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Full text of "Wissenschaftliche Annalen der gesammten Heilkunde / Herausgegeben von Justus Friedrich Carl Hecker. Volume 28, 1834."

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WISSENSCHAFTLICHE 

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der 

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gesammten  Heilkunde. 


Herausgegeben 

•  }  X  ,  • 

von 

Dr.  3uft«ö  jfrtorrid)  Carl  ijcrhrr, 

Professor  der  Heilkunde  an  der  Friedrich -Wilhelms  -  Universität 
zu  Berlin  ,  Mitglied  der  raedicinischen  Ober  -  Examinations  ••  Com¬ 
mission  ,  der  Hufelandschen  medicinisch  *  chirurgischen  Gesell¬ 
schaft,  des  Vereins  für  Heilkunde  in  Preulsen,  der  medic.  Ge¬ 
sellschaften  zu  Kopenhagen,  Leipzig»  London,  Lyon,  Metz,  New- 
Vork,  Philadelphia  u.  Zürich,  der  Wetteraiiischcn  Gesellsch.  für  die 
gesammte  Naturkunde,  der  Gesellsch.  für  Natur-  und  Heilkunde 
zu  Berlin,  Bonn,  Dresden  und  Erlangen,  des  Instituts  in  Albany, 
der  schwedischen  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Stockholm,  und  der 
Accademia  Pontaniana  zu  Neapel  Mitglied  und  Correspondenten. 


Achtundzw einzigster  Band. 


Berlin, 

im  Verlage 

von  T  Ii  e  o  d.  Christ.  I1'  r  i  c  d  r.  E  n  s  1  i  n. 

1834. 


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Herr 


Namcnvcrzcichnifs  der  Herren  Mitarbeiter. 

er  a  •  D  Y.^D 

Professor  v.  Ammon  in  Dresden. 

Professor  Halling  in  Wurzburg. 

Privatdoecnt  Dr.  Hecker  in  Herlin. 

I)r.  Heb  r  in  Bernburg. 

Dr.  Hebrc  in  Altona. 

Professor  Dr.  Car  ns  in  Dresden. 

Hofrath  Dr.  Clarus  in  Leipzig. 

Professor  Dr.  Dieffenbaeh  in  Herlin. 

Professor  Dr.  Dierbacb  in  Heidelberg. 

Medicinalrath  Dr.  D  obihoff  in  Magdeburg. 

Staatsrath  Dr.  Krdmann  in  Dorpat. 

Kreisphysicus  Dr.  Eggert  in  Eisleben. 

Medicinalrath  Dr.  Fried  re  ich  in  Wcilscn  bürg. 

Dr.  H  a  c  h  m  a  n  n  in  Hamburg. 

Medicinalrath  Dr.  Hcyfelder  in  Sigmaringen. 

Ober- Medicinalrath  Dr.  Hohn  bäum  in  Hildburgbausen 
Apotheker  Hornung  in  Aschersleben. 

Medicinalrefercnt  Dr.  Jahn  in  Meiningen. 

Professor  Dr.  Jäger  in  V\  drzburg. 

Dr.  Jäh  ni  eben  in  Moskau. 

Director  Dr.  Ideler  in  Berlin. 

Dr.  K  übler  in  W  arschau. 

Professor  Dr.  L  ich  ten  stad  t  in  St.  Petersburg. 

Dr.  Lieber  in  Herlin. 

Professor  Dr.  L  o  c  h  e  r  -  B  a  I  b  e  r  in  Zürich. 

Dr.  Monfalcon  in  Lyon. 

Professor  Dr.  Naumann  in  Bonn. 

Professor  Dr.  Otto  in  Kopenhagen. 

Dr.  Plagge  in  Burg- Steinfurth. 

Begimentsarzt  Dr.  Richter  in  Düsseldorf. 

Privatdoecnt  Dr.  Richter  in  Königsberg. 

Dr.  Rieken  in  Birkenfeld. 

Dr.  Rudoiphi  in  Berlin. 

Geheimer  Medicinalrath  Dr.  Sachse  in  Ludwigslust. 

Dr.  Schön  in  Hamburg. 

Professor  Dr.  E.  v.  Sieb  old  in  Göttingen. 

Dr.  Sielmann  in  Moskau. 

Prof.  Dr.  Spitta  in  Rostock. 

Dr.  Stannius  in  Berlin. 

Medicinalrath  Dr.  Steffen  in  Stettin. 

Dr.  Stein  heim  in  Altona. 

Dr.  Stucke  in  Cola. 

Hofnit'dicns  Dr.  Toel  in  Aurich. 

Dr.  Vezin  in  Osnabrück. 

Geheimer  Medicinalrath  Dr.  Vogel  in  Rostock, 
fessor  Dr.  M  aünrr  in  Erlangen. 

Dr.  Wagner  in  Schliebcn. 

Weber  in  Bonn. 

Wuticr  in  Bonn. 

nnox  is  NO  towca 

HE  PROPERTY  Of  THE 
1TY  OF  CHICAGO  LIBRARY 


Prpl 
K  rcisphysicus 
Professor  Dr. 


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S  r.  Hoch  wohlgeb  ore  u 

dem  Herrn 

Dr.  Ernst  Ludwig  Heim, 

Kömgl.  Preuis.  Geheimen  Rathe,  Kitter  des  K.  Pr.  rothen  Adler- 
Ordens  zweiter  Klasse  und  des  K.  Schw.  Nordstern  -  Ordens 

u.  s.  w. , 


widmet 

/  ■ 

t 

den  achtundzwanzigsten  Band  dieser  Annalen 


hochachtungsvoll 

\  . 


*  I 


der  Herausgeber. 


I 


I 


Inhalt  des  28s ten  Bandes. 


A\V- 


Seite 

I.  Originalabhandlungen. 

1.  Das  heilige  Feuer  des  Mittelalters;  von  D.  C.  H.  Fuchs.  1 

2.  Untersuchungen  über  Lymph-  und  Chyluskörnchen , 
und  ihr  Verhältnifs  zu  den  Blutkörperchen ;  von  Dr. 

R.  Wagner . 129 

2.  Anatomische  Bemerkungen;  von  Dr.  Krause.  .  .  .  141 

4.  Erfahrungen  und  Beobachtungen  über  Kopfvei’letzun- 

gen ;  von  Dr.  Dieffenbach . 145 

5.  Beiträge  zur  Geschichte  der  Epidemieen;  von  Dr.  Ro¬ 

senbaum . .  177 

6.  Ueber  die  Gestalt  und  Gröfse  der  Durchmesser  der 

feinsten  Blutgefälse  in  den  kleinsten  Netzen  derselben. 

Von  Dr.  Valentin . 257 

7.  Was  sind  actjve  Congestionen ,  und  wife  entstehen  sie? 

Von  Dr.  Succow,  . ,  283 

8.  Ueber  die  Haschischa  oder  das  Kraut  der  Fakire;  nach 

dem  Arabischen  des  Makrizi;  von  Dr.  v.  Sonthei- 

nicr.  i  ,  ,  293 

9.  Kurze  Notiz  über  das  St.  Ludwig’s  -  Hospital  zu  Paris; 

von  K.  Martins . .  305 

10.  P  aracelsus  über  psychische  Krankheiten;  von  Dr. 

D  a  m  e  r  o  w.  ,  . . 389 

11.  Praktische  Bemerkungen  und  Beobachtungen  über  die 
Anwendung  des  Decoctum  Z  i  t  trn  a  n  n  i ;  von  Dr.  B  e  h  r  e.  428 

12.  Die  Sterblichkeitsverhältnisse  von  St.  Petersburg  im 

Jahre  1833;  von  Dr.  Lichtenstädt.  . . 462 

/  i  i 


\ 


VI 


Inhalt  dos  28sten  Bandes. 


Seite 

II.  Kritische  Anzeigen. 

A.  Pathologische  Anatomie. 

0 

1.  P.  Phoebus,  lieber  den  Leichenbefund  bei  der  orien¬ 
talischen  Cholera . . . .  $1 

B.  Allgemeine  Pathologie. 

2.  K.  F.  II.  Marx,  Allgemeine  Krankheitslehre.  ...  96 

C.  Arzneimittellehre. 

3.  L.  W.  Sachs,  Das  Quecksilber . 106 

D.  Praktische  Heilkunde. 

4.  Prochor  Tscharukowski,  Versuch  eines  Systems 

der  praktischen  Medicin.  .  .  .  . . 192 

V.  F.  A.  G.  Bern  dt,  Klinische  Mittheilungen.  Heft  1.  376 

E.  Phrenologie. 

6.  G.  Combe,  System  der  Phrenologie.  Aus  dem  Engl. 

von  S.  E.  Hirschfeld . .  .  .  .  202.309 

F.  Augenheilkunde. 

m 

7.  B.  W .  Seiler,  Beobachtungen  ursprünglicher  Bil¬ 

dungsfehler  und  gänzlichen  Mangels  der  Augen  bei 
Menschen  und  Thicren . 210 

5.  F.  A.  v.  Amnion,  Das  Symblepharon,  und  die  Hei¬ 
lung  dieser  Krankheit  durch  eine  neue  Opcralionsme- 

tkode . 230 

9.  A.  Gesch eidt,  Die  Entozocn  des  Auges . 23b 

G.  Kinderkrankheiten. 

/■/  • 

10.  E.  Martin,  Memoire  et  observations  pratiques  sur  la 

diathese  inllarninatoire  des  eufans  nouveaux  -  m*e.  240 

# 

II.  O  h  r  c  n  k  r  a  n  k  h  e  i  t  c  n. 

11.  W  .  Kramer,  Erfahrungen  über  die  Erkennlnils  und 

Heilung  der  langwierigen  Schwerhörigkeit . 33r 

J.  Heilquellen. 

12.  Fenn  er  v.  Fennenbcrg,  Beminiacenzen  über  die 

Heilquellen  des  Herzogthuius  Nassau,  mit  besonderer 
Berücksichtigung  Schlangenbads . 354 


Inhalt  des  28stcn  Bandes. 


VII 


Seite 

* 

13.  J.  v.  Vering,  Eigenthümliche  Heilkraft  verschiedene!' 
Mineralwässer,  aus  ärztlichen  Erfahrungen  dargestellt.  356 

14.  M.  F.  Leipprand,  Ueber  die  Mineralwässer  in 

dem  Königreiche  Würtemberg  und  in  den  angräMzenden 
Gegenden . 362 


K.  Schriften  ärztlicher  Gesellschaften. 

v 

15.  Mittheilungen  aus  dem  Gebiete  der  gesammten  Heil¬ 
kunde;  herausgegeben  von  einer  medicinisch- chirurgi¬ 
schen  Gesellschaft  in  Hamburg.  Bd.  II . 364 


L.  Geburtshülfe. 

16.  K.  F.  Nägele,  Lehrbuch  der  Geburtshülfe  für  Heb¬ 
ammen.  .  . 464 

V  V  .  . 


M.  Chirurgie. 


17.  M.  Jäger,  De  exstirpatione  linguae, 


468 


N,  Psychische  Heilkunde. 

18.  H.  A.  M.  J.  L  öwenhayn,  Considerations  sur  le  trai* 
tement  des  alienes . 


470 


l 

I»  \  j 

»  O.  Historische  Pathologie. 

19.  J.  F.  C.  Hecker,  Der  englische  Schweifs.  .  .  »  480 


P.  Ucb  ersieht  der  physiologischen  Arbeiten,  mit 
Einschlufs  der  zugehörigen  Doctrinen. 

Die  Elementartheile  des  thierischen  Körpers.  .  .  .  ,  .  123 


Q.  Neue  Ausgabe. 

Steph.  Blancardi  Lexicon  medicum,  etc.  Ed.  C.  G. 

Kühn.  .  .  .» . . 243 


VIII 


Inhalt  des  28sten  Randes. 


R.  Dissertationen. 


Seite 


1.  Der  Universität  Gent . 215 

2.  —  —  Erlangen . f  246 

382 


.  .  128.  250.  386.  503 


Rüge . 

M  c d i c i n i s c h c  Bibliographie.  .  . 


I 


Das  heilige  Feuer  des  Mittelalters. 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Epidemieen 

t 

von 

Dr.  C.  H.  F  n  c  h  s ,  J 

Professor  an  der  Hochschule  zu  YVurzburg  *). 


Einleitung. 

Schon  Lucrez  lind  Celsus  gedenken  des  Ignis  sacer  ■ — 
des  heiligen  Feuers  — ,  und  wir  finden  diese  Benennung 
noch  in  den  nosologischen  Handbüchern  des  verflossenen 


*)  Wir  freuen  uns,  den  Lesern  dieser  Annalen  mit¬ 
theilen  zu  können,  dafs  unsere  vorjährige  Aufforderung  an 
die  deutschen  Aerzte  (Januarheft  1833)  bei  nicht  Wenigen 
Anklang  gefunden  hat.  Die  vorstehende  Abhandlung  eines 
um  die  historische  Pathologie  sehr  verdienten  Gelehr¬ 
ten  giebt  davon  den  ersten  vollgültigen  Beweis.  Andere 
Arbeiten  liegen  bereit,  und  freundliche  Zusagen  sind  uns 
von  Vielen  geworden.  Die  Bahn  ist  gebrochen,  und  wenn 
erst  die  Zahl  der  gediegenen  Arbeiten  mehr  anwachsen 
wird,  so  kann  die  Ueberzeugung  nicht  ausbleiben,  dafs  die 
historische  Pathologie  eine  Naturforschung  im  Grofsen  ist, 
die  auf  den  innersten  Kern  der  Wirklichkeit  führt,  und 
sie  wird,  aller  ungünstigen  Verhältnisse  ungeachtet,  ihre 
Stelle  einnehrnen,  wie  alle  Lehren,  die  in  der  Natur  der 
Dinge  begründet  sind.  Die  gegenwärtigen  Krankheiten 
sind  nur  eine  Phase  des  kranken  Organismus.  Wie  will 
man  den  Ring  des  Saturn  erkennen,  wenn  man  nur  den 
Streifen  sieht? 

n 

Band  28.  Heft  1.  1 


/ 


I 


2 


I.  Das  heilige  Feuer. 

Jahrhunderts;  —  allein  kaum  ist  ein  anderer  Krankheits- 
namc  in  verschiedenen  Zeiten  und  von  verschiedenen 
Schriftstellern  auf  so  mannigfache  pathologische  Zustände 
angewandt  worden,  als  der  fragliche.  — 

Den  Römern  scheint  Ignis  sacer,  wie  den  Griechen 
’Ef vo-IttiXx^ ,  ein  Collectivname  gewesen  zu  sein,  unter  wel¬ 
chem  sic  alle  Veränderungen  auf  der  äufscrcn  Fläche  des 
Körpers,  die  heftiges  Brennen  verursachten,  um  sich  grif¬ 
fen,  und  andere  den  Wirkungen  des  Feuers  analoge  Sym¬ 
ptome  mit  sich  führten,  begreifeu  konnten. 

Cclsus  *)  nimmt  zwei  Arten  des  heiligen  Feuers  an, 
von  denen  die  erste  eine  Eruption  zahlreicher,  sehr  klei¬ 
ner  und  später  zerreil’sender  Pusteln  auf  röthlichem  oder 
geflecktem  Grunde,  <Jie  bald  mit  Vernarbung,  bald  mit 
fortdauernder  Eiterung  der  früher  befallenen  Hautstellcn 
um  sich  greift,  eine  zwischen  Jauche  und  Eiler  stehende 
Flüssigkeit  seccruirt,  und  vorzüglich  auf  der  Brust,  in  der 
Seite  und  an  den  Fufssolen  vorkommt,  dem  Eczema  im- 
petigeuodes  Wilian’s  nahe  zu  stehen;  die  andere  aber,  die 
sich  vorzüglich  au  den  Unterschenkeln  alter  Leute  findet, 
dem  Eczema  chronicum  der  Neueren,  den  sogenaunten  Salz- 
tliisscn,  zu  entsprechen  scheint.  —  Beide  Formen  bedin¬ 
gen  unter  den  sich  weiter  verbreitenden  Geschwüren  am 
wenigsten  Gefahr,  sind  aber  fast  am  schwersten  heilbar.  — 
Nur  wenn  sich  zufällig  Fieber  erhebt,  heilen  sie  oft  sehr 
schnell.  — 

Auch  Lucrez  a)  scheint  den  Ignis  sacer  —  mehr  im 
Sinne  des  Celsus  für  eine  sich  über  dem  Herzen  verbrei¬ 
tende  Hauteruption  zu  nehmen,  und  gedenkt  seiner  iu  Ver¬ 
bindung  mit  Fieber,  Gliederreifseu ,  Zahn-  und  Augcn- 
schmerz,  als  einer  alltäglichen  Erscheinung.  —  An  einer 
anderen  Stelle  3)  vergleicht  er  ihm  die  Ikiutvcränderung 
in  der  atheniensisclien  Pest,  bei  der  der  ganze  Körper, 
gleichsam  von  verbrannten  Geschwüren,  roth  werde.  — 

Virgil  4)  hingegen  gedenkt  des  heiligen  Feuers  uutcr 
Umständen,  die  an  den  Milzbrand -Carbunkel  erinnern.  — 


i 


3 


I.  Das  heilige  Feuer. 

ji 

Nachdem  er  eine  furchtbare  Viehseuche  beschrieben,  führt 
er  au,  dafs  auch  die  Felle  der  gefallenen  Thiere  unbrauch¬ 
bar  gewesen  seien.  —  Nicht  Messer,  nicht  Feuer  konn¬ 
ten  die  Eingeweide  reinigen*,  —  niemand  ungestraft  die 
Wolle  scheeren  oder  die  Häute  berühren.  —  Wenn  sich 
aber  jemand  aus  Unvorsichtigkeit  derselben  zur  Kleidung 
bediente,  so  waren  brennende  Knötchen  und  ein  übelrie-, 
ehender  Schweifs  die  Folge;  —  und  nicht  lange  nachher 
verzehrte  das  heilige  Feuer  die  befallenen  Glieder.  — 

Wie  Celsus,  nimmt  auch  Plinius  5)  mehre  Arten 
des  Ignis  sacer  an,  von  denen  er  aber  nur  des  Gürtels  — 
Zoster  —  speciell  erwähnt.  —  Auch  er  gedenkt,  wohl 
vorzüglich  io  Beziehung  auf  die  anderen  Arten  des  heilige» 
Feuers,  des  Weiterkriechens  der  Affection  auf  der  Haut.  — 

Dieselbe  Krankheit,  sonst  auch  Zona  genannt,  ist  der 
Ignis  sacer  des  Scribonius  Largus  ß)  und  Marcellus 
Empiricus  7);  Serenus  Sammonicus  8)  hingegen 
scheint  eine,  andere  Krankheit  vor  Augen  gehabt  zu  ha¬ 
ben,  als  pustulöse  Eruptionen  und  nässende  Geschwüre, 
wenn  er  vom  Ignis  sacer  anführt,  dafs  die  Glieder  von 
grofser  Hitze  vertrockneten.  —  Er  gedenkt  des  Leidens 
mit  so  wenigen  Worten,  dafs  eine  genauere  Bestimmung 
unmöglich  ist.  — 

Aufser  diesen  Autoren  erwähnen  noch  der  Tragödien¬ 
schreiber  Seneca  9)  und  Columella  1  °)  des  heiligen 
Feuers.  —  Jener  macht  es  zu  einem  Symptome  der  Epi¬ 
demie,  welche  er  unter  Kreon’s  Herrschaft  Böotien  ver¬ 
heeren  läfst,  und  stellt  es  in  seiner  fingirteu,  dem  Thu- 
eydides  und  Euere z  nachgebildeten  Beschreibung  dieser 
Seuche  mit  Mattigkeit  und  Abgeschlagenheit  der  Glieder, 
Rothe  des  Gesichtes,  Eruption,  leichter  Flecken  am  Kopfe, 
später  grofser  innerlicher  Hitze,  Geschwulst  der  Wangen, 
starrem  Auge,  Rauschen  im  Ohre,  colliquativen  Blutungen 
und  unlöschbarem  Durste,  als  einen  die  Extremitäten  be¬ 
fallenden  Ausschlag  zusammen ,  der  die  Glieder  verzehrt  — - 
(paseitur  artus).  — 


1* 


4 


I.  Das  heilige  Feuer. 

Columella  aber  beschreibt  als  Ignis  saccr  der  Schaafe 
eine  Krankheit,  welche  die  Ilirlcn  Pusula  nennen,  und 
die  wohl  identisch  mit  dem  Milzbrände,  dem  Karbunkel 
oder  Feuer  der  Schaafe  ist  1 1 ).  Er  nennt  das  Ucbel  un¬ 
heilbar,  und  wenn  es  nicht  im  ersten  Stücke  vernichtet  wird, 
so  rafTt  cs  die  ganze  Jlcerdc  hinweg;  denn  cs  verträgt  we¬ 
der  eine  Behandlung  mit  Medicameotcn,  noch  init  dem 
Messer;  —  fast  jede  Berührung  verschlimmert  das  Uebcl.  — 
Nur  Ucbcrschlägc  von  Ziegenmilch  werden  vertragen,  ver¬ 
mögen  aber  nur  die  Bösartigkeit  der  Krankheit  zu  mil¬ 
dern,  das  Sterbeu  der  Heerde  zu  verzögern,  nicht  zu  ver¬ 
hindern.  Bolus  Mcndcsius,  ein  Acgyptier,  giebt  daher 
den  Rath,  oft  und  genau  den  Rückcu  der  Schaafe  zu  un¬ 
tersuchen,  und  wenn  man  ein  Stück  mit  der  Krankeit  be¬ 
haftet  findet,  dasselbe  lebendig  zu  vergraben.  — 

Aufserdcm  vergleicht  Columella  auch  die  Mentigo, 
welche  die  Schäfer  Ostigo  nennen ,  wegen  der  bösartigen 
Geschwüre,  die  sie  im  Munde  und  an  den  Lippen  veran- 
lafst,  mit  dem  heiligen  Feuer.  —  Sic  ist  vorzüglich  den 
Lämmern  und  jungen  Ziegen  gefährlich.  — 

Die  Araber  kennen  kein  heiliges  Feuer;  —  allein 
sie  beschreiben  fast  alle  ein  Nar-Farsi  —  d.  h.  persi¬ 
sches  Feuer,  und  Tiiele  ihrer  Ucbersctzcr  im  Mittelalter 
schreiben  dafür  ohne  Anstand:  Ignis  sacer.  — 

Wie  das  Heilige  Feuer  bei  den  Römern,  ist  aber  auch 
das  persische  in  den  Schriften  der  Araber  nicht  immer  die¬ 
selbe  Krankheit,  und  Avicenna  12)  sagt  ausdrücklich, 
dafs  die  Benennungen  Pruna  und  Ignis  persicus  auf  jede 
Pustel  (oder  Geschwulst),  die  Symptome  wie  die  der  Ver¬ 
brennung  oder  des  Glüheisens  mit  sich  führe,  anzuwen¬ 
den  sei.  — 

Am  häufigsten  wird  zwar  das  persische  Feuer  als  eine 
müdere  Karbutikeiform,  in  der  die  Cholera  die  Melancho¬ 
lie  überwiegt,  und  deren  Farbe,  wenigstens  anfangs,  mehr 
gelb  uod  roth,  als  schwarz  und  aschgrau  ist,  oder  als  eine 
unscheinbare  brandige  Rose  geschildert,  und  wir  finden  cs 


I.  Das  heilige  Feuer.  5  « 

mit  dieser  Bedeutung  bei  Rhazes  l3),  Avicenna  14). 
Albucasis  1  *)  und  Mesuc  16).  —  Allein  dieselben 
Schriftsteller  vergleichen  dem  Ignis  persicus  auch  andere, 
vom  Karbunkel  sehr  verschiedene  Uebel;  —  so  Rhazes  1 7) 
die  Blactiae  oder  Masern,  Avicenna  18)  die  über  den  gan- 
zeu  Körper  verbreiteten  olvB-^eg  Galen’s,  und  Mesue  19) 
nennt  sowohl  das  Nar-Farsi  und  die  Pruna,  als  die  Pocken 
Apostemata  parva  sanguinea.  —  Ha  ly  Abbas  20)  aber 
giebt  dem  Ignis  persicus  nur  eine  Bedeutung;  —  er  ist 
bei  ihm  eine  bösartige  Abart  der  Variola.  — 

Von  den  Salernitanern,  den  Wiederbelcbern  der  Me- 
dicin  im  Occidente,  gedenken  nur  zwei  des  Ignis  sacer.  — 
Constantinus  Africanus  21),  der  sich  nach  den  Ara¬ 
bern  gebildet  hatte  und  das  Werk  Haly  Abbas  über¬ 
setzte,  schreibt  an  der  entsprechenden  Stelle  Ignis  sacer 
für  das  Nar-Farsi  des  Arabers;  ihm  ist  das  heilige  Feuer  bös¬ 
artige  Variola.  —  An  einer  andern  Stelle  22)  aber  steht 
dasselbe,  ohne  beschrieben  zu  werden,  unter  den  Haut¬ 
krankheiten,  mit  der  Variola,  getrennt  vom  Erysipelas.  — 
Gariopontus  23)  hingegen,  der  mehr  aus  den  Griechen, 
als  aus  den  Arabern  compilirte,  nennt  das  Rothlauf  heili¬ 
ges  Feuer.  — 

Während  aber  die  Aerzte  über  die  Bedeutung  des 
Ignis  sacer  nicht  recht  einig  waren,  usurpirten  die  Laien 
in  der  Kunst  diese  Benennung  für  eine  Krankheit,  deren 
genauere  Kenntnifs  diese  Blätter  eigentlich  beabsichtigen. 

Vom  9teu  bis  zum  13ten  Jahrhundert  traf  dies  Lei¬ 
den  in  wiederholten  Epidemieen  verschiedene  Länder  Eu- 
ropa’s,  vorzüglich  aber  Frankreich  und  Lothringen  mit 
schwerer  Hand,  charakterisirte  sich  vorzüglich  durch  ein 
brandiges  Absterben  der  Glieder,  und  wurde  von  den  Chro¬ 
nisten,  die  es  anfangs  unter  dem  allgemeinen  Namen  der 
Pest  aufführen,  vom  lOten  bis  zum  l‘2ten  Jahrhunderte 
unter  den  Namen  Ignis  sacer,  Feu  sacr(',  Arsura,  Mal  des 
ardens,  Clades  s.  pestis  iguiaria  häufig  erwähnt,  und  zu¬ 
weilen  selbst  ziemlich  ausführlich  beschrieben.  —  Spä- 


6 


I.  Das  heilige  Feuer. 

tcr  —  vom  12ten  Jahrhundert  an  —  findet  man  statt  die- 
,  6er  Benennungen  häufig  Ignis  Sa  ne  t  i  Antonii  oderSancti 
Marti alis  in  den  Chroniken.  — 

Merkwürdig,  uud  nur  aus  dem  Geiste  der  damaligen 
Mcdicin  erklärbar  ist  cs,  dafs  —  meines  Wissens  wenig¬ 
stens  —  keiner  der  gleichzeitigen  Aerzte,  keiner  der  Saler- 
nitaner,  der  spanischen  Araber  oder  der  späteren  Arabi¬ 
sten  dieser  Seuchen  erwähnt.  —  Allein  der  Begriff,  den 
von  diesen  Epidcmiccn  her  die  Chronisten  und  das  Volk 
mit  dem  heiligen  Feuer  verbanden,  konnte  nicht  ohne 
Eiuflufs  auf  die  Leine  der  Aerzte  vom  Ignis  saccr  sein.  — 
In  Italien,  wo,  dem  Stillschweigen  der  Chroniken 
nach  zu  schliefscn,  keine  Seuche  des  heiligen  Feuere  vor¬ 
kam,  erhält  sich  zwar  die  frühere  Bedeutung  arabischen 
Ursprunges,  und  die  Italiener  La n fra  n  eh  i  2  4),  Peter 
von  Argclqta  25),  Joannes  de  Vigo  a6)  imd  Fabri- 
cius  de  Acquapcndcntc  37)  beschreiben  den  Ignis  sa- 
cer  als  gleichbedeutend  mit  Ignis  pcrsicus,  als  Karbuu- 
kel:  —  die  Franzosen,  die  Holländer  und  die  Deutschen 
aber,  mit  dem  epidemischen  Leiden  wenigstens  durch  Tra¬ 
dition  näher  bekannt,  geben  auch jn  ihren  ärztlichen  Schrif¬ 
ten  dc3  14tcn  und  der  folgenden  Jahrhunderte  eine  Be¬ 
schreibung  vom  Ignis  sacer  oder  Sanct  i  Anton  ii,  die  ge¬ 
nauer  zu  den  Erzählungen  der  Chronisten  des  lOtcn  bis 
1 3 1 e  11  Jahrhunderts  pafst,  als  die  der  Pruna  oder  des  Nar- 
Farsi  der  Araber.  —  So  hatte  Gordon  28)  gewifs  die 
Feuerpesten  des  13tcn  Jahrhunderts  vor  Augen,  wenn  er 
das  heilige  Feuer  aus  entzündeter  Galle  entstehen  läfst, 
die  die  Glieder  wie  ein  Schwert  abschneidet,  und  Guy 
de  Chauliac  *•)  beschreibt  doch,  wenn  er  auch  den 
Ignis  saccr  als  synonym  mit  Karbunkel ,  Pruna  und  Ignis 
pcrsicus  gebraucht,  an  derselben  Stelle  den  Esthiomenos, 
welchen  die  Griechen  Gangraena  nennen,  ganz  als  fcuch- 
tcu  Brand  und  sagt,  dafs  diese  Krankheit  im  Volke  Ignis 
Sancti  Antonii  vcl  Martialis  genannt  werde.  —  Den 
Arabern  getreuer  blieb  Valcsco  von  Tara  nt  a  30);  ihm  ist 


7 


I.  Das  heilige  Feuer. 

Ignis  sacer  gleichbedeutend  mit  Ignis  Sancti  Antonii  — 
beide  der  Karbunkel.  —  Manardus  31  )  aber,  Ta- 
gault  32),  Musita  nus  3  3),  Forest34),  Wierus35) 
und  der  deutsche  Hauns  von  Gcrsdorf  36)  führen  bei 
ihrer  Beschreibung  der  Gangrän  und  des  Sphacelus  — 
Krankheiten,  für  welche  sie  auch  die  Benennung  Esthio- 
menos  iu  den  Schriften  der  Alten  vindiciren  — ,  einstim¬ 
mig  an,  dafs  der  Brand  im  Volke  Feuer  des  heiligen  An¬ 
tonius  heifse.  —  Der  Name  Ignis  sacer  kommt  bei  den 
meisten  von  ihnen  gar  nicht  vor;  nur  Gcrsdorf  nimmt 
den  Ignis  sacer  als  gleichbedeutend  mit  dem  St  Anton’s, 
und  andere  suchen,  wie  Forest37),  das  heilige  Feuer 
des  Pliniüs  und  Celsus  wieder  hervor  und  erklären  es 
für  Gürtel,  Rose  und  Herpes.  —  Die  deutschen  Chirur¬ 
gen  aber  nannten  den  Sphacelus  kaltes  Feuer,  die  Hollän¬ 
der  Kout  Vier  38). 

