬
scher Geschichte den Vorwurf, dass er ganz verfehlte Erklärun¬
gen gibt?
Ein zweiter Streitpunkt betrifft den Namen des Verfassers der In¬
ländischen Reimchronik. Der Name wird uns von Renner allein
überliefert, auf Grund dieser Stelle wird er von Hoehlbaum Hoeneke,
von Berkholz Hoeneken genannt. Die betreffende Stelle lautet
pag. 3: «ick» hebbe mit allem flite den antiquiteten und olden ge¬
schickten hir im lande vorgelopen nach geforschet, hebbe averst
nichts anders up spoeren noch erlangen können, dann alleine eine
Chroniken, so dorch einen prester, Bartholomeus Hoeneken genannt,
vor langen jaren ... rimeswise beschrewen. .. . Hierzu bemerkt nun
Hoehlbaum gegen Berkholz: «Hoeneken bei Renner pg. 3 ist nach
deutschem Gebrauch, ein von der Präposition «dorch« abhängiger
Akkusativ, vergl. pg. 359 oben: hertogen Magnus edder Tuven to
gude und besonders pg. 370 fingen Bartolomeus Tuven*. Man
staunt bei dieser Argumentation. Hoeneken hängt, wie der erste
Blick zeigt, nicht ab von der Präposition dorch, sondern von ge¬
nannt, ist also nicht Akkusativ, sondern Nominativ. Die weiter von
Hoehlbaum angeführten Beispiele sind erst recht ohne alle Beweis¬
kraft. Sie erhärten die wohl von Niemandem angestrittene Thatsache,
dass to gude den Dativ regiert und dass Dativ und Akkusativ von
Tuve, Tuven heissen. Also, soll die Autorität von Renner entschei¬
den, so heisst der Verfasser der Reimchronik Hoeneken und nicht
Hoeneke. Moritz Brandis kann als Ausschlaggebend nicht in Be¬
tracht kommen, eher schon wäre zu beachten, dass nach Schiller
und Lübben pag. 295 die niederdeutsche Form für Hühnchen honken
und nicht hönke lautet. Für die Entscheidung der Frage werden
die mir nicht zugänglichen Urkunden bei Sudendorf in Betracht
kommen, haben diese die Form Hoeneke so hat ein Zufall oder viel-
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mehr ein Irrthum Hoehlbaum auf die richtige Spur gebracht; nach
dem vorliegenden Material hat Berkholz unzweifelhaft Recht.
Und ähnlich steht es mit den übrigen Punkten der Polemik Hoehl-
baums. So z. B. wenn er nicht zugeben will, dass aus Funccius die
falsche Nachricht von der Aufsegelung Livlands^durch Bremer Kauf¬
leute stamme. Funccius sagt, Bremer seien es gewesen «sicut ex
circumstantiis colligitur*. Das, meint Hoehlbaum, gebe nicht der
Combination des Funccius Ausdruck, sondern gehe lediglich auf
seine Quellen. Ex circumstantiis kann aber nur «aus den Umstän¬
den«, nie «aus den Quellen» heissen, dafür wäre ex fontibus zu setzen
gewesen. Doch genug dieser Beispiele, sie erhärten zur Genüge,
dass Hoehlbaum Unrecht hatte, so leichthin über die Einwände eines
Forschers wie Berkholz sich hinwegzusetzen.
Der von Hoehlbaum bearbeitete Theil der Historien umfasst die •
ersten drei Bücher der Chronik und wir hatten bereits Gelegenheit
zu sagen, dass die Aufgabe befriedigend gelöst ist. Am interessan¬
testen ist in diesem Theile die vielbesprochene Reimchronik Hoene-
kens, deren Text von pg. 75— 97 reicht. Ein Werk von unschätz¬
barem Werth, dessen Auffindung in historischer und literarhistori¬
scher Beziehung von grosser Bedeutung wäre. Die Spuren der alten
Reime haben sich noch vielfach erhalten, eine völlige Wiederher¬
stellung ist abernicht möglich, da Renner, wie sich auch aus seiner Be-
nutzungder älterenReimchronikergibt, nur sehr im Auszuge, mit man¬
cherlei Aenderungen den Urtext wiedergibt. Die historische Aus¬
beute von Buch 3 und 4 ist sehr gering, nur der Schluss von Buch 4 ,
kann in den Partien über Plettenberg Beachtung beanspruchen.
Doch ist es nur zu billigen, dass auch diese Theile der Chronik, ge¬
druckt wurden, denn erst so erhalten wir von Renner’s politischer
Stellung und schriftstellerischer Befähigung ein klares Bild. Vom
4. Buch an hat Professor Hausmann die Edition besorgt, erst hier
finden wir Renner als selbstständigen Geschichtschreiber thätig.
Renner war nämlich vom Jahre 1556 bis etwa September (nicht bis
zum Spätherbst) 1560 in Livland und hatte in Diensten Bernt’s von
Schmerten, des damaligen Ordensvogtes in Jerwen Gelegenheit, nicht
nur durch eigenen Augenschein die Dinge in Livland kennen zu ler¬
nen, sondern auch durch seinen Herrn und durch seine notarielle
Stellung die diplomatische Korrespondenz derZeit einzusehen. Dieses
hat er denn in reichem Maasse gethan, und wie Hausmann nachge¬
wiesen hat, ist gerade dieser Theil der Chronik von ganz besonders
hervorragender Bedeutung. Hausmann hat nun in sehr sorgfältiger
und vollständiger Weise das Material zur Kritik Renner’s herbeige¬
bracht. Als eigenthümliches Verdienst dieser Edition muss hervor¬
gehoben werden, dass überall auch die russischen Quellen mit zuge¬
zogen sind, was früher in unseren baltischen Editionen nur ungern
vermisst wurde. Eine weitere Ergänzung hätte sich in den polnischen
Arbeiten über die Periode von 1556 — 1562 finden lassen. Zumal in
der Arbeit Karwowski’s: «wcielenie inflant do Litwy i Polski». Po¬
sen 1873. Da dieser die leider noch immer nicht genauer beschrie-
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37 2
benen «Acta Livonica» des gräflich Dzialinski’schen Archivs in
Körnik bei Posen, benutzt hat. So ist z. B. dort der pag. 148 ge¬
druckte Brief des Erzbischofs an Herzog Albrecht von Preussen er¬
halten, so wie überhaupt die Coadjutorfehde und der drohende pol-
nisch-livländische Krieg von dort her, aus den polnischen Quellen,
• erst ihre rechte Bedeutung erhalten durften. Ueber die historische
Ausbeute, welche wir aus diesem letzten Theilder Rennerischen Chronik
gewinnen, hat bereits vor drei Jahren Hausmann in dieser Zeitschrift
referirt, so dass wir auf diesen Aufsatz verweisen können. Nur auf
einige Partien sei es gestattet nochmals hinzuweisen.
Bekanntlich gehört die Beurtheilung des letzten Ordensmeisters,
Gotthard Kettler, zu den contraversen Fragen in der livländischen
Geschichtschreibung. Sein Verhalten Fürstenberg gegenüber und
sein schliesslicher Uebergang zu Polen sind hart beurtheilt worden.
Für die Entscheidung dieser Frage bringt Renner pag. 270 u. ff. un-
gemein wichtiges Material bei, in der gereizten Korrespondenz die in
Anlass der Gesandtschaft Kaiser Ferdinand’s an Iwan den Schreck¬
lichen zwischen Gotthard Kettler und dem alten Meister Fürstenberg
geführt wurde. Es wirft diese Korrespondenz zugleich neues Licht auf
das Verhalten des deutschen Reiches zu Livland. Fürstenberg sagt es
mit nackten Worten, der kaiserliche Gesandte habe ihm in höchstem
Vertrauen mitgetheilt, man sei misstrauisch gegen Kettler, seine
Händel liessen sich ansehen, als gehe er darauf aus, Livland dem
Reiche zu entziehen «und in voranderinge tho bringende, des man
den des ordes hoge beschweringe droege». Das Reich werde aus
diesem Grunde für Livland nichts thun. Schon sprächen Kettleris
Leute ganz offenkundig davon, er werde die Lande erblich machen!
Fürstenberg räth ihm diesen Leuten zu wehren und den Zusammen¬
hang mit dem Reiche nicht fallen zu lassen, wenn er nicht etwa
denke den Orden untergehen zu lassen. Dass Fürstenberg selbst an
verdächtige Verhandlungen Kettleris glaubte, geht aus dem Ant¬
wortschreiben hervor, welches ihm am 18. Februar 1560 im Aufträge
des Meisters und sämmtlicher Gebietiger überbracht wird. Kettler
hatte mit Abdankung gedroht, eineKomödie, welche er noch zweimal
(vergl. Renner pag. 296 und Salomon Henning 30 a.) vorführt, und
dadurch die Gebietiger bewogen in corpore für ihn gegen Fürsten¬
berg aufzutreten. Dieser erhielt aber trotz Allem seine Ansicht auf¬
recht, berief sich, als Kettler jene Aeusserung der kaiserlichen Ge¬
sandten in Frage stellte, auf einen Brief Kaiser Ferdinande und griff
das ganze System der Landesverteidigung, wie sie von Kettler ge-
handhabt wurde, an. Ein Einfall in Russland sei die einzige
Rettung für Livland. Der unerquickliche Streit ist äusserlich bei¬
gelegt worden, der ganze Verlauf desselben wirft aber einen
Schatten auf Kettleris Politik, von dem es schwer fallen dürfte, ihn
zu reinigen.
Auf die Wichtigkeit der urkundlichen Berichte in Renneris Chronik
hat Hausmann sowohl in der «Russ. Revue* als auch in der Vorrede
unseres Buches eingehend hingewiesen. Die Chronik behält ihren
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373
selbständigen und originellen Werth bis gegen Ende des 8.Buches,
welches mit der eingehenden Schilderung der Eroberung Fellins am
20. August 1560 einen würdigen Abschluss findet. Vom 9. Buch an be¬
ginnt die Benutzung der Russow’schen Chronik, und wenn auch hier
noch eine Reihe von ganz selbständigen Partien sich nachweisen
lässt, sinkt der inhaltliche Werth der Chronik doch von Seite zu
Seite. Wo er, Russow, durch eigene Nachrichten ergänzt, finden
sich häufig Irrthümer, so z. B. wenn pag. 350 Renner im Anschluss
an Russow erzählt, dass Polozk im Februar 1563 von den Russen in
Brand geschossen worden sei, gleich danach aber die Littauer ihnen
eine bedeutende Niederlage beigebracht hätten. Wie sich aus einem
Schreiben derlitthauischenSenatore nanKettler (Mitau,herzgl. Archiv
Gotthardiana 1.) ergibt, wurde Polozk von den Litthauern selbst,
zum Schutz der Burg eingeäschert. Auf die Eroberung der Stadt
aber tolgte zunächst ein Waffenstillstand und erst nach dessen Ab¬
lauf wurde jene, von Renner erwähnte Schlacht geschlagen.
Wir versagen uns das 9. Buch der Chronik bis zu seinem Ab¬
schluss, dem polnisch russischen Frieden von Zapolje zu verfolgen.
Renner hat in diesem Abschnitt vielfach gedruckte Zeitungen be¬
nutzt, die von Hausmann auf die Originale zurückgeführt sind, nur
in wenigen Fällen ist es ihm nicht gelungen, die vielleicht verlorenen
Flugblätter aufzufinden. Unter diesen Zeitungen findet sich auch
eine,welcheHausmann alsLügenzeitung nachweist. Sie berichtet aus¬
führlich über einen, mit Hülfe englischer Schiffe von Polen über
Russland errungenen Sieg. Das, gleich zu Anfang des Berichtes der
Zeitung, genannte Städtchen Billawen wird wol durch Pillau zu er¬
klären sein und der Verfasser der Zeitung scheint für seine Erdich¬
tung einige Momente der damals allbekannten Belagerung Danzigs
durch Stephan Bathori entnommen zu haben. — Die Anführung
einiger interessanter Einzelheiten mag den Schluss dieser vielleicht
zu langen Anzeige machen. Renner erzählt pag. 9 und 15 ausführ¬
lich die Sage über die Entstehung der kurischen Könige und fügt
daran die interessante Notiz, dass sie dem Heerraeister mit eigener
Fahne in den Krieg gefolgt seien und als Wappen einen Löwen ge¬
führt hätten. Höchst eigenthümlich sind pag. 131 und 134 die Nach¬
richten Renner’s über den Meister Walter von Plettenberg, beson¬
ders über eine grosse Niederlage, die er den Russen beigebracht,
welche aber, wie der Herausgeber treffend bemerkt, nicht mit der von
Nyenstede aufgebrachten, sagenhaften Schlacht bei Maholm zu ver¬
wechseln ist. Es ist ein Stück lebendiger Volksüberlieferung und
wahrhaft dramatisch wird uns die Unterredung Plettenberg’s mit
seinem Marschall und die des Grossfürsten mit seinem Boten wieder¬
gegeben. Man könnte geneigt sein hier die Spuren eines alten Ge¬
sanges über Plettenberg wiederzufinden. An anderer Stelle, pag. 234
hat uns Renner wenigstens in den Anfangszeilen zwei verlorene
livländische Lieder erhalten. Das eine beginnt:
«De adel kumpt van dogeden her,
Dat toget uns an der Römer ehr.»
*
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374
und das andere:
«De Liflendischen eddelluide togen uth,
Se hedden wedder loth oft kruth» etc.
Fassen wir unser Urtheil über die vorliegende Ausgabe Renner’s
kurz zusammen, so können wir den Fleiss der Herausgeber und den
'wissenschaftlichen Werth der Chronik nicht hoch genug anschlagen.
Es ist ein Buch, das jedem, der sich mit baltischer Geschichte be¬
schäftigt, unentbehrlich sein wird.
Dr. Theodor Schiemann.
Heyne Russischer Zeitschriften.
«Das alte Russland» (Russkaja Starina — PyccKaa GrapHHa)
herausgegeben und redigirt von M. J. Ssemewskij. Siebenter Jahrgang. Heft IX.
September. Inhalt:
Die Unterhaltung der Kaiserin Katharina II. mit Dahl. 1772—1777. Von P. P. von
Götz. — Katharina II. und Fürst Potemkin. Original-Korrespondenz. 1788 —1789. —
Fürst Platon Alexandrowitsch Suboff. Biographischer Abriss. 1768—1822. Artikel III.
— Die Haupthelfer Pugatschew’s 1773—1774 — G. A. Glinka, Lehrer der Gross-
fdrsten Nikolai Pawlowitsch uud Michail Pawlowitsch in den Jahren 1816 —1818. Von
B. G. Glinka-Mawrin. — A. L. Witberg, Erbauer des Erlösertempels. Seine Auto¬
biographie 1824—1834. Tagebuch J. S. Shirkewitsch's 1795—1848. Von S. D. Kar -
pozu . — Der Krieg Russlands mit der Türkei in den Jahren 1853 ' *854. — Blätter
aus dem Notizbuche der «Russkaja Starina». — Bibliographische Mitteilungen über
neue russische Bücher (auf dem Umschläge).
Der «europäische Bote» (Westnik Jewropy — BtcTHEKT» Esponu).
XL Jahrgang. 1876. September. Inhalt:
Die türkische Civilisation, ihre Schulen, Sofias, Bibliotheken und Literatur Aus
einer Reise nach Konstantinopel im Sommer 1875. Schluss. Von IV. Smimoff . —
In den vierziger Jahren. Novelle. Von M. A-miejeff. — Zwischen Robespierre und den
Bonapartisten. (Histoire du XIX. siede, par J. Michelet. I—DI.) Erster Artikel. Das
erste Auftreten der Reaktion. I—VII. Von A . Gradowsktj . — Die russischen Universi¬
täten in Verbindung mit dem Gange der wissenschaftlichen Bildung. I—III. Von W.
Ikonnikow. — Unterwegs. Gedicht. Von A-o. — Die Trinkfrage und die Angelegen¬
heit der Branntweinbuden in Russland. Schluss. Von A. E. — Der Fürstenbund und
die deutsche Politik. Katharina TL Friedrich Wilhelm II. Joseph II. 1780-1786.
XVm. Die Verkündigung des Fürstenbundes. XIX. Die ersten verbündeten Fürsten.
XX. Die ersten Erfolge des Fürstenbundes. Von A. S. Tratscheivskij . — Die älteste
Zeit der russischen Literatur und Bildung. IV. Vpn A, N. Pypin . — Meine «Geschichte
Russlands» vor dem Gericht der Kritik im «Russky Westnik». Brief an die Redaktion
von Nikolai Kostcmarow . — Rundschau im Inlande. — Rundschau im Auslande. —
Korrespondenz aus London. — Pariser Briefe. — Aus der Redaktion. — Biblio¬
graphische Blätter.
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375
«Russisches Archiv» (Russkij Archiv — PyccKifi ApxHBi») heraus-
gegeben von Peter Bartenjew. XIV. Jahrgang. 1876, Heft 9. Inhalt:
Graf Alexei Grigoije witsch Bobrinskij und seine Papiere. — Auszüge aus einem alten
Tagebuche begonnen im Jahre 1813. — Nachrichten aus Russland nach England.
Briefe des Grafen Th. W. Rostoptschin an den Grafen S. R. Woronzofif. - Zu den
Serben. Die Sendung aus Moskau. Von A. S. ChomjakofT. — Eine Schmarre auf
dem Kopfe eines russischen Artisten.
♦Journal für Civil- und Kriminalrecht* (Journal grashdanskawo i
ugolownawo Prawa—JKypHajn> rpaauaHCitaro h ymaoBHaro npaßa).
VI. Jahrgang. 1876. Juli—August. Inhalt:
Gesetze und Verordnungen der Regierung. — Ueber den Besitz nach römischem
Recht- Anlässlich des Werkes von Jhering «lieber den Grund des Besitzschutzes. Jena
1869. Von S . Muromzew. — Die Reform des Kassations-Gerichts und die Kassations¬
verhandlung. Von K. Arsenjeiv, — Die Kassations-Praxis nach den Fragen der bür¬
gerlichen Gerichtsordnung für das Jahr 1872. Von P. Mullow. — Die Organisation
der Arrestantenarbeiten. Von E. Andrejnu . — Das litthauische Statut als Quelle des
Provinzialrechts der Gouvernements Tschernigow und Poltawa, —Juristische Chronik.
• Militär-Archiv* (Wojennij Ssbornik — BoeHHbift CöopHHK’b). —
Neunzehnter Jahrgang. 1876 August. Inhalt:
Strategische Uebersicht der militärischen Operationen des Jahres 1870 bis incl. der
Kapitulation von Sedan. Schluss. Von N. Schemschin — Abriss der Geschichte der
Infanterie. II. Von A. Pusyrauskij . — Ueber die Bedeutung des Feuers im Gefecht.
Von General Adjutant Todtleben . — Skizzen über die Armee. IV. Von M. Drago-
tnirow . — Einige Worte über das Schiessen unserer Infanterie. Von G. P. — Neue
Bemerkungen über die deutsche Armee. II. Von Oberst Baron von Kaulbars, — Bemer¬
kungen über die Pferderacen der europäischen und asiatischen Türkei. Von A. Tschai -
kowskij. — Skizzen aus einer Steppenreise. Von W. Patto. — Bibliographie. —
Militär-Umschau in Russland. — Militär-Umschau im Auslande.
— — September. Inhalt:
Die Thätigkeit der zusammengesetzten Division des General-Adjutanten Panjutin zur
Zeit des ungarischen Krieges im Jahre 1849. (Mit einer Karte und einem Plan.) Von
J. O, — Abriss der Geschichte der Infanterie. III. Von A. Pusyrcwskij . — Die gegen¬
wärtigen Grundlagen der Organisation und Taktik der Kavallerie. Von N. S . — Ueber
Sapeur-Arbeiten im Felde. Von M. S. — Neue Bemerkungen über die deutsche
Armee. III. Von Oberst Baron von Kaulbars . — Die russische gelehrte Handels-
Expedition nach China in den Jahren 1874—75. (Mit einer Karte des nördlichen
China.) Von J. Sosnowskij . — Erinnerungen an den Kaukasus. I. Vom Fürsten
J. Schachowskoi. - Bibliographie. — Militär-Umschau in Russland. — Militär Umschau
im Auslande.
-Oktober. Inhalt
Der französisch-deutsche Krieg in den Jahren 1870 — 1871. Die Operationen bei
Sedan. (Mit zwei Karten ) I. Von L. Baikow . — Abriss der Geschichte der Infan¬
terie. IV. Von A. Pusyreivskij. — Neue Bemerkungen über die deutsche Armee. IV.
Von Oberst Baron von Kaulbars . — Beitrag zu den Kavallerie Uebungsreisen. Von
Verdy du Vernois. (Mit einer Karte ) Uebersetzt aus dem Deutschen. Von Oberst -
licutenant Koslow . — Einige Worte über das Offiziersgepäck. Von General-Lieutenant
Heimann. — Das Lager und seine hygieinischen Bedingungen. I. Von A . Dobroslawin .
— Die russische gelehrte Handels-Expedition nach China in den Jahren 1874—75. H.
Von y . Sosnowskij. — Erinnerungen an den Kaukasus. Schluss. Vom Fürsten
Schachowskoi . — Bibliographie. — Militär-Umschau in Russland. — Militär-Umschau
im Auslande.
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376
Russische Bibliographie.
Prshewalskij, N. Die Mongolei und das Land der Tanguten. Drei¬
jährige Reise im östlichen Asien. II. Bd. St. Petersb. 8°. 29+114
+ IV + 176 + 55 + 36 + IV + 11 S. u. 25 Abbild. (RpmeBajibCKiH, H.
MoHrojiia h CTpaHa TaHryroBT>. TpexjrkrHoe nyTemecTBie bt> bo-
cto'ihoä HaropHoft Aain. T. II. Cn6.)
Nachrichten der Kaiserl. Russ. Archäologischen Gesellschaft. VIII.
Band. 4. Lfg. 4 0 . 274 + 442. S. und 10 Bl. Abbild. (MaB'fecTia H.
PyccKaro ApxeoJiorimecKaro OömecTBa. T. VIII. Bun. IV.)
P&chmann, S. W. Geschichte der Kodifikation des Civilrechts. 2 Bde.
St. Petersb. 8°. II + III + 472 4 485 S. (flaxaaHV C. B. Mcropi*
KOÄH«>HKaitiH rpa^cAaHCKaro npaßa. 2 To&ia. Cn6.)
Sokolow, S. J. Vollständige Sammlung der Verordnungen des
Kassations-Departements im Senat in Sachen der Uebertretung des
Getränk-, Tabaks- und Salz-Steuer-Reglements und über das Ge¬
richtsverfahren der Kronsverwaltung. Fortsetzung. Moskau. 8°. VIII
+ 115 S. (CoKOAOB'b) C. M. IIojiHbift cöopHHK'b p'fcineHiü KaccauioH-
Hbixi> AenapTaMeHTOBT> CeHaTa no xhjia.M'h o HapyineHin aKi*H 3 HbixT>
ycTaBOBT»; nnTeöHaro, TaöaHHaro h cojiHHaro h no cyaonpoH 3 Boa-
CTBy Ka3eHHbixi> ynpanjiemft. IIpo^ojiMceHie. MocKBa.)
Verordnung über das Civil-Gerichtsverfahren des Warschauer
Bezirksgerichts, in alphabetischer Reihenfolge erklärt von Joseph
Karpinskij. Warschau. 12 0 . 932 S. (YcTaBT» rpaxcAaHcxaro cyao-
npoH 3 BOACTBa äjih BapmaBCKäro cy^eöHaro oKpyra, aji<i>aBHTHbiMi>
nop£AKOMi> ii3Jio>KeHHbiß Ioch^omi KapnHHCHMrb. Bapmaßa.)
Brückner, A. Die Familie Braunschweig in Russland im achtzehnten
Jahrhundert. St. Petersb. 8°. 148 S.
Kaufmann, Hilaire. Statistique des etablissements de credit de Russie
de 1860 ä 1872. St. Petersb.
Köppen, Fr. Th. De la destfuction des Sauterelles dans le midi de
la Russie. Exposition internationale et congres d’hygiene et de
sauvetage de Bruxelles en 1876. Section Russe. St. Petersb.
Lilienfeld, P. Sammlung der Gesetze und Verordnungen über Ad¬
ministration und Polizei der Landgemeinden im Kurländiscben Gou¬
vernement. Mitau.
Schrenk, Z. Reisen und Forschungen im Amur-Lande in den Jahren
1854—1856. Band IV. Erste Lieferung. Meteorologische Beobach¬
tung im Amur-Lande und Resultate aus denselben. St. Petersb. 4 0 .
11+372 S.
Verhandlungen der gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat.
8. Band. 3. Heft. Dorpat. 8°. 92 + IV S.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Carl Röttger.
Jo3BOJieHo ueHaypoio. C.-rieTep6ypn>, 12-ro Okth6p« 1876 roaa
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Die Hausindustrie in Russland.
Von
C. Gruenwaldt.
Zieht man von der östlichen Grenze des Königreichs Polen, un
gefähr von Wladimir-Wolhynsk, nach Nordosten durch die nörd¬
lichen Theile der Gouvernements Wolhynien und Tschernigow
durch die Mitte der Gouvernements Orel und Tula, durch die süd¬
lichen Gebiete von Rjasan und Nishnij-Nowgorod, durch die nörd
liehen Strecken der Gouvernements Ssimbirsk und Kasan, und end¬
lich durch die südlichen Striche der Gouvernements Wjatka und
Perm eine Linie bis zum Uralischen Bergrücken, so schliesst alles
das, was nördlich von dieser Linie liegt, ein Gebiet in sich, welches
im Allgemeinen der Bevölkerung keine Möglichkeit gewährt, aus¬
schliesslich vom Ertrage der Landwirtschaft zu leben. Deshalb
hat auch die Hausindustrie in diesem Gebiete ihre eigentliche Ent¬
wickelung gefunden. Denn als Mittelpunkt derselben muss das so¬
genannte centrale Industrie-Gebiet gelten, welches die Gouverne¬
ments Moskau, Wladimir, Jaroslaw, Twer, Kaluga, Tula, Kostroma,
Nishnij-Nowgorod und Rjasan umfasst. Von diesem Centrum geht
die Hausindustrie mit grosser Intensivität nach Osten, also durch
die Gouvernements Wologda, Wjatka, Perm, mit geringerer nach
Norden und mit äusserst schwacher nach Süden und Westen.
Ueber diese so weit ausgedehnte Hausindustrie hatte man bis zum
Jahre 1850 nur fragmentarische Nachrichten, welche sich besonders
in den Gouvernements-Zeitungen angesammelt hatten. Erst in dem
genannten Jahre wurde der erste Schritt zu einem systematischen
Studium dieser Industrieform gemacht. Das Ministerium der Reichs¬
domänen beauftragte nämlich die besonderen Kommissionen, welche
die Aufgabe hatten, eine gleichmässige Vertheilung der von den
Reichsbauern erhobenen Steuern anzubahnen, Erhebungen anzu¬
stellen über die Ausdehnung der ländlichen Industrie. Die Kom¬
missionen beschränkten ihre Arbeiten auf nur 11 Gouvernements
Buss. Rovue Bd. IX. 2 5
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378
und veröffentlichten die Resultate ihrer Forschungen unter dem
Titel «Materialien zur Statistik Russlands» l Da aber diese Mate¬
rialien nicht vollständig waren und auch keinen Einblick in die Be¬
sonderheiten der Hausindustrie gewährten, so kommandiite wenige
Jahre später das Kriegsministerium einige Generalstabsoffiziere zur
Erforschung dieser Industrieform ab, ohne leiderein für alle gemein¬
sam gültiges Programm aufzustellen. Hierdurch geschah es, dass
diese- Arbeiten, welche dem Urtheil jedes einzelnen der Offiziere
überlassen waren, zu einem umfassenden Spezialwerke wenig siche¬
res Material bieten konnten Nichtsdestoweniger versuchte im Jahre
1861 Hr. A. Korssak die Lösung dieser Aufgabe. Sein Werk «lieber
die Formen der Industrie überhaupt und über die Bedeutung der
Hausindustrie in West-Europa und in Russland» 2 ist als ein durch¬
aus gelungenes und bis jetzt nicht übertroffenes zu bezeichnen; er
ist der Erste, der in Russland die Frage von der Hausindustrie auf
einen wissenschaftlichen Boden stellte und die Bedeutung genauer
definirte, welche diese Industrie für Russland in der Reihe der ande¬
ren Industrieformen besitzt. Trotzdem konnte aber die Mangel¬
haftigkeit des über diese Frage vorhandenen statistischen Materials
nicht weggeläugnet werden. Deshalb begann im Jahre 1870 das
Central-statistische Komite die nöthigen Daten zu sammeln und zu
veröffentlichen, indem es die ihm von den statistischen Komites der
einzelnen Gouvernements übermittelten Daten erscheinen Hess. Im
Jahre 1872 publizirte das Komite unter Redaktion des Hrn. L. Mai-
kow den ersten Band dieser Arbeiten, welche 17 Gouvernements
umfassen. Es bleibt jedoch zu bedauern, dass diese Arbeiten, bei
aller ihrer Vorzüglichkeit, an denselben Fehlern leiden, wie die be¬
reits erwähnten des Kriegsministeriums. Darauf erschien denn im
Jahre 1874 eine von der Kaiserlich-russischen-geographischen Ge¬
sellschaft veröffentlichte «Sammlung von Materialien über die Haus¬
industrie in Russland» 8 . Dieses von den Herren Fürst A. Me-
schtscherski und K. Modsalewski bearbeitete Werk ist in seiner Art
durchaus vollständig. Es hat das ganze Russland in den Kreis sei¬
ner Forschung gezogen und auf diese Weise das ausgeführt, was es
sollte: es hat ein deutliches Bild von der räumlichen , von der geo-
1 M&TepiaJiM ajim Ct aTH cthkh Poccia. H34. Mhh. Toc. Haym.
* A. Kopcain»: O «*>op*ax-b npoMbimJieHHOCTH aooöme m o aHaneHia Aoxaimixro npo-
H3B04CTi»a B*b 3anaAHOft EBpoirfc a Poccia.
• Kh. Memepcicifi a K# MoAaaAeBCKift: Cboat» MaTepiajioBi» no aycrrapHoft npoau-
nuieHHOCTU bi» Poccia.
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379
graphischen Ausdehnung der russischen Hausindustrie gegeben. Die
Hinweise auf das bereits erschienene Material sind meist genügend,
und wo vielleicht eine kleine Lücke nachgeblieben ist, da wird die¬
selbe leicht nach dem «Bibliographischen Anzeiger» vervollständigt
werden können, welcher der «Sammlung von Materialien über die
Artele in Russland» beigegeben ist.
Aus diesem kurzen Abriss der Geschichte der Literatur dieser
Frage ersieht man, dass dieselbe, trotz bedeutender Sammelwerke
und vieler Zeitungs- und Journal-Artikel und Monographieen, noch
immer nicht erschöpft ist. Es ist sehr viel spezialisirt, sehr wenig
aber generalisirt worden. Das letztere ist ein ganz besonderes Ver¬
dienst des Hrn. W. Weschnjakow, Direktors des Departements des
Ackerbaues und der ländlichen Industrie im Ministerium der Reichs¬
domänen. Seine, zur Zeit der Wiener Weltausstellung erschienene
Broschüre: «Notice sur l’etat actuel de l’industrie domestique en
Russie» ist der erste Versuch, Alles auf die Hausindustrie Bezüg¬
liche zu einem Ganzen zu vereinigen und auf diese Weise eine genaue
Skizze dieser Industrieart zu schaffen.
Nach dieser Arbeit von Hrn. Weschnjakow ist, wie bereits Kor-
ssak feststellt und wie wir schon früher ausführten \ die Hausindustrie
in Russland uralt. Freilich waren die Produkte derselben anfänglich
nicht mannigfaltig und befriedigten nur das nothwendigste Bedürf-
niss. Aber nichtsdestoweniger wurden sie in so grosser Menge
fabrizirt, dass sie, wie z. B. Leinewand, Tuch, Leder, schon im
XVII. Jahrhundert Gegenstände des Exporthandels wurden *. Im
Laufe der Zeit jedoch mussten sich, nachdem erst gegen Ende des
XVII. Jahrhunderts grössere Kolonisation Platz gegriffen und die
fortwährenden Wanderungen der Bauern aufgehört hatten, die ein¬
zelnen Zweige der Hausindustrie vervielfältigen. Der Bauer, welcher
sich an eine bestimmte Scholle gebunden hatte, gab sich denn auch
besonders derjenigen Produktion hin, welche durch diese Scholle
begünstigt wurde. So war an einzelnen Orten der Anbau von Flachs
eine Spezialbeschäftigung der Landleute; es versteht sich von selbst^
dass an diesen Orten auch, wie z. B, in der Umgegend von Jaroslaw,
Waldai und Kargopol die Produktion von Leinewand ihre Höhe
4 cf. «Russ. Revue» pag, 340 u. ff.
9 Kilburger in «Büsching’s Magazin für Historie und Geographie». Vergl. auch
H. Storch: «Historisch-statistische Gemälde des russischen Reiches» 1799, III, p. 203.
Kilburger führt an, dass um 1674 allein aus Archangel mehr als 30,000 Arschin Leine¬
wand und 168,000 Arschin Tuch exportirt wurden.
25*
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38 o
erreichte. Nicht immer aber hing die Auswahl dieses oder jenes
Industriezweiges von dem Rohmaterial ab, welches gerade die Erde
dem Bauern bot. Oft wurden solche Zweige durch das Bedürfniss
des Marktes oder den blossen Zufall hervorgerufen K So gingen
von den schwedischen Gefangenen, deren es in Sibirien im Jahre
1714 mehr als 9000 gab, die Kenntnisse verschiedener Handwerke
auf die dortigen Bauern über und schufen Handwerke, welche noch
heute blühen. So vererbte sich die Kunst der aus dem alten Now¬
gorod ausgewanderten italienischen Silberarbeiter auf die Bauern
der Bezirke, in welchen sie lange Jahre nachher lebten, und noch
jetzt sind die Silberarbeiten von Ustjug und Wologda vom Volke
gesucht und geschätzt. So verbreitete sich, als im Jahre 1812 mehr
als 600 grosse und kleine Fabriken in Moskau zerstört wurden, gar
mancher neue Industriezweig durch die brodios gewordenen Fabrik¬
arbeiter in die verschiedenen Gouvernements und Bezirke, um bald
eines der Haupterwerbsmittel der Bevölkerung zu werden.
Obgleich nun die einzelnen Zweige der Hausindustrie zu ganz ver¬
schiedenen Zeiten, an ganz verschiedenen Orten, aus ganz verschie¬
denen Gründen heimisch wurden, so ist ihre Organisation dennoch
nicht immer eine verschiedene. Es machen sich nämlich stets ge¬
wisse Prinzipien geltend, welche, trotz grösserer oder kleinerer Va^
riationen, die Aufrechterhaltung des Charakters der Hausindustrie
wahren.
Wie bekannt, basirt die Hausindustrie ursprünglich auf der Arbeit
sämmtlicher Familienglieder. Sie ist somit durch die Familie be¬
dingt 2 . Ein bestimmtes Gewerbe geht vom Vater auf den Sohn
über und vererbt sich so von Geschlecht zu Geschlecht. In dieser
Weise lebt z. B. wie die Uhrenindustrie in der Schweiz, auch die
1 Schnitzler: «L’cmpire des Tsars», IV, pag. 333.
* Hiernach hat sie auch hei den meisten Völkern ihren Namen erhalten, z. B.
Hausindustrie, industrie domestique, domestic industry etc. Nur die russische Bezeich¬
nung macht eine Ausnahme: das Wort kustamaja promyschlennost (nycTapHa« npoubi-
lü.ieHHOCTb) drückt durchaus keine Beziehung zum Hause aus und ist nur schwer
wörtlich zu übersetzen. Kustamik heisst Gesträuch, Gebüsch; soll das hiervon abge¬
leitete Wort etwa sagen, dass ein Kustar derjenige ist, welcher aus dem Gesträuch
etwas Werthvolles zu schaffen versteht? Prof. Petrowski in Kasan theilte mir freund-
lichst seine Hypothese mit, wonach dieses Wort vielleicht ein'importirtes ist und dem
Deutschen, ähnlich wie Artel, entstammt. Es wäre dann Kustar = Kunstarbeit, resp.
Arbeiter, also kustarnaja promyschlennost diejenige Industrie, welche etwas Künst¬
liches, Merkwürdiges zu schaffen versteht. Es bleibt zu bedauern, dass die russische
Philologie hierüber keine wirklich zutreffende Antwort gibt.
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Produktion von Sensen im Gouvernement Wladimir fort. In einem
solchen Falle ist also von dem Wirth, dem Meister, d. h. dem Fa¬
milienoberhaupt für den einzelnen Arbeiter keine besondere Grati¬
fikation bestimmt. Der Reinertrag gehört dem Vater und dafür
übernimmt er die Verpflichtung, die Familie zu ernähren, zu kleiden,
für sie die Abgaben zu zahlen u. s. w. Nun kommt es aber vor, dass
nach vielen Artikeln, wie z. B. in der Schmiede, Weber- und
Kürschnerbranche, die Nachfrage eine so grosse ist, dass die in der
Familie vorhandenen Arbeitskräfte nicht mehr genügen. In diesem
Falle sind verschiedene Auswege möglich: entweder der Familien¬
vater nimmt sich Lehrlinge, von welchen er dann noch eine kleine
Vergütung erhält, oder er miethet sich Arbeiter, welche eine wöchent¬
liche, monatliche oder jährliche Gage erhalten oder seine gleich¬
berechtigten Artelgenossen werden. Die beiden ersteren Möglich¬
keiten sind die gewöhnlicheren und alteriren sie das Wesen der
Hausindustrie nur um ein Geringes 1 . Die letztere dagegen bildet
sie vollständig zu einer artelartig auftretenden Industrieform um 2 .
Ebenso verhält cs sich mit der Zeit, während welcher die Haus¬
industrie prinzipiell in Aktivität zu sein hat. Als Grundsatz gilt be¬
kanntlich hier die Regel: die Familie beschäftigt sich erst dann mit
den verschiedenen Gewerben, wenn ihre Feldarbeiten absolvirt sind.
Im Durchschnitt bliebe demnach hierfür ein Zeitraum von vier bis
sechs Monaten frei. Wenn sich aber nun Dörfer finden, in welchen,
wie z. B. bei den Leinwebern des Gouvernements Jaroslaw, 7 bis 8
Gewerbe getrieben werden, so influirt das im Ganzen nicht stark auf
das Wesen der Hausindustrie. Denn einerseits nimmt der Feldbau
in all den Gouvernements, wo über das Durchschnittsmaass hinaus
gearbeitet wird, viel weniger Zeit in Anspruch, als in den in land¬
wirtschaftlicher Beziehung höher stehenden Gebieten, andererseits
1 Wäre in Russland die Gesindewirthscbaft heimisch, so würde der Umstand, dass
das Gesinde an den Arbeiten der Hausindustrie Theil nimmt, durchaus nicht gegen
das Prinzip verstossen. Denn das Gesinde ist mehr ein integrirender ßestandtheil der
Familie, als der nur auf kurze Zeit gemiethete Arbeiter.
8 Fr. Matthaei: «Die Industrie Russlands». I, pag. 40, nimmt fälschlich an, dass die
genossenschaftliche Industrie eine Kategorie der ländlichen Industrie ist. Wir glauben
es schon (cf. «Russ. Revue» ßd. IV, pag. 341 u. ff.) deutlich nachgewiesen zu haben,
dass die genossenschaftliche Industrie unbedingt nur eine Stufe in der genetischen
Entwickelung der russischen Industrie überhaupt ist. Hält man diesen Standpunkt
nicht fest, so wird die Geschichte der russischen Industrie nichts weiter sein, als eine
lose Zusammenreihung von Abnormitäten, wie sie sich sonst in keinem anderen Theile
von Europa finden.
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muss berücksichtigt werden, dass auch in diesen Fällen nicht alle
Arbeitskräfte von der Hausindustrie absorbirt werden. So gibt es
z. B. im Gouvernement Moskau Dörfer, in welchen gewöhnlich das
älteste Familienglied jeder Bauernfamilie das Feld bestellt, während
die anderen von der Hausindustrie in Anspruch genommen werden
und nur für die Erntemonate, also für die Monate Juli und August,
jenem zu Hülfe kommen können. Freilich liegt hier die Gefahr
nahe, dass dadurch ein allmäliger Uebergang von der Hausindustrie
zu den höheren Gewerbeformen angebahnt wird, dass dadurch der
Bauer nach und nach in die Klasse der Gewerbetreibenden hinüber¬
geleitet wird; als lebendes Beispiel könnte das Dorf Iwanowo (Gouv.
Moskau) genannt werden. Aber da solche Erscheinungen bislang
vereinzelt geblieben sind und bei dem heutigen Stande der Haus¬
industrie nicht wohl an Verallgemeinerungen denken lassen 1 , so
kann von einer wirklichen Gefahr gerade nicht gesprochen werden.
Deshalb darf die oben angeführte Regel wohl als meistentheils gel¬
tend betrachtet werden. Demgemäss beginnen die Arbeiten der
Hausindustrie fast überall im Oktober, nach Beendigung der Feld¬
arbeiten, und werden, je nach der örtlichen Gewohnheit, um Ostern
oder gegen Mitte Mai hin eingestellt.
Als ferneres konservatives und zugleich charakteristisches Moment
der Organisation der Hausindustrie ist die Freiheit der Arbeit anzu¬
sehen. Wäre die ländliche Industrie in derselben Art geregelt, den¬
selben oder ähnlichen Gesetzen und Gewerbeordnungen unterworfen,
wie die städtische, so würde sie entschieden nicht mehr das sein,
was sie sein soll. Eine Hausindustrie, welche ihrem innersten Wesen
nach nur Nebenbeschäftigung des Landmannes sein darf, vertrüge
eine solche Reglementation und enge Begrenzung noch viel weniger,
als jede andere Industrieform. Und abgesehen hiervon, müsste auch
sowohl der fiskalische, als der sonstige Nutzen ein sehr geringer
sein. Zur Zeit der Leibeigenschaft war die Hausindustrie zur Un¬
freiheit verurtheilt. Die Früchte, welche diese Jahrhunderte lange
Stagnation getragen, sind heute noch fühlbar und haben die länd¬
liche Industrie in jene schiefe Stellung gebracht, aus welcher sie
1 Die meisten Produkte unserer heutigen Hausindustrie sind genau der Art, wie sie
vorjahrzehnten waren. Wenn jene Verallgemeinerung Platz haben sollte, so wäre vor
allen Dingen ein rascherer Fortschritt nöthig. Diejenigen Hauern, welche, wie z. B. die
bekannten Tuchfabrikanten Ganeschin in Moskau, diesem Grundgesetz sich zu fügen
verstanden, sind denn auch schnell in die höhere Industrieform übergegangen, um bald
nachher selbständige Fabrikanten zu werden.
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heraus zu heben sich die Ministerien der Finanzen und der Reichs-
domänen zur Aufgabe gemacht haben. Denn nach der Aufhebung
der Leibeigenschaft musste sich bei uns die Erscheinung wieder¬
holen, welche für West-Europa vielfach so verhängnissvoll wurde:
der Bauer, welchem die Arbeit frei gegeben war, blieb durch seine
Armuth gebunden, beschränkt durch seine Mittel und konnte trotz
des Gnadenaktes nicht weiter. Doch erkannte die Regierung bald
die Nothwendigkeit der Abhülfe und ist bemüht, den Uebelständen
ein Ende zu bereiten. Sowohl beim Finanz-Ministerium, als beim
Ministerium der Reichsdomänen, bestehen besondere Kommissionen
zur Erforschung der jetzigen Lage der Hausindustrie und zur Be-
rathung über die Beseitigung der vorhandenen Missstände; der erst¬
genannten Kommission präsidirt Hr. Geheim-Rath E. Peterson, der
letztgenannten der Herr Minister Staats-Sekretär Walujew.
So sehr nun auch in Bezug auf die eben erörterten Prinzipien
die Hausindustrie sich rein und lebensfähig zu erhalten vermocht
hat, so wenig konnte sie das anderen, ungünstigen Elementen gegen¬
über, welche sich von Tag zu Tag fühlbarer machen, die normale
Entwickelung und die Organisation der Hausindustrie paralysiren
und schliesslich den Kustar zu erdrücken drohen. Und von diesen
Elementen sind wesentlich drei zu nennen ! . Am bedeutungsvollsten
ist hier — wenn überhaupt von einer Rangordnung die Rede sein
darf — der Mangel jeder realen sowohl, als technischen Kenntnisse.
In zweiter Reihe steht sodann die, weder durch das Wesen der Ge¬
werbe, noch durch ökonomische oder sonstige Bedingungen hervor¬
gerufene Konzentration von gleichartigen Gewerben an wenigen
Orten; und von dritter Stelle ist endlich hervorzuheben einerseits
der in dem Grade ungenügende Ertrag vom Landantheil, dass nicht
einmal der Naturalunterhalt sichergestellt ist, andrerseits der Mangel
jeglichen Betriebskapitals.
In Folge des letzteren Umstandes macht sich natürlich die ganze
Wucht des Truc- und Kulak-Systems geltend. Der kleine Kustar
wird gezwungen das ihm nöthige Rohmaterial für seine nicht grosse
Produktion entweder beim Detailhändler oder beim Grosshändler zu
Detailpreisen zu entnehmen. So bekommen die Schmiede des Jaro-
slaw’schen Kreises (Gouv. Jaroslaw) das ihnen nöthige Eisen von
zwei bekannten Monopolisten, den Kaufleuten Pastuchow undTscha-
purin, auf Kredit. Deshalb zahlen sie für das Pud, welches selbst
1 cf. den ausgezeichneten Artikel von R. Popow: Otch, aanuc. 1875 Maprt p.a8 u. ff,
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384
im Detail nur 1 Rbl. 70 Kop., resp. 1 Rbl. 57 Kop., resp. 1 Rbl. 50
Kop. kostet, immer 2 Rbl. 35 Kop., resp. 2 Rbl. 20 Kop., resp.
2 Rbl. 13 Kop., d. h. um 32, 40 und 42 pCt. theurer und müssen
ausserdem die Arbeiten um wenigstens 50 pCt. billiger liefern, als
jeder nur einigermaassen situirte Arbeiter. Sie erleiden also einen
doppelten Verlust: sie kaufen theuer und verkaufen billig, was wie¬
der zur natürlichen Folge hat, dass sie das allerschlechteste Mate¬
rial nehmen und auch die allerschlechteste YVaare liefern.
Nicht minder nachtheilig wirkt der zur Ernährung der Familie
ungenügende Ertrag von Feldprodukten. Wäre der Ertrag der
Felder so, dass der Bauer ein Plus erübrigte, so müsste er bald von
ft
jedem Truc und Kulak frei sein; bei dem heutigen Stande der Land¬
wirtschaft aber und bei den Missernten, welche in letzter Zeit Russ¬
land so heinisuchen, ist das nicht wohl zu erwarten. Korssak führt
an l , dass im ganzen Gouvernement Moskau nur zwei Kreise ein Plus
erzielt hätten, drei ausgekommen seien und die übrigen ein Minus
gehabt hätten von
5,64 Tschetwert auf jeden Hof im Kreise Bogorodsk,
3.41
P
P
P
P
P
P
Moskau,
3-41
»
P
P
P
P
9
Kolomna,
2,28
P
P
P
P
P
P
Sserpuchow,
1,88
P
P
P
P
P
P
Bronnizy,
0,92
p
»
P
P
»
9
Podolsk,
0,40
9
P
P
P
P
P
Wereisk,
o,35
P
P
P
P
9
P
Moshaisk.
Unter solchen Verhältnissen kann natürlich von einer eigentlichen
Hausindustrie nicht die Rede sein; der Bauer betreibt nun nicht
mehr das Gewerbe als Nebenbeschäftigung, sondern als reine Haupt¬
sache. Dadurch jedoch wird der Charakter der Hausindustrie, ihre
Bedeutung in der Landwirtschaft durchaus vernichtet und der
«industrielle Bauer* in einen Fabrikarbeiter verwandelt, dessen Lage
schlechter und trauriger ist, als die des gewöhnlichen. Denn da er
immerhin Unternehmer ist, so hat er auch alle Schwankungen des
Marktes zu überstehen, alle Krisen auszuhalten und das ganze Risiko
zu tragen. In diesem P'alle wäre seine Lage nur dann eine leichtere,
wenn technische Kenntnisse und einiges Wissen ihn unterstützen
4 A. a. O. pag. 225. Wenngleich diese Zahlen nicht sehr neue" sind, so haben
wir sie dennoch angeführt, da der geringe Prozentsatz, um welchen sie variiren können,
nichts zur Sache thut.
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385
würden, da er dann mit Schnelligkeit den Anforderungen des Mark¬
tes genügen könnte. Bei der Stabilität aber, welche jetzt in den
einzelnen Zweigen der Hausindustrie herrscht, bei der Zufälligkeit,
mit welcher jetzt jede Neuerung in diese produzirenden Kreise ein¬
dringt, wird jede Krisis, jedes Sinken der Nachfrage um so fühlbarer
für einen ganzen Gewerberayon, je mehr in ihm der betreffende
Gewerbszweig konzentrirt ist.
Ueberhaupt gehört die Gedrängtheit, zu welcher sich einige Ge¬
werbe an gewissen Punkten geradezu anhäufen, zu den Grundübeln,
welche gegen die freie Existenz der Hausindustrie wirken. Würden
sich solche Centren an den Orten finden, wo sie wirklich nöthig
sind, so wäre es natürlich eine grosse Erleichterung für den Konsu¬
menten, den Markt so wohlbesetzt, die Auswahl so reich zu finden.
Die Centren aber, welche die russische Hausindustrie kennt, trennen
den Konsumenten gewaltsam vom Produzenten, indem sie ihn zwin¬
gen, einen Markt aufztfsuchen, welcher so entfernt ist, dass seine
Produkte ohne spekulirende Unterhändler und Kommissionäre nicht
leicht erreicht werden. Dass hierdurch einestheils der Preis, welchen
die Konsumenten zahlen, unverhältnissmässig hoch wird, andern-
theils die Summe, welche die Produzenten erhalten, unverhältniss¬
mässig klein bleibt, versteht sich von selbst. Ueberdies ruft ja eine
solche Konzentration das Bedürfniss nach einer bedeutenden Quan¬
tität von Rohmaterial hervor, welches auf weit entfernten, grossen
Märkten erstanden werden muss. Bei der Kostspieligkeit des Trans¬
portes und des Kredits legt sich das mit drückender Schwere auf
den Werth der Erzeugnisse, was wiederum die Vortheilhaftigkeit der
Produktion paralysirt und das Erscheinen jener industriellen Para-
syten begünstigt.
Wie sehr nun der Hausindustrie dieser ungesunde centripctale
Trieb noch eigen ist, geht am deutlichsten aus dem oben citirten,
von der Russ. Geogr. Gesellschaft edirten Sammelwerke hervor.
Die Verfasser unterscheiden 41 verschiedene, der Hausindustrie be¬
kannte Gewerbe, welche eine Menge von Unterabtheilungen auf¬
weisen. Alle diese verschiedenen Gewerbe und deren Unterabthei¬
lungen können in fünf Gruppen rubrizirt werden, von welchen die
erste die Textilindustrie (Beilage I, 6, 7, 21—24), die zweite die
Metallindustrie (I, 28 —36), die dritte die Holzindustrie (I, 11 — 20),
die vierte die Lederindustrie (I, 1 — 3), die fünfte alle andern Gattun¬
gen umfasst. Wäre nun die Konzentration eine gesunde, so müsste
es unbedingt entweder Gebiete geben, welche die nächstgelegenen
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mit den Produkten ihrer Gewerbe versehen, oder aber jedes Gouver¬
nement hätte — ganz abgesehen davon, in welchem Maassstabe das
betreffende Gewerbe arbeitet — alle Gewerbe in seinem Gebiete
vertreten. Ganz anders aber verhält es sich in Wirklichkeit. Es gibt
Centren, welche nicht nur ihre und die nächstgelegenen Gouverne¬
ments, sondern auch das ganze Reich mit ihren Produkten versor¬
gen, Centren, welche bedeutende Exportgeschäfte betreiben, und es
gibt Gebiete, in welchen z. B. die Jagd heimisch und ein Haupt¬
erwerbszweig ist, und welche dennoch kein Schrot produziren, son¬
dern es Tausende von Meilen weit herholen *; Gebiete, welchen das
Eisen, so zu sagen, vor der Thür liegt, und welche dennoch an eiser¬
nen Instrumenten ewigen Mangel leiden. Unter all den in Beilage II
aufgeführten Bezirken ist es nur einer, welcher von den 41 Gewerben
28 kennt, und dennoch fehlen diesem bemerkenswerthen Kreise
(Tjumen, Gouv. Tobolsk, Sibirien) so wichtige Industriezweige, wie
die Verarbeitung von Talg (I, 10), Verfertigung von Hausgeräthen
(I, 35) u. m. a. Hiernach lässt sich der Schaden, welchen die Ge-
sammtwirthschaft des Volkes in solchen und ähnlichen Fällen erlei¬
det, wohl leicht berechnen 2 . Und dabei gehört Tjumen, ebenso
wie Schuja, Gouv. Wladimir, mit 27 Gewerbearten, Balachna, Gouv.
Nowgorod, mit 26 Arten, noch zu den begünstigten, da von den
aufgezählten 355 Kreisen 57 nur einen einzigen, nicht immer für den
Kreis vortheilhaften Industriezweig kennen. Bei den in Russland
herrschenden, städtischen Gewerbeverhältnissen, wie sie des Breite¬
ren bereits in dem Abschnitt «Die Handwerker-Artele» dargelegt
worden sind, ist das ein Umstand, welcher nicht genug der ernste¬
sten Beachtung gewürdigt werden kann.
Zieht man nun sämmtliche eben beregte Schäden in Erwägung,
so wird es nicht Wunder nehmen, wenn der Gewinn, welchen der
Kustar von seiner Hausindustrie davonträgt, ein äusserst minimer
ist. Hr. W T eschnjakow spricht* von 2 bis 3 Rbl. wöchentlich, von
5 bis 6 Rbl. monatlich, von 25 bis 30 Rbl. jährlich, und es ist schwer,
1 Brehm und Finsch: «Am Fusse des Tarabakatai«. Reisebriefe St. P. Z., 1876, Nr.
194 u. ff.; cf. auch Ctut. BpeM. II, 3, 92. "Während das Eisen Nishnij-Nowgorods in die
Moskauer Fabriken geht, bezieht die Hausindustrie jenes Gouvernements noch Ural-
sches Eisen.
* Nichtsdestoweniger entblödete sich nicht ein Korrespondent der Kasaner Börsen-
Zeitung im ersten Drittel des laufenden Jahrgangs nachzuweisen, dass Lichtsiedereien
und Fabriken im ganzen Sibirien auf keinen Erfolg rechnen könnten.
* A. a. O. pag. 16.
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diese Durchschnittszahlen höher anzugeben. Aber im Augenblick
bemühen sich Regierung und Privatkräfte um Hebung der mate¬
riellen Lage der ländlichen Arbeiter, und bei der rapiden Verbrei¬
tung, welche die ländlichen Vorschuss-Vereine finden, bei dem ge¬
meinsamen Streben der Ministerien und des Volkes, die gesammte
patriarchalische Hausindustrie auf die höhere Stufe der genossen¬
schaftlichen zu heben, sie durch Bildung zu fördern, ist wohl mit
Grund anzunehmen, dass diese uralte russische Industrieform bald
in gesundere Bahnen gelenkt werden wird.
Nach diesen für sämmtliche Gruppen der Hausindustrie geltenden
Bemerkungen wenden wir uns der Betrachtung der einzelnen zu.
I. Die Textilindustrie.
(Beilage I, 5—7, 9, 21-24, 40, 4*0
Unter den 10 Arten dieser Gruppe behauptet die hervorragendste
Stelle, sowohl was ihr Alter betrifft, als auch zufolge der produzirten
Quantität, die Flachsindustrie ( I, 21). Das Gebiet, welches sie in
Russland einnimmt, kann man in drei Regionen, in eine nördliche,
mittlere und südliche, theilen. Die nördliche geht ungefähr vom
50 0 bis zum nördlichen Polarkreise und umfasst also die Gouverne¬
ments Estland, Petersburg, Wologda, Wjatka, Perm, Archangel
und Olonez. Für die Gouvernements Estland und Petersburg stehen
uns keine detailürten Angaben zu Gebote; nur so viel ist bekannt,
dass in ihnen die Hausindustrie fast nur für den eigenen Gebrauch
produzirt, so dass das auf den Markt gebrachte Quantum höchst
gering ist. Ebensowenig hoch ist auch die Qualität der Leinen- und
sonstigen Produkte l . Das Gouvernement Wologda dagegen liefert
für 210,000 Rbl. circa 3,000,000 Arschin Leinewand aller Sorten,
welche aus ungefähr 24,000 Pud Flachs bereitet werden. Die ganze
Partie geht, mit Ausnahme von ca. 100,000 Arschin, welche in das
Petschora-Gebiet kommen, nach St. Petersburg, Moskau und Nishnij-
Nowgorod, wohin sie von den Aufkäufern aus Uglitsch und Roma¬
now, die, wie überall, dieselben in den Dörfern zu gewissen Dorf¬
festen erstehen, versandt werden. Das Gouvernement Wjatka pro¬
duzirt vorzugsweise für die Bedürfnisse der Armee, ist aber nicht
direkter Lieferant, sondern verkauft seine Waare auf den Märkten,
1
4 IlaMAT. kh. C.-üeTepÖ. 176. 1874 r.; cf. auch im St. Petersburger Kalender 1875
den Artikel von Fr. Matthaei: «Zur Statistik des St. Petersburger Gouvernements*,
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3*8
Bazaren etc. zahlreich vertretenen Händlern, welche das ganze Quan¬
tum direkt nach Nishnij-Nowgorod bringen. Auf diese Weise kann
mit ziemlicher Sicherheit konstatirt werden, dass das Gouvernement
überhaupt jährlich 17 bis 20 Millionen Arschin Leinewand produzirt,
für deren Herstellung 160,000 Pud Flachs verwandt werden. Der
Erlös für jene Menge von Arschinen beträgt 850,000 bis 1,000,000
Rubel, von denen der grösste Theil auf den Nolinskischen Kreis
fällt, welcher allein 10 Millionen Arschin auf den Markt bringt. Be¬
deutend schwächer ist die Produktion von Perm, welches ungefähr
200,000 Arschin (gegen 20,000 Rubel) in s Petschora-Gebiet ent¬
sendet. Die von den Tscherdyngen in’s Petschora-Gebiet gebrachte
Leinewand wird von den Kirchen erstanden, denen sie von den
örtlichen Bauern dargebracht worden ist. In Folge dessen ist diese
Leinewand auch, von der allerverschiedensten Breite und Güte und
selten mehr als 10 Arschin lang. Im Gouvernement Archangel war
die Leinenindustrie bis zur Zeit Peters des Grossen gar nicht be¬
kannt; seinen Bemühungen erst konnten es die an Gewerbearten
durchaus nicht reichen Bauern danken, dass ihnen eine neue Erwerbs¬
quelle eröffnet ward. Aus dem Auslande kamen tüchtige Meister,
welche recht gelehrige Schüler fanden; denn die ArchangePsche
Handwaare war lange Zeit sogar in dem verwöhnten St. Petersburg
geschätzt. Heutzutage ist, nach dem raschen Aufblühen der Griba-
now’schen Flachsspinnerei, das Handgespinnst seltener geworden
und die Einwohner verfertigen den grössten Theil ihrer Leinewand
aus dem Maschinengespinnst. Das Quantum, welches dieses Gou¬
vernement liefert und das theils in Wjatka und Wologda, theils
in St. Petersburg abgesetzt wird, besteht aus ungefähr 20,000 Ar¬
schin feiner Leinewand, 400 Dutzend Taschentücher, 500 Tisch¬
tücher und 300 Servietten, wofür circa 20,000 Rbl. erzielt werden.
Etwas grösser ist die Produktionskraft von Olonez, welches aus
4000 Pud Flachs ungefähr 500,000 Arschin Leinewand für ca. 30,000
Rbl. zum Verkauf bringt.
Hiernach lässt sich die Gesammtsumme des von der Hausindustrie
der nördlichen Region als Plus Verfertigten auf 21 bis 24 Millionen
Arschin Leinewand taxiren, welche eine Einnahme von I Million
bis zu 1,250,000 Rbl. ergeben. Diese Summe würde um ein Bedeu¬
tendes steigen, wenn die Arbeitswerkzeuge bessere wären. Bis jetzt
ist noch immer die Prjaslitza oder der Spinnrocken im Gebrauch
Das erstere Instrument, welches die Gesundheit recht angreift, da
es eine bedeutende Menge von Speichel erfordert und das ausser-
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3^9
dem die Arbeit langsamer fortschreiten lässt, besteht aus zwei nicht
breiten Brettern, welche unter einander in einem geraden Winkel
verbunden sind. _ Auf dem einen derselben sitzt man, während an
das obere Ende des andern der zum Spinnen bestimmte Flachs an¬
geheftet wird. In letzter Zeit hat sich aber der Gebrauch des Spinn¬
rockens sehr verbreitet; ein einfacher kostet i Rbl. 70 Kop., ein mit
Lack überzogener 2 Rbl. 50 Kop. und 3 Rbl. Das auf denselben
verarbeitete Gespinnst wird nach Strähnen gezählt, welche, je nach
der Dicke des Gespinnstes, von grösserer oder geringerer Länge zu
sein pflegen. Zum Haspeln des Gespinnstes gebraucht man die ge¬
wöhnliche Haspel und zählt dann das Gespinnst nach Gebinden. In
jedem Gebinde müssen 40 Zehntheile und in jedem Zehntheil 3 Fa¬
den sein 1 .
Alle diese Einzelheiten wiederholen sich in bedeutend grösserem
Maassstabe in der mittleren Region, welche als das eigentliche Cen¬
trum der russischen Leinenindustrie angesehen werden kann. Sie
umfasst ein Gebiet, welches sich vom 52. bis zum 58. Breitengrad
erstreckt und in welchem die hauptsächlichste Beachtung die Gou¬
vernements Wladimir, Jaroslaw und Kostroma verdienen. Denn hier
arbeitet der Kustar fast ausschliesslich für den grossen Markt, ohne
sich dabei besser zu stehen, als der Kustar der nördlichen Region.
Es smd nämlich die Anforderungen so sehr gestiegen, dass der
Kustar, welcher früher das Publikum mit seinem Handgespinnst be¬
friedigen konnte, jetzt, zufolge der Uebermacht der Fabriken, ge-
nöthigt ist, feineres Garn zu kaufen. In den letzten Jahren ist frei¬
lich das Gespinnst um 10 bis 15 pCt. gefallen, steht aber immer
noch zu hoch für den Umsatz des Kustar, da allein das Spinnen
eines Gebindes 25 bis 50 Kop. kostet 2 . Am bedeutendsten ist die
Industrie vom Dorfe Welikoje im Gouv. Jaroslaw. Ganz abgesehen
davon, dass dieses Dorf, welches eine Bevölkerung von 1750 Perso¬
nen hat, sämmtliche Leinewand der Umgegend aufkauft, produzirt
es noch auf 500 Webstühlen über 150,000 Arschin Leinewand, so
dass es einen jährlichen Umsatz von über 100,000 Rbl. macht.
Leider aber ist auch das Jaroslaw’sche Produkt von allen russischen
Leinen am wenigsten stark und dauerhaft. Da das ausländische
Leinen jedoch dem grossen Publikum zu kostspielig ist und weniger
Garantien für seinen echt linnenen Charakter bietet, so bleibt noch
1 HyÖHHCkiö: «OT^en» o /ibtiouoACTB-fe h. t. 4. bt» cfeBepHom» pattOH-fc», pag. 22— 35.
* «HacjrfcAOBaHU o ;u>h*ho& nponbim.ieHHocT« bt» Poccia», pag. 56 u. (I.
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390
immer das Produkt der mittelrussischen Region äusserst gesucht, so
dass sich der Gesammtumsatz aller hierher gehörigen Gouverne¬
ments auf ungefähr 50 Mill. Rbl. beläuft.
Die südliche Region, vom 50. bis 52. Breitengrad, arbeitet in
recht bescheidenen Verhältnissen. Ihre Leinewandprodukte dienen
mehr dazu, dem lokalen Bedürfniss Genüge zu leisten und lassen sich
deshalb nur einer sehr annähernden Schätzung unterwerfen. Wir
glauben weder zu hoch, noch zu niedrig zu greifen, wenn wir den
Gesammterlös der Hausindustrie an Leinen auf nicht mehr als eine
Million für diese Region fixiren l .
Nehmen wir nun die Gesammtsumme, welche die Flachsindustrie
für alle drei Regionen abwirft, so erhalten wir 52 oder, nach Hrn.
Weschnjakow 2 , 55 Mill. Rbl. Es fragt sich nun, auf wieviel Perso¬
nen sich diese Summe zu vertheilen hat. Um dieses konstatiren zu
können, folgen wir einer sehr detaillirten Berechnung Tengoborski’s 8 .
Derselbe nimmt an, dass, mässig gerechnet, Russland 12 Mill. Pud
Flachs produzirt. Zieht man hiervon das auf den Export entfallende
Quantum ab, so bleiben dem internen Konsum beinahe 7 1 /% Mill.
Pud, wovon aber wiederum V* auf Verlust etc. entfallen, so dass der
eigentlichen Flachshausindustrie 5,625,000 Pud verbleiben. Da nun
hier zu Lande noch das Handspinnen überall üblich ist, so kann man
auf eine Spinnerin im Durchschnitt nicht mehr als 7 * Pfund täglich
oder bei 240 Arbeitstagen im Jahr 2 Pud jährlich rechnen. Folglich
muss also allein das Spinnen von 5,625,000 Pud 2,812,500 Menschen
beschäftigen. Das Weben aber nimmt in Russland weniger Hände
in Anspruch, als das Spinnen. Ein Weber ist im Stande, je nach
der geforderten Feinheit, täglich 3 bis 4 Arschin mittlerer oder bei¬
nahe 10 Arschin grober Leinewand zu liefern; berücksichtigt man
hierbei, dass die Bauernfrau erst zum Weben kommt, wenn sie ihre
häuslichen Geschäfte besorgt hat, so kann sie täglich im besten
Falle nicht mehr als y l /2 Arschin, oder bei 240 Arbeitstagen — be¬
kanntlich wird nur im Winter und Frühjahr gewebt — im Jahr 1800
Arschin liefern. Auf diese Weise ergibt sich, dass auf die 705,000,000
Arschin Leinewand 392,700 Weber kommen. Fügt man zu dieser
Ziffer noch 6 pCt, hinzu, welche sich mit der Verfertigung der
prima Leinewand und der für den Export bestimmten Gewebe be-
1 «CeueHosi» reorpa^HHecKo-daTucTHHecKi* cjioBapb Poe. Hmh.», III, St. Petersb.
1867, pag. 558 u. ff.
* A. a. 0 . pag. 17.
* TeHro6opcKitt; «O npoRdooAcr. CHAaxi» Pocciü* pag. 124 u. ff.
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39i
schäftigen, so kann man die Gesammtzahl der Kustari, welche sich
mit dem Weben befassen, auf 425,000 Personen angeben. Hierzu
muss andererseits die Zahl der Personen hinzuaddirt werden, welche
mit verschiedenen, der Flachsindustrie nöthigen, vorbereitenden
Arbeiten zu thun haben; dann stellt sich die Zahl sämmtlicher Per¬
sonen, welche diese eine Gruppe der Hausindustrie, die Arbeiten in
Flachs, beansprucht, auf 4,000,000 Menschen. Theilen wir jetzt
durch diese Summe die Generaleinnahme von 52,000,000 Rbl., so
finden wir, dass ein Arbeitsjahr von 240 Tagen jedem Kustar nicht
mehr als 13 Rbl. reinen Gewinn gibt. Dass diese Zahl eine richtige
ist, beweist schon der Umstand, dass sämmtliche Forscher, auf wie
verschiedenen Wegen sie auch zu dem Schluss über die Reinein-
nahmen'kommen, ein fast absolut gleiches Resultat erhalten *. Diese
Summe aber steht in keinem Verhältnis zu dem angewandten
Arbeitsquantum. Es ist mit Recht deshalb darauf hingewiesen wor¬
den, dass sie sich erst so vermindert hat, nachdem der ländlichen
Leinenindustrie einige recht fühlbare Schläge versetzt wurden. Der
erste bedeutende Schlag kam von den halbbaumwollenen Stoffen,
den zweiten, und leider sich oft wiederholenden, brachten dieser
Industrie die häufigen und sich gerade auf die ländliche Bevölkerung,
mit ganzer Wucht entleerenden Handelskrisen bei. Bei der raschen
Verbreitung, welche jetzt das Fabrikleinen findet, bei der wohl nicht
allzu fernen Möglichkeit, das Fabrikleinen noch billiger und besser
als bisher zu stellen, ist es wohl nicht gewagt zu behaupten, dass
dieser uralten Industrieform noch schwere Zeiten bevorstehen.
In einer nicht minder kritischen Lage befindet sich eine andere
Gewerbeart dieser Gruppe, die Baumwollenindustrie (I, 23). Schon
der Umstand, dass das Weben der Baumwolle das Primäre ist und
die landwirtschaftliche Bearbeitung der Staude hier zu Lande gar
nicht in Betracht kommt, stellte die Baumwollenindustrie von vorn¬
herein auf einen Standpunkt, welcher sie der Fabrikindustrieform
viel näher brachte, als dem Domestikwesen. Hierzu kamen noch
andere Gründe. Wie bekannt, ist die fabrikmässige Bearbeitung
der Baumwolle nach Russland gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
durch Engländer importirt worden. Während aber die mechanische
Weberei anderer Rohstoffe sich äusserst schwer Bahn brach, hat
diejenige der Baumwolle, welche an und für sich schon leichter ist,
schon deshalb bedeutend bequemeres Spiel gehabt, weil sie keine
1 Vgl. u. A. Korssak pag. 158.
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Jahrhunderte alte Tradition und Geschichte, gleich der der Flachs¬
arbeiten aufzuvveisen hatt§. Deshalb war schon im Jahre 1790 das
englische Gespinnst ein gefährlicher Gegner der Hausindustrie, ein
Gegner, welchen nachher noch die durch das schutzzöllnerische
System hervorgerufenen Fabriken und der Tarif von 1822 verstärkte,
und welcher ihr heute einen enormen Theil jeder Selbständigkeit
geraubt hat. Jetzt arbeitet der Bauer fast ausschliesslich auf Be¬
stellung und es dürfte schwer werden, irgend einen Kustar zu finden
welcher als Unternehmer jedes Risiko selbst zu tragen bereit ist
Im Gouvernement Wladimir, dem eigentlichen Centrum dieser
Industrie, ist sogar das traurige Faktum zu Tage getreten, dass die
Bauern aufhören, Stückarbeiter zu bleiben und es vorziehen, reine
Fabrikarbeiter zu werden 1 . In pekuniärer Beziehung stehen sie sich
hier besser, da ein Kustar sich in beinahe 300 Arbeitstagen höch¬
stens 32 Rbl. netto, ein Fabrikarbeiter jedoch wohl das Doppelte
erarbeiten kann, aber der Schaden, welcher in so manch' anderer
Beziehung entsteht, ist entschieden grösser und schwerer zu taxiren.
Dass andererseits 32 Rbl. Reinerlös nicht zu niedrig gegriffen sind,
lässt sich durch folgende Berechnung erweisen. Die Gesammtzahl
sämmtlicher mit der Baumwollenindustrie beschäftigten Kustari be¬
trägt 350,000 Mann 2 . Im Schuja’schen Kreise des Gouvernements
Wladimir arbeiten 40,000 Mann, welche jährlich 2 Millionen Stück
Mitkal produziren, was einen Werth von 9 Mill. Rbl. repräsentirt.
An Arbeitslohn erhalten die Bauern hiervon 1,300,000 Rbl 3 . Rech¬
nen wir nun nach der Analogie von Schuja, so werden jene 350,000
Arbeiter 17V2 Mill. Stück gegen 78 3 / 4 Mill. Rbl. liefern, wofür ihnen
an Arbeitslohn zukommen 11,500,000 Rbl.; das macht pro Mann
32 °ii Rbl., eine Summe, welche für Gebiete mit geringerer Absatz¬
fähigkeit, als Schuja, entschieden kleiner ist. Freilich stehen sich
die Weberfamilien von Schuja noch besser, da ihnen die weiblichen
Glieder eine ziemlich ansehnliche Einnahme sichern. Denn abge¬
sehen von diesem Mitkal, welcher in allen den Gouvernements zu
finden ist, wo die Bauinwollenindustrie vorkommt, gibt es noch einen
Stoff, den die Hausindustrie kennt und welcher ausschliesslich
im Kreise Schuja verfertigt wird. Es ist dies der Rothkattun, die
sogenannte *Alexandrika*, ein zu den bekannten russischen Hemden
4 * Ctet. Bpesi.» II, 3, 200. Mit ihnen verschwinden auch die alten, russischen Spinn¬
stuben, die poetischen «Svetelki».
a Weschnjakow pag 23. 9
3 «OraT. BpeM.» a. a. O. pag, 217.
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393
und Tüchern verwandtes Zeug. Mit der Fabrikation desselben be¬
schäftigen sich merkwürdigerweise seit jeher nur allein die Personen
weiblichen Geschlechts (8000) jenes Kreises, welche im Ganzen
jährlich ca. 200,000 Stück für 1,200,000 Rbl. liefern, wovon als
Reinerlös 150,000 Rbl. zu rechnen sind. Das heisst jede Frau bringt
ungefähr 20 Rbl. ihrem Haushalte zu. Dabei ist aber nicht zu über¬
sehen, dass auf diese Weise sowohl die männlichen, als weiblichen
Glieder der Familie auf Monate hinaus ihre Wirthschaft, aus Mangel
an Zeit, absolut vernachlässigen müssen.
In direktem Zusammenhang mit der Produktion von baumwollenen
Stoffen steht der Druck derselben (I, 24). In Folge dessen ist es
natürlich, dass sich auch dieser Erwerbszweig im Gouvernement
Wladimir konzentrirt hat. Dort begann der Druck von Geweben
schon gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts, war aber ausschliesslich
Sache fremdländischer Meister, deren Zahl besonders nach dem
Kriegsjahre von 1812 bedeutend stieg. Sie erhielten eine vortreff¬
liche Gage und hatten, ausser ihrer allgemeinen Pflicht, alle Arbeiten
des Drückens allein zu verrichten, noch die besondere, ausschliess¬
lich die Kinder des Fabrikherrn in den Geheimnissen dieser Kunst
zu unterweisen. Daher kam es, dass sich dieselbe unter dem Volke
schwer und langsam verbreitete. Die ersten russischen Couleuristen
waren die Bauern des Kirchdorfes Iwanowo, Gratschew und Usow.
Sie hatten in Schlüsselburg auf der Fabrik von Legland (oder Let-
mand) Arbeit genommen, um diese Kunst gründlich zu erlernen, und
wirklich gelang es ihnen, sie sich vollständig anzueignen. Von ihnen
lernte es bald der ganze Schuja’sche Kreis, welchem es denn auch
allmälig gelang, die fremden Couleuristen und Färber zu verdrängen»
so dass von den letzten 12 Elberfelder Meistern, welche noch um
das Jahr 1850 in jenem Kreise übrig waren, im Jahre 1868 fast Nie¬
mand mehr arbeitete. Denn unterdess hatten sich russische Tech¬
nologen, wie z. B. der bekannte E. A. Latuchin, und Industrielle der
Sache angenommen und die einheimischen Arbeiter mit gewissen
Vervollkommnungen vertraut gemacht. Dadurch ward auch der
russische Arbeiter bald nach seinem Erscheinen ein gefährlicher
Konkurrent des ausländischen. Ein tüchtiger Arbeiter konnte, ohne
sich zu überladen, im Monate gegen 30 Rbl. erwerben, unterstützte
ihn aber noch seine Familie, so wurde dieser Verdienst bedeutend
grösser, da er dann in einem Tage beinahe 20 Stück Zitz zu bearbei¬
ten im Stande war, welche ihm 40 Rbl. reinen Verdienst bringen
mussten. Zum Unglück für diese wenigen Glücklichen wuchs abe r
Kob«. Berne. Bd. IX. 26
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die Zahl der Drucker mit grosser Schnelligkeit: in den Zwanziger
Jahren zählte man allein in Iwanowo 7000, oder im ganzen Gouver¬
nement Wladimir 10,000 Personen, welche sich mit dem Druck be¬
schäftigten. Und dann drückte die Konkurrenz die Preise: man
zahlte jetzt stückweise 50 Kop. und I Rbl. und ein Stück enthielt
40 bis 50 Arschin. Aber mehr noch als dieses, schadete den
Druckern jede Verbesserung, welche das Maschinenwesen brachte.