Im  weiteren  Verlaufe  des  löten  und  im  17ten  Jahr¬ 
hunderte  scheint  sich  allmählig  die  Volksbenennuug  St.  An¬ 
ton  sfeuer  wieder  verloren,  die  Erinnerung  au  die  Seuchen 
früherer  Saecula  verwischt  zu  haben,  da  keine  neuen  Feuer¬ 
pestilenzen  sie  auffrischten.  —  Die  Aerzte  führen  keine 
eigene  Krankheit  mehr  unter  diesem  Namen  auf,  nur  we¬ 
nige  gedenken  seiner  noch  als  eines  Synonyms  des  Ignis 
sacer.  —  Dieser  war  jetzt  aber  nicht  mehr  der  Ignis  per- 
sicus  der  Araber,  der  Karbunkel  Chauliac’s  und  Va- 
lesco’s,  der  Brand  Gordon’s  und  Gersdorf’s.  —  Die 
Medicin  hatte  sich  von  den  Arabern  und  iVrabisten  zu  den 
Griechen  und  Römern  gewandt;  die  Autorität  des  Ilip- 
pocrates  und  Plinius  galt  mehr  als  die  Avicenna’s 
und  Guido’s.  —  Die  Ueberselzer  der  Griechen  aber 
schrieben  für  Ignis  sacer39),  und  die  Commen- 

tatoren  des  Celsus  und  Plinius  erkannten  in  dem  hei¬ 
ligen  Feuer  der  Römer  das  Rotblauf  und  den  Gürtel, 
manche  wohl  auch  fressende  Flechten  40),  Senn  er  t,  Sy- 
denham  und  Lor  ry  beschreiben  als  heiliges  Feuer  die  Rose; 
Lange,  deHacu,  Plenck  und  Borsieri  den  Zoster.  — • 


8 


I.  Das  heilige  Feuer. 

Der  epidemische  Ignis  sacer  des  Mittelalters  aber  wurde 
der  medicinischen  Alterthumskui.de  übergeben,  seine  Deu¬ 
tung  der  Geschichte  der  Seuchen  überlassen.  —  Ver¬ 
schiedene  Acrzlc  der  neueren  Zeit  würdigten  denselben  ih¬ 
rer  Aufmerksamkeit;  die  mcdicinische  Acadcmic  zu  Paris 
machte  ihn  zum  Gegenstände  historischer  Forschung,  und 
mannigfache  Meinungen  über  seine  Natur  wurden  ausge¬ 
sprochen,  ohne  dafs  bis  jetzt  ein  entscheidendes  Resultat 
gewonneu  worden  wäre.  — 

Schon  ein  Chronist  des  15tcn  Jahrhunderts  41 )  hält 
das  heilige  Feuer  Für  identisch  mit  der  Pest  des  Thucy. 
dides,  und  neuere  Schriftsteller  fanden  wenigstens  Achn- 
Jichkeit  zwischen  beiden  Krankheiten.  —  Andere  sehen 
eine  bösartige  brandige  Rose  4a),  andere  eine  Abart  der 
Pest  im  Ignis  sacer;  für  Schnurrer  ist  er  ein  Karbun- 
kclficber  43),  für  Jlcnslcr  44)  Scharlach.  — '  Tissot, 
Tessier  und  die  meisten  Franzosen  erklären  ihn  für  Er- 
gotismus  45),  Batcman  Für  Landscorbut,  und  Moore  und 
Krause  40)  wenigstens  einzelne  seiner  Epidemicen  für 
Variola.  — 

Raymond  47)  und  Schnurrer  48)  endlich  glauben 
selbfct  zwei  verschiedene  Krankheiten  im  Ignis  sacer  und 
Ignis  Sancti  Antonii  zu  erkennen.  —  Jener  hält  das 
heilige  Feuer  für  fressende  Flechteu  und  den  Ignis  Sancti 
Antonii  Für  Evgotismus;  —  Schnurrer  hingegen  sieht 
im  Ignis  sacer  eine  der  athcnicnsischcn  Pest  analoge  Krank¬ 
heit  oder  ein  bösartiges  Karbuukclficber,  und  im  St.  An- 
tonsfeuer  eine  Lepraform,  in  der  das  heilige  Feuer  un¬ 
tergegangen  sein  soll.  — 

Bei  so  verschiedcnenen  Meinungen  und  Ansichten  über 
die  Natur  eines  Ucbcls,  das,  wenn  auch  vor  mehr  als 
6  Jahrhunderten,  im  Herzen  von  Europa  hauste,  kann  cs 
nicht  ohne  Interesse  sein,  die  bestaubten  Annalen  jener 
Zeit  nochmals  atyfznsch  lagen,  die  geschichtliche  Darstellung 
der  Feuerpest  aufs  Neue  zu  versuchen,  und  mit  dem  auf 
diese  Weise  gewounenen  Bilde  der  Krankheit  die  ver- 


I.  Das  heilige  Feuer.  9 

schiedcnen  Leiden  zu  vergleichen,  welche  man  in  ihr  zu 
erkennen  wähnte. 

Dies  ist  die  Aufgabe  vorliegender  Blätter.  —  Treu  nach 
den  Chronisten  gedenke  ich  zu  erzählen,  keine  Folgerung 
zu  ziehen,  der  nicht  ihre  Worte  zur  Seite  ständen,  und 
ohne  Vorurtheil  und  Leidenschaft  die  Ansichten  Anderer 
zu  prüfen.  —  Ueberzeugt  von  dem  innigen  Zusammen¬ 
hänge  der  Volkskrankheiten  mit  den  Vorgängen  in  der 
physischen  und  moralischen  Well  werde  ich  dies  stets  be¬ 
rücksichtigen,  bei  jeder  Epidemie  der  Witterungsconsti¬ 
tution  der  treffenden  Jahre,  der  Ereignisse  im  Leben  der 
Völker  erwähnen.  — 

Möchte  meine  Arbeit  zu  einem  entscheidenden  Resul¬ 
tate  führen,  möchte  sie  nur  eines  der  vielen  unbeschrie¬ 
benen  Blätter  in  der  Geschichte  der  Seuchen  füllen.  — 
Ihre  Unvollständigkeiten  aber  halte  das  ärztliche  Publikum 
der  Schwierigkeit  des  Quellenstudiums,  dem  kärglichen 
Materiale,  welches  nicht  Aerzte,  sondern  Chronisten  lie¬ 
fern,  und  der  Periode  zu  gute,  in  der  die  Krankheit 
herrschte.  —  Einer  unserer  ausgezeichnetsten  Schriftstel¬ 
ler  im  Fache  der  Seuchengeschichte  nannte  sie  noch  kürz¬ 
lich  das  düster  brennende  heilige  Feuer.  — 


Erstes  Kapitel. 

*  i  . 

Geschichte  der  Feuerpest  des  Mittelalters. 

Erst  gegen  die  Mitte  des  lOten  Jahrhunderts  gedenken 
die  Chroniken  einer  epidemischen  Krankheit,  die  sie  un¬ 
ter  dem  Namen  Ignis  sacer,  Arsura,  Feu  sacre,  Mal  des 
ardens,  Clades  oder  Pestis  igniaria,  später  wohl  auch  un¬ 
ter  den  Benennungen  Ignis  Sancti  Antonii,  Martialis  oder 
Beatac  Virginis,  Ignis  invisibilis  oder  infernalis  von  der 
Pest,  unter  der  sie  fast  alle  anderen  Epidemieen  begreifen, 
unterscheiden.  Uebrigens  erwähnt  keiner  von  ihnen  die- 


* 


10 


I.  Das  heilige  Feuer. 

scr  Seuchen  als  einer  neuen  und  ungewöhnlichen  Er¬ 
scheinung,  und  schon  in  den  Annalen  des  9ten  Jahr¬ 
hunderts  finden  sich,  wenn  auch  nicht  die  Namen  der 
Krankheit,  doch  unzweideutige  Spuren  ihrer  Exi¬ 
stenz.  —  Ihr  Aller  aber  genauer  zu  bestimmen,  ist, 
bei  den  so  sparsamen  und  mangelhaften  Angaben  jenes 
Zeitalters  über  Volkskrankheiten,  unmöglich.  — 

^857.  Am,  Rheine.}  Die  erste  Seuche  dieser  Art,  über  welche 
wir  Nachricht  besitzen,  herrschte  857  am  Rheine.  — 
Sie  wurde  mit  keinem  der  angeführten  Namen  belegt, 
allein  die  vom  Chronisten  1 )  angeführten  Zufälle  des 
Ucbels  lassen  kaum  einen  Zweifel  über  seine  Identität 
mit  der  Feuerpest  zu.  — - 

Der  vorausgehende  Winter  war  sehr  kalt  und 
trocken,  und  am  Weihnachtstage  bebte  zu  Mainz  die 
Erde  2).  Darauf  aber  herrschte  eine  grofsc  Seuche 
mit  schwellenden  Blasen  unter  dem  Volke  und  ver¬ 
zehrte  es  mit  häfslicher  Fäuluifs,  so  dafs  die  losge- 
treunten  Glieder  noch  vor  dem  Tode  abfielen.  — 

(922.  Frankreich  und  Spanien.}  922  aber  WÜtlielC  nadl  SdlUUr- 
rcr  3)  das  heilige  Feuer  im  südwestlichen  Frankreich 
und  in  Spanien.  —  Der  Infaut  Don  Froila  starb 
unter  unsäglichen  Schmerzen.  —  Auch  hier  gingen 
Erdbebcu,  Meteore  und  ungewöhnliche  Witterung  der 
Seuche  voraus  4). 

f94b.  Pari».)  Schon  genauere  Kunde  geben  uns  die  Chro¬ 
nisten  über  die  Epidemie  des  Jahres  915  zu  Paris.  — 

Im  April  944  hatten  Erdbeben  Frankreich  und  die 
Rheingegenden  erschüttert,  Meteore  durchzogen  die 
Luft,  und  ein  mächtiger  Sturm  stürzte  zu  Paris  Häu¬ 
ser  nieder.  —  Der  folgende  Sommer  war  andauernd 
kühl  und  regnerisch,  und  der  Winter  kalt;  —  noch 
in  der  Mitte  des  Märzmonds  fiel  tiefer  Schnee  *).  — 
Die  Normannen  waren  in  Frankreich  eingefallen,  und 
Paris  rettete  sich  nur  durch  schwere  Brandschatzung 
von  der  Plünderung.  —  Da  brach  in  diesen  Zeiten 


I.  Das  heilige  Feuer.  11 

der  Notli  in  der  Stadt  und  auf  den  benachbarten  Dör¬ 
fern  das  heilige  Feuer  aus.  —  Es  verbreitete  sich 
über  verschiedene  Glieder  der  Befallenen,  die  es  lang¬ 
sam  verbrannte  und  verzehrte,  bis  der  Tod  den  Qua- 
leu  ein  Ziel  setzte.  Die  Bewohner  der  Stadt  flohen, 
um  Schutz  oder  IleiluDg  zu  finden,  aufs  Land,  die  der 
Dörfer  in  die  Stadt.  —  Die  meisten  aber  nahmen 
ihre  Zuflucht  zu  den  Heiligen,  und  fanden  bei  ihnen 
Hülfe.  —  Vorzüglich  wurden  zu  Paris  in  Nötre-Dame 
fast  alle  geheilt,  die  sich  dort  einstellen  konnten,  und 
der  Herzog  Hugo  der  Grofse  speiste  täglich  die  dort 
versammelten  Kranken,  obgleich  ihrer  zuweilen  mehr 
als  600  waren.  —  Auch  ein  kleines  Oratorium  der 
heiligen  Genovefa  erwarb  sich  durch  seine  Wunder¬ 
kraft  grofsen  Ruhm,  und  erhielt  daher  den  Namen 
«des  ardens  J).  —  Von  den  in  Nötre-Dame  Geheilten 
zogen  mehre  in  die  Heimäth  zurück-,  allein  das  er¬ 
stickte  Feuer  brach  in  ihnen  aufs  neue  aus,  und  sie 
wurden  erst,  als  sie  wieder  in  die  Kirche  zurückkehr- 
ten,  befreit  6). 

Oertliche  Vorgänge  in  der  Natur,  wie  f994.  Frankreich.) 
sie  944  statt  gefunden,  verkündigten  auch  die  Feuer¬ 
pest,  die  im  Jahre  994  Aquitanien,  Angoumois,  Pe- 
rigord  und  Limousin  verheerte.  —  Das  Jahr  993 
war  reich  an  Meteoren,  und  durch  einen  ungewöhn¬ 
lich  heftigen  Ausbruch  des  Vesuvs  bezeichnet;  —  der 
Winter  währte  vom  November  bis  zum  Mai,  und  war 
»sehr  strenge;  —  danu  kamen  pestilenzialische  kalte 
Winde,  und  noch  im  Juli  gab  es  Reif  in  der  Nacht 
und  Eis  in  den  Teichen.  —  Die  Fische  starben  ab, 
die  Bäume  verdorrten,  die  Wiesen  schienen  wie  ver¬ 
brannt,  und  alle  Flüsse  Europa’s  sollen  durchwatbar 
gewesen  sein  7).  — •  Theurung  und  Ilungersnoth  wa-  > 
ren  deshalb  auch  allgemein,  und  an  vielen  Orten  gab 
es  epidemische  Krankheiten  unter  Menschen  und  Thic- 
ren  9).  —  In  Aquitanien,  Limousin  und  den  beuach- 


12 


I.  Das  heilige  Feuer. 

barten  Provinzen  aber  herrschte  das  heilige  Feuer  mit 
vordem  nie  gesehener  Heftigkeit.  —  Es  starben  mehr 
als  40,000  Personen  beiderlei  Geschlechts;  ein  unsicht- 
bares  Feuer  verzehrte  die  Körper  und  trennte  die  be¬ 
fallenen  Glieder  vom  Rumpfe.  —  Es  war  nicht  nur 
fürchterlich,  das  Jammergeschrei  der  Unglücklichen  zu 
hören  und  die  verbrannten  Theilc  von  den  Körpern 
fallen  zu  sehen,  sondern  auch  der  Geruch  des  faulen 
Fleisches  war  unerträglich.  —  Viele  verzehrte  das 
Feuer  in  einer  Nacht.  —  Wie  in  früheren  Zeiten, 
nahm  man  auch  hier  wieder  seine  Zuflucht  zu  den 
Heiligen,  haufenweise  strömten  die  Kranken  zu  den 
,  Kirchen,  und  stritten  sich  um  den  Einlafs;  —  die 
Geistlichkeit  erhielt  reiche  Dotationen,  die  Grofsen 
verbanden  sich  zu  einer  heiligen  Ligue,  und  schwu¬ 
ren  ihren  Untcrthancn  Gerechtigkeit  zu.  —  Viele 
der  Kranken  genasen,  als  inan  sie  mit  gewcihetcin 
Wasser  besprengte,  und  als  die  Bischöfe  Aquitaniens 
die  Gebeine  des  heiligen  Martialis  in  feierlicher 
Prozession  durch  das  Land  trugen,  verschwand  die 
Seuche  9). 

(9 99.  Spanien .)  Dieselbe  Krankheit  kam  fast  gleichzeitig  ge¬ 
gen  das  Jahr  909  in  Spanien,  namentlich  im  König¬ 
reiche  Leon  vor  ,0),  und  herrschte  gegen  das  Ende 
des  lOtcn  Jahrhunderts  vielleicht  im  Zusammenhänge 
mit  dem  fürchterlichen  Mangel  aller  Lebensbedürfnisse 

C Lothringen.)  im  Jahre  996  1 1)  in  Lothringen.  —  Der  Bi¬ 
schof  von  Metz,  Aldabcrou  II.,  verwandelte  sein 
Haus  in  ein  Hospital,  das  täglich  80  bis  100  Krauke 
aufuahm.  —  Das  Leiden  begann  mit  brennender 
Hitze,  die  Glieder  wurden  brandig  und  fielen  so  schnell 
ab,  dafs  manche  schon  einen  Fufs,  und  andere  selbst 
beide  Füfse  verloren  hatten,  als  6ie  ius  Hospital 
kamen  1  a). 

( 1039.^  Eine  andere  Seuche  dieser  Art  herrschte  1039.  — 
Es  starben  viele  aus  allcti  Ständen,  manche  aber  blic- 


13 


I.  Das  heilige  Feuer. 

bcn  mit  verstümmelten  Gliedern  den  andern  zum  Bei¬ 
spiel  am  Leben.  Ueberall  war  Mangel  an  Wein  und 
Getreide  13),  und  ein  grofscs  Feuermeteor  war  der 
Epidemie  vorausgegangen  1 4). 

Der  Sommer  des  Jahres  1042  war  sehr  fi042.  Verdun. j 
regnerisch,  Winde  verursachten  grofsen  Schaden,  und 
die  Ernte  mifsrieth.  —  Theurung  und  Hunger,  Seu¬ 
chen  unter  Menschen  und  Thieren,  suchten  Frankreich 
und  Deutschland  heim  1 5).  — •  Von  den  meisten  die¬ 
ser  epidemischen  Krankheiten  sind  weder  Namen  noch 
Beschreibungen  auf  uns  gekommen;  in  Verdun  aber 
war  es  das  heilige  Feuer,  welches  die  Stadt  fast  zur 
Wüste  umschuf,  und  nur  der  Wunderkraft  des  heili* 
gen  Vit  onus  wich  16). 

Furchtbarer  aber  und  für  längere  Zeit,  als  in  einer 
der  bis  jetzt  erwähnten  Epidemieen,  erhob  der  Ignis 
sacer  in  den  letzten  15  Jahren  des  Ilten  Jahrhunderts 
sein  Haupt,  und  die  jetzt  zahlreicheren  und  aufmerk¬ 
sameren  Chronisten  gedachten  seiner  wiederholten  Aus¬ 
brüche  und  seiner  Erscheinungen  ausführlicher,  als 

i 

vordem. 

Die  Zeiten  waren  schlecht.  Erdbeben,  Heuschrek- 
kenschwarme  und  ungewöhnliche  Nässe  bezeichneten 
die  Jahre  1085  und  86:  die  Flüsse  traten  aus  ihren 
Ufern,  Berge  wurden  unterhöhlt  und  stürzten  zusam¬ 
men.  Im  Jahre  1087  wurde  das  Federvieh  wild  und 
flog  in  die  Wälder,  die  Fische  starben  in  den  Wäs¬ 
sern  und  Teichen;  —  1088  bebte  in  Thüringen  und 
Hessen  die  Erde,  und  in  Flandern  sah  man  einen  feu¬ 
rigen  Drachen.  —  Mit  dem  Jahre  1090  aber  begann 
eine  Theurung  und  Hungersnoth,  die  mit  kurzen  Un¬ 
terbrechungen  7  lange  Jahre  wüthete  und  erst  ge¬ 
gen  1097  etwas  nachliefs.  —  Meteore,  Ueberschwem- 
mungen  und  Mifswachs  wiederholten  sich  fast  in  jedem 
dieser  Jahre,  und  die  bürgerlichen  Kriege  in  Deutsch¬ 
land  und  Frankreich,  die  Plünderungen  der  Excom- 


J4  I.  Das  heilige  Feuer. 

iminicirtcn  io  Italien  und  der  Hungernden  in  allen 
Landern  waren  eben  nicht  sehr  geeignet,  die  Gemii- 
ther  zu  beruhigen.  —  Im  Jahre  1092  erwartete  man 
mit  Bestimmtheit  den  jüngsten  Tag,  und  ergriff,  als 
1096  das  Kreuz  gepredigt  wurde,  mit  Fanatismus  die 
Gelegenheit,  sich  durch  die  Eroberung  von  Jerusalem 
seinem  Gotte  zu  versöhnen,  und  das  arme  Europa  mit 
Asiens  Reichthiimern  zu  vertauschen  1 7). 

Dafs  es  bei  solchen  Vorgängen  in  der  physischen, 
moralischen  und  politischen  'Welt  auch  nicht  an  epi¬ 
demischen  Krankheiten  mangelte,  beweisen  alle  Chro¬ 
nisten  jener  Zeit;  —  in  Italien,  Frankreich,  Deutsch¬ 
land  und  England  zehndeten  mannigfache  (meistens  nicht 
genau  beschriebene)  Seuchen  die  Cevölkeruug  *®). 

Das  heilige  Feuer  spielte  unter  ihnen  nicht  die 
letzte  Rolle,  und  wenn  wir  auch  nur  über  seine  Ver¬ 
heerungen  in  Lothringen,  Flandern,  der  Dauphine 
und  Aquitanien  bestimmte  Kunde  besitzen,  so  müs¬ 
sen  wir  doch  annehmen;  dafs  cs  uoch  in  grüfsercr 
Ausbreitung  vorgekommen  sei.  — 

( 1085.  Lothringen. j  Es  zeigte  sicli  schon  1085  nach  dein 

grol'sen  Erdbeben  im  westlichen  Tiieile  Lothringens 
eine  Pest,  bei  der  viele  durch  Zusammenzieluing  der 
Nerven  verzerrt  und  von  den  heftigsten  Schmerzen 
gequält  wurden;  andere  hingegen,  nachdem  ihre  Glie¬ 
der  vom  heiligen  Feuer  verzehrt  und  schwarz  wie 
Kohlen  geworden,  elend  dahin  starben  1  #). 

H089.  Lothringen  vnj  Finnäem .)  In  gröfscrer  Ausdehnung  aber 
kam  unsere  Krankheit  in  Lothringen  und  Flandern  iin 
Jahre  1089  vor,  wo  viele  Menschen,  denen  das  hei- 

f 

lige  Feuer  das  Innere  verzehrte,  verfaulend,  mit  au- 
gefressenen  und  wie  Kohlen  schwarzen  Gliedern  ent¬ 
weder  elend  dahin  starben,  oder,  indem  ihnen  die  in 
Fäulnifs  übergegangenen  Gliedmaafsen  abfielcn,  für  ein 
noch  elenderes  Leben  erhalten  wurden.  —  Viele 
aber  quälten  Krämpfe  und  Zuckungen.  Auf  alicu  Wc- 


15 


I.  Das  heilige  Fener. 

gen,  in  den  Grüben  und  an  den  Thoren  der  Kirchen 
sah  man  Leidende,  die  wehklagten  und  vor  Schmerz 
mit  den  Zähnen  knirschten;  —  überall  Sterbende  und 
Todte.  —  Einer  der  Chronisten  vergleicht  die  Krank¬ 
heit  dem  Erysipelas  der  Griechen;  ein  anderer,  weit 
späterer  hingegen,  der  atheniensischen  Pest  20). 

Auch  in  Frankreich,  wo  man  aufser  furn  Dauphine .) 
feurigen  Meteoren,  Iusektensckwärmen  und  anderen 
Wundern  von  schlimmer  Vorbedeutung,  bedeutende 
Mengen  Blutes  aus  neugebackenem  Brote  fliefsfcn  sah  2  *), 
herrschte  das  heilige  Feuer.  —  In  der  Dauphine  gab 
es  Unglückliche,  denen  nach  dem  Verluste  aller  Ex¬ 
tremitäten  nur  noch  der  Kopf  und  Rumpf  geblieben 
waren,  und  die  noch  mehre  Tage  lang  in  diesem  fürch¬ 
terlichen  Zustande  lebten.  —  Es  scheint  diese  Pro¬ 
vinz  überhaupt  vorzugsweise  von  der  Feuerpest  heim- 
gesucht  worden  zu  sein,  da  hier  ein  gewisser  Gaston 
den  Orden  des  heiligen  Antonius  stiftete,  dessen 
Zweck  die  Pflege  der  vom  heiligen  Feuer  Befallenen 
war.  —  Der  Hauptsitz  des  Ordens  war  mit  Geneh¬ 
migung  des  Papstes  Urban  II.  Vienne,  wo  die  Reli¬ 
quien  des  genannten  Heiligen  ruhten  und  von  den 
Kranken  angerufen  wurden;  — *  die  Häuser  der  Stadt 
dienten  zu  Hospitälern  22). 

1092  zeigte  sich  die  Krankheit  wieder  fl092.  Flandern.) 
in  Flandern,  und  der  Bischof  von  Tournai  veranstal¬ 
tete  zu  ihrer  Abwendung  einen  feierlichen  Bittgang.  — 

Es  fielen  der  Seuche  zahlreiche  Opfer;  —  die  einen 
waren  schwarz  wie  Kohlen ,  die  andern ,  denen  die 
Krankheit  die  Eingeweide  angegriffen,  zehrten  ab,  die 
dritten  waren  an  den  Gliedern  jämmerlich  verstüm¬ 
melt  2  3). 

Im  Jahre  1094  aber,  wo  die  Hungersnoth  am 
drückendsten  war,  und  ganz  Deutschland,  Frankreich, 
Burgund,  Italien  und  England  von  schweren  Seuchen 
getroffen  wurden,  ganze  Marktflecken  ausstarben  und 


J6  I.  Das  heilige  Feuer. 

die  Kirchhöfe  an  vielen  Orten  die  Todten  nicht  mehr 
f  1094.  Aquitanien.)  fafeten  24),  war  cs  wenigstens  in  Aqui¬ 
tanien  das  heilige  Feuer  (vom  Autor  Feuer  unter  der 
Haut  genannt),  gegen  welches  die  Bewohner  die 
Hülfe  ihres  Schutzpatrone»  anriefen25),  und  Sieg- 
bert  von  Gcmblours  erzählt  vom  Jahre  1095,  dafs 
das  heilige  Feuer  viele  befallen  habe,  und  dafs  ihre 
Glieder  schwarz  wie  Kohlen  geworden  seien  28). 
^1099.  Dauphine.)  Eine  neue  Epidemie  des  Ignis  saccr  brach 
im  Jahre  10.99  in  der  Dauphine  aus.  —  Das  ganze 
Jahr  hindurch  war  wenigstens  in  den  nördlichen  Län¬ 
dern  ein  beständiger  Winter,  in  Soissons  sah  man  ein 
grofses  Feuermeteor,  und  Ucbcrschwcmmungcn  des 
Meeres  thaten  in  England  und  Holland  unberechenba¬ 
ren  Schaden  27).  —  Zu  Vienne,  in  der  Nachbar¬ 
schaft  der  Kirche  der  heiligen  Gertrude,  war  die 
Krankheit  so  heftig,  dafs  wenn  ein  Theil  des  Körpers 
befallen  wurde,  ein  Gefühl  von  Hitze  und  heftigem 
Schmerz  eintrat,  das  nur  mit  dem  Leben  endete  und 
den  Verlust  des  ergriffenen  Gliedes  nach  sich  zog  2B). 

Nicht  seltener  als  im  Ilten,  war  die  Feuerpest  im 
12ten  Jahrhundert.  —  Sie  zeigte  sich  schon  1105  —  6, 
in  diesen  feuchten,  an  Meteoren  reichen  Jahrea  wic- 
f  1109.  Frankreich.)  der  29),  und  erschien  in  gröfserer  Aus¬ 
breitung  im  Jahre  1109.  —  Der  Jahrgang  war  reg¬ 
nerisch,  reich  an  Gewittern,  Wolkenbrüchen  und  Ila- 
gelschlägcn.  —  Die  Ernte  mifsrieth,  und  Theurung 
und  Hungersnolh  kamen  über  Frankreich  30);  da  brach 
auch  noch  das  heilige  Feuer,  vorzüglich  im  Gebiete 
von  Orleans,  Chartres  und  in  der  Danphine  au6.  — 
An  manchen  Orten  schien  es  ziemlich  gutartig,  an 
anderen  aber  verstümmelte  und  tödtete  es  Viele  der 
ärmeren  Klassen.  —  Die  Glieder  wurden  schwarz 
wie  Kohlen  51 ). 

filio.  England.)  Im  folgenden  Jahre,  1110,  erschien  die 
Krankheit,  nach  einem  ungewöhnlich  strengen  Winter, 

auch 


17 


I.  Das  heilige  Feuer. 

f  •  jtoäjL  >  I  V  f 

auch  in  England.  —  Die  Theile  wurden  schwarz, 
und  fielen  ab  3  a). 

1115  herrschte  das  Uebel  zu  Dormans,  ('ins.  Dormana.j 
und  1125,  nach  einem  kalten  Winter  und  sehr  feuch¬ 
ten  Sommer,  in  der  Dauphine  33).  In  viel  fira.  Dauphine.) 
gröfserer  Ausbreitung  aber  trat  es  1128  und  29  auf, 
nachdem  in  drei  vorausgehenden  Jahren  der  Winter 
auffallend  kalt  gewesen  war,  und  hin  und  wieder 
Tbeurung  und  Hunger  herrschten  3  4). 

In  Frankreich  wurden  die  Städte  fii28  —  29.  Frankreich.) 
Chartres,  Paris,  Soissons,  Cambray,  Arras  und  viele 
andere  Orte  hart  von  der  Seuche  betroffen.  — <  Sie 
befiel  alle  Alter  und  Geschlechter,  und  tödtetc  in  Pa¬ 
ris  allein  14,000  Menschen;  —  die  Hände,  die  Füfse, 
die  Brüste,  und,  was  schlimmer  war,  das  Gesicht 
wurden  von  ihr  zerstört.  Keine  ärztliche  Hülfe  fruch¬ 
tete,  die  Krankheit  war  Gottes  Finger.  *—  Die  ein¬ 
mal  befallenen  Körper  brannten  mit  unerträglicher  Pein 
bis  zum  Tode,  wenn  nicht  Gottes  Barmherzigkeit  ein 
Ziel  setzte.  Es  war  ein  zehrendes  Uebel,  das  unter 
der  gespannten  lividen  Haut  das  Fleisch  von  den  Kno¬ 
chen  trennte  und  zerstörte,  und  mit  immer  wachsen¬ 
dem  Schmerze  und  Brennen  die  Kranken  in  jedem 
Augenblicke  die  Qual  des  Todes  empfinden  liefs.  — 
Allein  der  ersehnte  Tod  erfolgte  erst,  wenn  das  Feuer 
die  Extremitäten  zerstört  hatte  und  die  Organe  des 
Lebens  erreichte.  —  Das  Wunderbare  an  der  Sache 
aber  war,  dafs  dieses  Feuer  ohne  Hitze  zu  verzehren 
vermochte,  und  die  armen  Kranken  mit  so  eisiger 

Kälte  übergofs,  dafs  sie  auf  keine  Weise  zu  erwär- 

\  • 

meu  waren.  —  Lenkte  es  aber  die  göttliche  Gnade 
zum  Besseren ,  so  verschwand  die  tödtliche  Kälte,  und 
es  durchdrang  dieselben  Theile  eine  so  intensive  Hitze, 
dafs  sich  häufig  der  Krebs  bcigesellte,  wenn  nicht 
durch  Arzneimittel  Hülfe  geschafft  wurde.  —  Der 
Anblick  der-  Kranken  und  der  frisch  Geheilten,  die 
Baad  28.  Heft  1.  2 


18 


I.  Das  heilige  Feuer. 

Spuren  der  Krankheit  an  ihren  Körpern  und  in  den 
abgezehrten  Gesichtern,  erregten  Schauder.  —  Nur 
die  Heiligen  vermochten  dein  Ucbcl  zu  steuern,  und 
sie  heilten  auch  zahlreiche  Kranke.  In  der  Frauen¬ 
kirche  zu  Soissons  genasen  in  15  Tagen  103  vom  hei¬ 
ligen  Feuer  befallene  Personen  und  drei  Mädchen,  die 
an  Verdrehungen  der  Glieder  litten;  und  Sanct  Ma¬ 
ria  uud  Genofeva  zu  Paris  thaten  nicht  weniger 
Wunder.  —  Gleichzeitig  mit  der  Feuerpest  herrschte 
eine  Viehseuche  35).  — 

( ii2 s  —  29.  Lothringen  und  Flandern.  ?  — )  In  Lothringen  und  Flan¬ 
dern ,  wo  das  Leiden  in  denselben  Jahren  erschien, 
starben  die  Kranken  unter  langen  und  heftigen  Schmer¬ 
zen.  —  Wie  in  Frankreich,  befiel  das  Uebel  die 
Hände,  die  Füfse  uud  auch  das  Gesicht.  —  Frost¬ 
schauder,  auf  welchen  Hitze  folgte,  Delirien,  grofse 
Kraftlosigkeit,  Kopf-  und  Rückcnschmerzen ,  An¬ 
schwellungen  und  Vereiterungen  der  Achsel-  und  In- 
guinaldriisen  sollen  es  begleitet  haben,  und  die  Extre¬ 
mitäten  häufig  in  Brand  übergegangen  sein  3B). 

( Deutschland. )  Auch  in  Deutschland  trat  um  diese  Zeit  die 
Krankheit  auf,  und  Vincent  Gallus  erzählt  iu  sei¬ 
ner  Sammlung,  dafs  zur  Zeit  Kaiser  Lothar’s  II. 
viele  Personen  vom  heiligen  Feuer  befallen  worden 
*v-  seien.  —  Die  Glieder  wurden  verzehrt  und  gingen 
in  Fäulnifs  über;  —  viele  starben,  andere  entgingen 
dem  Tode  mit  Verlust  einiger  Glieder;  —  noch  an¬ 
dere  empfanden  heftige  Zusammenziehungen  der  Ner¬ 
ven  3  7.) 

f\m.  England.)  In  England  aber,  wo  der  Winter  1128  vor¬ 
züglich  kalt  gewesen,  finden  wir  ihrer  unter  dem  Na¬ 
men  Ignis  Sancti  Antouii  gedacht  3*). 