Im Jahre 1835 wurden die cylinderförmigen Druckmaschinen einge¬
führt und 1847 kamen sogar die von Hummel in Berlin vervollkomm-
neten Pirrotinen 1 in Gebrauch. Hiermit waren die Drucker voll¬
ständig von den Fabriken abhängig gemacht und ausser Kurs ge¬
setzt. Sie blieben ohne Arbeit, da ihnen jede andere fremd war und
jetzt erst, nach bald 30 Jahren, sind die letzten Spuren jener Krisis
beinahe verwischt, da sie einen Stamm von Fabrikarbeitern ge¬
schaffen hat. Den Kustari ist nur in den Gebieten noch Arbeit ge¬
blieben, wo das Fabrikwesen nicht so grossartige Ausdehnung ge¬
nommen hat und wo, nach wie vor, der Kustar mit seinen primitiven
Mitteln fortschaft. Hierzu können gerechnet werden: Archangel,
Wologda, Wjatka, Pensa, Perm, Sibirien und einige andere Striche,
in welchen die Einnahme jedes einzelnen Druckers noch immer
zwischen 10 und 100 Rbl. schwankt*.
Nicht in solcher Gestalt präsentirt sich uns die Hanfindustrie
(I, 22). Sie ist bis jetzt noch immer, bei einer verhältnissmässig be¬
deutenden räumlichen Ausdehnung, Hausindustrie geblieben, so dass
alle Hanfprodukte, welche im internen Handel Vorkommen, fast aus¬
schliesslich Erzeugnisse der Kustari sind. Indess dürfte sich die
Gesammtsumme der Produktion nicht über 61 Mill. Rbl. erheben,
von welchen als Reinerlös den Arbeitern 1,200,OCX) Rbl. abzurechnen
sind. Diese Zahl vertheilt sich auf ca. 40,000 Arbeiterfamilien, so
dass auf jede Familie 30 Rbl. entfallen. Da sich aber das Arbeiter¬
kontingent aus Personen von 7 bis 50 Jahren rekrutirt, so ist es nicht
leicht, den Normalverdienst jedes einzelnen Arbeiters anzugeben.
DieHauptproduktion konzentrirt sich in den Gouvernements: Archan¬
gel, Nishnij-Nowgorod, Wjatka, Perm, Orenburg, Tobolsk, Ssim-
birsk und Tschernigow, für welche als Hauptabsatzplätze fungiren-.
1 Eine Maschine» welche die Zitze vermittelst flacher Formen bedruckt.
8 cf. «ITaMstT. kh. B.naAiixip. Ty6.i 1862, pag. 1 u. ff. und «MaTep. ajjji reorp. u
Ctut. Poe.» pag. 18 8 u. ff.
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395
St. Petersburg, Moskau, Nishnij-Nowgorod und die Märkte der
Ukraine 1 .
Die Arbeiten aus Filz (I, 5) sind in Russland äusserst gesucht,
scheinen aber auch ihren Produzenten keinen rechten Vortheil zu
bringen. Die höchste Einnahme, welche auf einen Arbeiter notirt
wo/den ist, war 50 Rbl. Nichtsdestoweniger hat sich dieser Erwerbs¬
zweig ein grosses Feld erobert, so dass ^r jetzt in 28 Gouvernements
heimisch ist. Unter ihnen ragt, sowohl was Ausdehnung des Ge¬
schäfts, als Vorzüglichkeit der Produktion betrifft, das Gouverne¬
ment Nishnij-Nowgorod, speziell der Ssemenow’sche Kreis desselben,
aufs Vortheilhafteste hervor. Dieser Ruf ist mehr als zwei Jahr¬
hunderte alt und die Ssemenow'schen Kustari haben ihn durch be¬
sondere Dauerhaftigkeit ihrer Arbeiten und bemerkenswerthe Fein¬
heit in der Bearbeitung zu erhalten gewusst. Als Beweis, wie sehr
sie alle ihre Konkurrenten überflügelt haben, kann schon der Um¬
stand gelten, dass das eleganteste Filzschuhwerk unter dem Namen
der Nishegorod’schen bekannt ist. Ueberdies haben sie sich sowohl
auf den Lokalausstellungen von Nishnij-Nowgorod (1849) und St. Pe¬
tersburg (1850), als auch auf der Londoner internationalen (1851)
und der Moskauer polytechnischen (1872) Preise und ehrenvolle
Anerkennungen erworben. Es betreiben diese Industrie Männer
und Frauen, nur liegt jenen die schwerere Arbeit des eigentlichen
Walzens ob, während diese die Wolle zu schlagen und für das rich¬
tige Trocknen der verfertigten Gegenstände zu sorgen haben. Be¬
merkenswerth ist es aber, dass trotz dieser angestrengten Thätigkeit
beider Geschlechter, trotz des bedeutenden Absatzes, welchen die
Waaren der Ssemenow'schen Kustari finden, sie es doch nicht zu
einem gewissen Wohlstände haben bringen können. Erklären kann
man sich dieses höchstens einerseits aus der ganz besonderen Un¬
fruchtbarkeit des Bodens, welcher gar keine Ressourcen gewährt,
andererseits dadurch, dass die Kustari gezwungen sind, das Roh¬
material zu höherem Preise aus zweiter Hand zu erstehen und die
fertige Waare um jeden Preis loszuschlagen. Deshalb sinkt auch,
obgleich sich die Waare auf gleicher Höhe hält, die Produktionslust
von Jahr zu Jahr 2 .
Ein weniger trauriges Bild bietet die Produktion von Arbeiten aus
Wolle (I, 6) dar. Die aus derselben gefertigten Artikel, wie Tuch,
4 TaUHCKifl: «HHHceropofl. C6op.» IV, pag. 105 und «Tpy*. BojibH. 3koh. 06 m.»
II, pftg. 26.
8 «Hhk. Ty6. Bisa*» 1865, Nr. 49.
26*
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Gurten, woilene Gewebe etc., nehmen nicht den ersten Platz ein
unter den Gewerbearten der Hausindustrie und sind auch nicht so
sehr den verschiedensten Krisen ausgesetzt gewesen, wie alle ande¬
ren Zweige. Denn es haben sich in Russland für Tuchfabrikation
zwei Industrieformen gebildet, welche durchaus keinen nachtheiligen
Einfluss auf einander äusserten. Der Bauer schafft eben nur für
seines Gleichen, ohne darnach zu streben, dass sein Produkt sich auf
dem grossen Markt einbürgere, während die Fabriken meist feinere
Waare für höhere Preise liefern. Deshalb wirft auch dieser Erwerbs¬
zweig dem Kustar — wenn er sich erst Käufer zu sichern versteht —
ohne so bedeutende Anstrengungen und Zeitopfer, wie es die Baum¬
wollen- oder Filzindustrie erfordert, eine ebensolche Summe ab, wie
wir sie oben notirt haben. Interessant ist es hier zu bemerken, wie
fast überall dieser Industriezweig durch Zufall eingeführt worden
und wie er ganz besonders dort reiche Früchte trägt, wo die Sek-
tirer der rechtgläubigen Kirche ihm obliegen. So wohnen im Kreise
Busuluk, Gouv. Ssamara, 700 Molokanen, deren Frauen sich mit der
Verfertigung von wollenen Gurten befassen. Im Jahre produziren
dieselben 1000 Stück feiner, 1500 Stück mittlerer und 2100 Stück
ordinärer Sorte k 3 Rbl., resp. 1 Rbl. 50 Kop., resp. 50 Kop. pro
Stück. Im Ganzen nehmen sie also ein 6300 oder — wenn wir sogar
700 Frauen rechnen — beinahe 10 Rbl. pro Kopf. Bei der rühm¬
lichen Solidität und Nüchternheit, welche diese Kustari beobachten,
bringen ihnen aber diese wenigen Rubel mehr Vortheil, als Anderen
oft grössere Beträge
Es erübrigt uns nur noch von einem Industriezweige dieser Gruppe
zu sprechen, welcher, so klein er auch ist, es zu einem gewissen
Ansehen zu bringen vermocht hat. Wir meinen die Spitzenklöppe¬
lei (I, 41). Am bekanntesten sind die Arbeiten von Balachna, Gouv/
Nishnij-Nowgorod, und Mzensk, Gouv. Orel. Die letzteren sind so
vorzüglich, dass sie von den Verkäufern häufig für ausländische
ausgegeben werden. Wäre es möglich, die Arbeiterinnen noch mit
den neuesten Errungenschaften der Technik bekannt zu machen, so
würden ihre Arbeiten kaum vielen ausländischen Fabrikaten nach¬
stehen. Leider werden auch diese Arbeiterinnen allzusehr von den
Aufkäufern exploitirt: während erstere selbst bei angestrengter Thä-
tigkeit von 6 Monaten k 16 Stunden sich nicht mehr als 75 Rbl.
erarbeiten können, wovon noch 20—25 pCt. für das Rohmaterial
1 «Can. Ty6. Bl»*.* 1859, Nr. ! 3 *
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abgehen, nehmen letztere oft mehr als 40 pCt Reingewinn pro
Arschin. Der Werth der Gesammtproduktion der russischen Klöpp¬
lerinnen übersteigt wohl nicht 75,000 Rbl, im Jahr
II. Die Metallindustrie.
(i, 28-36.)
Während die Textilindustrie in ihrer Domestikform schon mit
bedeutenden Gegnern zu kämpfen hat und sogar Gefahr läuft, vom
Kapital und den Fabriken erdrückt zu werden, ist bis jetzt die
Metallindustrie fast vollständig untangirt geblieben. Gelänge es,
von derselben verschiedene zufällige Momente fern zu halten, welche
auf sie ungünstig wirken und die nicht so sehr von dem Wesen der
Industrie selbst, als von der Herrschaft sonstiger Faktoren abhängen,
so wäre die Selbständigkeit dieses Zweiges der Hausindustrie auf
lange hinaus gesichert. . Nur in dem Falle lief sie dann wirkliche
Gefahr, wenn in Russland, neben einer bereits existirenden Maschinen¬
industrie, auch der fabrikmässige Betrieb von metallenen Klein¬
gewerbe-Produkten Platz griffe; schwerlich wird aber das sobald
möglich sein 2 . Denn während Leinen und Baumwollenfabriken auf
einen schwachen und theuren Konkurrenten stiessen, hätten es die
Fabriken metallener Kleinprodukte mit einem gewiss nicht zu ver¬
achtenden Kämpen zu thun, welcher bereits ein grosses Arbeits¬
und Handelsgebiet beherrscht. Centren jenes Gebiets sind die
Gouvernements: Nishnij-Nowgorod, Nowgorod, Twer, Tula etc., in
welchen wieder einzelne Bezirke durch gewisse Spezialitäten sich
auszeichnen.
Als beste Nägelproduzenten (I, 28) sind die 200 Dörfer des Be¬
zirkes Ulom, Gouv. Nishnij-Nowgorod, bekannt, unter welchen durch
Solidität und Akuratesse der Arbeit die Dörfer in dem Besitzthum
des Fürsten Golitzyn hervorragen. Ueberhaupt werden, nach den
uns zu Gebote stehenden Daten, zu Nägeln verarbeitet:
Im Gouvernement Pud Eisen von Kustari Einnahme
Nishnij-Nowgorod (Ulom). . . . 550,000 20,000 2,000,000 Rbl.
Nowgorod (Tsclierepowez) . . . 285,000 10,000 1,000,000 »
Twer (Twer u. a. m.). 125,000 6,000 500,000 »
1 ramtcirfa a, a. O. III, pag. m und «Ilau. Opa. Ty6.» 1869, pag. 17.
* Wie gering bis jetzt die Konkurrenz der Fabriken, lässt sich am besten aus
Matthaei; «Industrie Russlands« II, pag. 30 u. ff., ersehen,
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Im Gouvernement Pud Eisen von Kustari Einnahme
Wjatka (u. a. m.). 22,000 5,181 119,752 Rbl.
Wladimir (Schuja). 30,000 750 120,000 *
Perm (Perm u. a. m.). 6,000 200 30,000 »
Im Ganzen . . 968,000 42,131 3,769,752 Rbl*
Die Einnahme des einzelnen Kustar betrüge also im Durchschnitt
beinahe 90 Rbl. für eine Arbeitsperiode. Da aber gerade in diesem
Erwerbszweig des Domestikwesens am meisten mit gemietheten
Gehülfen gearbeitet wird, diese aber als Kustari angegeben sind, so
ist es selbstverständlich, dass diese Durchschnittsziffer die ansehn¬
lichsten Schwankungen aufweist. Während es dem selbständigen
Bauer oft gelingt, seine Jahreseinnahme wirklich bis 90 Rbl. zu
steigern, kann der sich verdingende nur auf ein Maximum von 30
Rbl. rechnen, und während der selbständige Kustar oft unter 20 Rbl.
sinkt, beträgt das Minimum des Gehülfen nie weniger als 20 Rbl.
Für die andern Gouvernements, in welchen ausserdem noch Nägel
produzirt werden, stehen uns keine authentischen Angaben zu Ge¬
bote; es lässt sich jedoch wohl annehmen, dass in ihnen das Ver-
hältniss dasselbe sein wird.
Durch Messer- (I, 29) und Schlosswaaren (I, 20) haben sich einen
vorzüglichen Ruf erworben die Kustari der Gouvernements Wladimir,
Nishnij-Nowgorod, Jaroslaw und Perm, unter welchen wieder die
Arbeiten der Kirchdörfer Worsma und Pawlowo das meiste An*
sehen und die weiteste Verbreitung finden. Dort tauchten diese
Arbeiten im XVIII. Jahrhundert auf. Damals hatte nämlich Graf
Scheremetjew einige Meister aus England kommen lassen, welche
den Bauern das betreffende Handwerk lehrten. Seit jener Zeit hat
sich der domestike Charakter der Produktion erhalten. Am Montag
kauft gewöhnlich der Kustar seinen Bedarf an Material und Lebens¬
mittel auf den Bazaren ein und dann beginnt die Tagesarbeit, welche
sich von 12 Uhr Mitternacht bis 9 Uhr Abends mit einer Unter¬
brechung von 2 Stunden hinzieht. Nur im Winter und Herbst ist
die Zahl der Arbeitsstunden geringer. Und schlecht nur belohnt
sich diese schwere Arbeit, welche in der schrecklichsten Atmosphäre
halbnackt ausgeführt werden muss: der wöchentliche Verdienst ist
stets 1 bis 2 Rbl., in den allerseltensten Fällen steigt er bis zu 5 Rbl.
Für dieses Geld ist neues Material und frische Nahrung zu beschaffen;
von Ersparnissen kann daher keine Rede sein. Die Gesammt-
produktkm wird auf 10 Mill. Rbl. geschätzt,
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Auch die Kustari, welche Arbeiten aus Drath (I, 31) produziren,
haben sich im Gouvernement Nishnij-Nowgorod konzentrirt, so dass
die übrigen Gouvernements, in welchen dieser Erwerbszweig vor¬
kommt, wie Kostroma, Moskau, Wjatka und Wladimir nichts Be¬
deutendes produziren. In Nishnij-Nowgorod ist das eine Spezialität
des Kirchdorfes Beswodnoje, welches jährlich ungefähr 75,000 Pud
Drath gegen 40,000 Rbl. verfertigt und verarbeitet. Leider gibt es
hier sehr wenig selbständig arbeitende Kustari; die sich verdingen¬
den erhalten ihren Lohn entweder für ein Tausend, eine Arschin,
ein Pfund oder ein Pud der gelieferten Gegenstände. Für ein Pud
zu Drath verarbeiteten Stabeisens zahlt man 30 bis 50 Kop.; für
1,000 Stück Fangwerkzeuge 75 Kop. bis 3 Rbl. Im Allgemeinen
kann man aber sagen, dass auch hier die Jahreseinnahme sich auf
nicht viel über 30 Rbl. erhebt.
Landwirthschaftliche Geräthe (I, 32) produziren die Kustari aller
der Gouvernements, in welchen überhaupt Metall bearbeitet wird.
Nur durch den primitiven Zustand der russischen Landwirtschaft
ist es zu erklären, dass ein so wichtiger Industriezweig noch immer
der naivesten Methode unserer Hausindustrie sich erfreut. Und
während sich fast alle anderen Produkte des russischen Domestik¬
wesens auf den industriellen Arenen, den Ausstellungen, eine ge¬
wisse Anerkennung zu verschaffen gewusst haben, sind jene immer
das Aschenbrödel geblieben. Der Landmann, welcher sie gebraucht,
stellt aber keine höheren Anforderungen und ist mit dem mittel-
mässigen Zeug, das auf den Markt kommt, nicht gar sehr unzufrieden.
Freilich haben in der letzten Zeit ausländische Fabriken besonders
dort mit Erfolg zu konkurriren verstanden, wo die Wirthschaft in
Händen rationeller Grossgrundbesitzer lag. Vielleicht ist es diesem
Umstand zuzuschreiben, dass in den letzten Jahren der Umsatz und
der Verdienst geringer geworden, so dass auf den einzelnen Kustar
nicht mehr wie früher ca. 50 Rbl., sondern nur 35 als Jahreseinnahme
kommen.
Die Produktion von Waffen (I, 33) hat durchaus die Bedeutung
vergangener Zeiten. Die Kustari sind hierin so zurückgeblieben,
dass sie nur sehr bescheidenen Bedürfnissen zu genügen vermögen.
Am bekanntesten sind noch die Arbeiten vom Kaukasus, Tula, Tur-
kestan und Wjatka. Die Bauern des letzten Gouvernements verferti¬
gen ungefähr 4000 Flinten und 800 Pistolets jährlich. Die Schäfte zu
diesen Gewehren werden aus den brakirten Schäften der Ishew-
schen Fabrik hergestellt, welche zu 2 Rbl. IQ Kop. das Pud ver*
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400
kauft werden. Eine derartige Flinte kostet 2 Rbl. 50 Kop. und
findet ihren Absatz sowohl in Merselinsk, als in Katalnitschi. Unter
den Tula’schen Gewehren gibt es solche, welche sich durch Origi¬
nalität der Konstruktion auszeichnen und theurer sind, ohne deshalb
besser zu sein. Der Kustar hat selten mehr als 30 Rbl. Jahres¬
einnahme.
Auf derselben Stufe der Vollkommenheit stehen sowohl die
Schlosser und Tischler-Instrumente (I, 34), als auch das metallene
Hausgeräth (I, 35) und die kleinen Galanteriesachcn (I, 36}, welche
die russische Hausindustrie verfertigt. Dieses zu konstatiren ist
um so unangenehmer, als die Art, wie gerade diese Arbeiten ver¬
fertigt werden, Schlüsse ziehen lässt auf den Stand der Kultur, der
Bildung und des Geschmackes des russischen Kustar, des Bürger¬
und Bauernstandes. Während die Articles de Paris der französischen
Kustari an Grazie und Durchbildung, das Hausgeräthe der Schwei¬
zer Kustari an Solidität und Dauerhaftigkeit, die Instrumente der
deutschen Kleingewerbe an Gewissenhaftigkeit und Vollkommenheit
nichts zu wünschen übrig lassen, sind diese Produkte des russischen
Domestikwesens sehr, sehr primitiv. Hier thäte eine grössere Ver¬
breitung einschlägiger Kenntnisse vor Allem Noth. Denn die Lage,
in welcher sich der Kustar dieser Abtheilungen befindet, ist genau
dieselbe, wie wir sie in den andern bereits gesehen haben, die
durchschnittliche Jahreseinnahme steigt nicht über 30 Rbl., wäh¬
rend sie, bei nur wenig grösserem Wissensumfang, sich um Vieles
bessern müsste,
(Schluss folgt.)
Der dritte internationale Orientalisten-Kongress
in St. Petersburg.
Vom 20- August (1. September) bis zum 1. (13 ) September 1876.
(Schluss.)
In derselben Abendsitzung vom 24. August (5. September) las
Hr. Slowzow eine Abhandlung vor über die bei den Kirgisen ge¬
bräuchlichen Sprichwörter und Redensarten.
Hr. Syren-Mob Sacharow , Haupt-Taischa der Burjaten von Bargu-
sin, machte folgende Mittheilung: «Ich bitte Sie, meine Herren, um
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40i
die Erlaubniss, einige Worte über die transbaikalischen Burjaten,
namentlich vom Kreise, wo ich die Ehre habe, Oberhaupt eines
Klanes zu sein, vortragen zu dürfen.»
Die transbaikalischen Burjaten gehören zur mongolischen Rasse
und kamen aus der Mongolei, wo noch jetzt ihre Stammgenossen
wohnhaft sind. Sie beobachten die Satzungen der buddhistischen
Religion und führen ein Nomadenleben, so dass sie mehrmals im
Jahr ihre Wohnungsplätze wechseln, wozu der geringe Vorrath von
Nahrungsmitteln und Futter die Veranlassung gibt. Während des
Sommers wohnen sie in Zelten (Jurten) aus Holz oder Filz; im Win¬
ter aber wohnen sie in Holzhäusern, welche in der Nähe ihrer Nah-
rungsvorräthe gebaut sind. Sie beschäftigen sich hauptsächlich mit
Viehzucht, so dass Vieh ihren ganzen Reichthum ausmacht, welches
ihnen die Lebensmittel, nämlich Milch und alle Milchprodukte lie¬
fert; sie gebrauchen Pferdemilch, Kuhmilch und Schafmilch. Auf
Veranlassung der Regierung und der Klanoberhäupter haben die
Burjaten, nach langem Widerstand, angefangen sich mit Ackerbau
zu beschäftigen, so dass sie gegenwärtig eine beträchtliche Quantität
von Sommergetreidearten, nämlich Weizen und Hafer, säen. Der
Fortschritt der Burjaten in dieser Beziehung ist ziemlich bedeutend:
noch am Anfang dieses Jahrhunderts verstanden sie gar nichts vom
Landbau und wussten die elementarsten Dinge der Agrikultur nicht;
jetzt dagegen sind sie ziemlich geschickte Landbauer. Ihre Vor¬
fahren sollen, nach der Volksüberlieferung, als sie zum ersten Male
Mehl sahen, es Chagurai Sasun (trocknen Schnee) genannt haben,
und wussten nicht, was damit anzufangen; jetzt aber betrachten die
Burjaten das Mehl nicht mehr als einen sonderbaren Gegenstand,
sondern als eines der nothwendigsten Nahrungsmittel, und segnen
diejenigen, welche sie den Ackerbau gelehrt haben.
Die transbaikalischen Burjaten haben ihre Dastan (Tempel) und
ihre Lamas (Priester). Sie gebrauchen die mongolische und die
tibetanische Schrift; ihre heiligen Bücher sind gewöhnlich in der
letzteren geschrieben. Seit dem Anfänge dieses Jahrhunderts fingen
die Burjaten auch an russisch zu lernen; seitdem sind bei ihnen, auf
Kosten der Gemeinden, einige Kirchenschulen errichtet worden, so
w dasfs jetzt unter ihnen sich eine beträchtliche Anzahl Personen findet,
welche des Russischen wenn auch nicht vollkommen, so doch we¬
nigstens ziemlich genügend mächtig sind.
Ihre religiösen Zeremonien finden in den Häusern, den Zelten und
Dastans statt; sie haben auch Feiertage, an welchen verschiedene
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Gebete verrichtet werden, aber die Verpflichtung, an diesen Tagen
nicht zu arbeiten, existirt bei ihnen nicht.
Die burjatischen Volksfeste sind folgende: das Neujahrsfest,
welches zum ersten Neumond im Frühling anfängt; es führt den
Namen Sagan Sara (weisser Mond). An diesem Tage beglück¬
wünschen sich die Burjaten nach dem Gottesdienste und schenken
einander Chadaks (d. h. weissseidene Bänder), bei welcher Gelegen¬
heit man den Spruch sagt: Sain udur sain bylyk (d. h. glückliches
Geschenk am glücklichen Tage). Nach altem Brauch halten die
Burjaten auch ausser diesem Feste den Gottesdienst in den Steppen
und werfen bei dieser Gelegenheit an gewissen Plätzen kleine Hügel
(Tumuli) auf. Solche religiöse Feste finden hauptsächlich im Juni
statt. Nach dem Gottesdienste amüsirt man sich an Pferderennen,
Athletenkämpfen und Uebungen im Schiessen. Von Familienfesten
ist die Feierlichkeit zu erwähnen, welche am Tage, wenn das Kind
das Knabenalter erreicht, stattfindet. Bei Gelegenheit einer Hoch¬
zeit wird 3 bis 7 Tage lang gefeiert, je nach dem Vermögen der
Neuvermählten. An gewöhnlichen Abenden vertreibt man die Zeit
mit Schachspiel; die jungen Leute haben andere kleine Spiele und
amüsiren sich am Gesang. Manchmal erzählen an solchen Abenden
alte Männer oder alte Frauen verschiedene Geschichtchen, welche
den Volksmärchen entlehnt sind. Die Burjaten besitzen nur ein
musikalisches Instrument, die zweisaitige Geige, auf welcher man die
nationalen Gesänge und Lieder ausführt.
Darauf wurde folgende Frage vorgelegt: Aus den geschicht¬
lichen Denkmälern erfahren wir, dass Sibirien während zweier Jahr¬
tausende ein Volk nach dem anderen nach Central-Asien schickte;
was waren die Ursachen, welche diesen Völkerüberfluss hervor¬
brachten und warum hörten die Auswanderungen und der Ueber-
schuss an Bevölkerung auf nach der Eroberung Sibiriens durch
Russland?
Hr. Solowkin erklärt, dass er gegenwärtig mit einem ausführlichen
Werke über die Philosophie der Geschichte beschäftigt sei, wo er
auch diese Frage befriedigend zu lösen hofft. Der Verfasser stellt
bei dieser Gelegenheit das Programm seines Werkes vor.
Dagegen erklärte Hr. Wassiljew , dass aus seinen mehrjährigen .
Studien über Central-Asien und dessen Verhältnisse zu China er di.e
Ueberzeugung gewonnen habe, dass Sibirien niemals eine sogenannte
Völkerwerkstätte (officina gentium) gewesen sei, sondern ganz um¬
gekehrt, dass dieses Land immer als Zufluchtsort für die aus dem
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Süden verdrängten Völker gedient habe. Wenn an den Grenzen
China’s sich neue mächtige Reiche bildeten, so geschah es gewöhn¬
lich in den südlich von Sibirien liegenden Gegenden, und die Ein¬
wohner jener südlichen Staaten suchten immer sich auf Kosten
ihrer nördlichen Nachbaren zu bereichern und sie zu unterwerfen,
weshalb Letztere gewöhnlich ihr Land zu verlassen und nach Sibi¬
rien zu flüchten pflegten. Es ist auch aus der Geschichte nicht be¬
kannt, dass jene nach Sibirien verdrängten Völker, nachdem sie sich
dort verstärkt und mit anderen Stämmen verbündet hätten, von
ihrem Zufluchtorte aus Invasionszüge unternommen haben sollten.
Nur eines Beispiels erinnert sich Referent, wo von einem aus Sibi¬
rien stammenden Volke die Rede sei, nämlich zur Zeit des Hauses
Toba (Toprak?), welches unter dem Namen der Dynastie Wei über
Nord-China und dem grössten Theile der Mongolei herrschte. In
der Geschichte dieser Dynastie ist von einem Volke Uluheu die
Rede, von welchem es u. A. heisst, dass im Süd-Westen der von
ihm bewohnten Gegend sich ein steinernes Gebäude befinde, in
welchem die Vorfahren des regierenden Hauses einst gewohnt hät¬
ten. Die Beschreibung des Gebäudes ist sehr verworren, doch könnte
man es mit grosser Wahrscheinlichkeit im jetzigen Sibirien, in der
Nähe des Baikal-Sees finden. Dies wäre die einzige Thatsache,
welche man zu Gunsten der Vermuthung, dass Sibirien einst den
Ausgangspunkt einer Völkerwanderung bildete, anführen könnte.
Aber auch in diesem Falle hätte es sich doch bloss um den süd¬
östlichen Theil Sibiriens, um Transbaikalien, gehandelt, welches
Land beständig in engster Verbindung mit der Mongolei gestanden
hat und ist demnach, für die ältere 'Geschichtsperiode wenigstens,
kaum von Central-Asien zu trennen. Man könnte noch das Faktum
anführen, dass die Dikokamennij-Kirgisen oder Burjaten von den
Kirgisen abstammen, welchen die Kosaken zur Zeit der Eroberung
Sibiriens begegneten; aber eine solche Auswanderung kann keines¬
wegs als eine oft wiederholte Thatsache angesehen werden, am
wenigsten konnte sie die Folge eines Ueberschusses an Menschen
sein, sondern sie trug vielmehr den Charakter der Flucht von einer
besiegten Nation. «Wenn ich*, bemerkte Referent ferner, «im
Gedächtnisse alle Völker, welche in historischen Zeiten eine be¬
deutende Rolle in Central-Asien gespielt hatten, durchmustere, so
finde ich, dass kein einziges von ihnen aus Sibirien stammen konnte.
Die Hunnen gelten allgemein als Abkömmlinge der Hien-jun> welche
im Norden des eigentlichen China’s ansässig waren; die verschiede-
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404
nen Stämme der Sien-pi oder Schi-wei , welche den Hunnen in der
Herrschaft über die Mongolei nachfolgten, stammten von den
Dung-ku ab, d ? h. von den Einwohnern des jetzigen Mundschuriens;
die Tuküe oder die Türken werden als Nachkommen der Hunnen
betrachtet, jedenfalls befand sich derjenige Theil des Altai, wo die
Tuküe zuerst aufgetreten waren, in der Mongolei; die Hoei-hei, die
Nachfolger der Tuküe, wohnten in dem mongolischen Theile des
Selenga Bassins; ihnen folgten die Kidan und die Tschurtschen % aber
es ist bekannt, dass sie aus denselben Gegenden kamen, wo einst
die Dung-hu und Schi-wei ansässig waren; endlich der äusserste
Theil des Vaterlandes der Mongolen, der Tschingis-chans, lag ziem¬
lich nahe am Onon-Flusse .»
♦Ich glaube demnach, dass Sibirien zu keiner Zeit so dicht be¬
völkert war, wie jetzt Dagegen könnte man einwenden, dass der
grösste Theil der jetzigen Bevölkerung von Sibirien aus Russen
bestehe und dass diese somit die indirekte Ursache seien zum Ver¬
schwinden der anderen Völkerschaften in diesem Lande; aber ich
glaube, dass man im Gegentheil es uns als Verdienst anrechnen
darf, dass wir die Einzigen waren, welche sich in Sibirien so einzu¬
richten wussten, dass wir uns dort vermehrten und nicht verminder¬
ten, gleichwie die anderen Ankömmlinge, welche in jedem Falle
ausgestorben wären. Wir haben heute die Mittheilung des Hrn.
Neumann gehört, welcher über das allmälige Aussterben der Omo-
ken berichtete (vgl. *Russ. Revue» Bd. IX, pag. 339), ohne dass
wir auf irgend eine Weise dazu beigetragen hätten. Man darf übri¬
gens nicht vergessen, dass in der Gegenwart das Verschwinden der
sibirischen Eingeborenen zum grossen Theil durch die Russifizirung
bewerkstelligt wird.»
«Kurz, ich bin der Meinung, dass zur Zeit unserer Ankunft in
Sibirien dies Land nicht mehr von Aborigenen bewohnt war, son¬
dern von Stämmen, welche von anderwärts dahin kamen. Es scheint
mir unmöglich, zuzugeben, dass die tatarische Rasse, welche solche
entfernte Repräsentanten, wie die Jakuten, aufzuweisen hat, in Sibi¬
rien eingeboren sein sollte, oder anzunehmen, dass die Tungusen
nach Mandschurien eingewandert seien und nicht umgekehrt, dass
sic aus diesem Lande nach Sibirien übersiedelten. Sollten die Mon¬
golen bloss einen Abzweig von unseren sibirischen Burjaten bilden
und nicht eher das umgekehrte Verhältniss das richtige sein? 1 Es
4 Vgl. oben (pag. 401) die Meinung des T^jscba Sacharow, welcher' sich ebenfalls
für die letztere Annahme ausspricht.
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bleiben also nur noch die finnischen Stämme übrig. Dem ersten
Anscheine nach könnte man glauben, dass sie sich von Sibirien aus
verbreiteten; doch gibt es Beweisgründe dafür, dass auch ihr Vater¬
land Central-Asien war.
Eine andere vorgestellte Frage lautete; Ist der unter den einge-
bomen Heiden Sibiriens herrschende Schamanismus einerlei Art»
oder unterscheidet sich derselbe je nach der ethnographischen Ab¬
stammung seiner Bekenner?
In Bezug auf diese Frage bemerkt Hr. Wassiljew Folgendes:
«Ich erlaube mir zuerst Einiges über die Benennung Schamanismus
zu bemerken. Zu wiederholten Malen habe ich schon in meinen
Publikationen ausgesprochen, dass dieses Wort, meiner Meinung
nach, mit dem chinesischen scha min , welches aus dem Sanskrit¬
worte Schramana (Buddhisten) entstand, identisch sei. Ich beab¬
sichtige keineswegs die absolute Wahrheit dieser meiner Erklärung
zu vertheidigen; jedoch erlaube ich mir, die Gründe zu meiner Ver-
muthung kurz anzugeben. Soviel mir bekannt ist, wird gewönlich
das Wort Schaman vom Mandschu* Verbum sambi (wissen) abgelei¬
tet, und glaubt man, dass Saman mit dem russischen Znachar
(aHaxapb, Hexenmeister, Zauberer) gleichbedeutend sei. Gegen
diese Ableitung spricht aber der Umstand, dass ausser dem Worte
Schaman , welches übrigens nach dieser Erklärung Saman lauten
müsste, wir keine einzige, von Verben abgeleitete Adjektivbildung
auf man oder an im Mandschu finden können. Man wird vielleicht
in meiner Erklärung den Umstand auffallend finden, dass ein Wort
aus dem entfernten Indien nach dem Innerir Sibiriens wandern sollte,
aber wir haben Hrn. Tajscha gehört *. Das Wort Tajscha selbst,
ebenso wie die Wörter Zai^san und Schu-lenga, welchen man sogar
bei den Wolgakalmüken begegnet, sind unzweifelhaft chinesischen
Ursprungs. Freilich ist die Bedeutung des Ersteren im Chinesischen
«Kanzler, Wisir, Chef», bei den Burjaten dagegen werden auch die
Häupter der winzigsten Klans so betitelt; doch beweist dies gegen
den chinesischen Ursprung nichts. Die Mongolen nannten einst
Taiischi bloss die Angehörigen der Fürstenfamilien, jetzt dagegen
findet man Tajtschis unter den einfachen Dienern; bei den Chinesen
aber gilt noch gegenwärtig Tajsi ausschliesslich als Titel für die
Söhne des Bogdo-chan. Ebenso wurde einst der Titel Lama , dem
chinesischen Iio-schang entsprechend, nur zur Bezeichnung des
4 Wahrscheinlich Vom Gebrauch des Tibetischen ih Sibirien; vgl. oben (pag. 401).
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40 6
Hohenpriesters gebraucht; jetzt dagegen wird auch der Kutscher des
Priesters, wenn er das Kleid eines Geistlichen anzieht, Lama genannt.
Das Herabsinken der Ehrentitel und der Würdennamen ist übrigens
eine Thatsache, welcher man überall begegnet. In der alten Ge¬
schichtsperiode war der Buddhismus mehrmals unter die Einwohner
des jetzigen Mongoliens und Mandschuriens eingedrungen, ver¬
schwand aber nachher allmälig. Damals fand seine- Ausbreitung
immer von China aus statt, weshalb das Wort Schaman in der chi¬
nesischen Form erscheint. Aber die Völker, welche das Wort an¬
genommen hatten, konnten es doch zur Bezeichnung der Geistlichen
anderer Religionen ebenfalls gebrauchen; ebenso konnten die Scha¬
manenpriester, zur Zeit der Entartung ihres Glaubens, einen andern
annehmen und doch ihren alten Titel behalten. Zur Erklärung der
Ursache des bittern Hasses zwischen den Bekennern des Schamanen¬
thums und des Lamaismus kann folgender Umstand dienen. Zur
Zeit der russischen Eroberung von Sibirien waren alle unsere Bur¬
jaten Schamanisten, aber dank der russischen Protektion, gewannen
die Lamas grossen Einfluss und gebrauchten öfters Gewaltmittel,
um die Burjaten zu ihrem Glauben zu bekehren, so dass die An¬
hänger des schamanischen Bekenntnisses manchmal lebendig ver¬
brannt wurden. Dies hat für Diejenigen, welchen bekannt ist, dass
Tibet, in Folge der religiösen Kämpfe zwischen den verschiedenen
buddhistischen Sekten, mehrmals ganz zerstört wurde, nichts Auf¬
fallendes.
Ungeachtet, dass der Buddhismus mit seinen dogmatischen Dok¬
trinen sich auszuputzen und zu prahlen liebt, so verschmäht er es
dennoch nicht, öfters zum Charlatanismus seine Zuflucht zu nehmen.
So ist z. B. aus der Geschichte bekannt, dass Fu-tu-tsc/iin, einer der
ersten Propagandisten des Buddhismus in China (aus dem IV. Jahr¬
hundert n. Chr.) sich nicht durch seine Predigten, sondern vielmehr
durch seine Gauklerei und Taschenspielerkünstchen auszeichnete.
Es wird von ihm z. B. erzählt, dass er es verstanden hat, Brod aus
seinem Magen herauszuholen u. dgl. Auch die Lamas von Trans-
baikalien sind wegen ihrer Zauberkünste sehr berühmt und beschäf¬
tigen sich u. A. mit der Auffindung von gestohlenen Gegen¬
ständen u. s. w. Ich weiss auch, obwohl die Details mir unbekannt
sind, dass es in Tibet Wahrsager gebe, welche ihre Kunst an ihre
Söhne vererben. Zu diesen Orakeln nehmen die Tibeten in sehr
wichtigen Angelegenheiten Zuflucht, vielleicht sogar dazu, um die
Transmigrationen des Dalaj-lama zu entdecken. Diese Orakel füh-
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407
ren den Titel Tschoin-dschong (Vertheidiger des Glaubens). Man
behauptet, dass sie von buddhistischen Gottheiten mit furchtbaren
und schrecklichen Gesichtern, deren Muster hier auf der Aus¬
stellung zu sehen sind, besessen werden.
In Bezug auf diese Orakel erlaube ich mir das zu erzählen, was
ich selbst, während der Reise unserer geistlichen Mission durch
Mongolien im Jahre 1840, beobachtete. Als wir die wegen ihres
tiefen Sandbodens wohlbekannte Station Durma verlassen hatten,
erblickte ich rechts von der Strasse eine Pagode, welche ich zu be¬
suchen mich beeilte. Schon von Ferne drangen die Töne einer
rauschenden Musik zu mir. Die Pagode war in gutem Zustande und
besass eine beträchtliche Anzahl von Götzen. In dem Hauptgebäude
waren die Idole von gewöhnlicher Gestalt; in dem anstossenden
Gebäude aber, von woher auch die Musik kam, fand ich missgestal¬
tete Gottheiten, welche man Tschoindschun nennt. Zugleich er¬
blickte ich in einem Winkel einen unbeweglich auf einem Dreifusse
sitzenden Mann, den ich Anfangs für eine Statue hielt. Er trug
einen bunten Helm und eine gelbe Jacke, das Eine wie das Andere
mit Fransen und Bändern geschmückt, in der rechten Hand hielt er
eine Lanze, in der linken ein Schwert, Ich weiss nicht, ob der
wahre oder verstellte Zustand der Verzückung schon lange vor mei¬
ner Ankunft gedauert hatte, aber sogleich nach meinem Erscheinen
war der Lama von der Verzerrung ergriffen und fing an zu schluch¬
zen, Schreie auszustossen und mit seiner Lanze einen Götzen, welcher
hinter ihm durch einen Vorhang versteckt war, mächtig zu schlagen.
Die übrigen Lamas, welche zugegen waren, fingen an ihm beruhi¬
gende Mittel darzureichen, und als sein Konvulsionszustand aufhörte,
jedoch ohne dass er zum Bewusstsein kam, raunte man ihm in’s Ohr
verschiedene Fragen, welche er mit ganz leiser Stimme beantwor¬
tete. Durch die Vermittlung der Lamas richteten auch die Laien,
welche bis jetzt vor der Thüre standen, verschiedene Fragen an den
Verzückten.
Dies Alles sah ich, erlaube mir aber kein Urtheil darüber, ob in
dieser Thatsache irgend welcher Zusammenhang mit dem Schamanen¬
thum vorhanden sei.»
In derselben Sitzung sind ausserdem mehrere Abhandlungen vor¬
gestellt worden, welche der Kommission zur Veröffentlichung der
Arbeiten des Kongresses übergeben wurden. Dahin gehören drei
Monographien von Hm. Solotmv. über den Kalkaman-See, über die
Militärgrenze Ost-Sibiriens im vorigen Jahrhundert und eine histori-
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408
sehe Skizze über die orientalische Schule in Omsk; eine Abhandlung
von Hrn* Schestakowitsch über die Industrie und den Fischfang im
Narymlande; eine ethnographische Uebersicht der samojedischen
Stämme von Sibirien und endlich, eine Monographie von Hrn.
Solowjew über die Jakuten.
Die Morgensitzung vom 24. August (5. Sept.) war Indien und Per¬
sien gewidmet. Zuerst stellte Hr. Gubematis (Florenz) sein neuestes
Werk vor, welches «Mat^riaux pour servir ä Thistoire des 6tudes
orientales en Italie» betitelt ist. Bei dieser Gelegenheit gibt Refe¬
rent eine kurze Uebersicht über den Gang der orientalischen Studien
in Italien im Allgemeinen und den der indischen Wissenschaft im
Besonderen, und schildert zugleich den Aufschwung, welchen der
Orientalismus in seinem Vaterlande in neuester Zeit genommen hat,
namentlich durch die Societä degli studi orientali, durch daslnstituto
di studi superiori u. s. w.
Hr. Salemann gibt eine ausführliche Beschreibung von einer Hand¬
schrift der Kaiserlichen öffentlichen Bibliothek, welche verschiedene
Traktate im Pehlewi-Zend, worunter auch ein bekanntes Glossarium,
enthält.
Die Frage, ob der Inhalt der Pali-Inschrift des Königs Asoka auf
den Buddhismus ihres Urhebers schliessen lässt, suchte Hr. Kern
(Leiden) bejahend zu entscheiden.
Hr. Terentjew machte den Versuch nachzuweisen, dass die afgha¬
nische Sprache, obwohl sie viele Elemente aus den indischen und
eranischen Idiomen enthält, doch weder zu den einen, noch zu den
andern ursprünglich gehört, sondern einen ganz selbständigen Dia¬
lekt ausgemacht habe K
Daraufhin behandelten Referent und Hr. Salemann die Frage über
die Art, wie orientalische Wörter in europäischer Schrift transcribirt
werden müssen, wobei Letzterer sich zu Gunsten des Lepsius’schen
Standard Alphabet ausspricht.
Zur Beantwortung der Frage über den Ursprung der ethnographi¬
schen Benennungen Ssarten und Tadschiken sagt Hr. Terentjew>
dass nach einigen Sarten Feiglinge bedeuten, welche schimpfliche
Benennung die Usbeken den Aborigenen der eroberten Länder bei¬
gelegt haben sollen; nach Anderen aber soll in diesem Namen das
4 Ausführlich über die Abkunft der Afghanen, namentlich über ihren vermeinüichcn
Semitismus handelte Hr. Grigorjew in seiner Bearbeitung der Ritter’schen Erdkunde
«KadyAucTaHi a KatupiiCTAHi»», pag. 848—860.
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chinesische Ser, abgleitet von se (Seide), enthalten sein, weil in
Transoxanien der Seidenbau zu Hause gewesen sei. Tadschik aber
stellen Manche mit dem persischen tadsch (Krone), Andere aber mit
dem chinesischen ta-asi (Westländer) in Verbindung.
Eine weitere Mittheilung machte derselbe Referent über den
Stamm der Boloren in Central-Asien, welche bis jetzt ihre Unabhän¬
gigkeit zu erhalten wussten. Die Araber nennen sie Kafir (Un¬
gläubige), die Perser Siakpusch (Schwarzgekleidete, oder meta¬
phorisch: Traurige, Düstere?); sie selbst aber nennen sich nur Bolo¬
ren, vielleicht vom Worte boli (Wort, Ruhm; also ganz wie der Name
der Slaven, welcher nach Einigen von slowo , Wort, nach Anderen
von slawa , Ruhm, abstamme). Ueber dieses Volk finden sich Nach¬
richten in einem handschriftlichen Werke in der Bibliothek des russi¬
schen Generalstabes. Aber jenen Nachrichten seien, nach der Mei¬
nung des Referenten, die der Engländer Houghton und Elfinstone
vorzuziehen.
Hrn. Terentjew scheint Ritter’s «Erdkunde von Asien» (Band V,
oder Theil VII, Kap. 2, pag. 196 u. ff.), und namentlich die vortreff¬
liche russische Bearbeitung und Erweiterung dieses Kapitels durch
Hrn. Grigorjew, welche von der russischen geographischen Gesell¬
schaft unter dem Titel: «3eMjieB'fca'feHie PnTTepa, Ka6yjiHCTam> h
K a<J)HpHCTaHT>« (St. Petersburg, 1867* XIV 4. 1010) herausgegeben
wurde, unbekannt zu sein. Er hätte z. B. aus letzterem Werke (pag.
594) ersehen können, dass die Hauptquellen über die Siahpuschen
jetzt die Werke von Burnes, Masson und Raverty sind.
Hr. Sachau (aus Berlin) drückt den Wunsch aus, dass die ver¬
schiedenen Tadschik-Dialekte in Central-Asien von europäischen
Gelehrten, welche dazu die Gelegenheit haben, an Ort und Stelle
studirt werden möchten. Darauf bemerkt Hr. Lerch, dass der erste
Anfang zur Erfüllung dieses Wunsches bereits gemacht ist. Wäh¬
rend der Expedition des Generals Abramow zum Iskender-Kul, im
Jahre 1870, hatte nämlich Hr. Al. Kuhn Gelegenheit, den Dialekt
der Einwohner mehrerer Dörfer am Jagnau, einem Nebenflüsse des
obern Zarafschan, zu studiren. Die von Hrn. Kuhn gesammelten
Materialien .bestehen aus einem Vokabularium, aus Gesprächen und
Erzählungen; Letztere sind persisch und im Tadschik mit russischer
Uebersetzung und Transskription aufgezeichnet. Hr. Lerch möchte
nur wünschen, dass die Transskription dieser Dialekte mit Hülfe
eines vollständigen Alphabets, durch welches es möglich wäre, alle
phonetischen Nuancen wiederzugeben, geschehen möchte.
Rom, Revue. Bd. IX. 27
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4io
Hr. Oppert setzt seine Meinung über die Etymologie der Wörter
Avesta und Zend auseinander. Ersteres ist vom altpersischen Abasta
(Gesetz) abzuleiten; letzteres soll von der Wurzel zad> zand (bitten,
beten) stammen und Gebet bedeuten.
Hr. Macnamara drückt den Wunsch aus, dass die Aufmerksam¬
keit auf die Spuren, welche in verschiedenen orientalisch-geschicht¬
lichen Werken über Cholera-Krankheit zu finden sind, gelenkt
werde. Derselbe stellt zugleich eine eigene Abhandlung über diesen
Gegenstand vor.
Hr. Sakow nahm das Wort, um einige Bemerkungen über die
vorhergegangenen Referate zu machen. Obwohl Referent zugab,
dass unbekannte asiatische Sprachen durch europäische Alphabete
transskribirt werden müssen, so möchte er dieses System nur auf
solche Sprachen, welche noch keine eigene Schrift besitzen, und auf
Wörterbücher beschränkt wissen.
Was das Wort Sart betrifft, so glaubt Referent, dass man es vom
türkischen sert (hart, fest, kräftig) abzuleiten habe. Nach Hrn. Sa-
kow’s Meinung sollen die Usbeken diese Benennung den durch ihre
Schwäche bekannten Ssarten ironischer Weise gegeben haben.
Diese Meinung wird von Hrn. Lerch widerlegt, welcher darauf auf¬
merksam macht, dass im dschagataischen Wörterbuche zu den
Werken des Mir-Ali-Schir Sart durch schehri (Stadtbewohner,
Städter) erklärt wird. Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass
der fragliche Name vom alteranischen Worte chschatra (Reich,
Stadt) abstamme. Es lässt sich voraussetzen, dass die jenseits des
Jaxartes herumstreifenden Nomaden, welche (im Alterthum) zweifel¬
los eranischen Ursprungs waren, ihren an diesem Flusse sesshaften
Nachbaren, im Gegensatz zu sich selbst, die Benennung Städter
gegeben hatten. Nach der türkischen Invasion im Jaxartes-Gebiet
verblieb der Name Sarten für alle sesshaften Einwohner, seien sie
türkischer, eranischer oder gemischter Herkunft.
Folgende Abhandlungen und Werke wurden in dieser Sitzung
vorgestellt:
1. A comparativ grammar and vocabulary of the languages bet-
ween Kabul, Badakshan and Kashmir, by M. Leitner.
2. Essai sur le malgache ou etude comparee de langues javanaise,
malgache et malayse, par M. Marre.
3. Note sur les routes de Meschhed, par M. Bakouline.
4. Inscription murale de la Pagode d’Oodeypore (Malva), par
M. le baron Textor de Ravisi.
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J. Sur la pretendue origine ^gyptienne des Chinois, par M. Du-
chäteau.
6. On sanscrit words in the Puschtu language, by M. Raverty.
Alle diese Abhandlungen sind der Kommission für den offiziellen
Bericht übergeben worden.
Von gedruckten Werken wurden in dieser Sitzung die zahlreichen
Schriften (in holländischer Sprache) des Hm. Kern über Sanskrit-
Literatur und mehrere Werke italienischer Orientalisten, namentlich
die der Herren Ca9telli, de Gubernatis, Puini und Severini, vor¬
gestellt.
In der Sitzung vom 27. August (8. September), welche der Archäo¬
logie und Numismatik des Orients gewidmet war, las zuerst Hr.
Gorski-Platonow eine kurze Notiz vor über eine hebräische Hand¬
schrift aus dem XII. Jahrhundert, welche im Besitze der russisch¬
geistlichen Akademie zu Moskau sich befindet.
Hr. Lerch machte eine sehr interessante Mittheilung über die
Münzen der Bnchar-chudah oder der Fürsten von Buchara. Die ersten
Exemplare dieser Münzen, welche von Frähn beschrieben wurden,
tragen, ausser einer Inschrift in ganz unbekannten Zeichen, noch
dazu die kufische Legende el-Mehdi. Referent weist nach, dass diese
Münzen bloss die Nachahmung einer anderen, den ersteren als
Muster dienenden Münzgattung seien. Letztere haben zur Legende,
statt des arabischen el-Mehdi, die Sylbe jasn, was als Bruchstück
des bekannten Wortes auf sassanidischen Münzen Mazda]asn (An¬
beter des Mazda, Ormuzd) betrachtet werden muss, und dazu noch
das Wort bagi (göttlich). An dem Typus der Münzen erkannte
Hr. Lerch, dass sie eine Nachahmung der Münzen des Sassaniden-
königs Warahran V. (aus der ersten Hälfte des V. Jahrhunderts n.
Chr.) seien, und weist nach, dass die Schrift der Legende «Buchar-
chudäh» die soghdische genannt werden muss.
Hr. Stickel (aus Jena) stellte das Modell eines von ihm erfundenen
Apparates vor, welcher sehr bequem und vortheilhaft zur Aufbe¬
wahrung von Münzen zu gebrauchen ist.
Hr. Lagus (aus Helsingfors) machte eine Mittheilung über kufische
Münzen und andere t>rientalische Alterthümer, welche in Finland,
hauptsächlich in der neueren und neuesten Zeit, entdeckt wurden.
Die wichtigsten Funde von kufischen Münzen sind auf den Alands¬
inseln gemacht worden, welche Inseln in Bezug auf orientalische
Münzen dieselbe Stelle in Finland einnehmen, wie die Insel Goth-
land in Schweden. Ausser Münzen sind auch andere werthvolle
27»
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Gegenstände und Schmucksachen orientalischer Herkunft in Fin-
land, und zwar auch in den allernördlichsten Gegenden (wie in
Lappland) aufgefunden worden. Dies Alles zeugt von dem Handels¬
verkehr, welcher einst zwischen diesem Lande und dem Orient statt¬
gefunden hat, und durch welchen allein zu den Arabern einige
Kunde von diesen Gegenden gelangen konnte. Der einzige Idrisi
(um die Hälfte des XII. Jahrhunderts n. Chr.) konnte am Hofe des
Königs Roger von Sicilien auch andere Quellen benutzen.
Hr. Lieblein (aus Christiania) besprach ausführlich das Volk Cheta
in den ägyptischen Hieroglypheninschriften, welches Volk er mit
den Hetheern der Bibel für identisch hält. Referent hat aber den
wichtigen Umstand ausser Acht gelassen, dass die Namensformen
der Cheta^ welche aus den ägyptischen Quellen uns bekannt sind,
nicht nach semitischer Sprachkonstruktion gebildet sind.
Hr. Harkavy suchte nachzuweisen, dass das unbekannte Land
Tennu , von welchem im ägyptischen hieratischen Papyrus zu Berlin
die Rede ist, mit dem biblischen Teman in Süd-Palästina identisch sei.
Derselbe lenkte auch die Aufmerksamkeit des Kongresses auf die
Frage über die altjüdischen Denkmäler aus der Krim, über welche
Referent eine ausführliche Untersuchung in den Memoiren der hiesi¬
gen Akademie der Wissenschaften erscheinen lässt.
Hr. Oppert (aus Paris) gibt einige Aufklärung über assyrische
Keilinschriften juridischen Inhalts, zu deren Entzifferung er den
Schlüssel entdeckte. Texte der Art finden sich von etwa 2500
v. Chr. bis zur Zeit des Domitianus.
Hr. Golenistschew gibt eine Notiz über den Papyrus Nr. 1 in der
ägyptischen Sammlung der hiesigen Eremitage. Dieser Papyrus
enthält einige Bruchstücke aus einem moralischen Traktate, eine
Erzählung aus der Epoche des ägyptischen Königs Senoferu (nach
Brugsch: zwischen 3800 und 3700 v. Chr.), einige Opferlisten und
ein Brouillon von Geschäftsbriefen. Nach der Meinung des Refe¬
renten soll das Dokument der Zeit der zwanzigsten ägyptischen
Dynastie gehören.
Darauf wurde eine Frage vorgelesen, welche folgendermaassen
lautet: Die chronologischen und die topographischen Daten in den
Münzlegenden der verschiedenen mohammedanischen Dynastien
werden allgemein den Angaben der Chroniken und anderer nicht¬
offiziellen Denkmäler vorgezogen; ist diese Meinung vollkommen
gegründet, und haben wir immer das Recht, letztere Angaben mit
Hülfe der Münzen zu korrigiren?
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413
Bei dieser Gelegenheit macht Hr. Terentjew eine Bemerkung über
die Unzuverlässigkeit der Inschriften auf Grabsteinen. Referent
habe selbst aus Ssamarkand ein in Marmor eingemeisseltes Epitaph
des Chan Mohammed Scheibani mitgebracht, welches gegenwärtig
in der Kaiserlichen Eremitage sich befinde. Das Chronogramm
am Schlüsse der Grabschrift gibt als Todesdatum dieses Chans das
mohammedanische Jahr 977, d. i. 1569 n. Chr. Es ist aber bekannt,
dass Scheibani in einer im Jahre 916 (1510 n. Chr.) in Merw gelie¬
ferten Schlacht erschlagen worden seij demnach ist dofch das Datum
in der Grabschrift gewiss falsch und die Angabe der Münzlegenden
ohne Zweifel vorzuziehen.
Es scheint vielmehr, dass der Scheibani der Grabschrift ein Enkel
des in Merw erschlagenen Chans gewesen sei.
Hr. Volck gibt in einer kurzen Bemerkung Auskunft über die in
Dorpat befindlichen orientalischen Münzen.
Hr. Golenistschew machte eine Mittheilung über die ägyptische
Inschrift der Metternich-Stelle, mit deren Publikation er gegenwärtig
beschäftigt ist.
Hr. Leon de Rosny gibt einige Auskunft über die Inschrift auf einer
kleinen Bronzestatue, welche Hr. Neumann aus Sibirien zum Kon¬
gress mitbrachte. Das kleine Istukan (Idol) wurde im Innern eines
Berges in Bargusin, nord-östlich vom Baikal-See, aufgefunden und
gehört jetzt dem Hm. Kamnajew. Nach der versuchten Entziffe¬
rung des Referenten sollen in der Inschrift die chinesischen Zeichen
für die Wörter «vollkommenes Gesetz des Qakia-Muni (Buddha)»
und «Talisman» Vorkommen.
Auf die Frage: ob die Aperiu in den ägyptischen Inschriften mit
den Hebräern identisch seien? — erfolgte kein Referat. (Vgl. einen
Aufsatz Emanuel de Rouge s in den «Comptes rendus de TAcad^mie
des Inscriptions et Beiles Lettres», 1869, pag. 18—22.)
Auf die nächste Frage: «In welchem Verhältnisse stehen die geo¬
graphischen Bezeichnungen Magan und Mussur in den assyrischen
Keilinschriften und ob die beiden Namen Aegypten bezeichnen?»
gibt Hr. Oppert eine verneinende Antwort, da bloss letztere Benen.
nung für Aegypten gebraucht wird.
Die letzte Frage lautete: Welchen politischen Zweck verfolgte
Schischak (Scheschonk, Sesonchis), der Gründer der zweiundzwan¬
zigsten ägyptischen Dynastie, bei seiner Expedition in das Reich
Juda und warum dieser König das Reich der zehn Stämme ruhig
liess?
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414
Hr. Chwolson bemerkt dazu, dass er in einem russischen Artikel,
wo er auseinandersetzte, dass Philistäa eine Art Militärkolonie der
Aegypter gebildet hatte, auch diese Frage zum Theil beantwortete.
Folgende Schriften und handschriftliche Aufsätze wurden dem
Kongress in dieser Sitzung vorgestellt:
1. Ueber die vorhistorische Civilisation der Völkerschaften von
Perm und über ihren Handelsverkehr mit dem Orient, von Hrn.
Aspelin .
2. Ueber die Steininschriften des Sinaiberges, von Hrn. Camille
Ricque .
3. Ueber hebräische Grabsteine, welche neben Sennaja , auf der
Tamanischen Halbinsel aufgefunden wurden, von Hrn. Ljuzenko.
4. Histoire de Jerusalem et d’Hebron, traduit sur le texte arabe,
par H. Sauvaire, 1876.
5. Ueber das japanische Münzsystem, von Hrn. Machow , 1861.
In derselben Sitzung hat der Vorsitzende (Hr. Oppert) dem un¬
längst verstorbenen finnischen Orientalisten Eneberg , welcher in der
Blüthe seiner Jahre der Wissenschaft entrissen worden ist, einige
herzliche Mitleidsworte nachgerufen.
In der Sitzung vom 28. August (9. September) las Hr. Mehren
(aus Kopenhagen) eine Abhandlung vor über die Reform in der
mohammedanischen Theologie, welche durch Ali el-Aschari (im IX.
und X. Jahrhundert n. Chr.) herbeigeführt wurde.
Hr. Angelo de Gubematis (aus Florenz) setzte seine Meinung aus¬
einander über den Parallelismus in der biblischen und der indischen
Kosmogonie.
Hr. Oppert gibt eine neue Uebersetzung des durch George Smith
entdeckten assyrischen Textes über die Sündfluth, bei welcher Gele¬
genheit Referent auch die traurige Nachricht von dem plötzlichen
Tode des verdienstvollen englischen Assyriologen mittheilt und sei¬
nem Andenken und Verdiensten um die Wissenschaft die gebüh¬
rende Achtung zollt.
Hr. Müller (aus Moskau) macht den Inhalt seines neulich erschie¬
nenen russischen Werkes: «Studien zur arischen Mythologie» be¬
kannt. Unter Anderem sucht der Verfasser in dieser Schrift nach¬
zuweisen, dass die alten Indier, ganz wie die Griechen und Chaldäer,
ältere Gottheiten in die Sterne zu versetzen pflegten, und dass die
indo-europäische (arische) Mythologie in Zusammenhang mit der
chaldäischen betrachtet werden muss.
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Hr. Lieblein macht eine Bemerkung über den Inhalt der Inschriften
auf einer Todtenurne, welche im Museum der hiesigen Akademie
der Wissenschaften sich befindet. Ueber dieses Denkmal berichtet
Referent in seinem 1874 erschienenen Buche: «Die ägyptischen
Denkmäler in St. Petersburg, Helsingfors, Upsala und Kopenhagen»
(vgl. «Russ. Revue» Bd. IV, pag. 284u.fr.) ausführlich, und wollte er
nur jetzt auf die Wichtigkeit der hiesigen Fragmente für den Text
des ägyptischen Todtenbuches , dessen Herausgabe auf dem zweiten
internationalen Orientalisten - Kongress (in London) beschlossen
wurde, aufmerksam machen.
Hr. Bonneil liest eine Notiz vor über die Religion der Scythen,
welche derselben Abhandlung entnommen ist, aus welcher Refe¬
rent auch die Mittheilung über die Nationalität der Scythen (s. oben
pag. 333 u. ff.) machte.
Hr. Nauphal erörterte manche Eigenthümlichkeiten der moham¬
medanischen Jurisprudenz in Betreff des Handels, welche Eigenthüm¬
lichkeiten Referent durch religiös-juridische Einrichtungen und durch
das ökonomische System der Mohammedaner zu erklären sucht.
Hr. Krylow macht folgende Mittheilung:
«Die Uebersetzung der heiligen Schrift und christlich-religiöser
Bücher in die orientalischen Sprachen, zum Zweck der Heiden¬
bekehrung, ist eine Frage, welche schon mehrmals ventilirt wurde.
In Anbetracht dessen, dass der dritte internationale Orientalisten-
Kongress vorzugsweise den Studien über das asiatische Russland
geweiht ist, ergreife ich die Gelegenheit, um eine rein literarische
Frage zu stellen: Müssen die erwähnten Bücher, welche für die zu
bekehrenden sibirischen Heiden bestimmt sind, in die Literatur¬
sprachen oder in die Volksdialekte des Orients übersetzt werden?
Die mongolische Uebersetzung dieser Bücher ist jetzt fertig. Diese
grosse Arbeit ist die Frucht 27jähriger Mühe des verstorbenen Erz¬
bischofs von Jaroslaw, Nil , und hauptsächlich, des Popen Nikolai
Dorskejew , welcher burjatischer Herkunft ist und einst buddhisti¬
scher' Priester war. Bis jetzt sind davon folgende Bücher ge¬
druckt worden: 1) CjijOKeÖHHKT», 2) TpeÖHHKT», 3) HpMOJioria,
4) HaCOCJIOBT>, 5) nOCTHMfl TpiOÄT», 6) U[B , fcTHOÖ TpioÄi», 7 ) CayÄ-
6u ua rocnoÄ^xie npa3AHHKH, 8) Oömifl MHHeft, 9) Oktohxt», 10)
IIocjrfeAOBaHie na Aem> Cb. nacxn, 11) Mojihtboc^ob-b, 12) Ha'ia-
tokt> xpHCTiaHCKaro yaeHia. Das Evangelium und die Apostel
sind schon übersetzt, aber noch nicht gedruckt. Die übersetzten
Bücher wurden erst dann gedruckt, nachdem dieselben von unsern
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Professoren der mongolischen Literatur, den Herren Popoiv und
Golstunski , approbirt wurden, und doch konnten sie noch nicht er¬
scheinen, und zwar wurde in Folge der Einmischung unserer Missio¬
nare, welche behaupten, die Uebersctzung sei in einer dem Volke
ganz unverständlichen Sprache gemacht worden, die Herausgabe
der gedruckten Bücher verboten.
Die Burjaten besitzen viele unter einander so verschiedene Dia¬
lekte, dass die Einwohner diesseits und jenseits des Baikal-See's sich
kaum gegenseitig verständigen können. Manche dieser Dialekte
besitzen noch gar nichts Geschriebenes, weshalb man beim Ueber-
setzen genöthigt ist, seine Zuflucht zur mongolischen Ursprache zu
nehmen. Dies Alles zeigt nun, dass die heilige Schrift und die
christlichen religiösen Bücher in die Literatursprache übersetzt wer¬
den müssen, und dass der Pope Nikolai Dorshejew, der gründliche
Kenner der mongolischen Sprache und einiger burjatischen Dia¬
lekte, ganz Recht hatte, für seine Uebersetzungen der ersteren
Sprache sich zu bedienen. Als Mitglied der Missionsgesellschaft
nehme ich mir die Freiheit, meine Ueberzeugung auszusprechen,
dass im Interesse der Civilisation und der Bekehrung der Heiden
zum Christenthum es mehr als nothwendig sei, die Herausgabe der
übersetzten Bücher fortzusetzen und dazu sich des Mongolischen zu
bedienen. Es ist jedenfalls für die Burjaten gewiss besser, die hei¬
ligen Schriften des Christenthums mongolisch, als slavisch oder
überhaupt nicht zu besitzen.»
Folgende Aufsätze und Schriften wurden in dieser Sitzung dem
Kongress vorgesteljt:
1. Outlines of a History of Chinese Philosophy, by E. Eitel.
2. Chinese Natural Theology, by John Chalmers .
3. Ueber eine slavische Uebersetzung des Psalter, welche nach
dem hebräischen Text gemacht worden ist. Ein Beitrag zur Ge¬
schichte der hebräischen Studien in Russland von Hm. Gorski Fla-
tonow. (Der Uebersetzer ist der Erzbischof von Moskau und Kaluga
Ambrosius Sertiss-Katnenskij, geboren 1708, gestorben 1771.)
4. Beitrag zu.der Entstehungsgeschichte der biblischen Chronik
der Peschitha, von Hrq. Tötterman.
5. Ueber die Sprache, welcher man sich beim Uebersetzen der
christlichen Bücher für die sibirischen Heiden zu bedienen braucht,
von Hrn. Golstunsku (Mit Bezugnahme auf den oben erwähnten
Vorschlag Krylow’s.)
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6. The Vedarthayatna or an attempt to interprete the Vedas, by
M. Schaukar Panduratig Pandit , 1876.
7. Ueber die' religiösen Systeme der Japonier, von Hrn. Machow .
Die Schluss-Sitzung des dritten Orientalisten-Kongresses fand am
31. August (12. September) statt. In dieser Sitzung wurde zum
Versammlungsort des vierten Kongresses Florenz und zum Vor¬
sitzenden Hr. Michel Amari gewählt.
Ein Vorschlag des Hrn. Marr , unterstützt von Hrn. de Rosny> über
die Zulassung der lateinischen Sprache fiir die Referate des Kon¬
gresses, wird in der nächsten Versammlung in Florenz votirt werden.
Hm. Terentjew’s Vorschlag, der Kongress möchte die russische
und englische Regierung um die Protektion für wissenschaftliche
Untersuchungen Seitens russischer und englischer Gelehrten in
Central-Asien ersuchen, wurde angenommen.
Es wurde auch beschlossen, dem Wunsche der Sektion für Central-
Asien gemäss, die russische Regierung um die materielle Unter¬
stützung zur Herausgabe des arabischen Textes der Chronik von
Tabari durch Hrn. de Goeje zu bitten.
Hr. Grigorjew bemerkt bei dieser Gelegenheit, dass Hrn. de Goeje’s
Unternehmen für die orientalischen Studien überhaupt und für Russ¬
land insbesondere von höchstem Interesse sei, denn jene Chronik ist
eine der Hauptquellen für die Geschichte des grössten Theiles vom
russischen Asien, ebenso, wie für die Geschichte Ost-Russlands und
der angrenzenden Länder. Auch der erste Versuch zur Heraus¬
gabe dieses Werkes, welcher vor einem viertel Jahrhundert von
Kosegarten gemacht wurde, fand in St. Petersburg eine sehr günstige
Aufnahme. Auf der Abonnentenliste stand unter anderen auch der
Name des Grafen Rumjanzow . Dieser berühmte Mann, welcher so
viel zur Erweckung der Wissenschaft in Russland gethan hat, kannte
die persische Abkürzung der Tabari’schen Chronik schon im Jahre
1820 und wusste ihren Werth für die altrussische Geschichte zu
schätzen; seitdem ist der Name Tabari’s in der russischen histori¬
schen Literatur ganz einheimisch geworden.
Nachdem die russischen und ausländischen Orientalisten gegen¬
seitig ihren Dank ausgesprochen hatten, wurde die Sitzung aufge¬
hoben und somit der dritte Orientalisten-Kongress geschlossen.
Wie bereits oben bemerkt, war mit dem Kongress auch eine Aus¬
stellung verschiedener Gegenstände aus dem asiatischen Russland
verbunden. Dank der freundlichen Zuvorkommenheit des Organi-
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sators und Verwalters der Ausstellung, können wir hier eine kurze
Uebersicht derselben anreihen.
Die Ausstellung von ethnographischen und archäologischen Ge¬
genständen, welche auf das gegenwärtige und vergangene Leben
asiatischer Völker in Russland sich beziehen, befand sich in den an
den Sitzungssaal des Kongresses anliegenden Sälen. In dem ersten
Saale waren Ost-Sibirien in den Jakuten, Tschuktschen, Burjaten,
West-Sibirien in den Ostjaken, Kirgisen (Kasak) repräsentirt. Die
Gegenstände aus Ost-Sibirien waren zum grössten Theile aus der
Sibirischen Abtheilung der Kaiserl. Russischen Geographischen Ge¬
sellschaft eingesandt worden. Der Raum gestattet uns nicht, auf
eine Aufzählung der ausgestellten Gegenstände einzugehen, auch
würde uns solches schwer fallen, da kein Katalog der Ausstellung
vorhanden war. Hoffentlich wird ein solcher in den Memoiren des
Kongresses veröffentlicht werden. Wir beschränken uns nur auf
einige Bemerkungen. Unter den Gegenständen, welche das äussere
Leben der Jakuten charakterisiren, fallen uns die von diesen gearbei¬
teten Eisenwaffen und hölzernen Gefässe auf: die ersteren wegen
der vortrefflichen Bearbeitung des Eisens, die letzteren wegen der
sauberen Ausführung der Schnitzarbeit an ihnen. Auffallend war
auch die Uebereinstimmung in Form, Material und Verzierung der
burjatischen und kirgisischen Köcher und Bogenfutterale. Bogen
und Pfeile sind bei den Kirgisen jetzt antiquirt und werden bei ihnen
nur als Andenken an vergangene Zeiten aufbewahrt. Aus älteren
kirgisischen Wafien und Rüstungen war eine grosse Trophäe zu¬
sammengestellt. Uriter ersteren spielte früher das Kampfbeil (Ai-
balta) eine grosse Rolle. Vor der Trophäe stand das Modell eines
Pferdes in Lebensgrösse mit goldverziertem Sattel und Zaum¬
schmuck. Den Glanzpunkt des Saales bildete das reiche Filzzelt
eines der beim Kongresse anwesenden Kirgisen aus der Akmolin-
skaja Oblast. Es war mit Allem versehen, was zum häuslichen
Leben des Kirgisen gehört. In demselben stand ein Bett, eine
Wiege, der unvermeidliche Kumys-Schlauch aus Pferdehaut, lagen
und hingen hölzerne, hübsch verzierte Schalen und Löffel (auch ein
Paar Schöpflöffel aus Argali-Horn) und Waffen. Die Handindustrie
der kirgisischen Weiber war in zahlreichen Filz-Teppichen mit farbi¬
gem Tuche in mannigfaltigen und gefälligen Mustern, sowie in
reichen Kleidungsstücken mit Seidenstickereien auf Leder und Tuch
vertreten. Auch das weisse Zelt war mit rothem, in Seide gestick¬
tem Tuche verziert. In demselben Saale sah man auch eine zweite
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Trophäe mit turkestanischen Waffen, welche dem General-Adjutan¬
ten C. von Kauffmann I. gehören. Umgeben war diese Trophäe mit
Nationaltypen aus Turkestan, von Wereschtschagin in Oel gemalt.
Der Saal hinter dem Sitzungssaal bot Gegenstände kaukasischer
Industrie, eine kolossale Reliefkarte des Kaukasus, welche der Kai¬
serlichen Geographischen Gesellschaft von Sr. Majestät dem Kaiser
vor einigen Jahren geschenkt ist; ferner einen buddhistischen Altar
(Schöre) mit allem Zubehör, wie er in den Tempeln der Burjaten zu
sehen ist, dann mehrere Vitrinen mit Alterthümem aus Ost- und
West-Sibirien, sowie Funden von kufischen und Pehlevi-Münzen aus
Finland (ausgestellt von Prof. Lagus in Helsingfors) und dem Innern
von Russland (Ladoga-Kreis und Gouvernement Tschernigow, be¬
stimmt und geordnet von P. Lerch). Unter den Antiquitäten verdienen
besonders erwähnt zu werden die Silbergefässe der Grafen S. G. und
G. S. Stroganow, welche im Gouvernement Perm gefunden sind und
in den auf ihnen befindlichen Reliefdarstellungen ihren asiatischen
Ursprung verrathen. Zwei derselben tragen Inschriften in einem
unbekannten Alphabete, welche noch der Entzifferung harren. Die
eine dieser beiden Schalen ist bereits 1846 in dem Bulletin der Aka¬
demie veröffentlicht worden, die andere ist erst in diesem Frühjahr
gefunden worden. Die Bronze-Kultur Ost- und West-Sibiriens war
in zwei Vitrinen vertreten.
Im dritten Saale waren Albums, Bücher und Handschriften aus¬
gestellt. Unter den letzteren zeichneten sich die von Hrn. Ch.
Schefer aus seiner reichen Handschriften-Sammlung aus Paris mit¬
gebrachten besonders aus. Von Interesse und neu für Viele waren *
drei Handschriften, welche der deutsche General-Konsul Dr. O. Blau
aus Odessa eingesandt. Es waren zwei türkisch-bosnische Vocabu-
larien und ein tatarischer Aesop, in griechischen Charakteren ge¬
schrieben, aus Mariupol. Das vom Tifliser Museum eingesandte
photographische Album des Kaukasus bot trefflich ausgeführte
Nationaltypen, architektonische Denkmäler und Naturansichten. Der
hiesige Vertreter Japans hatte ein ebenfalls reiches photographisches
Album mit Ansichten von Japan, Hr. Baron F. Osten-Sacken ein
aus 27 photographischen Blättern bestehendes Album aus Urga (in
der Mongolei) und Umgegend, Frau Moschnin das von ihrem ver¬
storbenen Mann, dem General-Konsul Moschnin, zusammengestellte
reichhaltige photographische Album mit Typen und Ansichten aus
Konstantinopel, Trapezunt, dem Kaukasus, Syrien, Aegypten, dem
Kongresse zur Verfügung gestellt.
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420
Die Büchersammlung bot eine reiche Auswahl von Editionen
orientalischer Werke aus dem Verlage von E. Brill in Leiden, ferner
Vieles von dem in Russland während der zwei letzten Jahre in Bezug
auf den Orient Erschienenen, besonders an Separatabdrücken aus
periodischen Schriften.
Wir haben noch der Karten zu erwähnen: i) einer handschrift¬
lichen Karte, welche in diesem Saale an der Wand hing. Sie war
von der Orenburgischen Sektion der KaiserL Geogr. Gesellschaft
eingesandt und veranschaulichte die Lage alter Grabhügel im Lande
des Orenburger Kosakenheeres; 2) der reichen Sammlung von hand¬
schriftlichen und gedruckten Karten von verschiedenen Gebiets-
theilen des asiatischen Russland, welche der Generalstab ausgestellt
hatte. Hier war auch die Karte des im vorigen Jahre erst erforsch¬
ten Hissar-Gebietes, welche in kleinerem Maassstabe in dem am
20. August erschienenen Hefte des Bulletins der Kaiserl. Russ.
Geogr. Gesellschaft gedruckt erschien, begleitet von einem Memoire
des Leiters der Expedition zur Erforschung dieses Gebietes, Hm.
N. Majew .
Endlich haben wir noch zweier Annexe zur Ausstellung des Kon¬
gresses zu erwähnen, welche wegen Mangels an Raum im Lokale
des Kongresses in andern Lokalen den Mitgliedern des Kongresses
zugänglich waren. Im Sitzungssaale der Kaiserl. Russ. Geogr. Ge¬
sellschaft waren alte, theils seltene gedruckt, meist aber handschrift¬
liche russische Karten und Pläne aus dem Moskauer Haupt-Archiv
des Ministeriums des Aeussern, welche auf Sibirien und andere asia¬
tische Ländergebiete sich beziehen, ausgestellt; in einem Saale der
Akademie der Künste waren zahlreiche Ansichten aus China in
Aquarell, von Hm. Dr. Piessezki ausgeführt, zu sehen. Von der
ersten Sammlung lag den Mitgliedern des Kongresses ein in franzö¬
sischer Sprache, von dem Mitglieds des Kongresses, Hm. A. Ra-
tschinski , Beamten am genannten Archiv, redigirter französischer
Katalog gedruckt vor.
L •. •.
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Trophäe mit turkestanischen Waffen, welche dem General-Adjutan¬
ten C. von Kauffmann I. gehören. Umgeben war diese Trophäe mit
Nationaltypen aus Turkestan, von Wereschtschagin in Oel gemalt.
Der Saal hinter dem Sitzungssaal bot Gegenstände kaukasischer
Industrie, eine kolossale Reliefkarte des Kaukasus, welcher der Kai¬
serlichen Geographischen Gesellschaft von Sr. Majestät dem Kaiser
vor einigen Jahren geschenkt ist; ferner einen buddhistischen Altar
(Schöre) mit allem Zubehör, wie er in den Tempeln der Burjaten zu
sehen ist, dann mehrere Vitrinen mit Alterthümern aus Ost- und
West-Sibirien, sowie Funden von kufischen und Pehlevi-Münzen aus
Finland (ausgestellt von Prof. Lagus in Helsingfors) mit dem Innern
von Russland (Ladoga-Kreis und Gouvernement Tsdhernigow, be¬
stimmt und geordnet von P. Lerch). Unter den Antiquitäten verdienen
besonders erwähnt zu werden die Silbergefässe der Grafen S. G. und
G. S. Stroganow, welche im Gouvernement Perm gefunden sind und
in den auf ihnen befindlichen Reliefdarstellungen ihren asiatischen
Ursprung verrathen. Zwei derselben tragen Inschriften in einem
unbekannten Alphabete, welche noch der Entzifferung harren. Die
eine dieser beiden Schalen ist bereits 1846 in dem Bulletin der Aka¬
demie veröffentlicht worden, die andere ist erst in diesem Frühjahr
gefunden worden. Die Bronze-Kultur Ost- und West-Sibiriens war
in zwei Vitrinen vertreten.
Im dritten Saale waren Albums, Bücher und Handschriften aus¬
gestellt. Unter den letzteren zeichneten sich die von Hm. Ch.
Schefer aus seiner reichen Handschriften-Sammlung aus Paris mit¬
gebrachten besonders aus. Von Interesse und neu für Viele waren
drei Handschriften, welche der deutsche General-Konsul Dr. O. Blau
aus Odessa eingesandt. Es waren zwei türkisch-bosnische Vocabu-
larien und ein tatarischer Aesop, in griechischen Charakteren ge¬
schrieben, aus Mariupol. Das vom Tifliser Museum eingesandte
photographische Album des Kaukasus bot trefflich ausgeführte
Nationaltypen, architektonische Denkmäler und Naturansichten. Der
hiesige Vertreter Japans hatte ein ebenfalls reiches photographisches
Album mit Ansichten von Japan, Hr. Baron F. Osten-Sacken ein
aus 27 photographischen Blättern bestehendes Album aus Urga (in
der Mongolei) und Umgegend, Frau Moschnin das von ihrem ver¬
storbenen Mann, dem General-Konsul Moschnin, zusammengestellte
reichhaltige photographische Album mit Typen und Ansichten aus
Konstantinopel, Trapezunt, dem Kaukasus, Syrien, Aegypten, dem
Kongresse zur Verfügung gestellt.
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420
Die Büchersammlung bot eine reiche Auswahl von Editionen
orientalischer Werke aus dem Verlage von E. Brill in Leiden, ferner
* Vieles von dem in Russland während der zwei letzten Jahre in Bezug
auf den Orient Erschienenen, besonders an Separatabdrücken aus
periodischen Schriften.
Wir haben noch der Karten zu erwähnen: i) einer handschrift¬
lichen Karte, welche in diesem Saale an der Wand hing. Sie war
von der Orenburgischen Sektion der Kaiserl. Geogr. Gesellschaft
eingesandt und veranschaulichte die Lage alter Grabhügel im Lande
des Orenburger Kosakenheeres; 2) der reichen Sammlung von hand¬
schriftlichen und gedruckten Karten von verschiedenen Gebiets-
theilen des asiatischen Russland, welche der Generalstab ausgestellt
hatte. Hier war auch die Karte des im vorigen Jahre erst erforsch¬
ten Hissar-Gebietes, welche in kleinerem Maassstabe in dem am
20. August erschienenen Hefte des Bulletins der Kaiserl. Russ.
Geogr. Gesellschaft gedruckt erschien, begleitet von einem Memoire
des Leiters der Expedition zur Erforschung dieses Gebietes, Hrn.
N. Majew.
Endlich haben wir noch zweier Annexe zur Ausstellung des Kon¬
gresses zu erwähnen, welche wegen Mangels an Raum im Lokale
des Kongresses in andern Lokalen den Mitgliedern des Kongresses
zugänglich waren. Im Sitzungssaale der Kaiserl. Russ. Geogr. Ge¬
sellschaft waren alte, theils seltene gedruckt, meist aber handschrift¬
liche russische Karten und Pläne aus dem Moskauer Haupt-Archiv
des Ministeriums des Aeussern, welche auf Sibirien und andere asia¬
tische Ländergebiete sich beziehen, ausgestellt; in einem Saale der
Akademie der Künste waren zahlreiche Ansichten aus China in
Aquarell, von Hrn. Dr. Piessezki ausgeführt, zu sehen. Von der
erten Sammlung lag den Mitgliedern des Kongresses ein in franzö¬
sischer Sprache, von dem Mitgliede des Kongresses, Hrn. A. Ra-
tschinski , Beamten am genannten Archiv, redigirter französischer
Katalog gedruckt vor.
<z.
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423
Das weite Steppenland, welches von dem Don und der Wolga
durchströmt wird, setzt sich südlich von Zaryzin, wo die beiden
Ströme ihren Lauf in entgegengesetzter Richtung ändern, nach
Süden mit unverändertem Charakter fort und bildet eine Tiefebene,
in welcher der nach zwei Seiten ausfliessende Manytsch träge hin¬
schleicht. Sowohl die Asow’sche Bucht, als auch das nördliche
Becken des Kaspischen Meeres bilden eine submarine Fortsetzung
dieser Niederung, welche sich an der Ostseite des Kaspischen Mee¬
res noch weit bis zu den Bergriesen Mittel-Asiens hinzieht. In die¬
ser Niederung erhebt sich plötzlich, ohne jede Vermittelung eines
gebirgigen Hochlandes, inselartig der Bergrücken des grossen Kau¬
kasus, welcher in ununterbrochenem, fast schnurgeradem Verzüge
i ioo Werst lang, vom Asow’schen Meere zur Halbinsel Apscheron
sich erstreckt, eine einzige Riesenmauer bildend, welche der Mensch
bis jetzt nur an einem Punkt, dem Kasbekpass, zu überklettern im
Stande war. Auf der Südseite senkt sich der Kaukasus etwas weni¬
ger unvermittelt wieder zur Steppe herab.
Aber während auf der Nordseite des Kaukasus die Wasserscheide
des Don- und Wolga-Gebietes nur durch die wenige Fuss hohe
Ergeni-Höhe gebildet wird, erhebt sich auf der Südseite die Wasser¬
scheide des Schwarzen und Kaspischen Meeres zu einem ansehn¬
lichen Gebirge (der Suram-Kette), welche den grossen Kaukasus
mit dem kleinen Kaukasus vereinigt und dadurch das Land zwischen
dem grossen und kleinen Kaukasus in zwei Theile, das Flussgebiet
des Rion und das der Kura scheidet, welche beide sowohl in klima-
tologischer, als auch ethnographischer und naturgeschichtlicher Be¬
ziehung sonderbare Verschiedenheiten zeigen. Jenseits dieser Fluss-
thäler beginnt das türkisch-armenische Bergland, welches sich stellen¬
weise bis an die Schneegrenze erhebt, aber nirgends den Charakter
einer so ausgeprägten Kette, wie die des grossen Kaukasus, zeigt.
Nach dieser allgemeinen geographischen Skizze wollen wir die Lage
der wichtigsten Punkte des Kaukasus und seiner Umgebung einer
näheren Prüfung unterwerfen und nachzuweisen suchen, dass sie
alle, mit Ausnahme Baku’s, durch mehr oder weniger grosse Un¬
zuträglichkeiten der Lage belästigt sind.
Was zunächst die zeitweilige Hauptstadt Kaukasiens, das ro¬
mantisch gelegene und schöne Tiflis betrifft, so erfordert es
kein angestrengtes Nachdenken, um einzusehen, dass die Lage
der Stadt nicht nach irgend welchen leitenden allgemeinen Gesichts¬
punkten gewählt wurde, sondern, wie wohl die Lage der meisten
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424
anderen Städte, ihren Ursprung fast nur dem Zufall verdankt, welcher
eine anfangs kleine Ansiedelung zur grossen Stadt wachsen lässt,
oftmals eher zum Trotz, als in Folge der geographischen Lage des
Ortes,
Wenn Tiflis mit seinen 71,000 Einwohnern eine wohlhabende Stadt
mit lebhaftem lokalem Handelsverkehr ist, und wenn dieselbe, we¬
nigstens in ihren neueren Theilen, fast den Eindruck einer west¬
europäischen macht, so ist dies lediglich dem Reichthum der um¬
gebenden Länder und der Nothwendigkeit eines Centralpunktes für
die umfassenden kaukasischen Interessen des russischen Reiches
zuzuschreiben, nicht aber der Lage des Ortes, welche schwerlich
ungünstiger gewählt sein konnte. Tiflis befindet sich, figürlich zu
sprechen, im Sack, ohne irgend welchen natürlichen Ausgang: im
Norden der Kaukasus, im Westen das Suramgebirge, lm Süden das
armenische Bergland. Nicht einmal nach Osten öffnet sich eine
Strasse, denn die Kura ist für die Schifffahrt nicht zu gebrauchen;
in ihrem oberen Theile ist sie überaus reissend, in ihrem unteren
Theile sich fast ohne jeden Fall durch sumpfige flache Steppen
ziehend.
Es bedurfte zweier gewaltiger Arbeiten, um Tiflis aus seiner Iso-
lirung zu reissen und der Welt zu erschliessen. 1) Die bewunderungs¬
würdige Kunststrasse, welche sich unter dem Namen der grusinischen
Heerstrasse über den einzigen benutzbaren Pass des Kaukasus in
einer Höhe von 7977 Fuss über dem Meeresspiegel des Schwarzen
Meeres hinzieht und dadurch Tiflis mit der grossen Stawroporschen
Niederung verbindet, und 2) die Eisenbahn Poti-Tiflis.
Keine dieser beiden Kunststrassen kann indessen den Anforderun¬
gen eines erweiterten Verkehrs genügen. Die 201 Werst lange
grusinische Heerstrasse zwischen Tiflis und Wladikawkas, welche,
nach dem einstimmigen Zeugniss der Reisenden, den besten Kunst¬
strassen der Schweiz kaum nachsteht, ist doch nur ein Postweg,
welcher den Forderungen der Jetztzeit ebenso wenig gerecht werden
kann, wie es die Postwege der Schweizer Pässe thun konnten. Wenn
man einwendet, dass der Verkehr der Länder diesseits und jenseits
der Alpen ein ganz anderer ist, wie in den Kaukasus-Ländern, so
tritt dafür der Umstand ein, dass die Alpen etwa ein halbes Dutzend
bequeme Bergübergänge bieten, während im Kaukasus zur Zeit nur
ein einziger Pass zu benutzen ist. Sollen alle Handelsinteressen des
ausgedehnten Kaukasus sich in Tiflis konzentriren und daher ihren
Weg über den Kasbekpass suchen, so ist die einfache Poststrasse
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42 $
durchaus unzulänglich und nur eine Eisenbahn kann den Ansprüchen
des Handels genügen. Die Anlage einer solchen ist hier aber mit
so enormen Schwierigkeiten verknüpft, dass man lange an der Aus¬
führbarkeit derselben gezweifelt, bis die vom Fürsten Gagarin ge¬
leiteten Untersuchungen das Gegentheil bewiesen. Die vorgeschla¬
gene Bahn soll nicht über den Kasbekpass gehen, sondern etwas
östlich, unter dem Sattel des Bulaktschinpasses geführt werden. Die
Bahn verlässt das Terek-Thal bei der Station Kasbek, steigt im
Thale des Tzno aufwärts, durchbricht die Bulaktschin Kette in einem
Tunnel von 5 Werst Länge und dann, in das Thal der Schwarzen
Aragwa einbiegend, erreicht sie bei Passanauer wieder das Haupt¬
thal. Der Kostenanschlag beträgt 30 Mill. Rbl. Die Maximal¬
steigung der Bahn wird 25 pro mille betragen, also nicht mehr, als bei
der Gotthard-Bahn, und die starke Steigung zwischen den Stationen
Kasbek und Lars wird dadurch vermieden, dass die Bahn sich hoch
oberhalb Lars an den Wänden der Berge hinzieht und die Thalsohle
erst bei Balta wieder erreicht l . Dreissig Millionen Rubel ist keine
Kleinigkeit und es ist sehr die Frage, ob die so unentwickelten
Handelsrelationen des inneren Kaukasus solche bedeutende Anlage¬
kosten wenigstens in der nächsten Zukunft zu tragen vermöchten
und das Projekt wird wahrscheinlich nie, oder doch nicht so bald,
zur Ausführung gelangen, wenn nicht andere Gründe, etwa militä¬
risch-politische oder die des internationalen Verkehrs, für dieselbe
sprechen. Ueber die ersteren will ich mir kein Urtheil Zutrauen,
aber in Bezug auf die letzteren bin ich der Ansicht, dass sie dieses
Opfer durchaus nicht fordern, da sich eine bequemere und natür¬
lichere Richtung des Handelsweges, als über Tiflis, angeben lässt.
Ein weiterer Umstand von nicht geringem Belange ist der, dass die
Kasbek-Bahn, mit ihrem 5 Werst langen Tunnel, im günstigsten
Falle in zehn Jahren kaum fertig werden wird, eine Zeit, welche
unserem, nach einer raschen Erweiterung ihrer Kommunikations¬
wege strebenden Jahrhundert sehr unbequem fallen muss.
Der zweite Kommunikationsweg, die Eisenbahn von Poti nach
Tiflis hat so ziemlich alle Schwierigkeiten zu bekämpfen gehabt,
welche sich dem Bau einer Eisenbahn in den Weg stellen können.
Von Poti hatte man erst über 4 Meilen sich durch einen sumpfigen
Urwald hindurch zu arbeiten, dessen Fieberdünste die Arbeiter zu
Hunderten hinrafften, dann hatte man reissende Ströme zu über¬
brücken und söhliesslich ein Gebirge zu überschreiten, welches, wenn
* Vgl. Thielemann: «Streifzüge etc.»
Bim«. Berne. Bd. IX*
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426
man nicht sehr kostspielige Tunnel bauen wollte, stellenweise Stei¬
gungen von i : 20 (in Europa ganz unerhört) erforderte. (Vergl.
Thielemann a. a. O.) Die Schwierigkeiten sind nun zwar alle besiegt 9
aber wie unvollständig, erhellt aus dem Umstande, dass der Surampass
nur mit einer besonderen Berglokomotive überschritten werden kann,
welche letztere nur 2 bis 3 Waggons auf einmal transportiren kann.
Kaum vollendet, haben sich auch die Unzulänglichkeiten der gegen¬
wärtigen Bahn so evident gezeigt, dass man bereits daran arbeitet,
der Bahn eine andere Richtung zu geben, indem sie sich weiter her¬
ein in das Gebirgsthal der Kura ziehen und erst in der Nähe von
Borshom die Suramkette mit einem Tunnel durchbrechen soll. Ob¬
gleich die veränderte Richtung der Bahn, welche die ungeheuren,
auf den Bau des Surampasses gewandten Summen so gut als weg¬
geworfen erscheinen lässt, einer Hauptungelegenheit abhilft, so
darf man sich doch, scheint mir, nicht der Hoffnung hingeben, dass
der Poti-Tifliser Bahn eine grosse Zukunft bevorsteht. Nicht das
Suromgebirge ist es, welches diesem entgegensteht, sondern der fa¬
tale Umstand, dass der Endpunkt der Bahn am Schwarzen Meere
allem Anderen ähnlicher sieht, als einem Hafen. Poti liegt in einem
historisch gewordenen, übel berüchtigten Sumpfe am Ausflusse des
Rion. Während dieser bedeutende Fluss alljährlich grosse Schutt¬
massen mit sich führt, arbeiten die Wellen des offenen Meeres von
der andern Seite mit, um vor die Mündung des Rion eine Sandbank zu
bauen, welche schwer und bei unruhigem Wetter wegen der heftigen
Brandung fast gar nicht von den kleinen Flussdampfern des Rion zu
passiren ist. Grössere Schiffe gelangen nicht bis zum Ufer, sondern
müssen in bedeutender Entfernung auf offener See sich vor Anker
legen. Durch Molen und Landungsbrücken diesen Uebelständen
abzuhelfen wird kaum im Bereich der Möglichkeit liegen. Es sind
Cyklopenbauten nöthig, um den ungefesselt anstürmenden Wellen
des Schwarzen Meeres Widerstand zu leisten. Zu allem diesem
kommt noch die Fieber erzeugende ungesunde Luft der mit Feuch¬
tigkeit überladenen Küste hinzu, welche ein Europäer nur selten
mehr als einen Tag einathmete, ohne sich krank zu fühlen.
Man könnte aber den Einwand erheben, dasi es ja nicht nöthig
war, die Eisenbahn von Tiflis bei Poti münden zu lassen, sondern
dass man sie bis zu einem andern Punkte dei* Küste des Schwarzen
Meeres fort führen könnte. Dies ist aber leichter gesagt,' als ausge¬
führt, denn der Punkte der Ostküste, welche hierin Frage kommen
können, sind nicht sehr viele: etwa Noworossijsk,Ssuchum und Batum.
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Die Bucht von Noworossijsk und die nahe dabei gelegene von
Gelendsinskaja bilden gute, nur nach Süden offene, ringsum von
Bergen eingeschlossene Häfen, welche gewiss wichtige Punkte für
den Verkehr werden würden, wenn sie nicht in Folge ihrer Lage so
gut wie überflüssig würden. Hart am Fusse der unwirthsamsten
Berge gelegen, werden sie nie im Stande sein, in der Umgegend
eine reiche Industrie zu erwecken. Ihre Entfernung von Poti (500
Werst) beträgt mehr, als die von Poti nach Tiflis, und wenn man
sich zur Fortsetzung der Bahn durch diese so gut wie unbevölkerten
Gegenden entschliessen würde, so brauchte man sie nur 70 Werst
weiter fortzuführen, um die Meerenge von Kertsch zu erreichen,
welche, wegen der sich dort kreuzenden Handelswege, einen Hafen
in Noworossijsk ziemlich zwecklos machen würde.
Die weite offene Bucht von Ssuchum ist ein guter Ankerplatz,
welcher aber vor westlichen und südlichen Stürmen keinerlei Schutz
gewährt. Immerhin ist ein Ausgangspunkt einer Eisenbahn mit
einem Ankerplatz besser, als ein solcher ohne Ankerplatz, und daher
ist auch die Frage einer Fortsetzung der Bahn bis Ssuchum mehr¬
mals geweckt worden, doch, wie erscheint, nicht frühzeitig genug.
Wenigstens kann ich mich des Gedankens nicht erwähren, dass mit
den Millionen, welche die Sümpfe bei Poti verschluckt haben, die
Bahn leicht noch die hundert Werst weiter bis Ssuchum fortgeführt
werden konnte.
Batum endlich ist ein zwar kleiner aber guter Hafen, welcher den
Schiffen vor den meisten Winden einen guten Schutz gewährt. In
der That legen sich hier auch die Dampfschiffe der russischen
Handels- und Dampfschifffahrts-Gesellschaft vor Anker, wenn das
Anlegen bei der Rhede von Poti wegen stürmischer Jahreszeit riskant
ist. In Batum erwarten sie die aus Tiflis kommenden Reisenden,
welche von einem kleinen Flussdampfer dahin befördert werden,
oder übergeben die nach Tiflis Reisenden den Flussdampfern. Batum
liegt nur 60 Werst südlich von Poti, und da die Entfernung von
Tiflis aus für beide Orte fast dieselbe ist, so würde man gewiss,
auch schon aus Gesundheitsrücksichten, Batum zum Ausgangspunkt
der Bahn gewählt haben, wenn der Ort nicht den Fehler haben
würde, sich auf türkischem Gebiete zu befinden. Beim Frieden in
Adrianopel, wo es den Russen ziemlich freistand, die Grenzverhältr
nisse nach Maassgabe ihrer Handelsinteressen festzustellen, wurde
die Grenze etwa^halbwegs zwischen Poti und Batum gezogen. Es
wird mehrfach' angegeben, dass dieses in Folge eines diplomatischen
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Blunders geschehen wäre. So erzählt Hr. v. Thielemann, dass in den
Friedensverhandlungen der Fluss Tschoroch, westlich von Batum,
als Grenze festgestellt wurde, dass aber nach der Ratifikation des
Friedensdokumentes sich ergab, dass in demselben der Fluss Tscho?
loch, nicht Tschoroch, als Grenze angegeben war, wodurch Batum
für Russland verloren ging. Si non e vero e ben trovato. Das
Histörchen erklärt in einer sehr witzigen Weise das Faktum und
scheint wahr zu sein, denn ich habe auf der zwanzigwerstigen Karte
des Kaukasus zwar nicht den Namen Tscholoch, wohl aber den des
Dorfes Tschelokskij an dem Grenzflüsse finden können.
Aus dem Obigen geht nun hervor, dass Tiflis nach europäischer
Seite hin sogar, zur gegenwärtigen Zeit, ziemlich unzugänglich is-
Nach asiatischer Seite ist die Stadt noch schlimmer dran. Ein ein¬
ziger gut unterhaltener Postweg führt von Tiflis nach Südost an den
Ufern der Kura bis zur Akstafa, erklettert im Thale dieses Berg¬
flusses das armenische Hochland, übersteigt in Serpentinen die
Wasserscheide zwischen Kura und Araxes bei der Station Seme-
nobka, in der Nähe des Goktscha See’s, in 7124 Fuss Höhe (also
ein richtiger Alpenpass) und senkt sich bei Eriwan wieder bis 3229
Fuss herab j dann im Thale des Araxes bis Dsjulfu, Von wo der ein.
zige benutzte Weg über Tabris nach Persien beginnt, welcher bis
Teheran noch eine ganze Partie Bergrücken zu überklettern hat. Dass
ein solcher Weg für die Anlegung einer grossen Haupteisenbahn nicht
besonders geeignet ist, wird durch diese kurze Skizze genügend
erhellt. Das hier in Frage stehende Terrain bietet technische
Schwierigkeiten, weniger durch besonders grossartige Hinder¬
nisse, als vielmehr durch den ununterbrochenen Kampf mit einem
Wirrsal von Bergmassen. Von allen Zukunftsbahnen des Kaukasus
scheint mir, wie auch Anderen, die in Vorschlag gebrachte Linie
Tiflis-Eriwan-Dsjulfu-Tabris-Teheran die unmotivirteste zu sein. Das
Projekt ist offenbar dem Umstande entsprungen, dass der leb¬
hafte Karawanenweg zwischen Russland und Persien seit uralten
Zeiten diese Strasse verfolgt. Dies beweist aber noch wenig für
die Befahrbarkeit eines Weges, denn die Pferde und Kameele des
persischen Hochlandes sind sehr wenig wählerisch und führen auf
schmalen Saumpfaden Kunststücke aus, welche ihnen die schwer¬
fällige Lokomotive kaum nachmachen wird. Diese Schwierigkeiten
können natürlich alle mit den technischen Hülfsmitteln der Jetztzeit
überwunden werden und würden es auch, wenn es eine Nothwendig-
kcit wäre, dem Wege diese Richtung zu geben; da eine solche Noth-
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wendigkeit, wie weiter unten gezeigt werden wird, nicht vorliegt, so
darf dieser Plan, scheint es, ohne Weiteres bei Seite gelassen werden.
Nach dieser kritischen Betrachtung der gegenwärtigen Hauptstadt
des Kaukasischen Gebietes, wollen wir die zweite grössere Stadt der
Umgebung des Kaukasus, nämlich Astrachan, einer ähnlichen Prü¬
fung unterwerfen. Wenn Tiflis mit Schwierigkeiten, in Form der
ungeheuren sich ringsum erhebenden Berge, zu kämpfen hat, so
wird die Kommunikation mit Astrachan durch Naturverhältnisse
ganz entgegengesetzter Art erschwert, nämlich durch die so ausser¬
ordentliche Ebenheit der Umgebung. Zwar öffnet sich nach Nor¬
den hin die gewaltige Wasserader der Wolga, auf welcher man mit
Dampfschiffen bis in das innerste Russland, bis Rybinsk, gelangen
kann, aber dieser Wasserweg hat in seiner letzten Strecke einen so
geringen Fall, dass man so leicht nicht das Gegenstück dazu finden
wird. Auf der 340 Werst langen Strecke von Prischibinskoje bis
Birjutsja Kosa beträgt er 90 Fuss, also etwa 1 Ilzooo\ eine Grösse,
welche zu erkennen schon recht scharfe Messwerkzeuge erfordert.
Dieser so geringe Fall ist auch die Ursache, dass die Wolga, trotz
ihrer kolossalen Wassermasse, nicht im Stande ist, sich eine reine
Stromfurche zu graben. In der That hört in einer Entfernung von
etwa 50 Werst von Astrachan der Begriff einer Hauptstromfurche
ganz auf; die schmale Rinne, welche die Schifffahrt benutzt und die
auf den Karten den stolzen Namen der Wolga trägt, ist eine der
unzähligen ebenso breiten und breiteren Rinnsale, welche netzartig
das wespennest-förmige Deltaland der Wolga nach allen Richtungen
durchsetzen, und welche alle nicht nur sehr schmal sind, sondern auch
so seicht, dass an eine Schifffahrt mit gewöhnlichen Dampfern nicht
zu denken ist. Passagiere und Güter werden deshalb in Astrachan
auf flache grosse Böte gesetzt, welche dann von ebenfalls sehr flach
im Wasser liegenden Dampfern in’s Schlepptau genommen werden.
Obgleich diese Schleppdampfer und Präme nur 4 Fuss in’s Wasser
eintauchen, so passirt es doch mehrmals einmal, dass sie in den seich¬
ten Kanälen aufsitzen und durch Auxiliärdampfer aus der Verlegen¬
heit befreit werden müssen. Es ist nicht einmal zu hoffen, dass man
durch Aufbaggern eine nennenswerthe Verbesserung erzielen würde,
da die Versandung derselben fast gleichen Schritt halten würde.
Ein künstlicher Kanal würde vielleicht noch für die Zwecke der
Schifffahrt am dienlichsten sein, aber ein solcher wäre bei dem Man¬
gel eines* geeigneten Ausgangspunktes an der Küste eine recht
schwierige Sache. Auch oberhalb Astrachan geht, wie mir ver-
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sichert wurde, die Versandung der Wasserstrasse recht schnell vor
sich, was auch gar nicht zu verwundern ist, da die von der Wolga
herabgeführten Schuttmassen wegen der geringen Strömung gar nicht
in das Kaspische Meer hinaus ausgetragen werden, sondern bereits
viel früher zur Ruhe gelangen, und so ist vielleicht der Zeitpunkt
nicht sehr entlegen, wo Astrachan so gut wie auf das Trockne zu
liegen kommt. Dieses könnte aus einer doppelten Ursache ge¬
schehen. Entweder versandet die Wasserader an ihrem Ausflusse
so vollständig und gleichförmig, dass sie sich nicht weiter in distink-
ten Furchen Bahn bricht, sondern allmälig in eine grosse sumpfige
Niederung einsickernd, sich in derselben verliert, wie das beim Te-
rek, Manytsch und überhaupt bei einer grossen Anzahl Steppenflüsse
der Fall ist, oder auch sie bricht sich gewaltsam eine neue breite
Strasse auf einer andern Stelle. Es ist z. B. durchaus nicht unwahr¬
scheinlich, dass die Achtuba, welche von Zaryzin an die Wolga als
ein Parallelfluss verfolgt, bei zunehmender Versandung der gegen¬
wärtigen Hauptfurche in deren Rolle tritt. In solchem Falle ist es
mit der Zukunft Astrachan’s für immer vorbei. Aber auch ohne
diese Eventualität ist der gegenwärtige Zustand der Stadt ungünstig
genug. Die 67 Werst, welche Astrachan von Birjutschja Kasa tren¬
nen, werden von den Schleppdampfern in 17 Stunden zurückgelegt;
eine Geschwindigkeit, welche der eines raschen Fussgängers etwa
gleichkommt und daher nicht gerade im Geiste unseres Zeitalters ist.
Was das sogenannte Birjutschja Kasa betrifft, welches in den
Prospekten der Handelsgesellschaft «Merkury i Kawkaz» figurirt,
so haben nicht viele Reisende dasselbe zu sehen bekommen. In
Birjutschja Kasa ist weder ein Hafen, noch eine Anlegebrücke, son¬
dern die für den Dienst auf offener See bestimmten Dampfer nähern
sich einfach so weit der Küste, als es der augenblickliche Wasser¬
stand des Kaspischen Meeres gestattet und legen sich dort vor An¬
ker, um die Ankunft des Schleppdampfers von Astrachan abzu¬
warten. Welche Ungelegenheiten eine solche Anordnung für die
Interessen des Handels und für die Sicherheit der Navigation bei
stürmischem Wetter nothwendigerweise mit sich führen muss, braucht
hier nicht weitläufig auseinandergesetzt zu werden. Aber alle diese
Schwierigkeiten würden noch nicht im Stande sein, das rasche Auf¬
blühen Astrachan’s zu verhindern und es zum Mittelpunkt der kom¬
merziellen und administrativen Interessen eines weiten Kreises zu
machen, wenn nicht zu dem Allen noch der Umstand sich hinzu¬
gesellte, dass die Wolga sowohl, als auch der ganze flache nördliche
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Theil des Kaspischen Meeres wegen seines ausserordentlich niedri¬
gen Wasserstandes schon im November oder Anfang Dezember zu¬
friert und bis in den März oder April hinein so bleibt, so dass die
Schifffahrt auf der Wolga und dem nördlichen Bassin des Kaspi¬
schen Meeres 4 bis 5 Monate lang unterbrochen ist, und dieses ist
in der Nähe von Orten mit einer mittleren Temperatur von 8 bis 10
Qrad doch eine zu wichtige Unzuträglichkeit, als dass sie bei der
Wahl des Centralpunktes nicht das entscheidende Wort spräche.
Die Interessen eines regen Verkehrs können einen so langen Auf¬
schub nicht gerne gestatten. Man sollte denken, dass Eisenbahnen
diesem Uebelstande abhelfen könnten, doch damit ist es schlimm
bestellt. Für die vom Süden kommenden oder aus dem innem
Russland nach dem Süden gehenden Frachten würde es geradezu
einen unmotivirten Umweg von 200 bis 300 Werst ergeben, wenn
sie sich, statt direkt über Zaryzin zu gehen, erst noch nach Astrachan
wandern würden. Eine lokale Bedeutung ist einer bei Astrachan
ausmündenden Eisenbahn erst recht nicht beizulegen, da es wohl
noch lange dauern wird, ehe die von nomadisirenden Kirgisen und
Kalmüken bevölkerten Steppen in der Umgebung Astrachan’s für
den Handel eine grössere Bedeutung gewinnen.
Ich habe mich bei der geographischen Lage der beiden gegen¬
wärtig wichtigsten Orte des süd-östlichen Russland etwas lange auf¬
gehalten, um mich in Bezug auf die übrigen Orte desselben um so
kürzer fassen zu können. Die verschiedenen Punkte der Ostküste
des Schwarzen Meeres waren bereits früher Gegenstand unserer
Besprechung. Die Städte und Orte des Rionthales und des west¬
lichen Kurathaies leiden sämmtlich an demselben Umstande, wie
Tiflis, nämlich an der grossen Abgeschlossenheit durch hohe um¬
gebende Berge und an dem Nichtvorhandensein eines Hafens an der
Ostküste des Schwarzen Meeres. Von den Städten des Kurathaies
hat Schemacha ausserdem noch die unangenehme Eigenschaft, gele¬
gentlich durch Erdbeben total zerstört zu werden, während kleinere
Erdstösse eine jährlich wiederkehrende Erscheinung sind. Von den
bemerkenswerthen Punkten der Westküste des Kaspischen Meeres
ist die Bucht von Enseli ein guter Hafen, oder kann es mit der Zeit
werden, sie befindet sich aber auf persischem Gebiet. Astara (Grenze
gegen Persien) und Lenkoran (richtiger Lenkerud) sind Ankerplätze,
welche aber vor Seewinden keinen Schutz bieten und ausserdem in
ebensolchen regenreichen, Fieber erzeugenden Sümpfen liegen, wie
Poti und Redutkal£ an der Ostküste des Schwarzen Meeres. Hinter
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der Insel Sari, in der Bucht von Kisil-agatsch, welche von dem
Deltaland der vereinigten Kura und Araxes umschlossen wird, finden
Schiffe bei Sturm einen guten Schutz; zur Anlage eines Haupt¬
punktes des Handels ist aber die naheliegende sumpfige Küste nicht
geeignet. Dann folgt, nach Norden aufsteigend, Baku, welches be¬
sonders besprochen werden wird, ferner Derbent und Petrowsk.
Derbent, hart am Fusse der östlichen Abhänge des Kaukasus, bietet
nur einen mittelmässigen Ankergrund ohne Schutz vor Stürmen.
Bei Petrowsk würde dieses auch der Fall sein, wenn man nicht durch
einen künstlichen Molo einen Hafen geschaffen hätte, welcher mässi-
gen Ansprüchen genügte und die innerhalb desselben eingenomme¬
nen Schiffe wenigstens vor dem Wellenschläge schützt. Von der
Ostküste des Kaspischen Meeres will ich hier ganz absehen. Wenn
sie auch bei der Insel Aschur bei Krassnowodsk, hinter den Inseln
Tscheleken und Agurtschinski und endlich bei Fort Alexandrowski
Ankerplätze und Häfen bietet, so liegen dieselben doch von den
hier in Rede stehenden Interessen zu weit ab, um sich mit einer
Prüfung ihrer Lage aufzuhalten.
Es erübrigt jetzt nur noch über Baku zu reden. Wenn die Kritik
der kommerziellen Lage aller im Vorhergehenden behandelten Orte
ungünstig ausfiel, so ist es eine um so angenehmere Obliegenheit zu
zeigen, dass Baku nicht nur mässigen Ansprüchen genügt, sondern
sogar in einer geradezu auffallenden Weise von der Natur begün¬
stigt und gleichsam ausdrücklich als ein Punkt bezeichnet ist, welcher
das Centrum eines Umkreises von mehr als tausend Werst Radius
werden muss.
Ich betrachte zuerst Baku als Seestadt. Der Hafen von Baku ist
nicht niy der einzige jederzeit benutzbare des Kaspischen Meeres,
sondern auch ein vortrefflicher; die Einfahrt ist einfach und klippen¬
frei, bis wenige Faden vom Ufer hält der Hafen 20 Fuss Wasser,
also mehr, als für die Schiffe des Kaspischen Meeres irgendwie in
Frage kommen kann. Gegen die wüthenden Nordoststürme ist er
durch die in weitem Bogen sich um die Stadt hinziehenden Hügel¬
ketten der Apschewnischen Halbinsel vollständig geschützt. Gegen
östliche Winde bilden die Inseln Nargin, Wulf und Peschtschanin
und die sich zwischen diesen Inseln und dem Festlande erstrecken¬
den Untiefen einen natürlichen Molo, welcher wenigstens die Kraft
der von Osten anstürmenden Wellen bricht, und für Südwinde spielt
die weit hervortretende Halbinsel Builow mit ihren unterseeischen
Fortsetzungen dieselbe Rolle. Der Hafen friert nie zu, was auch
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gar nicht möglich ist, da die mittlere Temperatur im Januar-Monat
+ 2,4° Reaumur beträgt.
Fast in der Mitte des Kaspischen Meeres gelegen, können von
diesem Funkte aus, meistens in schnurgeraden Richtungen und in
nur einer oder zwei, höchstens drei Tagereisen, alle kommerziell
oder politisch wichtigen Punkte des grossen Binnensees erreicht
werden: Astrachan, Petrowsk, Derbent, Sari, Enseli, Aschur, Krasno-
wodsk, Alexandrowsk und Gurjew. Wird nach Baku eine bedeu¬
tende Kriegsmacht verlegt, so kann sie in kürzester Frist an die
verschiedensten Punkte befördert werden, wo etwa unruhige Turk¬
menen- oder Kirgisenhorden die Forts der Ostküste bedrängen oder
aus einem andern Grunde ein militärisches Eingreifen nothwendig
wird. Mit einer Wüstenwanderung von einigen hundert Werst
ist von Baku aus das Chanat Chiwa und die Ufer des Aralsees
schneller zu erreichen, als auf einem andern Wege vom Innern
Russlands.
In Folge dieser seiner, so zu sagen, centralen Lage muss Baku
der natürliche Stapelort der Produkte des Kaspischen Meeres und
seiner reichen Ufer werden. Mir fehlen die nöthigen statistischen
Daten, um diese Produkte in ziemlicher Vollständigkeit und mit
Angabe ihres relativen Werthes aufzählen zu können. Aber dies
ist auch nicht nothwendig, da es sich mit Sicherheit voraussetzen
lässt, dass neue verbesserte Kommunikationswege sehr bald diese
Produkte vervielfachen werden und vielleicht manche derselben,
welche jetzt übersehen werden, zu wichtigen Handelsartikeln machen;
ich will desshalb hier nur einige, die wichtigsten, kurz erwähnen.
Zunächst natürlich das Erdöl aus den reichen Quellen nicht nur auf
der Halbinsel Apscheron, sondern auch auf mehreren der Inseln des
südlichen Beckens: Swjatoi, Tscheleken u. a., ferner im Deltaland der
Kura und wahrscheinlich noch an vielen andern Stellen; Schwefel
aufNargin; weisse Naphta auf Tscheleken. Der Fischfang in den
Deltaländern, der Kura, des Terek, der Wolga, ist so ergiebig, dass
er, nach den Bereehnungen Danilewskij’s, welche übrigens nicht
ganz neu sind, zum Mindesten einen Geldwerth von io l /a Mill. Rbl.
repräsentirt und «an sich allein das runde Jahr hindurch die volle
Befrachtung von 50 bis 60Eisenbahnwaggons täglich ergeben würde».
Die edlen Holzprodukte der Urwälder an den Bergabhängen der
Küsten von Daghestan, Adsjerbeidsjan, Gilän und Mazendaran,
welche noch nie meinem ausgedehnteren Betriebe unterworfen waren.
Die Produkte des Landbaues in diesen Gegenden: Baumwolle, Reis,
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Tabak, vor Allem aber Krapp an den Küsten des Daghestan, welche
schon jetzt bedeutende Ausfuhrartikel bilden, die aber mit der Zeit
die gleichnamigen Erzeugnisse des Auslandes vollständig von den
russischen Märkten verdrängen müssten. Dasselbe gilt von der
Ueberfülle an Südfrüchten, vor Allem Apfelsinen und Citronen,
welche bei richtiger Organisation der Kommunikationen in vier
bis fünf Tagen St. Petersburg erreichen und daher doch gewiss
erfolgreich mit den Erzeugnissen Italiens konkurriren können. Kalk
und Gypslager bei Krasnowodsk. Letzterer tritt hier halb durch¬
sichtig und in verschiedenen Tinten auf, in Folge dessen er gewiss
leicht zum Rohmaterial einer ausgedehnten Kunstindustrie werden
könnte. Endlich die nicht gering anzuschlagenden Produkte des
persischen und turkmenischen Kunstfleisses, besonders Luxusgegen¬
stände, als Plüsch-, Wollen- und Filzteppiche, geflochtene Matten,
gestrickte, gestickte, ausgenähte Sächelchen, welche durch Solidität,
geschmackvolle Muster und Billigkeit verdienen, in weiteren Krei¬
sen bekannt zu werden.
Alle, oder die meisten dieser Schätze haben bis jetzt so gut wie
ungenützt geruht und warten, wie das Dornröschen der Sage, nur
auf den Prinzen, welcher sie mit seinem Kusse zum Leben erwecken
soll. Dieser Prinz wird hier aber in Form eines bequemen Kommu¬
nikationsmittels, in Form einer Eisenbahn erscheinen, welche das
bis jetzt so isolirte Baku in eine unmittelbare Verbindung mit der
übrigen Kulturwelt bringt.
Die Richtung dieser Eisenbahn ergibt sich von selbst und ist
auch schon durch topographische Aufnahme festgestellt worden:
über die Apscheronsche Halbinsel, welche hier so flach ist, dass sie
keinerlei Kunstbauten erfordert, nach Kuba, Derbent und Petrowsk.
Von hier aus sich nach Westen wendend und den Fluss Sulak über¬
schreitend über Mosdok nach der Station Prochladnaja, an der be¬
reits fertigen Eisenbahn von Rostow nach Wladikawkas. Von Baku
bis Petrowsk 340 Werst, von dort bis Prochladnaja 304 Werst. Da
auf dieser ganzen Strecke keine irgend nennenswerthen Schwierig¬
keiten auftreten, so kann die Eisenbahn in einigen Jahren fertig sein,
sobald sich nur die russischen Kapitalisten, oder die Regierung, auf
die umfassende Bedeutung einer solchen Bahn aufmerksam gemacht,
entschliessen, den Bau derselben anzugreifen.
Indem ich die Frage wegen der Eisenbahn Baku-Prochladnaja
berühre, befinde ich mich auf einem neuen Gebiete der vorliegenden
Frage, nämlich die Bedeutung Baku’s als natürlicher Hauptpunkt
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des westlichen Kaukasus, des Kurathaies, des Arasthaies und des
armenischen Hochlandes. In der That bringt es die Lage dieser
Stadt mit sich, dass man von ihr aus mit Leichtigkeit (d. h. ohne
hohe Gebirgspässe oder breite Flüsse zu passiren) alle wichtigeren
Punkte Cis- und Transkaukasiens (mit Ausnahme derjenigen des
Rionthales) erreichen kann. Auf dem schon erwähnten Wege über
Petrowsk gelangt man in die StawropoPsche Niederung, im Thale
der Kura aufsteigend gelangt man nach Schemacha, Nucha, Zaka-
tali, Signach, Tiflis, Gori, Borshon, Achalzich l . Ueber Saljan könnte
man auf sehr geradem Wege durch das Arasthal nach Ordubad,
Djulfa, Nachitschewan, Eriwan, Etschmiadsin gelangen; quer über
die Steppe führen Wege nach Jelisawetpol und Schuscha. Dem
Ufer entlang, ebenfalls über Saljan, lässt sich Lenkerud, Astara und
Rescht erreichen. Auch Täbris, die bedeutendste Handelsstadt
Persiens, zwischen hohen Bergen gelegen, ist von Baku aus leichter
und schneller zu erreichen, als über Tiflis; man hat, von Djulfa am
Aras auf persisches Gebiet eintretend, nur einen einzigen, leicht zu
überschreitenden, Pass zu überwinden.
Nach dem Obigen erscheint Baku zwangslos als der Ausgangs¬
punkt folgender vier Eisenbahnen, welchen man eine grosse lokale
Bedeutung gewiss nicht absprechen kann: i) die schon erwähnte
Bahn über Petrowsk,nach Rostow, 2) über Tiflis nach Achalzig,
eventuell bis Batum, 3) über Saljan und Dsjulfa nach Eriwan mit
Zweigbahn nach Täbris, 4) über Saljan und Astara nach Rescht und
eventuell bis Teheran etc. Die in Vorschlag gebrachten Linien
Tiflis-Wladikawkas und Tiflis-Eriwan-Djulfa würden bei der oben
angegebenen Anlage des Eisenbahnnetzes eine nur untergeordnete
Bedeutung haben und, da sie gleichwohl die bedeutendsten Geld¬
opfer kosten würden, wohl nicht so bald zur Ausführung gelangen.
Auch die Linie Tiflis-Poti würde sehr viel verlieren, denn wenn man
schon jetzt vorzieht über den Kasbekpass nach Wladikawkas mit
Postpferden zu reisen, indem man dabei nicht unbedeutend an Zeit
gewinnt gegen die langsame und oft gefährliche Dampfschifffahrt
auf dem Schwarzen Meere, so wird es noch viel mehr der Fall sein,
1 Hier dürfte die Bemerkung an ihrem Platze sein, dass eine Eisenbahn bis Achal¬
zich (3376 Fass) fortgeführt, dann in eines der Seitenthäler der Kura einbiegend bis an
die Grenzkette gegen die Türkei gehend, dort etwa mit einem Tunnel den Kamm
durchbrechend und in einer Serpentine in dem Thale des Tschoroch-su nach Butum
niedersteigend, eine, wie mir scheint, natürlichere Verbindung zwischen dem Kaspi¬
schen und Schwarzen Meere darstellt, wie es beim Suramposse der Fall ist«
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wenn man per Eisenbahn über Baku nach Russland gelangen kann;
man macht zwar einen Umweg von nahe 700 Werst, aber gelangt
doch 1 bis 4 Tage (je nach der Jahreszeit) früher nach St. Peters¬
burg, als über Poti-Sewastopol.
In dieser Eigenschaft als Centralpunkt des zukünftigen Eisenbahn¬
netzes des Kaukasus muss Baku die Niederlage sowohl der Produkte
des westlichen Kaukasus und Armeniens werden, als auch der aus
Russland nach diesen Ländern und nach Persien importirten Waaren.
Mir sind die kommerziellen Verhältnisse zu unbekannt, als dass ich
mich hier ausführlicher auf dieselben einlassen kann und ich will
nur noch zu dem bei Gelegenheit der Erzeugnisse der Küsten des
Kaspischen Meeres Erwähnten hinzusetzen: die Produkte der Vieh-
und Bienenzucht, einige weitere Produkte des Landbaues, Hirse,
Seram, Mais, ausgedehnte Seidenzucht, besonders um Nucha
herum, endlich Wein, welcher in diesen gesegneten Landstrichen
so recht zu Hause zu sein scheint und fast ohne Nachhülfe reiche
Ernten liefert (In Baku ist z. B. der Eimer des sehr trinkbaren
rothen Matrasiners manchmal für ein Spottgeld zu haben.) Die
Aufzählung der Produkte des Kura- und Arasthaies ist auch aus dem
Grunde überflüssig, weil an Orten, wo weder das Klima, noch der
Boden Schwierigkeiten entgegenstellt, es fast nur auf die Energie
der'Bewohner ankommt, um die Ertragsfähigkeit fast in’s Unbegrenzte
zu steigern. So schwang sich in wenigen Jahren die Krappkultur
im Daghestan’schen zu einer Höhe, auf welcher sie mit den Erzeug¬
nissen Frankreichs auf den russischen Märkten erfolgreich konkur-
riren konnte, und das, obgleich die Sache wenig rationell betrieben,
sondern im Gegentheii manches sehr kopflos angefangen wurde.
(Siehe Petzold: Der Kaukasus.)
Im Vorhergehenden ist Baku in Bezug auf seine Lage im Allge¬
meinen, in Bezug auf die Umgebung dargestellt worden. Es er¬
übrigt noch zu zeigen, dass die Lage der Stadt selbst ihrer Erweite¬
rung zur Hauptstadt nicht nur nicht hinderlich, sondern derselben
sogar in mancher Hinsicht äusserst förderlich ist.
In Bezug auf das Klima, von welchem so Vieles abhängt, indem
so manche der reichsten Lände, strecken unserer Erde wegen ihres
tödtlichen Klimas so gut wie unzugänglich sind, ist Baku sehr gün¬
stig gelegen. In der warmen, trockenen und doch von Seewinden
erfrischten und gereinigten Luft scheint der Europäer sich ganz be¬
haglich zu fühlen, auch hörte ich während meines vierzehntägigen
Aufenthalts in der Stadt keine Klagen über das Klima. Die Leute
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sahen durchgängig ganz gesund aus und die tödtlichen Sumpffieber
der Gilän’schen und Mazenderand’schen Küste scheinen hier fremd
zu sein. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt n,2° Reaumur, die
der einzelnen Monate (neuen Styls) resp. 2,4, 3,1, 4,7, 8,7, 14,0,
18,1, 20,4, 20,2, 17,1, 12,8, 8,3 und 4,3°. Selten sinkt das Thermo¬
meter unter Null herab. Die Regenhöhe beträgt jährlich 9,80 engl.
Zoll, während sie im nahegelegenen Lenkerud bis 51,31 Zoll steigt.
(Bceofimin KajicH^apb für 1874.)
Der feste trockene Grund des terassenförmig aufsteigenden Ufers
ist für die Anlage von Bauten geeignet und die Umgegend bietet in
einem porösen, leicht zersägbaren Sandstein ein schätzenswerthes
Baumaterial.
Aber alle diese Vortheile sind gering anzuschlagen gegen die
reichen Petroleumlager der unmittelbarsten Umgebung der Stadt,
welche für den Betrieb von Fabriken und technischen Unternehmun¬
gen jeder Art eines der wichtigsten Erfordernisse, das eines guten
und billigen Brennmaterials, in wahrer Ueberfülle liefern, ganz ab¬
gesehen von der angehenden Entwickelung, welche der rationelle
Betrieb eines Petroleumdistrikts mit sich bringen muss. Ein Petro¬
leumdistrikt ist mehr werth, als ein Golddistrikt. Ich will hier aber
auf den Gegenstand nicht weiter eingehen, da ich auf denselben im
Anhang, beim Referat meines Besuches der Naphtabrunnen noch¬
mals zurückkommen werde und will nur noch erwähnen, dass die
Naphta- und Asphaltvorräthe speziell für den Bau einer Stadt in
Form von Gasbeleuchtung und Strassenmacadam nützlich werden.
n.
Im Vorhergehenden habe ich mich bestrebt, zu zeigen, wie, nach
meiner Meinung, das zukünftige Eisenbahnnetz des Kaukasus, den
Terrainverhältnissen und den Handelsinteressen gemäss, zu ziehen
sei, und dabei anzudeuten gesucht, dass der Reichthum dieser Län¬
der an und für sich gross genug sein müsste, um diese Bahnen nicht
nur zu tragen, sondern sie sogar zu ökonomisch sehr vorteilhaften
zu machen, ganz abgesehen von dem kulturhistorischen Interesse
der Aufschliessung dieser bis jetzt so gut wie isolirten Gegenden.
Jetzt will ich noch zeigen, wie das schon auch andere vor mir ge¬
tan (Radde, vier Vorträge über den Kaukasus, Seidlitz in der «Russ.
Revue» Bd. II, p. 33 u. ff*, u. A.), dass einigen dieser Bahnen eine noch
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viel höhere Bedeutung zukommt, indem sie Bruchstücke des natür¬
lichsten und kürzesten Weges nach Indien bilden.
Der Gedanke einer Eisenbahnverbindung zwischen Europa und
Indien ist nicht neu, sondern im Gegentheil schon vor und während
des Baues des Suez-Kanals Gegenstand mehrfacher Projekte gewor¬
den. Eines dieser Projekte, das einer Bahn über Orenburg und
Taschkend nach Peschauer, macht sogar Miene, aus dem Reich der
Möglichkeit in das der Wirklichkeit überzutreten, und andere Vor¬
schläge werden von der Tagespresse lebhaft diskutirt. Ich erlaube
mir zunächst meine Ansicht in der Sache, das Resultat eines lange
fortgesetzten Nachdenkens, auseinander zu setzen und sie dann den
abweichenden Projekten entgegenzuhalten.
Ich möchte die Bahn etwa folgendermaassen gezogen wissen: Auf
dem schon beschriebenen Wege über Prochladnaja nach Baku weiter
nach Saljan, Lenkerud und bis an’s linke Ufer des Sefid rud, südlich
von der Bucht von Enseli. In dem S-förmig gewundenen Thale die¬
ses Flusses würde die Bahn, nach bereits ausgeführten Nivellirungen,
ohne erhebliche Schwierigkeiten die Uferkette überschreiten und
sich so auf die persische Hochebene erheben, auf welcher sie über
Kaswin und Kum nach Teheran gelangt. Dann sich südlich wen¬
dend nach Isfahra und weiter mit süd-östlicher Richtung nach Bendu
Abbas am persischen Meerbusen; Schiraz und Persepolis rechts
lassend und sich nahe an der Grenze der grossen Salzwüste haltend,
stiege sie in dem Flussbette eines Zuflusses des Div-rud von der
Hochebene herunter und gelänge im Thale des Div-rud selbst an
die Küste, etwas westlich von Bendu-Abbas. An diesem Hafen vor¬
bei böge sie sich nach Süden (etwa 140 Werst), um dann, sich öst¬
lich wendend und die fast schnurgerade Küste Beludjistans verfol¬
gend, in Fort Manura im Deltaland des Indus, nicht weit von Heidu-
abad, sich an das ausgedehnte Eisenbahnnetz der ostindischen Halb¬
insel anzuschliessen. Die Länge der Bahn von Baku bis Fort Manura
beträgt, nach meiner Schätzung, etwa 3300 Werst, welche sich auf
drei annähernd gleiche Hauptstrecken vertheilen: von Baku bis Tehe¬
ran, von Teheran bis Bendu-Abbas und von Bendu-Abbas bis Manura.
Um uns ein Urtheil über diese vorgeschlagene Trace des Ueber-
landweges nach Indien zu verschaffen, wollen wir prüfen, wie sie sich
zu folgenden Forderungen verhält, welche bei dem Baue jeder Bahn
maassgebend sind oder maassgebend sein müssten: 1) dass sie mög¬
lichst nahe die kürzeste Entfernung zwischen den gegebenen End¬
punkten darstelle, 2) dass sie die geringsten technischen Schwierig-
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keiten biete, 3) dass sie wichtige Punkte und Gegenden berühre,
welche durch einen bedeutenden Lokalverkehr einen Theil der
Anlagekosten tragen helfen, und endlich 4) dass sie für eine Bahn
in so entlegenen halb- oder uncivilisirten Gegenden, für den Verkehr
die grösste Sicherheit biete.
Was die Entfernung betrifft, so sind ziemlich Alle, selbst die Ver¬
fechter anderer Projekte, darüber einig, dass der Weg über den
Kaukasus der kürzeste ist. Ein grösster Kreis, welchen man von
einem beliebigen Punkte des mittleren Europas nach dem mittleren
Indien zieht, wird entweder den Kaukasus schneiden oder nahe an
demselben Vorbeigehen und die vorgeschlagene Linie wird nie viel
über 100 Werst von einem solchen gedachten grössten Kreise ab¬
weichen. In Bezug auf die technischen Schwierigkeiten darf man
kaum hoffen eine Trace zu finden, welche deren weniger böte.
Alpenpässe und grosse Flüsse sind nirgends zu passiren, wenn man
nicht die Kura zu den grossen Flüssen zählen will. Ebensowenig
hindern ausgedehnte Moräste oder kulturlose Steppen. Fast die
einzigen Tracirungsarbeiten sind die kurzen Stücke, welche im Thale
des Sefid-rud auf das persische Hochplateau führen und das, welches
im Thale des Div-rud von der Hochebene wieder zur Küste herunter¬
führt. Ueber die Terrainschwierigkeiten an der Küste von Belu-
djastan kann ich kein Urtheil fällen, da mir keine Spezialquellen zur
Kenntnissnahme derselben zur Verfügung stehen, doch muss ich
annehmen, dass dieselben nicht bedeutend sind. Soweit ich aus
den wahrscheinlich sehr ungenauen Karten ersehen kann, erhebt
sich das Land ziemlich gleichförmig von der Küste aus. Grosse
Flüsse können auch nicht Vorkommen und in Folge dessen auch
keine ausgedehnten sumpfigen Niederungen. Passübergänge und
Tunnels können bei einer Küstenbahn a priori nur ausnahmsweise in
Frage kommen und die Erdarbeiten werden auch nicht sehr aus¬
gedehnt sein, da keine Nothwendigkeit bedeutender Hebungen und
Senkungen der Bahn vorliegt.
Hinsichtlich des dritten Punktes glaube ich bereits nachgewiesen
zu haben, dass der lokale Verkehr der Strecke von Prochladnaja
bis Rescht grossartig genug sein wird, um nicht nur selbständig die
Kosten dieses Bahntheils zu tragen, sondern vielleicht noch dazu
ein Plus zu liefern.
Von dem persischen Antheil der Bahn kann man fast dasselbe
erwarten. Die Bahn berührt die wichtigsten persischen Städte,
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Teheran und Isfahan, geht nahe vorbei an Täbris und Schiraz und
führt daher im Allgemeinen durch die lebhaftesten und bevölkert¬
sten Theile des Landes, zum grossen Theil der Richtung der heuti¬
gen Haupthandelswege folgend. Es steht also zu erwarten, dass
die blosse Personen-, Post- und Güterbeförderung zwischen den ein¬
zelnen Städten Persiens die Anlagekosten dieser Strecke selbständig
oder zum grossen Theile tragen wird, ganz abgesehen von der be¬
deutenden Einfuhr von russischen und englischen Manufaktur-
waaren, welche sich naturgemäss ebenfalls ihren Weg auf dieser
Bahn suchen wird. Der Konsum solcher russischer und englischer
Manufakturwaaren ist in Persien in der That sehr bedeutend. Der
Perser ist hinlänglich civilisirt, um sehr vielseitige Bedürfnisse zu
haben, aber nicht reich und vor Allem nicht unternehmend genug,
um durch Einrichtung grosser Fabriken die Galanterie- und Kurz-
waaren zu einem Preise hersteilen zu können, bei welchem sie mit
den ausländischen Waaren konkurriren könnten. Und so trifft man
gegenwärtig auf allen Bazaren selbst der entlegensten Orte solche
europäische Kurzwaaren, theils in ursprünglich theils in nach per¬
sischem Geschmack umgemodelter Form K
Bender-Abassi, welches früher ein bedeutender Hafen war, würde
nach dem Bau dieser Eisenbahn wieder ein wichtiger Ort werden,
speziell für Russland, wegen seiner Relationen mit China und dem
Amurlande. Die Uferstrecke durch Beludjistan, 1300 Werst, würde
voraussichtlich zur Rentabilität der ostindischen Bahn wenig bei¬
tragen. Dafür könnte aber auch der Bau dieser Strecke einstweilen
ganz unterbleiben und durch eine regelmässige Dampfschifffahrt von
Bender-Abassi etwa nach Bombay, ersetzt werden. Man würde
dann durch den Bau von 2000 Werst Eisenbahn von Baku bis
Bender-Abassi einen Kommunikationsweg nach Indien hergestellt
haben, welcher, abgesehen von der voraussichtlichen Rentabilität,
verglichen mit dem Wege über Brindisi und Suez, einen Zeitgewinn
von mehr als einer Woche (11 Tage statt 19 Tage) in Aussicht
stellt.
Dieser letztere Ausweg, die Eisenbahn an der Küste von Belu¬
djistan durch Dampfschiffe zu ersetzen, wäre auch in dem Falle zu
4 Als charakteristisch will ich hier hinzufügen, dass ich in dem Bazar in Aschrcf, an
der Nazerderanischen Küste ein gedrucktes Exemplar des Koran gekauft habe, welches
auf der Innenseite des Pappendeckels mit den Frachtformularen einer englischen Eisen¬
bahngesellschaft verklebt war, wodurch sich der Ursprung dieser Richtschnur aller
Rechtgläubigen-deutlich genug verrietb.
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ergreifen, wenn zu befürchten stände, dass die kirgisischen und
halbwilden Beludsjen die Eisenbahn durch ihr Land mit scheelen
Augen sehen und durch räuberische Ueberfalle dieselbe beunruhigen
würden. Dies ist aber auch der einzige Einwand, welchen man in
Bezug auf die vierte Forderung (pag. 439) gegen das hier diskutirte
Projekt erheben kann, da man weder auf russischem, noch auf per¬
sischem Gebiete Feindseligkeiten dieser Art zu befürchten hat.
Aber auch die Küstenstrecke am Indischen Meerbusen scheint mir
nicht besonders abenteuerlich und zwar aus mehreren Gründen.
Erstens sind die Küstenbewohner doch gewiss schon etwas gewöhnt
an den Anblick von Dampfschiffen und Europäern, zweitens liegt
die Bahn nicht, so zu sagen, zwischen den Füssen der Bewohner des
Innern und wird daher weniger Aergemiss erregen, endlich aber,
und das ist das Wichtigste, kann die Küstenbahn leichter überwacht
und beschützt werden. Man braucht die Stationen nur in weiten
Intervallen an einigen der natürlichen Häfen dieser Küste anzulegen
und einige Kriegsschiffe vor denselben stationiren zu lassen, um
ziemlich vollständig alle Gefahren zu beseitigen. Alle diese Um¬
stände zusammengenommen darf man wohl annehmen, dass die Aus¬
führung des vorliegenden Projektes nicht ernstlich durch die kriege¬
rischen (resp. räuberischen) Beludsjen gefährdet werden kann. Eher
ist zu befurchten, dass sie weit gefährlichere Gegner bei den Englän¬
dern finden werde, in deren Politik es vielleicht nicht passt, ein Un¬
ternehmen zu dulden oder gar durch Theilnahme zu unterstützen,
aus welchem voraussichtlich für Russland sehr bedeutende Vortheile
erwachsen müssen. Dass diese Worte hier nicht aus der Luft ge¬
griffen sind, mag zur Genüge der Umstand erhellen, dass alle von
Engländern vorgeschlagenen Ueberlandwege nach Indien mit einer
durchsichtigen Absichtlichkeit, Russland ganz aus dem Spiele
lassen und sich auf höchst abenteuerlichen Wegen bald über Kon¬
stantinopel mit einer Brücke (!!) über den Bosporus durch das Ge¬
wirr der kleinasiatischen und kurdischen Berggegenden sich an
das Euphrahtthal hindurcharbeiten, bald über Erzerum und Täbris
den uralten Karawanenweg zu Grunde legen, bald sogar (mira-
bile dictu) von Alexandria durch die syrische Wüste nach den
Mündungen des Euphrat gelangen wollen. Dass bei diesen Pro¬
jekten an die 1000 bis 2000 Werst Schienenstränge mehr zu legen
sind, dass diese entweder durch äusserst coupirtes oder durch voll¬
ständig wüstes Land gehen, dass man die wegen seiner räuberischen
Bevölkerung übel berüchtigten kurdischen Berge zu passiren hat,
BM. ferne. Bd. IX. 29
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442
alle diese Umstände erscheinen ihnen von geringem Gewicht, wenn
nur Russland aus dem Spiele bleibt. Damit haben sich aber auch
diese Projekte in den Augen des vorurtheilsfreien Beobachters selbst
gerichtet und selbst die Autorität eines Sir Rawlinson, des Vor¬
sitzenden der Londoner geographischen Gesellschaft, welche für
eines dieser Projekte einsteht, kann ihm in meinen Augen keinen
höheren Werth verleihen, weil es internationale Interessen den spe¬
ziell britischen opfert.
Mit dieser Bemerkung halte ich mich auch der Nothwendigkeit
entbunden, diese Projekte 1 einer näheren Erörterung zu unterwerfen
und will nur noch zusätzlich bemerken, dass diejenigen Projekte,
welche, wie das hier dargestellte, Teheran berühren, von dort sich
aber gerade aus östlich wenden und über Schachrud, Mesched,
Herat, Kandahar und den Bolanpass bei Schikarpur in das Indus¬
thal erreichen wollen, auf dieser letzten Strecke mit geringen Terrain¬
schwierigkeiten zu kämpfen haben. Der Weg nach Indien würde
dadurch sogar gegen die von mir vorgelegte Linie um Einiges ab¬
gekürzt werden, und ich könnte mich daher den englischen Projek¬
ten in diesem Theile anschliessen, wenn ich nicht die Bahn quer
durch Persien und die dadurch bewirkte Verbindung des Kaspischen
und Indischen Meeres für zu wichtig hielte, als dass ich nicht an den
Vorzügen der von mir projektirten Richtung festhalten sollte.
Es erübrigt jetzt nur noch das französische Projekt, das eines
Ueberlandweges nach Indien via Orenburg und Taschkend in Er¬
wägung zu ziehen.
Die central-asiatische Bahn, welche von Moskau über Ssamara nach
Orenburg gebaut wird, geht in nächster Zeit ihrer Vollendung ent¬
gegen. Eine Fortsetzung derselben bis nach Taschkend ist, wie
versichert wird, für Russland aus militärischen Rücksichten zu wich¬
tig, als dass dieselbe noch sehr weit hinausgeschoben werden könnte.
Angenommen nun, dieselbe sei fertig, so hat man von Taschkend
etwa nur 800 Werst Vogel weg bis zur nächsten Stadt Indiens, bis
Peschawer am Indus, zugleich nord-westlicher Schlusspunkt des aus¬
gedehnten indischen Eisenbahnnetzes. Der von Lesseps vertre¬
tene Plan geht nun darauf hinaus, dieses fehlende Stück Eisen¬
bahn herzustellen. Die Bahn sollte von Taschkend nach Chod-
shend gezogen werden, dort sich in einem grossen Bogen, welcher
sie bis in die Nähe von Bochara bringt, nach Westen wendend, um
1 Sie sind tbeilweise in dem oben citirten Artikel von Seidlit*r(»Ru93. Revue* Bd. fl)
besprochen. D. Red.
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443
die hier weit hervortretenden Vorberge des Hindukusch zu umgehen,
an den Amu-Darja gelangt. Diesen Fluss überschreitend wendet
sie sich nach Balch («der ältesten Stadt der Erde»), von wo sie,
theilweise der Richtung des uralten Karawanenweges folgend, all-
mälig die Abhänge des Hindukusch erklimmt und dann endlich in
der ungeheuren Passhöhe von 12,000 Fuss oder darüber, oder durch
einen Riesentunnel diese Kette in der Nähe des Städtchens Bumijan
überschreitet. Das Niedersteigen sollte dann vielleicht in dem Thale
des Kabul erfolgen.
Wenn man von dein etwa 1500 Werst weiten Umwege absieht,
welchen eine solche Richtung der Bahn für den vom mittleren
Europa nach Indien Reisenden nothwendfg macht, so bietet der Bau
der Eisenbahn über Ssamara bis Taschkend keine weiteren Unge¬
legenheiten und Schwierigkeiten, als dass sie grösstentheils durch
vollkommen menschen- und wasserleere Steppen führt. Nur die
Ueberbrückung der Wolga in der Nähe von Ssamara ist ein Riesen¬
werk, welches aber jedenfalls zur Ausführung gelangen wird.
Der weitere Weg von Taschkend bis Peschawer ist dagegen in
mehr als einer Hinsicht ein abenteuerlicher zu nennen. Man verlässt
sehr bald die russischen und unter russischer Oberherrschaft stehen¬
den Territorien und befindet sich unter Bucharen, Afghanen, Kabu¬
sen und anderen Volkstämmen, an deren Friedfertigkeit man ziem¬
lich gegründete Zweifel hegen kann.
In dem Maasse, wie man sich dem Kamme des Hindukusch nähert,
tritt man in ein wildes Alpenland, welches bis jetzt der Fuss eines
Europäers fast nie betrat. Hier in einer Passhöhe, welche etwa den
Alpenspitzen der Schweiz gleichkommt, befindet sich der Reisende
noch weit verlassener, oder richtiger, hülfsloser, als in den Sierra-
Nevadapässen der Pacificbahn, denn dort waren die Gegenden so
gut wie absolut menschenleer und mit den wenigen Indianern konnte
man leicht fertig werden, hier aber befinden sich ringsherum volks¬
reiche Städte,* viel benutzte uralte Karawanenwege, wo schon um¬
fassende Maassregeln nöthig sind, um die Eisenbahn gegen etwaige
böse Absichten der umwohnenden Völkerschaften sicherzustellen.
Die technischen Schwierigkeiten der Strecke Balch-Peschawer
(750 Werst) sind ungeheuer grosse, aber, nach dem Zeugnisse Co-
tard's, doch nicht unüberwindlich und nicht grösser, als sie der
Pacificbahn auf der Sierra-Nevada-Strecke entgegenstanden.
Wenn ich im Obigen gesagt, dass der Weg über Orenburg etwa
1500 Werst länger würde, als über Baku, so gilt dieses zunächst nur
19*
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444
für Reisende, welche sich vom mittleren Europa nach Calcutta be¬
geben wollen. Für die bei Weitem grössere Mehrzahl, welche sich
nach Madras, Bombay und weiter nach Ceylon, Hinterindien, Austra¬
lien, China und Japan begeben, kommen etwa noch 1000 Werst
durch den Umstand hinzu, dass sich Peschawer im fernsten, ent¬
legensten Winkel der ostindischen Halbinsel befindet, während sie
über Baku bei Fort Manura eintretend, der Mitte der eigentlichen
Halbinsel schon bedeutend näher sind. Vergleicht man endlich
noch die Taschkender Bahn mit der kaukasisch-persischen in Bezug
auf die Wahrscheinlichkeit eines bedeutenden lokalen Verkehrs und
die dadurch bedingte grössere Rentabilität, so kann man bei Er¬
wägung der hier angeführten Gründe nicht im Ernste die Behaup¬
tung aufrecht erhalten wollen, dass die Taschkender Linie vor¬
zuziehen sei, und wird genöthigt sein, sich meiner Ansicht anzu-
schliessen. Alles wohl erwogen, bin ich sogar der Meinung, dass
die kaukasisch-persische Linie zur Ausführung gelangen muss, und
das in einer nicht zu fernen Zeit, selbst wenn der Orenburg-Tasch-
kender Weg aus irgend welchen Rücksichten wirklich in’s Leben
gerufen würde. Es steht zu erwarten, dass die in riesigen Propor¬
tionen wachsenden Handelsrelationen des Occidents mit dem Orient
sowohl diesem doppelten Schienenwege, als auch dem Suezkanal
vollauf beschäftigen werden.
Wird aber einmal die kaukasisch-persische Bahn gebaut, welche,
wie ich gezeigt habe, naturgemäss über Baku gehen muss, so wird
diese Stadt eine Bedeutung für den Welthandel erreichen, wie nur
wenige andere Städte des Orients. Ich s^hliesse diesen Artikel mit
einem Gefühl von Unsicherheit, indem ich wohl weiss, dass ich
manche meiner Aussagen nur schwach vertheidigen konnte und mir
überhaupt mehrfach die nöthigen Spezialkenntnisse nicht zu Gebote
standen. In den Hauptpunkten: die Bedeutung Baku’s als Central¬
ort des Kaukasus und die umgebenden Länder, und die naturgemässe
Richtung des Ueberlandweges nach Indien über Baku und durch
Persien, glaube ich aber nicht zu irren. Und wenn diese Zeilen zum
Siege dieser Sache beitragen werden, so will ich es gerne ertragen,
wenn man mir im Einzelnen Fehler und Ungenauigkeiten nachwei*
sen wird.
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Kleine Mittheilungen.
Der Handel mit Metallen und Produkten der Montan¬
industrie Russlands im Jahre 1874.
Nach der vom Finanz-Ministerium publizirten Uebersicht des
auswärtigen Handels Russlands im Jahre 1874, über welche wir
«Russ. Revue# Bd. VIII, pag. 459—485 und 518—557 referirten,
geben wir heute in Bezug auf den Handel mit Metallen und Pro¬
dukten der Montanindustrie noch folgende spezielle Angaben.
A. lieber die europäische Grenze
sind eingeführt:
I.
Gold und Silber in Münzen und Barren
Pud
für Rbl.
15,981,307
2.
Verschiedene Erze.
>22,553
416,095
3 -
Steinkohle .
48,005,352
7 , 933,900
4
Coaks .
14,646,629
954,242
5 -
Kochsalz . ..
12,441,283
7,364,564
6. Naphtha, ungereinigt.
81,946
*89,172
7 -
Petroleum.
2,487,846
7,846,570
8. Aus Naphtha gewonnene Maschinen-
schmiere.
8.234
42,193
9 -
Schwefel und Schwefelblüthe . . .
4 >S. 32 >
494,790
IO. Rohmetalle:
a) Gusseisen in Stücken und Bruch
3,008,611
1,675,620
b) Eisen, Stangen-, Walz- und Bruch
5 . 551,683
7 , 450.549
c) Panzerplatten, Kessel- u. Eisenblech
1,3*2,529
2,910,267
d) Schienen.
5 , 303.320
5,894,065
e) Blech und verzinktes Eisen . . .
156,585
799,472
f) Stahl.
428,084
2 , 215,496
g) Kupfer und Bronze.
368,426
3,891,950
h) Metallkompositionen . . . . .
9 - 9*3
76,260
i) Metall-Cylinder.
32,900
332,833
k) Zinn in Barren, Stäben und Blättern
75,927
*, 270,545
1 ) Quecksilber.
1,860
100,055
m) Blei in Barren, Rollen, Blättern etc.
1,032,2 76
2 , 914,722
n) Glätte, Silberglätte und Bleiasche .
23,148
59 - 7*8
0) Zink in Barren.
202,730
592,804
p) Zink in Blättern.
92,229
34*,383
q) Stahlschienen.
5 , 783 , 97 *
* 5 > 543»955
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446
Pud für Rbl.
11. Verarbeitetes Gusseisen , . . . . 2,312,579
12. Stahl-, Eisen- und Blechwaaren . . . 21,066,415
13. Sachen aus Bronze und andern Kupfer¬
mischungen . 1,766,806
14. Gold-, Silber- und Platina waaren . . 794,030
15. Kupfer- und Messingblechwaaren,
ausser jenen sub. Nr. 13 erwähnten . 22,355 494,93°
16. Lokomotiven, kupferne Apparate etc. 39°,352 3,296,750
17. Lokomobilen und verschiedene Dampf¬
apparate . 813,840 5,923,512
18. Maschinentheile.1,222,468 7,914,259
19. Zinn-und Zinksachen. 1,509 23,587
20. Waaren aus britischem Metall . . . 322 3,913
21. Bleisachen, ausser den schon oben an¬
gegebenen . 7,982 96,885
Stück für Rbl.
22. Plattformen. 220 55,000
23. Waggons für Waaren. 906 1,632,750
24. Waggons für Passagiere und Post . . 166 447,800
Im Ganzen 113,121,743
An dieser Einfuhr betheiligten sich am stärksten England und
Preussen. So z. B. wurden eingefiihrt
Pud für Rbl.
Steinkohlen aus England.46,644,740 7,671,831
Cooks aus Preussen.14,215,918 911,622
Gusseisen: aus England.2,447,801 1,288,500
» Preussen. 445,117 325,911
Eisen in Stangen, gewalztes und Bruch-:
aus England.3,446,210 4,453,020
» Preussen. 1,163,736 1,639,700
* Belgien. 245,417 415,017
Eisen zu Schienen:
aus England.3,609,673 3,783,820
» Preussen.1,262,321 1,447,005
* Belgien. 132,199 235,346
Stahl: aus England. 170,552 913,918
» Preussen. 148,272 507,022
Kupfer: aus England. 257,375 2,767,784
» Preussen.. . 53» 8 44 43°, 62 3
Schienen und Bessemer Stahl: aus England 4,457,224 11,829,029
» Holland 442,854 1,284,278
Petroleum: aus Preussen. 1,037,725 3,542,724
» England. 155,202 338,666
» Nord-Amerika .... 321,523 1,648,796
Lokomotive , kupferne Apparate etc .:
aus England. 366,881 2,242,009
» Preussen. 177,271 1,766,257
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447
Pud
für Rbl.
Lokomobilen und verschiedene Dampfapparate:
aus England ....
• •
366,881
2,242,009
» Preussen ....
• •
266,085
2,434,243
» Oesterreich . . .
• .
76,860
776,179
> Belgien ....
53,470
268,339
Maschinentheile: aus England . .
• •
544,997
2,701,199
* Preussen . .
♦ •
363,017
3,167,095
» Oesterreich
• •
1,384
939,000
Stück
für Rbl.
Eisenbahnwaggons ; aus Preussen
• •
1,019
2,080,550
Plattformen: aus England ....
• •
220
55,000
Pud
für Rbl.
Gussstahlsachen: aus England . .
828,674
3,605,862
» Holland . .
289,215
3 , 313,723
» Belgien . .
161,045
1,288,517
» Preussen . .
31,904
262,432
Die Betheiligung der übrigen europäischen
Staaten an
dieser Ein-
fuhr war eine geringe.
Ausgeführt wurde:
für Rbl.
i. Gold und Silber in Münzen und Barren
, , t ,
16,048,842
2. Rohmetalle:
Pud
für Rbl.
Platina.
180
392,387
Kupfer.
7.453
86,927
Eisenblech.
212,739
852,952
Andere Sorten Eisen . . .
125,541
252,257
Gusseisen.
54 i
341
Zink.
130,675
261,330
Blei.
4,703
32,584
Im Ganzen Rohmetalle
1,878,778
3. Eisenerz.
. . 131,293 Pud
26,077
4. Verschiedene Erze ....
. . 831,673 »
188,325
5. Metallsachen.
« •
319,980
6. Maschinen und Modelle . . .
• •
70,970
7. Steinkohlen.
. . 310,015 *
34,159
8. Salz.
♦ •
9 *
IO
9. Malachit.
♦ •
77,170
Im Ganzen .
18,644,411
B. Der Handel mit Ftnland betrug:
an Einfuhr:
1. Rohmetalle:
Pud
für Rbl.
a) Eisen ....
. . . . 65,924
130,267
b) Kupfer . . .
• • • • 1,834
18,340
c) Zinn ....
.... 870
14,790
d) Blei ....
• • • • 4>544
13,633
e) Stahl ....