( 1 141.  Paria.)  Die  nächste  Seuche  des  heiligen  Feuers,  de¬ 
ren  die  Chronisten  gedenken,  brach  nach  einem  kal¬ 
ten  Winter  in  dem  feuchten  Jahre  1111  39)  aus.  — 
Sie  befiel  vorzüglich  Paris,  kam  jedoch  auch  in  an- 


19 


I.  Das  heilige  Feuer. 

deren  Orten  vor  und  wurde,  wie  die  früheren  Epide- 
micen,  durch  die  Heiligen  geheilt.  —  Der  Angabe 
des  Martyrologiums  zufolge,  wurden  zu  Paris  vor¬ 
züglich  die  Genitalien  ergriffen,  und  man  erbaute  dort 
eine  Kirche  zur  Ste  Genevieve  des  ardens,  von  der 
gegenwärtig  aber  keine  Spur  mehr  vorhanden  ist40). 

Zehn  Jahre  später  folgte  auf  einen  fiisi.  Frankreich.) 
kalten  Winter  anhaltender  Regen  von  Johannis  bis 
Mitte  August,  und  verdarb  die  Ernte,  die  reichlich  zu 
werden  versprach  41).  Ilungersnoth  und  heiliges  Feuer 
waren  vorzüglich  unter  den  armen  Leuten/  in  Frank¬ 
reich  Folge  dieses  Fehljahres  42);  unter  den  Thieren 
aber,  namentlich  den  Pferden,  herrschte  Zungen¬ 
krebs  43). 

Eine  andere  Epidemie  des  Ignis  sa-  fiiso.  Lothringen .) 
cer  brach  1180  in  Lothringen  aus.  —  Wehklagend 
füllten  die  armen  Kranken  Strafsen  und  Kirchen.  — 

Das  fürchterliche  Uebel  verzehrte  ihnen  Glieder  und 
Eingeweide,  und  liefs  das  Aeufsere  oft  dabei  kalt.  — 

Es  setzte  seine  Zerstörungen  fort,  bis  nur  noch  die 
harte  und  abgestorbene  Haut  über  die  Knochen 
gespannnt  war.  —  Die  Kranken  wurden  von  hefti¬ 
gen  Schmerzen,  und  zuweilen  von  Convulsionen  ge¬ 
quält;  —  das  Fleisch  fiel  ihnen  brandig  und  schwarz 
wie  Kohle  ab.  —  Die  Unglücklichen  verbreiteten 
durch  die  Zerstörung  ihrer  Glieder  einen  fürchterli¬ 
chen  Geruch,  und  wünschten  sich  als  Erleichterung 
ihrer  Qual  den  Tod  44). 

Gleichzeitig  aber  scheint  das  Leiden  auch  (Spanien.) 
in  Spanien  vorgekommen  zu  sein,  da  man  dort  Hospi¬ 
täler  zur  Aufnahme  der  Kranken  errichtete,  die  am 
heiligen  oder  persischen  Feuer  litten  45). 

Vielleicht  gehörte  selbst  f!189.  Portugal,  Gebiet  von  Br aya.) 
die  Seuche  unserer  Krenkheit  an,  die  im  Jahre  1189 
Portugal  entvölkerte;  —  wenigstens  beklagten  sich 
im  Gebiete  von  Braya  die  Kranken,  dafs  ihnen  die 

2* 


‘20 


I.  Das  heilige  Fener.  * 

Eingeweide  verbrennten.  —  Es  gab,  schreibt  ein 
glaubwürdiger  Chronist,  einige  Jahre  lang  so  strenge 
Winter  und  so  ungewöhnliche  Regengüsse ,  dafs 
durch  ihre  lange  Dauer  und  die  Menge  des  Wassers 
das  neue  Getreide,  der  Wein,  das  Oel  und  die  Früchte 
gänzlich  verdarben.  —  Das  Wenige  aber,  was  übrig 
blieb,  verzehrte  eine  grofsc  Menge  Heuschrecken,  die 
als  Ilimmelsplagc  entstanden.  Darauf  folgte  im  Herbst 
uud  Winter  eine  solche  Trockenheit  und  Wärme,  dafs 
die  Leute  die  Erde  nicht  bebauen  konnten.  Mit  die¬ 
sem,  der  natürlichen  Ordnung  der  Dinge  widerspre¬ 
chenden  Wechsel  der  Jahreszeiten  kam  eine  grofsc 
Pest,  vorzüglich  im  Gebiete  von  Sancla  Maria  im  Bis- 
thumc  Oporto,  an  der  so  viele  Menschen  starben,  dafs 
cs  grofse  Ortschaften  gab,  in  denen  nicht  drei  Perso¬ 
nen  am  Leben  blieben.  —  Im  Gebiete  von  Braya 
erkrankten  Männer  und  Frauen  an  einem  Uebcl  mit 
so  fürchterlicher  Hitze  und  so  tobenden  Schmerzen, 
dafs  es  ihnen  däuchte,  als  ob  ihnen  die  Eingeweide 
verbrannten;  —  sie  afsen  sich  in  der  Wuth  selbst  auf, 
und  starben  ohne  Hülfe.  —  Einige  Jahre  nachher 
mangelte  es  so  sehr  an  Lebensmitteln,  dafs  viel  Volk 
Hungers  starb,  uud  die  Lebenden  sicli  von  den  Kräu¬ 
tern  des  Feldes  nährten,  wenn  sie  solche  erhalten 
konnten  46), 

fiiss.  England.')  Auch  in  England  zeigte  sich  die  Feuerpest 
nochmals  im  I2ten  Jahrhundert  —  Sie  erschien  in 
dem  kalten  und  feuchten  Sommer  1196  47). 
fiuo.  Mayorcn.j  Erst  im  Jahre  1230  kam  die  Krankheit  — 
hier  Ignis  Saucti  Antonii  genannt  —  wieder  vor.  — 
Der  Sommer  war  kalt  und  feucht,  und  im  Heere  des 
Königs  von  Arragon,  Don  Jayme,  zeigte  sich,  als 
er  Mayorca  erobert  hatte,  die  Pest.  —  Bald  gesellte 
sich  ihr  noch  ein  anderes  Uebcl,  das  Feuer  des  hei¬ 
ligen  Antonius  bei,  und  der  König  errichtete  ein 
Hospital  für  solche  Kranke.  —  Die  Verheerungen 


I.  Das  heilige  Feuer.  Jil 

beider  Seuchen  müssen  bedeutend  gewesen  sein,  da 
der  König  Galeeren  nach  Catalonien  sandte,  uni  die 
Lücken  in  der  Bevölkerung  der  eroberten  Insel  durch 
Einwanderer  auszufülleu.  —  Eine  genauere  Beschrei¬ 
bung  der  Epidemie  hat  uns  der  Historiograph  nicht 
hinterlassen  48). 

Auch  von  dem  heiligen  Feuer,  das  p236.  Poitou. j 
1236  in  Poitou  regierte,  wissen  wir  nicht  mehr,  als 
dafs  es  gleichzeitig  mit  grolser  Theurung  und  Hungers- 
noth  vorkam  49). 

Im  Jahre  1254  aber,  nach  einem  kal-  fi254.  Marseiile.) 
ten  Winter,  bei  allgemeinem  Mifswachs  und  Mangel  50), 
richtete  unsere  Krankheit  in  der  Gegend  von  Marseille 
so  furchtbare  Niederlagen  an,  dafs  man  sie  statt  des 
heiligen,  das  höllische  Feuer  nannte  5I),  und  die  Spa¬ 
nier  gründeten  um  diese  Zeit  noch  immer  neue  Hospi¬ 
täler,  die  dem  heiligen  Antonius  und  seiner  Krank¬ 
heit  gewidmet  waren  52). 

Von  der  Mitte  des  13ten  Jahrhunderts  an  aber 
werden  die  Berichte  über  Seuchen  des  Ignis  sacer 
oder  Sancti  Antonii  immer  seltener  und  miuder  aus¬ 
führlich,  ob  er  gleich  nicht  ganz  aus  den  Annalen  der 
Zeit  verschwindet.  — 

In  Frankreich  gab  es  zwar  noch  im  14ten  (  Frankreich.) 
[1347  in  der  Bretagne  S3)J,  im  löten  [un-  ('1347.  Bretagne.) 
ter  Carl  VII.  54)]  und  im  löten  Jahrhunderte 
[1530  zu  Paris  55)]  Epidemieen,  die  wenig-  ^1530.  Paris.) 
stens  dem  Namen  nach  hierher  gehören,  von  welchen 
uns  aber  keine  Beschreibung  zu  Gebote  steht,  und 
Petrus  Paris us  beschrieb  eine  Seuche,  die  im  löten 
Jahrhundert  zu  Trepano  und  Palermo  auf  Sici-  ( Sidlie» .) 
lien  herrschte,  und  die  manche  Aehnlichkeit  mit  den 
früheren  Epidemieen  darbot.  Die  unteren  Extremitä¬ 
ten  waren  bei  ihr  in  krampfhafter  Contraction,  und 
wurden  so  hart  und  trocken,  als  wären  sie  am  Feuer 
oder  in  der  Sonne  getrocknet.  Sie  blieben  pelzig  und 


22 


I.  Das  heilige  Feuer. 

gefühllos  9fl).  —  Allein  keine  dieser  Seuchen  war  so 
heftig,  so  verbreitet  und  so  bedeutsam,  als  die  des  lOten, 
Illen  und  12ten  Jahrhunderts.  — 

Dafs  aber  auch  iu  ihnen  das  hervorstechendste  Sym¬ 
ptom  der  Feuerpest  —  das  Absterhen  der  Extremitäten  — 
noch  vorkam,  scheint  aus  Fragoso’s  *7)  Angabe  her¬ 
vorzugehen,  der  noch  1590  in  Spanien,  wo  das  Uehel  seit 
150  Jahren  nicht  mehr  vorgekommen  war,  in  vielen  Ere¬ 
mitagen  des  heiligen  Antonius  Arme  und  Beine  aufbe¬ 
wahrt  fand,  die  in  Folge  des  heiligen  Feuers  abgestorben 
waren;  ja  selbst  noch  1702  sollen  dergleichen  Reliquien  in 
der  Abtei  zu  Vienne  gezeigt  worden  sein  s8).  — 


l  * 

Zweites  Kapitel. 

Ignis  sacer  und  Ignis  Sancti  Antonii  —  Bild  der 
Krankheit  nach  den  Chronisten. 

Vergleichen  wir  die  einzelnen  Feuerseuchen,  wie  wir 
ßie  im  vorigen  Kapitel  nach  den  Chronisten  beschrieben 
haben,  so  ergeben  sich  zwar  manche  Differenzen ,  wir  fin¬ 
den  bei  manchen  Epidcmieen  Erscheinungen  aufgezeichnet, 
deren  bei  anderen  nicht  gedacht  wird,  wie  z.  B.  Krampfe, 
Blasen  auf  der  Haut  (857.),  Ficbersymptome  (1128.)  u. 
s.  w.,  und  sehen  das  heilige  Feuer  bald  auf  die  Extremi¬ 
täten  beschränkt,  bald  auch  im  Gesichte,  an  den  Brüsten 
und  den  Genitalien  Vorkommen;  allein  diese  Abweichun¬ 
gen  beruhen  wohl  Iheilwcise  auf  der  ungleichen  Ausführ¬ 
lichkeit  und  Genauigkeit  der  auf  uns  gekommenen  Beschrei¬ 
bungen,  thcihveisc  auf  der  verschiedenen  Heftigkeit  und 
den  zufälligen  Modificationcn  der  einzelnen  Epidcmieen, 
die  unter  sich  wohl  eben  so  wenig  vollkommen  gleich 
waren,  als  die  irgend  einer  anderen  Krankheit,  berechti¬ 
gen  uns  aber  fürs  ^rstc  noch  keinesweges,  in  dem  epide¬ 
mischen  heiligen  Feuer  des  Mittelalters  mehr  als  eiuc  Krank- 


23 


I.  Das  heilige  Feuer. 

heit  zu  vermutheu  und  anzunehmen,  dals  auch  die  Chro¬ 
nisten  jener  Jahrhunderte,  wie  die  Römer  und  Araber, 
verschiedene  Leiden  unter  dein  gemeinschaftlichen  Namen 
Ignis  sacer  zusammenfafsten.  —  Die  wesentlichen  Erschei¬ 
nungen  —  heftige  Schmerzen,  ein  Gefühl,  als  ob  ein  Feuer 
unter  der  Haut  die  Theile  verzehre,  brandige  Zerstörung 
und  selbst  Abstofsung  einzelner  Parthien  des  Körpers  sind 
überall,  wo  unsere  Quellen  mehr  als  die  Jahreszahl  und 
den  Nameu  der  Epidemie  überliefern,  aufgeführt,  und  die 
Meinung,  dafs  wenigstens  bei  weitem  die  Mehrzahl  der 
erwähnten  Seuchen  einer  und  derselben  Krankheit  ange¬ 
hören,  wird  durch  die  Einförmigkeit  der  Verhältnisse,  un¬ 
ter  welchen  sie  erscheinen  und  verlaufen,  bestätigt.  — 

Wären  aber  diese  Epidemieen  auch  verschiedener  Na¬ 
tur,  so  fänden  wir  in  ihrer  Geschichte  doch  durchaus 
nichts,  was  Raymond’s  und  Sch nurrer’s  Ansicht,  Ignis 
6aeer  und  Ignis  Sancti  Anton ii  seien  zwei  verschiedene, 
schon  im  Mittelalter  durch  die  Benennung  getrennte  Uebel 
gewesen,  bestätigte.  — 

Raymond  *)  versteht  unter  Ignis  S.  Antonii  (Feu 
infernal  oder  Mal  des  ardens)  die  epidemische  verheerende 
Krankheit  mit  brandiger  Zerstörung  der  Extremitäten, 
wie  sie  vorzüglich  im  Jahre  994  in  Frankreich  herrschte, 
und  findet  grofse  Achnlichkeit  zwischen  ihr  und  dem  Er- 
gotismus;  —  der  Ignis  sacer  aber  ist  ihm  ein  anderes  Uebel, 
das  in  denselben  Zeiten  hauste,  das  persische  Feuer,  die 
fressende  Flechte  der  Griechen,  die  sich  unter  der  Form 
des  Erysipelas,  wie  das  heilige  Feuer  des  Plinius,  d.  h. 
wie  der  Zoster  zeigte,  mit  tausend  anderen  häfslichen  Ilaut- 
affectionen  verbunden  war  und  einen  chronischen  Verlauf 
machte.  —  Man  erbaute  nach  ihm  eine  bedeutende  An¬ 
zahl  Hospitäler  für  beide  Feuerkrankheiten ,  vorzüglich  für 
die  erste,  und  nannte  im  12ten  Jahrhundert  das  zu  Mar¬ 
seille:  Hospitale  eorum  qui  igue  infernali  laborare  di- 
cunlur.  — 

Nach  Schnurrer  2)  hingegen  hiefsen  die  gangränösen 


24 


I.  Das  heilige  Feaer. 

Epidemiccn  des  Mittelalters,  die  er  bald  für  Karbunkel  Ge¬ 
ber,  bald  für  atlicnicnsischc  Pest  hält,  Igois  saccr,  und 
erst  später,  im  Anfänge  des  13tcn  Jahrhunderts,  wo  die 
erloschene  Feuerpest  sich  in  Aussatzformen  aufgelöst  hatte, 
kommt  die  Benennung  Ignis  Sancti  Antonii  vor,  wur¬ 
den  die  zahlreichen  Hospitäler  zum  heiligen  Antonius 
errichtet.  —  Die  grofse  Zahl  solcher  Häuser  in  der  er¬ 
sten  Hälfte  des  13tcn  Jahrhunderts  in  Spanien,  Frankreich 
und  Deutschland,  zu  einer  Zeit,  wo  nach  Schnurrcr’s 
Voraussetzung  das  heilige  Feuer  schon  erloschen  war,  sind 
der  Hauptstützpunkt  dieser  Ansicht.  — 

Schnurrer  nennt  demnach  ltaymond’s  Ignis  St 
Antonii  —  die  Feuerpest  —  «Ignis  sacer”,  und  Ray¬ 
mond  versteht  so  ziemlich  dasselbe  unter  heiligem  Feuer, 
was  Schnurrer  als  St.  Antonsfeuer  betrachtet:  bösar¬ 
tige  Hautausschläge  mit  chronischem  Verlaufe.  — 

Schlagen  wir  aber  die  Chronisten  auf,  um  diesen  Wi¬ 
derspruch  zu  schlichten,  so  finden  wir,  dafs  diese  durch¬ 
aus  nichts  von  einem  Unterschiede  wissen.  —  Die  ersten 
Epidemieen  unserer  Krankheit  heifsen  in  ihnen  durchgc- 
bends:  Iguis  sacer,  Ignis  invisibilis,  Arsura;  und  die  Kran¬ 
ken  suchten  und  fanden  Hülfe  bei  verschiedenen  Heili¬ 
gen.  —  In  Aquitanien  wurde  -4er  heilige  Martial,  in 
Paris  und  Soissons  Nötre-Dame  und  Sancta  Genofcva, 
in  Verdun  der  heilige  Vitonug  verehrt.  —  In  der  Dau¬ 
phine  aber,  wo  die  Krankheit  häufig  herrschte,  erwarben 
sich  die  Reliquien  des  heiligen  Antonius,  die  Jocelin, 
Graf  von  Albon,  schon  unter  König  Lothar  nach  Vienne 
von  Constantinopcl  aus  gebracht  hatte,  den  Ruhm  einer 
wunderthätigen  Heilkraft,  und  ein  Edelmann  Namens  Ga¬ 
ston,  der  sich  und  seine  Güter  der  Pilcge  der  vorn  hei¬ 
ligen  Feuer  Befallenen,  die  bei  den  Heiligen  zu  Vienne 
Hülfe  suchten,  widmete,  stiftete  dort  gegen  das  Ende  des 
Ilten  Jahrhunderts  den  Orden  des  heiligen  Antonius. 
Anfangs  waren  er  und  seine  Gefährten  Laien,  alleih  bald 
nahmen  sie  mit  Bestätigung  Urban ’s  II.  die  Regel  des 


25 


I.  Das  heilige  Feuer. 

heiligen  Antonius  an,  und  verbreiteten  ihre  Gesell¬ 
schaft  in  verschiedene  Länder  3)  —  Mit  ihnen  ging  na¬ 
türlich  der  Ruhm  ihres  Heiligen  in  Heilung  der  Feuerpest 
von  Provinz  zu  Provinz,  und  das  Volk  nannte  wohl  schon 
im  12ten  Jahrhundert  das  heilige  Feuer  Blorbus  Sti  An- 
tonii,  wie  es  die  Lepra  Morbus  Sti  Lazari,  und  später 
die  Syphilis  Morbus  Sti  Mae  vii  nannte.  —  In  den  Chro¬ 
niken  aber  finden  wir  diese  Benennung  erst  im  13ten  und 
I4ten  Jahrhundert,  und  überhaupt  seltener,  als  Ignis  sacer, 
überall  aber  wird  sic  als  gleichbedeutend  mit  dieser,  über¬ 
all  ,  selbst  noch  im  Jahre  1347,  für  ein  epidemisches  Lei¬ 
den,  nirgends  für  einen  chronischen  Ausschlag,  für  eine 
Form  der  Lepra  gebraucht,  die  einer  der  Chronisten  deut¬ 
lich  vom  heiligen  Feuer  scheidet  4).  —  Dafs  aber  in  die¬ 
ser  Periode  auch  im  Volke  die  Benennung  Ignis  Sti  An- 
tonii  [zuweilen  auch  Ignis  Sti  Martialis  oder  Dominae 
nostrae  *)]  das  brandige  Absterben  der  Glieder,  und  keine 
Lepra  bedeutete,  geht  aus  Guy  von  Chauliac  6)  unbe- 
zweifelbar  hervor,  ja  der  Brand  —  die  Gangrän  der  Grie¬ 
chen  —  erhält  sich  diese  Benennung,  wie  ich  in  der  Ein¬ 
leitung  dargethap,  bis  in  das  I6te  Jahrhundert.  —  Es 
hat  wohl  zu  mancher  Irrung  Anlafs  gegeben,  dafs  die 
Aerzte  jener  Zeit  den  Esthiomenus,  mit  welcher  Be¬ 
nennung  wir  jetzt  eine  fressende  Flechte  bezeichnen,  als 
synonym  mit  dem  St.  Antonsfeuer  aufführen,  allein  wer 
Guy  von  Chauliac’s  und  seiner  Nachfolger  Beschrei¬ 
bung  des  Esthiomenus  gelesen,  kann  über  die  Identität 
desselben  mit  dem  Brande  keinen  Zweifel  hegen.  — 

Ignis  sacer  und  Ignis  Sti  Anton ii  waren  also  im 
Mittelalter  wohl  eine  und  dieselbe  Krankheit,  und  wenn 
Raymond  den  ersten  zu  einer  fressenden  Flechte,  Sch  nur- 
rer  den  zweiten  zu  einer  Form  des  Aussatzes  macht,  so 
hat  jener  sich  mehr  an  Celsus  und  Plinius  und  an  die 
Aerzte  der  späteren  Zeit,  als  an  die  Chronisten  gehalten, 
und  dieser,  mit  den  Feuerseuchen  des  13ten  und  14ten 
Jahrhunderts  unbekannt,  und  vielleicht  durch  den  Esthio- 


26 


I.  Das  heilige  Feuer. 

menus  der  Arabisten  verleitet,  bat  sich  eine  willkiihrlichc 
Annahme  zu  Schulden  kommen  lassen.  — 

Es  findet  sich  in  den  Quellenschriftstellcrn  jenes  Zeit¬ 
alters  nicht  eine  Spur  des  Ueberganges  der  Feuerpest  in 
die  Lepra,  und  beide  Krankheiten  scheinen  mir  so  radical 
verschieden,  dafs  ich  selbst  die  Möglichkeit  eines  solchen 
Vorganges  nicht  zugestehen  kann.  —  Dafs  aber  die  zahl¬ 
reichen  Hospitäler  des  heiligen  Antonius  wenigstens  in 
Spanien  wirklich  für  Individuen,  die  am  heiligeu  Feuer 
litten,  bestimmt  waren,  unterliegt  wohl  nach  der  auf  Au¬ 
topsie  gegründeten  Mittheilung  Fragoso's,  deren  im  er¬ 
sten  Kapitel  gedacht  ist,  keinem  Zweifel  mehr.  — 

Geben  uns  aber  auch  die  gesammelten  Originalstellen 
die  Wahrscheinlichkeit,  dafs  nur  eine  Krankheit,  ein  Lei¬ 
den  sui  geucris  die  Feuerseuche  des  Mittelalters  ausmachte, 
so  ist  es  doch  sehr  schwer,  aus  den  kurzen,  unvollstän¬ 
digen  und  von  Laien  in  der  Arzneikunde  mitgethcilten 
Nachrichten  ein  treues  Bild  dieses  Leidens  zu  entwerfen, 
und  wenn  wir  den  Versuch  machen,  die  einzelnen  groben 
Pinselstriche  der  Chronisten  zu  einem  Ganzen  zusammen¬ 
zustellen,  so  können  wir  kein  ausgeführtes  Gemälde  der 
Krankheit  erwarten,  wie  es  die  specielle  Nosologie  unse¬ 
rer  Tage  liefern  würde;  wir  müssen  uns  begnügen,  weun 
wir  durch  diese  Zusammenstellung  nur  die  Umrisse  eines 
Bildes  ohne  Colorit,  ohne  Schatten  und  Licht  gewiunen.  — 
Das  heilige  Feuer  war  eiu  zehrendes  Uebel  (Morbus 
tabificus:  Hugo  Farsit),  eine  schleichende  Pest  (Pestis 
quaedam  flegmatica.  Chronic.  S.  Stephani).  Heftige 
unerträgliche  Schmerzen  (dolorum  immanitas)  peinigleu  die 
Befallenen,  dafs  sie  laut  wehklagten,  mit  den  Zähnen 
knirschten  und  schrieen,  und  nahmen  im  Verlaufe  der 
Krankheit  immer  zu,  den  Unglücklichen  in  jedem  Augen¬ 
blicke  die  Qual  des  Todes  bereitend.  —  Eiu  unsichtba¬ 
res,  unter  der  Haut  verborgenes  Feuer  (Iguis  sub  cutc, 
iuvisibilis  occultus)  trennte  das  Fleisch  von  den  Knochen 
und  verzehrte  cs  (Hugo).  Die  Haut  der  ergriffeueu  Glic- 


27 


I.  Das  heilige  Feuer. 

der,  und  in  einzelnen  Epidemiccn  (1128.  1141.)  auch  die 
des  Gesichtes,  der  Brüste  und  der  Genitalien  wurde  livid 
(livens),  maulbeerfarben  (cardena)  und  schwärzlich  (ni- 
grescens);  —  nur  selten  (857.)  zeigten  sich  auf  ihr  schwel¬ 
lende  Blasen  (vesicac  turgentes);  —  in  anderen  Fällen  war 
sie  abgestorben  und  überzog  nur  noch  die  Knochen  (amor- 
tada  pegada  ä  los  liuesos).  —  Dabei  blieb  das  Aeufsere 
kalt  (el  exterior  frio)  und  die  Kranken  durchdrang  so  ei¬ 
sige  Kälte,  dafs  sie  durch  kein  Büttel  zu  erwärmen  wa¬ 
ren  (Hugo).  —  Später  wurden  die  ergriffenen  Theile 
entweder  schwarz  wie  Kohlen  (instar  carbonum  nigrescen- 
tes)  —  von  Sphacelus  ergriffen  —  oder  sie  wurden  ge- 
schwürig  (exesi)  und  von  häfslicher  Fäuluifs  —  Gangrän  — 
verzehrt  (detestabili  putredine  consumpti).  —  Das  Fleisch 
fiel  von  den  Knochen  (exustae  partes  effluebant),  der  Ge¬ 
ruch  (putrae  carnis  foetor)  verpestete  die  Luft.  —  Im 
einen,  wie  im  anderen  Falle  erfolgte  häufig  die  Absetzung 
des  leidenden  Gliedes  (membra  dissoluta  deciderunt),  vor¬ 
züglich  der  Hände  und  Füfse  (manibus  et  pedibus  trun- 
cati),  und  man  sah  Individuen,  denen  nur  noch  Rumpf 
und  Kopf  übrig  waren  (1089).  —  Die  Unglücklichen  ver¬ 
langten  nach  dem  Tode,  als  Linderung  ihrer  Qual,  allein 
in  der  Regel  erfolgte  dieser  erst,  wenn  die  Krankheit  die 
Extremitäten  verzehrt  hatte  (prioribus  depastis  artubus) 
und  jetzt  die  für  das  Leben  wichtigeren  Organe  ergriff 
(membra  vitalia  invasit).  —  Die  Kranken  glaubten  dann, 
dafs  ihnen  ein  innerliches  Feuer  die  Eingeweide  verzehre 
(que  thes  ardiano  as  entranhas),  und  starben  unter  den 
fürchterlichsten  Schmerzen  schnell,  oder  sie  zehrten  lang¬ 
sam  ab.  (Exesis  visceribus  tabescentes.)  —  Zuweilen 
aber  scheinen  die  inneren  Organe  sogleich  primär  befallen 
worden  zu  sein,  und  dann  erlagen  die  Kranken  ohne 
äufserliche  Zeichen  des  Brandes  (absque  adustionis  nota 
extincti).  —  Ging  es  aber  zum  Guten,  was  häufig  erst 
nach  Absetzung  der  Glieder  der  Fall  war,  so  stellte  sich 
in  den  früher  eiskalten  Gliedern  intensive  Hitze  ein,  die 


28 


I.  Das  heilige  Feuer. 

noch  eine  eigene  Behandlung  erheischte,  wenn  sich  ihr 
der  Krebs  7)  nicht  bcigcsellen  sollte.  (Hugo  Farsit.)  — 
Das  abgezehrte  Antlitz  (facies  exterminata),  die  Narben, 
der  Mangel  einzelner  Glicdmaalscu,  gab  den  Neugenesenen 
ein  schaudervollcs  Aussehen.  — 

In  der  Beschreibung  einzelner  Epidemieen  —  1085, 
1089,  1128,  1180  —  wird  auch  der  Krämpfe  •)  und  Con- 
vulsioncn  gedacht  (nervorum  contraclionc  distorti  crucia- 
bantur);  —  allein  es  scheint  nicht,  als  ob  dieselben  in 
denselben  Individuen  mit  dem  heiligen  Feuer  vorgekom- 
meii  seien.  —  Viele,  sagt  die  Chronik  von  Tours,  wur¬ 
den  von  Zusammenziehuog  der  Nerven  gequält,  andere 
tödtetc  das  heilige  Feuer;  und  nur  Villa  Iba  führt  zum 
Jahre  1180  aus  mir  unbekannten  Quellen  die  Convulsio- 
nen  als  ein  Symptom  der  Feuerpest  auf  —  Wahrschein¬ 
lich  kamen  demnach  Krämpfe  und  Ignis  saccr  wohl  in  ei¬ 
ner  Epidemie,  nicht  aber  in  denselben  Individuen  vor.  — 
Bemcrkenswerlh  ist  cs  übrigens,  dafs  drei  der  Scuchcr*, 
von  denen  dies  bemerkt  ist,  in  Lothringen,  und  die  vierte 
in  Deutschland  herrschte.  —  Bei  den  Epidemieen  in 
Aquitanien,  der  Dauphine  und  jenseits  der  Pyrenäen,  wird 
solcher  Symptome  nie  gedacht.  — 

Nur  einer  unserer  Autoren  —  Ozanam  1128  —  ge¬ 
denkt  im  Gebiete  der  Feuerpest  febrilischer  Symptome;  — 
Frostschauder,  auf  welchen  Ilitze  folgte,  Delirien,  grolse 
Kraftlosigkeit,  Kopf-  uud  Rückenschmerzen,  Anschwellun¬ 
gen  und  Vereiterungen  der  Achsel-  und  Inguinaldrfiscn, 
sollen  die  Seuche  in  Lothringen  und  Flandern  begleitet 
haben.  —  Allein  Mezeray,  auf  dessen  Zeugnifs  sich  der 
Franzose  beruft,  gedenkt  der  ganzen  Epidemie  mit  keiner 
Sylbc,  und  die  mir  bekannten  Chronisten  schweigen  über 
die  angeführten  Symptome.  —  Ozanam 's  Angabe  wird 
aber  um  so  verdächtiger,  wenn  wir  fast  bei  allen  Feuer- 
scuchen  lesen,  dafs  sich  zahlreiche  Kraukc  in  die  Kirchen 
und  Klöster  begaben  (loca  Sanctorum  petebant),  um  dort 
Hülfe  zu  suchen;  dafs  sic  sich  um  den  Eingang  stritten, 


29 


I.  Das  heilige  Fener. 

Strafsen  und  öffentliche  Plätze  mit  ihren  Wehklagen  füll¬ 
ten,  und  sich  zu  Hunderten  in  Nötre-Dame  von  Hugo 
Capet  speisen  liefsen;  —  Thatsachen,  die  mit  einem 
so  schweren  Allgemeinleiden,  als  Ozanam  beschreibt,  na¬ 
mentlich  mit  den  Delirien  und  der  grol’sen  Kraftlosigkeit, 
nicht  recht  zusammenpassen  wollen.  —  (Vergl.  Bemer¬ 
kungen  zum  ersten  Kapitel  No.  36.) 