. . . , 2,138
10,690
Digitized by CjOO^Ic
448
Pud fUr Rbl. für Rbl.
f) Gusseisen.4,453 2,742
g) Zink. 430 3,010
h) Blech. 36 162
Im Ganzen an Rohmetallen 193,634
2. Verschiedene Metallsachen .... 285,976
3. Maschinen. 258,971
4. Steinkohlen . . ..637,240 Pud 95,558
5. Erze.93,270 * 9,327
6. Salz. 12 ,820 » _1 2,820
Im Ganzen . 856,286
Ausfuhr:
1. Rohmetalle: Pud fUr Rbl.
a) Eisen.844,379 1,852,572
b) Kupfer. 1,377 13» 77 °
c) Zinn. 45 765
d) Stahl. 8,169 40,845
e) Gusseisen.541,580 324,947
0 Zink. 381 1,143
Im Ganzen an Rohmetallen 2,234,042
2. Verschiedene Metallsachen. 262,842
3. Maschinen. 45,347
Im Ganzen . 2,542,231
C. Ueber die asiatische Grenze
sind ausgeführt:
1. Rohmetalle: Pud für Rbl.
a) Eisen.115,552 266,955
b) Blech. 81 595
c) Kupfer. 6,133 69 , 5 87
d) Zinn. 1,132 13,676
e) Quecksilber. 26 1,840
f) Blei. 78 452
g) Stahl. 7,017 20,39 3
Im Ganzen an Rohmetallen 373,498
2. Verschiedene Metallsachen. 257,497
3. Maschinen und Modelle . 97
4. Naphtha . .. 22,735
5. Salz . 6,798
6. Gold und Silber in Münzen und Barren.1,446,890
, Im Ganzen 2,107,515
Eingeführt:
1. Rohmetalle. 89,631
2. Steinkohlen, Coaks, Torf etc. . . . 43,306 Pud 6,080
3. Petroleum .3,410 » 12,825
4. Gold- und Silbersachen. 18,009
5. Bronzesachen. 5,709
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449
für Rbl.
6. Stahl-, Eisen-und Blechwaaren . . 1 59 > 9 °S
7. Gusseisen, bearbeitetes. 22,028
8. Maschinen und Apparate. 56,060
9« Blech- und Zinnwaaren. 3,423
10. Blei, bearbeitetes .. 6
11. Salz. 1,448 Pud 239
12. Gold und Silber in Münzen und Barren 648,944
Im Ganzen . 1,022,859
Die städtischen Kommunalbanken im Jahre 1873.
Anknüpfend an die im vorigen Jahre («Russ. Revue» Band VII,
pag. 260 u. ff.) gebrachten Mittheilungen über die Wirksamkeit der
städtischen Kommunalbanken im Jahre 1874 geben wir, nach den
im Regierungs-Anzeiger publizirten offiziellen Berichten für das
Jahr 1875, nachfolgende, auf dieses Jahr bezügliche Daten.
Am 1. Januar 1875 befanden sich im russischen Reiche überhaupt
267 städtische Komraunalbanken, zu welchen im Laufe des Jahres
1875 noch 15 neue hinzutraten, so dass am 1. Januar 1876 im Gan¬
zen 282 Kommunalbanken in Thätigkeit waren. Von diesen hatten
222 (gegen 210 im Jahre 1874) ihre Berichte für das abgelaufene
Jahr (1875) eingesandt.
Der Umsatz dieser Banken betrug im Ganzen 645,047,520 Rbl.
(62,226,790 Rbl. mehr als 1874), von welchen umsetzten die Ban-
ken in:
1875
1874
Mehr oder
weniger
Charkow.
. 97,304,000
99,990,000
_ 2,686,000
Skopin.
. 39.785,000
35,360,000
4- 4.425.000
Woronesh.
. 19,844,000
17,253,000
+ 2,591,000
Pensa.
. 17,956,000
18,172,000
— 216,000
Jelez ..
17,829,000
15,406,000
4- 2,023,000
Nishnij-Nowgorod . .
14,219,000
10,898,000
4. 3,321,000
Ssuschkin’sche in Tula .
. 13,787,000
11,002,000
4. 2,785,000
Ssaratow.
. 13,447,000
11,507,000
4 1,940,000
Tambow.
. 12,193,000
11,085,000
4- i, 108,000
Orel.
Irkutsk.
Ssumy # .
Kaluga.
. 11,247,000
. 10,867,000
10,711,000
10,698,000,
Der Umsatz jeder dieser
Banken betrug weniger als
10,000,000
Es erzielten einen Umsatz
103 Banken (gegen 93 im Jahre 1874) von 1,000,000 bis 10,000,000
52
43
11
60
39
9
1874) * 500,000 » 1,000,000
1874) » 100,000 » , 500,000
1874) » weniger als 100,000
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450
Das Grundkapital belief sich im Ganzen auf 15,289,812 RbL 1
(945,190 RbL mehr als 1874), und zwar haben ein Grundkapital:
2 Banken (gegen 2 im Jahre 1874) von über 500,000 RbL
35
(
»
34
»
1874) . 100,000 bis 500,000 •
43
(
»
45
>
»
1874) » 50,000 » 100,000 »
52
(
»
42
»
»
1874) » 25,000 » 50,000 »
90 »
(
»
8 7
»
*
1874) » 10,000 » 25,000 »
Einlagen wurden gemacht
für die Summe von 59,620,157 Rbl.
(gegen 1874 um 5,286,619 mehr), von welchen eingetragen wurde in
2 Banken 2 (gegen 2
im
Jahre
1874) über 3,000,000 Rbl.
11 >
(
»
11
»
»
1874) » 1,000,000 »
14
(
»
10
»
»
1874) von 500,000 bis 1,000,000 Rbl.
77
(
»
80
»
»
1874) » 100,000 » 500,000 .
52
(
»
46
»
>
1874) » 50,000 » 100,000 »
30 .
(
»
27
»
»
1874) » 25,000 * 50,000 .
17
(
»
22
>
»
1874) » 10,000 » 25,000 »
14
K
»
6
»
»
1874) weniger als 10,000 Rbl.
5
(
»
6
»
»
1874) gar nichts.
Diskontirt wurden
Wechsel
im Ganzen für 174,278,355 Rbl. (um
13,755,950 RbL mehr als im Jahre 1874), und zwar machte das
grösste Diskontogeschäft die Bank von
187s
1874
Mehr od. wen.
Skopin.
11,189,000
9,841,000
+
1,348,000
Charkow.
11,133,000
9,514,000
+
1,619,000
Dann kommen:
Jelez.
5,216,000
4,583,000
+
633,000
Woronesh.
5,205,000
weniger als 2 Million.
Nishnij-Nowgorod ....
4,903,000
3.571.000
+
1,332,000
Irkutsk.
4,890,000
4,197,000
+
693,000
Ssuschkin’sche in Tula . .
4,889,000
3 . 553 .ooo
+
1,336,000
Tambow.
4,197,000
3,847,000
+
350,000
Orel.
3,919,000
3,314,000
605,000
Ssaratow.
3,845,000
3,151,000
+
694,000
Pensa.
3,004,000
2,784,000
+
220,000
Kaluga.
2,602,000
2,448,000
+
154,000
Twer . ..
2,567,000
2,387,000
+
180,000
Rybinsk.. .
2,500,000
2,085,000
+
415,000
Koslow.
Alexandrow’sche in Tula . .
2,487,000
2,207,000
| weniger als 2
Million.
Ssamara.
2,176,000
2,060,000
+
116,000
Jelisawetgrad.
2,090,000
weniger als 2
Million.
1 Ausserdem besitzen diese Banken noch einen Reservefond von 2,804,795 Rbl.
(323,773 Rbl. mehr als im Jahre 1874).
* Charkow 7,898,000 Rbl. (gegen 6,720,000 im Jahre 1874) und Skopin 4,112,000
(gegen 3,243,000 im Jahre 1874). Mit den Resten des vorigen Jahres betrugen die
Einlagen zum 1. Januar 1876 in der Bank von Charkow 10,442,000 Rbl. (gegen
8,894,000 zum 1, Januar 1875), in Skopin 9,253,000 Rbl. (gegen 8,528,000 zum
I. Januar 1875).
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Es diskontirten:
22 Banken (gegen 29 im Jahre 1874) über 1,000,000 Rbl.
52 » ( » 34 » » 1874) von 500,000 bis 1,000,000 Rbl.
96 » ( » 99 » » 1874) » 100,000 » 500,000 »
16 » ( » 13 * » 1874) » 50,000 » 100,000 »
13 » ( » 17 » » 1874) » 10,000 » 50,000 »
5 » ( » 3 » » 1874) » weniger als 10,000 »
Die Darlehen gegen Werthpapiere, Werthsachen (Mobilien) und 0
Immobilien erreichten im Ganzen die Höhe von 40,792,529 Rbl. (um
845,622 Rbl. mehr als im Jahre 1874), und zwar verabfolgten Dar¬
lehn die Banken von:
1875 1874 Mehr od. wen.
Charkow.6,131,000 8,601,000 —2,470,000
Pensa.1,897,09p 1,877,000 4- 20,000
Woronesh.1,724,000 1,981,000 — 257,000
Ssumy.1,685,000 1,648,000 4- 37,000
Kaluga.1,424,000 weniger als 1 Million.
Jelisawetgrad.1,072,000 1,136,000 — 64,000
Ssaratow.1,027,000 weniger als 1 Million.
Es verabfolgten:
14 Banken (gegen 11 im Jahre 1874) von 500,000 bis 1,000,000 Rbl.
52
»
(
»
50
»
»
1874) »
100,000 »
500,000
44
»
(
»
43
»
»
1874) »
50,000 •
100,000
36
»
(
»
43
»
»
1874) .
25,000 »
50,000
34
»
(
»
23
»
»
1874) .
10 000 »
25,000
32
»
(
9
3 i
»
»
1874) »
weniger als 10,000
3
»
(
9
4
»
»
1874) »
gar nichts.
Die Reineinnahme dieser Banken betrug im Ganzen 11,502,465
Rbl. (um 809,243 Rbl. mehr als im Jahre 1874), und zwar erzielten
die grössten Reineinnahmen:
1875 **74 Mehr od. wen.
Charkow.1,019,000 968,000 4- 51,000
Skopin. 842,000 787,000 4 - 55 »ooo
Ferner:
Irkutsk.381,000 305,000 4- 76,000
Woronesh. 353,000 321,000 -j- 32,000
Jelez ..336,000 303,000 + 33,000
Tambow.264,000 237,000 -(- 26,000
Rjasan.261,000 252,000 4- 9,000
Nishnij-Nowgorod ! . 229,000 175,000 4- 54, 000
Ssaratow.225,000 192,000 + 33,000
Orel. 216,000 185,000 4- 31,000
Ssuschkin’sche in Tula . . . 214,000 182,000 4-32,000
Pensa . 210,000 202,000 4- 8,000
Kaluga . 208,000 181,000 4- 27,000
Bjelgorod.162,000 119,000 4- 43,000
Ssamara.158,000 143,000 4- 15,000
Jelisawetgrad.155,000 147,000 4- 8,000
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45 *
1875
1874
Mehr od. wen.
Stawropol.
.
. 150,000
142,000
-i- 8,000
Alexandrin’sche in Tula
• •
145,000
141,000
+ 4.000
Koslow.
140,000
107,000
+ 33,000
Jaroslaw •.
• •
. 127,000
189,000
— 62,000
Kursk.
• •
120,000
weniger
als 100,000
Rybinsk . . . - . .
• •
. 117,000
u6,ooo
+ 1,000
Gluchow.
• •
115,000
weniger
als ioo.ooo-
Twer . -.
• •
. 114,000
122,000
— 8,000
Ssumy.
111,000 |
Ssimbirsk.
• •
102,000
weniger
als 100,000
Kostroma.
• •
101,000 J
Es hatten eine Reineinnahme
23 Banken (gegen 25 im
Jahre 1874) von 50,000 bis
100,000 Rbl.
50 » ( » 41 »
9
1874) » 25,000 »
50,000 »
74 » ( * 74 »
9
1874) » 10,000 *
25,000 »
47 * ( * 43 *
»
1874) » weniger als
10,000 »
1 » ( » 2 .
9
1874) »
9 9
1,000 *
Die Reingewinne dieser Banken wurden verwandt: a) zur Zahlung
der Zinsen für die effektuirten Einzahlungen, b) zur Bestreitung der
Verwaltungsunkosten, c) zur Vergrösserung sowohl des Grund- als
des Reservekapitals, und endlich d) zu wohlthätigen und städtischen
Zwecken.
In sämmlichen Banken betrugen: 1875 1874 Mehr od. wen.
die zu zahlenden Zinsen . . . 7,420,190 6,824,401 +595,789
die Verwaltungsunkosten . . 824,400 754,196 + 70,204
dem Grundkapital wurden zuge¬
schrieben . 1 , 534,853 i,54i>23<> — 6,377
dem Reservekapital wurden zu¬
geschrieben . 340,269 329,453 + 10,816
zu wohlthätigen und städtischen
Zwecken wurde ver ausgabt . 1,382,753 1,243,945 + 38,808
Im Ganzen .11,502,465 10,693,225 —
Für den letzten Zweck hatten verwandt:
I
Bank (Skopin) •
• • • • •
• .
. . . 100,000 Rb
I
9
(Kolomna)
• • • • •
. . . 77,000
»
I
9
(Tambow)
• • • • •
. . . 57,000
>
I
9
(Ssamara) .
• « • • •
. . . 55.000
9
I
»
(Jelez) . .
• • • • •
. . . 51,000
9
4
9
(gegen 3 im
Jahre 1874) .
. von
3d,ooo bis 50,000
»
6
€
( * 10 *
» 1874) .
. »
20,000 » 30,000
9
*7
>
( • 14 »
* 1874) .
. . »
10,000 * 20,000
9
43
9
( . 36 »
» 1874) .
. . »
5,000 » 10,000
9
95
9
( » 95 *
* 1874) .
»
1,000 » 5,000
9
28
9
( . 25 .
» 1874) .
. . »
weniger als 1,000
9
24
9
( . 25 .
» 1874) •
gar nichts.
Ein Vergleich mit den Berichten für die Jahre 1866 bis 1873 incl.
ist in der «Russ. Revue» Band VII, pag. 261 u. ff. gegeben.
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Literatur bericht.
Gerichtlich-medizinische Untersuchungen über das Skopzenthum in Russland, nebst
historischen Notizen von E . Pelikan . St. Petersburg. 1876. gr. 4 0 XII 210
-f- 26 S. Mit 16 chromolithographischen Tafeln, 3 geographischen Karten und
mehreren in den Text gedruckten Holzschnitten.
Als zu Anfang des Jahres 1869 in Morschansk der bekannte
Skopzenprozess des Kaufmanns Maxim Plotizkin verhandelt wurde,
an welchen sich eine ganze Reihe ähnlicher, zum Theil noch heute
in den verschiedensten Gegenden Russlands geführter, unmittelbar
anschloss, machten sich die vielen Lücken fühlbar, welche sowohl
in der Wissenschaft, als auch in der Gesetzgebung in Betreff des
Skopzenthuras herrschten.
In Anbetracht dieses Umstandes regte das Justizministerium im
genannten Jahre die Frage über eine Revision der die Skopzen be¬
treffenden Gesetzesbestimmungen an und richtete dabei zunächst
seine Aufmerksamkeit auf den gänzlichen Mangel irgend einer ge¬
setzlichen Bestimmung in dem Swod über die äusseren Merkmale
der Zugehörigkeit zur Skopzensekte. Von der Nothwendigkeit
überzeugt, besonders diese letztere Seite einer tiefer gehenden Prü¬
fung zu unterziehen, und ausgehend von der Erwägung, dass dem
Ministerium des Innern weit eher, als irgend einem andern Verwal¬
tungszweige die Möglichkeit geboten sei, dieselbe mit genügender
Sachkenntniss zu behandeln, übergab der ehemalige Dirigirende des
Justiz-Ministeriums diese ganze Angelegenheit dem Minister des
Innern zur Beurtheilung. Im Ministerium des Innern nun gelangte
die erwähnte Frage an das Medizinal-Departement zur Begutachtung
und bald machten sich hier jene Lücken in den Akten des Departe¬
ments und des Medizinal-Departements geltend; es bestätigte sich
der Mangel an nothwendigen Angaben, wie sie eine Bearbeitung
von entsprechender Vollständigkeit erheischte.
Zwar hatte der Medizinalrath seit dem Jahre 1827, in Folge der
Initiative verschiedener Regierungsbehörden und Personen, eine
ganze Reihe von allgemeinen und besonderen Instruktionen erlassen,
welche auf die gerichtlich-medizinische Untersuchung der Skopzen
Bezug nahmen, aber weder waren sie vollständig und ihrem Inhalt
nach wissenschaftlich begründet, noch entsprachen sie den nun¬
mehrigen prozessualischen Anforderungen, da durch die Prozess-
Ordnung von 1864 auch das Verhältnis zum Untersuchungsrichter
einer wesentlichen Veränderung unterzogen worden war.
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454
t
Deshalb sah sich der Direktor des Medizinal - Departements,
Geheimrath Dr. E. Pelikan, genöthigt, behufs Sammlung des erfor¬
derlichen Materials sich an die Archive der Ministerien: des Innern
(Departement für allgemeine Angelegenheiten), des Krieges, des
Seewesens, der Justiz und des heil. Dirigirenden Synods zu wenden.
Eine genaue Durchsicht und Bearbeitung dieser Akten, im Verein
mit, vom Verfasser im Laufe der Jahre 1869—1871, persönlich vor¬
genommenen eingehenden Untersuchungen ermöglichten dann die
Herausgabe des umfangreichen vortrefflichen Werkes, welches uns
in, vom Verfasser genehmigter und von Hrn. Dr. N. Iwanow ver¬
anstalteter deutscher Uebersetzung vorliegt und, wenn es auch vor¬
zugsweise die gerichtlich-medizinische Expertise in’s Auge fasst,
doch auf der anderen Seite ebenso viel werthvolles Material zur Cha¬
rakteristik der Skopzensekte enthält.
Wir begrüssen das Werk mit um so grösserer Freude, als beson¬
ders in jüngster Zeit das Skopzenthum in der gerichtlich-medizini¬
schen Kriminalkasuistik Russlands eine äusserst hervorragende Stel¬
lung eingenommen, andererseits aber bisher sich ein gänzlicher Man¬
gel in der Literatur an Werken ähnlicher Art geltend gemacht hat *.
Aus naheliegenden Gründen müssen wir darauf verzichten, an
dieser Stelle eine eingehende Darstellung und Besprechung der vom
Verfasser erzielten Resultate seiner Studien und Untersuchungen zu
geben. Es möge genügen, einige historische und statistische Notizen
von allgemeinem Interesse zu bringen und auf die vorzügliche An¬
lage und Vollständigkeit des Werkes hinzuweisen.
Was die Frage betrifft, seit wann die Idee von der Nothwendig-
keit, das eigene Fleisch durch Verstümmelung im wahren Sinne des
Wortes zu ertödten, um auf diesem Wege den höchsten Grad der
Reinheit und Heiligkeit zu erreichen, die Gestalt eines religiösen
Dogmas erhalten, so ist bekannt, dass der Kultus der Göttin Cybele,
welcher von Phrygien über Griechenland später nach Rom verpflanzt
ward und dessen Priester freiwillige Eunuchen waren, das einzige
Beispiel dieser Art im Alterthum darstellt. Um die Hälfte des
III. Jahrhunderts tauchte die unglückliche Irrlehre aufs Neue auf
und fand auch bei den Christen Eingang, hat jedoch nie die Bedeu¬
tung einer Hierarchie oder eines Schismas erlangen können. Ver¬
fasser verwirft daher die Ansicht anderer Gelehrten, als ob das
Skopzenthum in Russland aus der längst untergegangenen Sekte
der Valesianer 2 hervorgegangen sei, oder mit ihr im Zusammen¬
hänge stehe.
1 Man kann zu derselben durchaus nicht das Werk des verstorbenen Nadeshdin:
«Untersuchung über die Skopzenirrlehre* rechnen, welches im Jahre 1845 auf Befehl
des ehemaligen Ministers des Innern in einer sehr beschränkten Anzahl von Exemplaren
herausgegeben worden ist. %
a Die Valesianer waren eine ganze Gesellschaft Fanatiker, welche jener Lehre hul¬
digte, und sich nach dem Namen ihres Begründers, Vilesius, eines arabischen Philo¬
sophen, nennend, um die Zeit des Origines, in Palästina, jenseits des Jordans, existirt
haben soll. Doch wurde ihre Lehre schon im Jahre 249 auf einem Kirchen-Konzil
anathematisirt.
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_ 45 S
Wiewohl auch in Russland schon seit dem Jahre 1004 der Kastra¬
ten Erwähnung geschieht, so ist aus dem Umstand, dass sie aus
Griechenland eingewandert waren, dass es doch nur vereinzelte Fälle
sind, und dass Einige von ihnen selbst die höchsten kirchlichen
Würden in der russischen Hierarchie bekleidet haben, zu entnehmen,
dass von dem Bestehen einer derartigen Sekte in jener Zeit nicht
die Rede sein konnte. Diese ist erst in viel späterer Zeit, im
XVIII. Jahrhundert, entstanden und ist nichts Anderes als eine Mo¬
difikation und in’s Extreme ausartende Weiterentwickelung der
Lehre der früheren Flagellanten-Sekte (Chlisti), oder der sogenann¬
ten «Gottes-Leute». Diese Letzteren, Sprösslinge der aus dem
Westen nach Russland verpflanzten Quäcker-Sekte, waren hier be¬
reits um das Jahr 1733 bekannt geworden. Als ihre Lehre rasch
dem moralischen Verfall entgegen ging und einige der zur Sekte gehö¬
renden Fanatiker dem immer stärkeren Umsichgreifen von Unsitt¬
lichkeit, Habsucht und Willkür gegenüber, nach dem Grunde des
Uebels sich umzusehen begannen, glaubten sie, denselben in den
fleischlichen Gelüsten zu finden, und gestützt auf Bibelstellen, wie
Matth. V, 26, 30 und Matth. XIX, 12, erhoben sie ihre thörichten
Ideen über Vervollkommnung und Reinigung des Menschen zu einer
neuen Lehre, welche bald im Volke Anklang fand.
Die erste Kunde über die fanatische Skopzensekte erhielt die Re¬
gierung im Jahre 1771 und ihr erster Priester, ein Bauer Namens
Andrei Iwanow, trat lehrend und verführend im Gouvernement Orel
auf, welches, neben den Gouvernements St. Petersburg und Kursk,
bis auf den heutigen Tag der Hauptsitz der Skopzen geblieben ist.
Nicht aber dieser, sondern vielmehr sein abenteuerlicher Helfers¬
helfer Kondradji Sseliwanow, wird von den Skopzen als Stifter der
Sekte, ja als «Erlöser», «GottesSohn», «Christus» und — Kaiser
Peter III. verehrt. Den Umstand, dass die Skopzen ihren Erlöser
mit der Person des Kaisers Peter III. identifiziren, erklärt der Ver¬
fasser dadurch, dass vor der Thronbesteigung dieses Monarchen alle
Schismatiker, insbesondere aber die «Gottes-Leute», furchtbaren
Verfolgungen ausgesetzt gewesen waren. Kaiser Peter III. gewährte
ihnen dagegen sofort vollkommene Amnestie und Glaubensfreiheit
und Schutz vor der orthodoxen Geistlichkeit. In Folge dieser Iden-
tifizirung glauben sie auch noch heute an das Leben jener geheimniss-
vollen Persönlichkeit, sie erwarten ihr zweites Erscheinen und mit
diesem den Anbruch des Weltgerichts und eines glückseligen Lebens
der gesammten dann zum Skopzenthum bekehrten Menschheit.
Andrei Iwanow wurde mit der Knute bestraft und nach Sibirien
geschickt, wo er voraussichtlich auch gestorben ist. Sseliwanow
aber, auch unter dem Namen Andrei, Ssemen, Iwaft, Foma bekannt,
entfloh in’s Tambow’sche Gouvernement, aufs Neue propagandirend
und mit seinem Schüler Alexander Sehilow von Dorf zu Dorf ziehend.
Endlich wurde auch er 1775 in Moskau verhaftet und unterlag der¬
selben Strafe wie Iwanow; die Anhänger kamen auf die Festung
Dünamünde, ein geringer Theil wurde jedoch, unter strengster Kon-
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456
trolle, in seiner Heimath gelassen. Kaum io Jahre später nahm die
Sache doch wieder ihren alten Lauf, und als nun gar Sseliwanow,
welchem es gelungen war aus Sibirien zu entfliehen, mitten unter
seinen Brüdern erschien, machte das Skopzenthum schnellere Fort¬
schritte als je. Zum zweiten Mal in Moskau, im Jahre 1797, fest¬
genommen, wurde er vor den Kaiser Paul I. geführt und von ihm
in’s Irrenhaus gesteckt. Zugleich ergriff man gegen die ganze Sekte
energische Maassregeln. Unter Anderen wurde auch Schilow auf
die Festung Schlüsselburg verschickt, wo er 1799 starb. Nichts¬
destoweniger breitete sich die Sekte immer mehr aus und zunächst
in St. Petersburg und seiner Umgebung selbst. Kaiser Alexander I.
besuchte persönlich den räthselhaften Alten und befahl, ihn in das
Stadt-Armenhaus bei dem Smolna-Kloster überzuführen. Das ge¬
schah 1802. Aber schon nach 4 Monaten wurde er entlassen, bezog
das Haus eines seiner Anhänger, welches «Neu-Jerusalem», das
«himmlische Zion» u. s. w. genannt wurde, und immer weiter griff
seine Lehre um sich, über St. Petersburg nach Moskau, bis zum
Chersson’schen Gouvernement, ja sie schien sich über ganz Russland
ausdehnen zu wollen. Es war eine günstige Zeit, die Zeit, wo in
den höheren Kreisen der Gesellschaft jene mystische Richtung vor¬
herrschte, deren Haupt-Repräsentantin die bekannte Baronesse
Krüdener war. Der Pietismus kam auf, mystische Gesellschaften
entstanden und verbreiteten ihre Schriften; es begann «das Forschen
nach ewiger Wahrheit», welches verschiedenen Sectenbildungen
Vorschub leistete und theilweise auch das Flagellantenthum beför¬
derte. So wurde der Entwickelung der Skopzen-Sekte keine be¬
sondere Schwierigkeit bereitet. Zudem war man wohl auch nicht
mit dem wahren Wesen derselben vertraut genug und wurde dem
Umstande, dass Sseliwanow sich einen so hoch-politischen Namen,
wie der Peter's HI., gab, keine grosse Bedeutung beigelegt. An die
Möglichkeit einer ernstlichen Verwickelung desselben mit der Sekte
glaubte die Regierung nicht, wenn sie überhaupt eine Ahnung da¬
von hatte.
So gelang es dem «Alten», sich bis zum Jahre 1820 in St. Peters¬
burg zu halten, obschon er in den letzten Jahren, an Irrsinn leidend,
von allerlei Intriguen umsponnen war. Zwei Jahre vordem war man
wieder energischer gegen die Fanatiker vorgegangen; die Frechheit
der Propagandisten ging so weit, dass sie sich nicht mehr, wie früher,
auf das gemeine Volk beschränkten, sondern, wenn auch erfolglos,
selbst Glieder der hohen Gesellschaftsklassen zum Beitritt zu ver¬
locken suchten. Die Folge davon war die Verschickung der thätig-
sten Sektirer in das Ssolowetzki-Kloster. Sseliwanow selbst wurde
im genannten Jafir in’s Spasso-Euphanius-Kloster verschickt, wo er
erst 1832 im hohen Alter starb.
Nichtsdestoweniger glauben die Skopzen fest an die Wiederkunft
dieses ihres «Erlösers», auf welchen sich aller Glaube, alle Hoffnun¬
gen und aberwitzigen Phantasieen der Lehre gründen. Die inter¬
essante Verwickelung des Namens Kaiser Peter UL mit demselben
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457
wurde schon erwähnt, aber nicht er allein, auch die Kaiserinnen
Elisabeth Petrowna, Katharina II., Kaiser Paul I. und Alexander I.,
ja selbst Napoleon I. — sie Alle spielen eine Rolle in den tollen
Ausgeburten der Skopzenschwärmerei.
Der Wahn, der Erlöser Sseliwanow werde zum zweiten Male in
Glanz und Herrlichkeit herniederkommen, pflanzt sich von Geschlecht
zu Geschlecht fort und wird von spekulativen Köpfen von Zeit zu
Zeit immer wieder ausgebeutet. So wurde noch 1872 eine eigen¬
tümliche Bewegung unter den Skopzen der südlichen Gouverne¬
ments konstatirt, welche auf dem Gerücht basirte, es sei im Sommer
genannten Jahres zu Galatz in der Moldau Kaiser Peter III. in Ge¬
meinschaft mit Johannes dem Theologen, Basilius dem Grossen und
dem Propheten Elias erschienen.
Inzwischen nimmt die Zahl der Sektirer trotz aller Bemühungen
der Regierung durchaus nicht ab. Die bisher angewandten admi¬
nistrativen Korrektions- und Strafmaassregeln sind nicht im Stande,
dem Uebel zu steuern.
Der Verfasser weist darauf hin, dass es am zweckmässigsten wäre
die Skopzen, als schädliche Glieder der Gesellschaft, laut Entschei¬
dung der Gemeinde selbst und unter materieller Mitwirkung de r
Regierung auf administrativem Wege zu deportiren, sie von de
orthodoxen Bevölkerung abzusondern und eine möglichst grosse
Uebersiedlung derselben in wenig bevölkerte Gegenden zu bewerk¬
stelligen; im Uebrigen unterliegt es aber keinem Zweifel, dass die t
Entwickelung der Volksbildung das allersicherste Bollwerk gegen
die Verbreitung einer jeden Irrlehre, und so auch des Skopzen-
thums ist.
Die offiziellen Zahlen sind sowohl in den einzelnen Details, als auch
in der Gesammtsumme weit davon entfernt, genau zu sein und dürfen
nicht einmal auf annähernde Wahrscheinlichkeit Anspruch machen.
Da die Heimlichkeit ja ein Grundelement dieser Sekte sein muss, so
entzieht sie sich jeglicher sicheren statistischen Uebersicht. Um
einen Begriff von der Zahl der Skopzen zu geben, sind dem Werke
drei Karten beigefügt, welche, gestützt auf offizielle Dokumente,
die Verbreitung der Irrlehre an den verschiedenen Punkten des
Reiches durch verschiedene Schattirungen wiedergeben. Wir ent¬
nehmen denselben folgende Daten:
In der Periode von 1805—1839 wurden auf je 100,000 Einwohner
ermittelt:
mehr als 8 pCt. Skopzen in den Gouv. Petersburg und Kursk,
zwischen 5 u. 8 » * * > » Moskau, Orel, Tambow,
» 2 » 3 • » »» » Bessarabien, Taurien.
Von 1840—1859:
mehr als 8 pCt. Skopzen in den Gouv. Petersburg und Kursk,
zwischen 5 u. 8 » » » • » Orel, Taurien, Kaluga,
* 3 » 5 » » » » > Moskau, Rjasan, Tambow.
Rom* B)mM. Bd. IX« 30
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Von 1860—1870:
mehr als 8 pCt. Skopzen in den Gouv. Petersburg und Orel,
zwischen 5 u. 8 » » » » » Rjasan und Kostroma,
» 3 » s • » * » » * > Kursk, Kaluga, Taurien.
Es ergibt sich hieraus, dass der Hauptherd dieser Sekte das Herz
Russlands ist. Interessant ist der Umstand, dass inmitten all’ der
andern Gouvernements das Wladimir’sche vom Kontagium stets frei
geblieben ist. Solche Gebiete sind u. a. auch Kurland, die soge¬
nannten westlichen und die Mehrzahl der polnischen Gouvernements,
endlich Finland, das Land der Donischen Kosaken und der Kau¬
kasus. Perm, Ufa, Orenburg und die nördlichen Gouvernements
zeigen Schwankungen zwischen 2 pCt. und weniger als 0,1 pCt. auf
100,000 Einwohner.
Die in der Beilage A. enthaltenen statistischen Notizen geben,
wenn auch, nach der eigenen Ansicht des Verfassers, nur fragmen¬
tarische, so doch immerhin interessante Daten über verschiedene
Punkte, welche das Alter, den Beruf, Stand der Skopzen, das Zahl-
verhältniss der Geschlechter zu einander u. s. w. betreffen, oder auf
die Versammlungsorte, Gebräuche, das Betragen der in Unter¬
suchung befindlichen, auf ihre geistigen Fähigkeiten, Körper¬
beschaffenheit u. s. w. Bezug haben.
Die Gesammtsumme der von 1805—1871 ermittelten Skopzen
beträgt 5444, darunter 1465 Mädchen und Weiber. Dem Stande
nach weisen die grösste Zahl (2736) die Bauern auf, dann die Sol¬
daten und ihre Familien (443). Orthodox-griechischer Konfession
waren 3832 Männer und 1192 Weiber, lutherischer annähernd 409,
von ihnen 273 Weiber.
Wir begnügen uns mit dem Angeführten, obschon auch sonst viel
Schätzenswerthes sich herausheben liesse, wie z. B. die Mittheilun¬
gen über die Oertlichkeiten wo, und die Instrumente, mit welchen
die Operationen vorgenommen wurden; aber einmal sind diese Mit¬
theilungen, wie erwähnt, nicht vollständig genug, dann dürfte es
auch zu weit führen. Wir verweisen darum auf das Werk selbst.
Wie früher bemerkt wurde, umfasst der grösste Abschnitt, es sind
deren überhaupt vier, die rein medizinische Behandlung der Frage
über die dem Dogma der Skopzen zu Grunde liegende Verstümme¬
lung, welche, mit besonderer Berücksichtigung der möglichen und
faktischen Zugehörigkeit zur Sekte von Weibern, sich auf die ein¬
schlägige Literatur und vom Verfasser vorgenommenen anatomi¬
schen Untersuchungen an Leichen und Thieren stützt.
Ein zweiter Abschnitt beschäftigt sich mit den Folgen, mit den
leiblichen und psychischen Veränderungen, welchen die Skopzen
durch ihren Beitritt zur Sekte unterliegen. Hier werden der Cha¬
rakter, die moralischen Eigenschaften, die intellektuelle Entwicke¬
lung der Skopzen besprochen, die Wege und Mittel ihrer Propa¬
ganda, ihre Organisation als Gesellschaft u. s. w. Besonderes Inter¬
esse beansprucht das letzte Kapitel dieses Abschnitts, welches das
Skopzenthum vom psychiatrischen Standpunkt aus betrachtet. Der
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dritte und vierte Abschnitt behandeln endlich die materiellen Be¬
weise und juridischen Indicien der Verstümmelung, sowie einige
religiöse Gebräuche der Skopzen in gerichtlich-medizinischer Be¬
ziehung. Bei dieser Gelegenheit analysirt der Verfasser eingehend
den Einfluss der Skopzen-Andachtsübungen («Radenje*, »In-Gott-
Arbeitena) auf den physischen und psychischen Zustand des Orga¬
nismus und tritt mit Entschiedenheit der Ansicht entgegen, als sei
das Abendmahl der Sektirer eine auf Menschenfresserei gegründete
Ceremonie.
Die wichtigsten, gerichtlich-medizinischen Folgerungen, welche
sich aus dem Vorhergehenden ergeben haben, sind zum Schluss in
16 Fragen und Antworten zusammengefasst. Es macht diese An¬
ordnung das Werk besonders bequem für den praktischen Gebrauch;
zudem ist bei den einzelnen Antworten immer auf die entsprechen¬
den Stellen in den verschiedenen Abschnitten hingewiesen, auf Grund
deren der Verfasser seine Thesen aufstellt. Beispielsweise führen wir
die letzte an, in welcher Hr. Dr. Pelikan sich dahin ausspricht, dass
das Skopzenthum keineswegs als eine Form religiösen Wahnsinns,
sondern durchaus als fanatische Verblendung zu betrachten sei; eine
Frage also, welche mit der Zurechnungsfähigkeit der Skopzen in
engster Verbindung steht und deren Entscheidung im angeführten
Sinne die Strafbarbeit erst vollkommen begründet.
Ausser der schon besprochenen statistischen Beilage bringt das
Werk noch drei andere, welche die Darstellung von besonderen, von
andern Aerzten beobachteten, interessanten Fällen zum Inhalt haben,
•Endlich bemerken wir noch, dass die trefflichen, nach der Natur
von Dr. Mierzejewski aufgenommenen und bei Fajans in War¬
schau chromo-lithographirten Zeichnungen viel zur Erläuterung des
Behandelten beitragen, sowie dass durch das glückliche Arangement
ausser durch Kapitelüberschriften, auch am Rande stets durch we¬
nige Worte den Inhalt des Textes anzugeben, das Gesuchte leicht
sich finden lässt.
Alles zusammengenommen berechtigt zu der Hoffnung, der Ver¬
fasser werde seinen Wunsch, dieses vollständige, gründliche und
gediegene Werk als praktischen Leitfaden bei Skopzen-Prozessen
in den Händen aller Gerichtsärzte und Untersuchungsrichter zu fin¬
den, bald in Erfüllung gehen sehen, welchem Wunsche auch wir
uns Angesichts des grossen Monstre-Skopzen-Prozesses, welcher in
diesen Tagen 136 Personen in Melitopol (Taurien) auf die Anklage¬
bank geführt hat, von ganzem Herzen anschliessen müssen.
— t.
Wilfried Anders. 1. Die Geburten und die Sterbefalle in Livland 1863—1872. Riga
1875. 2. Beiträge zur Statistik Livlands. Riga 1876.
Durch beide vorliegenden Arbeiten des Sekretärs des Livländi-
schen statistischen Komites ist die statistische Literatur der Ostsee-
Provinzen um schätzbares Material bereichert worden. Die erste
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Arbeit, «die Geburten und die Sterbefälle in Livland 1863—1872»;
behandelt die Bevölkerungsbewegung in dem angegebenen Jahrzehnt
in. drei Abschnitten, und zwar im ersten die Geburten, im zweiten die
Sterbefälle und im dritten den natürlichen Zuwachs und die Prospe¬
rität der Bevölkerung. Sehr schätzenswerth ist es, dass der Ver¬
fasser fast durchweg bei allen vorkommenden Relativzahlen auch
die ihnen zu Grunde liegenden absoluten Zahlen gibt, so wie der
Umstand, dass wir fast nur verarbeitete absolute Ziffern antreffen.
Zu neuen Resultaten gelangt der Verfasser nicht, dagegen finden
anerkannte Erscheinungen auch durch seine Arbeit neue Bestäti¬
gung, so: dass die Fruchtbarkeit bei den jüdischen Ehen die grösste
ist, die meisten Konzeptionen in den Frühling fallen, die Knaben¬
geburten die Mädchengeburten überwiegen, die unehelichen Ge¬
burten auf dem flachen Lande seltener, als in den Städten Vor¬
kommen u. s. w. Sehen wir uns nun die von Anders gefundenen
Resultate ein wenig näher an. Was die Geburtsziffer anbetrifft, so
ist dieselbe für den Durchschnitt des Jahrzehnts 1863 — 1872 in
Livland 27,3 gewesen, was auf eine recht bedeutende Fruchtbarkeit
deutet, da sie über dem europäischen Mittel steht, indem als äusserste
Grenzen der Geburtsziffern in Europa nach Wappaeus 20 und 40
gelten dürfen. Auf die Fruchtbarkeit scheinen die Erndteergebnisse
von Einfluss zu sein, denn nach Nothjahren sinkt die Geburtsziffer.
Die Geburtsziffer in Verbindung mit den Konfessionen gebracht
zeigt uns, dass dieselbe bei den Juden am grösten ist: 20,8, bei den
Raskolniks am kleinsten: 33,9; dazwischen stehen die Protestanten
mit 26,9, die Katholiken mit 27,6 und die Griechisch Orthodoxen
mit 30,7. In den Städten war die Fruchtbarkeit grösser als auf dem
flachen Lande, denn die Geburtsziffer beträgt hier 27,4, dort 26,4.
Hieran schliesst der Verfasser eine eingehende Untersuchung über
die die Fruchtbarkeit beeinflussenden Momente, wobei er zu dem
Resultate gelangt, dass die Hypothese: die Fruchtbarkeit einer
Bevölkerung verhalte sich umgekehrt wie ihre Dichtigkeit, in Livland
sich nicht bestätigt, ebenso wenig die, dass sie sich in einzelnen
Kreisen umgekehrt, wie die Ertragsfähigkeit des fruchttragenden
Bodens derselben verhält, dagegen in den angeführten Geburts-
ziffern für Stadt und flaches Land eine Unterstützung der Engel-
schen Annahmen, dass die vorwiegende Art der Arbeit der Bevöl¬
kerung auf die Fruchtbarkeit von Einfluss und namentlich die
industrielle Arbeit derselben günstiger sei, als der Ackerbau. Die
Konzeptionen fanden am meisten im Frühling statt, wobei jedoch
bei den einzelnen Konfessionen Unterschiede bemerkbar sind; so
fällt das Maximum derselben bei den Griechisch-Orthodoxen nicht
in den Frühling, sondern in den Sommer, worauf die März-Fasten
wohl nicht ohne Einfluss sind, zumal dieser Monat die niedrigste
Konzeptionszahl zeigt. Diese grossen Fasten beeinflussen ja auch die
Eheschliessungen und zwar nicht nur bei den Griechisch-Ortho¬
doxen, sondern auch bei den Katholiken; so z. B. war 1868—1872
im Monat März bei ersteren gar keine und bei letzteren nur eine
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Eheschliessung vorgekommen. Bei der Betrachtung des Ge¬
schlechtsverhältnisses der Geborenen neigt sich der Verfasser den
in neuester Zeit stark und mit Erfolg, so z. B. von Breslau und Stieda
angegriffenen Hofacker-Sadlerschen Hypothese hin, dass, je mehr
der Mann die Frau an Alter übertrifft, desto mehr auch das männ¬
liche Geschlecht bei den Geburten überwiegt, womit er auch das
von ihm in Livland gefundene Resultat, dass die Knabengeburten
in den Städten (108,66) stärker als auf dem Lande (105,10) die
Mädchengeburten überwiegen, (dieses Resultat weicht von dem im
Auslande ziemlich allgemein gefundenen vollkommen ab) zu erklären
sucht, wie auch den Umstand, warum bei den ehelichen Geburten
(105,68) der Knabenüberschuss ein stärkerer ist, als bei den un¬
ehelichen (102,69). Die Legitimitätsverhältnisse der Geborenen
verhalten sich in Livland wie 1 : 22,18, d. h. auf 22,18 eheliche
Geburten kommt eine uneheliche, hierbei sind aber die Geburten
der Raskolniks unberücksichtigt geblieben. Das Legitimitätsver-
hältniss nach den Konfessionen: es kommt eine uneheliche Geburt
auf 9,36 bei den Katholiken, auf 15,57 bei den Griechisch-Ortho¬
doxen, 24 bei den Protestanten und auf 165,79 bei den Juden. Dass
die unehelichen Geburten in den Städten Livlands, wie ja überall,
viel häufiger sind, als auf dem flachen Lande, bedarf kaum der
Erwähnung; in den Städten kommt schon eine uneheliche Geburt
auf 10,00 eheliche, auf dem flachen Lande dagegen erst auf 27,10,
gegen europäische Mittelverhäitnisse günstige Ziffern. Die Propor¬
tionen von Todtgeborenen zu Lebendgeborenen ist (1868—1872)
in Livland die von 1 : 34,40, ein sehr günstiges Resultat, da das
europäische Mittelverhältniss 1 : 25—26 ist, doch meint der Ver¬
fasser selbst jene Zahlen mögen zu günstig sein, da die offizielle
Anmeldung der Todtgeburten gewiss nicht selten unterbleibe. In
den Städten ist das Verhältniss 1 : 27,16 ungünstiger, wie auf dem
Lande 1 : 36,12, desgleichen bei den unehelichen Geburten 1 : 15,92,
als bei den ehelichen 1 :35,92 u. s. w. Mehrgeburten fanden
(1868—1872) 1,70 pCt. statt, von diesen waren 50,32 pCt. Knaben
und 49,68 pCt. Mädchen, wobei letztere bei den Drillingen vor¬
herrschten, bei den Zwillingen und Mehrgeburten überhaupt aber die
Knaben. 1
In der Sterblichkeit steht Livland über dem europäischen Mittel
mit der Ziffer 38,9 und zwar war dieselbe am günstigsten bei den
Protestanten 39,8, am ungünstigsten bei den Raskolnik’s 25,7,
dazwischen stehen die Griechisch-Orthodoxen mit 38,5, die Juden
mit 30,6 und die Katholiken mit 26,2. Dass die Sterblichkeit in den
Städten eine viel grössere ist als auf dem flachen Lande, kenn¬
zeichnet sich in Livland mit den Ziffern 29,0 und 41,2. Am grössten
war dieselbe im Winter, auf den (1868—1872) 28,05 pCt. aller
Gestorbenen kamen, dann folgt der Frühling mit 27,29 pCt., der
Sommer mit 23,26 und der Herbst mit 21,40. Diese Resultate
weichen von der allgemeinen Erfahrung, dass die Uebergänge von
der Kälte zur Wärme und umgekehrt von der Wärme zur Kälte für
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den menschlichen Organismus am gefährlichsten sind, ab, doch mö¬
gen klimatische Ursachen hierbei von Einfluss sein. Auch was das
Geschlechtsverhältniss der Gestorbenen anbelangt, hat der Verfasser
Resultate gefunden, die von den allgemein Geltenden abweichen,
nämlich, dass das Uebergewicht der gestorbenen männlichen Per¬
sonen über die gestorbenen weiblichen Personen nur ein sehr geringes
ist, auf 100 nur 0,99, ja bei der Hauptkonfession, den Protestanten,
der etwa 80 pCt. der gesammten Bevölkerung angehören, starben
verhältnissmässig mehr weibliche als männliche Personen, auf 100
ersterer kommen nur 98,23 letzterer, noch ungünstiger ist das Ver¬
hältnis bei den Raskoiniken 100: 91,90. Dass trotzdem jener Ueber-
schuss von 0,99 erreicht wird rührt daher, dass bei den anderen
Konfessionen das Uebergewicht der gestorbenen männlichen Per¬
sonen ein sehr starkes ist, am stärksten bei den Juden, wo auf 100
weibliche gestorbene 123,15 männliche kommen, dann bei den Ka¬
tholiken 114,58 und bei den Griechisch-Orthodoxen 113,90. Ziehen
wir die Vertheilung auf Stadt und Land mit in Betracht, so ergibt
sich, dass die Sterblichkeit unter den Männern in der Stadt eine viel
grössere als auf dem Lande war, hier bleibt sie wieder hinter den
Frauen zurück, dort überwiegt sie sie aber bedeutend, hier kommen
auf 100 weibliche Gestorbene 98,86, dort 110,84 männliche. Be¬
schäftigung und Lebensweise führen wohl hauptsächlich dieses Er¬
gebnis herbei. Was das Alter der Gestorbenen anbelangt, so ist
die Sterblichkeit unter den Kindern wie bekannt am grössten, sie
betrug in Livland für Kinder unter 1 Jahr 29,49 pCt., von 1 — 5 Jahren
17,89 pCt. und von 5—10 Jahren 4,89 pCt., so dass bis zu vollen¬
detem zehnten Jahre schon mehr als die Hälfte, 52,27 pCt., der Gebo¬
renen bereits wieder gestorben ist, hieraus ergibt sich aber auch,
wie die Kindersterblichkeit das allgemeine Verhältniss beherrscht.
Nicht uninteressant ist es zu erfahren, dass die ersten Monate und
Jahre für die Knaben viel gefährlicher sind, als für die Mädchen, so
starben unter einem Jahr 31,99 pCt. der ersteren, von letzteren
26,97 pCt., was doch 5,02 pCt. zu Gunsten der Mädchen aus¬
macht. Als natürliche jährliche Zuwachsziffer finden wir durch¬
schnittlich 1,09 pCt der Bevölkerung, ein Verhältniss, welches das
der meisten europäischen Länder übertrifft und den stärksten
Progressionen wenig nachsteht. Der Zuwachs war am stärksten
bei den Juden, 1,6 pCt., dann bei den Protestanten 1,2 pCt. darauf
folgen die Griechisch-Orthodoxen mit 0,7 pCt,, bei den Katholiken
finden wir dagegen ein Minus von 0,1 pCt. und bei den Raskolnik’s
sogar von 0,8 pCt.; in den Städten betrug der Zuwachs 0,3 pCt.
und auf dem Lande 1,2 pCt., er war also hier zweimal stärker als
dort. Was endlich die Prosperitätsziffer d. h. die Differenz der
Geburten- und Sterblichkeitsziffem anbelangt, so stellt sich dieselbe
für Livland im Durchschnitt auf 11,6 (38,9—27,3) heraus, dieselbe
war am grössten bei den Protestanten 12,9, dann folgen die Juden
mit 9,8, darauf die Griechisch-Orthodoxen mit 7,8, dagegen weisen
die Katholiken ein negatives Resultat auf — 1,4, und die Raskolnik’s
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gar von — 8,2; Land und Stadt verglichen erhalten wir die Zahlen
13,8 und 2,6, das flache Land steht in dieser Beziehung also noch
günstiger als in Betreff des Zuwachses da. Hiermit findet die Arbeit
ihren Abschluss, der Verfasser hat derselben noch im Anhänge
Tabellen über die Geburten und Sterbefälle im Jahre 1873 und die
Bevölkerungszahl im Jahre 1870 beigegeben, die aber nur absolute,
also keine verarbeiteten Zahlen enthalten und auf die ich daher nicht
näher eingehe.
Die zweite Arbeit des Verfassers enthält fünf Beiträge und bildet
in ihrem wichtigsten und längsten Beitrage eine Ergänzung der eben
besprochenen ersten Arbeit, indem derselbe die Statistik der Ehen
während des Jahrzehntes 1863—1872 enthält. In dem betrachteten
Zeiträume kam durchschnittlich eine Heirath auf 132,05 Einwohner,
diese Ziffer steht auch über dem europäischen Mittel, erreicht aber
noch lange nicht die für ganz Russland gefundene Heirathsfrequenz,
die Prof. Janson auf Grundlage offizieller Daten auf 96 berechnet
hat, und so zeigt Livland innerhalb des russischen Reiches mit die
niedrigsten Ziffern. Am häufigsten wurden die Ehen bei Griechisch-
Orthodoxen geschlossen, bei denen die Heirathsfrequenz 106,0
betrug, dann folgen die Katholiken mit 108,4, hierauf die Juden mit
125,1, nach ihnen die Protestanten mit 138,0 und endlich die Ras-
kolniki mit 418,3, doch meint der Verfasser ist diese Ziffer so abnorm
niedrig, dass man wohl an ihrer Zuverlässigkeit zweifeln darf, und
derselben wohl ungenaueRegistrirungen zu Grunde liegen, dasselbe
kann auch von der Heirathsfrequenz der Juden gelten. Die Heiraths¬
frequenz in den Städten 107,5 eine bedeutend grössere als auf
dem Lande 137,0. Anknüpfend an die Heirathsfrequenz in den
einzelnen Kreisen Livlands sucht der Verfasser nachzuweisen, dass
dieselbe kein brauchbarer Maassstab der Prosperität und Kultur eines
Volkes oder Landes sei, da ihre Rangordnung durchaus in keinem
Zusammenhänge mit der Rangordnung der Mortalität steht, «welche
am zuverlässigsten das gesammte Wohl oder Wehe der Bevöl¬
kerung, ihre iflaterielle Kultur oder Unkultur im Verein mit dem
Zustande ihres geistig-sittlichen Lebens ausdrückt». Nach den
Jahreszeiten vertheilen sich die Heirathen (1868—1872) wie folgt:
das Maximum derselben fällt mit 29,8 pCt. in den Herbst, das Mini¬
mum mit 18,9 pCt. in den Sommer, dazwischen liegt mit 28,8 pCt.
der Frühling und mit 22,5 pCt. der Winter. Hierbei sind sociale
und religiöse Faktoren, wie Volkssitte von grossem Einflüsse. Der
religiös-konfessionelle Einfluss äussert sich am prägnantesten, so
z. B. kam (1868—1872) bei den Griechisch-Orthodoxen und den
Raskolnik's keine einzige Eheschliessung im Monat März in Folge
der «grossen Fasten» vor und bei den Katholiken und Raskolnik’s
keine einzige im Dezember, in Folge der Weihnachtsfasten; sehr
natürlich ist es hiernach, dass wir bei den genannten Konfessionen in
den den Fasten kurz vorhergehenden und nachfolgenden Monaten
die Heirathen besonders häufig stattfinden sehen. Bei den Prote¬
stanten, wo religiöse Satzungen die Eheschliessungen zu bestimmten
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Zeiten nicht verbieten, finden wir daher auch eine gleichmässigere
Vertheilung derselben. Hinsichtlich des Civilstandes der Vereh-
lichten ergab sich, dass in dem Zeitraum von 1868—1872 von sämmt-
lichen Ehen 81,2 pCt. von ledigen Männern geschlossen wurden,
von Mädchen 92,1 pCt., von Wittwern 18,6 pCt., von Wittwen
7,6 pCt., von geschiedenen Männern 0,2 pCt., von geschiedenen
Frauen 0,3 pCt. Von allen Eheschliessungen fanden 75,85 pCt.
zwischen ledigen Männern und Mädchen statt, und 16,03 pCt. zwi¬
schen Wittwern und Mädchen, die Procentantheile. der übrigen
Klassen sind dagegen nur ganz geringfügig. Was das Alter der
Heirathenden in der Periode von 1868—1872 anbetrifft, so erfahren
wir, dass in Livland «vorzeitig» (unter 21 Jahren) 14,47 pCt. hei-
rathen, «frühzeitig» (21—25 J.) 30,42 pCt., «rechtzeitig» (26— 35 J.)
36,98 pCt., «nachzeitig» (36—50 J.) 15,18 pCt. und «verspätet»
(51—65 J. und darüber) 2,89 pCt. Der Prozentantheil der ersten
Klasse unter 21 Jahren ist gegenüber den Prozentsätzen des west¬
lichen Europas hoch (diese schwanken zwischen 15,75 unc * 2 pCt.),
jedoch gegen die für Russland allgemein gefundene Norm, die
47 pCt. beträgt, niedrig. Die Betheiligung der Geschlechter an
den Altersklassen ist eine sehr verschiedene, das Maximum bei den
Männern fällt mit 26,37 pCt. in die Altersklasse von 26—30 J.;
bei den Frauen dagegen mit 35,33 pCt. in die Altersklasse von
21—25 J., worauf die Klasse unter 21 J. mit 22,84 pCt. folgt, während
sie bei den Männern nur mit 6,10 pCt. vertreten ist; dies sind auch die
beiden einzigen Klassen, in denen der Prozentantheil der Frauen
den der Männer übertrifft. Innerhalb der konfessionellen Gruppen
zeigten sich nicht unerhebliche Unterschiede: «die frühesten Ehen
schliessen die Juden, denn bei ihnen fällt das Maximum bei den
Frauen in die Altersklasse unter 21 Jahren 63,85 pCt., bei den
Männern in die Altersklasse v. 21—28 Jahren 39,53 pCt.; dann folgen
die Raskolniki mit 51,94 pCt. der Frauen unter 21 Jahren und
33,33 pCt. der Männer zwischen 26 und 30 Jahren, auf diese die
Griechisch-Orthodoxen mit 36,68 pCt. der Frauen und 26,84 pCt.
der Männer zwischen 21 und 25 Jahren, hierauf die Protestanten
mit 35,22 pCt. der Frauen zwischen 21 und 25 Jahren mit 27,43 pCt.
der Männer zwischen 26 und 30 Jahren; am spätesten heirathen die
Katholiken, nämlich 27,34 pCt. der Frauen zwischen 21 und 25 Jahren
und 25,47 pCt. der Männer zwischen 31 und 35 Jahren. Dass die
Ehen auf dem Lande stets viel früher eingegangen werden, als in
den Städten, bewahrheitet sich auch vollkommen in Livland. In der
Zeit von 1868—1871 standen von der Gesammtzahl der in die
Ehe tretenden Frauen in den Städten die meisten im Alter zwischen
21 und 25 Jahren, 28,01 pCt., auf dem Lande in derselben Alters¬
klasse aber 35,95 pCt., von den Männern dagegen in den Städten
in der Altersklasse von 26—30 Jahren 26,69 pCt., auf dem Lande
aber in der Altersklasse von 21—25 Jahren 26,99 pCt.; noch deut¬
licher aber tritt es durch die Zahl der Personen, die unter 21 Jahre in
die Ehe treten, hervor: in den Städten gehörten dieser Klasse
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2,76 pCt. der Männer und 19,60 pCt. der Frauen an, auf den!
Lande dagegen 7,00 pCt. der Frauen. An diese Betrachtung der
v Ehen von 1863 —1872 schliesst der Verfasser im selben Beitrage
noch Tabellen über die im Jahre 1873 geschlossenen Ehen an, die
jedoch nur absolute Zahlen enthalten, ebenso wie der ganze zweite
Beitrag, der uns mit der Be völkerungsbewegung im Jahre 1874
bekannt macht und dem wir nur e ntnehmen, dass der natürliche Zuwachs
der Bevölkerung im Jahre 1874 gegen das Vorjahr gestiegen ist und
dieselbe ca. 1,50 pCt. der Bevölkerung ausmachte, wir bedauern
hierbei aber gleichzeitig vom Verfasser nicht auch über die Zuwachs¬
rate des Jahres 1873 Ziffern zu erhalten, er verweist uns wohl auf
seine erste Arbeit, aber in derselben haben wir nur die Zuwachs¬
raten für die Periode 1868—1872 und früher gefunden, aber keine
für das Jahr 1873.
Der dritte Beitrag enthält kriminalstatistische Auskünfte für das
Jahr 1874. Ein Vergleich mit früheren Jahren wurde dem Verfasser
durch die Unvollständigkeit und Lückenhaftigkeit des Materials
früherer Zeiten unmöglich. Im Jahre 1874 wurden im Ganzen 1663
Personen verurtheilt, und zwar 65,90 pCt. derselben wegen Ver¬
brechen gegen das Eigenthum, 30,31 pCt. gegen Personen und der
Rest von 3,79 pCt. wegen anderer Verbrechen. Von allen Ver¬
urteilten waren 82,38 pCt. Männer und 17,62 pCt. Frauen An
den verschiedenen Arten der Verbrechen betheiligten sich die bei¬
den Geschlechter sehr verschieden: von allen männlichen Ver¬
urteilten kamen auf die Kategorie wegen Verbrechen gegen das
Eigentum 69,34 pCt., von allen weiblichen Verurteilten 49,83
pCt.; auf die Kategorie gegen die Person 26,86 pCt. der männlichen
und 46,42 pCt. der weiblichen und auf die Kategorie wegen anderer
Verbrechen 3,80 pCt. der männlichen und 3,75 pCt. der weiblichen
Verurteilten. Auf die konfessionelle Beteiligung gehe ich nicht
näher ein', weil dieselbe, meiner Ansicht nach, nur von Bedeutung
wäre, wenn man die Zahl der Verurteilten nach ihren Konfessionen
in Verbindung mit der Zahl der Bevölkerung, welche der ent¬
sprechenden Konfession angehört, betrachten könnte, wozu uns aber
die Daten fehlen. Dasselbe gilt auch vom Civilstand der Ver¬
urteilten, wobei ich nur bemerken will, dass über die Hälfte aller
Verurteilten, 54,48 pCt., ledig waren und 33,19 pCt. verheiratet,
und dass das Maximum ersterer wegen Verbrechen gegen das
Eigentum, 61,59 pCt., und letzterer wegen anderer Verbrechen,
53,97 pCt., verurtheilt wurde. Was das Alter der Verurteilten
anbelangt, so standen die meisten, 24,11 pCt., in der Altersklasse
von 21—25 Jahren, Männer und Frauen aber getrennt betrachtet,
erfahren wir, dass das Maximum ersterer, 24,74 pCt., in derselben
Altersklasse stand, letzterer aber in der nächstfolgenden, 25—30
Jahr, mit 29,01 pCt. Fast alle Verurteilungen, 97,62 pCt., jugend¬
licher Verbrecher unter 16 Jahren fanden wegen Verbrechen gegen
das Eigentum statt, der Rest von 2,38 pCt. wegen anderen Ver¬
brechen. Desgleichen wurden alle ältesten Verbrecher, von 70 bis
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80 Jahren, wegen Verbrechen gegen das Eigenthum verurtheilt.
Während beim männlichen Geschlechte, von der Erreichung des
Höhepunktes ab, der Prozentantheil von Klasse zu Klasse ununter¬
brochen abnimmt, geschieht dies beim weiblichen Geschlechte nicht
so regelmässig, wo die Altersklasse 55—60 Jahr stärker, als die vor¬
hergehende,, 50—55 Jahr vertreten ist, von dieser Altersklasse an
überwiegt auch die Betheiligung des weiblichen Geschlechts die des
männlichen, während bis zu jener Klasse, von den jugendlichen
Verbrechern an, die Betheiligung des männlichen Geschlechts über¬
wog. Von den männlichen Verurtheilten gehörten 2,85 pCt. zu den
jugendlichen Verbrechern, von den weiblichen 1,02 pCt.; in der
Altersklasse 60—65 Jahr dagegen von ersteren 0,58 pCt., von letzte¬
ren 1,71 pCt. — Der vierte Beitrag enthält die Feuerschäden und
die gewaltsamen und plötzlichen Todesfälle 1870—1874, und der
fünfte die Bevölkerungszahl nach ständischer Gliederung für das
Jahr 1870. In beiden Beiträgen gibt uns der Verfasser nur absolute
Zahlen, nach diesen sind die Feuerschäden in den Städten von 56
im Jahre 1870 auf 52 im Jahre 1874 gefallen, wobei 58, resp. 54
Häuser niederbrannten, auf dem Lande hat ihre Zahl aber zuge¬
nommen, 1870 brannten durch 165 Feuerschäden 263 Häuser nieder,
1874 hingegen durch 189 Feuerschäden 297 Häuser. Die Zahl der
Selbstmörder ist von 1870—1874 in den Städten untern Männern
von 20 auf 19 gesunken, unter Frauen von I auf 2 gestiegen, auf
dem Lande unter Männern von 17 auf 31 und unter Frauen von 5
auf 8 gestiegen. ' Die Zahl der Ertrunkenen war in den Städten von
25 auf 35, auf dem Lande von 55 auf 72 gestiegen, desgleichen die
der plötzlich Verstorbenen in den Städten von 34 auf 47 und auf
dem Lande von 69 auf 70. Aus den im letzten Beitrage gegebenen
Daten habe ich folgende Prozentverhältnisse herausgerechnet: von
der gesammten 1,000,876 starken Bevölkerung Livlands im Jahre
1870 waren 0,78 pCt. erbliche und persönliche Edelleute, 0,24 pCt.
gehörten der Geistlichkeit an, 9,76 pCt. den städtischen Ständen,
84,85 pCt. dem Bauernstände, 2,98 pCt. dem Miiitärstande, 0,88 pCt.
waren Ausländer und 0,51 pCt. Personen, welche zu den erwähnten
Ständen nicht gehörten.
Was die für beide Arbeiten benutzten Quellen anbelangt, so gibt
der Verfasser folgende an: die Tabellen über die in Rede stehenden
populationistischen Momente beruhen auf den von den Predigern
nach ihren Kirchenbüchern gelieferten Angaben, nur für die Ras-
kolniki und Juden auf Erhebungen der Polizeibehörden; die kriminal¬
statistischen Tabellen auf Angaben der einzelnen Gerichtsbehörden,
die Daten über Feuerschäden und über die gewaltsamen wie plötz¬
lichen Todesfälle sind dem jährlichen Rechenschaftsberichte Sr. Ex-
cellenz des Herrn Livländischen Gouverneurs entnommen.
Diese äusserst gründlich ausgeführten beiden statistischen Arbei¬
ten verdienen wohl im vollsten Grade Anerkennung und wir haben
bei beiden nur einen einzigen Umstand auszusetzen, dass uns der
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467
Verfasser nicht auch die absoluten Zahlen der Bevölkerung in
dem betrachteten Jahrzehnt 1863—1872 angibt, welche doch für
manche in den Arbeiten vorkommende Berechnungen nothwen-
dig sind, so z. B. flir die Berechnung der Geburtsziffer, der Zuwachs¬
raten u. s. w. „ „
A . 5 .
f
Revue Russischer Zeitschriften.
«Das alte Russland* (Russkaja Starina — PyccKaa OrapnHa).
herausgegeben und redigirt von M. J. Ssemewskij. Siebenter Jahrgang. Heft X.
Oktober. Inhalt:
Moskau in den Jahren 1770-1771. Von S. M. So lowjeff. Katharina II. und Fürst
Potemkin. Original-Korrespondenz. 1790. Grigor Andrejewitsch Glinka. 18XI —1818.
Von B. G. Glinka-Mawrin. — Alexei Petrowitsch Jermolow 1777 —1861. — Tage¬
bücher Iwan Stepanowilsch Shirkewitsch’s 1795—1848. VIII—XIX. Von S. D. Kar-
pow und IV. y. Shirkewilsch , — A. L. Witberg, Erbauer des Erlösertempels. Ni¬
kolai Petrowitsch Koljubakin. Von A . P. Berger. Der Krieg Russland’s mit der
Türkei in den Jahren 1853 —1854. Die Schlacht am schwarzen Flusse am 4. August
1855. Von J. y. Krassowskij. Die Wiener Vorberatbung und der Pariser Traktat von
1856. Von y. M. Bogdanowitsch. — Blätter aus dem Notizbuche der «Russkaja
Starina», P. J. Petrow. Professor der orientalischen Sprachen. 1875. Von N. W. Berg.
Bibliographische Mittheilungen über neue russische Bücher (auf dem Umschläge).
— — Heft XI. November. Inhalt:
Katharina II. und Fürst Potemkin. Original-Korrespondenz. 1790. Katharina II.
und Gustav III. König von Schweden. 1789—1792. Von N. K. Schilder. — Die
'Leibeigenen unter der Kaiserin Katharina II. 1762 — 1769, Abriss einer historischen
Untersuchung. Von W. y. Ssemewskij . — Fürst Platon Subow. Biographischer Abriss.
1767—1822. Artikel IV und V. S. Th. Ossipowskij, Rector der Charkower Univer¬
sität. 1820. Von G. L. Tschirikow — Der Krieg Russlands mit der Türkei. 1828.
Erinnerungen Ludmilla Riccord’s von einer Reise nach Constantinopel im Jahre 1S30.
Der Aufstand während der Cholera Epidemie im Jahre 1831. Von A . K. Gribbe —
Erinnerungen T. P. Passek’s. Artikel XVII. 1838 — 1842 Michail Iwanowitsch Glinka,
Erzählung aus den Erinnerungen des Doctor L. A. Heidenreich. — Blätter aus dem
Notizbuche der «Russkaja Starina». Bibliographische Mittheilungen über neue russische
Bücher (auf dem Umschläge).
Der «europäische Bote« (Westnik Jewropy — B'fecTHHK'b Eßponu),
XI. Jahrgang. 1876. Oktober. Inhalt:
Ums Geld. Roman I—VIII. Von A. A. Potechin . — Die russischen Univer¬
sitäten in Verbindung mit dem Gange der wissenschaftlichen Bildung IV—IX. Von
W . Ikonnikow. — In den vierziger Jahren. Novelle. X - XVII. Von M . Andrejeff. —
Der Fluss. Gedicht. Von M. PForzelius. —Neue Untersuchungen über den Urzustand
des Menschen. Herbert Spencer: Einleitung in das Studium der Sociologie. Von A — n.
— Neue Dorfgeschichten von Berthold Auerbach. Des Lorles Reinhardt. I — XXII.
Von A. E. — Der Fürstenbund und die deutsche Politik Katharina II , Friedrich Wil¬
helm II., Joseph II., XXI. Die Kanzlei-Polemik. XXIII. Die Grossmächte und der
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468
Fürstenbund. Von A. S. Tratschewski /. - Gedichte. Von P. M. Kowalewskij. —
Chronik. — Rundschau im Inlande. — Korrespondenz aus Berlin. Am Vorabend der
Winter-Saison. Von K. Pariser Briefe XIX. Ein Drama in einem Provinzialstädtchen.
Von Emilie Zola. — Einige Worte anlässlich der siidslavischen Frage. Von A. P.
Bibliographische Blätter,
-November. 1876. Inhal;:
Ums Geld. Roman IX—XV. Von A. A. Potechin. —Die russischen Universi¬
täten in Verbindung mit dem Gange der wissenschaftlichen Bildung. Schluss.
X—XIV. Von W. S. Ikonnikow . — Gedichte. Vom Grafen A . A. Golenitschw
Kutusow . — Durch Persien. Reisebeschreibungen Von P. I. Ogorodnikozu . —In
den vierziger Jahren. Gedicht. Schluss. XVIII—XXV. Von A. IV. Awdejeff. — Der
Fürstenbund und die deutsche Politik. Katharina II., Friedrich Wilhelm II., Joseph II.
1780—1786. XXIII. Friedrich Wilhelm II. und der Emser Congress. Von A . S.
7 'ratschnuski), — Strousberg und sein Svstem «Dr. Strousberg und sein Wirken von
ihm selbst geschildert». 1876. Von S. A —r . — Das mittlere Zeitalterder russischen
Literatur und Bildung. Von N. A Pypin . — Chronik. — Die russische Frage im
südwestlichen Europa. Von Z. A. Polonskij. — Rundschau im Inlande. — Ausländi¬
sche Politik. — Pariser Briefe. XX. Der Beginn der Theater-Saison in Paris. Von
Emile Zola. — Aufgaben der Geschichte der Ratification. Kritische Bemerkungen
anlässlich des Werkes von S. W. Pachmann : Geschichte der Kodifikation des bürger¬
lichen Rechts. Von fV. I. Sergejeivitsch. — Nachrichten aus der St. Petersburger Ab-
theilung des slavischen Wohlthätigkeitsvereins. Bibliographische Blätter.
»Militär-Archiv* (Wojennij Ssbornik — BoeHHbift CöopHHiC'b). —
Neunzehnter Jahrgang. 1876. November. Inhalt:
Der französisch-deutsche Krieg in den Jahren 1870—1871. Die Operationen bei
Sedan. Zweiter Artikel. Von L . Baikow. — Abriss der Geschichte der Infanterie. V.
Von A . Pusymuskij. — Die neuen Anforderungen der Taktik nach dem in Aussicht
gestellten umgearbeiteten Infanterie-Reglement. Von A. Skugarewskij. Erklärungen
zum Artikel des Herrn Dragomirow abgedruckt in Nr. 7 des «Wojennij Ssbornik».
Von A. Skugoraosktj. — Neue Bemerkungen über die deutsche Armee V. Von
Oberst Baron von Kaulbars . — Der Ueberfall eines fliegenden Detachements an der
Weichsel. Episode aus den Kavallerie-Manövern. Kritischer Abriss. Mit einer Karte.
Erster Artikel. Yon N. Suehotin , — Einige Worte anlässlich der Errichtung von
Zeichen-Kursen an unsere Junker Schulen. Von A. Pljuzinskij. — Das Lager und
seine hygienischen Bedingungen. II. Von A. Dobroslawin. — Die russische wissen¬
schaftliche Handels-Expedition nach China in den Jahren 1874—1875, Schluss. Von
/. SosnowskiJ .
Russische Bibliographie.
Harkavy, A. i. Anlässlich des Berichtes des Abraham aus Kertsch
über die Gesandtschaft des heil. Wladimir zu den Chasaren. St, Pbrg.
8°. 28 S. 1876. (TapHaBM, A. fl. Ilo noBo^y n3B'i>cTiH AßpaaMa
KepqeHCKaro o nocoJibCTB'fe cb. BjiaAHMipa kt, Xo3apoM*b.)
Beresin, J. N. Russisches encyclopädisches Lexicon. III. Jahrgang.
III. Abth. 9. Lfg. St. Pbrg. 4°. 672 + XIX + XXXVI + XIV.
(EepesMTb, M. H. Pyccxofl sHUHiuioneAH^ecidfl cjioßopb. Toa?» III.
Ota. HL Bwn. IX. Cn6.)
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469
Reise nach Jerusalem und zum Sinai. Moskau. 16 0 . 36 S. (IlyTe-
mecTßie bt> IepycajiHMT» h kt» CnHaßcKOß rop'fe. MocKBa.)
Nowitzklj, J. Abriss der Geschichte des Bauernstandes im süd¬
westlichen Russland vom XV. bis zum XVIII. Jahrhundert. Kijew.
8°. 161 S. (HobmikM, Msairb. Oaepxb Hcxopin KpecTbaHcxaro co-
cjioßia K>ry-3anaAHoß Poetin bi> XV—XVIII B'feK'fe. Kießi>.)
Behr, A. Geschichte des Welthandels. Moskau. 8°. X 4 - 236 + XI
+ 430 + VII + 327 S. (Espi, HcTopia BceniipHoß Top-
roBJiH. MocKBa.)
Ternowskij, S. Skizzen aus der kirchlichen Geographie und Ethno¬
graphie. Kasan. 8°. 58 S. (TepHOBCKiff, C. OnepKn no ijepKOBHott
reorpa<x>in n 3THorpa<x>in. Ka3aHb.)
Solowjew, S. Geschichte Russlands von der ältesten Zeit. Band
XIX: Die Geschichte Russlands unter der Regentschaft des Kaisers
Peter II. und der Kaiserin Anna Joannowna. I. Theil. Moskau. 8°.
395 + II S. (Co/iOBbeBl, Ceprtfi. Hcropin Poetin cb ÄpeBH'fcßuinx'b
BpeMern». T. XIX. McTopia Poetin bi> ijapcTBOBaHte HMnepaTopa
IleTpa II h HMnepaTpnubi Ahhw IoaHHOBHbi. T. I. MocKBa.)
Sresnewskij, J. Nachrichten und Bemerkungen über wenig bekannte
und unbekannte Denkmäler. St. Pbrg. 8°. VI + 579 S. (Cpeattee-
CKifti, H Cß'hA'hHiH H aaM'feTKH O MaJIOH 3 B'fcCTHbIX'b H HeH 3 B'feCTHbIX'b
naMÄTHHKaxi». \ Cn6.)
Arbeiten des zweiten archäologischen Kongresses zu St. Peters¬
burg. Lfg. I. Mit Abbildungen in einem besonderen Hefte. St. Pbrg.
2°. 50 + 59 + 24 + 42 + 125 + 103 S. und 22 Abbildungen und Por-
traits. (TpyaM BToparo apxeojiornqecKaro c'b'fea^a bt> C.-üeTep-
öypr'fe. Bbin. I. Cb pnc. bi» ocoöoß TeTpaÄH. Cn6.)
Ruditsch, A. Odessa und der russisch-indochinesische Handel.
Odessa. 8°. 15 S. (PyAim>, A. Oaecca n pyccKo-HHÄOKHTaflcKaa
ToproBJiH. Oaecca.)
Popow, A. Die Beziehungen Russlands zu den europäischen Mäch¬
ten vor dem vaterländischen Kriege von 1812. St. Pbrg. 8°. 425 S.
(flonoBb, A. CHoineHie Poetin ct» EßponencKHMH ÄepxcaBaMH npeiu»
OTenecTBeHHOK) boöhoio 1812 roaa. Cn6.)
Schlesinger, W. Chronologische Tabellen der politischen Geschichte
der Völker, ihre Civilisation und Literatur. 2. Lfg. Die neue Zeit und
die neuesten Ereignisse. Moskau. 8°. 114 S. (lli/ieSMHrepv B. XpoHo-
•nornaecKia Taöjimjbi nojinTHnecKoft HCTopift HapoAOBT», hxt> ijhbhjih-
3auin n JiHTepaTypbi. Bbin. II. Hoßoe BpeMa n HOB'fcfimia coöbrria.
MocKBa.)
Hasselblatt, Julius. Die Justizreform in Russland. St. Pbrg. 8°. 78 S.
Mordowzew, D. Russische Frauen der Neuzeit. Biographische
Skizzen aus der russischen Geschichte. Die Frauen des XIX. Jahr¬
hunderts. St. Pbrg. 8°. 323 S. (MopAOBIieBl», A PyccKia aceHmnHbi
Hoßaro BpeMeHH. Biorpa<x>naecKie oaepKH H3b pyccxoß HCTopiH.
ÄeHmnHbi AeBKTHaAUaTaro B^xa. Cnö.)
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470
P 7 Perwolf, J. Die Germanisation der baltischen Slaven. Herausg. von
der St. Petersburger Abtheilung des Slavischen Komites. St. Pbrg.
8°. 260 S. (nepBOAb<|n>, locn4n>. repMaHnaaubi öajrriflCKHX'b cjia-
bhh'b H 3 A. C.-IIeTepö. ota. cjiaB. KOMHTeTa. Cn6.)
Martinow, N. und J. Victorowskij. Militärgerichtsordnung. Erläutert
und vervollständigt von N. Martinow. Warschau. 8°. VIII+ 421
+ II S. (MapTUNOB’b, H. a H. BnhtopobchIR. BoeHHocyAe6Hbift ycTam*.
Ct> pa3i>acH. h Aon. H3A. H. MapTbiHOBa. Bapmaßa.)
Liwanow, Th. W. Reiseführer durch die Krim, nebst einer histori¬
schen Beschreibung der dortigen Merkwürdigkeiten. Moskau. 8°.
66 + 6 + 59 4 - 4 + 127 + 39 + 6 + 95 +■ 11 + 25 + 39 S. (/lnBaHOB’b,
0. B. IlyTeBOAHTejib no Kptmy ct> HCTopHHecKHMt onacaiiieMT»
AocTonpiiM'feqaTe.nbHOCTett KpuMa. MocKBa.)
Materialien zu einer Beschreibung des Ssaratow’schen Gouverne¬
ments. Herausg. vom dortigen statistischen Komite unter der Re¬
daktion von N. Woskoboinikow. 1. Lfg. 4 0 . 70 + 25 + 17 S. (MaTe-
piajiw kt» onacairiio CapaTOBCJtofl ryöepHia. Ü 3 A. ry6. craT. komh-
TeTa, uoA'h peA. H. Bocko(oühnkob8U Bbin. 1.)
Wesin, L. Historische Uebersicht der russischen Lehrbücher, ins¬
besondere der russischen Geographien, welche von der Zeit Peter’s
des Grossen bis 1876 (1710—1876) herausgegeben sind. 8°. III
+ 176 S. (Becmrb, 71 . McTopmecKitt o63op*b yqeÖHHKOBi» 06 me fl h
pyccKott reorpa<j>in, H3AaHHbixi> conpeMeHH neTpa Bejiaicaro, no
1876 r. (1710—1876.)
Balttzkij, J. Ausgewählte Bruchstücke aus den Denkmälern der
alten und neuen kirchenslavischen Sprache für eine grammatikalische
Auslegung. St. Pbrg. 8°. 128 S. (EailftillHMi, H. HsöpaHHue otpwbkh
H 3 *b naMÄTHHKOB'b i;epKOBHO-c.iaBJiHCKaro H 3 biKa ApeBHaro n HOBaro
Aah rpaMMaTHqecKaro pa36opa. Cn6.)
Materialien für die Geschichte des Krimkrieges und der Verthei-
digung Ssewastopol’s. Gesammelt unter der Redaktion von N. DubfO-
wln. V. Lfg. St. Pbrg. 8°. 542 S. und 4 Portraits. (MaTepiaAM aaä
HCTOpin KpbIMCKOfl DOÖHbl H OÖOpOHbl CeßaCTOnOJIB. C6opHHKT>
noAi» peA. H. AyÖpOBMHa. Bbin. V. Cn6.)
Tolstoy, M. Graf. Erzählungen aus der Geschichte der russischen
Kirche. Moskau. 2. Ausgabe. 538 S. (TojctoA, M. rpa$V PascKa3bi
H3*b HCTopin pyccKoö uepKBH. MocKBa.)
Lawrowskij, N. A. Episode aus der Geschichte der Charkower Uni¬
versität. Moskau. 8°. 58 S. (TlaBpoBCKÜi, H. A. 3 nn 30 AT> hst> hcto-
pia XapbKOBCKaro yHHBepcHTeTa. MocKBa.)
Das schwarze Meer und seine Bedeutung für Russland. Histo¬
risch-geographische Skizzen. St. Pbrg. 8°. 41 S. und 1 Karte.
(HepHoe Mope h sHaaeHie ero aaa Poccia. Hcropaa. h reorpa<*>in.
onepKH. Cn6.)
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Verlag der Kais. Hofbuchhdlg. H. Schmitzdorff (C. Röttger)
Navskij-Prospekt Nr. 5 .*
NATURWISSENSCHAFTLICHES
FESTGESCHENK!
««Die kompetentesten Grössen in der Naturwissenschaft haben Buer,
wenn auch nicht gerade über, so doch neben A. von Humboldt gestellt
.wegen der leichten Verständlichkeit und der wahrhaft klassischen
Einfachheit empfehlen wir diese Schriften zur fleissigsten Lektüre.» . . .
(Lit. Rundschau 1876, Nr. 7.)
«Lange erwogene Gedanken in klassischer Form.» . . .
(Westermann’s Monatshefte 1876, Juli.)
K. E. VON BAER. Reden und kleine Aufsätze vermischten
Inhalts . Theil I. 8°. S. Rbl. 1.80 (Mk. 4).
- Theil II unter dem Titel: Studien auf dem Gebiete der
Naturivissenschaften (behandelt u. A. ausführlich
Dar will* s Lehre'. S. Rbl. 4.40 (Mk. 10).
-Theil III, u. d. Tit.: Historische Fragen, mit Hülfe der
Naturwissenschaft beantwortet. S. Rbl. 3. 75 (Mk. 9).
- Selbstbiographie. 2 Ausg. 8°. S. Rbl. 3 (Mk. S).
R OSSI CA.
Durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Brückner, Prof. A. Die Familie Braunschweig in Russland im XVII. Jahrh
I. Die Schicksale der Eltern und Geschwister des Kaisers Joann. 2. Die Kata¬
strophe Joann’s. 3. Nachträge. 1876. M. 4.—
Gesetz über die Stempelgebühren. Allerhöchst bestätigt am 17. April 1874. Nach
den offiziellen Ausgaben übersetzt und mit einem ausführlichen Sachregister ver*
sehen von C. Grucmvaldt. 1875. M. 3 —
Hasselblatt, Jul. Die Justizreform in Russland. 1. Historischer Ueberblick der
Reform: die Gerichtsordnungen bis zum Jahre 1857. 2. Die Arbeiten der
Reform. 3. Die Prinzipien der Reform. 4 Die neuen Behörden. 5. Die übrigen
neuen Institutionen 1876. M. 2.—
Kriminalstatistik, die russische, im Jahre 1873. M. 3.—
Lerch, P. Khiwa. Seine historischen und geographischen Verhältnisse. Mit einer
Karte von Khiwa. 8°. M. 2.—
Matthäi, F. Der auswärtige Handel Russlands. 8°. M. 9.—
Mittheilungen, Statistische und andere wissenschaftl.. aus Russland. I— IX. Jahrg.
1867-1876. 8°. I. und II. Jahrg. M. 2.—, III.—IX. Jahrg. M. 3.—
Schwanebach, P. Die russische Städteordnung vom Jahre 1870. M. 1.—
— — Die Vorschussvereine in Russland. M. 2.—
— — Statistische Skizze des russischen Reichs und von Finland. 1876. M. 1.60
Wechselordnung, russische. Revidirt und mit Anmerkungen versehen von
M. Nächtrittnn, M. 1
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Verlag dek Kaiserl. Hofbuchhandlung H. SCHMITZDORFF
(Karl Röttger), Newskij-Prospekt Nr. 5.
Soeben erschien:
ST. PETERSBURGER
KALENDER
für das Jahr
18 7 7 .
Mit dem Stahlstich-Portrait Sr. Erlaucht des Grafen Lttttke,
Präsidenten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften,
und einer für diesen Jahrgang hergestellten Eisenbahnkarte
des europäischen Russland.
Der erste Theil des Kalenders bringt in bekannter Zuverlässigkeit
die Genealogie der regierenden Häuser , Nachrichten über die Posten
und Telegraphen ,, Kapitalisten Kalender etc. Dieser Abschnitt wurde
u. A. mit einer sorgfältigen Darstellung unseres gesammten Zoll¬
wesens und einem abgekürzten Zolltarif bereichert.
Der zweite Theil enthält (zum 150-jährigen Jubiläum der Aka¬
demie der Wissenschaften) einen von den Akademikern C. V. Wesse-
loffsky (Sekretär der Akademie) und A. Schiefner bearbeiteten
Aufsatz, welcher die Leistungen und die Verdienste der Akademie
in populärer und anziehender Form dem Publikum schildert.
Von praktischem Nutzen und bleibendem Werth ist ferner das in
diesem Jahrgange enthaltene Gesetz über den Markenschutz und das
Privilegiengesetz , deutsch bearbeitet von C. Grünwaldt.
Eine eingehende Darstellung des Bankwesens und der Thätigkeit
der Banken in Russland von S. M \ Propper wird hauptsächlich vom
Handelsstande und von Nationalökonomen willkommen geheissen
werden.
Die Preise des St. Petersburger Kalenders sind wie früher:
Geheftet und mit Papier durchschossen . . . 1 Rbl. 10 Kop.
Stark cartonnirt (mit Leinwandrücken und mit
Papier durchschossen). 1 » 30 »
In ganz Leinwandband. 1 > 7B »
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Karl Röttger.
flu3BOJieHo ueHaypoK). C.-neTepöypn», 16-ro HoaÖp* 1876 rosa.
Buchdnickerei ran Röttger und Schneider, NewskyProapect J* 5.
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Die Hansindnstrie in Russland.
Von
C. Gruenwaldt.
(Schluss.)
in. Die Holzindustrie K
(I, 11-20.)
Bei dem Reichthum an Wäldern, dessen Russland sich in vielen
Strichen seines ausgedehnten Gebietes erfreute, ist es natürlich,
dass die Hausindustrie der Produktion von Gegenständen aus Holz
von jeher besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Schon in
früheren Jahrhunderten waren die Holz-Erzeugnisse.der Kustari ein
viel begehrter Handels Artikel, der um so besser bezahlt wurde,
als bei dem fast gänzlichen Mangel der entsprechenden städtischen
Industrie die einzelnen Gegenstände überall auf rasche Abnahme
rechnen konnten. Wenn sich nun auch im Laufe der Zeiten in den
grösseren Städten Handwerker gute Kundschaft durch Solidität und
Akuratesse zu erwerben wussten, so bieten dennoch bis auf den
heutigen Tag die Produkte der Kustari durch ihre enorme Billigkeit
gefährliche Konkurrenz. Im Wjatka’schen Gouvernement z. B. wo
-die Produktion von Möbeln (I, 14) erst seit dem Beginn dieses
Jahrhunderts heimisch ist, haben die Kustari vollständig den deut¬
schen Meistern der Stadt Wjatka die Arbeit unmöglich gemacht.
Ein Gutsbesitzer hatte den ersten Meister aus Kasan verschrieben
und guten Erwerb versprochen. Die Gehülfen rekrutirten sich aus
den Bauern der umliegenden Dorfschaften. In kurzer Zeit nun hatten
sich dieselben die betreffenden Handgriffe angeeignet und über¬
schwemmten, nachdem sie in ihre Dörfer zurückgekehrt und die
Lehrmeister ihrer Dorfgenossen geworden waren, den Markt mit
erstaunlich billiger und dem Scheine nach der deutschen vollkommen
gleichen Waare *. Aus diesen und ähnlichen Gründen gibt es
1 cf. MaTep. pag. 170 u. ff.
• cf. »B-fecT. Uanep. Teorp. Oöm.» 1858, Band 24, pag. 134 u ff. II.
Kqm. E*v«e, Bd. IX.
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474
auch gewisse Zweige der Holzindustrie, welche ausschliesslich von
Kustari beherrscht werden und mit denen das, von den städti¬
schen Handwerkern gelieferte Quantum keinen Vergleich aushalten
kann *.
Zu solchen Arbeitszweigen gehört die Produktion von Telegen
und Tarantassen (2 und 4 rädrige Karren) mit dem nöthigen Zubehör
aus Holz (I, n). Nach offiziellen Ausweisen liefern an solchen
Waaren das Gouvernement:
Tschernigow.für 150,000 Rbl.
Wjatka.» 140,000 *
Orenburg » 95,000 »
Perm.. . » 45,000 *
Wladimir.* 30,000 *
Kasan ....... * 30,000 *
Pensa.» 20,000 *>
Ssamara. » 10,000 »
In Summa für 520,000 Rbl.
Nimmt man.für die übrigen 27 Gouvernements, in denen diese
Arbeitsgruppe noch vorkommt, den durchschnittlichen Jahresumsatz
nur mit 25,000 Rbl. an, so erhält man eine Gesammtsumme von
beinahe 1,200,000 Rbl. Da aber in sämmtlichen Ausweisen sich nur
Angaben über die Einnahme für einzelne Gegenstände der Gruppe
vorfinden, so kann die Ziffer wohl mit Recht bis zu 2 Mill. Rbl.
erhöht werden. Die Herstellungsunkosten sind nicht bedeutend
und wenn wir 10 pCt. für dieselben abzählen, so wird das wohl
genügend sein. Der Reinerlös wäre demnach 1,800,000 Rbl.
Rechnen wir nun, dass in allen 35 Gouvernements ungefähr 50,000
Kustari von dieser Arbeitsgruppe Einnahme beziehen, so kommen
auf jeden Kopf als mittlerer Jahreserwerb 36 Rbl. Dass diese Zahl
annähernd richtig ist, kann durch die Notizen über Wjatka belegt
werden 2 , da in diesem Gouvernement sämmtliche Schattirungen
der hohen, mittleren und niedrigen Einnahme vertreten und auch die
sonstigen, in allen anderen Arbeitsbezirken wiederkehrenden Bedin¬
gungen zu finden sind. Jeder Schlittenarbeiter nimmt dort ca. 42 Rbl.
50 Kop. ein, Räderarbeiter 36, die Telegen- und Tarantassen-Kustari
ca. 40 und diejenigen, welche sich ausschliesslich mit dem Verfertigen
des sonstigen Zubehör beschäftigen ca. 30 Rbl. Natürlich ist der
1 cf. über Letztere die Angaben Matthäi'« 1 . c.
* cf. Matep. p»g. 196 u. flf.
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475
Erlös der wenigen Kustari, deren Kunst höher steht, ein bedeuten¬
derer, da sie dann auch selbst den verwöhnteren Anforderungen
genügen. Leider aber merkt man hierin nur äusserst geringen
Fortschritt. Nach wie vor wird einfach der junge Stamm in der
glühenden Luft der Bauernhütte oder auch im Pferdemist erweicht,
hierauf zusammengebogen und während des ganzen Sommers in der¬
selben Lage gelassen. Gegen Ende des Herbstes wird dann das
gewünschte Produkt angefertigt.
Nicht weniger primitiv sind die Methoden der Böttcher (I, 12).
Dennoch erfreuen sich unter ihnen eines ganz besonderen Rufes
und Ansehens die Böttcher aus dem Dorfe Jshewo, Kreis Spassk,
Gouvernement Rjasan. Sie sind so gesucht, dass die Konsumenten
von Böttcherwaaren es vorziehen die Kustari direkt zu verschreiben,
damit sie an Ort und Stelle arbeiten und nicht aus ihrem Dorfe
Waaren an etwaige andere Konkurrenten versenden. Daher kommt
es, dass ein grosser Theil der Jshew’schen Bauern inKisljar, am Don,
in der Krim und in Odessa zu finden sind. Die Bewohner der son¬
stigen Dörfer desselben Kreises ,liefern dagegen fertige Waare. Sie
kaufen das nöthige Holz bei den Gutsbesitzern und lassen ihre
Produkte auf die Schiffe ab, welche über die Oka nach Moskau und
Nishnij-Nowgorod gehen 1 . Dort nehmen ihre Erzeugnisse die
zweite Stelle ein: obenan stehen die Bessarabischen Kustari, deren
Tonnen, wegen des ganz ausgezeichneten Materials, mit 5 bis 15 Rbl.
bezahlt werden 2 , dann folgen die Rjasan'schen, welche 1 Rbl 50 Kop.
bis 5 Rbl. behaupten und endlich die Nishnij-Nowgorod’schen, welche
zwischen 70 Kop. und 1 Rbl. 50 Kop. schwanken. Ein fleissiger
Arbeiter kann in Bessarabien ca. 30, im Rjasan sehen ca. 40 8 und im
Gouvernement Nishnij Nowgorod ca. 35 Rbl. einnehmen.
Bei den sonstigen Arbeitszweigen dieser Gruppe (I, 13, 15—20)
stellt sich der Jahreserwerb noch geringer, da deren Produkte nur
auf eine beschränkte Anzahl von Konsumenten rechnen können und
bei der Leichtigkeit der Verfertigung auefi von allen Seiten Kon¬
kurrenz erfahren. Gewöhnlich ist es daher, dass diese Arbeitszweige
nicht selbstständig auftreten, sondern in den Dörfern, welche überhaupt
Holz verarbeiten, eine tertiäre Einnahmequelle bilden. So beschäf¬
tigen sich z. B. im Gouvernement Wjatka mit der Verfertigung
1 cf. MaT. pag. 217 u. ff.
* Die vorzüglichen Pensa’schen 40 Wedro-Tonnen kommen nur — inwendig lackirt
— 4 Rbl. 50 Kop. bis 5 Hbl.
1 Die mittleren Sorten sind gesuchter.
29 *
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47<5
Mann Rbl.
von Holz für Zündhölzchen . . .81 wofür sie einnehmen 26
» Geflechten aus Zweigen . . 782 » > • 15 bis25
» > * Birkenrinde . 259 » » » 7
* » » Espenholz . . 9 ' * > » 6bis75
Verhältnissmässigam schlechtesten stehen sich die Kustari, welche
Gegenstände aus Lindenbast und Rinde (I, 19), wie z. B. Matten
und Lapti 1 produziren. Sie haben fast gar keinen Reingewinn,
da sie, wie z. B. im Gouvernement Kostroma, Kreis Wetluga oder
im Gouvernement Nishnij-Nowgorod, Kreis Lukojanow, nicht im
Stande sind, gegen baare Zahlung das Rohmaterial zu erstehen und
daher in immerwährender Abhängigkeit von den Aufkäufern leben.
Im Kreise Lukojanow 8 bildet das Dorf Kotschkurowo das Zentrum
der Gesammtproduktion. Es hat eine Einwohnerzahl von 400
Seelen, welche sich, da der Boden — das Dorf ist an beiden Ufern des
Alatyr gelegen — nur aus trockenem Sande besteht, mit der Land¬
wirtschaft gar nicht beschäftigen. Sie ernähren sich unter Anderem
durch dieProduktion von Matten und von Bastsäcken, welche in den
letzten 6—7 Jahren, nachdem der Markt von Morschansk an Be¬
deutung gewonnen, sehr gesucht sind. Die Säcke gehen nach
Morschansk, Jelez und Charkow, wo sie zur Getreideverpackung
verwandt werden, während die Matten zur Bedeckung der schon
angefüllten Säcke dienen. Im ganzen Bezirk von Kotschkurow
werden 1 1 /2 Mill. Säcke in der Zeit vom Oktober bis zum April ver¬
fertigt. Das Material gaben die Aufkäufer zu 70 Kop. per Pud her.
Ein Hundert prima Matten erfordert 12 Pud Bast, mittlerer Sorte
10 Pud und ordinäre nur 7 Pud. Ebenso viel kommt auf hundert
Säcke. Dem Aufkäufer kommt aber der Bast nur 40—50 Kop.
per Pud zu stehen, so dass er an hundert Säcken 1 Rbl. 50 Kop. bis
2 Rbl. 50 Kop. verdient, da der Verkaufspreis für die ersteSorte lobis
12 Rbl., für die zweite 8 bis 10 Rbl. und für die dritte 6 bis 8 Rbl.
per 100 beträgt. Die Höhe der Preise hängt von der Getreideernte
und von der Belebung des Morschanskischen Marktes ab, Umstände,
welche andrerseits auf den Arbeitslohn influiren. Gewöhnlich
zahlt man für hundert Prima nur 5 Rbl, Arbeitslohn; eine grosse
Seltenheit sind 5 Rbl. 50 Kop. und 6 Rbl., welche nur in Aus-
1 Eine Art Schuh werk.
1 Wir heben jenen Kreis deshalb hervor, weil in ihm dieser Arbeitszweig sich durch
ganz besondere Dimensionen auszeichnet; die Umstände, welche die Produktion und
das ökonomische Sein charakterisiren und bedingen, sind überall dieselben.
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4 77
nahmejahren gezahlt werden. Bedenkt man nun, dass 6 Kustari in
der Woche nur ioo Matten fertig stellen, von denen 2 Mann in
24 Stunden 100 Säcke 1 machen, dass hierbei so angestrengt gear¬
beitet wird, dass für den Schlaf nur 3 Stunden übrig bleiben, dass
die zweite und dritte Sorte nur mit 2 Rbl. pro 100 Stück bezahlt
werden, so wird man zugeben, dass die wöchentliche Einnahme
von 3 Rbl. für alle oder 50 Kop. pro Kopf ausserordentlich gering
ist. Ein fleissiger Kustar, welcher unausgesetzt vom Oktober bis zum
April arbeitet, kann auf diese Art nicht mehr als 14 Rbl. er¬
schwingen, eine solche Anspannung der Kräfte ist aber bei der
Lebens- und Nahrungsweise des russischen Kustar unmöglich, so
dass 9 bis 10 Rbl. wohl als die Normaleinnahme für eine Arbeits¬
periode von 7 Monaten angenommen werden können.
IV. Lederindustrie 2 .
(h 1 —3*)
Obgleich Russland bereits bedeutende Lederfabriken besitzt, so
ist doch die Produktion der Hausindustrie auch hier noch immer
eine bedeutende, die, falls einige technische Mängel beseitigt werden
könnten, ein nicht zu unterschätzender Gegner der Fabrikarbeit
bleiben würde. Es produziren die Kustari
des Gouv. Nishnij-Nowgorod für . . . 4,000,000 Rbl.
» Wjatka » . # . 1,000,000 *
» Perm * . . . 150,000 >
» Archangel » . . . 75,000 *
5,225,000 Rbl.
Für die anderen 27 Gouvernements, in denen dieser Industrie¬
zweig heimisch ist, stehen uns keine speziellen Angaben zu Gebote;'
nimmt man nach den vorhandenen an, dass das Mittel des Produk 1
tionsertrages in jedem dieser Gouvernements nur 40,000 Rbl.
jährlich beträgt, so ergibt das eine Gesammtsumme von beinahe
6V2 Mill. Rbl. Die Kommission, welcher es aufgetragen war das Pe-
tschoragebiet in ökonomischer Beziehung zu erforschen, fand 3 , dass,
wenn die technischen Schwächen bei der Produktion von Sämisch¬
leder gehoben würden, der Werth des Leders um 15—20 pCt.
4 Jeder Sack muss 9 Pud Getreide enthalten können.
* cf. Maiep. pag 1 u. ff.
' a On?en» kommuc. no ipcjrfejiOB. Tle^opc. np. Apxatfr. 1867 crrj. I.
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478
steigen würde. Diese Schwächen —wir führen sie hier an, da sie
auch bei der Produktion von sonstigem Leder Vorkommen und ihre
Beseitigung ein gleiches Resultat im Gefolge haben muss — beruhen
darauf, dass die Häute zu kurze Zeit in Kalk gehalten werden, dass
die Lauge zu kräftig ist und dass zu wenig Thran in Anwendung
kommt. Nach Entfernung dieser Uebelstände und einiger, schon
oben erwähnter ökonomischer Bedingungen würde sich dann auch
die Reineinnahme des einzelnen Kustar um ein Bedeutendes ver-
grössern. Wie dieselbe heutzutage bestellt ist, ergeht aus folgender
Berechnung, welche für die Lederarbeiter im Gouvernement Perm,
Kreis Schadrinsk angestellt worden, und die sich mit geringen Ab¬
weichungen auch in den sonstigen Arbeitsgebieten wiederholt.
Rohe Häute werden im Dorfe selbst oder auf den benachbarten
Bazaren und Märkten gekauft, im Winter sind die Preise niedriger,
als im Frühling und Sommer, so dass dann der mittlere Engros•
preis für eine Kuhhaut i Rbl. 80 Kop. bis 3 Rbl., der Detailpreis
2 — 3 Rbl. beträgt, während Rosshäute en gros 1 Rbl. 20 Kop.
bis 1 Rbl. 85 Kop. pro Paar und en detail 1 Rbl. 30 Kop. bis 2 Rbl.
15 Kop. zu stehen kommen. Nehmen wir nun an, dass 50 Rosshäute
ä I Rbl. 50 Kop. — 75 Rbl. gekauft worden sind, so bedarf es für
deren Verarbeitung
30 Pud Weidenrinde ä 20 Kop. — 6 Rbl.
40 Tschet. Asche
• a 4*/*
» = 1 »80 Kop.
5 Pud Roggenmehl ä 50
* = 2 » 50 »
12 Pud Kalk
. ä 12
» =z 1 * 44 »
1 Pud Salz . .
. ä 60
» ~ — » 60 *
3 Wedro Theer
. ä 60
¥
It
t—
00
0
*
In Summa also 89Rbl. 14K0P.
Der Kustar verkauft aber die Häute zu 2 Rbl. 60 Kop. pro Stück,
d. h. er erhält für alle zusammen 130 Rbl., was einen Reingewinn
von 8 i 3 /4 Kop. für jedes Stück oder von 40 Rbl. 86 Kop. auf alle
50 ergibt. Wenn nun der Kustar im Jahre 400 Häute verarbeitet,
so ist seine Jahreseinnahme gleich 326 Rbl. 88 Kop. Zieht man
hiervon die Unkosten ab, welche das Besuchen der Märkte, der Unter¬
halt der Pferde, die Miethe von Arbeitern verursachen und die man
wohl auf 126 Rbl. 88 Kop. beziffern kann, so bleibt ihm eine reine
Jahreseinnahme von 200 Rbl. Im Vergleich mit dem Reingewinn
der sonstigen Kustari ist diese Summe enorm; es darf aber nicht
vergessen werden, dass die Zahl der Glücklichen, denen es vergönnt
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479
ist, Alles gegen baar zu kaufen, nicht allzu gross ist, und dass also
auch hier Truc und Kulak ihr Wesen treiben können.
Von den beiden anderen Zweigen (I, 2, 3) dieser Industriegruppe
verdient noch 1 der besonderer Erwähnung, welcher sich mitderVer-
fertigung von Schuhwerk (I, 3) beschäftigt, denn die Produktion von
Sattlerarbeiten nimmt in dieser Gruppe, ebenso wie einige Arbeits¬
zweige der vorigen, nur eine tertiäre Stelle ein, während die Pro¬
duktion von Schuhmacherarbeiten immerhin ansehnlichen Erwerb
abwirft. Wenn aber die domestike Produktion von Leder in der
Kunstfertigkeit und Tüchtigkeit der Fabriken nicht immer siegreiche
Konkurrenz findet, so kann dies von den Schuhmacherarbeiten nicht
gesagt werden: die städtische Solidität, Dauerhaftigkeit hat die
Nachfrage nach der nachlässig, oft sogar gewissenlos schlecht gear¬
beiteten Waare der Kustari stark beeinträchtigt. In den letzten
Jahren ist freilich wieder ein Schritt zum Besseren bemerkbar ge¬
worden, ob aber dadurch das gestörte Vertrauen wieder hergestellt
wird, bleibt fraglich. Am bekanntesten ist die Waare aus Bolchow,
Gouvernement Orel, und Kimry, Gouvernement Twer; die Produkte
der dortigen Kustari gehen sogar in die Residenzen und sind in
den Niederlagen sämmtlicher grösseren Magaziniers, wie z. B.
Korolew in Moskau und St. Petersburg zu finden. Die Kustari
erzielen:
für rosslederne Stiefel für 10 jährigen Wuchs bis — Rbl. soKop.
» » ».*12» » » — » 80 *
» » > » IJ * » v I IO >
* « > » Erwachsene . . » 1 » 35 »
• * * » » Prima » 1 » 55 *
» » • » » Prima Prima » 2 » — *
» Stiefel aus Leder v. Hornvieh Superfein » 4 » — *
Die Reineinnahme kann im Durchschnitt wohl auf 80 Rbl. für den
Kustar jedes Gouvernements angenommen werden; wenn Sjennikow
behauptet 2 , dass im Kreise Kotelnitschi, Gouvernement Wjatka
jeder Kustar ausserdem noch 70 Rbl. für das Repariren und Flicken
von Stiefeln einnimmt, so wird dieses wohl etwas übertrieben sein
und kann zu weiteren Schlussfolgerungen keinen Anhalt geben. Wir
glauben weder zu hoch noch zu niedrig gegriffen zu haben, wenn
wir als durchschnittliche Reineinnahme des selbstständigen Kustar
80 Rbl. annehmen. Zieht man dieses in Betracht und berücksichtigt
- cf. MaT. pag. $2 u. ff.
a cf CimHBKOB'b, flepeBM» MapKuHCKaa Bfnra 1S71 pag. 3 u. ff.
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480
hierbei die räumliche Ausdehnung dieses Arbeitszweiges, so kann
man mit Hrn. Weschnjakow 1 wohl sagen, dass die Gesammtproduk-
tion sämmtlicher Zweige der Lederindustrie nicht weniger als 10
Mill. Silberrubel beträgt.
Hiermit hätten wir die Uebersicht über die vier Hauptgruppen
der russischen Hausindustrie beendet. Von den übrigen ist wenig
zu sagen: immer wiederholen sich dieselben charakteristischen
Mängel, dieselben stereotypen Vorzüge, dieselben jährlichen Rein¬
einnahmen 51 u. s. w. Nur noch die Kürschnerindustrie (I, 4) ragt
über dem gewöhnlichen Niveau hervor: sowohl ihre räumliche Aus¬
dehnung— sie erstreckt sich über 31 Gouvernements — als auch
der Umfang ihrer Produktion (wohl an 5 Mill.) nähern sich den
angeführten vier Hauptgruppen. Aber auch hier findet sich, selbst
unter den berühmtesten und gesuchtesten Kürschnern des Kreises
Schuja, Gouvernement Wladimir und des Kreises Romanow, Gou¬
vernement Jarosslaw, dasselbe drückende Trucsystem, dasselbe
Unvermögen, sich von den technischen Schwierigkeiten zu befreien.
So vorzüglich auch die Arbeiten dieser Kürschner sind, so können
sie doch nur, wie es die Ausstellungen der letzten Jahre lehrten,
höchstens in Bezug auf die Billigkeit mit den St. Petersburger,
Moskauer und Rigaer Fabrikaten konkurriren. Wie schwer es jenen
Kürschnern andrerseits wird, sich von dem Traditionellen loszu-
* Weschnjakow 1 . c. pag. 59 meint 10 bis 15 Mill.; da wir aber die Kürschner¬
industrie nicht zu dieser Gruppe zählen, so bleiben nur 10 Mill. übrig.
2 Am vorteilhaftesten ist noch die Heiligenbild Malerei ( 1 , 38 ). Im Tschernigowschen
Gouvernement bekommen sogar gemietete Kustari 96 bis 120 Rbl. bei eigener Bekösti¬
gung. In Mstera, Gouvernement Wladimir, dem uralten Zentrum dieser Industrie fangen
schon 8 jährige Knaben zu arbeiten an. Ihre Lehrzeit dauert 5 bis 7 Jahre, während
welcher sie kein Gehalt bekommen. Sie können sich aber einen Nebenerwerb ver¬
schallen, indem sie die Arbeit, welche sie von ihren Meistern oder Vätern für eine
Woche empfangen haben, früher beenden und für die weitere Arbeit Bezahlung er¬
halten. Nach Beendigung der Lehrzeit erhält der Arbeiter für das erste Jahr 15—25 RbL,
eine Summe, welche je nach der Kunstfertigkeit und vor allen Dingen der Schnelligkeit,
mit welcher gearbeitet wird, um ein Bedeutendes steigt. Diese Industrie ist in Mstera
seit dem 16. Jahrhundert bekannt und hängt mit dem Beginn der Buchdruckerkunst
zusammen. Denn in Mstera wurden anfänglich nicht nur Heiligenbilder verfertigt,
sondern auch Bilder, welche Historien, Gedanken, Sprüche etc. erläuterten. Letztere
hiessen ayöoHitbta xapTHHu (lubötschnyja kartfny). Der Name kommt von jiy6otn>
(lubok) dem Holzstück oder der Baumrinde her, auf welcher die Bilder gezeichnet
wurden und ist schliesslich die Bezeichnung für jedes ordinär gearbeitete Volksbild
geworden. Die Bilder wurden anfänglich nicht zensirt und erst 1674 unterwarf der
Patrjarch Joakim sie sowohl, als ihre Kolporteure, die berühmten OfiSni, einer strengen
Koatrotu^
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machen und mit den neuesten Errungenschaften auf dem Gebiete
der technischen Chemie vertraut zu werden, zeigt Folgendes: bunt
gefärbte Felle sind im Handel sehr gesucht; sie lassen sich zu
Teppichen, Decken etc. verwenden und wurden bis vor wenigen
Jahren ausschliesslich aus dem Auslande bezogen. Als nun eine
St. Petersburger Firma, Baranowsky &Co. und ein bekanntesRiga’sches
Haus in Moskau 1872 solche Feile ausstellten, welche in Russland
gefärbt waren, gelang es nicht, die dort anwesenden Kustari von der
Leichtigkeit und Vortheilhaftigkeit dieser Produktion zu überzeugen.
Immer hiess es, das lohne sich nicht, sonst hätten es die Vorfahren
sehon gekannt.
Es fragt sich nun, was angesichts der gegenwärtigen Lage der
russischen Hausindustrie als die Aufgabe der Regierung und der
Gesellschaft bezeichnet werden muss? mit anderen Worten: soll
die Hausindustrie sich, wie es die Geschichte der russischen Industrie
verlangt, weiter in eine genossenschaftliche entwickeln, oder aber
soll sie in die Fabrikindustrie aufgehen, soll sie selbständig oder
abhängig werden? Diese Frage ist längst im ersteren Sinne ent¬
schieden und nur über die Mittel, welche zum Ziele führen sollen, war
man nicht einig und es wird das Verdienst der Regierungs-Enquete
sein, hier die verschiedenen Vorschläge und Versuche einheitlich zu
organisiren, damit durch den Uebereifer bei Anwendung des einen
Mittels die anderen nicht gleich im Keime zerstört würden. Bis
jetzt sind vorgeschlagen worden: 1. Gewährung eines hinreichenden
Kredites, 2. Verbreitung nützlicher Kenntnisse. Des ersteren Vor¬
schlages nimmt sich in verdienstvollster Weise mit Erfolg das mehr¬
fach erwähnte Komite für ländliche Leih-, Spar- und Industrie¬
kassen 1 an, die Ausführung der letzteren ist theilweise von den
Landschaften und Privaten übernommen worden. Die Landschaften
haben industrielle Museen gegründet 2 und Schulen zu errichten
begonnen, Privatpersonen aber haben durch Broschüren in popu¬
lärer Form technische Kenntnisse und Vervollkommungen zu ver-
* cf über dieselben «Russ. Revue» Bd. UI, pag. 527 n. ff.: Schwanebach. Die Vor¬
schussvereine in Russland, Bd. IX. pag. 87 u. ff.
* Derartige Museen existiren bereits in Wladimir, Ssimbirsk, Tobolsk, Nowgorod
und Kostroma. • Diese Museen sollen dadurch, dass sie alle im Gouvernement bekannten
Industriezweige darstellen und die besten Muster der Produkte anderer Gouvernements
vor Augen führen, den didaktischen Zweck verfolgen, die Industrie des betreffenden
Gouvernements zu heben*. (AHÄpeeBcaii, UoJiim. Üp. II, 166). Wir aber glauben
dass solche Museen ausschliesslich die städtische Industrie und nicht 4 ieländliche beein¬
flussten können.
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breiten gesucht Leider aber sind die Museen zu weit von den
eigentlichen Arbeitszentren entfernt und ist das geschriebene
Wort dem Kustar nicht recht zugänglich. Das richtigste und wirk¬
samste Mittel dürfte daher wohl nur das sein, dass das, auf Anre¬
gung des bekannten Steinbeis in Würtemberg geschaffene Institut
der Wanderlehrer und Wandermuseen auch bei uns eingeführt und
eingebürgert werde. Dann wird nicht nur die heranwachsende
Generation den Segen der technischen Bildung empfinden, sondern
auch der zeitgenössische Kustar, unterstützt durch den Kredit der
Industriekassen, ein menschenwürdigeres Dasein führen können.
Beilage L
Verzeichnis« sämmtlicher in der Hausindustrie Russlands vorkommenden
Gewerbe gattungen und Arten.
1. Leder-Arbeiten: Bearbeitung des gewöhnlichen, des sämischen
und des Handschuhleders.
2. Sattelzeug-Arbeiten: Das Geschirr und das sonstige Zubehör
von Leder.
3. Kleinere Lederarbeitern Schuhwerk, Fausthandschuhe, Hand¬
schuhe, Geldtaschen, Paternosterschnüre, Betpolster etc.
4. Kürschner-Arbeiten: Bearbeitung von Schaf- und sonstigen
Fellen, Verfertigung von Tuluppen, Pelzen, Jagd- und Kutscher¬
röcken und sonstigen Gegenständen aus Fell.
5. Filz und Arbeiten aus Filz: Hüte, Schuhwerk, Kummetkissen,
Koschma, Teppiche, Decken, Sattelunterlagen, Fussteppiche.
6. \\ ollen-Arbeiten: Verspinnung der geschorenen Wolle und der
Ziegenwolle; Tuche, wollene und halbwollene Gewebe; Gurten.
7. Seide: Verspinnung derselben, Borten, Brocate.
8. Knochen und Hörner: Bearbeitung derselben; Kämme aller Art.
9. Haare , ihre Bearbeitung und Produkte aus ihnen: Borsten, Bür¬
sten, Pinsel, Haarsiebe und sonstige Haargeflechte.
10. Lichte: Talg- und Wachslichte.
11. Bauenvagen : Telegen, Karren, Tarantasse, Lastschlitten, Schlit¬
ten, Handschlitten, Schlittenkufe, Deichselstangen, Krummhölzer,
Räder, Kummethölzer.
\2.Böttcher-Arbeiten: Tonnen,Fässer,Bienenkörbe,Eimer,Schwen¬
gel, Fassreifen.
1 Wie das Kasancr Börsenblatt unterm 7. September mittheilt, beabsichtigte ein
Herr Kondratjew eine * Gesellschaft zur Unterstützung der Untersuchungen über die
Entwickelung der Hausindustrie» zu gründen. Die Gesellschaft sollte sich mit der
praktischen Ausführung sämmtlicher im Text angeführten Vorschläge zur Verbesse¬
rung des Standes der Hausindustrie befassen. Leider ist bis heute von dem Insleben-
treten oder den Erfolgen dieser Gesellschaft nichts zu erfahren gewesen.
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4^3
1*3- Holz-Arbeiten: Harken, Holzschaufeln, Werktische, Hobel¬
bänke, Pflugschare, Eggen, Dreschflegel, Kornschwingen, Hanf¬
brechen, Wollkrämpel, Spinnrocken, Weberkämme, Spinnkämme,
Wjuchi, Weberstühle.
14. Tischler-und Zimmer Arbeiten: Möbel aller Art, Kasten und
Koffer, Fensterrahmen, Schaukelwiegen etc.
15. Holzgeschirr: Löffel, Schalen, Fichtenspähnkörbe, Futter¬
schwingen, Troge, Salzfässchen, Siebreifen.
16. Kleinere Arbeiten und Kinderspielzeug aus Holz: Tabaksdosen,
Krüge, Salzdosen, Röllchen, Spulrollen, Weberspulen, Holzknöpfe,
Rechenbretter, Weberschiffchen, Pfeifenrohre, Rauchmundstücke,
Leuchter, Messerscheiden, Rahmen, Schachteln, Laternen, Käfige,
Spindel, Geländersäulen, Leisten, Schwimmhölzer, Spazierstöcke
und sonstige Schnitz- und Drechsler-Arbeiten; Kinderspielzeug
jeder Art.
17. Musikalische Instrumente: Harmonikas, Gu : tarren, Balalaikas.
18. Korb - und Ruthen-Arbeiten: Arbeiten aus Holzspähnen, Wei¬
den und Wurzeln, wie: Körbe, Fischreusen, Flechtwagen, Beutel,
Möbelflechtwerk, Badebesen, Ruthenbesen, Holz für Streichhölzer.
19. Arbeiten aus Bast und Rinde ; Bastschuhe, Lindenbast zum
Baden, Matten, Säcke, Baststricke, Siebe, Körbe, Tabaksdosen aus
Birkenrinde.
20. Stroh-Arb eiten: Strohhüte, Körbe, Dielenläufer, Fussteppiche,
21. Flachs-Gespinnste und Gewebe: Zwirn, Grobzeug, Grobmarli.
Leinewand, Handtücher, Tischwäsche.
22. Hanf-Arbeiten: Stricke, Taue, Hanfdielenläufer, Hanftaschen,
Hanfschuhwerk, Gewebe aller Art, Netze, Schleppnetze etc.
23. Baumwollene Gewebe ; Mitkal, Zitz, Tücher, Damast, Dochte.
24. Färberei-Arbeiten: Das Färben und Drucken verschiedener
Gewebe und Kattune.
25. Töpfer-Arbeiten: Geschirr in jeder Art; Spielzeug aus Thon.
26. Glas-Arbeiten-. Das Schleifen und Poliren des Glases; Glasperlen,
Schmelz, Spiegelchen, Thermometerröhren, optische Instrumente.
27. Stein-Arbeiten: Schleifsteine, Wetzsteine, Mühlsteine, Grab¬
denkmäler, Mosaike, Steingravirungen, kleinere Arbeiten aus Stein.
28. Schmiede-Arbeiten: Striegel, Hufeisen, Nägel, Ofen- und Heu¬
gabeln, Ofenthüren, Feuerhaken, Kaffemühlen, Pfännchen, Schorn¬
stein- und Ofenklappen, Reifen, Schaumlöffel, Löffel, Schöpf¬
kellen, Glockenzunken, Anker, gusseiserne Töpfe, Kessel, Ketten,
Achsen, Zubehör zu Equipagen.
29. Messer - Waaren: Messer, Gabeln, Scheeren, Rasirmesser u.s. vv.
30 . Schloss-und Klammer-Waaren: Schlösser, Klammern, Riegel,
Haken, Spunde, Spicker, Schrauben, Zapfen.
31. Draht- und Nadel-Arbeiten: Fischerhaken, Stecknadeln, Näh¬
nadeln, Haarnadeln.
32. Landwirthschajtliche Geräthe: Pflugeisen, Eggenwalzen, Schau¬
feln, Mistgabeln, Spaten^ Maurerhämmer, Sensen, Sicheln.
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33. Feuer - und blanke Waffen: Alle nöthigen Theile und Schrot.
34. Zimmer, Schlosser - und Tischler Instrumente: Beile, Meissei,
Glattfeilen, Kneipzangen, Hammer, Schabeisen, Feilen, Falzhobel,
Schraubenzieher und sonstige Instrumente zur Bearbeitung von
Metall und Holz, Waagebalken, Zirkel, metallische Weberkämme.
35. Hausgeräthe aus verschiedenen Metallen ; Theemaschinen, Thee-
kannen, Lampen, Heiligenlämpchen, Laternen, Theebretter, Leuch-
: ter Zaungebisse,Steigbügel, Ringe, Glöckchen, Kasserolen, Kaffe-
kannen, Kinderspielsachen, Sandfässer, Eimer, Krüge u. s. w.
36. Kleine Galanterie-Arbeiten: Garnitur der Heiligenbilder, Filigran¬
arbeiten, Emailarbeiten, Heiligenbilder, Kreuze, Ringe, Broschen,
Ohrringe, Ketten, Brilleneinfassungen, Knöpfe, Fingerhüte, Hemd¬
knöpfe, Porte* Cigarres, Schmuck für das Pferdegeschirr.
37. Schneider-Arbeiten'. Kutscherröcke, Kaftans, Rockhemde,
Unterbeinkleider, Mützen, wollene Handschuhe etc.
38. Heiligenbild-Malerei: Das Malen, Vergolden, Holzschnitte
und Bilder.
39. Stickereien jeder Art.
40. Strick - und Flecht-Arbeiten: Strümpfe, Tücher, Shawis, Schär¬
pen, Decken, Teppiche, Gurten.
41. Spitzen jeder Art.
Von den genannten 41 Arten sind in einem einzigen Bezirk 28
Arten vertreten, und zwar im Tjumen’schen Bezirk des Gouv.
Tobolsk (Sibirien). Nächstdem kommt Schuja, Gouvernement Wla¬
dimir, mit 27 Arten und Balachna, Gouvernement Nishnij-Nowgorod,
mit 26 Arten. Allmälig fällt dann die Zahl der Arten bis zu je einer,
welche für 57 Bezirke angegeben ist. Dass diese Zahlen nicht auf
absolute Richtigkeit Anspruch erheben, versteht sich von selbst, so
ist z. B. Livland mit einer Art verzeichnet, Kur- und Estland mit gar
keiner, aber immerhin geben sie, in Verbindung mit den nach¬
folgenden, ein ziemlich genaues Bild der Konzentration.
Beilage II.
Verzeichntes der Gouvernements und Kreise, in welchen die in der Beilage I
aufgezählten Gewerbegattungen und Arten Vorkommen.
(Die Zahlen bezeichnen die betreffende Gattung.)
Gouvernement Archangel 33. Mesen 1, 4, 5, 6, 15, 16, 21, 22,
Kreis Archangel 1, 3, 5, 12, 15, 25, 27, 32, 34, 37.
18, 21, 22, 24, 25, 28, 32, 35. Onega 1, 21, 25, 40.
Cholmogory 1, 3, 4, 8, 21, 22, 24, Pinega 1, 4. 5, 6, 12, 15, 21, 22,
25, 28, 32, 35. 24, 25.
Kum 1, 6, 12, 28. Schenkursk 1, 4, 5, 12, 15, 21,
Kola r. 22, 24, 25, 28.
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4» 5
Gouv. Astrachan 4.
ßessarabien 23.
Kreis Kischinew 11, 12, 13, 15.
Orgejew 11, 12, 13, 15, 25.
Charkow 5, 22.
Achtyr 4, 11, 12, 14, 15, 25.
Bogoduchow i, 4.
Isjum 11, 12, 15.
Lebedjansk 40.
Smijew 11, 12, 15.
Walkow 11, 25.
Starobjelsk 11.
Tschugujew 40.
Ckersson ;
Alexandria 25.
Finland:
Gouv. Abo 6, 13, 21.
Nyland 13, 21.
Ny stad 15.
St. Michel 6, 21.
Tawastehus 21.
Uleaborg 11, 20.
Grodno 2 1, 25.
Bjelsk i$.
Jaroslaw 6.
Danilow 1, 4, 5, 11, 13, 14, 15,
25. 34, 35-
Jaroslaw 2, 3,4, 5, 11, 14, 18, 21,
22, 23, 24, 25, 28, 34, 35, 36,
37, 40 .
Ljubim 4, 11, 12, 14, 15, 25, 28.
Mologa 1, 3, 4, 12, 13, 14, 15,
18, 19, 24, 25, 28, 30, 32, 37.
Myschkin 1, 2, 4, 5, 13, 14, 16,
24, 25, 37, 38.
Poschechony 1, 2, 4, 5, 12, 13,
15, 18, 21, 24, 25, 28, 30, 37.
Romanow Borissoglebsk 1, 2, 3,
4, 5, 9, 11, 12, 13, 14, 15, 16,
18, 24,25,28,32,34,35,36,37.
Rostow 1, 4, 5, 9, 12, 13, 21, 24,
25, 28, 30, 32, 34.
Rybinsk 4, 5, n, 13, 21, 24, 25,
32, 34, 36, 37-
Uglitsch 4, 5, 11, 12, 13, 14, 15,
i 6 > 23, 29, 32, 34, 37.
Jekaterinoslaw IO, II, 37.
Slawjanosserbsk 27.
Kaluga 15, 22.
Borowski 23.
Kaluga 6, 9, 12, 13, 23, 25.
Koselsk 11, 12, 13. _
Lichwin 12, 13.
Malo-Jaroslawez 6, 23, 28, 36.
Masalsk 6, 13, 19, 28, 30, 32, 35.
Medynsk 4, 6, II, 13, 23, 40.
Mestschow 3, 37.
Peremyschl 28.
Shisdrin 5, 9, 11, 12, 13, 19, 21.
Tarusk 5, 23.
Tarutino 37.
Kamenez-Podolsk:
Balta 6.
Brazlawl 1, 3, 12, 14, 21, 25, 28.
Gaisino 21, 28.
Jampol 4, 6, 12, 20, 21, 28, 40.
Litinsk 3, 4, 9. 11, 12, 16, 20, 39.
Olgiopol 11, 12, 15, 16.
Prosskurow 6, 21.
Kasan 8.
Jadrinsk 3, 4, 5,9, 12, 19, 28, 29,
30, 32, 34, 40, 41-
Kasan 1, 2, 3, 4, 5, 9, 10, 11,12,
13, 14, 19, 23, 24, 25, 28, 29,
30, 32, 34. 39, 40.
Kosmodemjansk 2, 3, 4, 5, II,
12, 13, 14, 15, 22, 24, 28, 29,
3°, 32, 34, 36, 37, 4i-
Laischew 2, 3, 4, 5, II, 12, 13,
15, 19, 21, 24, 36, 40.
Mamadysch 1, 2, 3, 4, 5, 12, 19,
28, 2c, 30, 32, 34.
Swijashsk 12, 15, 19, 21, 25.
Spassk 3,4, 11, 12, 13, 14,19, 22.
Tetjuschi 2, 3,4, n, 12,13,21,25.
Tsarewokokschaisk 3, 4, 5, x 1,
12, 13, 19, 22, 23, 25, 2 , 29,
30, 32, 34, 40, 41. 8
Tscheboksary 3, II, 12, 13, 19.
Tschistopol 1, 2, 3, 4, 6, 11, 12,
19, 22, 28, 29, 30, 32, 34.
Zywilsk 1, 3, 4, 5, 9, 11, 12, 14,
19, 21, 24, 28, 30, 37, 40.
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486
Kaukasus ;
Gouv. Baku 6, 7, 12, 22, 23, 25,
28, 33, 35-
Gouv. Eriwan I, 7, 21, 25.
Geb. Kuban 1, 19, 25.
Gouv. Kutais 7, 25, 33.
* Stawröpol I.
Geb. Ter 1, 7, 33.
Gouv. Tiflis 1, 27, 33.
Kijeio:
Kreis Berditschew 21.
Kijew 7.
Radomysl 6, 21.
Tschigirin 6.
Kostro?na 31.
Buisk 5, 11, 13, 14, iS, 16, 19,
21, 28,‘30, 37.
Galitsch 1, 5, 12, 19, 21.
Jurjewez 3, 5, 6, 8, 19, 21, 23.
Kineschma I, 3, 5, 6, 11, 12, 19,
21,22,23,37.
Kologriwo 5, 11, 12, 13, 14. 21,
23, 24, 26, 36.
Kostroma 5, 11, 12, 13, 14,21,
23, 24, 26, 36.
Makarjewo 5, 6, n, 12, 19, 21.
Nerechotsk 3, 4, 5, 11, 13, 14,
16, 18, 21, 22, 23, 24, 25, 26,
28, 34, 35 , 36, 37 -
Ssoligalitsch 11, 19, 21.
Tschuchlom 12.
Warnawinsk 11, 12, 19.
Wetiuga 19.
Kursk:
Belgorod I, 3, 4, 5, x 1, 12, 14,
22, 25, 40.
Dmitriew 11, 25, 40.
Fateshski 6, 11, 22.
Graiwororonsk I, 3. 6, 9, II, 12,
14, 19, 23, 25, 38, 40.
Korotschansk 11, 12, 14, 25.
Kursk 3, 4, 6, 9, 22, 25, 40.
Lgow 5, 11, 22, 25, 40.
Nowooskolsk 1, 3, 4, 9, 11, 12,
14, 25.
Obojan 11.
Putiwl 5, 6, 21, 25, 27, 40.
Rylsk 5, 40.
Ssudshansk 4, 6, II, 25, 28, 29
30, 32, 34, 40.
Staro-Oskolsk I, 25.
Stschigrow 4, 6, 40.
Land der Donischen Kosaken 6.
Choper 27.
Ust-Medwedizy 4, 14.
Livland 21.
Minsk 19.
Nowogrudi 21.
Mohilew 16, 22, 25.
Orschansk II.
Rogatschew 19.
Moskau:
Bogorodsk 3, 6, 7, 8, 16, 21, 23,
25.31.34.35.36,38
Bronnizy 4, 7, 13, 16, 18, 19, 23,
24, 25, 27, 36.
Dmitrow 3, 4, 7, 9, 11, 13, 15,
16, 18, 23. 25, 26, 28, 35, 36.
Klin 9, 23, 26, 36.
Kolomna 5, 7, II, 18, 21,23
25, 40.
Mosliaisk 5, 13, 16, 23, 25.
Moskau 1, 3, 6, 8, 14, 16, 22,23,
25, 27, 28, 31, 35, 36, 38, 40.
Podoisk 3, 5, 8, 9, 11, 16, 23, 28,
30, 3'. 35. 36, 41-
Rusa 6, 14, 16, 23, 25, 26, 32, 36.
Sserpuchow I, 3, 4. 6, 7, 11, 13,
14, 21, 23, 25, 26, 31, 34. 38.
Swenigorodsk 1, 2, 3, 4. 5, 9, 11,
13, 14, 16, 17, 18. 22, 23, 25,
26, 28, 31, 32, 35, 36.
Wereisk 8, 16, 19, 23, 34, 36, 37.
YVolokolam 1, u, 12, 14, 15,
23, 25.
Nts/inij-Noii'gorod:
Ardatow 4, 11, 12, 13, 15, 19,
21, 22, 24, 25, 28, 29, 30, 34,
35. 36, 3 7 -
Arsamass 1, 2, 3, 4, 5, IO, 11,
12, 13, 14, 18, 22, 24, 25, 28,
34, 40.
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4*7
Balachna i, 2, 3, 4, 5, 10, ir, 12,
13» 14, 15, l6 > *8, 19. 22, 24,
25, 28, 30, 31, 32, 34, 35, 36,
37. 4i.
Gorbatow i, 2, 3, 5, 8, 10, 11,
12, 14, 22, 25, 28, 29, 30, 31,
32, 33. 34. 35, 36, 37-
Knjaginin i, 2, 3, 4, 5, 10, 11,
15, 21, 22, 24, 28, 31, 32, 35,
36, 37-
Lukojanow 4, 5, 6, 11, 12, 13,
15, 19, 21, 22, 28, 29, 30, 32,
34, 37. 40-
Makarjewo 1, 3, 11, 12, 13, 14,
15, 19, 21, 22, 28, 29, 30, 31,
35, 36.
Nishnij-Nowgorod 1, 2, 4, 5, 10,
11, 12, 13, 14, 15, >8, 19, 21,
22, 24, 28, 29, 30, 31, 32, 34,
36, 40.
Ssemenow i, 5, II, 12, 13, 14,
15, 16, 18, 19, 21, 24, 28, 29,
30. 3', 32, 34-
Ssergatsch 2, 5, 11, 15, 19, 21,
24, 25, 37. 40.
Wassilsk 1, 2, 3, 4, 5 . 10, II, 12,
16, 22, 25.
Nowgorod:
Belosersk I, 15, 25, 28, 30,32, 34.
Borowitschy 1, 5, 16, 25, 36.
Demjansk 28, 34.
Kirilow 15.
Krestezy 15, 24.
Tscherepowez 1, 3, 5,6, 11, 12,
25, 28, 30, 32, 34.
Ustjug 28, 30, 34.
Waldai 11, 12, 22, 25.
Olonez 6 .
Kargopol 1, 4, II, 15. 21.
Lodeinopol 1.
Olonez 1, 4, 21.
Petrosawodsk 1.
Powenez 1, 19, 21.
Pudoga 1, 11, 15, 21.
Wyschegorsk 1, 25.
Orel:
Bolchow 1, 3.
Brjansk II, 15, 21.
Jelez 6, 14, 21, 22, 27, 34, 37, 41.
Karatschew 11, 15.
Liwny 3, 4, 22, 25. 28.
Malo-Archangelsk 22.
Mzensk 41.
Orel 22.
Trubtschew 11, 12, 15. 25.
Orenburg:
Orenburg 2, 3, 4, 5, 6, 9, 11, 12,
14, 16. 19, 20, 21, 22, 25, 28,
32 , 37 , 40 .
Orsk 2, 4, 5, 6, 12, 13, 15, 19,
22, 28, 32, 40.
Sterlitamak 27.
Troizk 1, 2, 3, 6, 11, 12, 19, 21,
22, 25, 40, 41:
Tscheljabinsk 1, 2, 3, 4, 5, 6, 9,
12, 13, 15 , 16, 19 , 21, 22, 25,
2», 32 , 37 . 40 , 4 L
Werchneuralsk 2, 3, 4, 5, 6, 9,
11, 12, 13, 14, 15. l6 > >9, 21,
22, 25, 28, 32, 37, 40, 41.
Pensa 40
Gorodischtsche 12, 13, 15, 19.
Insary 10, 14.
Kerensk 6, 22, 41.
Krasnoslobodsk 1,6, 10, II, 12,
15, 23, 24, 25, 32, 41.
Nishne-Lomow 1, 2, 3, 4, 12, 14,
19, 22, 24, 28, 35, 37, 38.
Pensa 3. 4, 5, II, 14, 15. 21, 22,
23, 24, 36, 37-
Ssaransk I, 11, 12, 15.
Tschembary 1, 10, II.
Perm:
Irbit 1, II, 14, 19, 22.
Jekaterinburg I, 2 , 3, 4, IO, II,
12,14,16,25,27,28,29,32,
34.35.37.38.
Kamyschlow i, 4, 14, 21, 25, 28,
29. 35 -
Krassnoufimsk 1, 2, 3, 11, 12,
14, 19, 22, 28, 29, 35.
Kungur 1, 2, 3, 4, 14, 19, 22, 25,
28, 29.
Ochausk 1.
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488
Osiny 4, n, 13, 19, 21, 25, 28.
Perm i, 2, 3, 4, 10, 11, 16, 19,
22, 25, 28.
Schadrinsk 1, 2, 3, 4, 5, 6, 9, 10,
11, 12, 16,21,22,24,25,28,
29, 37-
Solikamsk 1, 4, 11, 22,24,25,
28, 29, 30, 32, 34.
Tscherdyn 4, 14, 19, 21, 25,
28, 29.
Poltawa 7.
Gadjatschi 34.
Kobeljak 4.
Konstantinograd 40.
Lochwizy 22.
Luben 6.
Mirgorod 21, 25!
Poltawa 4.
Romny 3, 4, 6, 21.
Senkow 8, 21, 25.
Solotonosez 25.
Pskow:
Nowo-Rshew 21.
Opotschy 9.
Belikoluzk I, 9, 11.
Rjasan ;
Dankow 1, 5, 6, 19, 22, 27.
Jegorjew 1,6, 10, 11, 12, 13, 15,
16, 18, 19, 21, 22, 23, 24, 25,
34, 36. 37-
Kassimow 1, 4, 9, II, 12, 19, 21,
23, 24, 28, 35, 38, 40.
Michailow 21, 23, 24.
Pronsk I, 24, 25.
Rjasan 6, 10, 12, 13, 15, 21, 22,
23, 24.
Rjashk 1, 4, 12, 13, 19.
Saraisk 1, 15, 21, 23, 24.
Skopin 25.
Spassk 1, 4, 6, 10, 12, 15, 23.
Ssaposhskow 11, 12, 13, 19, 25.
Smolensk 24.
Belsk 11, 12, 14, 18, 25.
Dorogobushsk 1, II, 25.
Duchowstschina 27.
Gshatsk 1, 28, 37.
Juchnowo 19.
Poretschje 27.
Roslawl 25.
Sutschewo 5, 11, 18, 25.
Wjasma 1, 3.
Ssamara 19, 37,
Bugulma 5, 9, 14, 22, 24, 30.
Buguruslan 4, 5, 6, 9, 11, 12,14,
17, 22, 24, 25, 28.
Busuluk 1, 3, 4, 5, 6,9, 11, 12,
14, 17, 21,25,28,30,40,41.
Nikolajew 5, 14, 22, 28.
Nowousen 3, 6, 9, 11, 25, 28, 30.
Ssamara 3.
Stawropol 2, 3, 4, 6, 10, ii, 14,
22, 24, 25, 28.
Ssaratow 13, 14, 28.
Atkar 6, 14, 22.
Baiasche w 1.
Chwalyno 1, 25.
Kamyschino 1, 3, 4, 6, 24, 25,
2 7, 40.
Kusnezk 1, 2, 3, 4, 5, 9, 11, 12,
15, 19,21, 24,25, 27.
Petrowo I, 3, 6, 38.
Ssaratow I, 4, 5, 6, 19, 24, 40.
Sserdobo 3, 22, 27.
Welsk 4, 6, 19, 27, 40.
Zarizyn 23, 27.
Ssibirien 2, 3, 37.
Gouv. Irkutsk 1, 11, 12, 13, 14,
IS.25.
Gouv. Jakutsk 8, 27, 28, 33, 34.
» Jenisseisk 14.
Geb. Ssemipalatinsk 1.
Gouv. Tobolsk (Kr. Tjumen) 1,
2, 3, 4. 5. 6, 8, 9, 11, 12, 13,
14, 15, 16, 18, 19, 20, 21, 22,
24,25,28,29,32,34,37,40,41.
Gouv. Tomsk 3, 14.
Geb. Transbaikalien I, 4, 6, 18,
21, 22.
Sstmbirsk ;
Alatyr 1, 2, 3, 4, 5, 6, 9, 11, 12,
13, 14. 15, 19» 21, 23, 24, 25,
28, 32, 35, 37, 40.
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4*9
Ardatow i, 3,4, 11, 12, 14, 15,
19, 28, 32, 37.
Buinsk 1, 4, 5, 12, 13, 14, 15, 19,
22, 23, 28, 37.-
Korssun 1, 2, 3, 4, 5, 6, 11, 12,
13, 14, 15, 19, 21,'?2, 23, 24,
25, 28, 40.
Kurmysch 4, 6, 11, 13, 14, 15,
19, 21, 27.
Ssengilejew 1, 2, 3,4,5,6,11,
12, 13, 14, 19, 22, 23, 24, 25,
27, 28, 29, 35, 37.
Ssimbirsk 3, 5, 6, 11, 12, 13, 14,
19, 21, 27, 28, 37, 40,
Ssysran I, 2 , 3» 4 ? 5 t 9 i ^^t
13, 14, 15, 19, 22, 25, 27,
34 , 37 -
Tambow 19.
Borissoglebsk 3, 11.
Jelatna 11, 22.
Morschansk 1, 3, 4, 5, 11.
Schazk 4, 11, 20, 25, 37, 40.
Spask 1, 4, 11.
Tambow 1,4, 5.
Temnikow 1, 11, 15.
Taurien:
Berdjansk 7.
Jalta 11, 15,
Ssimferopol 1 1, 15*
Theodosia 11, 15.
Tschemigow 38.
Gluchow 11, 14, 25, 27.
Gorodischtsche 25.
Koselsk 1, 3, 4, 21.
Krolcwez II, 22, 25.
Nowgorod-Ssewerski 25, 27.
Nowosybkowo 1, 3, 4, 5, 11, 25.
Ostery n, 12, 15.
Sosnizy 11, 12, 15, 25.
Ssuraga 6, 11, 12, 15, 25, 40.
Starodub 5, 23.
Tula 22, 35.
Bogorodize 33.
Belewo 11, 14, 25, 34.
Kaschir 23.
Odojewo 11, 25.
Bum. B*yu«. Bd. IX.
Tschcrny 25.
Tula 17, 28, 30.
Turkestan I, 2, 3, 9, 24, 29, 31,
33 -» 34 , 35 -
Chodshend 5, 6, 7, 23, 25.
Dshasak 6, 23.
Uratensk 6.
Twer:
Beshizy 3, IO, 11, 12, 13, 16, 18,
21,24,25,27,28,37,40.
Kaljasino i, 3, 5, 11, 12, 15, 21,
23, 28, 41.
Kaschin 3, 4, n, 21, 24, 25, 28.
Kortschew 1, 3, 21.
Nowotorshok 1.
Ostaschkowo 1, 3, 11, 12, 13, 19,
20, 22, 29, 32, 34.
Rshew 11, 13, 18, 19,22,28, 34.
Stariza 11, 12, 13, 16, 18, 19, 22,
25, 29, 32-
Subzowo 5, 19, 21, 22, 25.
Twer 13, 22, 28, 40.
Torshok 18.
Wesjegony 3, 11, 12, 18, 21, 25,
28, 30.
Wyschnij-Wolotschok 11,12, 14,
15, 18, 21, 22, 25, 28.
Ufa 5, 41.
Belebei 19.
Birei 6, 11, 12, 14, 15, 19,22, 25.
Menselinsk 6, 15, 17, 22, 24.
Slatoust 1, 3, 24, 25, 29, 36.
Sterlitamak 1,3,12,14,15,19,25.
Ufa 1, 3, 11, 12, 14, 15 , I 9 > 25,
32 , 40 .
Witebsk:
Gorodok 11, 13, 15, 16, 19.
Ssurashk 11, 13, 15, 16, 19.
Welishsk 11, 12, 13, 15, 16, 19.
Witebsk 15, 18.
Wjatka :
Glasow 1, 2, 3, 4,5,6,11,13,
14, 15, 19, 20, 21, 24, 28, 29,
32 » 34 , 37 -
Jaransk 1, 2, 3, 5, IO, 11, 12, 13,
14, 15, 19, 21, 24, 28, 29, 30,
34 , 35 , 36 , 40 , 4 l-
3 *
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490
Jelabug i, 2, 3, 4, 11, 12, 13, 14,
15, 19, 20, 21, 24, 28, 29, 32,
34 , 37 -
Kotelnitschi 1, 3, 4, 5, 9, 11, 12,
12, 13, 14, 15, 16, 17, 19, 21,
22, 23,24,25,28,32,34,37,39-
Malmysch 2, 5, 11, 15, 17, 19,
22, 23, 28, 35.
Nolin 1, 2, 3, 12, 13, 15, 16, 19,
21, 22, 23, 24, 28, 30, 31, 32,
34 , 35 , 36.
Orlow 1, 2, 3, 5, 8, 11, 12, 14,
15, 16, 17, 18, 19, 21, 22, 23,
24, 28, 30, 31, 32, 34, 35, 36.
Slobodskoje 1, 2, 3, 4, 5, 9, 11,
12, 14, 15, 16, 18, 19, 23, 25,
28, 29, 30, 32, 34, 35, 38, 40.
Ssarapul 1, 2, 3, 4, 5, 6, 9, 11,
12, 13, 15, 18, 19, 22, 23, 28,
33 , 35 , 37 -
Urshum II, 15, 19, 21, 22, 34,
35 , 36 .
Wjatka 1, 2, 3, 4, 5, 9, 10, 11,
12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19,
21, 22, 23, 24, 25, 28, 30,
32, 40.
Wladimir ;
Alexandrowo 3, 5, 6, 7, 12, 13,
14, 15, 16, 17, 18, 19, 23, 24,
25, 28, 37, 40.
Gorochowez 4, 5, 11, 14, 15, 16,
19, 21, 22, 23, 24, 25, 28, 34,
37 , 38 , 40 .
Jurjewez 1, 21, 22, 23, 25, 37.
Kowrow 1, 3, 4, 5, 6, 9, 11, 12,
13, 15, 16, 18, 19, 21, 23, 24,
25, 26, 27, 28, 37.
Melenkow 5, II, 13, 14, 15, 19,
20, 22, 25, 37.
Murom 1, 3, 4, 5, 8, 9, II, 12,
13, 14, 15, 16, 18, 19, 21, 23,
28, 29, 30, 32, 34, 37.
Pereslawl 3, 11, 12, 13, 14, 15,
18, 19, 21, 22, 23, 24, 25, 37.
Pokrow 2, 5, 7,11, 12, 15,23, 25.
Schuja 1, 3, 4, 5, 6, 9, 10, 11,
13, 14, 15, 16, 19, 21, 23, 24,
25, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34,
35 , 37 , 40.
Ssudogodsk 4, 11,12, 13, 14, 15,
16, 18, 19, 25, 26, 27, 28, 29,
32 , 38 .
Ssusdal 1, 13, 15, 16, 19, 21, 23,
25, 27, 37 , 38 .
Wjasniki 3, 4, 6, 9, II, 12, 19,
21, 23, 25, 28, 32, 36, 38.
Wladimir 5, II, 12, 13, 14, 15,
16, 17, 18, 19, 21, 23, 25, 27,
29, 32, 37 , 38-
Wolhynien:
Luzk I.
Nowgorod-Wolhynsk i.
Nowgorod-Sewersk 4.
Wologda:
Grjasowez 6, 12, 18, 21, 28, 40.
Jarensk 27.
Kadnikowo 1, 3, 4, 5,6,8, n,
12,15,21,22,24,25,28.
Nikolski 19.
Orlow 41.
Ssolwytschegodsk6,19,28,30,40.
Ustsysolsk 5, 15, 21, 27, 33.
Ustjug 9, 14, 15, 16, 19, 25,
28, 30.
Welsk I, 4.
Wologda 3 , 4 , 5 , ”, * 9 ,21, 34 , 41 -
Woronesh .-
Birjutschi i, 3, 4, 5, II, 12, 14,
25, 27, 28, 38.
Bobrow 1, 3, 4, 6, n, 12,21, 25,
27, 28, 32, 35, 37, 38, 40.
Bogutschar 1, 6.
Korotojak 5, 6, 16, 21, 22.
Nishnje-Dewitschje 6, 13, 21,
25, 27.
Nowo-Choper 1, 6, 27.
Pawlowsk 1, 4, 5, 6, 11, 12, 14,
25, 28.
Sadonsk 6, 11, 12, 22, 25.
Semljansk 6, 21, 22, 27.
Waluisk 1, 4, 6.
Woronesh 1, 2, 3, 6, 11, 12, 21,
22, 23, 27, 32, 34, 35, 40.
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lieber das Besitzthnm und die Einkünfte russischer
Klöster.
Bin Beitrag sur Kenntniss des Klosterwesens in Russland.
Wenn es auch allgemein bekannt ist, dass die Einkünfte der
Klöster in Russland sehr beträchtlich sind, so waren es bisher doch
mehr blosse Gerüchte und einzelne, hie und da zufälligerweise in ; s
grosse Publikum gedrungene Zahlen, als thatsächliche Angaben und
Nachrichten, welche den Ausgangspunkt dieser weitverbreiteten
Meinung bildeten. Eine feste Grundlage erhält dieselbe aber erst
jetzt, nachdem ein eifriger Forscher, Hr. Kosstisslawlew , es unter¬
nommen hat, das einschlägige Material zu sammeln und in mehr
oder weniger eingehender Weise zu verarbeiten. Die Resultate
seiner Untersuchung hat er nun kürzlich in einem Buche veröffent¬
licht, welches er als einen « Versuch einer Untersuchung über das
Besitzthum und die Einkünfte unserer Klöster • bezeichnet l .
Es war eine unendlich schwierige Aufgabe, welche sich Hr. Rosstis*
slawlew gestellt; über einige dieser Schwierigkeiten spricht er sich
in der Einleitung näher aus. Er weist darauf hin, dass man in den
Klöstern selbst nicht gern über die Einkünfte derselben spricht, und
namentlich es auf alle mögliche Weise zu verhindern sucht, dass
Etwas darüber in die Oeffentlichkeit dringt. Der Entgegnung Ros-
stisslawlew’s, dass eigentlich kein Grund dafür vorhanden sei, die
Daten über die Einkünfte der Klöster geheim zu halten, da sie der
Statistik angehören, wurde nur selten Gehör gegeben. Daher war
es ihm unmöglich, das nöthige Material in dem Umfange zusammen¬
zubringen, wie es wohl zu wünschen gewesen wäre. Die in vielen
Beziehungen lückenhaften offiziellen Berichte allein reichen natür¬
lich nicht aus, wenn man wirklich zu einigermaassen befriedigenden,
* OnuTb iiscrtAOBaHi* o6t> miymecTBaxi» u aoxoflaxi» Hauiuxi» MOHacTbipei. Der
Name des Hrn. Kosstisslawlew*s als Verfasser des vorliegenden Buches ist auf dem
Titelblatt nicht genannt, jedoch in Folge einer kritischen Polemik über dieses Werk in
den russischen Zeitungen ist sein Name in die Oeffentlichkeit gedrungen.
32*
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492
dem Sachverhalt entsprechenden Resultaten gelangen will. Es sah
sich der Verfasser daher genöthigt, Alles zu sammeln, was in der
Literatur seit dem Jahre 1833 darüber zur Sprache gekommen ist,
und sich schliesslich an die Klöster und Konsistorien selbst zu wen¬
den, um in direkter Weise die nöthigen Mittheilungen zu erhalten.
Auf diese Weise ist es ihm gelungen, von 290 unter den 485 russi¬
schen Klöstern, mehr oder weniger genaue und vollständige An¬
gaben zu erlangen, welche auch die faktische Grundlage seines
Werkes bilden.
Es sind nun die Resultate seiner Berechnungen in mancher Be¬
ziehung von grossem Interesse. Es ist nicht nur ein gewichtiges
Material, welches dem künftigen Historiker des russischen Mönch¬
thums hier an die Hand gegeben wird, das er in überaus ergiebiger
Weise verwerthen kann, es ist dies Buch auch für den Beobachter
der Jetztzeit von Bedeutung. Wenn hier auch nur, so zu sagen, die
wirthschaftliche Seite russischen Klosterlebens behandelt wird, so
steht diese Seite des Klosterwesens doch in so enger Beziehung und
Wechselwirkung zu dem ganzen Organismus des russischen Mönch-
thums, dass auch diese bloss auf das wirthschaftliche Gebiet einge¬
schränkte Studie sowohl auf das Ganze, als auch auf das Verhält-
niss zwischen Kloster und Staat, zwischen Kloster und Volk, manche
grelle Schlaglichter zu werfen vermag.
Von diesem Standpunkt eines objektiven Beobachters, welcher, sich
jeder Kritik der gemeldeten Thatsachen enthaltend, mit Hülfe der¬
selben bloss ein Bild des Bestehenden nachzuzeichnen bemüht ist,
wollen auch wir versuchen, unsern Lesern über den betreffenden
Gegenstand aus dem fleissig gearbeiteten Buch Einiges mitzutheilen,
was uns besonders charakteristisch erscheint und was in die Grenzen
unseres Artikels, als eines objektiven Beitrags zur Kenntniss des
Klosterwesens in Russland, hineinpasst.
Das Buch des Hrn. Rosstisslawlew zerfällt in achtzehn Kapitel.
Der Uebersichtlichkeit wegen behalten wir diese Eintheilung bei
und folgen genau der Ausführung des Verfassers, wenn wir zuweilen
auch mehrere Kapitel zusammenfassen, oder auch einzelne Kapitel,
wie z. B. gleich das erste über die Gründe, welche die Christen zu
Darlehen und Geschenke veranlassen, ganz übergehen. Es sind
diese Gründe, welche in dem Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit und
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der Ehrfurcht, vor dem der Welt abgekehrten und Gott zugewand¬
ten Leben zu suchen sind, ja so allgemein bekannt, dass es unnütz
wäre, hierbei länger zu verweilen. Wir gehen daher gleich zum
zweiten Kapitel über, welches die Ueberschrift trägt:
Der finanzielle und sittliche Zustand der russischen Klöster bis zum
Jahre 1764.
Sowohl Diejenigen, welche in Russland in alter Zeit die Klöster
gegründet, als auch ihre unmittelbaren Nachfolger und Schüler,
waren weit davon entfernt darum zu sorgen, dass sich grosse Reich-
thümer in ihren Klöstern ansammelten, dass die Klöster Land und
Leute besässen; ja sogar das, was man dem Kloster an Geld und
Nahrungsmitteln freiwillig darbrachte, wurde im Allgemeinen nur
ungern und von einigen Klostervorstehern nur in Zeiten grosser
Noth und bei Krankheitsfällen angenommen. Es galt eben in den
alten Klöstern die Regel, dass sich die Mönche ihren Lebensunter¬
halt selbst durch ihrer Hände Arbeit erwerben mussten, wobei ihnen
die Klostervorsteher mit gutem Beispiel vorangingen. Diesem Ver¬
bot der Entgegennahme von milden Gaben und Geschenken lag die
Ansicht zu Grunde, dass dergleichen Geschenke auf den asketischen
Charakter des Mönchslebens einen schlechten Einfluss ausüben
könnten, indem sich die Mönche dann wieder dem weltlichen Trei¬
ben und den weltlichen Trieben zuwenden würden, und so wird da¬
her, dem Geiste dieser Vorschriften gemäss, in einer alten geist¬
lichen Urkunde, die Verleihung von Ländereien an Klöster als ein
Gott wenig wohlgefälliges Werk geradezu verdammt.
Nicht lange jedoch blieben die Mönche diesem Gebote der ersten
Begründer des Mönchthums in Russland treu. Von der Lust nach
Macht und Besitz getrieben, lernten die Mönche allmälig willig ent¬
gegennehmen, was ihnen von den Kindern der Welt an beweglichem
und unbeweglichem Gut dargebracht wurde, und feuerten schliess¬
lich selbst die frommen Leute an, ihr Eigenthum ihnen testamenta¬
risch zu vererben. So geschah es, dass sich endlich überall bedeu¬
tende Reichthümer ansammelten.
Es kamen ferner noch andere Umstände hinzu, welche diese An¬
sammlung in bedeutender Weise förderten. So waren die tatarischen
Chane sehr zuvorkommend gegen die höhere russische Geistlichkeit
und gegen die Klöster, und schützten dieselben gegen Raub und
Plünderung. Dasselbe thaten die Fürsten des eigenen Landes,
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494
welche in Kriegszeiten den Klöstern nicht selten die grösste Scho¬
nung angedeihen Hessen, indem sie ihre Landgüter unbesteuert zu
lassen befahlen. Es waren das in jenen Zeiten natürlich Privilegien,
welche zur Folge hatten, dass sich in den Klöstern grosse Schätze
anhäuften, welche die Mönche dazu verführten, jene Privilegien in
sowohl erlaubter, als auch unerlaubter Weise auszubeuten.
So berichtet z. B., zur Charakteristik der Mönche, im Jahre 1588
der englische Gesandte Fletschen «Die Mönche sind die gewandte¬
sten Kaufleute im ganzen Reich und handeln mit allerlei Waaren«.
Um ein Beispiel anzuführen, wollen wir auf das Troitzky-Kloster in
Astrachan hinweisen, welches unter Iwan dem Schrecklichen die
Erlaubniss erhalten hatte, in Astrachan einen Verkaufsladen zu er¬
öffnen und daselbst, ohne dafür eine Abgabe zu entrichten, mit
Gegenständen Handel zu treiben, welche zum Bedarf des Klosters
gehören; ferner hatte es das Recht erlangt, ein eigenes Schiff zu
halten und auf demselben zoll- und abgabenfrei Salz und Fische
längs der Wolga und Oka bis nach Jaroslaw und Kaluga hinauf zu
versenden und damit und mit anderen Waaren und Gegenständen,
wie z. B. Malz, Hopfen, Korn, Pferden, Hornvieh u. s. w. zu handeln.