Ueberhaupt  scheint  der  Verlauf  der  Krankheit  nicht 
sehr  acut  gewesen  zu  sein.  —  Glaber  Rodulphus 
sagt  zwar  ausdrücklich,  dafs  das  Feuer  mehre  (plerosque) 
über  Nacht  (in  spacio  unius  noctis)  verzehrt  habe,  allein 
es  scheint  sich  dies  nur  auf  jene  Fälle  zu  beziehen,  wo 
innere  wichtige  Organe  befallen  wurden,  und  in  welchen 
auch  Hugo  Farsitus  die  Krankheit  schnelles  Feuer  (ce- 
ler  ignis)  nennt.  Im  Allgemeinen  wird  der  Ignis  sacer 
als  eine  sehr  schmerzhafte  und  langwierige  Krankheit  be¬ 
schrieben,  bei  der  die  Kranken  sich  den  Tod  wünschen 
und  nicht  sterben  können;  —  die  sie  allmählig  (sensim  — 
petit  ä  petit)  verzehrt,  und  durch  welche  zuweilen  erst 
alle  Extremitäten  vom  Leibe  fallen,  bevor  der  Tod  der 
Qual  eip  Ende  macht.  — 

Auch  Recidive  der  Krankheit  kamen  —  in  dersel¬ 
ben  Epidemie  —  vor.  —  Im  Jahre  9 45  kehrten  Manche 
als  geheilt  aus  Nötre-Name  in  ihre  Heimath  zurück;  allein 
das  Feuer  befiel  sie  von  Neuem  (extincto  refervescunt  in- 
cendio),  und  sie  fanden  nur  durch  die  Rückkehr  in  die 
Kirche  Heilung.  — - 

Ueber  die  Aetiologie  des  heiligen  Feuers  geben  uns 
die  Chroniken  wenig  Aufschlufs.  .  —  Es  war  Gottes  Fin¬ 
ger  (digitus  dei),  eine  Strafe  des  Himmels  (plaga  divina), 
ein  Zeichen  der  göttlichen  Ungnade  (divinae  animadver- 
sionis  index),  und  traf  die  Menschen  ohne  Unterschied 
des  Alters  und  Geschlechtes.  —  In  manchen  Seuchen 
wurden  vorzugsweise  die  niederen  Klassen  (pauperiores) 
befallen;  in  anderen  hingegen,  wird  uns  ausdrücklich  be¬ 
merkt,  dals  auch  die  Vornehmen  und  der  Mittelstand 


30 


I.  Das  heilige  Fener. 

(Magnates  et  mcdiocres)  von  dem  Ucbcl  schwer  gelitten. 
Unter  den  äufseren  Verhältnissen,  die  mit  den  einzelnen 
Feuerseuchen  zusammentrafen  und  «auf  ihre  Erzeugung  Eiu- 
flufs  haben  konnten,  verdient  vorzüglich  die  Beschaffen¬ 
heit  der  treffenden  Jahrgänge  unsere  Berücksichtigung.  — 
Von  29  Jahren,  in  welchen  eine  Feuerpest  herrschen  solle, 
sind  nur  3,  über  deren  Witterung  die  Chronisten  schwei¬ 
gen,  und  die  wir  als  normal  und  fruchtbar  betrachten  dür¬ 
fen.  —  Zwülfmal  gingen  der  Feuerpest  ungewöhnlich 
strenge  Wrinter  voraus,  und  sechzehnmal  wird  der  Som¬ 
mer  der  treffenden  Jahre  als  ungewöhnlich  feucht,  reich 
an  Meteoren,  WToIkenbriichen  und  Uebcrschwemmungen 
angeführt;  —  nur  das  Jahr  994  soll  auffallend  trocken, 
alle  Flüsse  Europa's  sollen  durchwatbar  gewesen  seiu.  — 
Sechzehnmal  herrschte  das  heilige  Feuer  gleichzeitig  mit 
Mifswachs,  Theurung  und  Ilungersuoth;  —  es  verband  sich 
1230  auf  Mayorca  mit  der  Pest,  und  ging  1347  in  der 
Bretagne  dem  schwarzen  Tode  voraus.  —  Ungewöhn¬ 
liche  Witterung,  strenge  Winterkälte  und  ungewöhnliche 
Feuchtigkeit  des  Sommcls,  Mifswachs,  Theurung  und  Hun¬ 
ger,  schciuen  demnach  nicht  olme  Bedeutung  für  die  Gc- 
ncsis  unseres  Ucbels  zu  sein;  —  ätiologische  Momente, 
die  es  übrigens  mit  manchen  anderen  wesentlich  verschie¬ 
denen  Leiden  tlieilt.  —  Hieraus  erklärt  cs  sich  wohl 
auch,  weshalb  das  heilige  Feuer  nicht  selten  neben  an¬ 
deren  Krankheiten,  in  ungesunden  Jahren,  als  ein  Glied 
einer  ganzen  Epidemieensippschaft,  die  sich  gleichzeitig 
nach  allen  Hichtungcu  über  grofse  Länderstrecken  ausbrei- 
tet,  vorkoramt  und  in  einer  Provinz,  gesehen  wird  ,  wäh¬ 
rend  in  den  benachbarten  andere  Uehel  hausen. 

Weitverbreitete  Krankheitszüge  aber,/  wie  die  Ge¬ 
schichte  der  Typhcn  und  anderer  Epidemiecn ,  hat  die  des 
Ignis  saccr  nicht  aufzuweisen;  —  gewöhnlich  beschränken 
sich  die  Seuchen  unserer  Krankheit  auf  eine  oder  zwei 
Provinzen  —  wenn  sic  auch  zu  gleicher  Zeit  in  verschie¬ 
denen  Ländern  auftreten  —  doch  überall  nur  einzelne  Di- 


31 


I.  Das  heilige  Feuer, 

strikte,  die  oft  weit  auseinander  liegen;  nicht  wie  die  con- 
tagiösen  Krankheiten  und  manche  Epidemicen,  ein  grofses 
Continuum  Landes.  —  Es  scheint  demnach,  als  miifste 
die  Entstehung  des  heiligen  Feuers  auch  noch  von  Ein¬ 
flüssen  abhängig  sein,  die  nicht  gleichinäfsig  über  grofse 
Landstriche  vertheilt,  sondern  durch  locale  Verhältnisse 
einzelner  Provinzen  und  Distrikte  bedingt  sind,  dafs  es 
vielleicht  diese  seien,  die  dem  durch  atmosphärische  Ver¬ 
hältnisse  bedingten  Erkranken  im  Allgemeinen  die  specielle 
Richtung,  als  heiliges  Feuer  zu  erscheinen,  geben.  —  Be¬ 
stätigend  für  diese  Ansicht  ist  die  schon  von  einem  der 
Chronisten  9)  aufgeführte  Thatsache,  dafs  bestimmte  Land¬ 
strecken  häufiger,  andere  hingegen  ungleich  seltener  oder 
gar  nicht  von  dem  Uebel  heimgesucht  wurden.  Lothrin- 

*  f 

gen  und  Flandern,  Aquitanien,  die  Dauphine  und  Isle  de 
France,  haben  die  meisten  Feuerseuchen  aufzuweisen;  Ita¬ 
lien  aber,  in  welchem  die  Cultur  zuerst  wieder  aus  ihrer 
Lethargie  erwachte,  erzählt  uns,  trotz  seiner  zahlreichen 
Chronisten,  auch  nicht  von  einer  einzigen  hierhefgehöri* 
gen  Epidemie.  — 

Auch  die  Dauer  der  einzelnen  Seuchen  scheint  nicht 
grofs  gewesen  zu  sein.  Keiner  der  Chronisten  erwähnt, 
dafs  sich  die  Krankheit  über  Jahresfrist  hinaus  erstreckt 
habe,  nur  einmal  —  1128  bis  29  —  finden  wir  ihrer  in 
zwei  aufeinander  folgenden  Jahrgängen  gedacht;  —  eine 
mehrjährige  Dauer  aber,  wie  z.  B.  die  Pestepidemieen  des 
14 ten  und  15ten  Jahrhunderts,  hatten  die  Feuerseuchen 
nirgends.  — 

Die  Jahreszeit,  in  welcher  die  Krankheit  vorzüg¬ 
lich  herrschte,  läfst  sich  aus  den  Chronisten  nicht  genau 
ermitteln.  —  Mayer  10)  verlegt  den  Anfang  der  Epi¬ 
demie  von  1089  unmittelbar  (statim)  nach  der  Erschei¬ 
nung  eines  feurigen  Drachen  am  29.  August  1088;  —  zu 
Tournai  aber  wurde  im  Jahre  1092  am  Kreuzerhöhungs¬ 
feste  (14.  Sept.)  ein  feierlicher  Bittgang  wegen  der  Seuche 
gehalten. 


32 


t 

I.  Das  heilige  Feuer. 

Die  Verheerungen,  welche  das  heilige  Feuer  im 
Verhältnisse  zur  Bevölkerung  und  zur  Zahl  der  Befallenen 
anrichtetc,  waren,  wie  cs  scheint,  in  verschiedenen  Epi- 
dcmicen  ungleich  grofs;  gröfscr  im  Allgemeinen  in  den 
früheren,  als  in  den  späteren  Jahrhunderten.  — 

Im  südlichen  Frankreich  starben  im  Jahre  994  mehr  als 
40,000,  in  Paris  1148  abei  14,000  Personen,  und  von  der 
Seuche,  die  1099  die  Dauphine  heimsuchte,  wird  bemerkt, 
dafs  das  Uebel  nur  mit  dem  Leben  endete.  —  In  anderen 
Epidemieen  aber  heilten  die  Heiligen  Viele  der  Befallenen ; 
ja  es  scheint  selbst  Seuchen  gegeben  zu  haben,  in  denen 
die  Mortalität  gering  war,  die  Zahl  der  Wiedergenesenen 
überwog.  —  Die  Feuerpest  ergriff  und  schwächte  Viele, 
schreibt  ein  Chronist  vom  Jahre  1109,  und  tödtete  EL 
nige  (quosdam  occidit). 

Ueber  die  Be handlungs weise  des  Ignis  sacer  ent¬ 
halten  unsere  Quellen  keine  Nachricht.  —  Vergebens 
boten  die  Acrzte  ihre  Kunst  auf,  und  versuchten  verschie¬ 
dene  Methoden  (Experimenta  probaut);  nur  Gottes  Gnade 
vermochte  zu  helfen,  -r-  Deshalb  wandten  sich  auch  die 
Kranken  an  die  Heiligen,  und  strömten  haufenweise  in  die 
Kirchen  und  Klöster  zu  den  Reliquien  ihrer  Schutzpa¬ 
trone.  —  Feierliche  Bittgänge  wurden  gehalten,  die  Kir¬ 
chen,  Klöster  und  Wohnungen  einzelner  Priester  in  Hospi¬ 
täler  verwandelt,  die  Kranken  dort  täglich  gespeist  (sti- 
pendiis  aluit  quotidianis),  mit  Weihwasser  besprengt,  und 
die  Verzeihung  des  Himmels  für  ihre  Sünden  erfleht.  — 
Nicht  Wenige  vcrlicfsen  die  gastfreie  Schwelle  der  heili¬ 
gen  Orte  als  wiedcrgcncscn,  und  trugen  den  Ruhm  des 
heiligen  Antonius  und  Martialis,  der  Mutter  Gottes 
und  Sancta  Gcnofcva  in  ihre  Ilciinath.  — 

So  weit  die  mir  zugängigeu  Quellen,  deren  einfache 
Darstellung  ich  nur  zu  ordnen,  nicht  durch  Zusätze  zu 
entstellen  mir  vorgenommen  hatte.  — -  % 


Drit- 


I.  Das  heilige  Feuer. 


33 


Drittes  Kapitel. 

Ignis  sacer  als  Pestform.  —  Pest  von  Athen.  — 
Bubonenpest.  —  Carbunkelfieber. 

Wenden  wir  uns  jetzt  zum  Vergleiche  des  heiligen 
Feuers,  wie  ich  es  im  vorigen  Kapitel  beschrieben,  mit 
den  verschiedenen  Krankheiten,  welche  einer  oder  der  an¬ 
dere  Schriftsteller  in  ihm  zu  erkennen  glaubt,  so  begin¬ 
nen  wir  billig  mit  jenen  Formen,  die  ihrer  ausgebreiteten 
Verheerungen,  ihrer  welthistorischen  Bedeutung  halber, 
den  Namen  der  Pest  führten.  — 

Es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  dafs  in  verschie¬ 
denen  Zeiten  auch  verschiedene  Leiden  diese  Benennung 
trugen,  in  verschiedenen  Perioden  differente  Krankheits¬ 
formen  sich  zum  Repräsentanten,  zum  Prototypus  der  mias¬ 
matisch -contagiösen  Volkskrankheiten  aufwarfen  und  den 
Tod  über  die  Völker  brachten,  dafs  die  eine  die  andere, 
die  Bubonenseuche  die  äthiopische  Pest,  der  Petechialtyphus 
die  Pestis  inguinaria  ablöste  und  verdrängte,  und  dafs  je¬ 
der  dieser  Usurpatoren  im  Reiche  der  Krankheiten  mit  ei¬ 
nem  Gefolge  minder  entwickelter,  verwandter  Formen  auf¬ 
trat  und  einherschritt,  dafs  manche  epidemische  Krankheit 
aus  dem  Conflicte  der  untergehenden  mit  der  beginnenden 
Pestform  ihren  Ursprung  nahm.  Ob  aber  auch  dem  heili¬ 
gen  Feuer  unter  dieser  Sippschaft  von  Krankheiten  eine 
Stelle  anzuweisen  sei,  ist  die  hierzu  entscheidende  Frage;  — 
denn  dafs  sie  die  Chroniken  nicht  selten  unter  der  Benen¬ 
nung  Pestis  igniaria  aufführen,  ist  von  keiner  Beweis¬ 
kraft;  —  jede  verheerende  Epidemie  heifst  ihnen  Pest.  — 
Die  neueren  Schriftsteller,  welche  den  Ignis  sacer  zu 
den  Pestformen  rechnen,  sind  nicht  völlig  einerlei  Mei¬ 
nung.  —  Carrio,  und  nach  ihm  manche  andere,  stel¬ 
len  unsere  Krankheit  zu  der  Pest  des  Thucydides;  — 
Schnurrer  hielt  sie  für  ein  bösartiges  Carbunkelfieber, 
also  für  eine  Varietät  der  Bubonenpest;  Pfeufer  aber  *) 
sieht  in  ihr  eine  eigentümliche  Pestform,  die  darin  be- 
Band  26.  Heft  1.  3 


34 


I.  Das  hcilipo  Feuer. 

stand,  düf*  cm  Symptom,  welches  die  Bubonenpest  au« 
Hem  Epideuiiecnkreisc  def  äthiopischen  Pest  mit  hinüber- 
genutnmen,  nämljch  das  brandige  Absterben  der  Glieder, 
sich  als  selbstständige  Krankheit  entwickelte. 

Die  äthiopische  Pest,  welche  nicht  nur  im  Jahre  430 
vor  Chr.  Athen  hcimsuchtc,  sondern  von  jener  Zeit  an 
bis  stuni  5lcn  und  Ctcn  Jahrhundert  herab  in  wiederholten 
Seuchen  grofsc  Landerstriche  der  bekannten  Welt  entvöl¬ 
kerte,  bis  sie  endlich  in  der  von  Euagrius  und  Proco- 
pius  beschriebenen  Epidemie  in  die  Bubonenseuche  über¬ 
ging  a);  diese  wahre  Pest  des  Alterthums  bietet  in  der 
von  Thueydides  hintcrlasseuen  meisterhaften  Schilde¬ 
rung  mancherlei  Aualogiccn  mit  dem  heiligen  Feuer  des 
Mittelalters  dar.  —  Auch  bei  ihr  wurde  die  Haut  rütb- 
lich  (virlfvSftr),  livid  (x-iAtln'r),  und  mit  kleinen  Pbly- 
cläncn  und  Geschwüren  bedeckt,  ohne  sehr  warm 
*y*r  S-i ui  sein;  auch  hei  ihr  starben  die  Extremi¬ 
täten  (tä  ctx.£vTfigtct) ,  die  Genitalien  und  die  äufsersten 
Theilc  der  Hände  und  Füfse  ab.  —  Allein  diese  livide 
Färbung  der  Haut  scheiut  sich  mit  dem  blasigen  Aus¬ 
schlage,  der  überdies  nur  ausnahmsweise  in  der  Feuerpest 
erwähnt  wird,  über  die  ganze  Körperoberfläche  (r« 
rUp*)*  nicht  wie  bei  dem  heiligen  Feuer  nur  über  eiu- 
xelue  Theile,  verbreitet  zu  haben;  die  nicht  sehr  groüsc 
Wärme  (nicht  Kälte)  war  nur  dem  Zufühlcndcn  (tlmpbf) 
bcmcrklich,  und  im  Innercu  brannten  die  Kranken  (r*  Tt 
•»T4t  iMMir«)  so  sclir,  dals  sic  keine  Bedeckuug  ertrugen, 
und  sich,  wenn  ihre  Wärter  sie  vcrliefsen,  in  die  Brun- 
nen  stürzten.  —  Im  Ignis  saccr  hingegen  finden  wir  auch 
eines  suhjectiven  Frostgefühles  erwähnt,  eisige  Kälte  durch¬ 
drang  die  Unglücklichen.  —  Das  Absterben  der  Extre¬ 
mitäten  aber,  welches  im  heiligen  Feuer  die  hervorste¬ 
chendste  Erscheinung  ausmachte,  oft  alle  Glieder  vom 
Kumpfe  trennte,  und  nicht  seilen  den  Tod  bedingte,  war 
in  der  Pest  des  Thueydides  nur  ein  subordinirtes,  kri¬ 
tisches  und  nicht  couslautcs  Symptom,  betraf  nur  die  Gc* 


I.  Das  heilige  Feuer.  35 

nitalien  und  die  äufsersten  Spitzen  der  Hände  und  Füfee 
(**£«5  %•*£*(  '*■<>&  Trofrocg),  und  war  häufig  Verkünder  eines 
günstigen  Ausganges,  wie  gangränöser  Decubitus,  Brand 
der  Nase,  Schwarzwerden  und  Abfallen  einzelner  Zehen 
auch  in  den  typhösen  Leiden  unserer  Tuge  zuweilen  eine 
kritische  Bedeutung  hat.  —  • 

Aufserdem  finden  wir  aber  auch  bei  der  atheniensi- 
schen  Pest  noch  ein  Heer  anderweitiger  Krankheitszufälle, 
die  dem  heiligen  Feuer  vollkommen  fremd  sind,  und  von 
denen  wir  nicht  annehmen  können,  dafs  sie  von  den  Chro¬ 
nisten  anzuführen  vergessen  worden  wären.  —  Heftige 
Hitze  im  Kopfe,  Augenentzündung,  ‘blutige  Zunge  und 
Rachenhöhle,  stinkender  Athem,  Niesen,  Heiserkeit  und 
heftiger  Husten;  —  galliges  Erbrechen  und  krampfhaftes 
Schluchzen;  unlöschbarer  Durst,  anhaltende  Unruhe  und 
Schlaflosigkeit,  Delirien  und  colliquative  Diarrhöen  finden 
wir  beim  heiligen  Feuer  weder  als  Symptome,  noch  Blind¬ 
heit  und  Verlust  des  Gedächtnisses  als  Nachkrankheiten 
aufgeführt.  —  Der  heftigen  Schmerzen  in  den  Extremi¬ 
täten  hingegen,  die  eine  constante  Erscheinung  des  Ignis 
sacer  waren,  gedenkt  weder  Thucydidcs,  noch  Galen 
in  der  äthiopischen  Pest.  —  Bei  dieser  verbreitete  sich 
das  Leiden  in  einem  regelmäfsigen  Zuge  vom  Kopfe  aus 
nach  unten,  und  tödtete  zwischen  dem  7ten  und  9ten 
Tage;  bei  der  Feuerpest  wurden  zuerst  die  Extremitäten 
afficirt,  und  erst  nach  ihrer  Zerstörung  ging  der  Krank¬ 
heitszug  von  aufsen  nach  innen;  —  ihr  Verlauf  scheint  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  länger  gewesen  zu  sein.  —  Jene 
Krankheit  war  ansteckend  und  hatte  sich  nicht  nur  auf 
ihrem  Wege  aus  Aethiopien  in  den  Hafen  von  Athen, 
sondern  auch  in  ihren  späteren  Epidemieen,  über  w'eit- 
zusamuienhängende  Länderstrecken  verbreitet;  ein  Conta- 
gium  des  heiligen  Feuers  hingegen  läfst  sich  durch  nichts 
darthun,  und  seine  Seuchen  blieben  meistens  auf  einzelne 
Provinzen  beschränkt,  obgleich  der  Ausbreitung  eines  Con- 
tagiums  niemals  freieres  Spiel  gelassen  war,  als  eben  da- 

3  * 


36 


I.  Das  heilige  Fencr. 

mak  —  Die  Pest  von  Athen  befiel  nur  einmal  in  der- 
selben  Epidemie,  vielleicht  nur  einmal  im  Leben;  das  bei* 
lipe  Feuer  machte  iu  derselben  Seuche  Recidive  u.  s.  w.  — 
gewtts  Differenzen  genug,  um  die  Identität  beider  formen 
in  Abrede  zu  stellen.  — 

Weit  weniger  Aclmlichkeit,  als  mit  der  äthiopischen 
Pest,  hat  der  Ignis  saccr  mit  dem  CarbunkelGcbor,  und 
Schnurrer  hat  wohl  nur  die  Bedeutung  des  Ignis  per- 
sicus  bei  den  Arabern,  des  Ignis  saccr  bei  den  Arabisten, 
nicht  aber  die  Beschreibungen  der  Chronisten  berücksich¬ 
tigt,  als  er  beide  für  eine  Krankheit  erklärte.  —  Das 
maligne  Carhuukclfiebcr,  eine  Modificatiou  der  orientali¬ 
schen  Pest,  die  sich  vorzüglich  in  der  Decrepiditätsperiodc 
dieser  Pest  des  Mittelalters,  im  löten  und  ITten  Jahrhun¬ 
dert,  im  südlichen  Europa  zeigte,  erzeugt  wohl  brandige 
Geschwülste  an  den  Extremitäten,  wie  an  audercu  Thei- 
lcn  des  Körpers,  allein  keiner  seiner  Beobachter  erzählt 
uns  von  Carbunkeln,  die  ganze  Extremitäten  vom  Kumpfe 
getrenut  hätten,  keiner  von  heftigen  Schmerzen;  dafür 
sind  Ohnmächten,  Delirien,  Sopor,  eolliquative  Blutungen 
und  heftiges  Fieber  constante  Erscheinungen  der  Carbun- 
kelpest,  uud  der  Verlauf  der  Krankheit  ist  60  rasch,  das 
Coutagium  so  un bezweifelbar,  dafs  der  nicht  contagiösc, 
in  der  Regel  ziemlich  langsam  tödteude  Ignis  saccr  wohl 
kaum  iu  diese  Categorie  gchürcu  möchte,  dafs  die  Kran¬ 
ken  wohl  schwerlich  zu  den  Kirchen  gewallfahrtct  wären, 
und  die  Chronisten  sicher  nicht  von  einer  Pcstilentia  fleg- 
matica,  von  einem  Morbus  tabißcus  geredet  hätten,  wenn 
beide  Krankheiten  identisch  wären.  — 

Pfeufer  endlich  hnsirt  seine  Meinung,  dafs  das  hei¬ 
lige  Feuer  des  Mittelalters  eine  neue  Krankheitsform  sei, 
die  im  lOtcn  Jahrhundert  aus  der  Bubonenpest  entsprun¬ 
gen  und  durch  das  isolirtc  Auftreten  eines  Symptom  es  der 
äthiopischen  Pest,  das  ihre  orientalische  Schwester  mit 
kerübergenommen  habe,  gebildet  worden  sei,  hauptsäch¬ 
lich  auf  Ozanam  s  Beschreibung  der  Feuerpest  in  Lotimu- 


37 


I.  Das  heilige  Feuer, 

gen  im  Ialire  11‘28;  —  die  heftigen  Ficbcrsyinptome  mit 
Delirien,  die  Anschwellungen  der  Achsel-  und  Leisten¬ 
drüsen,  deren  Ozanam  gedenkt,  sind  ihm  Beweise  für 
die  typhöse  Natur  des  Ignis  sacer,  für  seine  Verwandt¬ 
schaft  mit  der  Bubonenpest.  —  Er  hätte  noch  das  gleich¬ 
zeitige  Vorkommen  des  heiligen  Feuers  und  der  Pest  auf 
Mayorka  1230,  die  Epidemie  von  1347  in  der  Bretagne, 
die  unmittelbar  vor  dem  schwarzen  Tode  herging,  für  sie 
anführen  können.  —  Die  Bubonenpest .  aber  belegt  er 
mit  ihrer  ersten  Epidemie  nach  der  Beschreibung  des 
Euagrius.  — 

Wie  wenig  Authenticität  aber  Ozanam’s  Beschrei¬ 
bung  jener  Epidemie  besitze,  habe  ich  schon  im  vorigen 
Kapitel  dargethan;  Mezeray,  auf  den  ersieh  beruft,  und 
der  selbst  eine  sehr  trübe  Quelle  für  Epidemieen  ist,  die 
fast  ein  halbes  Jahrtausend  vor  seiner  Zeit  herrschten,  er¬ 
wähnt  der  Seuche  von  1128  gar  nicht,  und  die  gleichzei¬ 
tigen  Chronisten  führen  nicht  nur  keines  der  fraglichen 
Symptome,  sondern,  wie  ich  oben  gezeigt,  selbst  Thatsa- 
chen  auf,  die  ihrer  Gegenwart  direct  widersprechen.  — 
Wäre  aber  auch  Ozanam’s  Beschreibung  jener  Seuche 
treu  nach  der  Natur,  so  gäbe  sie  uns  zwar  ein  Beispiel 
von  malignem  Fieber  mit  Drüsenanschwellungen  und  bran¬ 
digem  Absterben  der  Glieder,  aber  kein  Bild  der  Feuer¬ 
pest,  wie  sie  iin  Mittelalter  herrschte,  und  wofür  sie  Pfeu- 
fer  genommen.  —  Alle  anderen  Epidemieen  wären  we¬ 
sentlich  von  ihr  verschieden.  —  Vergl,  Bemerkungen  zum 
ersten  Kapitel  No  36.) 

Dals  aber  Euagrius  3)  in  der  Schilderung,  die  er 
von  der  Pest  des  6ten  Jahrhunderts  entwirft,  auch  schnell 
eintretender  Gangrän  der  befallenen  Theile  gedenkt,  be¬ 
weist,  wenn  wir  auch  brandiges  Abslerben  der  Extremi¬ 
täten  hierunter  verstehen  wollen,  weder  dafs  dieses  ein 
Symptom  der  wahren  Bubonenpest  gewesen,  noch  eine 
Verwandtschaft  des  Ignis  sacer  zur  Lues  inguinaria.  — 
Es  ist  dies  vielmehr  eine  der  zahlreichen  Erscheinungen  in 


38 


I.  Das  heilige  Fener. 

jener  Pest,  die  die  Meinung  begründen,  jene  Epidemie  be¬ 
zeichne  den  Ucbcrgang  der  äthiopischen  in  die  orientali¬ 
sche  Pest,  sei  kcjnc  reine  Bubonenscuche,  sondern  ein  aus 
verschiedenen  Krankheiten,  namentlich  aus  der  Pestform 
des  Altcrthums  und  der  des  Mittelalters,  zusammengesetz¬ 
tes  Uebel;  —  eine  Meinung,  die  schon  Euagrius  4)  aus¬ 
gesprochen,  und  der  auch  Pfcufcr  bcipllichtct.  —  Wäre 
ober  Gaugran  und  Abstofsung  der  Extremitäten  auch  eine 
alltägliche  Erscheinung  bei  der  Bubonenpest,  so  zeugten 
sic  doch  nicht  mehr  für  ihre  Verwandtschaft  mit  dem 
Ignis  sacer,  als  dasselbe  Symptom  in  der  Pest  des  Thu- 
c  v  d  t  d  e  s  und  in  manchen  Epidcmiecn  des  Petechial¬ 
typhus.  — 

Die  von  Pfeufcr  selbst  gegebenen  Thatsachcn  haben 
demnach  die  ihnen  beigelegtc  Beweiskraft  nicht;  —  dafs 
aber  der  Ursprung  des  Iguis  sacer  aus  der  Bubonenpest, 
nicht  aus  der  Epidemie  vou  Mayorca,  und  noch  weniger 
aus  der  in  der  Bretagne  zu  deducircn  sei,  bedarf  kaum 
einer  Erwähnung:  die  meisten,  und  was  mehr  ist,  die 
ersten  Feuerscychen  kamen  vollkommen  unabhängig  von 
der  Pest,  mit  ihr  weder  an  einem  Orte,  noch  zu  einer 
Zeit  vor;  —  und  weun  auch  in  den  Jahren  mancher 
Feuerscucheo  in  anderen  mehr  oder  miuder  entfernten  Ge¬ 
genden  Epidcmiecn  herrschten,  die  man,  da  ihre  Beschrei¬ 
bung  nicht  auf  uns  kam,  als  Bubonenpest  ansprecheu 
könnte,  so  deutet  doch  nichts  auf  eine  Verbindung  zwi¬ 
schen  ihnen  und  unserer  Krankheit  hin,  und  die  VVitte- 
rungsvcrhältnissc  waren  meistens  von  der  Art,  dafs  sie 
zur  Annahme  eines  allgemeinen,  für  jedeu  Ort  aber  selbst¬ 
ständigen  und  möglicher  Weise  verschiedenen  Erkrankens 
berechtigen.  — 

Ich  kann  mich  demnach  zu  keiner  der  angegebenen 
Ansichten  bekennen:  das  Bcschränktscin  der  ersten  Epidc¬ 
miecn  des  Ignis  sacer  auf  eine  Provinz  und  den  engen  Zeit¬ 
raum  eines  Jahres  im  Gegensätze  mit  der  grofsen  Ausbrei¬ 
tung  und  oft  Dccennicn  langcu  Dauer  dei*  einzelnen  Pest- 


I 


I.  Das  heilige  Feuer«  39 

seuchen;  die  Abhängigkeit,  in  der  das  heilige  Feuer  von 
ungewöhnlichen  Witterungsverhältnissen  zu  stehen  scheint, 
die  häufige  Wiederkehr  der  Krankheit  an  manchen  Orten, 
während  sie  andere,  selbst  benachbarte  Gegenden  fast  ste¬ 
tig  verschont,  und  ihr  gleichzeitiges  Auftreten  an  verschie¬ 
denen,  oft  ziemlich  entfernten  Punkten,  ohne  Zwischen¬ 
glieder,  ohne  Spuren  von  Mittheilung  und  Ueberschrei- 
tung  ihrer  ursprünglichen  Gränzen,  im  Vergleiche  mit  den 
von  atmosphärischen  und  örtlichen  Verhältnissen  ziemlich 
unabhängigen,  vorzüglich  durch  Ansteckung  vermittelten 
Wanderungen  der  typhösen  Formen;  die  im  Verhältnisse 
zur  Pest  geringe  Mortalität  5);  der,  wenigstens  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle,  ziemlich  träge  Verlauf;  die  der  Be¬ 
schreibung  nach  so  heftigen  Schmerzen  in  den  befallenen 
Theilen,  welche  weder  bei  den  entwickelten  Typhusfor- 
men,  noch  bei  den  aus  ihnen  entwachsenen  Localübeln 
Vorkommen,  da  verminderte  Perceptionsfähigkeit,  und  in 
höheren  Formen  selbst  Störung  des  Sensoriums,  Betäubung 
und  Sopor,  zu  den  wesentlichen  Charakteren  dieser  Lei¬ 
den  gehören,  und  die  übrigen  schon  oben  berührten  Dif¬ 
ferenzen  bestimmen  mich  vielmehr,  das  heilige  Feuer  we¬ 
der  für  irgend  eine  der  höher  entwickelten  Typhusformen, 
noch  Für  ein  subordinirtes  Glied  ihrer  Sippschaft  gelten  zu 
lassen.  —  Iguis  sacer  war  keine  Pestform.  — 


Viertes  Kapitel. 

jfi  ■  \ 

Ignis  sacer  als  acutes  Exanthem.  —  Schar¬ 
lach.  —  Blattern.  —  Brandige  Rose. 