Der Vortheil, welchen den Mönchen diese Berechtigungen gewähr¬
ten, wurde noch dadurch vergrössert, dass ihnen die verschiedenen
Verwalter, Aufseher, Fischer, Müller, fast gar nichts kosteten. Das
kam daher, weil ihnen oft ganze Ländereien mit den darauf befind¬
lichen und nach dem Gesetz des Boris Godunow an die Scholle ge¬
fesselten Bewohnern zum Geschenk gemacht wurden, auf welchen
sie als in ihrer Macht unbeschränkte Gutsherren schalten und walten
konnten. Schliesslich finden wir, dass sie auch noch Geld auf Zin¬
sen ausliehen und Wucher trieben l , so dass Iwan der Schreckliche
diese Frage auf einer Kirchenversammlung in Anregung zu bringen
und Verordnungen dagegen zu erlassen gezwungen war.
Es war natürlich, dass die Klöster und die Klostergeistlichkeit
unter solchen Bedingungen in Betreff der Vermehrung ihres Gutes
1 In einer Schrift des gelehrten Mönchs Maxim des Griechen (wie sein Beiname lau¬
tet), welcher in Paris, Florenz, Venedig studirt hatte und im Jahre 1518 nach Russland
berufen wurde, lesen wir: «Wir Mönche nehmen in unmenschlicher Weise Zins auf
Zins so lange, bis das geliehene Kapital zurückbezahlt ist. Wenn Jemand in Folge
grosser Armuth in Verlauf eines Jahres die Zinsen schuldig geblieben ist, nehmen wir
dieselben im folgenden Jahre in doppeltem Betrage, oder jagen die Menschen, um
welche wir nach der heiligen Schrift vor Allem sorgen müssen, nachdem wir ihr Eigen¬
thum geplündert, in die Welt hinaus».
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495
grosse Resultate erzielten. Das eine Beispiel, welches wir hier an-
(Uhren wollen, mag genügen, um zu zeigen, wie bedeutend in der
That die Mittel waren, über welche die Geistlichkeit zu verfügen
hatte. Als Zar Alexei Michailowitsch im Jahre 1654 mit Polen
Krieg führte, stellte ihm der Patriarch Nikon auf Kosten des Patri¬
archats 10,000 Mann, mit Munition und Pferden versehen, in’s Feld;
ausserdem bot er dem Zaren persönlich von sich aus hundert mit
Geld gefüllte Kisten an, deren Annahme der Zar jedoch ablehnte.
Ebenso rüstete der Metropolit von Nowgorod 300, sämmtliche
Bischöfe aber 20,000 Mann Soldaten aus.
Zur Zeit Peters des Grossen und seiner Nachfolger übergehend,
finden wir, dass in den Klöstern Alles beim Alten geblieben ist, ja
dass sich die Gewinnsucht und die Immoralität noch gesteigert ha.
ben, so dass Peter der Grosse in seinem Ukas vom 31. Januar 1724
vollkommen berechtigt war zu sagen: «Die meisten Mönche sind
Tagediebe, und da der Müssiggang die Wurzel alles Uebels ist, so
sind eben viele Ketzer, Taugenichtse, Verschwörer, wie Allen be¬
kannt ist, aus den Klöstern hervorgegangen.»
Unter den Lastern, welchen die Mönche zu fröhnen gewohnt
waren, war es namentlich die Trunksucht, welche stark verbreitet
war. Es sah sich die Regierung daher in den Jahren 1681, 1688 und
1694 genöthigt, wiederholt darauf zu dringen, dass die Klöster die
ihnen gehörenden Branntweinbrennereien eingehen lassen sollten,
bis sie ihnen im Jahre 1740 das Branntweinbrennen endlich ganz
verbot. Damit war freilich dem einen Laster, welches viele andere
nach sich zog, der Riegel ein wenig vorgeschoben; nichtsdesto¬
weniger behielten aber auch jetzt noch, nach zweihundert Jahren,
die Worte des schon genannten Maxim des Griechen, ihre volle
Gültigkeit, welcher sich damals über das Treiben der Mönche in
einem Briefe folgendermaassen geäussert:
«Siehst Du denn nicht, wie unmenschlich und falsch es ist, dass
Diejenigen, welche der Welt entsagt haben, ihr Gelübde vergessen,
von Neuem nach Erwerb jagen und, in Ueppigkeit und Wollust
lebend, sich von dem Schweisse der ihnen unterthänigen Bauern
nähren? Diese Bauern aber, welche unermüdlich arbeiten, die ihnen
Alles geben was sie brauchen, leben in Armuth und Elend, haben
weder Brod noch Salz um das kümmerliche Leben zu fristen; wir
aber, wir blicken theilnahmlos und herzlos auf ihr Elend herab und
denken nicht daran, den Leidenden, wie es uns doch vorgeschrieben
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ist, Trost zu bringen, sondern jagen grade Diejenigen von uns fort,
um welche wir uns nach dem Gebot der heiligen Schrift am meisten
bekümmern müssten.»
Die Einziehung der Klostergüter unter der Regierung der Kaiserin
Katharina II.
Da es allgemein bekannt war, wie sehr die geistlichen Gutsbesitzer
ihre Bauern bedrückten, wie sie mit ihren grossen Einkünften Miss¬
brauch trieben und dieselben in wenig schicklicher Weise verwen¬
deten; da überhaupt das ganze Treiben der Mönche dem russischen
Mönchsthum zur Unehre gereichte, beschloss die Regierung endlich
einen energischen Schritt dagegen zu thun, indem sie die Einnahme¬
quellen der Klöster verminderte, d. h. die Güter derselben zum
Besten des Staates einzog. Diese Maassregel erfolgte im Jahre
1764, und damit war das, woran man seit fast dreihundert Jahren
gedacht hatte, nun endlich in Ausführung gebracht. Schon Iwan III.
hatte, nachdem er im Jahre 1478 im eben eroberten Nowgorod die
Hälfte der Klostergüter Kraft seines Rechtes als Sieger an sich ge¬
zogen, im Jahre 1503 einer Kirchenversammlung die Frage vor¬
gelegt, ob es nicht zeitgemäss wäre, überhaupt allen Klöstern ihre
Landgüter zu nehmen? Er empfing aber die Antwort: «dass es
Gottes Eigenthum sei und dass er kein Recht darauf habe», so wagte
er es daher der entschieden und fest geäusserten Meinung gegen¬
über auch nicht, seine Absicht weiter zu verfolgen. Später ist man
dann oft wieder auf diesen Gedanken zurückgekommen, ohne dass
jedoch der still gehegte Wunsch zur That wurde, bis endlich Katha¬
rina beschloss, dass diese Güter «zum Ruhme Gottes und zum Nutzen
des Vaterlandes* anders und besser verwendet werden müssten, und
im Manifest vom 26. Februar 1764 befahl: den Klöstern und auch
den Kirchen ihre Ländereien zu nehmen.
Statt der Ländereien wurde nun den Klöstern ein jährlicher Bei¬
trag aus dem Staatsschatz, im Betrage von 365,203 Rbl., bewilligt,
welche Summe folgendermaasses vertheilt wurde:
dem Metropoliten von Nowgorod und der
Sophien-Kathedrale.
dem Metropoliten von Moskau ....
den erzbischöflichen Häusern 1. Ranges ä
* * » 2. » k
10,031 Rbl. 20 Kop,
7,510 * — *
5,500 » — *
4,232 * 20 *
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49;
den Vikarien a . .
t • •
, .
. . . 8,061 Rbl. 60 Kop.
dem Haupt-Kloster in Moskau
• •
. . 10,070
» -
9
den Mönchs-Klöstern 1.
Ranges
\
a
. . . 2,017
» 50
*
• » 2.
9
»
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9 90
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» » 3 -
9
» .
. . . 806
> 30
9
* Nonnen-Klöstern 1.
»
9
1506 bis 2009
* -
9
»» 2.
9
9
... 475
9 80
9
* * 3 -
9
9
• • • 375
* 60
9
den drei Kathedralen in Moskau
. . . 3,816
» -
9
Ausserdem erhielten die Klöster noch Weideplätze für ihr Haus¬
vieh, Heuschläge, Theile von Seen und Flüssen zum Fischfang u. s. w.
Freilich war dies verhältnissmässig nur eine geringe Entschädigung
für das, was sie verloren, und es war daher natürlich, dass inmitten
der Geistlichkeit Stimmen laut wurden, welche zum Widerstand an¬
zufeuern versuchten, so dass Katharina II. endlich gezwungen war,
einen der Haupt-Aufwiegler, den Metropoliten von Rostow, Arssenij
Matzejewitsch, seines Amtes und seines Mönchstandes zu entkleiden
und ihn in’s Gefängniss setzen zu lassen.
So behielt die mächtige Kaiserin die Oberhand und vermochte
den in ihrem Manifeste erlassenen Befehl in Ausführung zu bringen.
Die Einkünfte der Klöster von den sogenannten Appertinentien .
Man hätte erwarten können, dass der Wohlstand der Klöster nach
dem Gesetz vom Jahre 1764 wohl allmälig sinken würde, dass sie
bei den bedeutend eingeschränkten Mitteln bei Weitem kein so
reiches Einkommen haben könnten, wie früher. Es schien sogar,
als ob die Regierung selbst Dieses gefürchtet hätte, da sie, um
einem solchen Verfall vorzubeugen, die Hälfte der Klöster ein-
gehen liess.
Aber diese Befürchtung war unbegründet. Denn wenn auch
einige unter den Klöstern wirklich verarmten, wenn es anderen auch
nicht so gut mehr erging wie früher, so war die Existenz der
meisten derselben doch mehr als gesichert, so dass es ihnen auch
jetzt noch möglich war, Alles in gewohnter Art und Weise fortzu¬
führen, die Klöster in früherer Pracht zu unterhalten, neue Schätze
zu sammeln.
Die Einkünfte der Klöster kann man nun in fünf Gruppen zu-
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49 *
sammenfassen, worunter die beiden ersten aus Subsidien von Seiten
der Regierung gebildet werden.
1. Einkünfte von den Appertinentien.
2. Direkte Geldsubsidien.
3. Geschenke und Darbringungen aus dem Volke.
4. Einkünfte durch das Vermiethen der den Klöstern gehörenden
Häuser, Kornspeicher, Keller etc.
5. Zinsen der in verschiedenen Banken niedergelegten Kapitalien.
Betrachten wir zuerst die Einkünfte von den sogenannten Apper -
tinenlien (yroAba), d. h. den Seen, Mühlen, Wiesen, Wäldern u. dgl.,
welche den Klöstern von der Regierung zum Unterhalt derselben
bewilligt worden sind.
Als den Klöstern noch grosse Strecken Landes gehörten, welche
von den ihnen leibeigen unterworfenen Bauern bebaut wurden, be-
sassen dieselben Mühlen , um das Korn auch selbst zu mahlen. Auch
jetzt noch besitzen fast alle Klöster, ungeachtet dessen, dass ihnen
im Jahre 1764 ihre Ländereien genommen worden sind, eigene Müh¬
len, manche Klöster sogar deren zwei, drei und mehr. Der Ertrag,
welchen dieselben einbringen, ist nun sehr verschieden, während
einige Mühlen ihren Besitzern gar nichts abwerfen oder nur 10 bis
20 Rbl. jährlich, beziehen andere Klöster davon wieder eine Ein¬
nahme von gegen 2000 Rbl. jährlich.
Etwas weniger bringen den Klöstern ihre Fischereien ein, ja es
wird sogar behauptet, dass sie gar keinen Gewinn davon hätten;
ungeachtet dessen steigert sich auch hier zuweilen die Einnahme bis
zum Betrage von 2288 Rbl. jährlich.
Zu den Appertinentien gehören ferner die Wälder , Wiesen und
Felder , welche die Klöster von der Regierung erhalten.
Was zunächst die Wälder betrifft, so verordnet ein Gesetz aus
dem Jahre 1838, dass die Klöster 50 bis i$oDessj. Wald erhalten
können. Diesem Gesetz zufolge sind in den Jahren 1836—1861,
den Berichten des Ober-Prokureurs des heil. Synod zufolge, an 180
Klöster über 16,000 Dessj. Wald vertheilt worden; ferner hat es
Fälle gegeben, dass einzelne Klöster auch viel mehr erhielten, wie
z. B. das Moskauer Haupt-Kloster im Jahre 1858: 1,249 Dessj.
Die Einnahmen von diesen Waldungen sind nun viel grösser und
bedeutender, als die von den Mühlen und Fischereien, und wenn man
in einigen Klöstern für den Verkauf von Holz einen Erlös von nur
87 Rbl. 67 Kop. notirt findet, so stösst man wieder in andern auf
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Summen von 10,000, ja 22,000 Rbl., welche die Waldungen ihren
Besitzern eingebracht.
Die Einkünfte, welche die Klöster von ihren Wiesen, Feldern
Gemüsegärten beziehen, zu bestimmen, ist wegen mangelnder An¬
gaben unmöglich.
Um nun eine ungefähre Vorstellung von der Grösse des gegen¬
wärtigen Besitzthums der Klöster zu geben, führt der Verfasser des
erwähnten Werkes in einer besonderen Tabelle die Dessjatinen-
Anzahl des Besitzthums von 200 russischen Klöstern, von welchen
genaue Nachrichten zu erlangen möglich war, an. Es ergibt Weh
aus dieser Tabelle, dass diesen 200 Klöstern zusammen 250,000
Dessj. 1 Land gehören, und zwar:
weniger als 50 Dessj.
besitzen
16 Klöster
50 bis
IOO
»
»
23
9
IOO
»
ISO
9
»
22
9
150
»
200
9
»
20
9
200
t
250
9
»
12
»
250
9
300
9
14
9
300
9
350
9
»
*5
9
350
»
400
9
»
II
9
400
9
500
9
»
7
»
500
9
600
9
»
10
9
600
9
800
9
»
11
•
800
9
1,000
9
»
11
9
1,000
9
2,000
9
»
12
9
2,000
9
3,000
9
*
6
9
3,000
9
7,000
»
7
9
10,000
*
20,000
9
»
3
9
26,305
9
»
1
9
66,666
9
»
1
9
Wenn man von diesen 250,000 Dessj. ausgehend, darnach den
Landbesitz der andern Klöster (von welchen viele zu den reichsten
und grössten gehören, was auch in Betracht zu ziehen ist) berechnet,
so wird man wohl, ohne zu hoch zu greifen, annehmen können, dass
den russischen Klöstern 700,000 bis 750,000 Dessj. Land gehören.
Rechnet man dazu die 300,000 Dessj. Land, welche den griechischen
Klöstern und Patriarchen in Bessarabien allein gehören sollen, so
erhält man im Resultat eine Million Dessjatinen (9596 Quadrat-
- #
1 l Dessjatine = 1,092 Hektar.
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500
Werst), welche den Klöstern jedenfalls nicht wenig einbringen, wenn
es auch unmöglich ist, die Grösse dieser Einnahme genau zu be¬
stimmen.
Direkte Geldsubsidien,
Die Regierung unterstützt die Klöster nicht bloss durch Ver¬
leihung von Appertinentien, sondern auch direkt mit Geld. Der
Betrag der, den Klöstern gewährten Unterstützung, ist in den letzten
zehn Jahren fast unverändert geblieben, so dass wir uns hier auf die
eine Angabe aus dem Jahre 1875 beschränken können, indem wir
nur bemerken, dass die Summe der ihnen zu leistenden Zahlungen
im Verhältnis zum Jahre 1868 um ein Geringes kleiner gewor¬
den ist.
Es erhielten die Klöster im Jahre 1875 von der Regierung im
Ganzen 408,749 Kb!., und zwar: die Mönchsklöster 321,269 Kb!.,
die Nonnenklöster 73,111 Rbl., und einige Klöster statt der Apper¬
tinentien 14,369 Rbl. Es sind diese Gelder im Allgemeinen sehr
ungleichmässig vertheilt. Abgesehen davon, dass die Mönchs¬
klöster mehr als vier Mal so viel bekommen als die Nonnenklöster
(obgleich sich die ersteren zu den letzteren verhalten wie 2 : 1),
kommt es auch vor, dass Klöster zweiten und dritten Ranges mehr
erhalten, als manche Klöster ersten Ranges. Eine genügende Mo-
tivirung dieser Ungleichmässigkeit ist jedoch nicht gegeben.
Ohne uns auf die Tabelle der Vertheilung der genannten Summe
auf die einzelnen Eparchien einzulassen (die Tabelle ist von keinem
besonderen Interesse und Nutzen, da der Verfasser es unterlassen
hat, die Anzahl der Klöster in den betreffenden Eparchien anzu¬
führen), wenden wir uns der Berechnung der durchschnittlichen
Summen, welche der Staat zur Unterhaltung eines jeden Mönchs
ansetzt, zu. Im Jahre 1873 zählte man, dem offiziellen Bericht zu¬
folge, 2,886 Mönche, wobei zu bemerken ist, dass in diese Zahl
nicht ein geschlossen sind die Mönche in den Eparchien Kijew, Perm,
Poltawa, Ssimbirsk und die im Kloster Alexander-Newskij. Rechnet
man von den 321,269 Rbl. den Betrag der Subsidien der vier ge¬
nannten Eparchien und des Alexander-Newskij-Klosters mit 37,984
Rbl. ab, so erhält man 283,285 Rbl., und also 283,285 : 2,886 = 98
RbL für jeden einzelnen Mönch. Hierzu ist zu bemerken, dass diese
Summe in manchen Klöstern, wie der Verfasser versichert, sich bis
zu 262 Rbl., 397 Rbl., 613 Rbl., ja sogar bis 920 Rbl. steigert.
*
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Die Einkünfte von den Kirchgängern und Wallfahrern .
Diese Einkünfte hängen natürlich von der Zahl der Kirchgänger
und Wallfahrer ab und sind daher bedeutenden Schwankungen
unterworfen. Es wäre nicht uninteressant zu erfahren, wie gross
die Zahl der Andächtigen ist, welche alljährlich die Klöster be¬
suchen und zu den berühmtesten unter denselben Wallfahrten unter¬
nehmen. Doch ist das gegenwärtig noch unmöglich, da keine
direkten Angaben darüber vorliegen, und nur in indirekter Weise
kann man hinsichtlich einiger Klöster, z. B. der grossen Klöster in
Moskau und Kijew, zu dem Schlüsse kommen, dass in jedes derselben
jährlich mindestens 300,000 Gläubige kommen, um ihre Andacht
daselbst zu verrichten. Diese Zahl kann wenigstens einen kleinen
Begriff* davon geben, wie viel Andächtige alljährlich in den 485
russischen Klöstern aus und ein gehen mögen.
Es ist nun begreiflich, dass auch die Einnahmen hierbei nicht ge¬
ring sein können, und da müssen in erster Reihe die Wachslicht-
Gelder genannt werden, die den Erlös für die Wachslichte bilden,
welche die Betenden in den Kirchen kaufen und den von ihnen ver¬
ehrten Heiligen weihen, indem sie die Lichte vor den Bildern der¬
selben aufstellen und anzünden.
Diese Wachslichte werden in der Kirche gewöhnlich um das
Doppelte theurer verkauft, als sie von den Klöstern selbst gekauft
worden. Ausserdem ist noch zu bemerken dass, wenn diese Lichte
auch während des ganzen Gottesdienstes brennen, doch nur die¬
jenigen aufbrennen werden, welche nur zwei oder drei Kopeken
kosten} von denen aber, für welche fünf, zehn, zwanzig Kopeken
u. s. w. entrichtet werden müssen, bleiben immer mehr oder weni¬
ger bedeutende Reste nach; von denen endlich zu 50 Kop. bis zu
einem Rubel brennt kaum der zehnte Theil auf. Dort jedoch, wo
ein grosse^ Zudrang von Menschen ist, wo Viele ihre Lichte vor
demselben Heiligenbilde aufstellen möchten, da werden die kaum
angebrannten Lichte, um den neuen Platz zu machen, wieder gleich
abgenommen und oft von einem besonders dazu angestellten Mönch
in einen bereit liegenden Kasten geworfen. Die Lichtstumpfe und
angebrannten Lichte werden dann entweder irgend einem Händler
verkauft oder, nachdem sie gereinigt worden, auch den Kirchgän¬
gern zu ermässigten Preisen angeboten. In grösseren Klöstern,
welche ihre Wachslichte selbst bereiten, geschieht es auch, dass die
Reste wieder eingeschmolzen und dann von Neuem verarbeitet wer-
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502
den. So kommt es, dass manche Klöster bis gegen 200 pCt. und
vielleicht noch mehr an den Wachslichten verdienen. Zum Beleg
dafür wollen wir nur anführen, dass in einem Nonnen-Kloster im
Jahre 1874 4 1 /* Pud Wachslichte für 137 Rbl. 50 Kop. gekauft wor¬
den waren; der Erlös dafür durch den Verkauf in der Kirche betrug
aber 374 Rbl. 91 Kop.
Die Summen, welche die Klöster jährlich durch den Verkauf der
Wachslichte einnehmen, sind nun sehr verschieden: während man
in einigen Klöstern nur einen Erlös von 58 Rbl., 88 Rbl. findet,
steigt die jährliche Einnahme in den grösseren Klöstern bis auf
12,671 Rbl., 20,000 Rbl., ja sogar 39,528 Rbl. (in Moskau), eine
Summe, welche in der That nichts weniger ab unbedeutend ist,
namentlich wenn man bedenkt, dass sie aus einzelnen Kopeken
zusammengeflossen ist.
Nächst den Wachslichtgeldern gehören hierher das Klingbeutel*
geld und das Büchsengeld. Das Erstere bringt, so viel man aus den
wenigen darüber vorhandenen Angaben schliessen kann, nicht ge¬
rade viel ein. In den grösseren Klöstern beträgt die Einnahme
im Allgemeinen ungefähr 1000—2000 Rbl., in den kleineren findet
man dagegen ein Mal sogar nur 2 Rbl. 15 Kop. als jährliche Ein¬
nahme notirt.
Bedeutender sind die Summen, welche die Klöster den vielen
Büchsen entnehmen, in welche die Kirchenbesucher ihre milden
Gaben niederzulegen pflegen: so finden wir z. B., dass das Kloster
Ssolowetzk im Gouvernement Archangel im Verlauf eines Jahres
9,962 Rbl. 91 Kop. diesen Büchsen entnommen hat. Es ist nicht
unwahrscheinlich, dass in manchen Klöstern auf diesem Wege noch
grössere Summen einkommen, namentlich im Haupt-Kloster von
Kijew wo, wie Hr. Rosstisslawlew versichert, wenigstens 200 Büch¬
sen und Teller die Andächtigen auffordem, der Kirche und ihrer
Nöthen zu gedenken.
Dann folgen in der Reihe der Kloster-Einkünfte die Einnahmen
von den bestellten Dank - und BifcGottesdiensten. Die Wallfahrer
und überhaupt die dem orthodox-griechischen Glauben Angehörigen
pflegen nicht selten in Folge irgend eines glücklichen Ereignisses
oder zur Abwendung von Unglücksfällen, in der Kirche Dank- oder
Bitt-Gottesdienste abhalten zu lassen. In der Regel kostet ein
solches ganz einfaches Dank- oder Bittgebet nicht weniger als einen
Rubel; je feierlicher der Besteller es aber zu haben wünscht, desto
mehr muss dafür entrichtet werden.
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503
Leider existiren jedoch nur von zehn Klöstern getrennte (nicht in
andere Summen eingeschlossene) Angaben darüber, wie gross die
Einnahmen dieser Art gewesen sind; das Minimum, welches wir in
diesen Angaben finden, beträgt 54 Rbl. jährlich, das Maximum (im
Moskauer Haupt-Kloster) 12,141 Rbl. Hr. Rosstisslawlew bezweifelt
es jedoch, dass diese Zahl richtig sein könne: seiner Meinung nach
müsste in diesem Kloster, welches Hunderttausende von Menschen
besuchen, um ihre Andacht zu verrichten, die Einnahme eine viel
grössere sein.
Weiter gehören dann in diese Kategorie der Klostereinkünfte die
Hostien - und Proskomidien» Gelder (npoc4>opuue h npocKOMHAHue
AOXoau). Kaum Einer von den Wallfahrern, welche an einer heiligen
Stätte ihre Andacht zu verrichten gekommen sind, verlässt die
Kirche, ohne sich eine Hostie (zu 3, 5 oder 10 Kop.) gekauft und
dieselbe dem Priester bei der Proskomidie 1 mit Beifügung irgend
einer Münze (conditio sine qua non) übergeben zu haben, damit er,
Theile von der Hostie abschneidend, den Namen der Lebenden
oder Todten, welche der die Hostie Darreichende ihm selbst nennt,
oder auf einem Zettelchen niedergeschrieben überreicht, vor Gott
gedenke.
Was nun zuerst die Hostiengelder betrifft (deren in den grösseren
Klöstern über 700,000 jährlich verkauft werden), so kann man an¬
nehmen, dass die Klöster durchschnittlich ungefähr 127 pCt. Rein¬
gewinn davon haben. Das Moskauer Hauptkloster hat z. B. (nach
dem offiziellen Klosterbericht) durch den Verkauf der Hostien
28,709 Rbl. eingenommen, während es für das zu den Hostien ver¬
brauchte Mehl, hoch gerechnet, gegen 11,000 Rbl. bezahlt hat.
Diese Summe des Ertrages ist jedoch iiach der durch authentische
Mittheilungen verbürgten Meinung des Verfassers viel zu gering
angesetzt, da schon allein in den drei Sommermonaten Juni, Juli,
August je 10,000 Hostien verabreicht worden sind.
In direktem Verhältniss zu diesen Hostiengeldern, stehen auch die
sogenannten Proskomidiengelder, obgleich freilich Manche es auch
unterlassen, dem Priester ihre Hostie zu übergeben. Wenn man
daher annimmt, dass im Moskauer Hauptkloster zu einer jeden von
den 749,729 verkauften Hostien, durchschnittlich nur 3 Kop. beige¬
legt worden sind (obgleich man oft mit 5, 10, 20, ja sogar mit
1 Proskomidie wird in der griechischen Kirche jener Theil der heiligen Handlung
während des Gottesdienstes genannt, in welchem das Brod zum Abendmahl gesegnet
wird.
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504
Rubeln für das besagte Gedenken der Namen vor Gott zahlt), so
erhält man die Summe von 22,491 Rbl. 87 Kop. als Beitrag der
Proskomidiengelder. Diese Summe wird jedoch jedenfalls zu niedrig
angesetzt sein. In den Klöstern zweiten und dritten Ranges ist
die Einnahme natürlich geringer: in manchen beträgt sie nur 100
bis 200 Rbl. jährlich.
Endlich müssen hier noch die Geldgeschenke und die freiwilligen
Spenden frommer Geber erwähnt werden. Das sind freilich nur
zufällige, nicht regelmässige Einnahmen, aber sie wiederholen sich
im grossen russischen Reich in mehr oder weniger beträchtlicher
Weise beständig und alljährlich, so dass sie hier auch mitgezählt
werden können. So sind hier Spenden zu verzeichnen im Betrage
von 250 Rbl., 306 Rbl., 1090 Rbl. u. s. w. mit beständiger Steige¬
rung bis zum Maximum von 900,000 Rbl. S. (Gräfin Anna Orlow)
eine Summe, welche wohl nur gering ist im Verhältniss zu der
Summe der Summen aller, den Klöstern dargebrachten Geldspenden.
Die Einkünfte der Klöster ausserhalb derselben .
Haben wir bisher nur von den Einkünften gesprochen, welche
den Klöstern innerhalb der Klostermauem selbst zufliessen, also so
zu sagen, von den inneren Einkünften, so haben wir jetzt noch der
äusseren Einkünfte zu gedenken, d. h. der Einnahmen, welche sie auf
verschiedene Weise von aussen beziehen. Hierher gehören zuerst
die Einnahmen der, von den Klöstern gebauten und unterhaltenen
Kapellen .
Viele Klöster besitzen nämlich in den Städten, an den Land¬
strassen, inDörfernbesonderft Kapellen,welche sie selbst erbaut haben,
oder die auch von frommen Menschen für sie errichtet worden sind.
Dabeitritt auch oft der Fall ein, dass diese Kapellen von den Klöstern,
denen sie eigentlich gehören, räumlich sehr weit entfernt sind, was
darin seine Erklärung finden mag, dass eben nicht jene Plätze aus- '
gewählt werden, welche irgend eine besondere Bedeutung in reli¬
giöser Hinsicht beanspruchen können, sondern diejenigen, welche
in Folge grossen Zusammenflusses von Menschen für die betreffenden
Kapellen recht einträglich zu werden versprechen.
Die Einnahmen, welche Klöster von solchen Kapellen beziehen,
sind nun sehr verschieden: während einige Kapellen nur einige
Hunderte von Rubeln einbringen, gibt es wieder andere, welche
ihren Besitzern Tausende, 10,000 Rbl., ja 100,000 Rbl. jährlich ein-
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5°5
tragen; das sind namentlich diejenigen Kapellen, welche in den
grossen Städten gelegen sind. Zu diesen letzteren gehört z. B. die,
für das Gusslitzkische Kloster von einem Kaufmann erbaute Kapelle
am Gostinnoi-Dwor in St. Petersburg, welche 12,000Rbl. jährlich ein¬
nehmen soll; ferner die Kapelle des Iwers’schen wunderthätigen
Bildes der Mutter Gottes in Moskau, welche dem Pererwin sehen
Kloster gehörend, demselben gegen 100,000 Rbl. S. jährlich ein¬
bringt; noch zwei andere Kapellen in Moskau haben eine jährliche
Einnahme von 40,000, resp. 15,000 Rbl. S.
In zweiter Reihe kommen bei dieser Gruppe von Klostereinkünften
die Einnahmen bei den feierlichen kirchlichen Prozessionen mit hei¬
ligen Bildern in Betracht. Solche Prozessionen dauern im Innern oft
Tage lang, Entfernungen von zehn, zwanzig, ja hundert Werst legen
die Mönche in feierlichem Umzug mit den Bildern zurück, der Ver¬
fasser führt sogar ein Beispiel an, wo eine solche Prozession über
6 Monate gedauert hat.
Hierbei gilt nun im Allgemeinen die Regel, dass alle Gelder,
welche auf diesem Wege einkommen, dem betreffenden Kloster und
denMönchendesselben zufliessen. Es geschieht hierbei wohl, dass die
Mönche, wenn sie während der Prozession in den Dörfern vor den hei¬
ligen Bildern Gottesdienst abhalten, dasj enige annehmen, was ihnen frei¬
willig gegeben wird. Doch noch öfter kommt es vor, dass sie selbst den
Preis dafür bestimmen, und wenn man diesen, in derRegel sehr hohen
Preis nicht zahlen will, in ihrem Umzug weiterziehen, ohne Gottesdienst
verrichtet zu haben. So kommt es, dass manche Klöster bedeu¬
tende Summen auf diese Weise einnehmen, d. h. dass, während
jetie Klöster, die willig hinnehmen, was ihnen geboten wird, unge¬
fähr 1000 Rbl. Einnahme erzielen, sich die Einnahme der anderen
Klöster, welche nur nach Uebereinkunft ihr Gebet vor den Bildern
verrichten, bis auf 15,000 Rbl. jährlich erstreckt.
Endlich sind hier noch die Kollekten-Gelder zu nennen. Es pflegen
nämlich alle Klöster durch ganz Russland ihre Kollekten-Sammler
zu senden, welche für die Kirchen und Klöster und deren Bedürf¬
nisse bei allen frommen Christen milde Gaben entgegenzunehmen
autorisirt sind. Solcher Kollekten-Sammler und Sammlerinnen, von
allen 30,000 russischen Kirchen und von 485 Klöstern ausgeschickt,
gibt cs in Russland unendlich viel: sollen doch zurZeit der Krö¬
nung des jetzt regierenden Kaisers im Jahre 1856 allein in Moskau
gegen 800 Sammler und Sammlerinnen anwesend gewesen sein.
Kns«. Rcvne. Bd. IX. 'i'i
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506
Trotzdem ist der Ertrag der Kollekten geringer, als man es sich
denken möchte; die grösste auf diese Weise zusammengebrachte
Summe beträgt 2,699 Rbl. 5 Kop.
Die Einkünfte der Klöster von den Friedhöfen .
Unter dieser Ueberschrift finden wir bei dem Verfasser nicht nur
Angaben über die Einkünfte der Klöster von den Friedhöfen, son¬
dern überhaupt Mittheilungen über Einnahmen, welche das Sterben
der Menschen den Klöstern einbringt
Beginnen wir zuerst mit den Gräbern. Um einen Begriff davon zu
geben, welche Einkünfte die Klöster aus dem Verkauf derselben zie¬
hen, wollen wir diePreise für die Gräber auf demFriedhof des Alexan-
der-Newsky Klosters in St. Petersburg anführen. Es ist daselbst der
ganze Friedhof in fünf Abtheilungen getheilt, und kostet ein Grab
in der ersten Abtheilung (eigentlich in der Kirche selbst) 500 Rbl., in
der zweiten Abtheilung 200 Rbl., in der dritten 150 Rbl., in der
vierten 100 Rbl. und endlich in der fünften 50 Rbl. Ausserdem
müssen für eine gemauerte Gruft 20 bis 40 Rbl., für eine einfache
Gruft 5 Rbl. entrichtet werden; ferner für das Recht ein Monument
zu setzen ebenfalls 5 Rbl.
Die Summen, welche das Alexander-Newsky Kloster auf diesem
Wege einnimmt, sind zwar nicht genau bekannt, von einem Dokument
jedoch, wonach die Beerdigungskosten eines in der fünften Ab-
theilungBestatteten35oRbl. betrugen, ausgehend, versucht Hr. Ross-
tisslawlew eine ungefähre Berechnung der Einnahmen aufzustellen,
eine Berechnung, die der Wahrheit wohl nahe kommen wird. Er
nimmt an, dass alljährlich durchschnittlich 10 Leichen in der ersten
Abtheilung, 20 in der zweiten, 30 in der dritten, 40 in der vierten
und 50 in der fünften in die Gruft gesenkt werden, dass die Beerdi¬
gungskosten in der ersten 1000 Rbl., in der zweiten600Rbl.,inder drit¬
ten 400, in der vierten 300 und in der fünften 200 Rbl. betragen. In
diesem Falle würde dann das Kloster dadurch 56,000 Rbl. einneh¬
men, eine Summe, welche gewiss nicht unbedeutend genannt werden
kann.
Ausser diesen Einkünften von den Gräbern und von der Zeremonie
der Einsegnung und der Bestattung der irdischen Hülle der Ver¬
storbenen, hat das Alexander-Newsky Kloster in dieser Beziehung
noch folgende Einnahmen : für das *eivige « Gedenken vor Gott des
Namens des Verstorbenen und für besondere Trauerliturgien und
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507
Seelenmessen am Geburtstage, Namenstage und Todestage des¬
selben 1000 Rbl., für das ewige Gedenken vor Gott bei der Früh¬
messe 200 Rbl., für alljährlich einmaliges Gedenken io Rbl., für
vierzig Tage lang abgehaltene Trauerliturgien mit Seelenmessen
200 Rbl., für eine Trauerliturgie und Seelenmesse unter Mitwirkung
aller Geistlichen ioo Rbl., unter Mitwirkung der Hälfte der Geist¬
lichen 50 Rbl., eines kleinen Theiles der Geistlichen 20 Rbl., für
vierzig Tage lang abgehaltene Seelenmessen allein 80 Rbl. u. s. w.
Wir beschränken uns in der Darlegung dieser Art Einkünfte auf
das Alexander-Newsky Kloster allein, da man sich darnach einen
ungefähren Begriff von den Einkünften auf diesem Gebiete der Kloster¬
einnahmen bilden kann. Wir bemerken nur, dass das Alexander-
Newsky-Kloster freilich in dieser Beziehung unter allen andern
Klöstern, die grössten Einnahmen erzielt; sonst mögen sie im
Allgemeinen wohl weniger bedeutend sein.
Die Einkünfte von den Gasthäusern und Fremdenhospizen .
Bei allen Klöstern findet man grössere oder kleinere Gasthäuser
und Hospize, in welchen die Wallfahrer und diejenigen, welche aus
der Ferne kommend, ihre Andacht in den Klöstern zu verrichten
wünschen, Aufnahme finden. Die Gasthäuser sind für die wohl¬
habenden Klassen bestimmt, die Hospize für die armen Leute.
Manche von diesen Gasthäusern sind nun so elegant und komfor¬
tabel eingerichtet, dass sie selbst den grösseren russischen Hotels
in St. Petersburg, Moskau und Kijew an die Seite gestellt werden
können. In solchen Gasthäusern existiren dann auch feste Preise
für die Miethe der Zimmer, und zwar zahlt man daselbst, je nach
dem Zimmer, in der Regel 50 Kop. bis 3 Rbl. pro Tag. Bei den
Gasthäusern anderer Klöster hingegen, welche nicht so gut einge¬
richtet sind, ist eine solche Taxe nicht vorhanden und zahlt man
daselbst dafür nach Belieben.
Viel schlechter ist es um die, für die armen Klassen bestimmten
Hospize bestellt, sie sind meist schmutzig, dumpf, klein, unbequem,
so dass die Pilger es oft vorziehen, unter freiem Himmel zu
nächtigen, statt in diesen Hospizen, wo sie für schlechtes Nacht¬
lager noch besonders zahlen müssen. So hatten sich z. B. im
Jahr 1874 am 15. August, in Kijew 72,000 Wallfahrer rings um das
Kloster gelagert und die Nacht unter freiem Himmel zugebracht.
33 *
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508
Die Einnahmen cTer Klöster auf diesem Gebiete erstrecken sich
von 372 Rbl. bis zu 23,760 Rbl. und mehr, welche Einnahmen
natürlich von dem Andrange des Publikums in Abhängigkeit
stehen.
Die kommerziellen Einkünfte der Klöster .
Die im vorigen Abschnitte berührten Gasthäuser und Hospize,
welche mit materiellem Vortheil von den Klöstern für die Pilger
unterhalten werden, bilden den Uebergang zu jener Gruppe von Ein¬
künften, welche wir als kommerzielle Einkünfte bezeichnen, da die¬
selben rein weltlich- kommerziellen Ursprunges sind, und in keiner
Weise mit dem rein geistlichen Wirken und Handeln des Mönch¬
standes in Verbindung stehen.
So vermiethen z. B. die Klöster, um ihre Einnahmen zu ver-
grössern, sowohl ausserhalb als auch innerhalb der Klostermauer
befindliche Räume als Magazine, Speicher u. s. w. Das Alexander-
Newsky-Kloster in St. Petersburg vermiethet seine Eiskeller und
hat davon einen Reingewinn von 5,050 Rbl. jährlich, das Höhlen-
Kloster in Kijew unterhält eine Buchdruckerei, welche dem Kloster
jährlich 20,000 Rbl. (nach anderen Schätzungen 100,000 Rbl.) ein¬
bringt; an der äusseren Mauer des Moskauer Dreifaltigkeits-
Klosters sind vom Kloster Magazine eingerichtet, von denen das¬
selbe eine Miethe von über 3,000 Rbl. bezieht, etc.
Ganz besonders interessant sind in dieser Hinsicht die Einkünfte
des Alexander-Newsky-Klosters.
I11 den vierziger Jahren hatten sich die St. Petersburger Korn¬
händler mit der Bitte an die Regierung gewandt, ihnen vor Feuers¬
gefahr sichere Kornspeicher zu errichten und dabei auf einen sehr
günstigen, dem Alexander-Nevvsky-Kloster gehörenden Platz hinge¬
wiesen. Da machte das Kloster der Regierung das Anerbieten
diese Kornspeicher für eigene Rechnung auf besagtem Platze er¬
richten zu wollen, worauf dieselbe endlich auch einging. Im Jahre
1847 begann das Kloster den Bau und führte ihn in wenigen Jahren
mit einem Kostenaufwande von 1,382,695 Rbl. zu Ende.
Als die 111 Kornspeicher und Vorrathskammern, die, wenn man
sie sich nebeneinander gestellt denkt, eine Strecke von 1,350 Faden,
also gegen 3 Werst Länge einnehmen würden, fertig waren, führte
das Kloster in den folgenden Jahren vier grosse vierstöckige Häuser
auf, so dass es nun mit den acht früheren Häusern 12 Häuser (mit
82 Fenster allein nach der Frontseite) besass.
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509
Füreinen jedender4i Kornspeicher lässt sich nun das Kloster jährlich
1200 bis 1500 Rbl. zahlen; für eine jede der 70 Vorrathskammern,
400 bis 600 Rbl.; somit würde die jährliche Einnahme sein: für die
Speicher (durchschnittlich zu 1,350 Rbl. gerechnet) 55,350 Rbl., für
die Vorrathskammern (durchschnittlich zu 500 Rbl. gerechnet)
35,000 Rbl., also im Ganzen 90,350 Rbl. Wenn man nun auch in
Betracht zieht, dass nicht immer Alles besetzt ist und diese Summe
um ein Drittel vermindert, so bleiben doch noch immer 50,000 bis
60,000 Rbl. nach, welche Summe im Allgemeinen auch stets ge¬
nannt wird, wenn von den Einkünften des Klosters, durch das Ver-
miethen dieser Räumlichkeiten die Rede ist.
Ausserdem hat dieses Kloster von den ihm gehörenden Häusern,
den freien Plätzen, den Gemüsegärten u. s. vv., die es verpachtet,
jährlich einen Reingewinn von 100,000 Rbl., so dass das Kloster
durch Verwerthung und Ausbeutung seines Grundeigenthums in
kommerzieller Weise mindestens 150,000 RbL S. jährlich ein¬
nimmt.
Freilich erzielen nicht alle Klöster solche Resultate: es gibt
Klöster, bei denen in dieser Hinsicht nur eine Einnahme von
21 Rbl. oder 50 Rbl. notirt ist, in anderen wieder, sind es nur einige
hundert Rubel, die eingenommen worden sind, und so steigert sich
dieses Einkommen weiter bis zu 296,621 Rbl. (die Klöster in
Moskau).
Bemerkenswerth ist es jedenfalls, dass in St. Petersburg und
Moskau die Klöster die bedeutendsten Hausbesitzer sind.
Zu den kommerziellen Einkünften rechnen wir endlich die Zinsen
von den in verschiedenen Banken deponirten oder in Staatspapieren
angelegten Kapitalien der Klöster.
Es sind in dieser Beziehung in dem Buche des Hrn. Rosstisslawlew
direkte Angaben von 167 Klöstern vorhanden, welche sich zu fol¬
gender Uebersicht ordnen lassen.
Unter diesen 167 Klöstern befindet sich kein einziges Kloster,
welches weniger als 5000 Rbl. besitzt, (es hat nämlich die schon ein
Mal genannte Gräfin Anna Orlow alle russischen Klöster in ihrem
Testament mit 5000 Rbl. bedacht).
5,ooobis
10,000 Rbl.
besitzen . .
. 17 Klöster
10,000 *
15,000 »
» . .
. 25 *
15,000 »
20,000 *
»
. 22 »
20,000 »
0
8
>0
CI
*
. 14 »
25,000 »
30,000 *
» .
. 21 *
Öigitized by CjOO^Ic
5*0
30,000 bis
3 5 ,OCX) Rbl. besitzen . . .
16 Klöster
35,000 »
40,000
* * ...
9 *
40,000 »
45,000
» » ...
6 »
45,000 »
50,000
» » ...
5 *
50,000 »
60,000
* » ...
7 »
60,000 »
70,000
* » ...
4 »
70,000 »
80,000
> > ...
3 *
80,000 »
90,000
» besitzt . . .
1 Kloster
90,000 »
100,000
» besitzen . . .
4 Klöster
100,000 »
120,000
» » ...
4 »
120,000 »
150,000
* * ...
2 >
150,000 »
200,000
» » ...
3 *
200,000 »
300,000
» besitzt . . .
1 Kloster
300,000 »
400,000
> » ...
1 »
752,618
* » ...
1 >
Diese 167 Klöster besitzen nun im Ganzen ein Kapital von
6,865,190 Rbl., es kommt also durchschnittlich auf jedes Kloster
41,108 Rbl. Nimmt man diese Durchschnittszahl als Norm an und
berechnet darnach den Betrag des Kapitals der übrigen 318 Klöster,
so erhält man 19,937,634 Rbl. als die Summe des in Staatspapieren
angelegten Eigenthums der Klöster, wovon sie (ä 4 pCt. gerechnet)
eine jährliche Einnahme von gegen 800,000 Rbl, beziehen. Es sind
jedoch berechtigte Gründe dafür vorhanden, dass ihr Vermögen
noch grösser ist, dass es gegen 23 Mill. beträgt, so dass die Zinsen
darauf mindestens 1 Mill. Rbl. ausmachen.
Die Summe aller Klostereinkünfte .
Für die Berechnung und ZusammenstellungderGesammtsummealler
Klostereinkünfte bieten sich grosse Schwierigkeiten dar, namentlich
desshalb, weil die vorhandenen Angaben nicht umfassend und nicht
genau genug sind. Glücklicher Weise besitzen wir jedoch in dieser
Beziehung einen festen Kern in einer Tabelle, in welcher wir in
möglichst genauer Weise die Summe aller Einkünfte von 91 Klöstern
angegeben finden. Dieser feste Kern mag den Ausgangspunkt der
Berechnung bilden. Da wir in derselben meist die armen und
weniger reichen und nur einzelne wenige sehr reiche Klöster ver¬
zeichnet finden, so brauchen wir nicht zu fürchten, dass wir im
Resultat eine zu hohe Zahl erhalten werden, ja, diese Zahl eher zu
niedrig sein wird, da eben die grössten und reichsten Klöster nicht in
den 91 genannten Klöstern enthalten sind.
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Von diesen 91 Klöstern haben eine jährliche Einnahme von:
1000 bis 2000 Rbl. . . . 2 Klöster
2000 »
3000
>
• • • 3
3000 *
4000
>
... 16
4000 »
5000
»
... 7
5000 »
6000
»
. . . II
6000 »
7000
»
. . . IO
7000 »
8000
»
... 6
8000 »
9000
»
... 4
9000 *
10,000
■
... 7
10,000 »
15,000
»
... 6
15,000 »
20,000
>
... 4
20,000 »
25,000
»
... 6
25,000 »
50,000
»
... 6
50,000 »
100,000
»
. . . 2
100,000 »
150,000
. . I
Diese 91 Klöster beziehen nun zusammen eine jährliche Einnahme
von 1,174,504, oder durchschnittlich ein jedes Kloster 12,906 Rbl.
Multiplizirt man diese Zahl mit 542 (340Mönchsklöster -f 145 Nonnen¬
klöster -f 57 erzbischöfliche Häuser [apxiepeöcKie AOMa] welche in
Hinsicht der Einkünfte mit den Klöstern auf einer Stufe stehen),
so erhalt man als den Betrag der jährlichen Einkünfte aller russi¬
scher Klöster und erzbischöflicher Häuser die Summe von 6,995,052
Rbl., also fast sieben Millionen Rbl. S.
So bedeutend diese Summe auch ist, so meint der Verfasser des
vorliegenden ^Versuchs einer Untersuchung der Klostereinkünfte»
doch, dass dieselbe noch zu niedrig angeschlagen 4 st, dass die
Summe der Einkünfte gegen neun Millione?i Rbl. beträgt, da bei der
Berechnung der von ihm gefundenen Durchschnittssumme der Ein¬
künfte der einzelnen Klöster, meist, wie schon erwähnt, nur die
weniger wohlhabenden Klöster in Betracht gezogen worden sind,
während die Klöster in den drei Eparchien: St. Petersburg, Moskau
und Kijew, welche allein jährlich schon fast 2 Vs Mili. Rbl. S. ein«
nehmen nicht in der Tabelle aufgenommen worden sind.
Wir schliessen hiermit unser Referat, denn was noch weiter in
dem Buche folgt: ein Vergleich der Einnahmen der Kirchen mit
denen der Klöster, die Beschreibung der Schätze der Kirchen an
edeln Metallen und Edelsteinen *, das Kapittel über den Mangel an
1 Hr. Rosstisslawlew bemerkt hierzu, dass diese Schätze unermässlich gross sind,
dass es unmöglich ist auch nur annähernd den nach Millionen von Rubeln zählenden
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512
Wohlthätigkeitssinn bei den russischen Klöstern u. s. w., interessirt
uns hier nicht, da wir über die, unserm Artikel gestellten Grenzen,
innerhalb welcher wir nur über die Einkünfte russischer Klöster
referiren wollten, hinauszugehen nicht beabsichtigen.
Der Idee des Verfassers folgend, welcher nur Beiträge zur Statistik
des Klosterwesens in Russland liefern, nicht aber kulturgeschicht¬
liche Skizzen (die ihm jedoch gegen seinen Willen aus der Feder
geflossen sind) entwerfen wollte, haben auch wir uns bemüht, nur
das herauszugreifen, was zur Statistik der Klostereinkünfte gehört,
indem wir die vielen, oft sehr charakteristischen kulturhistorischen
Züge ganz fortgelassen haben. Diese Einschränkung war jedoch
aus mehreren Gründen geboten. Jedenfalls enthält aber auch das
mitgetheilte statistische Material des Charakteristischen und Inte¬
ressanten genug, um die Aufmerksamkeit des Beobachters, in der
von uns in den einführenden Worten kurz dargelegten Richtung,
zu fesseln.
Der Bericht der Reichskontrole über den Badget¬
abschluss yon 1875.
Angesichts der vielfachen gehässigen Angriffe, welche die russi¬
schen Finanzen im Laufe der letzten Monate seitens der englischen
Presse erfahren haben, muss es unserer Finanzverwaltung eine nicht
geringe Genugthuung bereiten, mit einem Aktenstücke vor die
Oeffentlichkeit treten zu können, welches die Grundlosigkeit jener
Angriffe durch Ziffern und Thatsachen in beredtester Weise wider¬
legt und einen vollgiltigen Beweis des erfreulichen Fortschrittes
unserer finanziellen Verhältnisse liefert.
Werlh derselben zu bestimmen. Es mag daher genügen, wenn wir anführen, dass schon
allein die sogenannte Patriarchen-Schalzkammer in Moskau einen Werth von 20 Mil¬
lionen Rubel repräsentirt, dass die Gegenstände in den Schatzkammern des Moskauer
Uauptklosters und des Juijew-Klo sters zusammen einen Werth von 30 Millionen Rubel
besitzen. Darnach kann man sich eine ungefähre Vorstellung von dem kolossalen
Werth der Reichthümer an Gold, Silber und Edelsteinen in sämmtlichen 485 russi¬
schen Klöstern bilden.
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513
Wem die Finanzgeschichte des letzten Decenniums bekannt ist,
der kennt auch die gewaltigen Schwierigkeiten, welche auf diesem
Gebiete zu überwinden waren und auch wirklich überwunden worden
sind. Bereits im vergangenen Jahre ist an dieser Stelle auf die Er¬
folge hingewiesen worden, welche bei Abschluss des Etats von 1874
erreicht wurden; durfte man damals die Ergebnisse des Rechnungs¬
abschlusses als im höchsten Grade zufriedenstellend bezeichnen, so
lässt sich heute, bei Musterung des Kontrolberichtes des verflossenen
Jahres, mit Recht von glänzenden Erfolgen reden, da der Abschluss
pro 1875 einen Ueberschuss von nahe an 28 Millionen der effektiven
Einnahmen gegen die Aufstellungen des Voranschlages und nahe
an 19 Millionen gegen die Einnahmen des Jahres 1874 ergibt, wäh¬
rend die Ausgaben im Jahre 1875 um 95,000 Rbl. geringer als im
Vorjahre sind und schliesslich das Finanzministerium bei Antritt des
laufenden Etatsjahres über einen vollständig disponiblen Rest von
40 Millionen Rubel zu verfügen hatte.
I.
Bei Aufstellung des Budgets pro 1874 waren Einnahmen und
Ausgaben wie folgt veranschlagt worden:
Einnahmen:
Ordentliche Einnahmen.548,670,4x3 Rbl.
Ausserordentliche Einnahmen, speziell zu Eisen¬
bahn- und Hafenbauten verwendbar .... 8,190,780 *
Disponible Reste abgeschlossener Etats . . . 2,500,000 *
559,361,193 Rbl-
Ausgaben:
Ordentliche Ausgaben ......... 537,414,630 Rbl.
Spezialausgaben zu Eisenbahn- und Hafenbauten 8,190,780 »
Unvorhergesehene Ausgaben des Etats von 1875 4,000,000 »
Restzahlungen zur Bestreitung von Ausgaben
bereits abgeschlossener Etats. 2,500,000 »
Steuerausfälle. 4,000,000 »
556,105,410 Rbl.
Somit war ein Ueberschuss der Einnahmen über die Ausgaben im
Betrage von 3,255,783 Rbl. in Aussicht genommen.
Bei Ausführung des Etats ergaben
die Einnahmen .... 576,493,152 Rbl.
die Ausgaben .... 543,221,520 »
und somit beträgt der Saldo zu Gunsten der Ersteren 33,271,631 Rbl.
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Bevor wir die Ergebnisse des Kontoabschlusses einer eingehen¬
den Beleuchtung unterziehen, schalten wir hier eine kleine Tabelle
ein, aus welcher die Bewegungen der Staats-Einnahmen und Aus¬
gaben im Laufe des letzten Decenniums zu ersehen sind.
Einnahmen
Ausgaben
Defizit oder
Ueberschuss
M i 1 1
i 0 u e n
Rubel
1866. . .
• • • 352,7
413,3
— 60,6
1867 . . .
. . . 419,8
424,9
- 5,1
1868 . . .
. .. 421,6
441,3
— > 9,7
1869. . .
• • • 457,5
468,8
- >>,3
1870. . .
. . . 480,6
485,5
— 4,9
1871 . . .
. . . 508,2
499,7
+ 8,5
1872 . . .
. • • 523,05
523,07
— 0,02
1873 . . .
• . • 537,9
539,1
— 1,2
1874. . .
• • • 557,7
543,3
+ > 4,4
1875 . . .
• • • 576,5
543,2
+ 33,3
In einem Zeiträume von zehn Jahren haben sich somit, wie aus
unserer Tabelle ersichtlich, die Einnahmen um 223,2 Millionen
(63,6 pCt.) gesteigert, während die Zunahme in den Ausgaben bloss
129,9 Millionen (31,1 pCt.) betrug.
II.
Folgende Tabelle zeigt den Stand der Eingänge des Jahres 1875
aus den bedeutendsten Einnahmequellen im Vergleich mit den
Ziffern des Voranschlages und denen der Budgetperiode von 1874:
1
Ein¬
nahmen
des
Jahres
1874
Vor¬
anschlag
des
Jahres
1875
Effektive
Eingänge
des
Jahres
1875
Plus oder Minus
Gegen
1874
Gegen den
| Vor¬
anschlag
T
a u s e
i n d e
R u b
e 1
a) Steuern:
1
| •
Kopf- und Grundsteuern
1117,124116,139
"7.361
4 236
+ 1,222
Handelspatentsteuer. . .
1 13,517
15,338
14,606
■-j-1,088
- 732
Getränkesteuer.
200,793
186,185
197,364
-3,428
+ 1 1,179
Salzsteuer.
1 11,671
11,563
11,284
- 388
- 279
Tabaksaccise .
10,737
10,542
10,617
— 120
+ 75
Rübenzuckeraccise....
1 3,860
3,892
3,181
- 679
- 711
Zoll.
154,290
54,538
62,383
+ 5,993
+ 7,845
Stempelsteuer.
8,871
9,292
9,763
+ 892,4. 471
Registrationsgebühren. .
7,186
8,592
7,638
+ 4511
1- 954
Passgebühren.j
1 2,557!
2,5071
2,639
l+ 8214- 132
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Vor-
Effektive
1
* Ein
Ein-
Plus oder Minus
nahmen
anschlag
I
des
Jahres
1874
I des
! Jahres
1 <875
gange
des
Jahres !
>875
Gegen
1874
Gegen den
Vor¬
anschlag
) T
a u s 1
ende
R u b
e
1
b) Regalien:
Abgaben der Bergwerke . .
2,899
3.359
2,711
—
195
—
648
Münze.
1 4.223
4,729
3,576
—
647
—
1.153
Posten.
: 10,450
9,826
10,727
+
277
+
901
Telegraphen.
i
4,843
4,991
4,956
+
133
—
35
c) Staatsdomänen:
Pachtungen der Kronsdo-!
mänen.
6,052
5,402
5,724
—
328
+
322
Verkauf von Staatseigen-
thum.
4,012
3 - 99 1
4,166
+
154
+
175
Forsten.
Bergwerke und Metallurg!*-
10,413
10,817
10,973
+
560
+
156
sehe Etablissements . . .
3,694
5, 2 54
4,074
+
380
—
1,180
Eisenbahnen.
2,658
2,879
2,940
+
282
+
61
d) Diverse Einnahmen:
Technische Etablissements
und vom Staate veröffent¬
lichte Bücher und Zeit¬
schriften .
I
1
1
1 , 121
1,092
1
1,083
37
8
Erlös aus dem Verkauf der
wirthschaftlichen Produk¬
tion des Staates .
2,646
1,100
i
1,764
882
+
664
Spezialeinnahmen zur Ver¬
zinsung der Eisenbahn-
Obligationen .
10,042
20,151
17,069
+
7,027
3,082
Zinsen der im Besitz des i
Staates stehenden Kapita¬
lien, Gewinnste d. Reichs¬
bank etc .
i,
2,457
3,102
2,524
4-
67
578
Einnahmen Turkestans . . .
! 2,575
2,509
2,376
199
_
133
Einnahmen Transkaukasiens
Rückerstattete Staats-Dar¬
6,505
6,949
6,540
l +
34
—
409
lehen .
Zuschüsse an den Fiskus Sei¬
4,306
5,527
7,306
3,000
+
i ,779
tens der Städte u. anderer
Körperschaften .
4,886
5,877
5,949
+
1,063
+
72
Diverse zufällige Einnahmen
18,770, ”.0271
•
21,085
l-t-12,3151
1+10,057
Digitized by v^.ooQLe
Si6
In unserer Tabelle sind bloss die Haupt-Einnahmequellen aufge¬
zählt, d. h. alle diejenigen, deren Ertrag eine Million Rubel über¬
steigt. Bei Musterung aller Rubriken des Einnahmeetats stellt sich
heraus, dass im Vergleich zum Voranschlag 19 Einnahmequellen
zusammen einen Mehrertrag von 37,868,678 Rbl. lieferten, während
der Gesammtausfall in 18 Rubriken 10,045,937 Rbl. beträgt. Somit
beziffert sich der effektive Einnahmeüberschuss auf 27,822,739 Rbl.
Ein bedeutender Theil dieser Summe ist, wie unsere Tabelle zeigt,
der Mehreinnahme aus den zufälligen Einnahmen zu verdanken,
deren effektive Eingänge den budgetmässigen Voranschlag um
10 Millionen übertrafen. Dieses Ergebniss ist dem Umstande zuzu¬
schreiben, dass 1875 nahe an 12 Millionen rückständiger Summen
aus den Landesprästandenfonds, welcher im Laufe des Jahres liqui-
dirt wurde, den laufenden Einnahmen des Fiskus gutgeschrieben
wurden.
Sehen wir nun von dieser zufälligen Mehreinnahme ab, so ergibt
sich, dass der Plusertrag der Einnahmen von 1875 gegen den Vor¬
anschlag auf die Ueberschüsse aus der Getränkesteuer (11,179,000
Rbl.) und den Zöllen (7,845,000 Rbl.) zurückzuführen ist.
Von allen Staatseinnahmen ist es die Getränkesteuer, welche im
Laufe des letzten Dezenniums, unter dem Einflüsse mehrfacher Er¬
höhungen des Steuersatzes, die absolut bedeutendste Steigerung
aufzuweisen hat.
1866 .
Dieselbe lieferte:
Steuersatz pro Grad
reinen Alkohols
. . 5 Kop. . .
. 121
Mill. Rbl.
1867 .
. . 5 » . .
• 134
» J>
1868 .
. 5 ® • .
• 133
» »
1869 .
. . 5 *
• 137
» »
1870 .
. . 6 » ,
164
» *
1871 .
. . 6 ^ . .
• 174
> »
1872
. . 6 * .
172
» 1
1873 •
. . 7 * . .
• 179
1 »
1874 .
. . 7 ^ .
. 200
» »
1875 .
. . 7 * •
• 197
> *
Abgesehen von
der Erhöhung der Accise ist die Zunahme der
Getränkesteuer auch wesentlich durch eine Steigerung der Patent¬
steuer für Verkaufs- und Schanklokale bedingt, welche in den Jahren
1868, 1871 und 1874 erfolgte.
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5*7
Es ist bereits vielfach darauf hingewiesen worden, dass der Steuer-
fuss der GetränkesteueF sein Maximum erreicht, wenn nicht schon
überschritten hat. Der Rückgang aus dieser Einnahmequelle im
Jahre 1875 scheint diese Anschauung zu bestätigen. Der Kontrol-
bericht bezeichnet als Ursache dieser Mindereinnahme die Miss¬
ernten, von welchen manche Provinzen des Landes im Laufe des
Jahres heimgesucht wurden, die Erhöhung der Patentsteuer und
verschiedene andere Maassregeln, welche in letzter Zeit ergriffen
worden sind, um den Branntweinkonsum einzuschränken.
Die relative Zunahme der Zolleinkünfte, welche im Laufe des
letzten Dezenniums um das Doppelte gewachsen sind, übertrifft die¬
jenige der Getränkesteuer. Die Zölle ergaben:
18 66 .
. . 31,6 Mill. Rbl.
1871 .
• • 47.3
Mill.
Rbl.
1867 .
• • 36,9 »
»
1872 .
• • 53.5
»
>
1868 .
• • 35.9 *
»
1873, •
• • 54.2
»
»
1869
. . 40 »
1874 .
• • 54,2
»
»
1870
. . 41,8 •
»
1875 .
. . 62,3
•
•
Der starke Mehrertrag
der
Zölle im Jahre
1875 gegen
das
Vor-
jahr beruht unter Anderem auf dem bedeutenden Zuckerimport,
welcher seinerseits in der Rüben-Missernte in Russland eine Erklä¬
rung findet.
III.
Nachstehende Tabelle zeigt die Vertheilung der Ausgaben zwi¬
schen den verschiedenen Ressorts; den Ziffern des Jahres 1875 stel¬
len wir die der Jahre 1866 und 1870 vergleichsweise zur Seite:
1
1866
1870
1S75
Verhältniss
der Summen
von 1866
zu 1875
| Milli
O 14 C 11 1\
U 1> C 1
Staatsschuld.
7 SA
86
107,5
14 pCt.
Höhere Reichsinstitutionen
1,8
2,5
2,8
38,8 »
Heil. Synode.
5,8
8,7
9,6
50 *
Ministerium des Kais. Hauses
I!,2
10 3
• *,5
2,7 •
» » Auswärtigen . .
2,6
2,5
2,8
7i7 »
» » Krieges . .
129.7
•45,2
| 175,4
35,2 ■
* der Marine....
24
20,1
259
8
* » Finanzen .
79,8
91,2
79,7
o, 1 »
» » Domänen. • •
' 8,7
8.4
20.7
138 *
» des Innern . . . .
A
26,7
42
52,4
96 »
Digitized by v^.ooQLe
5i8
f
1
1
1866
*-
00 ,
0
1
00
^4
VA
1 Verhältniss
der Summen
: von 1866
zu 1875
| Millionen Rubel
Ministerium d. öffentl. Unterrichts 1
6,8 1
10,3
14,3
Ho,3pCt.
» d. Wegeverbindungen
23,8
38,3
*7,3 I
-27,3 »
» * Justiz.
7,8
9.9
12,6
61,6 »
Reichskontrole.
i,4
i ,9
2,1
50 .
Gestütewesen.
0,6
0,6
0,8
33.3 »
Justizverwaltung Polens . . .
—
0,9
0,9
- >
Civilverwaltung Transkaukasiens
4,2
6,3
6,9
64,3 »
1
413,3
1 485,5
1 543,2
1 3 1 ,4 pCt.
Es ist im Eingänge unserer Notiz erwähnt worden, dass nach dem
Budget pro 1875 die Ausgaben mit 547,414,630 Rbl. veranschlagt
waren; im Laufe des Jahres sind ausseretatsmässige Kredite im Be¬
trage von 21,955,767 Rbl. eröffnet worden, andererseits aber sind
eröffnete Kredite für 21,325,997 Rbl. nicht ausgenutzt worden. Doch
ist zu bemerken, dass von dieser letzten Summe bloss 6,143,352 Rbl.
effektiv zu andern Bedürfnissen verwendet worden sind, da der Rest
— 16,148,876 Rbl. — in Folge der Spezialbestimmungen für das
Rechnungswesen des Kriegs- und des Marine-Ministeriums — diesen
beiden Ressorts zur ferneren Verfügung verbleibt.
Andererseits muss hervorgehoben werden, dass von 21 Millionen,
welche zur Deckung extrabudgetarischer Ausgaben beansprucht
waren, 4,510,000 Rbl. nur auslagsvveise bewilligt wurden und dem
Fiskus aus Spezialfonds zurückzuerstatten sind, und dass 1,741,946
Rbl. von den Reservefonds des Marine- und des Kriegsministeriums
bestritten wurden. Demzufolge dürfen die ausseretatsmässigen Kre¬
dite des Jahres 1875 bloss mit 15,703,820 Rbl. beziffert werden.
Diese bei Aufstellung des Voranschlages nicht berücksichtigten
Ausgaben konnten aus den Mitteln des laufenden Etats gedeckt
werden, und zwar durch die 4 Millionen, welche das Budget zu un¬
vorhergesehenen Ausgaben ausgeworfen hatte, durch die 4 Millionen,
welche der Voranschlag zur Deckung eines eventuellen Steuer¬
ausfalles bestimmt hatte, ferner durch das Plus von 3,255,783 Rbl.
in den Einnahmen, welches bei Aufstellung des Etats in Aussicht
genommen war und schliesslich durch die 6,143,352 Rbl. eröffneter
Kredite, welche bei Abschluss des Etats disponibel wurden. Somit
verblieb nach Bestreitung aller unvorhergesehener Ausgaben noch
ein freier Rest von 1,695,314 Rbl.
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519
Der Betrag der ausseretatmässigen Kredite ist im Laufe der letz¬
ten Jahre in einer erfreulichen Abnahme begriffen. 1871 betrug die
Summe derselben 35,7 Mill. oder 7 ] /t pCt. der budgetmässig eröff-
neten Kredite,
1872 . . . 34,5 Millionen, oder 7 1 /2 pCt.
1873 . . . 2 6,6 * * 5 1 /* »
1874 . . . 23,7 * » 4V2 »
1875 . . . 15,7 * » 2 3 /4 »
Zwischen den verschiedenen Ressorts vertheilen sich die ausscr-
etatsmässigen Kredite folgendermaassen:
Minist, der Finanzen 4,597,i56Rbl. ! ~ 29V2 pCt. d. Gesammtsumme
» d.Kais.Hauses 2,583,976
»
= i6‘/2
»
»
9
» • Innern . . . 2,440,158
»
= I5V2
»
9
9
> » Krieges. . . 1,795,616
»
= II 1 /*
»
9
9
» * Domänen. . 1,521,082
»
= 9 3 A
»
9
9
Höhere Reichsinstit. 819,051
»
= 5 7 «
»
9
9
Civilverw.Transkauk. 694,475
»
= 47 *
9
9
9
Alle übrigen Ress. . 1,252,307
»
= 7 Vs
9
9
9
•
In Hinsicht auf die Natur der Verwendung lassen sich die ausser-
etatsmässigen Ausgaben unter folgende Hauptgruppen rubriziren:
Ausgaben, welche bei Aufstellung des Budgets
bloss approximativ geschätzt werden konnten
und bei der Ausführung, in Folge von Preis¬
erhöhungen etc., die Berechnungen des Etats
übertrafen.
Unvorhergesehene ausserordentliche Ausgaben
Bauten und sonstige Unternehmungen, welche nach
Aufstellung des Etats ausgeführt werden mussten
Gehaltszulagen an Beamte und Gratifikationen . .
Summen zur Verfügung S. M. des Kaisers . . .
Unterhaltungskosten neu kreirter Behörden . . .
Hülfeleistungen an Private und an Korporationen in
Folge von Missernten, Feuersbrünsten und ähn¬
licher Unglücksfalle.
Gehalte zur Disposition gestellter Beamten . . .
1 Davon sind übrigens bloss 1,422,840 Rbl. 7iir Deckung von Spezialbedürfnissen
des Finanzministeriums beansprucht worden.
5,409,103 Rbl
5,350,460 »
1,652,446 »
1,620,387 »
1,077,074 »
432,673 »-
102,531 »
59,147 »
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520
IV.
«Die Ausführung des Budgets von 1875 heisst es zum Schlüsse
im Berichte der Reichskontrole, «verdient als im höchsten Grade
zufriedenstellend betrachtet zu werden : die Einnahmen übertreffen
die Ausgaben in einem bis jetzt noch nicht dagewesenen Maasse;
die ausseretatsmässigen Kredite dagegen sind bei Weitem geringer
als in allen vorhergehenden Jahren, schliesslich ist der, in unserer
Finanzpraxis sehr seltene Fall einer, wenngleich geringen Verminde¬
rung der Ausgaben gegen das Vorjahr, eingetreten.
«Am 1. Januar 1876 stand dem Fiskus eine vollständig disponible
Summe von 40 Millionen Rubel zu Gebote, und es ist selten, nicht
bloss in Russland, sondern auch in andern Staaten, dass ein Finanz¬
minister ein neues Jahr unter so glänzenden Auspizien antreten darf.
«Der Voranschlag Hess bereits eine günstige Lage voraussehen,
da ein Ueberschuss von mehr als 3 Millionen in Aussicht gestellt
war; in Wirklichkeit haben die Eingänge die Ziffern des Voranschla¬
ges um 27,822,739 Rbl. übertroffen und die Eingänge des Vorjahres
um 18,759,^61 Rbl.
«Da jedoch unter den Eingängen sich, wie oben erwähnt, eine ausser¬
ordentliche Einnahme von nahe an 12 Millionen befindet, so lässt
sich nicht verhehlen, dass in Wirklichkeit das Anwachsen der öffent¬
lichen Einnahmen mit der Progression der letzten Jahre nicht Schritt
gehalten hat. Denn wäre der Landesprästandenfonds rechtzeitig
liquidirt worden, so wären die Einnahmen der Vorjahre bedeutender,
die hingegen des Jahres 1875 um ebensoviel geringer gewesen; ohne
diesen ausserordentlichen Eingang von 12 Millionen wäre die Zu¬
nahme der Einnahmen von 1875 im Vergleich zu 1874 bloss
6,812,778 Rbl. gewesen.
«Die bemerkenswerthe Elastizität, welche unsere Staatseinnahmen
während der letzten Jahre besessen haben, ist zwei Ursachen zuzu-
schreiben: erstens den Reformen auf dem Gebiete der Besteuerung
und zweitens der Entwickelung der Produktionskräfte des Landes,
— eine Folge der Bauernemanzipation, des Ausbaues des Eisen¬
bahnnetzes, der Justizreform, der Verbesserung des Zollregimes,
der Entwickelung des Kredits und des Bankwesens und namentlich
des Friedens, dessen Russland unter der gegenwärtigen Regierung
genossen; alles das hat unser Land einen bis dahin noch nie vor¬
handen gewesenen Grad des Wohlstandes erreichen lassen.
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«Auf dem Gebiete des Steuerwesens treten die Früchte einer
Reform gewöhnlich ziemlich bald zu Tage, und es lässt sich an¬
nehmen, dass diejenigen Reformen, welchen mehrere unserer Ein¬
nahmequellen unterworfen worden sind, bereits ihr volles Resultat
geliefert haben; somit bleibt als wirkendes Agens einer weiteren
Einnahmevermehrung bloss jenes zweite Moment, der Fortschritt
des nationalen Wohlstandes, welcher die Produktivität der Steuern
erhöht, übrig.
«Die russischen Staatseinnahmen werden somit voraussichtlich
in Zukunft diesen natürlichen Fortschritt aufweisen, wenn nicht von
Aussen her wirkende Ursachen die friedliche Entwickelung des
Landes stören; doch lässt sich nicht erwarten, dass ohne neue
Steuern, oder eine Erhöhung der bestehenden, unsere Staatsein¬
künfte von Jahr zu Jahr sich in derselben rapiden Progression ver¬
mehren werden, wie im Laufe des verflossenen Dezenniums.»
P. S.
Bericht über die Operationen der Reichs-Kredit-
Anstalten im Jahre 1875.
In der Jahres-Sitzung des Conseils der Reichs-Kredit-Anstalten,
welche am i. (13.) Dezember d. J. stattfand, erstattete der Finanz¬
minister folgenden Bericht über die Hauptresultate der Operationen
während des Jahres 1875:
I. Kommission zur Tilgung der Staatsschuld.
Am Anfang des Jahres 1875 waren im Hauptbuch der Staats¬
schuld eingetragen:
1. Kündbare Schuld,
a) Ausland:
5 pCt. fl. holländ. 93,553,000
5 . Pfd. St. 4,794,700
5 » Pap.-Rbl. 22,500
4*/j pCt. Pfd. St. 8,100,000
4 pCt Pap.-Rb l. 18,600,000
lm Ganzen fl. holl. 93,553,000
Pfd. St. 12,894,700
Pap.-Rbl. 18,622,500
b) Inland;
5 pCt. Pap.-Rbl. 215,553,750
4 »
Met.-Rbl.
50,409,000
2. Unkündbare Schuld.
a) Ausland:
5 pCt.
Pfd. St.
15,000,000
5 *
Met.-Rbl.
80,800,0x0
S ■
Pap.-Rbl.
55,709,78°
3 *
Pfd. St.
5,148,700
Im Ganzen Pfd. St.
20,148,700
Met.-Rbl.
80,800,010
Pap.-Rbl.
55 . 709,780
34
&b«I, Berat« Bd« IX«
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$22
b) Inland:
6 pCt. Pap.-Rbl. 47,123,772 Totalsumme fl. holl. 93,553,000
5 » » 288,377 Pfd. St. 33,043,400
4 » » 1 53,865,22 5 Met.-Rbl. 131,209,010
Im Ganzen P.-Rbl. 201,277,374 Pap.-Rbl. 491,163,404
Im Verlaufe des Rechnungs-Jahres 1875 ist getilgt worden:
1. An kündbarer Schuld: 2. An unkündbarer Schuld:
a) Ausland: a) Ausland:
5 pCt. fl. holländ. 1,685,000 5 pCt. Met.-Rbl. 2,715,200
5 » Pfd. St. 77,100 5 » Pap.-Rbl. 2,611,600
4' 8 pCt. » » 2jo,ooo 3 » Pfd. St. 366,700
4 pCt. Pap.-Rbl;._1,675,000 b) Inland:
Im Ganzen fl. holi. 1,685,000 6 pCt. Pap.-Rbl. 516,662
Pfd^St. 287,100 4 , , 3,326
Pap.-Rbl. 1,675,000 Im Ganzen Pap.-Rbl. 51^988
b ) Inland: Totalsumme fl holl. 1,685,000
5 pCt. Pap.-Rbl. 1,343,800 Pfd. St. 653,800
4 » Met.-Rbl. 983,400 Met.-Rbl. 3,698,600
Pap.-Rbl. 6,150,388
Beim Beginn des Rechnungsjahres 1876 Belief sich der Betrag
der Staatsschuld auf:
1. Kündbare Schuld: 2. Unkündbare Schuld:
a) Ausland:
5 pCt. fl. holl. 91,868,000
5 » Pfd. St. 4,717,600
5 * Pap.-Rbl. 22,500
4*/j pCt. Pfd. St. 7,890,000
4 pCt. Pap.-Rbl. 16,925,000
Im Ganzen fl. holl. 91,868,000
Pfd. St. 12,607,600
Pap.-Rbl. 16,947,500
b) Inland :
5 pCt. Pap.-Rbl. 214,209,950
4 » Met.-Rbl. 49,425,600
a) Ausland :
5 pCt. Pfd. St. 15,000,000
5 » Met.-Rbl. 78,084,810
5 » Pap.-Rbl. 53,098,180
3 » Pfd. St. 4,782,000
Im Ganzen Pfd. St. 19,782,000
Met.-Rbl. 78,084,810
Pap.-Rbl. 53,098,180
b) Inland :
6 pCt. Pap.-Rbl. 46,607,109
5 * • 288,377
4 » » 153,861,89 9
Im Ganzen P.-Rbl. 200,757,385
Totalsumme fl. holl. 91,868,000
Pfd. St. 32,389,600
Met.-Rbl. 127,510,410
Pap.-Rbl. 485,013,015
Aus dem Vorhergegangenen ergibt sich, dass während des
Rechnungsjahres 1875 die im Hauptbuche eingetragene Staatsschuld
sich verringert hat um 1,685,000 fl. holländisch, 653,800 Pfd. St.,
3,698,690 Met.-Rbl. und um 6,150,389 Pap.-Rbl., das ist im Ganzen
ungefähr um 16,905,532 Pap.-Rbl.
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523
Ausser der im Hauptbuche eingetragenen Schuld ist der Reichs-
Schatz noch mit folgenden Posten belastet:
1. Reichsschatzbillete. Im Jahre 1875 waren davon 72 Serien in
Cirkulation, jede zu 3 Mill. Rbl. = 216 Mill. Rbl. Diese Zahl hat
sich bis zum I. Januar 1876 nicht verändert.
2. Schatz des Königreichs Polen. Der Werth der sich in Cirku¬
lation befindlichen Papiere betrug 100,000 Rbl. Dieselben sind im
Jahre 1875 sämmtlich definitiv getilgt worden laut Ukas vom 25.
Juni (7. Juli) 1863.
3 4 pCt. Obligationen des Königreichs Polen. Am 1. Januar 1875
betrug diese Schuld 23,052,900 Rbl., dieselbe ist durch die ent¬
sprechende Abzahlung im Jahre 1875 auf 21,529,598 Rbl. vermin¬
dert worden.
4. Schuld an die Boden-Kredit-Gesellschaft des Königreichs Polen,
an die Polnische Bank und an Verschiedene. Der Betrag dieser
Schulden war am 1. Januar 1875 *. 5,421,360 Rbl.; am Schluss der
Jahresrechnung war derselbe auf 4,660,763 Rbl. gebracht worden,
und zwar durch die entsprechende Amortisation und mittelst vor¬
zeitiger Zahlung einiger Schulden durch Werthpapiere, welche dem
Reichsschatz gehörten.
5. Konsolidirte Eisenbahn-Obligationen. Am 1. Januar 1875 be¬
trug die Summe der noch in Cirkulation befindlichen konsolidirten
Obligationen der russischen Eisenbahnen 1., 2., 3. und 4. Emission
53,882,200 Pfd. St. Im Laufe des Jahres 1875 ist eine fünfte Emis¬
sion dieser Obligationen ausgeführt worden im Betrage von 15 Mill.
Pfd. St. an Stelle des Obligationen-Kapitals der Eisenbahnen:
Poti - Tiflis, Rjashsk - Wjasma, Rostow-Wladikawkas, Morschank-
Ssysran, Libau (Strecke Radziwilischsky), Nowo-Torshok (Strecke
von Nowo-Torshok bis Rshew), Weichselbahn, Fastowo, Orenburg,
Landwarovvo-Romny, Mitau, Baltische (Zweigbahn nach Dorpat),
Brest - Grajewo. Nach der durch Ziehung stattgehabten statut-
gemässen Amortisation belief sich die Summe dieser Werthpapiere
für alle Emissionen am 1. Januar 1876 auf 68,808,000 Pfd. St.
6. Als Zahlung verabfolgte Liquidationsscheine: a) Guthaben des
früheren Herzogthums Warschau und b) Lieferungen an russische
Truppen während der Jahre 1815, 1816 und 1831 im Ganzen für
15,964,913 Rbl. Die Tilgung dieser Scheine geschieht entweder
dyrch Annahme derselben zum Nominalwerthe als Zahlung der bis
zum 1. Januar 1869 rückständig gebliebenen Guthaben des Reichs¬
schatzes oder durch Rückkauf zum Börsenkurse.
Am 1. Januar 1875 belief sich die Summe dieser Scheine auf
414,760 Rbl. und bei Beginn des Rechnungsjahres 1876 betrug die¬
selbe 343,060 Rbl.
7. Liquidationsbriefe des Königreichs Polen, welche den Grund¬
besitzern des Königreichs als Entschädigung für die den freigelasse-
nen Bauern abgetretenen Ländereien übergeben wurden. Der Betrag
dieser am 1. Januar 1875 noch in Cirkulation befindlichen Papiere
34 *
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524
war 55,773»830 Rbl., derselbe ist durch Amortisation im Laufe des
Rechnungsjahres auf 54.795,104 Rbl. reduzirt worden.
Die Gesa’mmtsumme der Schulden des Reichsschatzes, welche im
Hauptbuch nicht eingetragen waren, belief sich am 1. Januar 1876
auf 68,808,000 Pfd.St. und 297,328,525 Pap.-Rbl. d.h.also 14,925,800
Pfd. St. mehr, und 3,434,325 Pap.-Rbl. weniger als im Jahre 1875.
Um diese Nachrichten über den Stand der Kreditverhältnisse des
Reichsschatzes im Jahre 1875 zu vervollständigen, glaube ich, wie
früher, die Beträge seiner Forderungen mittheilen zu müssen, welche
aus vom Staate gewährten Darlehen entstehen. Diese Guthaben kön¬
nen in folgende Kategorien gebracht werden:
1. Schulden der Eisenbahngesellschaften:
a) Darlehen der Jahre 1857, 1 859, 1862 und 1863, zur Vollendung
der der Grossen Russischen Eisenbahn-Gesellschaft übergebenen
Linien. Auf diese Darlehen ist im Jahre 1875 keine Abzahlung
geleistet worden.
Am 1. Januar 1876 belief sich das Kapital derselben nebst Zinsen
auf.Pap.-Rbl. 43,326,713.
b) Darlehen, welches der Grossen Russischen Eisenbahn-Gesell¬
schaft gewährt wurde, als die Aufhebung des Kontraktes mit Gebr.
Wynans statt fand — bei Gelegenheit der Uebernahme der Nikolai-
Bahn 1869. Es wurden an Zinsen und Kapital auf dieses Darlehen be¬
zahlt: 2,211,380 Rbl. so dass diese Gesellschaft am 1. Januar 1876 dem
Reichsschatz an Kapital und Zinsen noch schuldete Rbl. 3,751,181.
c) Darlehen der Jahre 1869, 1870, 1871, 1872., 1873, 1874 und
1875 an die Eisenbahn-Gesellschaften Dünaburg-Witebsk, Orel-Wi¬
tebsk, Riga-Dünaburg, Moskau-Rjasan, Rjasan-Koslow und Wolga-
Don um ihren Fahrpark zu vergrössern. Auf diese Darlehen wurden
im Jahre 1875 833,038 Rbl. bezahlt und am 1 Januar 1876 blieb dem
Schatze an Kapital und Zinsen ein Guthaben von
Pap.-Rbl, 14,381,685.
und Pf. St. 642,150.
d) Darlehen der Jahre 1871, 1872, 1873, 1874 und 1875 an die
Eisenbahn-Gesellschaften Tambow-Koslow, Grjasy-Zarizin, Libau
und Konstantinowo, um die Deficite des Betriebes zu decken und
um ein Reservekapital zu bilden. Da im Jahre 1875 keine Zah¬
lung auf diese Darlehen gemacht wurde, so belief sich die Summe
derselben am 1. Januar 1876 an Kapital und Zinsen auf
Pap.-Rbl. 1,872,740.
e) Darlehen der Jahre 1870, 1871, 1872, 1873, 1874 und 1875 an
die Eisenbahn-Gesellschaft von Konstantinowo für die Herstellung die¬
ser Linie. Es wurde im Jahr 1875 auf diese Darlehen keine Zahlung
geleistet, der Betrag derselben war am 1. Januar 1876 an Kapital und
Zinsen.Met.-Rbl. 3,643,702.
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$ 2 $
f) Darlehen, welche in den Jahren 1873 bis 1875 an Eisenbahn
Gesellschaften und an Verschiedene gegen Unterpfand von Eisen¬
bahn-Aktien gewährt wurden. Von diesen Darlehen wurden im Ver¬
laufe des Rechnungsjahres zurückerstattet für Pap.-Rbl. 2,795,665
und es verblieb dem Schatze am 1. Januar 1876 an Kapital und Zinsen
ein Guthaben von.• . . . Met.-Rbl. 2,500,000.
und Pap.-Rbl. 6,634,190.
g) Darlehen in den Jahren 1871 bis 1875 zur Zahlung der Zinsen
der Tambow-Ssaratow und Brest-Grajewo-Eisenbahn-Aktien. Auf
diese Darlehen hat die erste dieser Gesellschaften im Verlaufe des
Jahres 1875 38,515 Rbl. zurückgezahlt, so dass diese Gesellschaften
am 1. Januar 1876 dem Schatze an Kapital und Zinsen noch schul¬
deten.. . . Pap.-Rbl. 1,156,660.
h) Vom Staate, während der Jahre 1869 bis 1874 geleistete Zah¬
lungen an Eisenbahn-Gesellschaften auf deren Obligationen-Kapi-
tale, welche zu den Emissionen der konsolidirten Obligationen der
russischen Eisenbahnen gehören und zur Verfügung der Regierung
geblieben sind, nämlich an die Gesellschaften der Linien: Schuja-
Iwanowo, Woronesh-Rostow, Moskau-Brest, Grjasi-Zarizin (mit der
Zweigbahn auf der Station Urupinskaja), Odessa, Kijew-Brest, Moskau-
Kursk, Jaroslaw-Wologda, Tambow-Ssaratow, Libau (mit der Zweig¬
bahn bei Radzivilischky), Charkow-Nikolajew, Riga Bolderaa, Mitau,
Poti-Tiflis, Nowotorshok, Morschansk-Sysrane, Landwarowo-Romny,
Lozow-Ssewastopol, Rostow-Wladikawkas, Rjashk-Wjasma, Oren-
burg, Fastowo, der Weichsel-Brest-Grajewo, des Ural, der Baltischen
Bahn und von Rjashk-Morschansk. Im Jahre 1875 ist auf diese Vor¬
schüsse 7,176,964 Met. Rbl. zurückgezahlt worden und am 1. Januar
1876 verblieb dem Schatze an Kapital und Zinsen ein Guthaben von
Met.-Rbl. 426,180,374.
i) Vorschüsse, welche während der Jahre 1872 bis 1874, auf noch
zu emittirende Ergänzungs-Obligationen gegeben worden sind an
folgende Eisenbahn-Gesellschaften: Grjasi-Zarizin, Riga-Bolderaa,
Tambow-Koslow, Nowgorod, Charkow-Nikolajew, Kursk-Charkow-
Asow, Orel-Grjasi, Libau, Lozow-Ssewastopol, Koslow-Woronesh-
Rostow, Kijew-Brest, Moskau-Brest, Morschansk-Sysran undTambow-
Ssaratow. Es sind auf diese Vorschüsse im Jahre 1875 keine Zahlun¬
gen geleistet werden, die Forderungen des Schatzes beliefen sich am
1. Januar 1876 an Kapital und Zinsen auf
Pap.-Rbl. 2,928,141.
Met.-Rbl. 14,669,974.
k) Vorschüsse, welche in den Jahren 1861 bis 1876 geleistet wor¬
den sind zur Zahlung der Zinsen und zur Amortisation der garantirten
Eisenbahn-Aktien und Obligationen, nach Abzug der von gewissen
Gesellschaften im Jahre 1875 zurückgezahlten 764,043 Pap.-Rbl.
Pap.-Rbl. 142,463,590.
Pfd. St. i, 4 I 3 . 352 -
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526
Der Betrag an Zinsen und Amortisation fiir die vom Staate garan-
tirten Aktien und Obligationen verschiedener Eisenbahn-Gesell¬
schaften belief sich am i. Januar 1876 mit Einschluss der Obliga¬
tionen der Nikolaibahn 1. und 2. Emission (7,200,000 Rbl.) auf
16,845,496Met.-Rbl., 538,935 Pfd. St. und 8,421,141 Pap.-Rbl; diese
Summe hat sich im Verlaufe des Rechnungsjahres 1875 um 1,195,106
Met.-Rbl. vergrössert. Am 1. Januar 1876 ergaben sich daher fol¬
gende Summen:
Met.-Rbl. 18,040,602.
Pfd. St. 53 ^, 935 -
Pap.-R bl. 8,421,14 1.
In Ganzen Pap.-Rbl. 35,047,983.
Der Reichsschatz hat im Verlaufe des Rechnungsjahres nur 8,860,090
Pap.-Rbl. zu zahlen gehabt. 8 Eisenbahn-Gesellschaften haben im
Jahre 1875 keine Vorschüsse verlangt, nämlich: die Gesellschaften
Grjasi-Zarizin, Riga-Dünaburg, Koslow-Woronesh-Rostow, Kursks
Kijew, Moskau-Rjasan, die Grosse Eisenbahn-Gesellschaft, Moskau-
Jaroslawl und Rjasan-Koslow.
Die anderen Gesellschaften haben Garantie-Vorschüsse erhalten
in nachstehendem Verhältniss vom Betrage der Garantien und zwar:
Rjashsk-Wjasma . . 100 pCt,
Lozow-Ssewastopol .100 *
Morschansk-Ssysran 100 »
Orel-Grjasy. IOO »
Poti-Tiflis. IOO *
Wolga-Don.100 »
Moskau Brest .... 98,04 >
Rjashsk-Morschansk 96,46 *
Lodz. 73,08»
Baltische. 65*36 pCt.
Warschau-Bromberg 53,75 *
Orel-Witebsk .... 50 »
Charkow-Nikolajew. 48,50 •
Dünaburg-Witebsk . 43,77 »
Mitau.40,53 *
Schuja-Iwanowo . . 33,92 »
Kursk-Charkow-Asow 18,04 »
Warschau-Terespol. 17,86 »
Der Gesammt-Betrag der Forderungen des Reichsschätzes an die
Eisenbahn-Gesellschaften belief sich am 1. Januar 1875 auf 205,609,099
Pap.-Rbl. und 397,501,598 Met.Rbl. und am 1. Januar 1876 auf
216,514,900 Pap.-Rbl. und 459,840,950 Met.-Rbl.
2. Darlehen des Reichsschatzes an Vereine an Städte und
an Private des Kaiserreichs und des Königreichs Polen.
Am 1. Januar 1875 war der Betrag dieser Aussen-
stände.31,379,245.
Im Laufe des Jahres sind auf dieses Conto für neue
Darlehen und Fristverlängerungen von verfallenen Zin¬
sen eingetragen worden. 2,162,772.
Die Eingänge und die Annulirungen betragen wäh¬
rend des Rechnungsjahres. 2,375,866.
Am 1. Januar 1876 verblieben also.31,166,151.
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517
Nämlich:
i) Darlehen bei Gelegenheit von Feuerbrünsten und
anderen Unglücksfällen. . ,. 2,566,901.
2} Verschiedene Darlehen.24,572,850.
3) Darlehen zum Ankauf von Immobilien in den
westlichen Provinzen. 2,644,905.
4) Darlehen aus dem Erziehungsfonds. 924,544.
5) Darlehen zur Hebung der Landwirtschaft im
Königreich Poten.,. . . 293,327.
6) Auf Hypothek belassene Kapitalien auf Hütten¬
werke, Fabriken und industrielle Darlehen aus Fonds,
welche speziell für diesen Zweck für das Königreich
Polen bestimmt worden sind. 163,624.
Die Gesammt-Summe der Aussenstände des Reichsschatzes be¬
lief sich am i.Januar 1875 auf 236,988,344 Pap.-Rbl. und 397,501,598
Met.-Rbl. und am 1. Januar 1876 auf 247,681,051 Pap.-Rbl. und
459,840,950 Met. Rbl. das ist um 10,092,707 Pap. Rbl. und um
62,339,352 Met. Rbl., also im Ganzen um 88,225,698 Pap.-Rbl. mehr
als im Vorjahre.
//. Staatsbank .
Die Rechnungsablage der Staatsbank ist in zwei Theile eingetheilt,
von denen der eine die für Rechnung des Reichsschatzes ausgeführ¬
ten Operationen, der andere die kommerziellen Operationen der
Bank mit ihren Filialen und Abtheilungen betrifft.
A. Operationen für Rechnung des Reichsschatz'es.
1) Umtausch von Banknoten gegen neue, von grossen Appoints
gegen kleine und umgekehrt, von Barren und Münze gegen Kredit-
billete, Rubel für Rubel.
Am 1. Januar 1875 betrug der Gesammt-Werth der in Cirkulation
befindlichen Kreditbillete 797,313480.
Diese Zahl ist im Rechnungsjahre 1875 unverändert geblieben und
wurde am 1. Januar 1876 in die Bilanz der Staatsbank aufgenommen.
Der Fonds, welcher als Garantie für den Umtausch von Kreditbil-
leten dient, betrug am 1. Januar 1875 . . . . Rbl. 231,227,085
und zwar:
a) an Münzen und in Barren.* . 229,398,372
b) an Staatspapieren: Billete der zweiten ausländi*
sehen 4‘/a pCt Anleihe. 1,828,713
Im Jahre 1875 sind diesem Fonds xugeflossen:
an Münze. 9,288,762
an Barren. 7, 937 ,603
17,226,365
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In Ausgabe wurden gesetzt:
an Münze. 7,658,831
an Barren . . .. 9 i 5 Ö 7 j 534
17,226,365
Am 1. Januar 1876 verblieb:
a) an gemünztem Gelde und in Barren.229,398,372
b) an Billeten der 2. ausländ. 4 1 /* pCt. Anleihe . . 1,828,713
Im Ganzen . 231,227,085
Also die gleiche Summe wie am 1. Januar 1875.
2. Zahlung der Zinsen und Rückerstattung der Depots der Depo¬
sitenkassen von St. Petersburg und Moskau und der Handels- und
Leih-Banken.
Am 1. Januar 1875 betrug der Saldo dieser Depots . 15,6*3*799
Im Laufe des Jahres ist davon zurückgezahlt worden . 574,551
Blieb am 1. Januar 1876.15,039,248
3. Zahlung der Zinsen und Amortisation der 5 pCt. Bankbillete,
welche an Stelle der D£pot-Quittungen der alten in Liquidation
befindlichen Kredit-Institute ausgegeben wurden. Der Werth dieser
am 1. Januar 1875 cirkulirenden Billete betrug . . . 220,462,250
Im Laufe des Jahres sind davon zurückgezogen worden:
a) durch Ziehungen . 5,500,300
b) durch Rückzahlung von Schulden, welche auf
frühere nunmehr in Liquidation befindliche Kredit-
Anstalten hypothekarisch eingetragen waren ... * 34»5 5 °
5.634.850
So blieb in Cirkulation am 1. Januar 1876 .... 214,827,400
4. Ausgabe von Loskaufs-Papieren, Bankbillete zu 5 pCt. der
2. Emission, Loskaufscheine, Rentenscheine zu 5 72 pCt. und Zah¬
lung der betr. Zinsen und der Amortisation.
a) Der Betrag der am 1. Januar in Umlauf befind¬
lichen 5 pCt. Bankbillete der 2. Emission war . . . 1491585,150
Im Laufe des Jahres sind emittirt worden für . . 101,158,100
250 , 743*250
Getilgt für. 3,181,200
Blieben am 1. Januar 1876 in Umlauf.247,562,050
b) Am 1. Januar 1875 betrug der Werth der noch
cirkulirenden Loskaufscheine.130,509,600
Umtausch gegen Bankbillete 2. Emission .... 86,692,900
Blieben am 1. Januar 1876. 43,816,700
c) Am 1. Januar 1875 betrug der Werth der cirku¬
lirenden Rentenscheine zu 5 l /i pCt. ...... 81,657,300
Während des Jahres wurde amortisirt für ... . 658,500
Blieben am 1. Januar 1876 in Umlauf.80,998,800
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5*9
B. Kommerzielle Operationen der Bank, ihrer Filialen und
Abtheilungen.
1. Zinstragende Depots:
Saldo am i. Januar 1875 an kündbaren Depots . . 26,458,526
An Depots ohne Kündigungsfrist.66,029,883
Neue, im Jahre 1875 empfangene Depots:
Mit Kündigungsfrist. 3,185,505
D^pöts ohne Frist.37*712,572
Rückzahlungen während des Jahres:
Depots mit Kündigungsfrist. 4,421,300
Depots ohne Frist.34,330,092
Blieben am 1. Januar 1876:
Depots mit Kündigungsfrist.25,222,731
D£p6ts ohne Frist.69,412,363
Im Vergleich zu dem Saldo vom 1. Januar 1875 zeigt
das eine Verminderung bei den Depots mit Kün¬
digung von. 1,235,795
und eine Vermehrung bei den Depots ohne Kündi¬
gung von. 3,382,480
Folglich im Ganzen eine Vermehrung von .... 2,146,685
2. Unverzinsliche laufende Rechnungen:
Am 1. Januar 1875 betrug der Saldo dieses Kontos . 57,679,647
Im Laufe des Jahres sind eingegangen.853,620,122
Die Rückzahlungen betrugen.824,719,198
Blieb am 1. Januar 1876.86,580,572
Also eine Vermehrung von.28,900,925
3. Verzinsliche laufende Rechnungen:
Am 1. Januar 1875 betrugen dieselben.123,388,382
Während des Jahres betrugen die Einzahlungen . . 1,039,542,058
Die Rückzahlungen dagegen.1,005,196,663
Blieb am 1. Januar 1876. 157,733,777
Also eine Vermehrung von. 34 , 345,395
4. Einlagen zur Aufbewahrung (Edelmetalle und
Werthpapiere):
Am 1. Januar 1875 betrugen dieselben.531,234,862
Die während des Jahres consignirten Werthe beliefen
sich auf.427,330,263
Die Rückzahlungen auf.349,434,429
Blieb am 1. Januar 1876.609,130,696
Also eine Vermehrung von.77,895,834
5. Diskontiren von Wechseln etc.:
Es wurden im Jahre 1875 diskontirt für.226,906,187
Das ist, im Vergleich zu 1874, eine Vermehrung von 25,252,446
6. Vorschüsse gegen Unterpfand.
Die Darlehen des Jahres betrugen:
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Sjo
a) Vorschüsse auf Waaren. 2,901,232
Im Vergleich zu 1874 eine Vermehrung von . . . 720,198
b) Vorschüsse auf Staatspapiere.36,148,677
Im Vergleich zu 1874 eine Verminderung von . . . 6,626,753
c) Vorschüsse auf Aktien und Obligationen . . 21,409,715
Im Vergleich zu 1874 eine Vermehrung von . . . 4,182,354
7. Telegraphische Anweisungen und Mandate:
Der Umsatz betrug im Jahre 1875.410,167,192
Das ist, im Vergleich zu 1874, eine Verminderung von 27,488,078
8. An- und Verkauf von Werthpapieren für Rech¬
nung der Bank:
Am 1. Januar 1875 belief sich die Summe der, der
Bank gehörigen Werthpapiere. 3,071,149
Die Ankäufe des Jahres betrugen. 2,143,434
Das ist, im Vergleiche zu 1874, eine Vermehrung von 155,835
Die Verkäufe beliefen sich auf ........ 2,236,304
Im Vergleiche zu 1874 eine Verminderung von . . 1,324,939
Blieb am 1. Januar 1876. 2,978,274
9. An-und Verkaufvon Werthpapieren nach Auftrag.
Der Werth der nicht verkauften Papiere der Bank,
ihrer Filialen und Abtheilungen belief sich am
1. Januar 1875 auf ... 162,931
Die zum Verkauf consignirten Werthe betrugen wäh¬
rend des Jahres 1875 10,415,401
Das ist, im Vergleich zu 1874, eine Vermehrung von 859,535
Die Verkäufe und Rückzahlungen betrugen . . . 10,252,592
Im Vergleich zu 1874 eine Vermehrung von . . . 608,543
Der Restbetrag war am 1. Januar 1876. 325,740
Im Jahre 1875 haben die Operationen der Bank einen
Reingewinn ergeben von. 2 » 933>453
Im Vergleich zu 1874 eine Verminderung von . . . 783,969
In diesem Jahre haben das Gründungs- und das Reserve-Kapital der
Bank keine Veränderung erlitten; das Erstere betrug am 1. Januar
1876, wie am 1. Januar 1875, 20,000,000 Rubel und das Zweite
3,000,000 Rubel.
Im Laufe des Jahres waren 8 Filialen und 40 ständige Abthei¬
lungen der Bank in Thätigkeit.
///, Depositen-Kassen von St, Petersburg und Moskau,
Diese Institute sind mit der Verwaltung der Darlehen auf lange
Termine betraut, welche von den früheren, jetzt in Liquidation be¬
findlichen Anstalten ertheilt worden waren.
1. Depositen-Kasse von St. Petersburg.
Am l. Januar 1876 belief sich die Summe ihrer Gut¬
haben bei Staatsanstalten, Privaten und bei Gesell¬
schaften auf.. 46,418,577
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Im Laufe des Jahres ist zu der Hauptsumme der Dar¬
lehen hinzugekommen an verfallenen Zinsen und an
Forderungen der Moskauer Depositenbank und der
früheren öffentlichen Hülfsbureaux, welche auf das
Konto der St. Petersburger Depositenbank über¬
tragen wurden für. i ,981,189
Die Eingänge und Annulirungen während des Jahres
beliefen sich auf 1 . 8,666,870
Rückstand der Forderungen am 1. Januar 1876. . . 39,732,897
Im Vergleich zu 1874 eine Verminderung von . . . 6,685,686
2. Moskauer Depositen-Kasse.
Betrag ihrer Forderungen an Staatsanstalten und an
Private am 1. Januar 1876 ..34,290,592
Während des Jahres ist das Kapital vergrössert worden
durch verfallene und gestundete Zinsen und durch
den Uebertrag der Aussenstände der früheren
öffentlichen Hülfsbureaux um. 1,746,086
Die Rückzahlungen und Annulirungen betrugen 2 , . 5,106,500
Rückständige Forderungen am 1. Januar 1876 . . . 30,930,178
Im Vergleich zu 1875 eine Verminderung von . . . 3,360,414
IV. Lombard von St. Petersburg und Moskau.
Diese Anstalten sind beauftragt Darlehen auf Pfänder, bestehend
aus Kleinodien, Gold- und Silberarbeiten zu ertheilen.
1. St. Petersburger Lombard.
Der Werth der verpfändeten Gegenstände betrug am
1. Januar 1875 ... 4,989,994
Im Laufe des Jahres sind neue Pfänder eingeliefert
worden für. 5,737,412
Die Rückzahlungen, Erneuerungen und Verkäufe be¬
liefen sich auf. 5,949,170
Blieb am 1. Januar 1876 ein Saldo von ..... 4,778,236
Folglich eine Verminderung von. 211,758
2. Moskauer Lombard.
Werth der verpfändeten Sachen am 1. Januar 1875 . 2,584,373
Während des Jahres eingelieferte Pfänder .... 3,436,488
Rückzahlungen, Erneuerungen und Verkäufe . . . 3,337,506
Blieb am 1. Januar 1876 ein Saldo von. 2,683,355
Also eine Vergrösserung um . 98.982
4 Für die im Januar und Februar 1875 fülligen Darlehen sollten 69 Immobilien, auf
welche Zahlungen im Rückstände waren, verkauft werden, es wurden indess nur 8
verkauft, weil der Verkauf der übrigen 6l, in Folge von Zahlungen der Rückstände
oder aus anderen Gründen nicht zur Ausführung kam.
* 116 Besitztümer sollten in den Monaten November und Dezember 1875 verkauft
werden, von dieser Anzahl wurden 3 verkauft. Für 1x3 ist der Verkaufsbefehl in Folge
von Zahlungen oder aus anderen Gründen zurückgenommen worden.
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V. Sparkassen.
Aus den Rechnungsberichten der Sparkassen der früheren Kredit¬
institute der Vormundschafts-Conseils, welche gegenwärtig unter die
Direktion der Reichsbank gestellt sind und aus den Berichten der
städtischen Darlehns und Sparkassen, die kraft des Allerhöchsten
Befehls vom 27. März 1864 gegründet wurden — ergibt sich, dass
im Laufe des Jahres 1875, im Vergleich zum Jahre 1874, der Werth
der Depositen in St. Petersburg um 106,401 Rbl. gestiegen ist, in
der Moskauer Kasse um 10,897 Rbl. und in den städtischen Spar¬
kassen um 387,029 Rbl.
Der Ab-und Zugang der Depositen während des Jahres 1875
zeigt folgende Zahlen:
1. St. Petersburger Sparkasse.
Der Bestand der Depositen betrug am 1. Januar 1875 2,329,543
Während des Jahres wurden deponirt. 1,242,931
Zugang an Zinsen. 72,997
Zurückgezahlt 1 . 1,209,527
Bestand an Kapital und Zinsen am 1. Januar 1876 . . 2,435,944
Also eine Vermehrung von. 106,401
2. Moskauer Sparkasse.
Depositen am 1. Januar 1875. 555>°29
Neue Depositen während des Jahres. 156,291
Zugang an Zinsen. 15,923
Rückzahlungen. 161,317
Bestand an Kapital und Zinsen am 1. Januar 1876 . . 565,926
Also eine Vermehrung von. 10,897
3. Städtische Sparkassen.
Bestand am 1. Januar 1875. 2,012,553
Neue Depositen im Laufe des Jahres. 1,121,079
Zugang an Zinsen. 59,430
Rückzahlungen 2 . 793>479
Bestand an Kapital und Zinsen am 1. Januar 1876 . . 2,399.583
Vermehrung. 387,030
Eine Verminderung der Depositen von mehr als 2,000 Rbl. im
Vergleiche zu 1874 ist in den folgenden Städten bemerkt worden:
Kursk (29,435 Rbl.), Witebsk (22,363), Jaroslawl (15,301), Kijew
(4,185), Archangel (3,995), Poltawa (3,898), Twer (3,461), Woronesh
(3,050), Pensa (2,835) und Charkow (2,821).
1 Mit Inbegriff von 105,620, welche auf Verlangen der Deponenten, in Rankbillete
tu 5°/o umgewandelt wurden.
9 Mit Inbegriff von 4.209 Rbl. welche auf Verlangen der Deponenten in 5 pCt. Bank-
billete umgewandelt wurden.
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533
In den folgenden Städten ist eine Vermehrung der Depositen um
mehr als 2,000 Rbl eingetreten: Rjasan (342,781), Wologda (18,630),
Orenburg (12,716), Kasan (12,658), Perm (8,329), Astrachan (7,042),
Taschkend (6,766), Baku (6,612), Kronstadt (5,995)1 Ssaratow (4,811),
Borissoglebsk (3,913), Morschansk (3,909), Pskow (3*667), Rostow
am Don 2,314), Wjatka (2,132) und Ssamara (2,050).
VI. Bureaux der allgemeinen Fürsorge.
Die Liquidation dieser Institute ist den Abtheilungen der Bank
anvertraut, wo sich solche befinden und in den übrigen Städten den
Finanzkammern.
Nachstehend die Resultate ihrer Rechnungsberichte:
1. Am i # Januar 1875 belief sich die Summe der Depo¬
siten auf.5,052,196
Während des Jahres wurden davon zurückgezahlt . . 33 5,718
Bestand am 1. Januar 1876.4,716,478
Das ist eine Verminderung von. 335 > 7 1 ^
2. Am 1. Januar 1875 betrug der Rest der Forderungen
für Darlehen. 5 »794*790
Im Laufe des Jahres ist eingegangen und auf die Lom¬
bard-Institute übertragen worden für. 691,311
Bestand amI. Januar 1876.5*103,479
Das ist eine Verminderung von. 691,311
VII. Sparkassen der Bureaux der allgemeinen Fürsorge.
Saldo der Einzahlungen bei Beginn des Jahres 1875 . . 209,770
Einzahlungen während der Jahres. 13*215
Rückzahlungen. 44*545
Bestand am 1. Januar 1876. 178,440
Das ist eine Verminderung von. 31,330
VIII. Sparkassen des Königreichs Polen.
Auf Grund einer Entscheidung des Komites für die Angelegenhei¬
ten des Königreichs Polen, welche am 30. Mai 1870 von S. M. dem
Kaiser sanctionnirt wurde, sind die in diesem Lande bestehen¬
den Sparkassen in das Ressort des Finanzministeriums übergefiihrt,
worden. Es bestehen 18 Kassen. Aus den Rechnungsberichten dersel¬
ben für 1875 geht hervor, dass bei Beginn des Jahres 1875 bei den¬
selben eine Summe von 1,044,655 Rbl. deponirt war, im Laufe des
Jahres haben sie an neuen Einlagen erhalten für 442,463 Rbl., Zu¬
gang an Zinsen 41,055 Rbl., ausgezahlt wurden an Kapital und
Zinsen 443,007 Rbl., so dass die Summe der Einlagen in diesen
Kassen am 1. Januar 1876 1,085,166 Rbl. betrug.
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S 34
IX. HaupuLoskaufs-Institut.
Am Schluss des Jahres 1874 war die Zahl der noch
nicht geprüften Loskaufsakte. 1,902
Während des Jahres 1875 hat das Jnstitut deren er¬
halten . 1,984
Im Ganzen .... 3,886
Von dieser Anzahl waren 321 auf gütliches Übereinkommen zwi¬
schen den Eigenthümern und den Bauern gegründet, 3,391 basirten
auf dem Verlangen der Eigenthümer gemäss Artikel 35 des Los¬
kaufgesetzes und 174 auf Verlangen der Kreditinstitute und anderer
Regierungsinstitute. Im Laufe des Jahres hat das Loskaufs-Institut
1,870 Akte bestätigt. Dieselben bezogen sich auf 128,518 Bauern und
eine Abtretung von Grund und Boden von 508,532 Dessjatinen *.
Der Gesammtwerth der bewilligten Darlehen war 14,270,302 Rbl.,
von welchen für hypothekarische Schulden an die früheren Kredit¬
anstalten 3,380,120 zurückgehalten wurden, — angewiesen wurden:
10,890,182 Rbl., davon 10,860,950 Rbl. in 5 pCt. Banknoten und
29,232 Rbl. in Münze.
Aus den westlichen Provinzen und aus Weiss-Russland hat das
Institut ausserdem 29 Loskaufs-Akte erhalten, welche zu den 373
vom Vorjahre übriggebliebenen hinzugekommen sind, so dass also
im Jahre 1875 402 Akte zu prüfen waren.
83 Akte wurden bestätigt, wodurch 13,361 Bauern, 59,172
Dessjatinen Land erhalten haben. Die vom Institut bewilligten Dar¬
lehen zum Loskauf beliefen sich im Ganzen auf 788,339 Rbl., wovon
333 » 5 78 Rbl. für Schulden an Kreditanstalten zurückbehalten wur¬
den zur Anweisung kamen: 421,651 Rbl. in 5 pCt. Banknoten und
33,110 in Münze.
Das Haupt-Institut für den Loskauf hat vom Tage seiner Eröffnung
(27. Oktober 1861) bis zum 1. Januar 1876 im Ganzen 86,774 Los¬
kaufs Akte erhalten, von denen 83,656 bestätigt wurden, dieselben
betrafen 7,368,563 Bauern, welchen im Ganzen 26,223,761 Dessjati¬
nen Ländereien zugesprochen wurden. Der Betrag der Darlehen für
den Loskauf beläuft sich auf 682,654,117 Rbl. Von dieser Summe
wurden für hypothekarische Schulden an die früheren Kreditanstalten
zurückbehalten 288,544,762 Rbl.; angewiesen wurden: an Loskaufs¬
scheinen 181,043,820 Rbl. an 5 1 /* pC. Rentenscheinen für 5,686,972
Rbl. per Jahr, im Ganzen ein Kapital von 103,399,492 Rbl. Ferner
.105,993,900 Rbl. in 5 pCt. Bankbilleten und 1,740,042 Rbl. in Münze.
* I Dessjatinen: 1,09350 Hektare.
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Die Expedition in das Alai-Gebirge'.
Im Laufe des verflossenen Sommers fand, auf Befehl des General-
Gouverneurs von Turkestan, eine Expedition in das im Süden des
früheren Chanats von Chokand gelegene Gebirge statt. Der Zweck
dieser Expedition war die Unterwerfung der dort lebenden Kara¬
kirgisen, welche bisher nur dem Namen nach zu den Unterthanen
des Chans von Chokand gerechnet werden konnten; in dem schwer
zugänglichen Gebirge lebend, spotteten sie, selbst zur Winterszeit,
während welcher sie zu den Ausläufern des Gebirges und in die
Ebene hinabsteigen, jeglichen Befehlen des Chans. Die Leichtig¬
keit, mit welcher sie sich jederzeit in die Bergschluchten wieder
zurückziehen konnten, wohin weder die Steuerbeamten, noch die
Truppen des Chans ihnen zu folgen wagten, entzog sie jeder Kon¬
trolle der Regierung. Ausserdem waren die, durch dieses Gebirge
führenden Karawanenstrassen dermaassen gefährdet, dass sie nur
unter militärischer Bedeckung von den Karawanen passirt werden
konnten. Der Hauptaufenthalt der Karakirgisen war der Alai, eine
Hochebene, oder richtiger ein Plateau, welches sich dem Nebenflüsse
des Amu-Darja, dem Kisyl-ssu (auch Ssuch-ssu 2 ) entlang hinzieht.
Nach Einverleibung des Chanats von Chokand hielt die russische
Regierung es für nothwendig, jenem Uebelstande ein Ende zu
machen. Es wurde daher zu diesem Zwecke eine Expedition unter
dem Befehle des General-Majors Skobelew auf den Alai — dem
Centrum des Sommeraufenthaltes der Karakirgisen — angeordneti
welche neben rein militärischen und administrativen auch noch
wissenschaftliche Zwecke verfolgen sollte. Es wurden deshalb der
Expedition beigeordnet: für topographische Arbeiten: 3 Topogra¬
phen, für astronomische Bestimmungen und barometrische Messun¬
gen: der Geodät Hr.A.R. Bonsdorf, für naturwissenschaftliche Unter¬
suchungen und die Anfertigung von Sammlungen der Fauna und
1 Aus dem «Russischen Invaliden», nach einer Korrespondenz des Hrn. L. Kostenko,
Oberst vom Generalstabe. — Indem wir unsem Lesern das Wesentlichste dieser Kor¬
respondenz mittheilen, müssen wir selbstverständlich dem Verf. derselben die Ver¬
antwortung für die von ihm gegebenen Daten überlassen. D. Red.
1 Beide Benennungen bedeuten «rother Fluss-».
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536
Flora: Hr. Oschanin, und die geographischen und statistischen Ar¬
beiten wurden dem Verfasser des vorliegenden Artikels übertragen.
Auf dem aus Ferghana über den Bergrücken Terek-dawan nach
Kaschgar führenden Karawanen wege gelangte Hr. Kostenko mit
einem Theile der Expeditionstruppen am 18. Juli bis Gultscha, der
letzten russischen Befestigung in Central Asien. Sie liegt bei de r
Vereinigung des gleichnamigen Flusses (eines der bedeutendsten
Zuflüsse des oberen Syr-Darja) und dem Bache Tschigortschik, in
einem ungefähr 3 Werst breiten Thale, welches von beiden Seiten
von zwar nicht hohen, aber steilen und felsigen Bergen eingerahmt
ist. Die Befestigung ist mit 4 Kanonen armirt und kann eine Be¬
satzung von 2 Kompagnien Infanterie und 100 Kosaken aufnehmen.
Ihre Kanonen bestreichen sowohl das Thal von Gultscha, als auch
die Schlucht Tschigortschik. Die Expeditionstruppen lagerten hier
im Schatten mächtiger, uralter Pappeln, deren sämmtliche Wipfel
aber abgebrochen waren, was wahrscheinlich den hier oft herrschen¬
den Stürmen zuzuschreiben ist. Die vorherrschendsten Winde sind
die in der Richtung des Thaies, d. h. von Westen nach Osten.
Regen und Stürme sind hier, wie in dem gebirgigen Theile des
Ferghana-Gebietes überhaupt, sehr häufig. Der Winter ist streng
und bringt tiefen Schnee. Im Juni erreicht der Fluss Gultscha sei-,
nen höchsten Wasserstand, wobei er so sehr aus seinen Ufern tritt,
dass eine Ueberfahrt unmöglich wird. Sonst ist der Hauptarm des
Flusses gewöhnlich nicht über 10 Faden breit, und um die Kommu¬
nikation zu erleichtern, ist eine hölzerne Brücke geschlagen. Trotz
der wilden und rauhen Natur, welche ihn umgibt und ungeachtet sei¬
ner grossen Entfernung von andern bewohnten Orten ist dieser
Punkt doch, in politischer wie administrativer Hinsicht, von grosser
Bedeutung. Die benachbarten Schluchten werden von den Kara-
kirgisen im Sommer als Ackerplätze, wo sie ihren Weizen und
Gerste säen, und im Winter als Zufluchtsorte benutzt. Der Besitz
dieses Punktes gibt mithin Russland die Möglichkeit, diese Nomaden
einigermaassen im Zaume zu halten. Die Truppen (Infanterie und
Kosaken) sind vorläufig noch, bis zur Beendigung der festen Woh¬
nungen, in Jurten untergebracht; sodann befinden sich hier einige
Kaufleute (Sarten), welche die Besatzung mit den nothwendigsten
Lebensmitteln etc. versorgen. Die Preise derselben sind selbst¬
verständlich hoch, so kostet z. B. ein Pfund Zucker 50 Kop., Gerste
1 Rbl. das Pud etc. Fleisch wird der Garnison von einem Lieferanten
aus Osch zu 1 Rbl. 30 Kop. pro Pud geliefert, von wo auch der
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übrige Proviant kommt. Ein ausgezeichneter Fahrweg, von den
russischen Truppen im Laufe des Mai und Juni hergestellt, verbindet
jetzt Gultscha mit Osch. Die Entfernung beträgt 75 Werst 1 , von
welchen fast Dreiviertel durch das Gebirge führen.
In der Schlucht von Tschigortschik, ungefähr 4 1 /* Werst von
Gultscha, dicht am Wege nach Osch, befindet sich in einem male¬
risch gelegenen Wäldchen eine Quelle, welche von den Kirgisen
bei Hautkrankheiten mit Erfolg benutzt wird. Die Bäume, von
denen die Quelle umstanden ist, sind mit Stücken von Hemden
und anderen Kleidungsstücken behängt, Alles Opfergaben, von den
hier badenden Kirgisen der Gottheit der Quelle dargebracht. Die
Temperatur der Quelle beträgt 30° R. Das Wasser ist geschmack-
und geruchlos. Das Wäldchen besteht aus Pappeln, Weiden, Ber¬
beritzen, Kreuzdorn, Apfelbäumen, Wachholder u. a. m. Die Ufer
des Tschigortschik sind mit dichtem Gesträuch bedeckt, wo zahllose
Nachtigallen nisten 2 . In derselben Schlucht, ungefähr 7 Werst von
Gultscha, befinden sich Steinkohlenlager und 2 Werst weiter Gyps
und Marmorbrüche. Die Thierwelt ist hier durch Bären, Wölfe,
Wildschweine und Gemsen vertreten. Von Vögeln kommen Feld¬
hühner, Habichte, Falken, Adler, von den Kerbthieren Tausendfüsse
und wahrscheinlich auch Skorpione vor. Der Fluss Gultscha ist
fischreich; besonders viel wird der «Marlik», ein dem Aeusseren nach
der Forelle ähnlicher Fisch, gefangen; das Fleisch dieses Fisches
ist eine beliebte Speise, die Eingeweide und der Rogen aber sollen
schädlich sein. Gultscha mit der Umgegend liegt 4100 Fuss über
dem Meeresspiegel.
'Am 19. Juli begab sich Hr. Kostenko, unter Bedeckung eines
Detachements Kosaken, nach Kisyl-kurgan, um sich dort mit der
Kolonne, welche auf den Basch-Alai (d. h. den oberen Alai) dirigirt
war, zu vereinigen. Der Weg führt längs dem rechten Ufer des
Gultscha, und windet sich den Bergabhängen entlang, welche hier
das Flussbett einzwängen. Stellenweise bilden die Abhänge Vor¬
sprünge, welche weit über das Flussbett hinausragen, doch sind sie
stets breit genug, um für das Beschreiten nicht besonders gefährlich
* Per Cbef der Expedition, General-Major Skobelew, beabsichtigte, noch im Laufe
des verflossenen Sommers diesen Fahrweg bis Sufi-Kurgan (40 Werst) und dann bis
rum Alai und noch weiter bis zur Grenze von Kaschgar fortzuführen.
* Die Nachtigal ist in Central-Asien lange nicht so verbreitet, wie man gewöhnlich
annimmt, so wird sie z 6. in Buchara. Ssamarkand und Taschkend nicht angetroffen ^
wohl aber in einzelnen Oasen Chiwa’s und im Ferghana-Gebiete.
Bim. Bern«. Bd. IX. 35
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53 *
zu sein; nur an einer Stelle, wo ein Durchbruch stattgefunden hat,
waren die Pferde gezwungen, diesen zu überspringen.
Kisylkurgan ist l8 Werst von Gultscha entfernt. Es ist eine
kleine, noch von Chokandern aus rothem (kisyl) Lehm erbaute Be¬
festigung (kurgan), von welcher aus sie die hier nomadisirenden
Kirgisen beobachteten. Sie liegt auf einem ziemlich umfangreichen
Plateau, beim Einflüsse des Mordasch in den Gultscha.
Am 25. Juli traf der Befehlshaber der Expedition, General-Major
Skobelew, ein, und am folgenden Tage begab sich die Kolonne auf
den Marsch nach dem Alai. Der einzuschlagende Weg ging berg¬
an der Schlucht Gultscha entlang. Der Charakter des Weges und
der Umgebung blieben dieselben: von beiden Seiten hohe über¬
hängende Felsen, wo hin und wieder auf dünner Erdschichte spär¬
liches Gras keimte, oder wo bisweilen auf den Höhen oder am
Rände der Klüfte vereinzelte Wachholderbäumchen (Juniperus
Pseudo-Sabina) zu sehen waren; nur das Ufer des hier mit furcht¬
barem Getöse dahinbrausenden Flusses war mit Pappeln, Weiden
Kreuzdorn u. a. Bäumen und Sträuchern bestanden. Es gehörten
starke Nerven dazu, um den schmalen, oft hart an steilen Abhän¬
gen vorbeiführenden Weg schwindelfrei verfolgen zu können. Ueber
tiefe Abgründe geschlagene, höchst primitiv konstruirte Brücken
welche die Mannschaften und Pferde nur einzeln und in gehöriger
Entfernung von einander betreten durften, trugen ebenfalls nicht
zur Erregung angenehmer Empfindungen bei. Ungefähr 8 Werst
von Kisyl-kurgan passirte die Kolonne die Grenzscheide von Jangi-
aryk, wo vor 3 Monaten der General Skobelew ein ernstes Gefecht
zu bestehen hatte. Eine starke Bande Karakirgisen unter Anführung
des Abdul-Beg wollte hier ihr Glück in einem Bergkampfe mit den
Russen versuchen. Eine vollständige, nach dreistündigem Kampfe
erfolgte Niederlage belehrte die Karakirgisen, dass sie selbst im
Gebirge den russischen Truppen nicht widerstehen könnten, und sie
wird wohl auch der Grund gewesen sein, weshalb dieses Mal die
Kolonne unbehelligt ihren Weg verfolgen konnte. Die einzige
Aeusserung von Feindseligkeiten bestand in der Abtragung einer
Brücke bei dem Ausflusse des Jangi in den Gultscha. Doch auch
dieses Hinderniss war nach Verlauf von 3 Stunden beseitigt, eine
neue Brücke war geschlagen und die Kolonne setzte, die Höhen
erklimmend, bald auf felsigem, bald auf mit Geröll bedecktem Boden
auf schmalen, oft kaum l j% Arschin breiten Stegen, an tiefen Ab¬
gründen vorbei, oder auf fussbreiten Pfaden in tiefe Schluchten
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hinabsteigend, eiskalte reissende Bergströme durchwatend und so
die mannigfachsten Terrainschwierigkeiten bezwingend, unaufhalt¬
sam ihren Marsch weiter fort. Der ganze Verlust, welchen die Ko¬
lonne hier erlitt, bestand nur in einem Packpferde, welches mit sei¬
ner Last in einen Abgrund hinabstürzte und natürlich unrettbar ver¬
loren war. So ging es ungefähr 8 Werst weit. Circa 7 Werst vor
Sufi-kurgan wird die Gultscha-Schlucht breiter und der Weg besser:
hier trifft man schon Wiesen und weiter noch Wäldchen mit hohen
mächtigen Pappeln. Zwei Werst vor Sufi-kurgan schlug die Kolonne
in solch einem, Kulanka-Tugaj (d. h. schattige Wiese) genannten,
Wäldchen ihr Nachtlager auf. Der Tagesmarsch betrug 20 Werst.
Auf dem ganzen Wege war kein einziger Eingeborner zu sehen, alle
hatten sich auf den Alai oder in die Seitenschluchten zurückgezogen.
Am folgenden Tage war Rasttag. Am Morgen meldete sich
Hassan Beg, der Bruder des vor drei Monaten besiegten Abdul-Beg,
beim Befehlshaber der Expedition. Da Hassan-Beg die Nachricht
von der Unterwerfung der Karakirgisen überbrachte, so wurde er
vom General Skobelew freundlich empfangen und mit einem präch¬
tigen Kaftan und einer goldenen Uhr beschenkt. Seine Ankunft
Hess zugleich hoffen, dass die Expedition einen unblutigen Verlauf
nehmen würde und das9 die wissenschaftlichen Zwecke derselben
auf dem Alai ungestört würden verfolgt werden können.
Am 28. Juli setzte die Kolonne ihren Marsch nach dem Alai weiter
fort. Der Weg führte eine breite Schlucht entlang und bot keine
besonderen Schwierigkeiten dar. Das einzige Beschwerliche für die
Infanterie waren die öfteren Uebergänge über den Gultscha, wo
Anfangs das Wasser der Mannschaft bis zur Brust reichte; höher
hinauf aber, und besonders nach der Vereinigung des Gultscha mit
dem Terek-ssu, wurde es bedeutend flacher. Der Terek-ssu ent¬
springt dem Bergrücken von Terek-dawan. Bei Sufi-kurgan, einer
kleinen chokandischen Befestigung, zweigt sich der Weg nach
Terek-dawan ab. Die Berge, welche schluchtartig das Gultscha-
Thal begrenzen, werden niedriger, die Sohle desselben aber steigt
ziemUch steil an. Die Formation der Berge ist hier auch schon
eine andere: statt, wie früher, aus nackten Felsen, bestehen sie
jetzt fa9t ausschliesslich aus rothem Lehm; die Abhänge sind
meist mit Artscha (Wachholder) bewachsen, deren Verbreitung
mit der Höhe zunimmt. Wenn sie auch von Weitem an die
europäische Tanne erinnert, so wird sie doch lange nicht so
hoch. In dem südlichen Gebirge von Chokand ist die Artscha
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erst in der Höhe von 5000 Fuss anzutreffen, von wo sich ihre Region
bis zu einer Höhe von 10,000 Fuss erstreckt. Von den Vögeln, welche
sich hier zeigten, ist eine Art der Berg-Schnepfen besonders zu
erwähnen. Diese Schnepfe, welche bis dahin nur in den Bergen des
Himalaja und Thian-Schan 1 angetroffen worden ist, hat die Grösse
einer % Taube und zeichnet sich durch ihren ungefähr 2 Werschok
langen, leicht gekrümmten Schnabel aus, mit welchem sie ihre Nah¬
rung unter den Steinen, welche den Boden der Gebirgsflüsse be¬
decken, hervorholt. Sie hält sich ausschliesslich am Ufer dieser
Flüsse auf und steigt nie tiefer als 4 bis 5000 Fuss über den Meeres¬
spiegel herab. Unter den Vierfüsslern waren die Murmelthiere am
stärksten vertreten; ihre Höhlen waren auf Schritt und Tritt zu
sehen.
Gegen Ende des Tagesmarsches verliess die Kolonne die Gultscha-
Schlucht und nachdem sie einen unbedeutenden, aber sehr lehmigen
Berg, den Kisyl-kurt (rothen Berg) erstiegen, schlug sie auf der
andern Seite des Berges und wiederum am Ufer des Gultscha, in
einer höchst malerischen Gegend, ihr Lager auf. Der zurück¬
gelegte Tagesmarsch betrug 28 Werst.
Kaum hatte indess die Kolonne das Bivouak bezogen, als die Nach¬
richt überbracht wurde: Karakirgisen, unter Abdul Beg, hätten den
in das feindliche Lager abgesandten russischen Boten überfallen.
Eine fliegende Abtheilung, unter dem Kommando des Flügel-Adju¬
tanten Fürsten Wittgenstein, wurde sofort zur Verfolgung der Kara¬
kirgisen abgeordnet. ' *
Am folgenden Tage, den 29. Juli, betrat die Kolonne die Schlucht
Artschat, die malerischste aller bisher von der Expedition gesehenen
Schluchten. Ausser jener schon oben erwähnten Tanne (Artscha,
nach welcher die Schlucht auch benannt ist), zeigte die Vegetation
noch Spiräen, Pielbeerbäume, einzelne Birken und die verschieden¬
artigsten Sträuche. Nachdem 8 Werst guten Weges zurückgelegt
worden waren, begann die Ersteigung des Bergrückens von Artscha.
Die Steigung war eine bedeutende, obgleich sie bis zum Gipfel des
Berges nur 1500 Fuss betrug. Die absolute Höhe des Berges über
1 Hr. Ssewerzew fand dieselbe zuerst in den Bergen des Thian-Schan (im Gebiete
von Ssemiretschinsk), und nicht wissend, dass sie auch im Himalaja vorkommt, be¬
nannte er sie, dem General-Gouverneur von Turkestan zu Ehren, Falcirostra Kaufmann.
Hr. Fedtschenko bemerkt in seiner «Reise durch Chokand», dass schon Dr. J. Ed.
Gray im Jahre 1835 diese Art im Himalaja vorgefunden und sie Ibidorhynchus Stru-
tbersii benannt hat.
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den Meeresspiegel ist, nach angestellter barometrischer Messung,
10,300 Fuss, wohingegen die der von beiden Seiten des Passes sich
befindenden Kegel, nach einer Messung mit dem Kippregel, die Höhe
von 13,000 Fuss erreichen. Der Steg, welcher zum Passe führt,
zieht sich in steilen und kurzen Windungen hinauf. In westlicher
Richtung befindet sich noch ein anderer, weniger steiler Uebergang,
der von Taldyk; auch war es anfänglich bestimmt, dass die Kolonne
diesen Weg einschlagen sollte, er musste ab$r aufgegeben werden,
um der fliegenden Abtheilung des Fürsten Wittgenstein auf dem
Fusse folgen zu können.
Von der Spitze des Artscha aus bietet sich ein grossartiger
Anblick dar auf das Thal, oder richtiger auf das Hochplateau des
Kisyl-ssu, mit den Trans Alai’schen Bergen im Hintergründe, jen¬
seits welcher der noch so wenig erforschte Theil von Pamir liegt.
Die Berge, welche dieses Thal im Süden begrenzen, sind mit Schnee
bedeckt. Dem Passe fast gegenüber steht ein hoher Bergkegel,
welchen Hr. Fedtschenko, zu Ehren des General-Gouverneurs von
Turkestan, Pik Kauffmann benannt hat. Der Weg in das Thal des
Kisyl-ssu hinab führt durch eine von einem Bache durchströmte
Schlucht; er ist nicht steil und seine Länge beträgt 9 Werst. Dich¬
tes, saftiges, reich mit Blumen geschmücktes Gras bedeckt die Sohle
und die Seiten der Schlucht. Im Thale selbst windet sich der
Kisyl-ssu, in mehrere Arme getheilt, hart am Fusse des Berges
Artscha hin. Das ganze Flussbett ist ungefähr 1 Werst breit. Die
Tiefe des Hauptarmes beträgt zur Sommerzeit eine Arschin. Das
Wasser ist, wohl in Folge des aus rothem Lehm bestehenden Fluss¬
bettes, röthlich gefärbt, — was indess auf den Geschmack keinen Ein¬
fluss ausübt — und daher als ein gutes Trinkwasser zu gebrauchen.
Nachdem die Kolonne den Kisyl-ssu überschritten hatte, betrat sie
das mit dichtem Stipapennata (Knnem>) und Pfriemengras bedeckte
Plateau von Alai. Die Stipa ist bekanntlich ein ausgezeichnetes
Futter und die in Menge dort umherliegenden thierischen Exkre¬
mente wiesen auf einen vor Kurzem stattgefundenen Durchzug
grosser Heerden hin, von welchen aber zu der Zeit, als die Expe¬
ditionstruppen das Plateau betraten, nichts mehr zu sehen war.
Nach Ueberschreitung einiger trockener Flussbette bezog die Ko¬
lonne, 3V2 Werst vom Kisyl-ssu, ihr Bivouak, am Ufer eines kleinen
Flüsschens, dem Kitschkine-Kisyl-ssu, dessen Wasser ebenfalls
röthlich gefärbt war. Die Höhe dieses Ortes betrug 9,300 Fus9
über dem Meeresspiegel. Die Temperatur fiel während der Nacht
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auf + 5 0 C., das Gras war daher bereift; mit Aufgang der Sonne aber
stieg das Thermometer rasch, so dass es zur Mittagszeit sehr heiss war.
Am 30. Juli setzte die Kolonne ihren Marsch in süd-östlicher
Richtung zu den Trans-Alai'schen Bergen, wo der Fürst Wittgen¬
stein schon eine Position eingenommen hatte, weiter fort. Die
Gegend zwischen der Bivouak-Stelle und diesen Bergen ist wellen¬
förmig, mit einer merklichen Erhebung in der Richtung zu jenen
Bergen hin. Schmale, trockene Flussbette und Vertiefungen durch¬
kreuzen das Terrain in allen Richtungen. Eine für Central-Asien
seltene Erscheinung sind die vielen, hier im dichten üppigen Grase
wachsenden Pilze, unter welchen auch der Champignon vorkommt,
während sonst Pilze weder in den kirgisischen, noch in den andern
Turkestan'sehen Steppen anzutreffen sind.
Die Wegestrecke bis zu jenen Bergen betrug 12 Werst, mithin war
die Hochebene von Alai an der Stelle, wo sie von der Kolonne durch¬
schritten wurde, 17 Werst breit. Die Truppen bivouakirten an die¬
sem Tage am Fusse der Trans-Alai'schen Berge, nachdem sie sich
mit der Abtheilung des Fürsten Wittgenstein vereinigt hatten. Tags
zuvor hatte der Fürst, bei Gelegenheit einer Rekognoszirung des
Passes Kisyl-art den, den Russen feindlich gesinnten Karakirgisen
eine Heerde Schafe und Pferde abgenommen, wobei, was am wich¬
tigsten war, die Mutter und die Frauen des Abdul-Beg in unsere
Gefangenschaft geriethen.
An demselben Abend, oder richtiger Nachts, als es schon völlig
dunkel geworden war, wurde der Fürst Wittgenstein mit seiner
fliegenden Abtheilung in die Schlucht Kisyl-art, zur weiteren Ver¬
folgung des Abdul-Beg, beordert, von dessen Bande, wie es hiess,
•nur kaum 25 Mann zurückgeblieben waren.
Am Morgen des 31. Juli erschienen die Bey’s und Aeltesten sämmt-
iicher auf dem Alai nomadisirenden Geschlechter der Karakirgisen
mit der Anzeige, dass sie sich der russischen Regierung unterwerfen
wollten. Als Strafe für ihren Ungehorsam und dafür, dass viele ihrer
Landsleute an dem Aufstande des Abdul-Beg theilgenommen hatten,
belegte der General Skobeiew sie mit einer leichten Kontribution,
welche in der einmaligen Erhöhung von 4 auf 6 Rbl. der Abgabe be¬
stand, welche die Karakirgisen von ihren Schafen zahlen, und ausser¬
dem kündigte er ihnen an, dass sie noch im Laufe dieses Jahres, zur
Herstellung des Weges von Gultscha nach Sufi-kurgan, einige hun¬
dert Arbeiter zu stellen hätten. Die Gefangenen, sowie überhaupt
alle an dem Aufstande Betheiligten, welche zu verschiedenen Zeiten
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unsern Truppen in die Hände gefallen waren, wurden frejgela$$en.
Die Mutter Abdul-Beg's, eine durch ihre Klugheit und Energie bei
dem Volke in hohem Ansehen stehende Frau, wurde eines Besuches
des Komtnandirenden gewürdigt. Sie regierte ihr Volk io patri¬
archalischer Weise und war, bei der Nachricht von dem Einmarsch
der Russen, nach Kaschgar entflohen. Nachdem sie aber dort be¬
raubt worden war, zog sie es vor, wieder in das von den Russen be¬
setzte Gebiet zurückzukehren, wobei sie in die Gefangenschaft des
Fürsten Wittgenstein fiel. Der General Skobelew empfing sie sehr
freundlich und beschenkte sie reich, wobei er den Wunsch äusserte,
sie möchte ihren ganzen Einfluss auf die Beruhigung der von ihr
abhängigen Kirgisen-Geschlechter ausüben. Sie ging auf diesen
Wunsch mit der grössten Bereitwilligkeit ein und versprach, sogleich
ihrem Sohn zu schreiben, dass auch dieser sich der russischen Re¬
gierung unterwerfe.
Am i. August bezog die Kolonne einen andern Lagerplatz, welcher
den Truppen grössere Bequemlichkeiten darbot und wo die über
Osch und Utsch-kurgan ebenfalls nach dem Alai dirigirten Kolonnen
erwartet werden sollten. Auch kehrte an demselben Tage ein Theil
der am 30. Juli zur Verfolgung des Abdul-Beg abgesandten Abthei¬
lung des Fürsten Wittgenstein zurück. Der Fürst selbst setzte mit
50 Reitern die Verfolgung weiter fort, da, den erhaltenen Nachrich-
ten*zufolge, Abdul-Beg in der Richtung nach Afghanistan zu ent¬
fliehen suche.
Tags darauf, am 2. August, lief die Nachricht ein, Abdul-Beg sei
nach Kaschgar entflohen. Sofort wurden Maassregeln ergriffen, ihm
den Weg nach dort zu verlegen, oder wenn dieses nicht gelingen
sollte, die kaschgarische Regierung zu vermögen, Abdul-Beg, als
Haupt des Aufstandes, auszuliefern. Zu diesem Zweck wurde
dem Fürsten Wittgenstein, welcher sich noch am Kara-kul befand,
ein Zug berittener Jäger zur Verfügung gestellt. Hr. Kostenko
wurde dieser fliegenden Abtheilung beigeordnet. Abends 9 Uhr
verliess dieses Kommando das Lager. Es war stockfinster. Das
zu durchreitende Terrain war ein sehr schwieriges: Einschnitte und
Vertiefungen, welche beständig genommen werden mussten, konnte
man, bei der herrschenden Dunkelheit, nur mit der grössten Vor¬
sicht überschreiten, da sie, wenn aijch nicht tief, so doch gewöhnlich
steile, bisweilen sogar senkrechte Ränder 1 hatten. Man musste sich
1 Auch boten die häufigen Höhlen der Murmelthiere grosse Schwierigkeiten für die
Pferde dar und nahmen die ganze Aufmerksamkeit der Reiter in Anspruch.
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gänzlich auf den Instinkt der Pferde verlassen, und dennoch bot die¬
ser Marsch auf der Ebene noch lange nicht die Gefahren dar, welchen
man, bei ähnlicher Dunkelheit, auf einem Marsche in den Bergen
unterworfen gewesen wäre, wohin die Abtheilung erst nach Aufgang
des Mondes zu kommen rechnete. Nachdem dieselbe 7 Werst
auf solchem Wege zurückgelegt hatte, zog sie durch die Schlucht
Kisyl-art in die Trans-Alai’schen Berge ein. Diese breite Schlucht
wird von dem gleichnamigen Flüsschen durchströmt, welches sich
im Süden in mehrere Arme theilt; das Bett, in welchem es fliesst,
ist mit kleinen Kieselsteinen bedeckt, die, je weiter die Abtheilung,
welche im Flussbette marschiren musste, vordrang, immer grösser
wurden, bis sie endlich solche Dimensionen erreichten, dass die
Pferde nur mit der grössten Vorsicht zwischen diesen weiterschreiten
konnten. Dieses Gestein, welches sich bis zum Gipfel des Kisyl-art
erstreckt, bildete die Hauptschwierigkeiten, welche die Abtheilung hier
zu überwinden hatte. Glücklicherweise war schon der Mond auf¬
gegangen und der Marsch konnte ohne Unfall fortgesetzt werden.
Die Strecke vom Fusse der Schlucht bis zum Gipfel des Kisyl-art,
welcher 11,700 Fuss über dem Meeresspiegel liegt, beträgt 25 Werst,
und es könnte hier, nach Wegräumung der Steine, ganz gut ein
Fahrweg angelegt werden. Von der Höhe des Passes 1 ist ganz
Pamir, in dessen südlichem Theile der See Kara-kul liegt, zu über¬
sehen. Besonders deutlich tritt der Theil hervor, welcher unter«deni
Namen Pamir-chargosch (Hasen-Pamir) bekannt ist 2 . Das lange und
breite Flussthal des Kurun-ssai vereinigt sich hier mit dem, in der
Richtung von Osten nach Westen sich erstreckenden Thale des Sak.
Das erstere ist ungefähr 2 Werst breit; der Boden ist theils mit klei¬
nen Kieselsteinen bedeckt, theils besteht er aus festem oder locke¬
rem Sande; die das Thal begrenzenden, aus leicht verwitternden
thonigen Sandstein bestehenden Berge, erreichen nicht die Schnee¬
region und sind völlig kahl. Dieses Thal wird von einem anderen
gekreuzt und jenseits der die Kreuzung bildenden Bergrücken
(12,000 bis 13,000 Fuss hoch) sind rechts und links wieder andere,
schneebedeckte Bergketten zu erblicken. Das Thal des Sak erstreckt
sich 20 Werst weit und endigt, bei einer beständigen Steigung in
4 Hier befinden sich zwei Gräber karakirgisischer Heiligen; das eine, das grössere
ist mit Hörnern des Steinbockes, sowie mit Stücken von Kleidern geschmückt.
Zu beiden Seiten des Passes erheben sich einige, gegen 14,000 Fuss hohe, mit Schnee
bedeckte Berge.
* Nach Yule gibt es sechs verschiedene Pamir.
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östlicher Richtung, auf kleinen, aus Konglomerat bestehenden Berg*
rücken, dessen Höhe bis 11,700 Fuss beträgt. Hinter diesem Rücken
liegt das von Bergen rings umschlossene Thal des Sees Kara-kul.
Die ihn umgebenden Berge sind, mit Ausnahme der im Norden und
Westen liegenden, alles Gletscher. Die Aussicht auf den in einem
Kessel liegenden, mit Inseln und Halbinseln bedeckten, blauen See
ist eine höchst malerische. Die Entfernung bis zum See, den ziem¬
lich steilen Abhang hinab, beträgt 14 Werst. Zwei Werst vor dem
See, am Ufer eines kleinen, sich in diesen ergiessenden Baches,
schlug die Abtheilung ihr Nachtlager auf.
Am folgenden Tage (den 3. August) unternahm Oberst Kostenko
eine Exkursion zum See. Ein beträchtlicher Theil der Oberfläche
des Sees besteht aus Inseln und Halbinseln, welche, sich in der
Richtung von Norden nach Süden erstreckend, von Ferne den An¬
blick eines Höhenzuges gewähren. Die grösste Insel liegt am nörd¬
lichen Ufer, mit welchem sie mittelst einer 250 Faden langen und
IO Faden breiten Düne verbunden ist. Die letztere erhebt sich
kaum über die Oberfläche des Wassers und ist aus Triebsand ge¬
bildet, welchen der hier herrschende Nordwind angeweht hat. Die
Insel ist 8 Werst lang und 4 Werst breit und besteht aus 600 bis
700 Fuss hohen Sandhügeln, welche mit Glimmerschieferstücken so
bedeckt sind, als ob sie mit Scherben besäet wären. Von der Spitze
der Hügel ist der ganze See in seinen beiden Hälften, sowie die ihn
umgebenden Berge zu überblicken. Die Insel selbst ist völlig un¬
fruchtbar und zur Ansiedelung vollständig untauglich; dem un¬
geachtet wurden dort sowohl Menschen- als Thierspuren angetroffen.
Eine frische Hasenfährte war ebenfalls zu sehen, auch eine Menge
von Schädeln vom Ovis Polii mit den Hörnern lagen umher. Die
niedrigen, in langen Zungen in den See hineinragenden Ufer sind
stellenweise mit Gras bedeckt und dienen, den dort umherliegenden
Federn nach zu urtheilen, wilden Gänsen, Enten und Möven zum
Aufenthalt. Nach den vielen, jetzt trockenen Ufereinschnitten zu
urtheilen, muss die Insel im Wachsen begriffen sein. Solche Ein¬
schnitte sind, so lange sie nicht der Sand verweht hat, mit einer
dünnen, wie Schnee die Augen blendenden Schicht Magnesia über¬
zogen. Täglich, von 2 oder 3 Uhr Nachmittags an, wehen hier
scharfe Nordwinde, welche so heftig sind, dass die Steine, an der
Windseite, von dem angetriebenen Sande zerfurcht, ja sogar oft
vollständig durchbohrt werden. Trotz der starken Windstösse ge¬
lang es Hm. Kostenko dennoch, einen der äussersten Sandhügel auf
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der Insel zu besteigen, und ein prachtvoller Blick auf die den See
umkränzenden Gletscher, deren Gipfel sich' in seinen blauen Finthen
wiederspiegelten, belohnte die nicht geringe Mühe. In gerader
Richtung nach Süden von der Insel gesehen, und von dieser nur
durch eine Meerenge von i Werst Breite und 5 Werst Lange ge¬
trennt, erhob sich aus dem See ein hoher Sandrücken, welcher, jetzt
schon mit dem Festlande verbunden, ursprünglich auch eine Insel
gewesen sein wird. «Mir schien es,» sagt Hr. Kostenko, «als stände
ich in einem mächtigen Krater, dessen Boden mit Wasser bedeckt
war. Nur auf einer Stelle war der Rand dieses Kraters durch¬
brochen, doch auch jener Durchbruch war weiter zurück wieder von
Bergen geschlossen.»
Im Laufe des 3., 4. und 5. August rekognoszirte Hr. Kostenko
mit Hülfe des Oberstlieutenants Lebedew vom Topographen-Corps
die Ufer des Sees von drei Seiten, und nahm einen Plan von dem¬
selben auf, welcher zeigte, dass der See durch jenen, schon erwähn¬
ten Sandrücken in zwei Theile, den westlichen und östlichen, getheilt
wird. Beide Theile verbindet jene ebenfalls schon angeführte Meer¬
enge. Die Länge des Sees von Süden nach Norden beträgt 22
Werst. Die Breite von Osten nach Westen 17 \Verst. Der See
hat keinen einzigen Abfluss 1 , nimmt aber dagegen einige nicht sehr
wasserreiche Bergflüsse in sich auf. Hr. Kostenko ist der Ansicht,
dass der Wasserstand des Sees allmälig abnimmt. Die Entfernung
der Berge vom Ufer des Sees ist verschieden: auf der östlichen Seite
beträgt sie 10 Werst, an anderen Stellen nur 6, 4 und 2 Werst, und
auf der westlichen Seite treten die Berge nicht nur hart an’s Ufer heran,
sondern, Vorgebirge bildend, sogar weit in den See selbst hinein.
Im Uebrigen ist der See leicht zugänglich, der Boden desselben ist
sandig, das Wasser frisch und bleibt selbst beim stärksten Wellen¬
schläge stets klar, von Geschmack ist es etwas bitter, so dass die
Pferde es nur bei starkem Durste trinken. Dass der See auch Fische
enthält, dafür zeugen die in Menge über ihm kreisenden Wasser-
** »Der Kara-kul, sowie die ganze von mir bereiste Gegend von Pamir», sagt Hr
Kostenko, »gehört zu den bis jetzt noch am wenigsten erforschten Theiien der Erde.
Bezüglich des Sees Kara-kul existirten bisher nur Hypothesen. So ist auf der sonst
ausgezeichneten Karte von Petermann, welche Hm. Fedtschenko’s Reisewerk über
Turkestan beigelegt ist. angegeben, dass der See Kara-kul sich in den Kaschgar-Daija,
also nach Osten, ergiesst. Yule hingegen neigt sich der Ansicht hin, dass er in den
Oxus, also nach Westen, aubfiiesst. Endlich meinen Andere, der Kara-kul habe zwq
Ausflüsse: einen nach Westen und einen nach Osten. Die von mir ausgefilhrte Rekof.
nosziruog ergab, dass keine der aufgestellten drei Ansichten richtig ist.»
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vögel, auch hat Hr. Kostenko Gelegenheit gehabt, selbst, vom Ufer
aus, kleine Fische zu beobachten. Die flachen Ufer des Sees und
der in ihm mündenden Bäche sind mit zwar spärlichem, aber sehr
kräftigem Grase bedeckt, welches, wenn auch eben kein reichliches,
so doch ein sehr genügendes Futter liefert Dieser Graswuchs ge¬
währt den, in der Umgegend nomadisirenden Stämmen die Möglich«
keit, von Zeit zu Zeit die Umgegend des Sees Kara-kul zu besuchen.
Nach Aussage der das fliegende Kommando begleitenden Eingebor-
aen nomadisiren hier die karakirgisischen Stämme der Itschkiliken,
Najmanen und Taiti, von denen übrigens zur Zeit des Aufenthaltes
der Expedition am See Niemand zu sehen war, wenngleich vielfache
Spuren, sowohl von Menschen als Thieren, angetroffen wurden.
Die hier in grossen Quantitäten Vorgefundenen thierischen Exkre¬
mente dienten dem Kommando zur Feuerung.
Während des Aufenthaltes der Kolonne am Ufer des Kara-kul
war es am Tage stets sehr heiss. Nachts aber sank die Temperatur
auf o°. Regen erscheint hier, nach Angabe der Eingebomen, sehr
selten; zur Sommerzeit fällt er in diesem n,oooFuss über dem
Meeresspiegel liegenden Thalkessel stets in Form von Graupeln
nieder. Der im Winter fallende Schnee wird stets von den bestän¬
dig wehenden heftigen Nordwinden weggefegt.
«Es ist*, sagt Hr. Kostenko, «noch einer eigenthümlichen Er¬
scheinung in Betreff dieses Sees zu erwähnen; die Eingebornen be¬
haupten nämlich, dass der Wasserstand des Sees einmal wöchent¬
lich, und zwar am Freitag, steige. Diese Erscheinung kann nicht
als eine unmögliche betrachtet werden; denn ich hatte Gelegenheit,
mich während meines Aufenthaltes am Kara-kul von der Wahrheit
der Angaben der Eingebomen zu überzeugen. In der That nahm
ich wahr, dass das Wasser des Bergflüsschens, an welchem wir
bivouakirten, am Donnerstag Abend anffng zu steigen und am Mor¬
gen des folgenden Tages, also am Freitag, fast die doppelte Höhe
des Wasserstandes erreicht hatte, den es an den anderen Tagen
besass.»
Der vom Fürsten Wittgenstein ausgesandte Kundschafter brachte
am vierten Tage des Aufenthaltes der Truppe am Kara-Kul die
Nadhricht: Abdul-Beg sei, in Begleitung einiger weniger Anhänger
nach Afghanistan geflohen, und wolle von dort eine Pilgerfahrt
nach Mekka unternehmen. Da ein Befehl, nach dem Alai zurück¬
zukehren, nicht erfolgt war, so gestattete der Fürst Wittgenstein
Hrn. Kostenko eine Rekognoszirung in der Richtung zur kaschgari-
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sehen Grenze bis zum See Ran-kul und der Gegend mit Ssary-kol zu
unternehmen. In Begleitung des Oberstlieutenants Lebedew, des
Geodäten Bonsdorf und einer Bedeckung von 15 reitenden Jägern,
mit Proviant auf 3 Tage versehen, rückte Hr. Kostenko am 6. August
in der angegebenen Richtung aus.
Der erste Tagesmarsch betrug 24 Werst und wurde dem Ufer
des Kara-kul entlang, zwischen dem See und den ihn umgebenden
Bergen in östlicher Richtung zurückgelegt. Diese Ebene ist circa
6 Werst breit und nur auf einer Stelle verengt sie sich bis auf
2 Werst. Der Boden ist locker, grösstentheils sandig mit Salz¬
lacken untermischt, näher nach den Bergen zu wird er steinig, und
unmittelbar an dem Gebirge geht er über Felsmassen. Eine Menge
kleiner Seen und Tümpel bedecken die, den Kara-kul umgebende
Fläche; von jenem nur durch schmale Sanddünnen getrennt, be¬
stätigen sie die Ansicht, dass der See in auffallender Weise aus¬
trocknet.
Am folgenden Tage, den 7. August, nachdem die Kolonne noch
4 Werst der Ebene entlang zurückgelegt hatte, betrat sie die Schlucht
Ala-bajtal (bunte Stute). Der Weg wand sich bergan, im Bette
des hier fliessenden Baches. Dieser Bach verschwindet bisweilen von
der Oberfläche, seinen Lauf unterirdisch fortsetzend, um dann tiefer
unten wieder an das Tageslicht zu treten. Sein Bett ist mit kleinen
Kieselsteinen bedeckt und die Steigung nimmt zu, je weiter man in
die Schlucht eindringt. Die Entfernung von dem Anfänge der
Schlucht bis zum Bergkamme, der 12,000 Fuss hoch ist, beträgt
6 Werst. Die Berge, in denen die Schlucht liegt, zeigen Thon¬
schiefer. In der Schlucht sah man Hasen und auf dem Bergkamme
eine Heerde von 8 Stück Gemsen, auch Adler und Raben wurden
bemerkt. Ein 5 Werst langer steiler Abhang führte vom Berg¬
kamme in das Thal des Flusses Tschon-ssu hinab. Das 2—3 Werst
breite Thal des Tschon-ssu («grosser Fluss») zieht sich in der Rich¬
tung von SO nach NW. Das Thal seines rechten Zuflusses, des
Us-bel-ssu, vereinigt sich mit dem Hauptthale unter einem stumpfen
Winkel, ungefähr 20 Werst unterhalb der Quellen des Tschon-ssu,
welcher somit, in seinem unteren Laufe, so zu sagen die Fortsetzung
des Us-bel-ssu bildet. Weiter abwärts macht der Tschon-ssu eine
scharfe Wendung und mündet dann in den südlichen Theil des Sees
Kara-kul.