Eine  andere  Meinung  über  die  Natur  des  heiligen  Feuers, 
der  nicht  minder  achtbare  Namen  zur  Seite  stehen,  als  der 
vorigen,  sieht  in  unserer  Krankheit  ein  acutes  Exanthem.  — 
Hensler  erklärt  den  Ignis  Sancti  Antonii  für  ein 
bösartiges  Sckarlachüebcr;  Krause  glaubt,  wenigstens  in 


% 


40  I.  Das  heilige  Feuer. 

mehren  Epidemicen  coofluirende  Variola  zu  erkennen,  und 
Sauva,Y€.s  *)  und  andere  halten  den  Ignis  saccr  für  bös¬ 
artige,  brandige  ltose.  — 

Gründe  für  seine  Behauptung,  dafs  das  heilige  oder 
Sh  Antonsfeuer  Scharlach  gewesen,  führt  Hensler  a) 
nicht  an,  und  ich  mufs  bekennen,  dals  ich  nicht  ciusehe, 
woher  der  geistreiche  Historiograph  des  Aussatzes  und  der 
Lustseuche  in  den  auf  uns  gekommenen  Notizen  über  Ignis 
sacer  Analogieen  mit  den  Symptomen  des  Scharlachs  hätte 
nehmen  wollen.  —  In  sämmtlichen  Originalstellen,  die 
ich  zu  sammeln  im  Stande  war,  finde  ich  nur  drei  \\  orte, 
die  sich  zur  Noth  auf  Scharlach  beziehen  liefsen  —  cx- 
teusa  livens  cutis  bei  Ilugo  Farsitus;  —  allein  schon 
der  Beisatz,  dafs  unter  dieser  gespannten,  lividcn  Haut  das 
Fleisch  von  den  Kuochen  getrennt  wurde,  mufs  jeden  Ge¬ 
danken  —  an  Scarlatina  verscheuchen.  —  Das  Befallen 
einzelner  Theilc,  namentlich  der  Extremitäten,  die  hefti¬ 
gen  Schmerzen,  das  braudige  Absterben  im  heiligen  Feuer, 
das  Gefühl  intensiver  Kälte,  der  Mangel  aller  anginösen 
und  wie  cs  scheint,  wenigstens  im  Beginn  der  Krank¬ 
heit,  auch  der  fcbrilischen  Symptome,  die  Uccidive  in 
derselben  Epidemie  u.  a.  m.,  sind  gewifs  Punkte  genug, 
um  Hcnslcr’s  Meinung  für  vollkommen  unstatthaft  zu  er¬ 
klären  und  die  Annahme  zu  rechtfertigen,  dafs  derselbe 
den  Ignis  sacer  für  Scharlach  augesprochcn,  ohne  auch  nur 
eine  seiner  Beschreibungen  in  den  Chronisten  gelesen  za 
haben.  — 

Mit  weit  genauerer  Kcnntnifs  der  tyuellcnschriflstcllcr 
sucht  Krause  •)  seine  Ansicht,  dafs  das  heilige  Feuer  in 
vielen  Fällen  Variola  gewesen  sei,  auf  historischem  Felde 
zu  vertheidigen.  —  Die  ganz  allgemeine  Verbreitung, 
die  grofse  Tödtlichkeit,  die  schmerzhaft  brennenden  Ge¬ 
fühle  und  die  schwarze  Farbe  der  Oberfläche  —  woher  daun 
die  Vergleichung  mit  einem  Feuer  unter  der  Haut  und 
mit  Verbrennungen,  die  auch  hei  Pocken  vorkommt;  die 
l  leeration  und  das  Zerflicfscn  der  Weichtkcile  mit  uncr- 


41 


I.  Das  heilige  Feuer. 

träglichcm  Gestank;  —  dafs  unter  den  Ausbruchsstellen 
vorzugsweise  das  Gesicht,  die  Brust,  die  Hände  und  Füfse 
genannt  werden,  und  mehre  Nachrichten  uns  deutlich  er¬ 
geben,  das  Feuer  habe  die  ganze  Oberfläche  des  Körpers 
verbrannt,  zurückbleibende  Blindheit  und  Contracturen 
lassen  ihm  keinen  Zweifel,  dafs  wenn  auch  nicht  alle, 
doch  manche  Feuerpesten  Pockenseuchen  gewesen  seien. 
Namentlich  scheint  er  die  Epidemieen  von  994,  1089  und 
1128  Für  die  Variola  vindiciren  zu  wollen;  —  hätte  er 
die  Seuche  des  Jahres  857  gekannt,  in  welcher  selbst  der 
schwellenden  Blasen  gedacht  wird ,  so  würde  er  wohl  auch 
auf  sie  neue  Beweisgründe  gebaut  haben.  — 

Vor  allem  gestehe  ich  nun  Herrn  Krause  mit  Ver¬ 
gnügen  zu,  dafs  ich  die  Existenz  der  Pocken  in  Eurppa 
vom  5ten  Jahrhundert  an  nicht  bezweifle,  dafs  ich  ihre 
Spuren  auch  im  lOten  bis  12ten  Jahrhundert,  gleichzeitig 
mit  dem  Ignis  sacer,  anerkenne,  und  dafs  mir  nicht  nur 
Gregor’s  Pusulae  und  Vesicae,  und  Marius  Variola, 
sondern  auch  die  Pestis  pustularum  späterer  Zeiten  iden¬ 
tisch  mit  jenem  Exantheme  zu  sein  scheinen.  - —  Ich 
würde  daher  keinen  Anstand  nehmen,  auch  die  berührten 
Feuerseuchen  für  Variola  gelten  zu  lassen,  wenn  sich  in 
den  Chroniken  alle  jene  Erscheinungen  nachweisen  liefsen, 
die  Krause  in  ihnen  gefunden  zu  haben  glaubt,  wenn 
mir  die  Deutung,  welche  er  ihren  Worten  giebt ,  stets  die 
richtige  schiene.  —  So  verhält  es  sich  übrigens  nicht.  — 
Nirgends  finde  ich  ausdrücklich  angegeben,  dafs  das 
heilige  Feuer  die  ganze  Oberfläche  des  Körpers  verbrannt 
habe,  sondern  immer  wird  es  als  ein  Leiden  geschildert, 
das  zwar  verschiedene  Theile  des  Körpers  befiel  und  von 
einem  Theile  auf  den  anderen  überging  (diversa  membra 
ignis  plagä  pervaduntur),  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  aber 
auf  die  Extremitäten  beschränkt  blieb.  — 

Wenn  Anselm  von  Gemblours  von  der  Seuche  des 
Jahres  1128  sagt,  dafs  Individuen  jedes  Alters  und  Ge¬ 
schlechtes  —  er  übergeht  in  seiner  Aufzählung  die  Kin- 


42 


I,  Das  heilige  Feuer. 

an  den  Füfsen,  au  den  Händen,  an  den  Brüsten, 
und  was  schlimmer  war,  im  Gesichte  verbrannt  wurden, 
so  bezeichnet  er  damit  wohl  nicht  die  Ausbruchsstcllc» 
eines  Exanthemes,  das  sich  später  über  den  ganzen  Kör¬ 
per  verbreitete,  sondern  überhaupt  die  I heile,  welche  von 
der  Krankheit  afiieirt  wurden,  und  spricht  durch  den  Zu¬ 
satz:  cjuod  gravius  cst,  indirect  aus,  dals  nicht  immei  alle 
diese  Theile,  namentlich  nicht  immer  das  Gesicht  befallen 
wurde;  —  ja  selbst  die  Reihenfolge,  in  der  er  der  ver¬ 
schiedenen  Parthieen  des  Körpers  gedenkt,  zeugt  vielleicht 
für  die  ungleiche  Häufigkeit  ihres  Bcfullenwcrdens.  —  Den 
Vergleich  mit  Verbrennungen  wollte  ich  noch  hier  an¬ 
wendbar  auf  Variola  gelten  lassen,  obgleich  ein  teuer 
unter  der  Haut  (nach  Hugo  Farsitus:  sub  extensa  li- 
venti  cute),  welches  das  Fleisch  von  den  Knochen  trenut, 
nicht  recht  auf  Pocken  passen  will,  weil  ein  anderer  Beob¬ 
achter  des  heiligen  Feuers  *—  von  allen  aber  auch  nur 
einer  —  schwellender  Blasen  gedenkt;  aber  in  der  häis- 
lichen  Fäulnifs  (detestabilis  putredo),  io  dein  Abfallen  der 
Weichtheile  (exustae  partes  efiluebant),  und  namentlich 
in  dem  Absetzen  der  zerstörten  Glieder  (membra  dissoluta 
decidcrunt),  durch  welches  die  Kranken  ihrer  Extremitä¬ 
ten  beraubt  (mauibus  et  pedibus  truncati)  wurden,  nur 
die  Symptome  des  Suppurationsstadiums  der  Pockcu  erken¬ 
nen  zu  wollen,  heilst  denn  doch,  der  vorgefafsten  Meinung 
die  Wahrheit  opfern.  —  Dals  Variola  so  heftige  Schmer¬ 
zen  in  ihrem  Geleite  führe,  wie  sie  bei  dem  heiligen  Feuer 
beschrieben  werden,  habe  ich  nie  beobachtet.  —  Es 
fragt  sich  noch,  ob  die  von  Anselm  unter  den  Wundern 
der  heiligen  JuDgfrau  erwähnteu  Blinden  auf  Rechnung  des 
Iguis  saccr  kommen,  und  sie  beweisen  nur,  dafs  auch  au- 
dcie  Krankheiten  als  Variola,  wenn  sic  das  Gesicht  be¬ 
fallen,  das  Sehvermögen  auflicben  können.  —  Was  ich 
aber  unter  Sicghert's  contractio  nervorum  verstehe,  habe 
ich  schon  oben  ausgesprochen.  — 

Wcnu  ich  nun  noch  bedenke,  dafs  das  Gefühl  von 


43 


I.  Das  heilige  Feuer. 

Kälte,  dessen  Farsitus  beim  heiligen  Feuer  gedenkt,  dafs 
die  Beobachtung,  erst  nach  zerstörten  Gliedern  (prioribus 
depastis  artubus)  würden  die  wichtigeren  Organe  befal¬ 
len,  mit  den  Erscheinungen  der  Variola  in  Widerspruch 
steht,  dafs  kein  Chronist  der  intensiven  Fiebersymptome, 
die  bei  den  Pocken  Vorkommen,  bei  dem  Ignis  sacer  ge¬ 
denkt,  dafs  Individuen  mit  confluirenden  Pocken  an  das 
Bette  gefesselt  sind,  und  weder  in  den  Strafsen  herumir¬ 
ren,  noch  zu  den  Kirchen  pilgern  werden,  dafs  in  dersel¬ 
ben  Epidemie  des  heiligen  Feuers  Rccidive  beobachtet  wor¬ 
den  sind,  dafs  Variolaepidemieen  kein  Gebundensein  an  be¬ 
stimmte  Witterangsverhältnisse,  keine  Vorliebe  für  ein¬ 
zelne  Provinzen  zeigen,  und  sich  häufig,  wie  alle  conta- 
giösen  Krankheiten,  über  Jahresfrist  hinaus  erstrecken  — 
wenn  ich  dies  alles  berücksichtige,  so  mufs  ich  mich  da¬ 
hin  entscheiden,  dafs  Pocken  und  heiliges  Feuer  durchaus 
verschiedene  Krankheiten  sind.  — 

Gröfsere  Aehnlichkeit  als  mit  den  Blattern,  hat  Ignis 
sacer  mit  dem  Rothlaufe.  —  Wir  finden  das  Befallen¬ 
werden  der  Extremitäten  und  des  Gesichtes,  in  seltenen 
Fällen  auch  der  Brüste  und  Genitalien,  die  bald  flache 
(cutis  extensa),  bald  blasige  Veränderung  der  Haut;  die 
Gangrän,  welche  alle  Handbücher  als  einen  Ausgang  der 
Rose  aufführen,  auch  als  Erscheinungen  der  heiligen  Feuers 
in  den  Chronisten  angegeben;  —  Rothlauf,  wie  Ignis  sa¬ 
cer,  befallt  alle  Geschlechter  und  Lebensalter,  hat  bald 
einen  acuten,  ba}d,  als  wandernde  oder  habituelle  Rose, 
einen  mehr  chronischen  Verlauf,  macht  gern  Recidive,  und 
tödtet  vorzüglich  nur  dann,  wenn  es  von  den  peripheri¬ 
schen  Gebilden  auf  innere,  wichtige  Organe  übergeht;  — 
ja  es  steht  der  Ansicht,  beide  Leiden  seien  identisch,  selbst 
die  Meinung  der  Zeitgenossen  zur  Seite.  —  Einer  der 
Chronisten  4)  sagt  ausdrücklich:  Ignis  sacer  quem  Graeci 
herisipelain  dieuut.  —  Lanfranchi  5)  betrachtet  Ignis 
Sti  Antonii  und  Erysipelas  manducans  als  Synonyme, 
und  Gordon  6)  handelt  unter  einer  Rubrik  von  der  Rose 


k 


I 

44  I.  Das  heilige  Feuer. 

uiul  dem  heiligen  Feuer;  von  welchen  er  die  erste  durch 
einfache,  letztes  durch  entzündete  Galle  entstehen  Ififst.  — 

Solche  Autoritäten,  so  viele  Analogieen  verschafften 
der  Ansicht,  dafs  das  heilige  Feuer  des  Mittelalters  eine 
epidemische,  brandige  Hose  gewesen  sei,  ein  Ucbergcwicht 
über  die  bisher  abgchandcltcn  Meinungen,  machten  sic  zur 
herrschenden,  und  cs  haben  sich  Sydcnhain,  Friedr. 
Hoff  mann,  Sauvages,  Cullen,  Short,  Seile  u.  a.  in. 
mehr  oder  minder  bestimmt  für  sic  erklärt.  — 

Allein  so  grofs  auch  die  Ärmlichkeit  beider  Krank¬ 
heiten  für  den  ersten  Anblick  immer  sein  mag,  so  finden 
6ich  doch  bei  eiucr  näheren  Untersuchung  manche  nicht 
unwahrscheinliche  Differenzen,  die  mich  ihre  Identität  be¬ 
zweifeln  lassen. 

Vor  allem  erzählt  uns  die  Geschichte  der  Seuchen 
auch  nicht  von  ciuer  einzigen  Rothlaufepidemie  früherer 
oder  späterer  Zeit,  die  wie  das  heilige  Feuer  Tausende 
getödtet,  nicht  von  einer  einzigen,  in  der,  wie  in  der 
Feuerpest,  Gangrän  eine  constante  oder  auch  nur  eine 
häufige  Erscheinung  gewesen  wäre.  —  Die  Hose  war  ira 
Gegentheil  zur  Zeit  des  II  i  pp  o  erat  es,  wie  in  unseren 
Tagen,  in  der  Mehrzahl  der  Falle  eine  gutartige  Krank¬ 
heit;  —  die  malignen  Symptome,  namentlich  auch  der 
Uebergang  in  Brand,  sind  häufiger  durch  die  Individualität 
des  Kranken  und  durch  verkehrte  Behandlung,  als  durch 
die  Natur  der  Krankheit  bedingt.  —  Gewöhnlich  er¬ 
scheint  sic  uuter  bestimmten  WitterungsverhSltoisscn  nur 
als  Morbus  intcrcurrens,  als  ein  Glied  der  Constitutio  an- 
nua,  haufenweise,  nicht  als  eigentliche  Epidemie;  uud  wenn 
letztes  der  Fall  ist,  sind  Hotblaufepidemiccn  doch  nur  sel¬ 
ten,  und  dann  nie  durch  Gangrän,  sondern  durch  Com- 
plicalion  mit  Entzündung  innerer  Gebilde,  oder  durch  Me¬ 
tastase  des  Ezanthems  verderblich  7).  —  Keine  Epidemie 
des  Erysipelas  neuerer  Zeit  hat  Achnlichkeit  mit  dcucn 
des  heiligen  Feuers.  — 

Man  könnte  mir  zwar  cinwcnden,  die  Hose  könne, 


45 


I.  Das  heilige  Feuer. 

wie  Syphilis  und  Lepra,  mit  der  Zeit  milder  geworden 
sein;  —  allein  ich  begreife  zwar,  dafs  ein  Contagium  durch 
die  Fortpflanzung  von  Generation  zu  Generation,  dafs  eine 
von  örtlichen  Verhältnissen  abhängige  Krankheit  durch  Cul- 
tur  des  Bodens  und  Civilisation  der  Völker  gutartiger  wer¬ 
den  kann,  weshalb  aber  die  Rose,  für  deren  Bildung  at¬ 
mosphärische  Verhältnisse,  die  von  Zeit  zu  Zeit  wieder¬ 
kehren,  und  im  Mittelalter  wohl  auch  dieselben  waren 
als  jetzt  —  die  Rose,  welche  Hippocrates  mit  denselben 
Symptomen  auflreten  sah  als  wir,  im  Mittelalter  auf  drei 
bis  vier  Jahrhunderte  so  bösartig,  und  dann  wieder  milde 
werden  soll,  begreife  ich  nicht.  — 

Ueberdies  hatten  die  am  heiligen  Feuer  leidenden  In¬ 
dividuen  so  heftige  Schmerzen  in  den  Extremitäten  und 
anderen  befallenen  Theilen,  dafs  sie  laut  wehklagten,  mit 
den  Zähnen  knirschten  und  die  Strafsen  mit  ihrem  Ge¬ 
schrei  erfüllten;  bei  der  Rose  aber  findet  sich  wohl  ein 
Brennen  der  Haut,  allein  so  penetrirender  Schmerz,  der 
immer  mehr  auf  Affection  der  Nerven  schliefsen  läfst, 
kommt  niemals  vor.  —  Das  Gefühl  von  eisiger  Kälte, 
das  die  Feuerkranken  durcliflofs,  ist  dem  Rothlauf  gleich¬ 
falls  fremd,  und  wenn  bei  diesem  der  Brand  eintritt,  so 
beginnt  er  immer  in  der  Haut;  die  Epidermis  erhebt  sich 
zu  Blasen,  die,  mit  Jauche  gefüllt,  zerreifsen,  und  so  die 
Anfangspunkte  der  fauligen  Zersetzung  werden;  —  immer 
ist  es  feuchter  Brand,  Gangrän,  und  er  geht  mehr  in  die 
Fläche,  als  in  die  Tiefe,  bewirkt  meines  Wissens  niemals 
das  Absetzen  ganzer  Extremitäten.  —  Bei  dem  heiligen 
Feuer  hingegen  scheint  die  brandige  Zerstörung  mehr  von 
innen  nach  aufsen  gegangen  zu  sein;  —  unter  der  lividen, 
gespannten  Haut  trennte  das  Feuer  das  Fleisch  von  den 
Knochen  und  verzehrte  cs,  und  der  Brand  war  häufig 
trocken  —  Sphacelus.  —  Ein  fernerer  Unterschied  end¬ 
lich  wird  durch  das  Fieber  begründet;  —  auch  die  Rose 
erscheint,  wie  andere  Exantheme,  mit  Fieber,  und  ver¬ 
läuft,  wenn  es  zur  Gangrän  geht,  mit  febrilischen.  Sym- 


46 


L  Das  heilige  Fener. 

ptoraen  der  schlimmsten  Art;  —  dafs  aber  solche  im  hei¬ 
ligen  Feuer  nicht  häufig  gewesen  sein  können,  habe  ich 
schon  wiederholt  dargethan.  — 

Diese  Differenzen  fclieinen  mir  hinreichend,  um  die 
Identität  des  Ignis  saccr  und  des  Rothlaufs  in  Abrede  zu 
stellen,  und  ich  glaube  uicbt,  dafs  mich  La nfranchi  und 
Gordon  durch  die  allegirtcn  Stellen  widerlegen;  denn 
ihnen,  wie  den  Griechen,  und  wie  manchem  der  Neueren, 
hiefs  alles  Erysipclas,  wobei  die  Haut  roth  war.  — 

Die  eigenthümliche  Richtung  des  Brandes  von  innen 
nach  aufsen,  das  Gefühl  vou  Kälte,  die  heftigen  Schmer¬ 
zen  und  die  geringe  Theilnahme  des  Gesammtgefäfssyste- 
mes  an  der  topischen  Affection,  welche  sich  beim  heili¬ 
gen  Feuer  zeigen,  mangeln  aber  nicht  nur  bei  der  Rose, 
sondern  sic  sind  allen  acuten  Exanthemen  gleich  fremd.  — 
Bei  diesen  ist  vom  Beginnen  der  Krankheit  an  Fieber  zu¬ 
gegen,  die  Temperatur  ist  stetig  objectiv,  wie  subjectiv 
erhöht,  und  Gefühl  von  Hitze  ist  in  der  Regel  der  ein¬ 
zige  Schmerz,  welchen  die  Kranken  in  den  von  der  Eru¬ 
ption  eingenommenen  Theilen  empfinden.  —  Stellt  sich 
aber  Zerstörung  ein,  was  im  Allgemeinen  sehr  selten  der 
Fall  ist,  60  ist  diese  eine  oberflächliche  Vereiterung  oder 
Verjauchung;  —  sie  beginnt  stets  in  der  Haut,  und  be¬ 
schränkt  sich  gewöhnlich  auf  diese.  —  Iguis  sacer  war 
kein  acutes  Exanthem.  — 


Fünftes  Kapitel. 

Ignis  sacer.  —  Scorbut  —  Ergotismus. 

Es  bleibt  uns  für  dieses  Kapitel  noch  die  Prüfung 
zweier  Meinungen  übrig;  von  welchen  die  eine  in  dem 
heiligen  Feuer  einen  heftigen  Landscorbut,  die  andere  Er- 
gotismus  erkennen  will.  — 

Bateman1)  ist  der  Vater  der  ersten,  und  obgleich 
ihm  meines  Wissens  niemand  beitrat,  so  hat  die  vou  ihm 


\ 


I.  Das  höilige  Feuer.  47 

ausgesprochene  Ansicht,  der  Ignis  sacer  des  Mittelalters  sei 
epidemischer  Scharbock,  durch  schlechte  Kost  veranlafst, 
gewesen,  so  manche  Analogieen  zwischen  beiden  Krank¬ 
heiten  für  sich.  — 

Wie  das  heilige  Feuer  im  Ilten  und  12ten  Jahrhun¬ 
dert,  trat  der  Scorbut  vom  15ten  bis  zum  17ten  Jahrhun¬ 
dert  in  wiederholten,  oft  sehr  mörderischen  Epidemieen 
auf  2);  —  Jahre  des  Mangels,  nafskalte  Witterung,  Kriege 
u.  s.  w.  begünstigten  seine  Entwickelung,  und  er  hat  sich 
unter  solchen  Verhältnissen  selbst  1749  bis  51  noch  im  ve- 
netianischen  Gebiete,  1785  in  einem  grofsen  Theile  Rufs¬ 
lands,  und  1808  in  Dalmatien  gezeigt  3).  —  Wie  das 
heilige  Feuer,  ist  der  Scorbut  häufig  mit  heftigen  Schmer¬ 
zen  in  den  Extremitäten  verbunden;  es  erscheinen  in  ihm, 
vorzüglich  an  den  unteren  Extremitäten,  Ecchymosen,  die 
sich  nicht  nur  als  einzelne  umschriebene  Flecke  gestalten, 
sondern  zuweilen  die  ganzen  Unterschenkel  mit  einer  livid 
rothen,  blauen  oder  schwarzen  Farbe  überziehen,  und  so 
allerdings,  mit  der  ödematösen  Geschwulst,  die  ein  con- 
stantes  Symptom  des  weit  vorgerückten  Scharbocks  ist, 
der  Cutis  livens  extensa  des  Hugo  Farsitus  entsprechen 
konnten.  —  Bösartige,  häufig  gangränescirende  Geschwüre, 
entstehen  aus  diesen  Flecken,  uud  greifen  selbst  die  Kno¬ 
chen  an;  —  die  Sehnen  der  befallenen  Glieder  contrahi- 
ren  sich,  die  Beweglichkeit  erlischt,  ohne  dafs  die  Schmer¬ 
zen  nachliefsen  (nervorum  contractione  distorti  torqueban- 
tur),  und  in  manchen  Fällen  sind  die  Unterschenkel  ab¬ 
gemagert  und  so  hart,  wie  Holz,  was  vielleicht  als  Vil¬ 
la  Iba ’s  « piel  pigada  ä  los  huesos  ”  zu  deuten  wäre.  — 
Allein  nicht  minder  grofs  als  die  Analogieen  zwischen 
Scorbut  und  Ignis  sacer,  sind  die  Differenzen  zwischen  bei¬ 
den  Krankheiten.  —  Der  Scorbut  [die  Differenz  zwi¬ 
schen  See-  und  Landscorbut  ist  keine  wesentliche  4)]  fin¬ 
det  sich  vorzüglich  auf  uud  an  der  See,  in  niedrig  gele¬ 
genen  sumpfigen  Gegenden,  am  liebsten  in  dem  Bereiche 
miasmatischer  Effluvien ;  —  die  Küstenstriche  von  Holland 


48 


I.  Das  heilige  Feuer. 

uud  England,  das  rassische  Littoral  der  Ostsee  und  Dal¬ 
matien,  waren  daher  der  Schauplatz  seiner  gröfsten  Epi¬ 
demien,  und  er  ist  endemisch  an  den  Niederungen  der 
Donau.  —  Das  heilige  Feuer  hingegen  zeigte  keine  Vor¬ 
liebe  für  solche  Linder.  —  Ostflandcrn,  Lothringen,  die 
gebirgige  Dauphine  und  der  gröfsfe  Theil  von  Aquitanien, 
Islc  de  France  und  Leon  sind  weder  Küstenstriche,  noch 
Sümpfländer,  und  doch  ist  in  ihnen  das  heilige  Feuer  am 
häufigsten  und  mit  den  gröfsten  Epidemieen  erschienen.  — 
Die  von  allen  Chronisten  angeführte  hauptsächlichste  Er¬ 
scheinung  des  heiligen  Feuers,  das  Absterben  und  Abfallen 
der  Extremitäten  vom  Rumpfe  kommt  im  Scorbute  nur  sel¬ 
ten  und  ausnahmsweise  vor;  der  trockene  Eraud,  das  hef¬ 
tige  Gefühl  innerlicher  Kälte,  sind  ihm  vollkommen  fremd, 
und  gewöhnlich  siud  nicht,  wie  im  heiligen  Feuer,  die 
Extremitäten  das  zuerst  Befallene.  —  Und  wenn  auch 
der  Verlauf  des  Ignis  saccr  nicht  acut,  wie  der  einer  Pest¬ 
form  oder  eines  Exanthems  war,  so  scheint  sich  doch  die¬ 
ses  Leiden  nicht  wie  der  Scorhut,  Monate  und  Jahre 
lang  hioausgezogen  zu  haben.  —  Dafür  hat  der  Schar¬ 
bock  eine  Menge  Erscheinungen  in  seinem  Geleite,  die  in 
den  auf  uns  gekommenen  Beschreibungen  des  Jgnis  saccr 
nicht  aufgeführt  wurden;  —  Erscheinungen,  die  für  den 
Scorbut  wesentlicher,  als  die  Veränderungen  an  den  Ex¬ 
tremitäten,  und  allzu  augenfällig  sind,  als  dafs  wir  voraus/ 
setzen  könnten,  die  Chronisten  hätten  sic  aufzuzähleu  ver¬ 
gessen.  —  Es  gehört  dahin  die  Veränderung  des  Zahn¬ 
fleisches  und  der  Zähne,  der  stinkende  Athem,  die  grofse 
Mattigkeit  und  Kraftlosigkeit  —  Symptome,  mit  dcueu  der 
Scharhock  gewöhnlich  beginnt,  uud  die  ihn  in  seinem  gan¬ 
zen  Verlaufe  begleiten,  es  gehören  hierher  die  Blutungen 
aus  verschiedenen  Theilcu  des  Körpers,  namentlich  auch 
aus  den  Geschwüren,  die  Kurzathmigkeit ,  die  Suffocations- 
aniallc,  die  colliquativen  Diarrhöen,  die  Ohnmahten,  wel¬ 
che  hei  Scharbockkranken  Vorkommen,  wenn  das  Leiden 
schon  größere  Fortschritte  gemacht  hat;  der  gewöhnliche 

Aus- 


49 


I.  Das  heilige  Feuer. 


Ausgang  des  Scorbuts  in  Wassersucht.  —  Sie  alle  fin- 
dea  sich  iu  den  Beschreibungen  des  heiligen  Feuers 
auch  mit  keiner  Sylbe  angedeutet,  und  ich  kann  mich 
deshalb  nicht  überzeugen,  dafs  Ignis  sacer  «  Landscor- 
but  »  gewesen  sei.  — 

Die  letzte  Meinung  endlich,  die  sich  über  die  Na¬ 
tur  des  heiligen  Feuers  des  Mittelalters  geltend  ge¬ 
macht  hat,  fand  fast  ausschliefslich  in  Frankreich  An¬ 
klang.  —  Tissot  s),  Raymond  6),  Read  7),  Tes- 
sier  8),  und  in  der  letzten  Zeit  Ozanam  und  Fo- 
dere,  erklären  die  Feuerseuchen  für  Epidemieen  des 
Ergotismus.  —  Bei  den  Deutschen  und  Engländern 
aber  fand  ihre  Ansicht  wenig  Aufnahme ;  —  die  Mehr¬ 
zahl  von  ihnen  hielt  den  Ergotismus  für  identisch  mit 
der  Kriebelkrankheit,  und  konnte  nicht  begreifen, 
welche  Analogieen  zwischen  ihr  und  dem  Ignis  sacer 
bestehen  sollten.  Selbst  Krause  drückt  seine  Ver¬ 
wunderung  noch  durch  Fragezeichen  aus.  — 

Bevor  ich  daher  diese  Meinung,  die  in  Frankreich 
die  herrschende  geworden  ist,  einer  genaueren  Prü¬ 
fung  unterwerfe,  mufs  ich  erst  eine  Schilderung  des 
in  unseren  Gegenden  noch  nie  gesehenen  Ergotismus 
geben.  —  Eine  kurze  Beschreibung  seiner  einzelnen 
Epidemieen  wird  diese  Aufgabe  am  zweckmäfsigsten 
lösen. 

Die  erste  Nachricht  über  eine  Seuche  fi63o.  Soiogne.j 
dieser  Art  verdanken  wir  Th  ui li er,  dem  Arzte  des 
Herzogs  von  Sully  9).  —  Gangrän,  in  Folge  des 
Genusses  von  Mutterkorn,  war  1630  in  der  Sologne 
(gegenwärtig  ein  Theil  des  Departements  de  Loir-  et 
Cher)  allgemein.  — 

Dieselbe  Krankheit  (1650  —  70  —  74.  Guyenne  ,  Sologne  etc.J 

wiederholte  sich  in  den  Jahren  1650  —  70  —  74,  die 
alle  als  feucht  und  stürmisch  angegeben  werden,  nicht 
nur  in  der  Sologne,  sondern  auch  in  Guyenne,  Gati¬ 
nais,  und  vorzüglich  in  Montargis.  —  Ein  Gefühl 
Band  28.  Heft  1. 