Nach einer Rast bei der Vereinigung der beiden Flüsse schlug
man den Weg in der Richtung nach Osten, stromaufwärts des, in
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dieser Richtung fast 31 Werst fliessenden Us-bel-ssu ein. In seinem
unterem Laufe ist derselbe von nicht sehr hohen, aus rothem Thon
und Konglomerat bestehenden Bergen eingezwängt. Der Weg ist
mit Kiselsteinen bedeckt; weiter hinauf breitet sich das Thal bis
auf 2 Werst aus, nach Osten sanft ansteigend. Die dasselbe be¬
grenzenden Berge sind auf der rechten (nördlichen) Seite 2—3000
Fuss hoch; die der linken (südlichen) erreichen stellenweise die
Schneeregion bei einer Höhe von 15—16,000 Fuss. Die Abhänge
der Berge, wie das Flussthal selbst, sind kahl und unfruchtbar. Nur
hin und wieder, an den von den Bergen herabfliessenden Bächen,
so wie am Ufer des Us-bel-ssu, sind kleine mit bisweilen sehr
saftigem Grase bedeckte Stellen anzutreffen, und diese Grasplätze
sind es, welche es den Nomaden ermöglichen, ihre Heerden hier zu
ernähren. Die Spuren solcher Heerden zeigten sich dem ganzen
Flusse entlang, ja die kleine Kolonne des Hrn. Kostenko folgte
grösstentheils einem von diesen Heerden ausgetretenemStege, welcher
hier die grosse Strasse vom Alai über Kara-kul und Ssary-kol in
das kaschgarische Gebiet repräsentirt.
Die Gebirgszüge, welche dasThal von Us-bel-ssu bilden, schliessen
es im oberen Theile des Flusses ab, und cs bildet der BergUs-bel die
Wasserscheide zwischen dem Kara-kul und Sary-kol, so wie über¬
haupt der Flüsse die den Tarim-gol bilden. Der rothe Sattel des
Us-bel ist 25 Werst weit zu sehen und diente Hrn. Kostenko als
Richtschnur.
Von der Spitze des Us-bel (12,500 Fuss) eröffnet sich, nach beiden
Seiten, ein grossartiger Anblick: rückwärts, nach Westen, liegt
wie auf der Hand ausgebreitet das ganze Thal des Us-bel, so wie
des unteren Theiles des Tschon-ssu; letzteres Thal wird von einer
16—18,000 Fuss hohen Gletscherwand abgeschlossen. Vorwärts,
nach Osten, breitet sich das Thal eines der Zuflüsse, die den Kasch-
gar*Darja bilden, aus. Dieses Thal ist ähnlich dem des Us-bel-ssu;
die dasselbe rechter Hand nach Süden begränzenden Berge sind
höher als die links, nach Norden, gelegenen und haben auch
einige Schneekuppen aufzuweisen. Abgeschlossen wird das Thal
durch ein weit über die Grenze der Schneeregion hinaufragendes
Gebirge. Wahrscheinlich hat Hr. Yule, in seinem Umriss der Geo¬
graphie und Geschichte des oberen Amu-Darja, dieses Gebirge als
dasjenige bezeichnen wollen, welches die Grenze zwischen der Hoch¬
ebene von Pamir und dem östlich Turkestan bildet. Sich auf Hay-
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ward 1 berufend, gibt Yule die Höhe einzelner Spitzen dieses
Gebirges mit 20—21,000 Fuss an; Hr. Kostenko dagegen ist der
Ansicht, dass sie eine Höhe von 25 —26,000 Fuss erreichen f . Die
Entfernung vom Us-bel bis zu diesem Gebirge beträgt gegen
80 Werst. Hinter demselben beginnt, noch 60 Werst entfernt, das
kaschgarische Gebiet.
•Dieser von mir gesehene Gebirgszug-» sagt Hr. Kostenko, «ent¬
scheidet eine der wichtigsten Fragen bezüglich der Geographie
Central-Asiens, nämlich die Existenz eines in der Richtung des Meri¬
dians streichenden Gebirges, welches Humboldt als das Bolor-Gebirge
bezeichnet hat. In neuerer Zeit verwarfen erst russische Forscher,
wie Ssewerzew und Fedtschenko und nach diesen auch englische, die
Existenz dieses Gebirges. Sie gingen von der Ansicht aus, dass
die Hauptgebirgszüge] des Thian-Schan und des Himalaja sich
hier vereinigten und einen Knoten bildeten, den Humboldt für ein
selbständiges Gebirge gehalten hat. Nach Ansicht jener Forscher
besteht der Vereinigungspunkt des Thian-Schan mit dem Himalaja
aus einer Reihe von Gebirgsrücken mit einer vorherrschenden Rich¬
tung von Osten nach Westen. Fedtschenko, welcher 1871 das Thal
von Ferghana, das Alai-Gebirge und den Alai bereist hat, behauptet,
dass auch das Gebirge von Pamir in derselben Weise gestaltet sei,
wie diejenige der von ihm bereisten Länder und zwar, dass es aus
einzelnen parallel laufenden Gebirgszügen bestehe. Die Existenz
eines meridionalen Gebirgszuges verwirft er gänzlich. Wir werden
unten sehen, dass der Bau Pamir’s ein anderer ist, und bezüglich
des meridionalen Gebirgszuges, welcher das Hochplateau von Osten
begrenzt, so habe ich diesen, vom Gipfel des Us-bel aus, selbst mit
eigenen Augen gesehen. Die Entdeckung dieses Gebirgszuges ist
1 Häyward bereiste Turkestan in den Jahren 1868 —1870 und beabsichtigte von hier
aus nach England zurückzukehren. Aus unbekannten Gründen änderte er indess
seinen Plan und ging nach Indien zurück. Auf der Rückreise nach dort wurde er in
Yassin ermordet.
* Der bekannte, leider zu früh verstorbene Erforscher Central-Asiens, Hr. Fed¬
tschenko. verwarf, freilich nur auf theoretische Gründe fussend, die Existenz eines
Gebirges, welches Pamir von Osten begränzen solle. Seiner Ansicht nach war das, was
Tlayward für ein Gebirge hielt, nichts anderes als die steilen Abhänge des Hochpla¬
teaus von Pamir, die zu der Zeit, als Hayward sie von der kaschgarischen Seite aus
gesehen hatte (im Monat März), mit Schnee bedeckt waren und daher ihm als ein
Gebirge erschienen. Hm. Kostenko aber, welcher sie von der anderen Seite, und zwar
am 7. August d. J. gesehen hatte, Überzeugte sich, dass es ein Gebirge, und zwar ein
sehr hohes sei.
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55i
zweifellos eine wichtige Errungenschaft für die Geographie Central-
Asiens, und es wäre wohl angemessen, denselben, zu Ehren des
erlauchten Beschützender geographischen Wissenschaft in Russland,
den »Konstantinow’schen* zu benennen».
Vom Pass des Us-bel bis zum kleinen See Ran-kul beträgt die
Entfernung, nach eingezogenen mündlichen Erkundigungen, 24
Werst, von hier bis Ssary-kol 12 Werst. Der Punkt Ssary-kol
(gelbe Hand) besteht aus einem Thale und einem Flusse. Der er-
stere wird von den Nomaden häufig besucht; der letztere, welcher von
der Spitze des Us-bel herabflies9t, vereinigt sich am Fusse des Berges
mit einem anderen, durchströmt, wie man sagt, den See Ran¬
kul und geht dann, unter dem Namen Ssary-kul, in das Kaschgari-
sche Gebiet. Indess bedürfen, nach der Meinung des Hrn. Ko-
stenko, diese Aussagen noch einer genauen Prüfung. Er selbst
konnte, aus Mangel an Lebensmitteln, nicht bis zum Sec Ssary-kul
Vordringen.
Am 8. August trat Hr. Kostenko die Rückreise an. Der erste
Haltepunkt wurde am Ausflusse des Us-bel-ssu gemacht. Dieser
Punkt wurde von Hm. Bonsdorf astronomisch bestimmt.
In Betreff des Passes von Us-bel bemerkt Hr. Kostenko noch,
dass er zwar hoch aber leicht zu passiren ist. Der Berg erscheint
von beiden Seiten wie abgedrechselt und bietet weder beim
Hinan- noch Hinabsteigen die geringste Schwierigkeit dar. Der
Boden besteht aus rothem Lehm, untermischt mit kleinen Kiesel¬
steinen. Der Pass befindet sich auf einer Höhe von 1000 Fuss über
der Thalsohle, die an beiden Seiten des Passes liegenden Berge er¬
reichen eine Höhe von 14,000 Fuss, also von 1,500 Fuss über
dem Passe und sind stellenweise mit Schnee bedeckt. Hr. Kostenko
fügt noch hinzu, dass die Schneeregion der Berge dieser Gegend
auf der nördlichen Breite bei 14,000, auf der südlichen bei 15 ja
sogar 16,000 Fuss Höhe beginnt.
Das nächste Nachtlager wurde beim Zusammenfluss des Us-bel-
ssu mit dem Tschon-ssu, am Fusse des Ala-Bajtal, am Eingänge in
die Schlucht «kleine Tschon-ssu», aufgeschlagen. Um den Ueber-
gafig über den Alä-Bajtal zu vermeiden, wurde beschlossen, durch
diese Schlucht in das Lager am Kara-kul zurückzukehren. Dieser
Weg erwiess sich auch viel besser und dabei nicht weiter, als der
über den Pass von Ala-Bajtal. Die Schlucht trägt zwar den Namen
des Flusses Tschon-ssu, wird aber nicht von ihm bewässert, sondern
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552
ist trocken. Sie erhebt sich unmerklich, es sind hier nur einige
Hügel zu überschreiten und der Ausgang aus der Schlucht in die
Ebene des Sees Kara-kul ist nur durch einen unbedeutenden Hügel
gesperrt. Auf der Spitze dieses Hügels befinden sich ebenfalls zwei
Gräber Karakirgisischer Heiligen, von denen das eine mit einer
Menge Hörner des Ovis Polii bedeckt war. Hier vereinigen sich drei
Wege: der eine führt nach Badachschan, der andere über Kisyl-art
nach Chokand, der dritte über Us-bel nach Kaschgar.
Am 9. August um 3 Uhr Nachmittags langte Hr. Kostenko mit
seiner Truppe wohlbehalten im Lager von Kara-kul an, von wo
die ganze fliegende Kolonne des Fürsten Wittgenstein am anderen
Tage nach dem Alai aufbrach, um sich Tags darauf mit dem Haupt¬
corps im Lager bei Artschi bulak, am südlichen Abhange des Alai-
Gebirges, 20 Werst von der Schlucht Kisyl-art, zu vereinigen.
Hr. Kostenko hat sich demnach im Ganzen 9 Tage in Pamir auf¬
gehalten und die Strecke bis zum Us-bel, 136 Werst, laut folgender
Marschroute zurückgelegt:
Vom Anfänge der Schlucht Kisyl-art bis zur Spitze
des Passes. 25 Werst.
In das Thal des Sees Kara-kul.,30 *
Zur Position am Kara-kul.12 *
Zur Schlucht des kleinen Tschon-ssu.29 »
Bis zur Vereinigung des Tschon-ssu mit dem Us-bel-ssu 9 *
Der Uebergang überden Us-bel.31 *
136 Werst.
Während der Abwesenheit des Hm. Kostenko hatte der Fürst
Wittgenstein die Verfolgung des Abdul-Beg fortgesetzt und war,
nachdem er den Fluss Tschon-ssu hinaufgegangen, über den Pass
von Tujuk^ssu zurückgekehrt. Jenseits des Passes fliesst, in süd¬
östlicher Richtung, der Fluss Akssu-Aburgab und mündet, 80 Werst
vom Pass, in das unter dem Namen Ak-Bajtal (weisse Stute) be¬
kannte Hochplateau, welches, nach Aussage der Eingeborenen, so
breit sein soll, dass von der Mitte aus die dasselbe begränzenden
Gebirgszüge nicht zu sehen sein sollen. Hier fliesst der Kara-
Darja und hier befinden sich die grossen Strassen nach Kaschgar
und Afghanistan.
Die ganze von Hm. Kostenko bereiste Gegend ist vom Oberst¬
lieutenant Lebedew aufgenommen, im Maassstabe von 2 Werst
auf den Zoll, sie umfasst im Ganzen eine Fläche von ca. 3,700
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Quadrat-Werst. Die Charakteristik dieser Gegend fasst Hr. Kostenko
in Folgendem zusammen:
Das Trans-alai-Gebirge hat das Aussehen einer Alpenkette. Es
bildet die nördliche Grenze von Pamir. Hinter diesem Gebirge
beginnt ein Hochplateau, welches nach allen Richtungen hin von
Bergrücken durchzogen ist, von denen die wenigsten die Schnee¬
region erreichen. Die Ebenen, Thäler, Schluchten, so wie die
Bergrücken selbst, liegen nicht in einer bestimmten Richtung, son¬
dern sind wie durcheinander geworfen. Die Thäler sind nicht breit
(2—3 Werst), auch zweigen sich häufig Nebenthäler von ihnen ab.
Die ganze Gegend ist bäum- und strauchlos, selbst Gras wächst
nur an einzeln kleinen Stellen, an den Ufern der Bäche, wo es
bisweilen sehr dicht und üppig erscheint und so dem Vieh der No¬
maden einige Nahrung gewährt. Die Berge bestehen aus weichem
Gestein, und sind daher die Pässe weniger steil und leichter zu über¬
schreiten, wie überhaupt sämmtliche Wege in Pamir leidlich gut sind.
Die, von den nicht hohen Bergen herabkommenden Bäche und
Flüsschen sind in der Regel nicht reissend und bieten daher auch
beim Ueberschreiten keine Schwierigkeiten dar. Der Boden besteht
entweder aus steinigem Sande, oder sandigem Lehm, oder sandigen
Salzlaken, oder auch aus reinen Salzlaken, die, wenn sie erst vor
Kurzem ausgetrocknet sind, mit einer, wie Schnee blitzenden Magne¬
sia-Schicht überzogen sind. Bisweilen sind auch feuchte Stellen
anzutreffen, auf denen stets ein niedriges aber dichtes Gras wächst.
Auf Plätzen, wo der Boden Eindrücke aufnehmen konnte, waren
Fährten von Gemsen, Hasen, Wölfen, Füchsen und Hirschen zu
sehen. Der Steinbock (Ovis Polii) ist unzweifelhaft früher hier sehr
zahlreich vorgekommen, aber der gänzliche Mangel an frischen
Fährten, sowie die zahllose Menge überall umherliegender grosser
schwerer Hörner dieser Thiere berechtigt zu der Annahme, dass
sie nach der Seuche, welche im Jahre 1869 unter ihnen herrschte,
scheinbar ausgestorben sind. Die gefundenen Hörner waren stets
noch mit dem Schädel verbunden, dagegen fehlten die übrigen
Theile der Skelette. Bären und Tiger wurden nicht angetroffen *;
aus der Vogel weit wurden: Adler, Geier, Raben, rothschnabelige
Dohlen und sehr viel kleines Geflügel gesehen.
Trotz des rauhen Klimas wird Pamir dennoch im Sommer von
den Nomaden der Kasgarischen, Schugnanschen, Karateginschen
* Yule bemerkt in seinem Umriss der Geographie und Geschichte des oberen Amu-
Daija: «bears and tigers are occasional visitors».
Hum. Beta«. Bd. IX. 36
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und anderer Gebiete besucht. Alle [diese Nomaden beschäftigen
sich ausschliesslich nur mit der Viehzucht. Im Sommer sind die
Tage heiss, die Nächte dagegen kalt Anfang August sinkt die
Temperatur hier schon bis zu 5° C. herab. Das Flüsschen Tschan*
ssu, an welchem Hr. Kostenko am 8. August übernachtete, war am
Morgen mit einer l /* Zoll dicken Eisschichte bedeckt. Im Winter
erreicht die Kälte dort einen sehr hohen Grad und sie ist es, welche
die Nomaden zwingt, in niedrigere Regionen herabzusteigen. Die
Winde sind in der Regel sehr scharf; ihre Richtung hängt von der
Lage der Thäler ab. Als Hr. Kostenko die Insel auf dem See
Kara-kul besichtigte, wehte der Nordwind so stark, dass ihm das
Athmen erschwert wurde. Die dünne Atmosphäre erschwert dem
Menschen, sogar während des Sommers, ebenfalls den Aufenthalt
in Pamir, wenngleich die Erzählungen von ihrem schädlichen Ein¬
fluss oftmals übertrieben sind K Es unterliegt keinem Zweifel,
dass vollblütige Menschen hier an Nasenbluten leiden, auch Ohn¬
mächten unterworfen sind; bei der Mehrzahl aber äussert sich der
Einfluss dieser Atmosphäre in erschwertem Athmen und zeitwei¬
ligen Brustbeklemmungen; indess gewöhnt man sich auch an diese
Luft. Freilich erzählt Hr. Kostenko, dass er, als er auf den Alai
zurückgekehrt, d. h. nachdem er von einer Höhe von n —12,000
auf 8,500 Fuss herabgestiegen war (zur Position bei Artschi-bulak),
eine bedeutende Erleichterung fühlte; es war, als ob ihm eine Last
von den Schultern genommen war, das Athmen wurde leichter, der
ganze Organismus frischer und der Alai mit seinem dichten hohen
Grase errinnerte ihn lebhaft an die heimischen Wiesen. Von den
dort nomadisirenden Karakirgisen hatte man keinen Einzigen ge¬
sehen ; sie hatten sich alle in die Nebenschluchten versteckt.
Am 16. August wurde aus dem Lager von Artschi-Bulak ein
Detachement, unter dem Komando des Fürsten Wittgenstein, in
die am Flusse Kisyl-ssu gelegene, früher Chokandische Befestigung
Daraut-Kurgan abkommandirt. Der einzuschlagende Weg führte
1 Schon in Chokand wurden Hrn. Kostenko Wunderdinge von dem schädlichen
Einfluss der dünnen Atmosphäre von Pamir erzählt. Es wurde ihm gerathen sich
mit Salmiak oder wenigstens mit Knoblauch zu versehen. AuchYule bespricht^ diesen
Punkt und bemerkt, dass die Räubereien der Shignis etc. wahrscheinlich die Kirgisen
von Pamir vertrieben haben und citirt dann Fedtschenko, welcher von den Kirgisen
erfahren habe, es sei die dünne Gebirgsluft, welche den Pamir unbewohnbar mache.
Hr. Kostenko dagegen ist der Ansicht, dass nicht diese Gebirgsluft, sondern der Mangel
an Futter, die Unfruchtbarkeit und das rauhe Klima dieser Gegend den Aufenthalt dort
so sehr erschweren.
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sss
dem rechten Ufer des Kisyl-ssu entlang, am Fusse des AIai-Gebirges,
welches bei einer Höhe von 13,000 .bis 13,5000 Fuss die Schnee¬
region hier nicht erreicht, wo hingegen das gegenüber liegende
Trans-alaische Gebirge fast durchgängig aus Gletschern besteht.
Ein «trockener Nebel* 1 verschleierte die ganze Umgegend und
raubte dem Auge die Aussicht auf dieses Gebirge. Das Deta-
schement brauchte 2 Tage (den 16. und 17. August), um bis zu der
70 Werst entfernten Befestigung zu gelangen. Während der ganzen
Zeit wehte ein heftiger West-Wind (hier der vorherrschendste), welcher
gewöhnlich zur Mittagszeit beginnt und sich erst am Abend legt.
Je weiter das Detaschement vorrückte, desto mehr veränderte sich
der Charakter des Alai: das Thal wurde enger, der Graswuchs
sparsamer, der Boden steinig. 30 Werst vor Daraut-Kurgan rücken
die Berge bis hart an das Ufer des Kisyl-ssu und schneiden den
Weg vollständig ab, so dass das Detachement gezwungen war,
einige Werst weit seinen Marsch über diese Berge fortzusetzen.
Eine Menge ausgetretener Stege spricht dafür, dass hier eine
rege Bewegung unter den Nomaden herrschen muss. Näher zur
Befestigung wird die Schlucht des Kisyl-ssu noch enger, sie ist dort
k?um 1 Werst breit. Dafür aber erblickt man hier wieder, und
zwar zum ersten Male, einiges Gesträuch, fasst ausschliesslich
Weiden, die auf den, die Ufer des Flusses umsäumenden, Gras¬
plätzen wachsen. Auch die Hippophae rhamnoides (Sanddorn) mit
ihren orangefarbenen, säuerlichen, dicht an den Stengel sitzenden
Beeren, ist hier anzutreffen.
Die Befestigung Daraut-Kurgan liegt am rechten Ufer des Kisyl-
ssu, an der, in den Alai mündenden Schlucht Isfairam, die wiederum
dem Daraut-ssu als Flussbett dient. Daraut-Kurgan ist vor nicht
sehr langer Zeit von den Chokandern erbaut, um die auf dem un¬
teren Alai lebenden Nomaden zu beobachten, und nimmt insofern
noch eine besonders günstige Lage ein, als sie zugleich auch das
Flussthal des, von der linken Seite in den Kisyl-ssu fallenden, Tus-
Altyn-Dara beherrscht. Die Besatzung der Befestigung bestand
aus einer kleinen Garnison, an deren Spitze ein höherer Beamter
des Chans, ein sogenannter «Datcha» stand, dessen Pflicht es war,
die Steuer (das 40. Stück Vieh) von den Nomaden einzutreiben.
1 Die «trockene Nebel» (cyxoft Tynam.) sind eine sich dort häufig wiederholende
Erscheinung. Sie entstehen in Folge einer Bewegung der unteren Luftschichteu nach
oben, wobei ein feiner, die ganze Umgegend verdeckender Staub, mit empor gehoben
wird.
36*
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Kurz vor dem Einmarsch der Russen in das Ferghana-Gebiet wurde
Daraut-Kurgan von den Karakirgisen überfallen und die ganze
Besatzung mit sammt dem Datcha niedergemetzelt.
Das Detachement lagerte Va Werst von der Befestigung am
rechten Ufer des Kisyl-ssu, auf einer Höhe von 7,400 1 Fuss. Am
folgenden Tage (am 18. August) rückte der Fürst Wittgenstein den
Fluss Tus-Altyn-Dara * aufwärts weiter vor, um den karakirgisi-
schen Stamm der Itschkiliken, welche sich bis dahin noch nicht unter¬
worfen hatten, zum Gehorsam ; zu zwingen. Der Weg führte strom¬
aufwärts, dem Tus-Altyn-Dara entlang, in der Richtung von Süden
nach Norden. Das Flussthal ist in seiner ganzen Länge (gegen
40 Werst) ziemlich breit und, wie alle Flussthäler dieser Gegend,
von bergen begrenzt; im unteren Theile zeichnet es sich durch be¬
sonders üppigen Graswuqhs aus, und wird daher diese Gegend beson¬
ders stark von den hier lebenden Nomaden besucht. Auch gestattet
der lehmige Boden ihnen dort etwas Ackerbau zu treiben, d. h. sie
säen Gerste aus, welche das 5. Korn gibt. Der Weizen reift hier
nicht mehr, da schon im August der Schneefall beginnt 8 . Die hier
lebenden Geschlechter der Taiti und Najmany vom karakirgisi-
shen Stamme der Itschkiliken, halten sich während der Sommerzeit
im oberen Theile des Flussthales auf. Ihre Winterwohnungen,
primitive Lehmhütten, mit den Einfriedigungen für das Vieh, befinden
sich in dem unteren Theile. Während des Durchmarsches des Deta-
schements war indess keine menschliche Seele zu erblicken. Alle
hatten sie sich in die Nebenklüfte, oder auf die höher gelegenen Berg¬
plateaus geflüchtet.
Der Weg, in seiner ganzen Länge, liegt am Ufer des Flusses,
der hier nicht tief und zu jeder Jahreszeit leicht zu überschreiten ist.
Sein Wasser ist nicht roth, wie das des Kisyl ssu, in welchem er
mündet. Einzelne Berge der das Thal von beiden Seiten begren¬
zenden Bergketten erreichen die Schneeregion. Die Berge sind
felsig und kahl, und laufen zum Flussbette hin in Vorberge aus,
welche, wie es bei sämmtlichen Bergketten von Chokand der Fall
ist, aus angeschwemmten und der Verwitterung unterworfenen Ge¬
bilden bestehen. Sie sind grösstentheils mit Rasen bedeckt und
4 Hr. Fedtschenko gibt die Höhe dieses Ortes mit 8,300 Fass an,
* Tus (1731) bedeutet Salz, welches hier, 10 Werst oberhalb der Mündung des
Flusses in den Kisyl-ssu, in den Bergen gewonnen wird.
8 Am Kisyl-ssu, unweit der Befestigung Daraut-Kurgan, wird Weizen gebaut, aber
nur in geringem Maassstabe.
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bilden die Tummelplätze der Nomaden; nur hin und wieder trifft
man biosgelegte Stellen, wo die Formation der Berge deutlich zu
erkennen ist und an die der Moränen erinnert. Ueber diese Vor¬
berge führt die grosse Strasse, welche die Nomaden einschlagen,
wenn sie dem Laufe des Tus-Altyn-Dara entlang wandern. Der Weg
ist gut, mit Ausnahme einiger Stellen, an welchen diese Vorberge
hart an das Flussbett herantreten und steil herabfallen, und wo der
Pfad sich unmittelbar am Abhange hin windet. Besondersist es das
rechte (östliche) Ufer, wo die Berge weniger steil sind, als am linken
(westlichen), welches die besten Weideplätze darbietet, und die Menge
der dort ausgetretenen Stege weist darauf hin, dass es von grossen
und zahlreichen Heerden betreten wird. Das Flussbett selbst ist
in seinem ganzen Lauf schmal und steinig. Noch eine eigentüm¬
liche und seltene Erscheinung bietet dieser Theil des Flussthaies
dar, nämlich: er dient zugleich auch als Ausfluss eines anderen Ge¬
wässers, welches aber in diametral entgegengesetzter Richtung strömt.
Diese gewiss seltene Erscheinung entsteht dadurch, dass der, dem
Schneegebirge des linken (östlichen) Ufers entspringende Bach
Ters-agar sich am Fusse des Gebirges in zwei Arme theilt, von
denen der eine nach Norden fliesst, und jenen schon erwähnten
Fluss Tus-Altyn-Dara bildet; der andere aber sich nach Süden,
unter dem Namen Ters-agar, wendet, um sich später mit dem
grossen Gebirgsflusse Muk-ssy zu vereinigen. Somit entspringen
beide Flüsse derselben Quelle, derselben Schlucht.
Der Pass dieser Schlucht ist für das Auge fast unerkennbar;
seine absolute Höhe beträgt 9,700 Fuss *.
Am folgenden Tage ^19. August) erhielt Hr. Kostenko vom
Fürsten Wittgenstein den Auftrag, eine Rekognoscirung der Um¬
gegend vorzunehmen, wobei es ihm freigestellt war, so weit, als er es
für möglich halten würde, vorzudringen. In Begleitung des Lieute¬
nants Shilin vom Topographen-Corps und einer Bedeckung von eini¬
gen reitenden Jägern und Kosaken begab sich Hr. Kostenko in das
Thal des Ters-agar. Dieses Thal unterscheidet sich von den ande¬
ren hauptsächlich dadurch, dass seine Sohle ganz glatt und eben ist.
1 Alle früher gemachten Höhenmessungen wurden mittelst eines tragbaren Parrot-
schen Barometers veranstaltet. Hr. Kostenko aber hatte sich für diese Expedition mit
einem genau ausgeglichenen Aneroid versehen, mit welchem er auch seine sämmtlichen
Messungen ausgeführt hat. Und da auf dem Rückwege das Aneroid dieselben Resul¬
tate ergab, so hält sich Hr. Kostenko für berechtigt anzunehmen, dass seine Messungen
absolut richtig sind.
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55 «
In der Mitte des Thaies schlängelt sich der zwischen flachen Ufern
liegende Ters-agar, einem schmalen Bande gleich, hin. Nachdem er
5 Werst in solcher Weise zurückgelegt hat, stürzt er in das jäh abfal¬
lende Thal des Muk-ssu herab. Der Anblick auf das Muk-ssu Thal
und die es im Süden begrenzenden Schneeberge gehört zu den
schönsten, welche Hr.Kostenko bis dahin genossen hatte. Wie auf den
Wink eines Zauberers eröffnet sich ganz plötzlich und unerwartet
dem Auge des Reisenden die Aussicht auf diesen grossen, mulden¬
förmigen Einschnitt, auf dessen, mit Kieseln bedecktem Boden der
Muk-ssu in mehrere Arme getheilt dahin fliesst. Diese Mulde wird
von hohen, felsigen, steil in die Höhe strebenden Gebirgszügen ein¬
gefasst, deren südlicher Abhang, bis zu fast zwei Dritteln ihrer Höhe,
mit Schnee bedeckt ist. Einzelne Berge des südlichen Gebirgs-
kammes (seine örtliche Benennung ist Hau) erreichen eine Höhe
von wenigstens 25,000 Fuss. Die Eisfelder zweier dieser Glet¬
scher reichen, jäh abfallend, bis in das Thal hinab; jedem der¬
selben entspringt ein Bach mit milchweissem 1 Wasser. Ein dritter
ähnlicher Gletscher befindet sich in dem, das Thal von Osten begren¬
zenden Gebirgskamme. Weniger hoch und steil ist der nördliche
Gebirgskamm (nur 14 bis 15,000 Fuss), von diesem führt ein aus¬
getretener Fusssteg den Abhängen entlang in das Thal hinab, den
auch Hr. Kostenko benutzte. Der Punkt, wo der Fusssteg beginnt,
ist 9,500 Fuss hoch, er windet sich, oft in steilem Zickzack, zwi¬
schen Steinen, mit denen die Abhänge besäet sind, in das Thal hinab.
Seine Länge beträgt vier Werst. Spuren einer Vegetation, wie
z. B. Wachholdersträuche und verkümmerte, schmächtige Birken
sind hin und wieder anzutreffen. Am Ende des Fusssteges, dort,
wo er an der Fluss führt, befinden sich auf einem kleinen Hügel
zwei Gräber muselmännischer Heiligen. Ein ganzer Wald von,
an Stangen befestigten Rossschweifen (Tuga genannt) schmückt
nach örtlichem Gebrauch diese Gräber, welche den Namen
(Altyn-Masar) d. h. «goldene Gräber» führen. «Goldene» werden
sie daher genannt, weil in einem derselben Gold verscharrt gewesen
sein soll, welches aber, wie der Führer Hrn. Kostenko eingestand,
schon längst von unbekannter Hand geraubt worden ist. Am Fusse
des nördlichen Gebirges sieht man Streifen Landes, welche mit
Weiden, Kreuzdorn und anderem Strauchwerk bestanden sind. Die
* Hr. Kostenko hat bemerkt, dass sämmtliche, den Gletschern entspringende Bäche
milchweisses Wasser haben.
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S59
örtliche Benennung dieser Wäldchen ist Tugaj, sie werden be¬
wässert, die einen von Quellen, andere vom Muk-ssu, wenn dieser
aus seinen Ufern tritt, andere wiederum werden von den aus den
Bergen entspringenden Bächen berieselt. Eine ganze Reihe solcher
Tugaj’s befindet sich, in Zwischenräumen von l / 2 bis zu i Werst,
am Abhange des nördlichen Gebirgskammes, sie dienten den
Nomaden als sichere und behagliche Zufluchtsorte. Hr. Kostenko
ist drei Werst weit in das Thal vorgedrungen, hat dort zwar
frische Spuren, aber keinen einzigen Nomaden angetroffen. Alle
hatten sich, bei der Nachricht von der Ankunft der Russen,
in der Richtung von Karategin zurückgezogen. Der Muk-ssu ist
wasserreich, so dass man ihn nicht durchwaten kann. Als der
Anfang des Flusses kann die Stelle angenommen werden, wo
Hr. Kostenko das Thai betrat, denn an diesem Punkte fliessen einige
Bäche zusammen, aus deren Vereinigung der Muk-ssu entsteht. Diese
Bäche sind: I. der Ssel-ssaja, er ist der wasserreichste, durchbricht
den südlichen, oben unter dem Namen Hau angeführten Gebirgskamm
und fliesst in nord-westlicher Richtung; 2. der Koinda, welcher in
westlicher Richtung fliesst; 3.Ssuok-ssaja, welcher aus süd-westlicher
Richtung fliesst und 4. der schon oben genannte Ters-agar, welcher
von Norden in den Muk-ssu fällt. Das Flussthal des Muk-ssu
streicht in der Richtung von Osten nach Westen, mit einer leichten
Neigung (von 5 0 ) nach Süden. Diesen Charakter behält das Thal
ungefähr 40 Werst weit, bis zum Tugaj von Choshai-Taob, von
da ab wird es enger und der Weg betritt wieder die Berge, ist aber
dort so steinig, dass er nach Aussagen der Eingeborenen zu Pferde
nicht zu passiren ist. Weiter, im Gebiete von Karategin, vereinigt
sich der Muk-ssu mit dem Kisyl-ssu und bildet so den Ssurch ab,
welcher den Amu-Darja erreicht.
«Ich war», sagt Hr. Kostenko, «der erste Europäer, welcher den
Anfang des Muk-ssu gesehen hat». Der Charakter der Thäler des
Kisyl-ssu und des Muk-ssu ist diametral entgegengesetzt. Das
Thal des ersteren ist viel länger; es hat bis zu der Grenze von
Karategin eine Breite bis zu 20 Werst und ist durchgängig mit
Grasbewachsen. Der Fluss ist nicht tief und kann bis zur Befe¬
stigung von Daraut-Kurgan (auf eine Länge von über 100 Werst)
allerorten durchwatet werden. Sein Wasser ist von dem rothen
Thon, welcher das Flussbett bildet, roth gefärbt. Der Muk-ssu hinge¬
gen ist kürzer, dafür aber wasserreicher und kann nicht durchwatet
werden. Sein Flussthal ist schmäler (gegen 2 Werst breit) und wird
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560
von wilden, fast senkrechten Gebirgskämmen begrenzt. Die Sohle
des Thaies ist grösstentheils mit Kieseln bedeckt. Die Farbe des
Wassers ist, in Folge des in ihn gelösten Kalkes, milchfarbig. Dort
wo Hr. Kostenko die Sohle des Thaies betrat, betrug die Höhe
über dem Meeresspiegel 8,100 Fuss.
«Es ist schwer», meintHr.Kostenko, «auf Grund des oben Gesagten
zu bestimmen, welchen der beiden Flüsse man für den Anfang des
Surch-ab halten soll, und wäre es daher wohl zweckentsprechender,
wenn beide, sowohl der Kisyl-ssu als auch der Muk ssu, dafür ge¬
halten würden, aus deren Vereinigung, im Gebiete von Kara¬
tegin, jener grosse, den Amu-Darja erreichende Fluss entsteht*.
Nachdem Hr. Kostenko die Rekognoscirung des oberen Laufes
des Muk-ssu beendigt hatte, kehrte er in den, 20 Werst von der
Befestigung Daraut-Kurgan gelegenen Distrikt Dshjalgys zurück.
Hier versammelte sich gegen Abend das ganze Detaschement und
es wurde hier übernachtet. In der Nacht schneite es und fiel der
Schnee l /4 Arschin hoch.
Am folgenden Tage, den 20. August, kehrte das Detachement
nach Karaut-Kurgan zurück, wo sich sämmtliche Truppen der Expe¬
dition zu versammeln hatten und wohin auch der Abgesandte des
Schachs von Karategin beordert war, um mit dem General Ssko-
belew, sowohl hinsichtlich der Grenzregulirung, als auch wegen der
Entscheidung anderer, die Beziehungen zwischen Karategin und
dem Ferghana-Gebiete betreffende Fragen zu verhandeln.
Der 22. und 23. August wurde theils zur Concentrirung der
Truppen, theils zu Verhandlungen mit dem Abgesandten des
Schachs verwandt, und da es General Sskobelew für zweckmässiger
hielt, über die Richtung der Grenzlinie zwischen dem Ferghana-
Gebiet und Karategin an der Grenze selbst zu verhandeln, wo auch
die anderen Fragen entschieden werden sollten, so liess er dem
Abgesandten anzeigen, dass er mit dem ganzen Expeditionscorps
zu dem an der Grenze liegenden Punkte «Grosser Karamuk» aus¬
rücken würde.
Am 24. August fand dann dieser Vormarsch statt. Die Entfernung
betrug 28 Werst. Der Weg führte dem rechten Ufer des Kisyl-ssu
entlang. Zwei Werst unterhalb Daraut-kurgan zwängen felsige
Berge das Thal des Kisyl-ssu derartig ein, dass es das Aussehen
einer engen Schlucht annimmt. Ungefähr eine Werst weit führt
der Weg längs einem Felsengesimse, wo über die dort stellen¬
weise vorkommenden Spalten hängende Brücken geschlagen sind.
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56i
Obgleich Tags zuvor der Weg von einer Abtheilung Sappeure ausge¬
bessert worden war, konnten die Truppen diese Stellen doch nur ein¬
zeln überschreiten, was natürlich den Marsch bedeutend aufhielt.
Auch weiterhin bot der Weg dieselben Schwierigkeiten.
Wenngleich das Thal des Kisyl-ssu hinter Daraut-kurgan t auch
bedeutend enger wird, als es in seinem oberen Theile ist *, so bleibt
es doch immer noch i x /i bis 2 Werst breit und an den Stellen, wo
die Berge des rechten (nördlichen) Gebirgskammes das JBett des
Flusses von der rechten Seite einengen, breitet das Thal sich auf
der linken (südlichen) Seite aus, und umgekehrt. Bisweilen geht
der Weg auch dicht am Ufer des Flusses entlang, und man findet
Stellen, wo auf angeschwemmtem Boden dichtes hohes Gras, Sträuche,
ja selbst kleine Bäume (Weiden, Pappeln u. a.) fortkommen. Für
besonders fruchtbar werden jene Plätze gehalten, wo sich Zuflüsse
in den Kisyl-ssu ergiessen. An solchen sind stets kirgisische Winter¬
wohnungen zu erblicken und neben diesen Land, welches mit
Gerste, Weizen, Klee und Hafer angebaut ist. Die Bewässerung
der Aecker findet mittelst kleiner Kanäle statt. Zur Zeit des Durch¬
marsches der Truppen (am 24. August) war nur ein Theil des Ge¬
treides eingeerndtet, der andere war noch nicht reif. Durch einen
ganz besonders üppigen Graswuchs zeichnet sich der Theil des
Thaies aus, wo sich der Kok-ssu mit dem Kisyl-ssu vereinigt, auch
sind dort die meisten Winterwohnungen gelegen.
Von Daraut-kurgan an sind die Bergketten, welche das Thal des
Kisyl-ssu von beiden Seiten begrenzen, nicht hoch, sie erreichen
nicht die Schneeregion, die rechte (nördliche) Kette ist gegen
9000 Fuss hoch, die linke (südliche) hingegen etwas höher. Die
Vorberge dieser Bergketten sind mit Wachholder bestanden, der
besonders dicht an den nördlichen Abhängen der südlichen Kette
wächst, wohingegen er an den Abhängen der nördlichen Kette nur
in einzelnen Exemplaren vorkommt.
In Folge der Zuflüsse, welche der Kisyl-ssu aufnimmt, wird er hinter
Daraut-kurgan wasserreicher, und nachdem er 5 Werst hinter
Daraut-kurgan den Kok ssu aufgenommen hat, kann man ihn nicht
mehr durchwaten. Auch nimmt hier das Wasser eine andere
Färbung an: es ist nicht mehr roth, sondern wird weisslich, in
Folge des in ihm aufgelösten weissen Thons. Der Fluss theilt
4 Unterhalb Daraut-kurgan verliert das Thal auch seine Benennung «Dascht-i-Alait
(d. h. die Steppe des Alai).
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sich während seines Laufes in mehrere Arme, von denen der Haupt¬
arm IO bis 15 Faden breit ist. Die Strömung ist stark, stellenweise
sind auch Stromschnellen zu erblicken.
Bei dem Punkte «Grosser Karamuk« erweitert sich das Thal noch
mehr; es erreicht hier eine Breite von ca. 21/2 Werst. Die Länge
dieses erweiterten Thaies beträgt gegen 7 Werst. Die Höhe, der
Berge nimmt noch mehr ab. Der reiche Graswuchs hatte hierher
eine Menge Nomaden herbeigezogen, auch waren zahlreiche Winter¬
wohnungen zu sehen. Die Ufer des Flusses waren mit kleinen
Wäldchen bedeckt. Das Thal wird nach Süd-Osten durch einen
nicht hohen Gebirgszug abgeschlossen, welcher die Grenze von
Karategin bildet. Atn Fusse dieses Gebirges schlugen die Truppen
ihr Lager auf. Die Höhe der Thalsohle beträgt hier 6,900 Fuss über
dem Meeresspiegel.
Ende August konnte der Zweck der Expedition auf den Alai als
erreicht betrachtet werden, und ordnete daher der General Skobelew
für den grössten Theil der Truppen den Rückmarsch nach Chokand
an. Nur ein kleines Detaschement sollte die Position auf dem
Grossen Karamuk für einige Zeit noch besetzt halten, um, nach dem
Abzüge der Truppen, die Bildung neuer Karakirgisischer Banden
zu verhindern. Der Aufenthalt des Detaschements dort konnte
nicht von Dauer sein, da der vorgerückten Jahreszeit wegen die
Karakirgisen, in ungefähr 2 Wochen, schon genöthigt sein würden,
den Alai zu verlassen, um sich in niedriger gelegenen Ortschaften zu
begeben, d. h. die Regionen zu betreten, wo sie einer direkten und
unmittelbaren Aufsicht unterliegen.
Das Gros der Truppen rückte am 28. August aus. Der nächste
und beste Weg nach Chokand führt über den Pass von Kara-kasyk
nach Schachimardan und Wadil.
Zum Pass Kara-kasyk führt am nächsten und besten der Weg
längs dem oben erwähnten Flusse Kok-ssu. Um aber in dieses
Flussthal zu gelangen, muss der niedrige Gebirgskamm Gurundu,
eine Abzweigung des grossen Alai-Gebirges, erstiegen werden. Die
Entfernung vom Grossen Karamuk bis zum. Flussthal des Kok-ssu
beträgt 10 Werst bergauf und 9 bergab. Zu Anfang liegt der Weg an
der rechten Seite des mit Weizen und Gerste besäeten. Ufers des
Kisyl-ssu, weiter biegt er in die ziemlich breite Schlucht Dshenike
ein, längs welcher der, von der rechten Seite in den Kisyl-ssu mün¬
dende, gleichnamige Bach fliesst. In dieser Schlucht befinden sich
sehr viele karakirgisische Winterwohnungen und erstreckt sich die
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Reihe dieser Lehmhütten mehrere Werst weit. Der Pass über den
Gurundu ist leicht passirbar, da er nicht steil ist. Die Spitze des
Sattels liegt 9,509 Fuss über dem Meeresspiegel. Das Hinunter¬
steigen in das Thal des Kok-ssu bietet insofern einige Schwierig¬
keiten dar, als die vom Berge hinabgefallenen Steine und Fels¬
stücke am Fusse des Berges Anhäufungen gebildet haben, welche
man, um in das Thal zu gelangen, erst überschreiten muss. Der vom
Pass hinabfliessende, in den Kok ssu mündende Bach verschwindet
unter diesem Geröll und erscheint an der Oberfläche erst kurz vor
seiner Mündung in den Kok-ssu. Das Thal ist an dieser Stelle breit,
weiter aber, stromabwärts, wird es enger. Eine Brücke führt vom
rechten zum linken Ufer des Kok-ssu, und längs diesem geht der
Weg zu dem Passe Kara-kasyk, einem der Hauptpässe des Alai-
Gebirges. Die Berge, welche das Kok-ssu-Thal bilden, sind felsig,
und gewöhnlich steil abfallend, ihre Gipfel entweder spitz oder Grate
bildend. Mitunter laufen die felsigen Abhänge in, mit ange¬
schwemmtem Boden bedeckte Vorberge aus, welche dann mit
Wachholder bestanden sind. Nachdem die Truppen in diesem Thale
an dreissig Werst zurückgelegt hatten, hielten sie an am Fusse des
Passes Kara-kasyk, dort, wo das vom Berge fliessende, gleichnamige
Flüsschen in den Kok-ssu mündet. Die Höhe der Thalsohle beträgt
hier 9,500 Fuss. Es fehlt hier jegliche Vegetation, so dass nicht
nur die Vorberge, sondern selbst die Sohle des Thaies vollständig
nackt sind.
Am folgenden Tage (den 30. August) fand der Uebergang über
den Kara-kasyk statt. Die Entfernung des Gipfels von der Thal¬
sohle beträgt 12 Werst. Der Fusssteg hinauf windet sich zwischen,
von den Bergen losgelösten, Felsstücken hin. Die von beiden
Seiten emporstrebenden Felsen sind steil, bisweilen überhängend.
Rauschend stürzt sich vom Gipfel des Berges, an Felsstücke an¬
prallend, der Bach in das Thal hinab, am unteren Theile des Berges
Kaskaden bildend. Je höher man steigt, desto wilder wird die Ge¬
gend, Drei Werst vor dem Gipfel ist noch ein steiler Abhang zu
erklimmen, dessen Besteigung der frisch gefallene Schnee noch
erschwerte. Die Spitze des Passes ist 12,600 Fuss hoch, der sie
bildende Grat kaum eine Arschin breit. Der östlich von diesem
liegende andere Pass über das Alai-Gebirge, der Tarak-Pass 1 , muss
1 lieber diesen Pass führt der nächste Weg aus Ferghana nach Harm, im Gebiete
von Karategin. Der Uebergang soll hier sehr beschwerlich sein.
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wohl, wie Hr. Kostenko meint, diesem sehr ähnlich sein, denn da-
für spricht seine Benennung «Tarak», was «Kamm» bedeutet. Der
Kara-kasyl-Pass hat seine Benennung nach einem hohen Berge
erhalten, welcher von der Spitze nach links zu gelegen ist und einem
Pfahle (kasyl) ähnlich ist. Somit würde in der Uebersetzung Kara-
kasyl «schwarzer Pfahl» bedeuten. Die Aussicht von der Spitze
des Berges ist, durch die Wildheit der Umgebung, eine überwälti¬
gende. Hinunter ist Anfangs, gegen 2 Werst, der Pfad noch stei¬
ler und war, in Folge des frisch gefallenen Schnees, sehr glatt, so
dass die Reiter absteigen mussten. Dann windet sich der Weg,
noch gegen 3 Werst, über aus Geröll bestehende Hügel. Unterhalb
des letzten derselben entspringt ein ziemlich grosser Bach, welcher
später den Fluss Schachimardan bildet. Die von diesem Bach
gebildete Schlucht ist der des Kok-ssu ähnlich. Die Vorberge
der, diese Schlucht bildende Felsenkette sind gegen 10 Werst
weit mit Wachholdergesträuch bedeckt. Tiefer nach Unten fol¬
gen, dem Laufe des Baches nach, schmale Streifen von Laubholz:
Birken, Weiden, Pielbeerbäume, Berberitzen, so wie verschiedenes
Gesträuch. Die hiesige Birke ist sehr schmächtig und hat lange
nicht das Aussehen, welches sie im europäischen Russland besitzt.
Der Steg läuft anfangs bald auf der rechten, bald auf der linken
Seite der Schlucht, bisweilen auch im Flussbette selbst. Weiter
nach unten aber führt er dicht an schroffen Abhängen, über Felsen¬
gesimse dahin und ist beschwerlich. Die Entfernung vom Pass bis
zum Dörfchen Schachimardan, welches erst spät Abends erreicht
wurde, beträgt 45 Werst.
Schachimardan, am Vereinigungspunkt mehrerer Schluchten, ist
seiner Lage wegen berühmt. Es bietet sich von hier aus ein wunder¬
schönes Panorama auf die umliegenden, zwar nicht sehr hohen, aber
ziemlich steilen Berge. Das Bild wird noch' belebter durch andere,
hier und dort am Flusse und an den Bergabhängen zerstreut lie¬
genden Dörfchen, welche alle von Gärten umgeben sind und dem
Auge einen äusserst wohlthuenden Anblick gewähren.
In Schachimardan (persisch: «König der Männer»), soll sich das
Grab Ali’s, des Schwagers von Muhammed, befinden, wesshalb dieser
Ort bei den Muhammedanern in grossem Ansehen steht und im
Ferghana-Gebiete als ein vielbesuchter Wallfahrtsort bekannt ist.
Hr. Kostenko hielt sich hier einen ganzen Tag auf und begab sich
erst am 1. September nack Wadil, wohin der Weg längs dem linken
Ufer des Flusses Schachimardan führt. Die Berge werden hier
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merklich niedriger; das Thal ist breit. Von dem Orte Schachi-
mardan an bis fast unmittelbar vor Wadil (24 Werst), befindet sich
längs dem Wege eine ununterbrochene Reihe von, mit Gärten und
Aeckern umgebenen Meiereien, und nur einige Werst von Wadil, dort
wo der Weg aus dem Thale sich auf ein, in die Berge eingeRauenes
breites Gesimse erhebt, sind diese Ansiedelungen unterbrochen j das
Thal des Schachimardan wird bei Wadil, wo die Höhe der Berge
noch mehr abnimmt, abgeschlossen.
Wadil liegt schon im Thale von Ferghana und ist, wenn man vom
Alai kommt, die erste grössere Ansiedelung, sie liegt 3000 Fuss
über dem Meeresspiegel und bildet das Centrum eines der Kreise
(des von Tscheminow), in welche das Ferghana-Gebiet jetzt ein-
getheilt ist.
Literaturbericht.
Chronologie orientalischer Völker von Albtrun?. Im Aufträge der Deutschen Morgen¬
ländischen Gesellschaft herausgegeben von Dr. C. Ed. Sachau , ord. Professor
der orientalischen Sprachen an der Universität in Berlin, Korresp. Mitgliede
der Akademie d. Wiss. in Wien. Erste Hälfte. Leipzig 1876. VII-}-200 S.
4°. mit 3 Tafeln.
In meiner in jlieser Zeitschrift veröffentlichten historisch-geogra¬
phischen Skizze Chiwa’s habe ich auf den berühmten chorasmischen
Gelehrten Abu Reihän Mohammed al-Birüni hinzuweisen Gelegen¬
heit gehabt. Auch erwähnte ich daselbst, dass wir die Publikation
seiner auf uns gekommenen Werke durch Hrn. Professor Dr. Sachau
zu erwarten hätten l . Wir freuen uns jetzt den Beginn dieser Ver¬
öffentlichung den Lesern der «Russischen Revue» anzeigen zu kön¬
nen. Seit dem Monat August d. J. liegt uns die erste Hälfte eines
für das Studium der vorder- und centralasiatischen Kultur höchst
wichtigen Werkes des erwähnten Chorasmiers im arabischen Ori¬
ginal-Texte vor. So lange die englische Uebersetzung des in
der Aufschrift erwähnten Werkes, mit welcher Hr. Prof. Sachau
gleichzeitig mit der Edirung des Textes beschäftigt ist, nicht er¬
schienen, dürfte der Inhalt der «Chronologie orientalischer Völker»
nur dem kleinen Kreise der Kenner des Arabischen bekannt werden.
Doch das Unternehmen, welches Hr. Prof. Sachau in Angriff ge¬
nommen, wird, wenn einmal glücklich zu Ende geführt, für die •
1 «Russ- Revue» II. Jahrg., Heft $. (Band II), pag. 476.
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Wissenschaft des Orients von ganz unberechenbaren Folgen sein
und verdient daher, dass man auch in weiteren Kreisen schon jetzt
auf dasselbe aufmerksam werde. Denn Birüni war ein Mann der
Wissenschaft, wie die arabische Literatur nicht viele aufzuweisen
hat. Mit einem umfassenden Wissen verband in ihm sich eine
seltene "Klarheit und Schärfe des Geistes, die schon von seinen
Zeitgenossen anerkannt wurden. Wie sein zweiter Beiname, der
Chorasmier, zeigt, war er in Chorasmien geboren. Sein erster Bei¬
name, al-Birüni, deutet auf seinen Geburtsort hin. Mehrere arabi¬
sche Literarhistoriker meinten, er wäre in einer Stadt Birün in Sind
geboren; doch das war nicht der Fall, und al-Birüni im Iranischen
bedeutet; «Einer, der von Auswärts ist». Prof. Sachau, in seinen
vor drei Jahren in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie (und
auch separat, Wien, 1873. 2 Hefte 8°. bei K. Gerold’s Sohn) ver¬
öffentlichten zwei Abhandlungen: «Zur Geschichte und Chronologie
von Khwärizm», spricht die Meinung aus, er wäre in der Vorstadt
(Birün = äussere Stadt) der chorasmischen Hauptstadt, die speciell
Käth gehiessen habe, geboren. Ich habe eine etwas abweichende
Ansicht darüber: meines Dafürhaltens ist unserm Gelehrten, ausser
dem Namen des Chorasmiers, noch der Beiname «der von Aus¬
wärts» gegeben, weil er ausserhalb der Hauptstadt Käth, die ebenso
wie das Land, oft Khwärizm genannt wurde, in ihrem Weichbilde,
in einem der zu demselben gehörigen Dörfer geboren worden ist.
Ich habe es noch 1858 in Buchara selbst erfahren, dass man dort,
wenn von einem Einwohner von Buchara die Rede ist, unterscheidet,
ob er aus der Stadt selbst, oder aus ihrem Weichbilde ist. In ersterem
Falle sagt man: N. N. ist aus dem Innern von Buchara — ez
enderün-i Bachära, im zweiten Falle — ez birün*i Buchära, d. h. aus
dem Aeussern von Buchära.
Al-Birüni ist am 4. September 973 geboren. Seine Lebensdauer
ist uns nicht genau bekannt, da die Angaben über sein Todesjahr
von einander abweichen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass
er im Jahre 430 der Flucht Muhammed's starb (das Jahr 430 begann
den 3. Oktober 1038 des julianischen Kalenders); doch glaube ich
nicht, dass der Tod ihn in Ghazna, am Hofe des Sultans Mas’üd
ereilt habe, wie Hr. Prof.- Sachau in der ersten seiner oben ange¬
führten Abhandlungen annimmt. Birüni war nämlich nach dem Tode
des Fürsten von Chwärizm, Abu’l-Abbäs Ma’mün, dem er sieben Jahre
als Rathgeber gedient hatte, in die Dienste von Mas’üd’s Vater,
Mahmud, getreten und begleitete denselben auf seinen Kriegszügen
in Indien, wobei er mit den Gelehrten des Landes in Verkehr trat
und sogar ihre gelehrte Sprache, das Sanskrit, erlernte. Nach dem
Zeugnisse eines Historikers aus dem Anfänge des XIV. Jahrhun¬
derts soll er auch ein in Sanskrit geschriebenes Werk in’s Arabische
übersetzt haben. Glücklicherweise ist sein Werk über Indien auf
uns gekommen, welches nach der Meinung des französischen Orien¬
talisten Reinaud, der es vielfach benutzt und Auszüge aus ihm ver¬
öffentlicht hat. im Jahre 1031 n. Chr, in Indien geschrieben sein soll.
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Wenn Birüni sein Buch über Indien auch nicht vor 1031 veröffent¬
licht hat, so glaube ich doch nicht, dass er es eben in Indien been¬
digt habe, denn im Jahre 1029 schrieb er seine «Elemente der
Astronomie», die er auf den Wunsch einer Charesmierin verfasste.
Er wird wohl schon 1029 wieder in seinem Vaterlande anwesend
gewesen sein. Dass er aber nach seinen Wanderungen in Indien,
die in die Jahre 1018 bis 1025 gefallen sein mögen, wieder in sein
Vaterland zurückkehrte und nicht in Ghazna sein Leben beendete,
scheint mir aus einer Bemerkung hervorzugehen, welche er selbst
in einer kleinen Schrift über die von ihm bis zum Jahre 427 der
Flucht Muhammed’s verfassten Werke niedergelegthat. Er erzählt dort
nämlich, dass er in seiner Jugend in einem Werke des Philosophen,
Naturforschers und Arztes er-Räzi, der ein Jahrhundert vor ihm
lebte, sehr oft die Bücher des Stifters der Sekte der Manichäer,
Mani, vorzüglich dessen «Buch der Geheimnisse» {Sefer-el-asrär)
citirt gefunden habe, dass er voll Begierde war das Buch zu besitzen,
allein erst nach mehr als vierzig Jahren wurde es ihm geschenkt.
Er war damals in Charizm, fügt er hinzu. Nehmen wir an, dass, als
in ihm der Wunsch nach dem Besitze von Mani’s Buch rege wurde,
er 15 oder 16 Jahr alt gewesen sei, so wäre er in seinem 56. oder 57.
Lebensjahre, also im Jahre 1028 oder 1029 n. Chr. bereits wieder in
Charizm gewesen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass er nicht
nur seine Elemente der Astronomie, seinen später zu erwähnenden
«Canon Masudicus* und endlich seine Geschichte von Chorasmien in
seinem Vaterlande veröffentlicht habe.
Birüni’s «Chronologie orientalischer Völker» gehört zu den frü¬
heren seiner Werke. Er hat sie dem Fürsten von Dschordschan
(das alte Hyrkanien), Kabüs, dem Sohne Waschmgirs gewidmet,
der im Jahre 403 der Flucht Muhammed’s (1012—1013) starb. In dem
jetzt veröffentlichten Theile dieses Werkes liegen uns die ersten
sieben Kapitel desselben vor. Das erste Kapitel handelt vom Tage
und seinen verschiedenen Anfängen bei den Arabern, Griechen,
Persern, den Astronomen und bei einigen muhammedanischen Ju¬
risten. Das zweite, über Monate und Jahre; es wird das Sommer¬
jahr bei Alexandrinern, Griechen, Syrern, Chaldäern, Aegyptern,
Muhammedanern und Persern, das lunisolore Jahr bei Juden, Ssa-
biern und Harräniern (im Nordwesten Mesopotamiens), das Jahr der
vor- und nachmuhammedanischen Araber in Betrachtung gezogen,
und endlich von den Monaten und Jahren bei den Indern gehandelt.
Das dritte Kapitel ist den Aeren der verschiedenen Völker ge¬
widmet. Besonders wichtig ist der Schluss dieses Kapitels, wo von
.den Zeitrechnungen der Chorasmier die Rede ist, denn was über
dieselben hier gesagt wird, ist bei keinem andern Autor zu finden.
Hr. Prof. Sachau hat in der ersten Abhandlung zur Geschichte und
Chronologie von Khwärizm diese Stelle im Original und in Ueber-
setzung mitgetheilt und Sir Henry Rawlinson hat, da er im Besitz
einer Handschrift der Chronologie von Birüni ist, bereits vor 10 Jahren
in der «Quarterly Review» auf sie aufmerksam gemacht. Wenn
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auch die älteste Zeitrechnung entweder auf einer nur angeblich
historischen Tradition beruht, oder ihre Aera nur das Resultat ge¬
lehrter Berechnung ist, so deutet sie doch an, dass die Chorasmier
die Kultur ihres Landes für eine sehr alte hielten. Sie setzten den
Beginn derselben 980 Jahre vor Alexander, d. h. vor der seleucidi-
schen Aera, oder 1292 vor Chr. Geb. Eben so lehnt sich die zweite
Zeitrechnung an eine angeblich historische Tradition, an die An¬
kunft des Siyawüsch, der der allgemeinen mythischen Geschichte
der Iranier angehört, in Chorasmien. Diese Epoche wird 92 Jahre
später als die erste gesetzt, also in’s Jahr 1200 vor Chr. Geb. Die
dritte Aera beginnt mit dem Jahre der Erbauung der Burg von
Käth, durch den König (Schah) Afrigh, der ein Nachkomme des
erwähnten Siyawüsch gewesen sein soll. Ausserdem datirten die
Chorasmier vor Afrigh noch nach den Regierungsjahren des jewei¬
ligen Herrschers, wie es die Perser unter den Sassaniden thaten.
Das wichtigste Ergebniss, welches die Quartseite gedruckten
Textes, auf welcher Birüni von den Acren der Chorasmier handelt,
uns bietet, ist die Genealogie chorasmischer Fürsten seit Afrigh bis
995 nach Chr. Ob alle die genannten Prinzen regiert haben, wissen
wir nicht, doch von einem, den Birüni nicht direkt als Schah nennt,
wissen wir aus einer anderweitigen Quelle, dass er in Chorasmien
geherrscht hat. Es ist nämlich der 15. in der Reihe der von Birüni
genannten Prinzen, dessen Namen Prof. Sachau Schawuschfar trän-
scribirt. In den von Hyacinth Bitschurin in russischer Sprache aus
den Chinesischen Annalen mitgetheilten Auszügen, welche auf die
Völker Centralasiens sich beziehen, finden wir aus den Zeiten der
Thang-Dynastie eines Chorasmier-Fürsten erwähnt, welcher dort
Schaoschyfyn (der Mönch, Hyacinth schreibt IHaombi<J>biHT>) genannt
wird 1 . Der Unterschied zwischen der Ueberlieferung des Namens
bei Birüni und der bei den Chinesen besteht im Auslaut, wo die
letztere n für r hat. Da die chinesische Sprache keinen r-Laut
kennt, so ersetzen die Chinesen bei der Transcription fremder
Wörter denselben sehr oft durch n. Auch die Zeit, in welche die
Geschichte der Thang-Dynastie die Regierung des Schaoschyfyn
setzt, entspricht der Zeit, in welcher nach Birüni sein Schawuschfar
gelebt hat. Die chinesische Quelle nämlich berichtet, dass Schao¬
schyfyn, der Herrscher von Cholissimi (d. i. Chwärizm) im Jahre 751
und im Jahre 762 Gesandschaften an den chinesischen Hof geschickt
habe. Birüni's Schawuschfar war der Sohn des Askadschamuch,
welchen der chorassanische Statthalter des Khalifen, Kutaiba, nach
der Eroberung des Landes, als Schah eingesetzt hatte; dies geschah
um 712. Sein Sohn konnte also recht gut noch 762 die Schah¬
würde inne gehabt haben. Es kommen auf die ganze Zeit von
712—995, also auf 283 Jahre, nach Birüni, nur neun Schähe, auf
jeden also mehr als 30 Jahre.
1 Siehe Co6panie arfe/rfenifi o Hapojaxb oonTaBimixt b % CpeAHeft Aam bi» ApeBHis
BpeaeHa, coHUHenie uonaxa IatCHHea, Thl. III. St. Petersburg, 1851. S. 246.
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Wir haben hier also in dem Berichte der Geschichte der chine¬
sischen Thang-Dynastie eine thcilweise Bestätigung der durch
Biruni uns erhaltenen chorasmischen Ueberlieferung. Es ist dies
nicht der einzige Fall in der Geschichte Centralasiens, wo chinesische
und arabische Ueberlieferung übereinstimmen. Auch des in arabi¬
schen Quellen erwähnten Fürsten von Samarkand Gürek, mit dem
der erwähnte Kutaiba ebenfalls Krieg führte, wird in der Geschichte
der Thang-Dynastie bald nach 713 erwähnt. Es heisst dort, der
Herrscher von Samarkand, Ulega, hätte mit den Daschi (= Täzi für
Araber) heftige Kämpfe zu bestehen gehabt, wäre unterlegen und
hätte daher am chinesischen Hofe um Hülfe nachgesucht, der Kaiser
hätte aber dieselbe versagt. Die Chinesen waren damals überhaupt
gut unterrichtet über die Vorgänge und Verhältnisse in Transoxiana.
Die Führer der Handelskarawanen, welche zu ihnen aus den Oxus-
und Jaxartesländern kamen, hatten oft diplomatische Aufträge von
ihren Landesfürsten. Ihre Aussagen wurden von chinesischen
Beamten aufgezeichnet und im Staatsarchiv, wo sie der Reichs¬
historiograph dann später benutzte, niedergelegt. Daher sind die
chronologischen Angaben in den chinesischen Annalen auch meist
sehr genau.
Das vierte Kapitel von Birüni’s «Chronologie» handelt von dem
Dhü’l-karnain des Korans, von der Fälschung von Stammbäumen,
vom Stammbaum des Propheten etc.
Das fünfte Kapitel ist den Monaten bei verschiedenen Völkern
gewidmet. Neu sind hier wieder die Namen der Monate bei den
Chorasmiern, Sogdianern und Sidschistanern. Für die Beurtheilung
des Verhältnisses der Sprache von Sogdiana und Chorasmien zu den
andern iranischen Dialekten bieten die hier gebotenen alten Namen
der Monate und Monatstage sowie die Namen der Mondhäuser (in
einem späteren Kapitel) sehr werthvolle Anhaltspunkte.
Das sechste und siebente Kapitel sind sehr reichen Inhalts. In dem
letzteren finden wir wieder chorasmische Sprachproben, nämlich die
Namen der Planeten und Thierkreisbilder, und in dem ersteren ein
Verzeichniss der Titel, welche verschiedene Fürsten des Orients
führten. Dieses Verzeichniss bestätigt ähnliche Verzeichnisse bei
anderen arabischen Schriftstellern, theils ergänzt es sie auch. Als
Titel des Fürsten der Slawen wird qubbar gegeben. Das ist aber
eine falsche Punktuation für qnäz = KH£3b.
Näher auf den Inhalt des von Hrn. Prof. Sachau bis jetzt ver¬
öffentlichten Textes von Birünfs Chronologie einzugehen, erlaubt
uns der einer Anzeige zugemessene Raum nicht. Wir schliessen
mit dem aufrichtigen Wunsche, dass sein wichtiges Unternehmen
ohne Störung von ihm weiter geführt werde. Einige seiner Worte
in der Vorrede lassen uns hoffen, dass er, nach Beendigung der
Publikation des Textes und der Uebersetzung der «Chronologie»
auch andere Werke Birünfs zu veröffentlichen bereit ist. Die
Unterstützung von Seiten gelehrter Vereine, welche schon sein jetzi¬
ges Unternehmen fördern, wird dem verdienstvollen Gelehrten auch
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bei den künftigen nicht fehlen. Wie die Deutsche Morgenländische
Gesellschaft, der wir die Herausgabe schon so vieler wichtiger ara¬
bischer Texte verdanken, auch die gegenwärtige Herausgabe der
«Chronologie» möglich gemacht hat, so wird die von Hrn. Sachau
vorbereitete englische Uebersetzung derselben von dem Londoner
«Translation Fund» veröffentlicht werden.
P. LERCH.
Revue Russischer Zeitschriften.
«Russisches Archiv» (Russkij Archiv — Pyccitifl ApxHBT») heraus¬
gegeben von Peter Bartenjew. XIV. Jahrgang. 1876. Heft 4. Inhalt:
Nachrichten aus Russland nach England im Jahre 1796. Ein Brief des Grafen Th»
W. Rostoptscliin an den Grafen S. R. Woronzow. (Der persische Krieg).—Der Bank-
diebstahl. — Graf Besborodko. — Die französischen Emigranten. —• Die Hochzeit des
Grossfürsten Konstantin Pawlowitsch. — Die Erbauung Odessa's. — Die Stellung des
Grafen Rostoptscliin zum Hofe. —Budberg. — Der König von Schweden.—Seine picht
zu Stande gekommene Verlobung. — Der Vorabend der Thronbesteigung des Kaisers
Paul. — Die Polen in St. Petersburg — Graf Rumjanzow-Sadunaisky. — Das Ende
Katharina 7 s. — Brief des Fürsten N. W. Repnin an J. J. Schuwälow, über die Brüder
Fürsten Tsckanoiyschsky: 1795. — Memoiren des Fürsten Adam Tschartoryschsky über
seine politische Stellung. Juni 18 to. Von S. G . Slroganow . — Ein Brief Bunseus an \V.
A. Shukovvsky. 1835. Von /V. G. felagin. — Die Franzosen in Moskau im Jahre 1812.
Von A. N. Popow. Kap. III. Die Kirchenschätze. Die Plünderung der Kirchen¬
schätze. Das Wüthen der Deutschen und Polen. — Eine Scene im Satschatejewschen
Kloster. — Das Golitzin’sche Krankenhaus. — Anlässlich der Memoiren des Grafen
Senft. Von P, A. IVjasemsky. IV — X. — Der Wiener Kongress. — Das Pricster-Btind-
niss. Araktschejew und seine Charakteristik.— Das Alter des polnischen Lyceum's. Von
J. K. Grot . — Brief des Grafen Rasumowsky aus Klein-Russland an seine Mutter Na¬
talie Demjanowna. Vier neue Gedichte von A. S, Puschkin, — Ueber das Tagebuch
Chrapowitzky’s.
— — Heft II. Inhalt:
DerF.infall der Franzosen in Russland im Jahre 1813. Ein Brief aus Moskau nachNish-
nij-Nowgorod.—Aus einem alten Tagebuche. (Reisende. Gedanken und Aussprüche Shu-
kowsky’s. Die französische Muse in Russland. Ein Brief S R.Woronzow’s an S. A. Ko-
Iitschew. Mitgetheilt von Baron Af. L Bodc-Kolitsch0w . — Ein Brief des Generalfeld«
marschall Fürsten Repnin an den Fürsten A. B. Kurakin. Mitgetheilt vom Fürsten Th,
A . Kurakin . — Ein Brief A. N, Murawjew’s an den Grafen Protassow 1837. Ein Brief
des Moskauer Metropoliten Filaret an den Grafen Protassow. 1851. Zwei BriefeGogoPs
an K. S. Serbinowitscli. Ein Blatt aus den Papieren Shukowsky’s. — Ein Brief S. S.
Kotljarewsky’s an den Chef der Gendarmen Grafen Benkendorff über die Hungersnoth
im südlichen Russland. — Ueber die demnächst erscheinende volls ändige Ausgabe
der Puschkin’schen Werke. Mit einem Vorworte von .V. IV. Gerbet. Das Jahr 1S61. Epi¬
sode aus der Geschichte der Kaluga’schen Bauern. Vom Grafen Af. D. Buturlin.
«Das Wissen» (Snanie — 3 HaHie). 1876. August. Inhalt:
Aus der Geschichte des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat im westlichen Eu¬
ropa. Von AI. Dragomanow. — Streitfragen über die Bedeutung der Musik vom Stand¬
punkte der Philosophie. — Adam Smith als Mensch. Ueber die Entstehung und
Bedeutung des geometrischen Axioms. Von Prof. Ileiniholz. — Die Lage der Völker.—
Die befestigten Lager. Vom General Brialnumt. — Kritik und Bibliographie: Ueber
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das Lehren der biologischen Wissenschaften in unseren mittleren Lehranstalten. Von
IV. D . Wolfsohn . — Das Fürstenthum Serbien: Geographie. — Orographie. — Hydro¬
graphie.—Topographie. — Archäologie. — Geschichte — Ethnographie. — Statistik.—
Aufklärung — Kultur.—Rechte. 1876.—Rudolph Ihering.: Geist der römischen Rechts *
auf den verschiedenen Stufen seiner Entwickelung. Erster Theil. Nach der dritten ver¬
besserten deutschen Ausgabe. Von S. Muromzeio. — Dr. Albert Herrmann Post Der
Ursprung des Rechts. Prolegomena zu einer allgemeinen vergleichenden Rechtswissen¬
schaft. Oldenburg 1876. Von S. Muromxow. — Verschiedene Nachrichten. Bibliogra¬
phische Anzeigen russischer und ausländischer Bücher.
— — Oktober. Inhalt:
Marx’s ökonomische Theorie. Von N.... Die Genesis der Gesellschaft- (Versuch
einer Einführung in die Sociologie), Schluss. Von D . L. .. Die Ehen zwischen Geschwi¬
sterkinder. Nach D. Darwin. Schluss- — Die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie.
Von IV . Wundt. — Shakespeares Dramen und die gegenwärtige Psychiatrie.— Beobach¬
tung über die Aneignung der Sprache beim Kinde — Kritik und Bibliographie — Oskar
Peschei und seine neuen Probleme der vergleichenden Erdbeschreibung. Von G . IV. —
Verschiedene Nachrichten. Bibliographische Anzeigen russischer und ausländischer
Bücher. — Anzeigen, Beilagen.
«Journal für Civil- und Kriminalrecht* Journal grashdanskavo i ugo-
lownawo Prava. — /KypHajn. rpa*CAaHCKaro h yrojiOBHaro npana).
VI. Jahrgang. 1876. September — Oktober. Inhalt:
Gesetze und Verordnungen der Regierung. — Bemerkungen über Fragen entstanden
aus der Convention bei Abgabe zur Aufbewahrung Von P. Markow. - Ueber die Thä-
tigkeit der St. Petersburger Executoren. Von W.RsAotikowsky .—Inhalt und Bedeutung der
Anklageate. Von IV. Shukowsky. — Die Kassationspraxis in Fragen des Kriminal¬
rechts, für die Jahre 1872 und 1873. Von A. von Raison. —Juristische Chronik. Die
Testamentsangelegenheit des, aller Rechte verlustig erklärten Tschumakow. Von P. 5 .
Bibliographie: Geschichte der Kodifikation des Civilrechts. Von S. IV. Pachmann .
Besprochen von S. Plato naiv .
Russische Bibliographie.
Nowitzkij, Iwan. Abriss der Geschichte des Bauernstandes im süd¬
westlichen Russland vom XV.—XVIII. Jahrhundert. 8°. 161 S.
Kijew. (HoBMUKiff, Mb&NV O^epo» HCTopin KpecTbÄHCKaro cocjobih
K>ro-3ana4Hoö Poccin B*b XV—XVIII Briefe. KieBi.)
Busslajew, Th. Historische Grammatik der russischen Sprache.
4. verb. und vermehrte Auflage. Etymologie. Moskau. 8°. 264 S.
(EyeJiaeBV 8. McTopHqecKaa rpaMMaTHKa pyccitaro *3UKa. H3A. 4.
Hcnp. h Aon. STHMOAorin. Mocoa.)
Leontjew, K. N. Der Byzantismus und das Slaventhum. Heraus¬
gegeben von der Kaiserl. Gesellschaft für Geschichte und Alter¬
thumskunde Russlands. 8°. 132 S. Moskau. (jleOHTbeev K. H- Bei-
3aHTH3Mi> h cjiamiHCTBO. Ü3A. HMnepaTopcicaro 06.m. Hct. ei JX peß.
Pocc. MocKra.) n
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. . 572_
Ssolowjew, Sergei. Geschichte Russlands von der ältesten Zeit.
Band XIX. Geschichte Russlands unter der Regierung des Kaisers
Peter II. und der Kaiserin Anna Joannowna. Band I. Zweite Aus¬
gabe. 8°. 395 -f II S. (CoüOBbeBV Ceprtü. HcTopia Poetin ct»
ÄpeBH'fcflmHX'B BpeweH-b. T. XIX. PIcTopia Poetin bt> napcTBonaHie
ÜMnepaTopa IleTpa II h llMnepaTpnubi Ahhu IoaHHOBHbi. T. I.
Ü3A. 2. MoCKBa.)
Sontzow, D. D. Abriss der Geschichte des russischen Volkes bis
zum XVII. Jahrhundert. 8°. II + 160 S. Moskau. (CoHtlOBt, A- A*
OnepKT» Hcropin pyeexaro Hapoaa 40 XVII cmrfcTiji. MocKBa.)
Petrow, A. Der Krieg Russlands mit der Türkei und den polni¬
schen Konföderirten von 1769 —1774. Band III: Das Jahr 1771.
St. Petersburg. 8°. 323 S. und 11 Pläne. — Band V: Das Jahr 1774.
211 S. und 4 Pläne. ((leTpOBt, A» BoftHa Poetin ci> Typuieft h
no^bCKHMH KOH<x>e;iepaTaMH ct> 1769—1774 ro4i>. T. III: rojn»
1771. Cn6. Toxce T. V: ro;u> 1774 )
Verlag der Kais . Hofbuchhdlg . H. Sckmitzdorff ( C. Röttger)
Neius ky-Pro sptkt Nr. 5:
NATURWISSENSCHAFTLICHES
FESTGESCHENK!
«Die kompetentesten Grössen in der Naturwissenschaft haben Baer,
wenn auch nicht gerade über, so doch nebeu A . von Humboldt gestellt
.wegen der leichten Verständlichkeit und der wahrhaft klassischen
Einfachheit empfehlen wir diese Schriften zur fleissigsten Lektüre.» . . .
(Lit. Rundschau 1876, Nr. 7.)
«Lange erwogene Gedanken in klassischer Form.» . . .
(Westermann’s Monatshefte 1876, Juli.)
K. E. VON BAER. Reden und kleine Aufsätze verwischten
Inhalts . Theil I. 8°. S. Rbl. 1.80 (Mk. 4).
-Theil II unter dem Titel: Studien auf dem Gebiete der
Naturwissenschaften (behandelt u. A. ausführlich
Darwin’s Lehre). S. Rbl. 4.40 (Mk. 10).
-Theil III, u. d. Tit.: Historische Fragen , mit Hülfe der
Naturwissenschaft beantwortet. S. Rbl. 3. 75 (Mk. 9).
- Selbstbiographie . 2. Ausg. 8°. S. Rbl. 3 (Mk. 8).
, K.OTTGEK.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Karl !
/U> 3 BOJieHo ueH3ypoio. C.-IIeTep6yprb, I i-ro Ae*a6p* 1876 roaa-
Buchdruckerei von Röttger und Schneider, Newsky-Prospect H 5.
3 . «. 1331
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