4 


50 


I.  Das  heilige  Feuer. 

von  Pclziggcio  iu  den  Unterschenkeln,  Schmerzen  und 
eine  leichte  Gesell wulst  ohne  Entzündung,  waren  die 
ersten  Symptome,  bald  aber  folgte  Frost,  lividc  Fär¬ 
bung,  Sphacelus  und  Abfallen  des  afficirten  Gliedes.  — 
J fände ,  Füfsc,  ja  ganze  Arme  und  Schenkel  fielen  ab, 
und  in  einzelnen  Fällen  wurde  auch  die  Nase  durch 
Gangrän  zerstört.  —  Nach  Dodart,  den  die  Aea- 
demic  an  Ort  und  Stelle  sandte,  war  das  Mutterkorn 
die  Veranlassung  der  Krankheit,  und  diese  verlief  ohne 
alle  Entzündungssymptome,  die  Jlaut  war  im  Gegen- 
theile  kalt  und  livid,  und  der  Brand  begann  in  den 
inneren  Muskclparthieen,  erschien  erst  später  äufscr- 
lich  —  man  inufstc,  11m  die  Fortschritte  des  Ucbels 
bcurtheilen  zu  können,  Einschnitte  machen.  Nur  die 
Armen  wurden  befallen  1  •).  — * 

(noo.  Orieannoi g  und  HUtofr.j  Im  Jahre  1709  folgte  auf  einen 
äufserst  kalten  Winter  ein  kühler  und  feuchter  Som¬ 
mer.  —  Der  Ergotismus  zeigte  sich  in  der  Umge¬ 
gend  von  Orleans  und  Blois,  undNoel11)  berichtet, 
dafs  über  50  Kranke  dieser  Art  im  Hospitale  von  Or¬ 
leans  behandelt  wurden.  —  Das  hervorstechendste 
Symptom  war  ein  trockener,  schwarzer  und  li vieler 
Brand,  der  an  den  Zehen  begann  und  zuweilen 
bis  ans  Hüftgelenk  fortschritt,  die  Gelenke  bald  von 
selbst  trennte,  bald  nur  das  Fleisch  von  den  Knochen 
löste.  —  Nur  selten  wurden  die  oberen  Extremitä¬ 
ten  befallen;  —  die  Krankheit  herrschte  nur  unter 
den  armen  Volksklasscn,  und  verschonte  die  Frauen 
fast  gänzlich.  —  Amputation  war  fruchtlos,  Scarifi- 
cationcn  und  topische  Mittel  leisteten  zuweilen  gute 
Dienste.  —  Der  Roggen  dieses  Jahres  enthielt  über 
ein  Viertel  Seeale  cornutum. 

fi:o9  —  i"io.  Schweiz.)  In  demselben  Jahre  1709,  in  gerin¬ 
gerer  Ausbreitung  aber  nach  dem  kalten  Winter  1716, 
zeigte  sich  dies  Leiden  in  den  Cantonen  Bern,  Zürich 
und  Luccrn.  —  Die  Seuche  begann  1709  Ende  Juli, 


51 


I.  Das  heilige  Feuer. 

und  setzte  ihre  Verheerungen  zehn  Wochen  lang  fort. 
Der  mit  vielem  Mutterkorn  verunreinigte  neue  Roggen 
wurde  allgemein  fiir  die  Ursache  der  Epidemie  gehal¬ 
ten,  und  Lang  1 2)  giebt  von  ihren  Symptomen  fol¬ 
gende  Beschreibung:  Müdigkeit  und  Abgeschlagenheit 
eröffnete  die  Scene 5  —  ohne  Fieber  wurden  die  Ex¬ 
tremitäten  kalt,  blafs  und  runzelig,  als  ob  sie  längere 
Zeit  in  kaltes  Wasser  getaucht  gewesen  wären;  — • 
die  Venen  unter  der  Haut  verschwanden,  das  Gefühl 
erlosch,  die  Beweglichkeit  aber  dauerte,  wenn  auch 
beschränkt,  noch  fort.  —  Aeufserst  heftige  innerliche 
Schmerzen  peinigten  die  Kranken,  sie  exacerbirten 
heftig  durch  die  Wärme  des  Bettes  oder  der  Luft, 
und  remittirten  etwas  in  der  Kälte;  —  hier  aber 
trat  ein  fast  unerträgliches  Gefühl  von  Frost  an  ihre 
Stelle.  —  Diese  so  lästige  Empfindung  begann  an  den 
Endpunkten  derTheile,  und  verbreitete  sich  allmählig 
über  die  ganzen  Extremitäten,  bis  endlich  durch  hin¬ 
zukommenden  Brand  (Sphacelus)  das  befallene  Glied 
sich  ausgezehrt  hatte,  und  schwarz  vom  Rumpfe  oderdem 
benachbarten  Theile  trennte.  Mehre  Kranke  fanden 
Finger  und  Zehen  in  den  Handschuhen  und  Stiefeln, 
die  sich  ohne  Schmerz  losgestofsen  hatten.  —  Die 
Function  der  übrigen  Organe  des  Körpers  war  ziem¬ 
lich  unversehrt,  wenn  man  leichte  Fieberbewegungen 
(levem  aestum  febrilem)  bei  den  stets  zunehmenden 
Schmerzen,  Schweifs  an  Kopf  und  Brust  bei  dem  Ge¬ 
nüsse  warmer  Speisen  >  und  schlaflose  Nächte  oder  un¬ 
ruhige  Träume  abrechnen  will.  —  Innerlich  Emetica 
und  Cordialia  sudorifera,  äufserlich  vor  dem  Eintritte 
des  Brandes  Cataplasmata  resolventia  und  Spiritus  ca- 
Iefacientes,  später  Linimenta  digestiva  und  Pulveres 
vel  emplastra  consolidantia,  machten  die  Behandlung 
aus.  —  Auch  die  Venäsection  am  befallenen  Theile 
leistete  als  ein  Mittel,  welches  die  natürliche  Wärme 
dahin  zog,  gute  Dienste. 

4* 


i 


52  I.  Das  heilig  Feuer. 

rni7.  s»iofi*t.)  Der  Frühling  und  Sommer  des  Jahres 
1747  waren  wenigstens  in  Mittelfraukreich  regnerisch 
und  feucht.  —  Ergotismus  in  der  Sologne  war  die 
Folge,  und  es  erlagen  ihm  in  kurzer  Zeit  8000  Men¬ 
schen  ,3).  A rnault  de  Nobleville  14),  der  die 

Krankheit  im  Hospitale  von  Orleans  sah,  sagt,  dafs 
sic  mit  schmerzhafter  Müdigkeit  (Lassitudes  doulou- 
rcuscs)  in  den  unteren  Extremitäten  und  livider  1* ;ir- 
hung  beginne,  die  aber  bald  in  ein  Geschwür  über¬ 
ginge  (qui  abcedc  Tulcerc),  und  eine  mehr  trockene, 
als  feuchte  Gangrän  bilde,  in  der  oft  Würmer  ent¬ 
stehen.  Endlich  fallen  Zehen,  Fülse,  Unterschenkel 

„  uud  Oberschenkel  ab;  dasselbe  begegnet  den  oberen 
Extremitäten,  und  man  sah  Individuen  im  Hospitale, 
die  nur  noch  den  Rumpf  hatten,  und  so  mehre  Wo¬ 
chen  lebten;  —  denn  die  Trennung  geschah  ohne  Blu¬ 
tung.  —  Auf  dem  Lande  heilte  man  durch  gutes 
Brot  und  passende  Nahrung,  durch  wiederholte  Vcnfi- 
seciionen  wegen  der  Schmerzen  in  dcu  Gliedern,  und 
durch  Cordialia  und  Wuud wässcr,  viele  Krauke.  — 
Im  Hospitale  aber  geoaseu  von  120,  theils  Operirtcn, 
theils  Nichlopcrirten,  kaum  5,  und  auch  diese  star¬ 
ben  nicht  lange  nachher.  — •  Salcrne15),  der  durch 
Verbuche  an  Thieren  die  Abhängigkeit  der  Krankheit 
vom  Genüsse  des  Mutterkornes  nach  wies,  gedenkt 
außerdem  noch  heftiger  Schmerzen,  einer  blassen  Ge¬ 
sichtsfarbe,  der  Abmagerung  bei  hartem  Unterleibe 
und  beschränkten  Sccrctionen,  und  heftiger  Kolik¬ 
schmerzen  mit  Diarrhöe;  als  Symptome  der  Krank¬ 
heit.  —  Schon  im  Beginne  waren  die  Befallenen  et¬ 
was  betrübt,  und  wurden  es  mit  der  Zunahme  des 
Lcbels  noch  mehr.  —  Appetit  uud  Schlaf  waren 
gut  — 

fi749  —  50.  wie.}  Die  nächste  hierhergehörige  Epidemie 
beschreibt  Boucher  1  ®).  —  Sie  herrschte  1749  auf  50 
io  der  Umgegend  von  Lille,  nach  den  Schrecknissen 


53 


# 


I.  Das  heilige  Feuer. 

des  Krieges,  gleichzeitig  mit  einer  Viehseuche,  und 
betiel  nur  die  ärmeren  Klassen  der  Landbewohner.  — 
Heftige  Krämpfe  der  Muskeln  der  Extremitäten,  und 
Schmerzen  in  Händen  und  Füfsen,  als  ob  sie  mit  ei¬ 
nem  glühenden  Eisen  durchbohrt  würden,  verkündig¬ 
ten  den  Eintritt  der  Krankheit.  —  Sic  traten  in  Pa- 
roxysmen  auf,  und  waren  zuweilen  mit  Brechneigung 
und  wirklichem  Erbrechen  verbunden.  —  Dies  erste 
Stadium,  das  aber  häufig  auch  mangelte,  währte  12 
bis  21  Tage.  —  Im  zweiten  Stadium  trat  im  be¬ 
fallenen  Gliede  ein  Gefühl  von  Einseschlafensein  und 
Kriebeln  mit  mehr  oder  minder  intensivem  Froste  ( Sen¬ 
timent  de  froid  plus  ou  moins  glacial)  ein,  und  Be¬ 
weglichkeit  und  Gefühl  erlosch;  stellte  sich  aber  mit 
Schmerzen  wieder  ein,  wenn  man  das  Glied  er¬ 
wärmte.  —  Die  Haut  war  blafs,  kalt,  gerunzelt; 
das  Glied  und  der  ganze  Körper  magerten  ab.  Dies 
Stadium  währte  beiläußg  10  Tage.  —  Die  dritte 
Periode  endlich  war  durch  livide  oder  dunkelrothe 
Färbung  der  Haut,  die  sich  bald  ins  Schwarze  zog, 
bezeichnet;  —  in  vielen  Fällen  war  die  Färbung  so¬ 
gleich  sehwarz.  —  Ging  Kälte  voraus,  so  erhoben 
sich  auf  dem  Fufse  oder  der  Hand  gelbliche  Phlyctä- 
nen,  deren  Grund  brandig  war.  Das  Glied  verlor  jetzt 
alle  Empfindung,  der  Puls  wurde  kaum  fühlbar,  die 
Kraftlosigkeit  vollkommen,  die  Augen  trübe,  das  Ge¬ 
sicht  runzlich  und  entstellt,  und  der  Tod  erfolgte  un¬ 
ter  Ohnmächten;  —  oder  der  Brand  beschränkte  sich 
am  Fufse  oder  der  Hand,  und  stiefs  diese  Theile  ab;  — 
Die  innerliche  Anwendung  der  Cardiaca  und  Diapho- 
retica,  laue  Bäder  und  aromatische  Einreibungen  der 
afficirten  Theile,  machten  die  Behandlung  aus;  die 
Amputation,  bevor  sich  der  Brand  umschrieben  hatte, 
fand  man  schädlich.  — 

Couvct  17),  der  dieselbe  Epidemie  in  Bethune 
beobachtete,  beschreibt  ßie  fast  ganz  so  als  Boucher, 


54 


f.  Das  hellipo  Feuer. 

nur  gedenkt  er  im  ersten  Stadium  keiner  eigentlichen 
Krampfe,  sondern  nur  äufserst  heftiger,  in  der  Bett¬ 
wärme  sehr  vermehrter  Schmerzen.  —  Für  das  ätio¬ 
logische  Moment  der  Seuche  hält  er  die  wechselnde 
Witterung  des  Jahres  1749;  —  seine  Behandlung  war 
antiphlogistisch.  — 
fi7«.  li'auinAatu.j  Ein  anderes  Beispiel  der  uns  beschäfti¬ 
genden  Krankheit  ereignete  sich  1762  zu  Wattisham 
an  einer  armen  Familie.  —  Vater,  Mutter  und  sechs 
Kinder  wurden  von  ihr  ergriffen,  und  die  meisten 
durch  sie  verstümmelt.  —  Heftige  Schmerzen,  schwarze 
Färbuug,  Taubheit,  und  cudlich  brandige  Zerstörung 
der  Extremitäten  bei  sonstigem  Wohlbefinden,  mach¬ 
ten  die  Erscheinungen  ihres  Leidens  aus.  —  Ein 
Maun,  der  von  dein  Brote  der  Familie  gegessen  hatte, 
kan\  mit  Taubheit  der  Hände  davon.  —  Die  Finger 
waren  kalt,  die  Fingerspitzen  pelzig,  und  ein  Dau¬ 
men  ganz  gefühllos  1  *).  — 

fi7G4.  *Jrro$  und  Douoi.j  Zwei  Jahre  später  herrschte  der  Er- 
gotismtis  wieder  in  der  Gegend  von  Arras  und  Douai.  — 
Der  vorausgegangene  Winter  war  sehr  kalt  gewesen, 
das  neue  Getreide  reich  an  Mutterkorn.  —  Zuerst 
empfanden  die  Kranken  heftige  Schmerzen  in  den  Ge¬ 
lenken,  mit  leichter  Anschwellung  und  etwas  Fieber, 
aber  ohne  sonstige  Spuren  der  Entzündung.  —  Nach 
10  bis  12  Tagen  gingen  dieselben  in  ein  Gefühl  von 
Taubheit  mit  äufserst  heftigem  Froste  über,  und  nach¬ 
dem  auch  dieses  Stadium  8  bis  10  Tage  gewährt  hatte, 
begann  der  Brand  an  den  Fingern  und  Zehen,  und 
schritt  alhnählig  gegen  den  Kumpf  weiter;  —  Füfse 
und  Beine,  Hände  und  Arme,  löstcu  sich  aus  ihren 
Gelenken,  und  fielen  ab.  —  Read  ,B)  reichte  im 
Beginne  der  Kraukhcit  säuerliche  und  diaphoretische 
Getränke,  gab  dann  gelinde  Abführmittel,  und  zuletzt 
die  China  in  groiaer  Gabe.  —  Auch  äufscrlich  wandte 
er  die  Kinde  au,  und  gab  den  Rath,  nur,  wenn  sich 


55 


I.  Das  heilige  Feuer. 

der  Brand  begränzt,  zwischen  dem  Lebenden  und  dem 
Todten  zu  amputiren.  — 

Ganz  dieselben  Er-  (mo.  Maine.  —  1771  und  77.  soiogne ) 
scheinungen  beobachtete  Read  1770  auch  in  der  Maine, 
und  Tessicr  20)  1774  und  77  in  der  Soiogne.  —  Alle 
diese  Jahre  waren  unfruchtbar,  und  es  mifsrieth  na¬ 
mentlich  1770  nicht  nur  in  Frankreich,  sondern  auch 
in  Deutschland,  wo  statt  des  Ergotismus  die  Kriebel¬ 
krankheit  herrschte,  die  Ernte  durch  deu  stürmischen 
feuchten  Sommer. 

In  unserem  Jahrhundert  erhob  sich  O813  — 16-  Dauphine.) 
der  Ergotismus  in  den  durch  Krieg,  Mifswachs  und 
Theurung,  namentlich  für  Frankreich  so  unheilvollen 
Jahren  1813  bis  16.  —  Die  Departements  de  la  Cote 
d’Or  und  de  l’Isere,  Theile  der  ehemaligen  Dauphine, 
wurden  am  schwersten  heimgesucht,  und  Francois, 
Janson,  Bouchet  u.  a.  21),  haben  uns  die  Beschrei¬ 
bung  dieser  Seuchen  überliefert.  —  Im  Hospitale  zu 
Lyon,  wo  man  1818  gegen  40  solcher  Kranken  auf- 
nahrn,  war  nur  bei  einem  einzigen  die  obere  Extre¬ 
mität  befallen;  —  mehre  verloren  nur  einige  Zehen, 

5  bis  6  den’ Fufs;  18  bis  20  den  Unterschenkel,  und 
drei  den  Oberschenkel.  —  Die  Epidemie  begann  im 
Departement  de  l’Jsere,  unmittelbar  nach  der  Ernte;  — 
das  Getreide  enthielt  ein  Drittel,  ja  die  Hälfte  Mutter¬ 
korn,  und  schon  5  bis  6  Tage  nach  dem  Genüsse  des 
aus  ihm  gebackenen  Brotes  traten  die  ersten  Symptome 
der  Krankheit  auf.  —  Ein  Gefühl  von  Müdigkeit 
in  den  unteren  Extremitäten,  tiefe  und  lancinirende 
Schmerzen,  die  in  der  Nacht  exacerbirten ,  machten 
den  Anfang.  —  Es  dauerte  oft  14  bis  21  Tage,  be¬ 
vor  Gangrän  eintrat.  —  Eisiger  Frost  und  anhal¬ 
tende  Schmerzen  gingen  ihr  voraus  lind  begleiteten 
sie,  bis  sich  die  Entzüudungsgränze  zwischen  ihr  und 
dem  Gesunden  gezogen  hattö.  —  Die  afficirten  Glie¬ 
der  waren,  obgleich  ganz  kalt,  für  die  Berührung 


56 


I.  I)as  heilige  Fencr. 

6chr  empfindlich;  bald  bildeten  sich  Blasen,  und  die  Haut 
wurde  violett,  livid  und  schwarz.  —  Nur  an  der  Pc- 
marcationslinic  des  Brandes  gab  es  äufeerst  übelriechende 
Verjauchung,  am  übrigen  Gliede  waren  die  Wcichthcile 
vertrocknet,  hornartig  und  schwarz;  —  sie  fielen,  wie 
ganze  Glieder,  ohne  Blutung  ab.  —  Opium,  zu  3  bis 
4  Gran  täglich,  beschwichtigte  die  Schmerzen,  hob  dcu 
kleinen  Puls,  und  beförderte  die  Bildung  der  Entzündungs- 
gränze.  —  Amputirt  wurde  nur  im  Todten,  wenn  die 
Naturkraft  nicht  zur  Absetzung  hinreichte.  — 

Etwas  anders  verlief  die  Krankheit  im  Departement 
de  la  Cötc  d’Or.  —  Sie  begann  hier  meistens  mit  eiuera 
Gefühl  von  allgemeinem  Taubsein,  mit  einer  Art  von  Trun¬ 
kenheit  und  Sinnestäuschungen;  —  der  Bauch  trieb  sich 
auf  und  wurde  schmerzhaft,  die  Haut  trocken,  blafs,  gelb 
vorzüglich  im  Gesichte,  und  um  die  Augen;  —  einige 
Kranke  hatten  Rothlauf  dieser  Theile;  —  die  Leidenden 
sahen  betäubt  ( hebetes )  aus ,  und  fühltcu  sich  sehr 
schwach;  —  der  Puls  war  klein  und  häufig;  —  Schläf¬ 
rigkeit,  Unruhe,  eine  unerträgliche  Hitze  im  Inneren  des 
Körpers,  Störungen  aller  Functionen  waren  zugegen.  —  Ein 
anfangs  dumpfer,  dann  aber  zerreifsender  Schmerz  begann 
gewöhnlich  nach  24  Stunden  an  den  Endpunkten  eines 
Gliedes;  dieses  schwoll  an,  jedoch  ohne  alle  Temperatur¬ 
zunahme,  in  der  Regel  mit  Kälte;  —  die  Haut  wurde  vio¬ 
lett  und  sprang  auf;  —  cs  bildete  sich  Gangrän  und  all- 
mählig  Sphacclus.  —  Von  den  Zehen  oder  den  Fingern 
ging  der  Brand  auf  Füfse  und  Hände,  Beine  und  Arme 
über,  und  während  manche  Individuen  nur  einzelne  Pha¬ 
langen  verloren,  die  sic  zuweilen  in  ihren  Handschuhen 
oder  Strümpfen  fauden,  sah  Cour  haut  eiu  Mädchen  von 
10  Jahren,  dessen  vier  Extremitäten  bis  zum  Rumpfe  spha- 
cclös  waren,  ohne  dafe  das  Sensorium  im  geringsten  ge¬ 
stört  gewesen  wäre.  —  Diese  Gangrän  verbreitete  einen 
so  fürchterlichen  Geruch,  dafs  die  Verwandten  die  Kran¬ 
ken  verlielseu;  —  sic  ergriif  gewöhnlich  die  tiefer  liegen- 


57 


1.  Das  heilige  Feuer. 

den  Theile  früher,  als  die  Haut,  und  ein  Lanzeltenstich 
schmerzte  nicht  mehr,  wenn  er  die  äufseren  Bedeckungen 
durchbohrt  hatte.  —  Bei  manchen  Kranken  kam  es  nicht 
zum  Brande,  obgleich  sie  Ameisenlaufen,  dumpfe  Schmer¬ 
zen,  violette  Färbung  der  Haut  u.  s.  w.  hatten;  allein 
lange  Zeit  behielten  sie  noch  ihr  betrübtes  Aussehen,  und 
Schwäche  in  den  unteren  Extremitäten.  —  Andere  hat¬ 
ten  nur  Mattigkeit,  Schwindel  und  brennende  Schmerzen 
im  Magen,  die  sich  durch  mehr  oder  minder  hartnäckige 
Diarrhöen  entschieden.  —  Säugenden  Frauen  versiegte 
die  Milch  und  schwanden  die  Brüste.  —  Die  Weiter¬ 
verbreitung  der  Gangrän  währte  zuweilen  30  bis  40  Tage. 
Sobald  sie  sich  aber  beschränkt  hatte,  waren  die  Kranken 
fieberlos,  afsen,  tranken  und  schliefen,  wie  Gesunde.  — 
Brechmittel  aus  Ipecacuanha,  und  dann  innerlich  und  äufser- 
lich  Campher,  Spiritus  camphorat.,  China  und  Vinum  aro- 
maticum,  und  endlich  das  Opium,  machten  die  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  von  günstigem  Erfolge  gekrönte  Be¬ 
handlung  aus.  — 

So  weit  die  mir  zugänglichen  Beschreibungen  des  Er- 
gotismus.  —  Es  bedarf  wohl  nur  eines  flüchtigen  Ueber- 
blickes  dieser  Epideinieen,  um  die  Differenz  des  fragli¬ 
chen  Leidens  von  der  Kriebelkrankheit,  wie  sie  Schenk, 
Lin  ne,  Taube  u.  a.  beschrieben,  in  allen  Erscheinungen 
zu  erkennen,  eine  Differenz,  die  durch  die  Analogie  der 
ätiologischen  Momente  beider  Krankheiten  —  schlechtes, 
durch  fremdartige  Beimischung  verunreinigtes  Getreide  — 
gewifs  nicht  annullirt  wird.  —  Beruhe  nun  die  Verschie¬ 
denheit  beider  Leiden,  wie  die  Franzosen  meinen,  auf 
einer  wirklichen  Differenz  des  Causalmomentes,  entstehe 
Kriebelkrankheit  durch  Raphanus  Raphanistrum ,  und  Ergo- 
tismus  durch  Secale  cornutum,  oder  seien  beide  die  Pro- 

i 

dukte  einer  und  derselben  schädlichen  Potenz  —  des  Mut¬ 
terkornes  —  unter  verschiedenen  Verhältnissen,  z.  B.  in 
verschiedenen  Ländern,  Klimaten,  bei  verschiedenen  Arten 
des  Säens  u.  s.  w.  —  eine  Untersuchung,  die  nicht  in  den 


58 


I.  Das  heilige  Feuer. 

Bereich  meiocr  Aufgabe  gehört  —  beide  haben  nicht  mehr 
mit  einander  gemein,  als  die  allgemeinen  Begriffe  Krampf 
und  Brand.  —  Dafs  in  einer  —  der  von  Boucher  be¬ 
schriebenen  —  Epidemie  des  Ergotismus,  Krämpfe  als 
Symptom  des  ersten  Stadiums  genannt  werden,  und  dafs 
zuweilen  in  der  Kriebelkrankheit  Blasen  auf  der  Haut  auf- 
schiclscn,  beweist  nichts  für  die  Identität  beider  Ucbel, 
sondern  höchstens,  dafs  ein  und  derselbe  Acker  Mutter¬ 
korn  und  Raphanus  Raphanistruin  tragen, kann,  oder  dafs, 
wenn  beide  Krankheiten  dem  Mutterkorne  ihr  Entste¬ 
hen  verdanken,  Uebergangsformen  zwischen  ihnen  Vor¬ 
kommen.  — 

Wer  daher  die  Identität  des  heiligen  Feuers  des  Mit¬ 
telalters  mit  der  Kriebelkrankheit  als  ungereimt  zurück¬ 
weist,  hat  damit  noch  nicht  die  Meinung,  Ergotismus 
und  Iguis  saccr  seien  eine  und  dieselbe  Krankheit,  wider¬ 
legt.  — 

Stellen  wir  aber  Symptome  neben  Symptome,  so  fin¬ 
den  wir  die  auffallendste  Analogie.  —  Auch  der  Ergo¬ 
tismus  ist  ein  Morbus  tabilicus,  die  Kranken  magern  ab, 
und  sehen  blais  und  cachectisch  aus;  wir  finden  bei  ihm, 
wie  bei  dem  heiligen  Feuer,  die  heftigen,  unerträglichen 
Schmerzen,  die  lividc  und  schwarze  Färbung  der  Haut, 
das  subicctivc  und  objcctive  Frostgefühl,  das  die  Beobach¬ 
ter  des  Ignis  sacer,  wie  die  des  Ergotismus,  eine  eisige 
Kälte  (frigor  glacialis  —  froid  glacial)  neunen.  —  Wie 
im  heiligen  Feuer,  scheint  sich  die  durch  Mutterkorn  ver- 
anlafstc  Gangrän  von  innen  nach  aufsen  zu  bilden,  die 
tiefer  liegenden  Theile  früher  als  die  Haut  zu  zerstören; 
wie  dort,  schieisen  auch  hier  zuweilen  Brandblasen  auf, 
häufiger  mangeln  sic;  —  wie  dort,  schrumpfen  auch  hier 
die  Theile  zusammen,  und  werden  sphacclös,  oder  siezer¬ 
setzen  sich  in  häfslicher  Fäulnifs.  —  Die  Weichthcilc 
fallen  vou  den  Knochen,  der  Geruch  verpestet  die  Luft, 
einzelne  Articulationen  trennen  sich,  und  ganze  Extremi¬ 
täten  fallen  ab.  —  Und  bei  allen  diesen  heftigen  Symplo- 


I.  Das  heilige  Feuer.  59 

men  sind  die  vom  Ergotismus  Befallenen  in  der  Regel  fie¬ 
berlos,  ihre  Efslust  ist  gut,  ihr  Schlaf  häufig  ruhig,  selbst 
die  Beweglichkeit  der  ergriffenen  Theile  erhält  sich  oft 
ziemlich  lange  (Lang);  —  nur  wenn  der  Brand  sich  un¬ 
aufhaltsam  gegen  den  Rumpf  hin  weiter  verbreitete,  er¬ 
folgte  der  Tod  unter  Ohnmächten  u.  s.  w.  —  #  Doch  sah 
man,  wie  bei  der  Feuerpest,  Individuen,  die,  nachdem 
sie  alle  Extremitäten  verloren,  noch  mehre  Tage  lebten.  — 
Wie  bei  dem  Ignis  sacer,  bedurften  daher  die  Kranken 
am  Ergotismus  eines  Wohlthäters,  der  sie  täglich  speisete, 
konnten  sie,  wenigstens  in  den  ersten  Perioden  der  Krank¬ 
heit,  die  Strafsen  und  Kirchen  mit  ihren  Wehklagen  fül¬ 
len,  und  sich  in  den  zu  ihrer  Aufnahme  bestimmten, 
selbst  ziemlich  entfernten  Hospitälern  stellen.  —  Wie  die 
Zerstörungen  des  heiligen  Feuers  nicht  immer  auf  die  Ex¬ 
tremitäten  beschränkt  waren,  so  auch  die  des  Ergotis¬ 
mus.  —  Dodart  sah  1674  in  der  Sologne  den  Brand 
zuweilen  die  Nase  ergreifen,  und  in  der  Seuche  des  De¬ 
partements  de  la  Cöte  d’Or  kam  wenigstens  Röthung  des 
Gesichtes,  wie  von  Rothlauf,  wenn  auch  keiue  Gangrän 
dieser  Theile  vor.  —  Wie  in  manchen  Feuerseuchen, 
sah  man  Convulsionen  in  der  Epidemie  von  Lille,  und  wie 

sich  Recidive  des  Ignis  sacer  vorfinden,  so  erzählt  auch 

\ 

Sa  lerne  von  zweimaligem  Befallen  des  Ergotismus.  — 
Der  Verlauf  beider  Krankheiten  ist  nicht  sonderlich  rasch, 
und  wie  es  Epidemieen  des  heiligen  Feuers  gab,  die  fast 
alle  Befallenen  tödteten,  und  andere,  in  denen  verhältnifs- 
mäfsig  Wenige  starben,  so  hat  man  auch  gutartige  und 
bösartige  Seuchen  des  Ergotismus  gesehen.  — 

Bei  solcher  Aehnlichkeit  der  Erscheinungen  möchte  cs 
fast  überflüssig  erscheinen,  noch  andere  Beweise  für  die 
Identität  beider  Leiden  anzuführen,  doch  möchten  noch 
folgende  Punkte  einer  Berücksichtigung  werth  sein: 

1.  Sind  es  fast  dieselben  Länderstriche,  welche  vom 
heiligen  Feuer  und  Ergotismus  vor  anderen  heimge¬ 
sucht  worden  sind,  und  wir  begegnen  dem  letzten 


60 


I.  Das  Iieilifrc  Feuer. 

fast  nirgends,  wo  nicht  mehre  Jahrhunderte  früher 
das  erste  gehaust  hat.  —  Flandern,  die  Dauphiuc, 
die  Gegend  von  Arras  und  von  Orleans,  wurden  von 
beiden  Krankheiten  schwer  getroffen;  und  Deutsch¬ 
land,  Italien,  die  nördlichen  Reiche,  von  beiden 
verschout.  — 

2.  Zeigt  sich  der  Ergotismus,  wie  das  heilige  Feuer, 
vorzüglich  nach  kalten  Wiutern,  in  feuchten,  un¬ 
fruchtbaren  Jahren.  —  Ilungcrsnoth  und  Theurung 
geht  daher  häuGg  mit  beiden  Krankheiten  Hand  in 
Hand;  —  beide  waren  zuweilen  während  verhee¬ 
render  Kriege  epidemisch,  und  kamen  nie  in  geseg- 

•  ncten,  fruchtbaren  Jahrgängeu  vor. 

3.  Finden  sich  in  der  Geschichte  der  Feuerpest  einige 
Thatsacheu  erwähnt,  die  darauf  hindcutcn,  dafs 
diese  Krankheit,  wie  der  Ergotismus,  durch  Brot, 
welches  aus  verdorbenem  Getreide  gebacken,  ent¬ 
standen  sei.  —  Sollte  das  blutende  Brot  —  1089 
in  der  Dauphine  —  nicht  dem  Mutterkorne  seine 
dunkele,  blutartige  Farbe  verdankt  haben;  —  sind 
nicht  vielleicht  selbst  viele  der  Heilungen  in  den 
Klöstern  auf  Rechnung  der  besseren  Nahrung  zu 
schreiben,  die  den  Kranken  dort  gereicht  wurde?  — 
Hugo  Capet  speiste  in  Nötre-Dame  täglich  au 
600  Kranke,  und  die  meisten  genasen.  Metire  aber, 
die  nach  Hause  gingen  (und  sich  von  ihren  frühe¬ 
ren  Alimenten  nährten),  wurden  wieder  vom  hei¬ 
ligen  Feuer  befallen,  und  erst  geheilt,  als  sie  zur 
Kirche  —  (zu  der  vom  Herzog  gereichten  Kost)  — 
zurückkehrten.  — 

4.  Zeigen  die  wenigen  Data,  welche  über  die  Jahres¬ 
zeit  der  Fcuercpidcmiccn  auf  uns  gekommen  sind, 
dafs  auch  der  Ignis  sacer,  wie  der  Ergotismus, 
kurze  Zeit  nach  der  Ernte  eintrat,  und  im  August 
und  September  seine  gröfsten  Verheerungen  au- 
richtete. 


61 


I.  Das  heilige  Feuer. 

5.  Stimmen  Ergotismus  und  heiliges  Feuer  auch  in  Be¬ 
zug  auf  die  Ausbreitung  und  Dauer  ihrer  einzelnen 
Epidemieen  mit  einander  überein.  —  Die  einzel¬ 
nen  Seuchen  waren  fast  immer  auf  einzelne  Pro¬ 
vinzen  und  Jahrgänge  beschränkt,  und  die  Geschichte 
beider  Krankheiten  enthält  kein  Beispiel  einer  Aus¬ 
breitung  über  grofse  Länderstrecken,  kein  Beispiel 
einer  durch  Contagium  oder  fortschreitende  Umän¬ 
derung  der  atmosphärischen  Verhältnisse  vermittel¬ 
ten  Wanderung  der  Epidemie  von  Ort  zu  Ort,  von 
Land  zu  Land.  —  Nur  wenn  zwei  oder  mehre 
auf  einander  folgende  Jahre  Mifswachs  und  Mangel 
brachten,  herrschte  auch  Ignis  sacer  und  Ergotis- 
mus  mehre  Jahre  nach  einander;  in  allen  anderen 
Epidemieeu  scheint  der  Frühling  des  folgenden  Jah¬ 
res  ihren  Verheerungen  ein  Ziel  gesetzt  zu  haben.  — 
Ich  bin  daher  der  Meinung,  dafs  das  epide¬ 
mische  heilige  Feuer  des  Mittelalters,  der  Ignis 
sacer  oder  Sancti  Autonii,  eine  und  dieselbe 
Krankheit  mit  der  durch  Secale  cornutum  er¬ 
zeugten  Gangrän,  dem  Ergotismus  der  Franzo¬ 
sen,  sei.  — 

Dafs  die  Nachrichten  über  das  heilige  Feuer  die  Zahl 
der  Todten  994  in  Aquitanien  auf  40,000  angeben,  und 
die  gröfste  Mortalität  des  Ergotismus  in  der  freilich  viel 
kleineren  Sologne  1747  nur  auf  8000  geschätzt  wird,  be¬ 
weist  nichts  gegen  die  Identität  beider  Uebel;  —  denn 
abgesehen  von  der  Unzuverlässigkeit  der  meisten  Zahlen¬ 
angaben  über  die  Epidemieen  des  Mittelalters,  ist  es  wohl 
natürlich,  dafs  zu  einer  Zeit,  in  der  der  Ackerbau  noch  so 
weit  hinter  dem  unserer  Zeit  zurück  war,  in  der  die  ve¬ 
getabilischen  Alimente  noch  bei  weitem  nicht  so  mannig¬ 
faltig  waren,  als  jetzt,  in  welcher  fast  die  ganze  Popula- 
tiou  auf  die  neue  Ernte  angewiesen  war,  und  ein  Mifs- 
jahr  Hungersnoth  herbeizuführen  vermochte,  Mutterkorn 
häufiger  und  in  gröfserer  Menge  Vorkommen,  namentlich 


62 


I.  Das  heilige  Fcncr. 

aber  in  weit  gröfsercr  Ausdehnung  schfidlich  auf  die  Be¬ 
völkerung  cinwirken  inufstc,  als  jetzt.  —  Auch  kannte 
inan  damals  die  Veranlassung  der  furchtbaren  Krankheit 
noch  nicht,  uud  wufstc  sich  nicht  vor  ihr  zu  wahren.  — 
Hieraus  erklärt  es  sich  auch,  weshalb  vom  heiligen  Feuer 
nicht  immer,  wie  vom  Ergotismus,  nur  die  Armen,  son¬ 
dern  in  einzelnen  Epidemieen  selbst  die  Vornehmeren  er¬ 
griffen  wurden.  —  In  den  Klöstern  und  Stiften  aber 
speicherte  man  wohl  auch  schon  damals  das  Getreide 
mehre  Jahre  auf,  die  Nahrung,  welche  man  dort  den  ar¬ 
men  Kranken  reichte,  war  gesunder,  und  sic  genasen.  — 
w  isseu  wir  doch  auch  aus  der  Geschichte  des  Ergotismus, 
dafs  zuweilen  schon  Aenderung  des  Alimentes  zur  Heilung 
der  Kranken  hinreichte.  — 

Eben  so  wenig  zeugt  cs  wohl  gegen  die  Identität  bei¬ 
der  Ucbel,  dafs  in  einzelnen  Seuchen  des  Ergotismus  einer 
schmerzhaften  Auftreibung  des  Unterleibes,  einer  mehr 
icterischen  Hautfarbe  des  ganzen  Körpers,  beunruhigender 
Träume,  leichter  febrilischcr  Symptome  ix.  s.  w. ,  iu  meh¬ 
ren  eines  gewissen  Stumpfsinnes  und  betrübten  Aussehens 
gedacht  wird,  Erscheinungen,'  die  keiner  der  Chronisten 
vom  heiligen  Feuer  auiTührt,  und  dafs  sich  verschiedene 
Heilmethoden  eines  günstigen  Erfolges  gegen  den  Ergotis- 
mus  rühmen,  während  das  heilige  Feuer  den  Aerzten  des 
Mittelalters  unheilbar,  ein  Merkmal  des  göttlichen  Zornes 
war.  —  Denn  abgesehen  davon,  dafs  keine  Epidemie  der 
anderen  vollkommen  gleich  ist,  und  dafs  auch  in  mehren 
Epidemieen  des  Ergotismus  die  fraglichen  Symptome  nicht 
vorkameu,  ist  wohl  die  Medicin  unserer  Tage  eine  ge¬ 
nauere  Beobachtern,  als  die  jener  finsteren  Zeiten,  in 
denen  die  Feuerpest  herrschte,  hat  unsere  Therapeutik 
wohl  manchen  Feind  besiegt,  der  vordem  für  unüberwind¬ 
bar  galt.  — 

Die  wesentlichen  Symptome  des  heiligen  Feuers  und 
des  Ergotismus  sind  vollkommen  dieselben,  der  Verlauf, 
die  Ausbreitung,  das  Vorkommen  ihrer  Epidemieen  ist 


I.  Das  heilige  Feuer.  63 

übereinstimmend,  so^dafs  es  mir  wenigstens  durchaus  nicht 
zweifelhaft  ist: 

Ignis  saccr  war  Ergotismus.  — 


So  weit  diese  Untersuchungen  über  den  Ignis  saccr.  — 
Ich  hatte  sie  leicht  erweitern  können,  wenn  ich  auf  die 
Differenzen  des  Getreidebaues  im  Mittelalter  und  in  unse¬ 
rer  Zeit,  wenn  ich  auf  die  Topographie  der  vom  heiligen 
Feuer  und  später  vom  Ergotismus  befallenen  Provinzen 
cingegangen  wäre;  allein  ich  wollte  den  Leser  nicht  er¬ 
müden.  —  Die  vielbesprochene  Frage,  oh  das  Mutter¬ 
korn  wirklich  den  Ergotismus  erzeuge,  nochmals  aufzu¬ 
greifen  und  zu  erörtern,  hielt  ich  nach  Salernc’s,  Read’s 
und  Tessier’s  Versuchen  an  Thieren  für  überflüssig.  — - 
Meine  Aufgabe  war  historische  Darstellung  der  Feuerpest 
nach  den  Quellen,  und  Prüfung  der  über  ihre  Natur  aus¬ 
gesprochenen  Meinungen;  keine  pathologisch- therapeutische 
Darstellung  des  Ergotismus.  —  Von  diesem  Gesichts¬ 
punkte  aus,  bitte  ich,  diese  Blätter  zu  beurtheilen.  — 


Citate  und  Bern  erklingen. 

A.)  Zur  Einleitung. 

1)  Celsus,  de  re  rnedica.  L.  V.  S.  28.  c.  4. 

2)  Lucretius,  de  rerum  natura.  L.  VI.  v.  656  —  62. 

3)  Ibidem  vers.  1165  —  66. 

4)  Virgilii  Maronis,  Georgic.  L.  III.  v.  559—  66. 

«  Verum  ctiam  invisos  si  quis  tentarat  amictus 
Ardentes  papulae  atque  immundus  olentia  sudor 
Membra  sequebalur.  Nec  longo  deinde  moranti 
Tempore  coutactos  artus  sacer  ignis  edebat. » 

Die  Papulae  ardentes  machten  demnach  nur  die 
Vorläufer  des  heiligen  Feuers,  nicht,  wie  Krause 
(Ueber  das  Alter  der  Menschenpocken,  n.  130.)  meint, 
den  Ignis  saccr  selbst  aus. 


64 


I.  Das  heilige  Feuer. 

5)  Plinii  Secundi,  Natur,  histor.  L.  XXVI.  c.  74. 

6)  Scribonii  Largi,  de  compos.  mcdic.  e.  106. 

7)  Marcclli  Empirici,  de  mcdicamcnt.  c.  20. 

8)  Seren i  Samonici.  de  mcdicina  praecepta  saluber- 

rima  c.  41.  «  Igni  sacro  demovendo. » 

«  Est  ctiam  morbi  spccics,  quac  dicitur  ignis 
Languida  quo  raulto  torrentur  membra  calore.  “ 

9)  Scnecae,  Ocdip.  Act.  I.  v.  180  —  196. 

10)  C  oluuiclla  de  rc  rustica.  L.  VII.  c.  5. 

11)  Ich  kann  der  Ansicht  Krause’«,  dafs  die  Pusula 
des  Columella  identisch  mit  den  Schnafblattcrn  sei, 
nicht  beipfliebten.  —  Wie  könnte  dieser  Autor,  wenn 
anch  rnifsbilligend,  von  einer  Anwendung  des  Messcrä 
in  diesem  über  den  ganzen  Körper  verbreiteten  Exan¬ 
theme  sprechen,  wie  Ucberschlägc  (Fonienta)  empfeh¬ 
len?  —  Wozu  wäre  bei  den  Pocken,  die  vorzüglich 
an  den  mit  wenig  Wolle  versehenen  Theilen  ausbre¬ 
chen,  die  Untersuchung  des  Rückens  noth wendig?  — 
dafs  dieser  Theil  aber  vorzüglich  den  Silz  des  Kar¬ 
bunkels,  des  bösen  Rausches  u.  s.  w.  bildet,  ist  ans 

1‘edera  Handbucbe  der  Vetcrinarmedicin  zu  ersehen.  — - 
Jeher  wollte  ich  noch  die  Ostigo  Tür  Pocken  gelten 
lassen. 

12)  Avicenna,  Canon  Lib.  IV.  Fen.  III.  Tr.  1.  c.  9. 
«  IJaec  duo  nomina  (pruna  et  ignis  pcrsicus)  fortasse 
absoluta  sunt  super  omnem  pustulam  corrosivam,  ve- 
sicantem,  adurentem,  facicntein  accidere  escaram,  qua- 
lcm  facit  aceiderc  combustio  et  cauterium.” 

13)  Rhazcs,  Lib.  Division,  c.  133. 

14)  Avicenna.  Canon.  Lib.  IV.  Fen.  III.  Tr.  1.  c.  1.  und 
c.  9. 

15)  Alsabara  vii  (Albucasis),  Liber  practic.  Tr.  29. c.  6. 

16)  Mesue,  Sect.  II.  P.  II.  Summa  1.  cap.  6. 

17)  Rhazes,  Continens  L.  XVIII.  c.  8. 

18)  Avicenna,  Canon.  L.  IV.  Fen.  4,  Tr.  3.  c.  1. 

19)  Mesue,  1.  c. 

20)  Ilaly  filii  Abbas,  Theor.  L.  VIII.  c.  14. 

21)  Constantin.  Afric.  de  commun.  loc.  L.  VIII.  c.  14. 

22)  Ejusdcm,  de  rnorb.  cogn.  et  cur.  L.  VII.  c.  15. 

23)  Gariopontus,  de  worb,  caus.,  accid.  ct  curat.  L.  V. 
c.  31. 


24)  Lau- 


( 


I.  Das  heilige  Feuer.  65 

24)  Lanfranclii,  Chirurgia.  C.  11. 

25)  Petri  de  Largel  ata,  Chirurgia.  L.  I.  c.  1.  3.  9. 

26)  Joannis  de  Vigo,  Practica  iu  arte  chirurgica.  L.  II. 
Tr.  I.  c.  10. 

27)  Fabricii  de  Acquapcndente,  Opp.  chirurg.  L.  I. 
c.  12. 

/  H 

28)  Gordonii,  Lilium  mcdicinac.  Lugdun.  8.  1550. 
p.  710.  De  prognosticis.  Part.  I. 

«Modus  autem  generationis  apostematis  cholerici, 
quod  appellatur  herysipilla,  est  sicut  de  sanguine  et 

ila  de  aliis  huinoribus. - Si  autem  inßammetur 

cholera,  generat  pessima  scandala,  quia  scindit  mem- 
bra  ut  gladius,  et  tune  causatur  sacer  ignis. » 

29)  Guidonis  de  Gauliaco,  Chirurg,  magua.  Tr.  I. 
Doctrina  II.  Cap.  2. 

«Est  ergo  carbuuculus,  sive  pruna,  sive  ignis  per- 
sicus  vel  sacer  (quae  quasi  pro  eodem  accipit  Avi- 
cenna)  pustula  phlegmouica,  mala  et  cet.  » 

«Esthiomeuus,  licet  proprie  non  sit  pustula,  est 
tarnen  effeclus  pustularum  et  ipsius  cura  eis  propor- 
tione  respondet.  —  Est  autem  mors  et  dissipatio 

membri - cum  putrefactione  et  mollificatione. - 

Esthiomeuus  vulgariter  dicitur  ignis  Sti  Antonii 
aut  Sti  Ma rti alis.  —  Es t hi o men us  vocatur  gan- 
graena  apud  Graecos.  » 

30)  Yales co  a  Taranta,  Philonium  L.  VII.  c.  4. 

« Carbunculus  est  apostema  ex  grosso  sanguine 
natum  —  —  vocatur  etiam  ignis  persicus  a  calore 
blanco  qui  ydiomate  occilano  vocatur  peser.  Alii  vo- 
cant  ignem  sacrum  vel  ignem  Scti  Antonii,  quia 
sanctis  recomendantur  tales.  ” 

31)  Manardi,  Epistol.  medic.  Basil.  1549.  L.  VII. 

32)  Tagault,  Institution.  Chirurgie.  Venct.  1544.  L.  I. 
p.  50. 

33)  Musitani,  Chirurgia.  Colon.  1698.  T.  I.  p.  45  und 63. 

34)  Foresti,  Obscrv.  Chirurgie.  L,  I.  obs.  13. 

35)  Wier i,  Observat.  über.  Arastelodami.  1657.  p.  119. 

36)  Gersdorf,  II.  v.,  Feldarzneibucb.  Strafsburg.  4. 
1517.  fol.  66.  —  Cap.  XXI il.  —  Gersdorf  hat  sei¬ 
ner  Abhandlung  über  den  Brand  oder  das  St.  An- 

5 


Band  28.  Heft  1. 


66 


I.  Das  heilige  Fener. 

thonienfewr  auch  zwei  Holzschnitte  beigegeben, 
von  denen  der  erste  mit  der  Uebei  schrift: 

«  O  heylger  Herr  Antony  grofs 
Erwerb’  uns  Gnad  on  underlofs 
Ablofs  der  sDnd,  gots  buld  und  gunst 
Behüt  uns  vor  dein  schwere  Brunst.  Ä 
den  Heiligen  und  einen  zu  ihm  betenden  Mann  olrtic 
rechten  Fufs  und  mit  angeschwollener,  verunstalteter 
Hand,  der  zweite  aber  eiue  Amputation  vorstellt  uud 
das  Motto  fuhrt: 

«Arm,  bein  abschnciden  hat  sein  kunst 
Vertrieben  sanct  Anthonien  Brunst 
Gebürt  auch  nit  eiin  yeden  zu 
Er  schick  sich  dann  wie  ich  im  thu. »» 

37  )  Forest,  1.  c.  L.  II.  obs.  5. 

3*i  )  Wicrus,  1.  c. 

39)  Erysipelas  latinis  ignis  sacer  nominatur.  —  Lconh. 
Fuchsius,  de  medendis  morbis.  L.  V.  c.  3. 

40)  Forest,  1.  c.  —  Sorbait,  Med.  pract.  T.  V.  c.  5. 

41)  Carrionis  Chronicon  exposit.  a  Pbilippo  Me* 
lanchthonc.  Fcft.  8.  1594.  —  p.  225. 

42)  Sau  vages,  Nosologia  uiethodica.  CI.  III.  O.  I.  G.  VII. 
Sp.  5. 

43)  Schnurrer,  1.  c.  p.  198. 

4t)  Henslcr,  Geschichte  des  abendländischen  Aussatzes, 
p.  213. 

45)  Auch  Fodere,  Ozanam  und  Raymond.  I.  c. 

46)  Krause,  Ueber  das  Alter  der  Menschenpocken, 
p.  159  etc. 

47)  Raymond,  Ilistoire  de  TElephantiasis.  p.  115. 

48)  Schnurrer,  1.  c.  p.  278. 


B.J  Zum  ersten  Kapitel. 

1)  Annal.  Xantens,  in  Pertz,  Monum.  II.  p.  230. 

«  Plaga  magna  vcsicarum  turgentium  grassatur  in 
populo  et  detestabili  cos  putredine  cousumpsit,  ita  ut 
inerubra  dissoluta  ante  mortem  deciderent. » 

2)  Annal.  Bertinian.  in  Bouquet  VII.  71  und  73.  Chro¬ 
nic.  Elnon.  in  Martenius  III.  Ancid,  c.  1390. 


I 


I.  Das  heilige  Fener.  67 

3)  Sclinurrcr  I.  c.  p.  186.  nach  Hist.  F.  S.  Ge n  ul f.  — 
Ch  ronic.  Ac.  Cab.  —  Commera.  Abbat.  Lemov.  S. 
Mart.  etc.  —  Nach  Villalba  T.  1.  p.  3t).  starb  Don 
Fruela,  der  dritte  Sohn  Alonso’s  des  Grofsen,  923 
an  der  Lepra. 

4}  Frodoardi  Chronic.  —  Bouquet  VIII.  p.  179. 

5)  Frodoardi,  Chronic.  —  Herrn.  Contract.  —  und 
Chron.  Andegav.  in  Bouquet  VIII.  p.  198,  251  und 
252.  —  Annal.  St.  Gail,  in  Per tz  I.  p.  78.  —  Chron. 
Heppidan.  bei  Du  Chesne  III.  p.  475. 

6)  a.  Frodoardi  Chronic.  1.  c.  p.  199: 

«In  pago  Parisiacensi ,  nec  non  etiam  per  divisos 
circumquaque  pagos  hominum  diversa  mernbra  ignis 
plaga  pervaduntur:  quaeque  sensim  adusta  consum- 
mebantur,  donec  mors  tandem  finiret  supplicia:  quo- 
rum  quidam,  uonnulla  Sanctorum  loca  potentes,  eva- 
sere  tormenta.  Plures  tarnen  Parisius  in  Ecclesia 
Sctae  Dei  Genetricis  Mariae  sanati  sunt,  adeo  ut 
quotquot  illo  pervenire  poverint,  asserantur  ab  hac 
peste  salvati:  quos  Hugo  quoque  Dux  stipendiis 
aluit  quotidianis.  —  Ilorum  dum  quidam  vellent 
ad  propria  redire,  extincto  referveseuut  inceudio, 
regressique  ad  Ecclesiam  liberantur. » 

b.  Fauchet,  Hist,  de  Fr.  in  Schnurr.  I.  189: 

«Lors  courrut  an  territoire  de  Paris  une  maladie 
de  feu  brullant  les  membres  des  hommes  si  doulou- 
reusement,  que  plusieurs  moururent;  et  des  autres 
penserent  avoir  ete  gueris  en  visitant  les  Eglises  et 
lieux  saints  principalement  celle  de  la  Vierge  Marie 
qui  est  la  cathedrale  de  la  ditte  ville  et  un  petit 
oratoire  de  l’isle  dedie  ä  Sainte  Ge n efie ve  prit  le 
nom  des  ardens  soit  qu’il  servit  d’hopital,  ou  que 
des  miracles  y  fussent  ete  faits.  » 

c.  Henri  Sauval,  Hist,  de  Paris  Vol.  II.  p.  557: 

«En  945  et  non  point  en  1130  cornme  dit  du 
Breul,  quantile  de  monde  taut  ä  Paris  qu’aux  en- 
virons  perit  d’une  maladie  appellee  le  feu  sacre  ou 
les  ardents.  Ce  mal  les  bruioit  petit  a  petit;  et 
enfin  les  consummoit  saus  qu’on  put  y  remedier. 
Pour  s’en  preserver  ou  en  guerir,  ceuz  de  Paris 
quittoient  la  ville  pour  se  rendre  aux  champs,  et 
ceux  de  la  Campagne  se  refugioient  dans  Paris.  — 
Hugues  le  Grand  en  cette  rencontre  üt  eclater  sa 
charile,  car  il  nourrit  alors  tous  les  pauvres  rnala- 

5  * 


\ 


68 


I.  Dns  heilige  Feuer. 

des,  quoique  par  fois  il  s’cn  trouvat  des  six  Cents. 
()r  comme  tous  les  remedes  nc  servaient  de  rien 
on  eilt  rccours  ä  la  Vierte  dans  l’e^lisc  de  Nolrc 
Dame,  qui  servit  long-tcmps  d’hbpital  dans  ccttc 
occasion.  »* 

7)  Chronic. Saxon.  —  Glabri  Rodolph.  Ilistor.  Lib.ll.  — 
Cbroo.  Ditm.  Episc.  —  Ilcpidani  Annal.  in  Bou¬ 
quet  X.  p.  228  u.  29.  —  p.  19.  —  p*  123.  —  p.  193. 

8)  Chronic.  Saxon.  —  Chr.  llildenshciin,  in  Bouq.  X. 
229.  318.  —  Ilistor.  Ouedliuburg. 

9)  a.  Chronic.  Adern ari  Cabanens.  in  Bouquet  X.  147: 

«<  1 1 i 8  temporibus  pcstilentiae  igtiis  super  Limovi- 
cinios  exarsit:  Corpora  enim  virorum  et  mulicrum 
supra  numerum  invisibili  igne  depascebpntur  et  ubi- 
que  planctus  terram  replcbat.  » 

b.  Commemorat.  Abbat.  Leinovic.  Sancti  Martialis. 
Bouquet  X.  318. 

« liujus  —  Josfredi  primi  —  principatu  plaga 
ignis  super  corpora  Aquitanorum  desaeviit  et  mor¬ 
tui  sunt  plus  40  millia  homiuum  ab  eadem  pesti- 
lentia. » 

c.  Ex  Msc.  Sängerin,  ibid.: 

« Mi  rum  in  modum  ardenti  igne  cruciantur  et 
perimuntur  Aquitani. »» 

d.  Ilistorin  translationis  S.  Gcnulfi  iu  Monasterio  Stra- 
dens.  ibid.  p.  361: 

«Contigit  aliquando  judicio  Dei,  quodam  car- 
nis  incendio  multos  periclitari  mortalium  ex  gentc 
Chrislianorum:  quorum  multitudines  ob  sui  remedia 
deposccnda  Sanctorum  cxpctcre  ioca  certantes.  M,ulti 
etiam  anno  Dom.  994.  ad  ecclesiam  S.  Gcnulfi  per- 
▼enerunt.  —  Erat  autem  non  solum  audirc  Stri¬ 
dores  eorum  prac  dolore,  vel  cxuslas  a  corporibus 
eflluerc  partes  videre  miseria;  verum  etiam  ex  pu- 
trae  caruis  foelorc  res  iotoleranda,  qua  cladc  multi 
eorum  consumpti  sunt:  multi  etiam  aquis  aspersi 
sacratis  —  —  refrigerati  sunt  et  ab  illo  mortis 
erepti  periculo.  —  Ex  quibus  iu  pago  Limoviccusi 
quidam  adhuc  babentur  superstites. » 

e.  Glabri  Rodolphi  Ilistor.  L.  II.  p.  20: 

«Dcsaeviebat  codem  tempore  cladcs  pessima  in 
hominibas,  ignis  scilicct  occultus,  qui  quodeumque 
membrorum  arripuisset,  exurendo  truncabat  a  cor- 


I.  Das  heilige  Feuer.  69 

i 

porc:  plerosque  etiam  in  spacio  unius  noctis  hujus 
ignis  cousumpsit  adustio.  n 

f.  Fragmenta  Hist.  Aquitan.  Bouquet  X.  147: 

«  Ilis  diebus  lues  gravissima  Limovicinos  devora- 
vit  incendiens  corpora  ct  exardesccndo  devorans, 
donec  omnes  Aquitaniae  Episcopi  Lemovicae  con- 
gregati  corpus  B.  Martialis  ab  imo  sublatum  se- 
j)ulchro  mortaliuni  visibus  ostenderunt  et  mox  pestis 
ipsa  cessavit. » 

g.  Gesta  Lcmovicicns.  Episcopor.  ibid. 

«Et  notandum  sub  ejus  (Eldoini  s.  Alduini), 

'  Episcopatu  corpus  S.  Martialis,  anno  scilicet  994, 
Iudictione  VII.  fuisse  cum  magna  processione  in 
Montem  Gaudii  —  Jovis  (Montjoie)  revereuter  de- 
portatum  propter  gravissimam  plagam  ignis,  quae 
iu  populum  grassabatur  extinguendam.  >» 

li.  Mezeray,  Hist,  de  France.  T.  II.  p.  5. 

10)  Villalba,  Epidemiologia  espannola.  T.  I.  p.  40. 

11)  Richerii,  Chronic,  monast.  Senonieus.  inCalmet, 
Hist,  de  Lorraine  T.  II.  Pr.  p.  XI: 

«Secundo  anno  vero  post  haec  tanta  penuria 
blandi  et  aliorum  alimentorum  omnium  invaluit,  ut, 
quod  auditu  est  horribile,  bomo  liomine  vesci  co- 
gebatur.  » 

12)  Fodere,  Le^ons  sur  les  Epidemies  II.  p.  44. 

13)  Glabri  Rodolphi  Hist.  Lib.  V.  p.  60. 

«  Consumpsit  quidam  mortifer  ardor  multos  tarn 
de  maguatibus,  quam  de  mediocribus  atque  infimis 
populi;  —  quosdam  vero  truncatis  membrorum  par- 
tibus  reservavit  ad  futurorum  exemplum.  Tune  eüam 
gens  totius  orbis  sustinuit  penuriam  pro  raritate  vini 
et  tritici. » 

14)  Chron.  Camerac.  et  Atrebat.  —  Siegbert.  Gemblac.  — 
Bouqu.  XI.  123.  163. 

15)  Chron.  Lobiens.  —  Heppidan.  Annal.  —  Excerpta 
Hist.  —  Chronic.  S.  Stephani  Cadom.  —  Bouqu. XI. 
415.  9.  157.  379.  —  Augsburger  Chronic  II.  p.  41. 

IC)  Chronic.  Verdun,  in  Bouqu.  XI.  145: 

«Divino  judicio  coepit  in  eos  desaevire  ignis, 
qui  eos  torquebat,  et  co  anno  fere  totus  orbis  pe- 
nuriain  passus  cst  pro  raritate  vini  et  tritici.  — 


70 


I.  Das  heilige  Fener. 

Sequuta  cst  b  vestigio  mortalitas  liominum  prae- 
jnaxima  aano  ab  iucarnationc  Domini  1042.  — 
Alulli  corum  qui  torqucbanlur  ab  igne  venientcs  ad 
virum  I)ci  curabantur  ....  Quando  lucs  illa,  de 
qua  mentionem  feciinus,  populum  dilabcrelur  ct  ci- 
vitas  Virduncnsis  fere  rcdigeretur  in  bcrcmum  .  .  . 
comuoi  voto  deliberatuin  est,  S.  Vitoni  imploran- 
dum  esse  auxilium.  w 

17)  Sicgbcrt.  Gcmblac.  —  Chronic.  S.  Maxen  tii  — 

Chron.  S.  Petr.  viv.  Senoniens.  —  Berthold.  Con- 
stan  t.  Chronic.  —  Chronic.  S.  Stephan i  Cadomens.— 
Chronolog.  Roberti  et  cetera  in  Bouquet  F.  XI. 
ct  XII.  —  Spangenberg’s  Chronik  p.  327  etc.  — 
Auesburecr  Chroniken  II.  51.  und  Schnurrer  I. 
p.  215  —  223.  ' 

18)  Schnurrer,  1.  c. 

19)  Chronicon  Turonensc  in  Bouquet  XII.  465: 

«Anno  Ileorici  Imperator.  XXIX.  factus  cst 
terrae  motus  magnus  ct  in  Occidcntali  parte  Lotha- 
ringiae  pcstilentia  magna,  ita  quod  multi  nervornm 
contractione  distorti  cruciebantur;  alii  sacro  igne 
membris  exesis,  ad  instar  carbonum  nigresceutibus 
miserabiliter  moriebantur.  » 

20)  a.  Mayer,  Annales  Flandriae  L.  III.  p.  36: 

«  A.  1088.  terlio  Calend.  Septembr.  visus  est 
igneus  draco,  volare  per  medium  coeli  et  ex  ore 
suo  quasi  flammas  evomere,  statimque  subsecutus 
est  pestilens  ille  morbus,  qui  Ignis  sacer  vocatur, 
quam  tarn  arsuram  appellabant  quidem.  ” 

b.  Siegbcrt  Gemblac.  Chronograph.  Bouquet  XIII. 
259 : 

«1089.  Annus  pestilens  maxime  in  occidenlali 
parte  Lolharingiac  uhi  multi  sacro  igne  interiora  con- 
summente  computrcscentcs  exesis  membris  inslar  car¬ 
bonum  nigrcscentibus  aut  miserabiliter  inoriuntur, 
aut  manibus  aut  pedibus  pufrelactis  truncati,  misc- 
rabiliori  vifae  reservantur,  multi  verö  nervorum  con¬ 
tractione  distorti  tormentantur.  u 

c.  Ex  actis  SS.  ord.  S.  Ben  cd  ict.  Bouqti.  XIV.  141 : 

« Ea  tempestatc  sacer  ignis,  quem  Gracci  hcri- 
sipelnm  dieunt,  divinae  animndversionis  iudex  Flan¬ 
driae  inrubuit  partibus,  christicolarum  quam  plurima 
inultitudiuc  tarn  horribilis  cladis  verbere  grassantc, 


71 


I.  Das  heilige  Feuer. 

partim  prostrata,  partim  gemente  et  prac  doloris 
immanitate  dentibus  ßtrideute,  partim  morte  jam 
multata. » 

d.  Chron.  Jacob.  Lcodiens.  —  Bouqu.  XIII.  600: 

«Pestilentia  terribilis  et  multiplex  ardentium.  ” 

e.  Carrionis  Chronic,  p.  225: 

«Anno  post  natalem  Christi  1089  talem  pesti- 
lentiam  (qualis  attica)  in  Lotharingia  grassatam  esse, 
Siegebertis  Darrat.” 

f.  Chronic.  Lobiens.  Bouqu.  XIII.  p.  581: 

«(Ad  ann.  1090.)  —  IIoc  anno  orta  est  pestis 
in  liominibus,  quae  Arsura  dicitur,  qua  etiam  multi 
perieruut. ” 

g.  Mezeray,  Histoire  de  France  T.  II.  p.  46,  verlegt 
die  Seuche  gleichfalls  auf  1090. 

21)  Mezeray,  1.  c.  II.  p.  62: 

«  L’autre  (fumine)  arriva  vers  le  milieu  du  Regne 

de  Philippe  (1061  —  1108). - L’air  parut 

souvent  tout  en  feu  et  pleine  de  divers  Meteo- 

res - II  se  voyoit  de  fois  ä  autre  de  nuecs  de 

papillions  et  de  vermisseaux  —  —  Du  pain  nou- 
vellement  du  four  rendit  grande  abondance  de  saug.» 

22)  Fodere  1.  c.  II.  p.  44.  —  Ozanam,  Hist,  des  epi- 
demies  T.  V.  p.  168.  —  Mezeray  1.  c.  II.  p.  69. 

23)  Mayer,  Annal.  Flandriae  L.  III.  p.  36: 

«Fornaci  religiosa  instituta  supplicatio  ab  Robo- 
done  episcopo  die  exaltationis  Sanctae  crucis  ob 
pestem  quam  vocabant  igniariam,  hoc  est,  sacrum 
ignem.  —  Magna  religione  sacris  ubique  operatum 
ad  procuranda,  quae  fiebant,  prodigia,  phcandam- 
que  Dei  iram.  —  Nam  alii  instar  carbonum  ni- 
grescentes,  alii  exesis  morbo  visceribus  tabescentes, 
pars  truncati  miserabiliter  membris,  incredibile  est 
dictu  quam  multi  mortales  sacro  illo  igni  sunt  ab- 
sumpti. « 

24)  Bert  hold.  Constant.  Chron.  Bouqu.  XI.  p.  27. 
Chronic.  Turonens.  ib.  XII.  p.  466.  —  Siegb.  Gern- 
blae.  ib.  XIII.  p.  260.  —  Wurstisen,  Baseler  Chro¬ 
nik  p.  108.  —  Short,  of  the  air,  weather  etc.  I.  p.103. 

25)  Chron.  Gaufredi  Vosiens.  in  B  o uquet  XII.  p.  427: 

«  Anno  Domini  1094  iterata  lues  subcutanei  ignis 
plcbem  Aquitanicam  atrocissimc  torrebat.  —  Hi 


72 


I.  Das  heilige  Feuer. 

quantoclus  ad  patronum  proprium  confugicntes  auxi- 
liuin  de  Sauclo  aoeipere  mcrucrunt.  ** 

26)  a.  Sieg  eher  t.  Gern  bl.  in  Bouquet  XIII.  260: 

«  Hoc  anno  sacro  igni  multi  accenduntur,  mem- 
bris  instar  carbonum  nigrcsccnlibus.^ 
b.  Mayer,  Ann.  Flandr.  L.  IVr.  p.  .‘16. 

27)  S.  Petri  vivi  Senonens.  Bouquet  XII.  2S0.  — 

Schnurr  er  1.  c.  p.  228. 

2S)  Ozanam  1.  c.  p.  168. 

29)  Sebnurrer  p.  230.  —  Muratori  V.  485: 

,<  Ignotis  morbis  igne,  flamma,  arflore  in visibili  ho- 
mines  exsiccati  et  absque  adustionis  uota  cxtincti.  ” 

Wolf,  lect.  mem.  Cent.  XII. 

30)  Chron.  Seti  Petri  Vivi.  —  Chron.  Mauriniaccns. 

in  Bouquet  XII.  282.  69. 

31)  a.  Ordcrici  Vitalis  Ilistor.  Ecclesiast.  L.  XI.  Bou¬ 

quet  XII.  p.  708. 

«  Anno  ab  Incarnatione  Domini  1109.  Ine] ict.  II. 
ultio  divina  homiDUin  scclcra  pluribus  flngellis  pu- 
niit  et  mortalcs  insolito  terrorc  cum  pietatc  terruit, 
ut  percatores  ad  poenitentiam  invitaret,  poenitenti- 
bus  veniam  et  salutem  dementer  cxbiberet.  —  In 
Gallia  maximc  in  Aurclianensi  et  Carnotensi  pro- 
viucia,  cladcs  igni  fera  rnullos  invasit,  debililavit 
et  quosdam  occidit.  —  ISimictas  pluviarum  fructus 
terrae  suffocavit,  terracquc  sterilitas  inborruit  et 
vindemia  pene  tota  disperiit.  Dcficientibus  itaque 
Ccrerc  et  Baccbo  valida  fames  terrigenas  passim 
maceravit  in  mundo.  »» 

b.  Epistola  Joann.  Carnot.  Episc.  119.  ad  Pa  scha¬ 
lem  II,  Papam.  in  Bouquet  XV.  p.  148: 

«<  In  tanto  enim  apud  nos  in  majoribus  populi 
abundavit  iniquita$,  ut  ucc  paternis  acclamationibus 
obediant,  nee  Deum  terrentem  timeant;  cum  et  ex 
stcrilitate  terrae  famc  pauperes  eorum  afficiat,  et 
morbo,  qui  dicitur  saccr  ignis,  multorum  lucmbra  ad 
praecisionem,  multorum  corpora  ducat  ad  mortem." 

c.  Alberici  Chronic.  Bouquet  XII.  690: 

«<IIoc  anno  1109  multi  sacro  igne  accenduntur, 
membris  instar  carbonum  nigrcscentibns.  Tres  pla- 
gae  tribns  regionibus  appropriari  solent;  Anglormn 
fames,  Gallorum  ignis,  Xormannorum  lepra.  —  In 


I 


73 


I.  Das  heilige  Feuer. 

terrilorio  tarnen  Belvacensi  rarissime  solet  acciderc 
])laga  ignis,  quod  bcato  Geremaro  speeiali  douo  a 
Deo  datum  asserunt” 

32)  Short,  of  the  air,  weather  etc.  p.  108: 

«  The  people  over  all  England  were  afflicted  with 
6orc  diseases,  especially  an  epidemic  Erysipelas 
where  of  many  died;  the  Parts  heing  hlack  and 
shrivelled  up. » 

33)  Fodere  1.  c. 

34)  Waterlosii  Chr.  Camerac.  in  Bouquet  XIII. 

p.  498.  —  Mayer,  Annal.  Fl.  L.  IV.  p.  45.  — 
Schnurrer  I.  p.  236.  —  Mezeray,  Hist.-  de 

Fi  •ance  II.  p.  81.  —  «  Deux  aunees  consecutives  de 
famine  causees  par  Tinondalion  des  pluyes.  M 

35)  a.  Chronic.  Sti  Petri  Viv.  Senon.  Bouqu.  XII.  283: 

« Anno  1128  invisibilis  ignis  plurimos  depastus 
est  in  regno  Francorum:  cui  morbo  misericorditer 
meritum  B.  Dei  Genetricis  Mariae  obviavit,  prae- 
cipue  in  urbe  Suessionis. » 

b.  Chronic.  S.  Stephan.  Cadomens.  ib.  780: 

«  Eodem  tempore  magnam  multitudinem  virorum 
et  mulierum  mortalitas,  sacer  ignis,  quaedam  pesti- 
lentia  flegmatica,  maximc  in  pago  Carnotensi  pro- 
stravit. » 

c.  Anselm us  Gemblac.  ibid.  XIII.  p.  269: 

«  Uoc  anno  ( 1129)  plaga  ignis  divini  Carnotum, 
Parisios,  Suessionein,  Cameracum,  Atrebatam  et 
alia  multa  loca  mirabiliter  pervadit;  sed  mirabilius 
per  sanctam  Dei  genetricem  Mariam  extinguitur.  — 
Juvenes  etenim,  senes  cum  junioribus,  virgines  ctiam 
tenerae  in  pedibus,  in  manibus,  in  mamillis  et  quod 
gravi  us  est  in  genis  exuruntur  et  celeriter  extin- 
guuntur. » 

d.  Chronique  de  Cambrai.  ib.  XIII.  495: 

«En  cet  temps  la  maladie  du  fu,  qui  vient  de 
Dieu,  fu  moult  griefs  a  Chartres,  a  Paris,  a  Sois- 
sons,  ä  Cambray,  a  Arras  et  par  moult  d’aultres 
lieux. » 

e.  Robert,  alter  ib.  XIII.  328: 

«  Hoc  anno  multi  de  pago  Suessonico  sacro  ignp 
accensi  ad  Ecclcsiam  B.  Dei  Genetricis  Mariae  in 
civitate  Suessotfum  sitam  convenerunt  ibique  paucis 


74 


I.  Das  heilige  Feuer. 

dich us  —  salutem  —  conscculi  sunt,  ita  ut  intra 
15  «lies  103  nominatim  ab  hoc  igne  rcstinguereutur 
ct  tres  puellac  distortac  sauitati  redderentur.  *» 

f.  Hugo  Farsitus,  Libeli.  de  miraculis  B.  Mariae 
Suessionensis  in  Bouquet  XIV.  p.  234: 

«<  De  cura  ardentium.  »  —  Anno  ab  incarnatione 
Domini  1128,  quo  judicio  Dei  et  quibus  de  causis 
intelligat,  qui  valet,  concessa  est  potestas  adversac 
virtuti  plaga  invisibili  pcrcuterc  homines  diversae 
aetatis  ct  sexus  in  pago  Sucssonicnsi,  ita  ut  semcl 
succensa  Corpora  corum  cum  intolerabili  cruciatu 
arderent  usque  ad  exelusionem  animae,  nisi  sola  Dei 
inisericordia  occurreret.  —  Est  autem  morbus  hic 
tabificus  sub  extensa  liventi  cute  carncm  ab  ossibus 
separans  ct  consummens  et  rnora  temporis  augmenta 
doloris  ct  ardoris  capiens  per  singula  momenta  co- 
git  miseros  inori  ct  tarnen  desiderantibus  mortem 
tantum  remedium  denegatur:  donec  j)rioribns  depa- 
stis  artubus  celer  ignis  invadat  membra  vitalia,  et 
quod  minim  est,  ignis  hic  sine  calore  validus  ad 
consummeodum  tanto  frigorc  velut  glaciali  perfundit 
miscrabilcs,  ut  nuliis  remediis  possint  calefieri.  Item 
quod  non  minus  est  mirabile,  ex  quo  divina  gra- 
tia  rcstinctus  fuerit,  fugato  mortali  frigore  tantus 
calor  in  eisdem  partibus  aegros  pervadit,  ut  morbus 
cancri  cidem  fervori  persaepe  se  societ,  nisi  inedi- 
camentis  occurratur.  —  Horror  est  et  infirmantes 
et  rccens  sanatos  intueri  et  vcsligia  mortis  cvasae 
in  corppribus  corum  et  faciebus  exterminatis  oculis 
pererrarc.  / 

g.  Holland  i  Acta  Sanctorum  ad  diem  3.  Januar,  p.151: 

«  Hegnante  Eudovico  fortissimo  Franciae  rege 
flagellavit  Dominus  regnum  Francorum  (inprimis  Pa- 
risios),  ct  membra,  quae  miscri  homines  exhibue- 
rant  servirc  iujustitiae  —  —  cocpit  morbus  igneus 
consummere,  quem  physici  sacrutn  ignern  appel- 
lant.  —  Occurrunt  morbo  medici,  artes  et  ingenia 
excitant,  experimenta  probant;  sed  haec  omnia  re- 
probantur;  quia  Digitus  Dei  erat.  —  Sancta  Gc- 
novefa  autem  tribus  exceptis  omnes  male  habentes 
numero  centum  sanat  atque  B.  Virginis  Sanctac  Ma¬ 
riae  auxilio  multi  curati  6unt. »» 

h.  Anonymus  Bland  in.  in  appendic.  ad  Sicgebert. 
in  Bouquet  XIV.  18. 

«<  Plaga  divina  Francos  affligit,  ignis  scilicct  vc- 


I.  Das  heilige  Feuer.  75 

hementer  corpora  crucians.  —  Pestilentia  magna 
faela  est  animalium. » 

Chronic.  Lobiense  Bouquet  XIII.  582: 

Hoc  anno  (1129)  pestis  igniaria  in  homines  fuit 
et  morticinium  pecorum.  Ozanam,  1.  c.  p.  170, 
dem  ich  die  weitere  Beschreibung  dieser  Epidemie 
in  Flandern  entnommen,  nennt  Mczcray  als  sei¬ 
nen  Gewährsmann,  und  verlegt  die  Seuche  des  Jah¬ 
res  1128  unter  Ludwig  VII.  —  Mezeray  (Aus¬ 
gabe  von  Thierry,  Par.  fol.  1685.  III.  Tom.)  er¬ 
wähnt  aber  des  heiligen  Feuers  in  dieser  Periode, 
unter  Ludwig  VI.  und  VII.,  mit  keiner  Silbe, 
und  Louis  VII.  bestieg  erst  1137  den  Thron.  — 
Ozanam  scheint  diesen  groben  chronologischen  Ver- 
stofs  dem  Sau  vages  (Nosol.  methodica.  Ed.  Ve- 
net.  4.  1772.  T.  I.  p.  238.)  nachgeschrieben  zu  ha¬ 
ben,  und  dort  findet  sich  wohl  auch  die  Quelle  der 
Ozanamschen  Beschreibung  —  sie  ist  wunderba¬ 
rer  Weise  eine  getreue  Uebcrsetzung  einer  in  Sau- 
vages  citirten  Stelle  Friedr.  Hoffmann’s,  de 
Febre  erysipelacea  Num.  2.,  die  aber  durchaus  nichts 
mit  der  Epidemie  in  Flandern*  nichts  mit  dem  hei¬ 
ligen  Feuer  zu  thun  hat,  sondern  nur  die  Aehn- 
lichkeit  zwischen  Rothlauf,  das  Iloffmann  Ignis 
sacer  nennt,  und  der  Pest  deduciren  soll.  —  H off¬ 
mann  beginnt:  Utrumque  (sc.  malum)  enim  cum 
horrore,  aestu,  delirio,  virium  prostratione ,  vehe- 
menti  dorsi  capitisque  dolore  invadit  etc.  Oza- 
narn  aber:  Le  mal  etoit  characterise  par  des  hor- 
ripilations  suivies  de  chaleurs,  delire,  prostration 
des  forces,  douleurs  vehementes  ä  la  tote  et  aux 
reins  etc. 

Oz,anam  1.  c.  p.  169.  —  Lothar  II.  herrschte  von 
1125  — -  27,  und  vielleicht  von  derselben  Epidemie 
sagt  Königshoven  Chron.  von  Strasburg  II.  p.  114, 
und  Supplern.  p.  424: 

uBy  diesen  ziten  kam  eine  grosse  türunge  durch 
alle  lant  und  was  also  lange  onc  regen,  das  die 
hürnen  und  die  fliessende  Wasser  vil  bi  alle  ver- 
signet  und  die  fruchte  uf  dem  velde  verdurbent 
und  kam  darnach  ein  übergrosser  sterbet  der  men- 
schen  und  der  thier  heimisch  und  wild  an  zal. » 

Nur  stimmen  die  Angaben  anderer  Chronisten, 
z.  B.  Mezeray' s  II.  p.  81,  über  die  Witterung 
der  treffenden  Jahre  nicht  mit  der  Kö nigshofen’s 


76 


I.  Das  heilige  Feuer. 

überein;  —  6ic  schildern  1126  —  28  sehr  feucht 
und  kalt. 

38)  Short  1.  c.  p.  115. 

39)  Chronic,  ßritannic.  Bouquet  XII.  p.  558.  —  Wi  1- 
liclmi  [Malm  es  hur.  Hist.  nov.  ibid.  XIII.  p.  27.  — 
Wat  erlös  Chron.  ib.  p.  5U1. 

*10)  a.  Anonymi  Blandiniens.  append.  ad  Siegbert.  — 
Bouquet  XI V.  20: 

«Plaga  ignis  divini  mullos  adussit,  qui  meritis 
B.  Virg.  Mariae  salvati  sunt.” 

b.  Chronic.  Lobiens.  —  Bouquet  XIII.  5S2: 

« IIoc  anno  pestis  horrida  ignis  et  gravissimac 
debilitatis  in  homines  fuit.  ” 

c.  Wat  erlös,  Chron.  Camerac.  in  Bouqu.  XIII.  501: 

«Hoc  anno  (irrig  1142)  plaga  iguis  divini  He¬ 
rum  multos  adussit.  ” 

d.  Ozanam  I.  c.  p.  171. 

41)  Auct.  Aflligcmens.  —  Robert,  de  Monte.  Bouquet 
XIII.  275.  290.  • 

42)  Kober tus  de  Monte  I.  c. 

«  Farnes  pene  inaudita  tempore  practerito,  mor- 
talitas,  saccr  ignis  humanum  geuus  et  maxiinc  pau- 
periores  admodum  vexat.  ” 

^J3)  Waterlos,  Chron.  Camerac.  Bouquet  XIII.  506: 

«Pestis  etiam  auimalium  gravissima  iu  linguis 
corurn  extitit,  maxiine  caballorum.  ” 

44)  Villa  Iba,  Epidemiologia  espannola  I.  47: 

«El  fuego  sacro  rorria  a  manera  de  peste,  aso- 
lando  cl  ducado  de  Lorrena  por  los  annos  1IS0  «1c 
tal  modo,  que  andaban  los  pobres  enfcrinos  por  las 
calles,  plazas  y  puertas  de  los  tempios  dando  ala- 
ridos,  porque  cstc  mal  abrasador  devoraba  los  micm- 
bros  y  entrannas,  dexando  muchas  veges  el  exterior 
frio.  —  Iba  consumiendo  el  cuerpo  hast»  dexar 
solo  la  piel  cardena  6  amortada  pegada  ä  los  huc- 
sos.  —  Los  enfermos  se  veian  atormentados  de 
dolores  atroccs  y  alguna  vez  de  convulsiones:  sc  les 
caiau  las  carnes  gangrenadas  y  negras  como  un  car- 
bon.  Lcs  npestaban  horribilmente  los  miembros  y 
abrasados  de  un  fuego  voraz  deseabau  la  inuerte 
para  alivio  de  6us  penas. » 


77 


I.  Das  heilige  Feuer. 

45)  Ibid.  —  Gil,  conscrvacion  de  las  viruelas.  p.  85. 

46)  a.  Primeira  parte  das  Chronicas  dos  Reis  do  Portugal, 

reformatas  pelo  Linceciado  Duarde  Nunnez  do 
Liano.  Em  Lisboa,  fol.  miu.  1600.  —  p.  §0: 

<(  Ilouve  tarn  grandes  invernadas  alguns  annos  ct 
tarn  desacosturnadas  chuvas,  assi  pola  perscvcraneia 
dellas  como  pola  multidanö  das  agoas,  que  perde- 
rano  as  uovidades  de  pan,  vinho,  azeitc  e  fruttos 
de  todo.  —  Porque  o  pouco  que  licaba  o  comeo 
a  grande  multidanö  de  bichos,  que  nasciano  como 
praga  do  ceo.  Apos  isto  succedeo  tamanba  secca  \ 
e  quentura  em  tempos  de  Autumno  e  Inverno  que 
nano  podrano  os  homenes  cultivar  as  terras.  — 

Com  estas  trocas  de  tempos  contra  o  curso  natural 
sobreveo  graude  peste,  principalmente  na  terra  de 
Sancta  Maria  do  Eispado  do  Porto,  de  que  morreo 
tanta  gcnte,  que  povancones  grandes  houve,  onde 
nnno  ficarano  trespessoas.  —  Na  terra  de  Braya 
adoeciano  honmnes  e  molheres  de  doen^as  de  tarn 
terrivel  ardor  e  raivosa  quentura  que  lhes  parecia 
que  lhes  ardiano  as  entranhas  e  com  raiva  se  co- 
miano  a  si  mismos  e  morriano  sin  remedio.  — 

Alem  desso  houve  muitos  annos  tanta  falta  de  man- 
timientos,  que  muita  gente  morria  e  os  que  viviano 
se  sostentavano  de  hervas  do  campo,  quando  as 
achavano. » 

b.  Faria  ySousa,  Europa  Portugueza.  Lisb.  fol.  1678. 

T.  II.  p.  80. 

u  Padecieron  los  hombre's  una  enfermedad  hor- 
renda,  porque  abrasandoseles  las  entrannas  morian 
rabiendo. » 

47)  Schnurrer  1.  c.  p.  260.  —  The  burning  plague. 

48)  Vicente  Mut,  Hist,  del  regno  de  Mallorca  p.  34S 

und  561.  —  Villalba  1.  c.  p.  57. 

49)  Guillaume  de  Nangis,  Cbroniques  de  France. 

(Mscpt.  Bibi.  r.  Par.  Nro.  9622.)  fol.  38  verso: 

«  L’an  de  grace  ensuivant  apres  1236  une  famine 
mult  tres  grant  advint  en  france  et  mesmenent  eil 
Aquitaine  si  que  les  gens  menioient  les  herbes  des 
chans  aussi  comme  bestes  et  valoit  lors  le  sextier 
de  ble  C.  s.  en  poitou  et  illeuc  mult  de  gens  peri- 
rent  de  famine  et  furcnt  ars  du  saint  feu. » 

50)  Schnurrer  I.  c.  p.  288. 


78 


I.  Das  heilige  Feuer. 

51)  Foder6,  I.  c.  p.  45. 

6*4)  Villa  Iba,  Le.  T.  I.  p.  57. 

53)  Chronicon  Briocense  (Mscpt.  Bibi.  2.  Paris.  Nro.6003.) 
f.  102  verso: 

«<  Anno  Domini  1347  Infirmitas  Sancti  Antonii, 
qui  dicebatur  an  chilpas  Britbonice.  —  Auno  Do¬ 
mini  1348  vero  fuit  magna  ct  generalis  wortalitas 
per  totuin  orbem.  ” 

54)  Fodere,  I.  c. 

55)  Ozanam,  1.  c.  p.  172. 

56)  Ibid. 

57)  Fragoso,  de  las  apostemas  p.  158. 

58)  Ozanam,  I.  c.  p.  170. 


C.)  Zum  zweiten  Kapitel. 

1)  Raymond,  Ifisloire  de  rEIephantiasis,  contenant 
aussi  rOrigine  du  Scorbut ,  du  reu  St.  Antoine,  de 
la  Veröle  ctc.  Lausanne.  8.  1767.  —  p.  115  —  17.  k 

2)  Schnurrcr,  Chronik  der  Seuchen.  T.  I.  278  u.  a.  a.O. 

3)  Mezeray,  T.  II.  p.  6.9. 

4)  Vergleiche  die  Bemerkungen  zum  ersten  Kapitel  31c. 

5)  Jouberti,  Annotation,  in  Guidonis  Cauliacensis 
chirurgiam  magnam.  —  Edit.  Lugdun.  4.  1585.  p.  473. 

6)  Siche  Einleitung.  Nota  29. 

7)  Morbus  cancri  wurde  nach  Guy  v.  Chauliac’s  Zcug- 
nifs  (Tract.  II.  Doct.  II.  C.  II.)  von  mehren  Aerzten 
des  Mittelalters  (Theodoricu9,  Lanfrancus  und 
Henricus)  als  synonym  mit  Esthiomenus  gebraucht, 
und  Lanfrancus  sagt  ausdrücklich:  Ilerpetem  esthio- 
nicnuin  quidam  vocant  Cancrum,  quidam  Lupum,  qui- 
dam  (ut  in  Francia)  malum  nostrae  Dominae:  qui¬ 
dam  vero  Lombardorum,  vocant  ignem  Sancti  Anto¬ 
nii:  quidam  erysipelam  manducantem.  —  Vielleicht, 
dafs  auch  Ilugo  Farsitus  in  diesem  Sinne  Morbus 
eaneri  für  Gangraen  setzte,  und  dafs  die  allegirte 
Stelle,  die  auf  keinen  Fall  auf  den  Krebs  unserer  Tage 
zu  beziehen  sein  möchte,  sich  dahin  erklärt,  dafs  auch 
dann  noch,  wenn  die  Wärme  der  befallenen  Theile 
wiederkehrte,  Brand  eiutrcteu  konnte. 


I 


79 


I.  Das  heilige  Feuer. 

8)  Krause  (S.  106)  will  in  dem  Ausdrucke  « nervo- 
rum  contractione  distorti »  keine  Krämpfe,  sondern 
die  bei  Variola  vorkommenden  Contracturen  erken¬ 
nen;  —  allein  schon  die  Beisätze  in  den  Chroniken 
zeigen  an,  dafs  die  Leidenden  von  schmerzhaften 
Zusammenziehungen  der  Nerven  (Krämpfen)  gequält 
wurden  ( cruciahantur,  torquehaniur ) ,  uud  dafs  also 
wohl  nicht  von  den  schmerzlosen,  nur  durch  Unbe¬ 
weglichkeit  ausgezeichneten  Residuen  der  Blattern 
die  Rede  sei. 

9)  Tres  plagae  tribus  regionibus  appropriari  solent;  An- 
glorum  farnes,  Gallorum  ignis,  Normannorum  lepra.  — 
In  territorio  tarnen  Belvacensi  (Beauvais)  rarissime 
solet  accidere  plaga  ignis.  —  Alberici  Chronic, 
in  Bouquet  XII.  690. 

10)  Mayer,  Annal.  Flandr.  —  Vergl.  die  Bemerkun¬ 
gen  zum  ersten  Kapitel  20  und  23. 


D.)  Zum  dritten  Kapitel. 

1)  Beiträge  zur  Geschichte  des  Petechialtyphus,  tnaugu- 
raldissertation  von  C.  Pfeufer.  Bamberg.  8.  1831. 
p.  13. 

2)  Vergleiche  Aug.  Kraufs,  Disquisitio  historico-me- 
dica  de  natura  morbi  Atheniensium  ä  Thucydide  de- 
scripti.  Stuttgart.  8.  1831. 

3)  Euagrii,  Scholast.  histor.  eccles.  L.  IV.  C.  29. 

4)  Ihid.  —  «To  7rctS-os  £K  (ri]fZ.OCTülU  CTMlxetTO.  - 

*  A  '  V  ~  t  .  /  >1  "  V  > 

T Avrto^ov  7rgo 5  Tls^truv  (tÄov  treertv  vcmgov  ovoy 
7rct&o$  i7re^t)/U)}a-£  AotpJfog ,  tv  Ttcri  fx\v  erv f.t(f)£^o pivov  toi 
V7TO  QoVKt^l^OV  y^CttptVTl  7  tv  Ttcri  £g  CToXXm  ^ICCX&TTOV  KCc\ 
AiS-tocrlccg. »  — 

5)  Was  sind  40,000  Todte  im  südwestlichen  Frankreich, 
was  14,000  in  Paris,  gegen  die  Sterblichkeit  einer 
Krankheit,  die  nach  Hecker’s  Berechnung  in  der 
grofsen  Epidemie  des  14ten  Jahrhunderts  den  vierten 
Theil  der  Bevölkerung  von  Europa,  und  nach  1598 
in  Portugal  1,500,000  Menschen  hinwegralTte,  durch 
deren  Verheerungen  die  Population  Würtembergs,  die 
im  Jahre  1634  noch  313,002  Seelen  zählte,  bis  1639 
auf  61,527,  uud  bis  zum  Jahre  1641  seihst  auf  48,000 


80 


I.  Das  heilige  Feuer. 

schwand;  —  der  16*18  in  Andalusien  200.000,  1708 
zu  Danzig  24,533,  1720  in  der  Provence  über  100,000, 
und  1771  zu  Moskau  uoch  über  70,000  Menschen  er¬ 
lagen,  u.  8.  w. 


E.J  Zum  vierten  Kapitel, 

1)  Sau  vages,  Nosologia  mclhodica.  Ycnct.  4.  1772. 
Tom.  I.  p.  238. 

2)  Ilcnslcr,  Geschichte  des  abendländischen  Aussatzes, 
p.  213. 

3)  Krause,  über  das  Alter  der  Menschenpocken, 
p.  160.  n.  s.  f. 

4)  Vergl.  Bemerkungen  zum  ersten  Kapitel,  No.  20. c. 

5)  Bemerkungen  zum  zweiten  Kapitel,  No.  7. 

6)  Bemerkungen  zur  Einleitung,  No.  28. 

7)  Vergl.  Tozzi  Commenlar.  in  Aphorism.  II i ppocra t. 
in  ejusd.  Oper.  T.  II.  CI.  III.  Patav.  1711.  4.  — 
Lib.  VII.  Apbor.  XX.,  und  Andere. 


F.J  Zum  fünften  Kapitel. 

1)  Bäte  mau,  Th.,  Darstellung  der  Hautkrankheiten. 
Uebers.  voa  Sprengel,  p.  215  et  scq. 

2)  Cfr.  Ozanam  T.  IV.  322. 

3)  Ibidem. 

4)  Vergleiche  J.  Lind,  Abhandlung  vom  Scharbock. 
Th.  I.  Kap.  3. 

5)  Tissot,  Traile  des  nerfs  Tom.  3.  part.  II.  p.  257. 

6)  Raymond,  Ilistoire  de  TEIephantias.  etc.  p.  115. 

7)  Read,  Traite  du  scigle  ergote.  1771. 

8)  Tessicr,  in  Memoires  de  la  Societc  royale  de  uu> 
decine.  T.  I.  CI.  II.  p.  687. 

9)  Journal  des  S^avants.  T.  IV.  p.  69.  Annee  1676. 

10)  Ibidem. 

11)  *  Histoirc  de  l’Acad.  r.  de  Sciences.  Annee  1710.  p.  61. 

12)  Ada 


II.  Leichenbefund  bei  der  Cholera. 


81 


12)  Acta  Eruditorum  aano  1718  publicata.  p.  309. 

13)  Fodere,  1.  c.  p.  35.  s 

14)  Memoires  de  l\Academie  roy.  de  Sciences.  Annee  1748. 
p.  528. 

15)  Memoires  presentes  ä  l’Acadcmie  royale  de  Sciences. 

T.  II.  p.  155. 

16)  Journal  de  Medecine.  1762.  p.  427.  396.  504. 

17)  Raulin,  Observ.  de  Medecine.  Par.  1754.  p.  320. 

18)  Pbilosophical  Trausactions.  T.  LII.  p.  523  et  584. 

19.  Read,  Traite  du  seigle  ergote.  1771. 

20)  Tessier,  Traite  des  maladies  des  grains,  in  Me¬ 
moires  de  la  societe  roy.  de  Medecine.  T.  I.  et  II. 
p.  687. 

21)  Vergleiche  O  zanam  und  Fodere,  1.  c.$  —  auch 
Orfila,  Toxicologie.  Tom.  U.  462. 


II. 

Ueber^den  Leichenbefund  bei  der  orienta¬ 
lischen  Cholera.  Von  Dr.  P.  Phoebus,  vor¬ 
maligem  Prosector  am  Charite -Krankenhause,  Pri- 
vatdocenten  an  der  Friedrich- Wilhelms -Univer¬ 
sität  und  praktischem  Arzte,  Mitgliede  des  Vereins 
für  Heilkunde  in  Preufsen  und  der  medicinisch- 
chirurgischen  Gesellschaft  zu  Berlin.  Berlin,  bei 
August  Hirschwald.  8.  VII  u.  340  S.  (lThlr.  18  Gr.) 

Bei  der  grofsen,  kaum  übersehbaren  Masse  vorhande¬ 
ner  Beobachtungen  der  Aerzte  über  den  Leichenbefund  der 
an  der  Cholera  Verstorbenen,  bei  den  höchst  divergiren- 
den  Angaben  über  diesen  Punkt,  die  so  oft  Resultate  theils 
flüchtigen  Anschauens,  theils  kritiklosen  Zusammenraffens 
alles  ungewöhnlich  Bemerkten,  theils  gänzlicher  Unkunde 
der  Anatomie  sind:  war  es  wol  wünschenswcrth,  dafs  des 
Band  28.  Heft  1.  6 


II.  Leichenbefund 


82 

•  vielfach  gcmifshandcltcn  und  doch  hochwichtigen  Gegen¬ 
standes  Einer  sich  annähmc,  der  durch  gründliche  Kennt- 
uifs  der  normalen  und  abnormen  Verhältnisse  des  mensch¬ 
lichen  Körpers  zum  Untersuchcr  berufen,  die  ihm  dazu 
gewordene  Gelegenheit  eifrig  benutzt  hatte,  und  mit  den 
fremden  Lcistuugen  vertraut,  diese  den  reichen  Resulta¬ 
ten  vielfacher  eigener  Beobachtung  gegen Überzugtellen  im 
Stande  war.  Keiner  vereinigte  wol  diese  Eigenschaften 
in  dem  Maafsc  in  sich,  als  der  geschätzte  Verfasser  vor¬ 
liegender  Schrift,  die  uns  die  Resultate  von  81  sorgfältig 
aoccstellten  Sectioneu  bietet,  mit  denen  die  Sectionsbe- 
fundc  fast  aller  bis  einschliefslich  des  Jahres  1831  und 
mehrer  später  öffentlich  aufgetretenen  Choleraärzte  ver¬ 
glichen  sin<l.  Da  der  Verfasser  mit  Recht  es  vorzog,  seine 
Arbeit  nicht  länger  dem  ärztlichen  Publikum  vorzucnthal- 
ten,  um  jetzt,  wo  noch  Zeit  zur  Untersuchung  ist,  den 
Gewinn  wie  den  Ölangel  zu  zeigen,  so  konnte  er  die  iu 
den  letzten  Jahren  in  grofser  Menge  erschienenen  Cholera¬ 
schriften  Audcrcr  für  seine  Arbeit  nicht  mehr  beuutzen, 
die  daher,  so  überaus  werthvoll  sie  ist,  nach  des  Au¬ 
tors  eigenen»  Ausspruche,  ihren  Gegenstand  nicht  erschöpft, 
und  auf  Vollständigkeit  keinen  Anspruch  macht.  Das  dem 
Verfasser  Eigene  bildet  sehr  zweckmäfsig  den  eigentli¬ 
chen  Text  des  Buches,  dem  das  Fremde  cutweder  refc- 
rirt  oder  kritisirt  in  Noten  gegenübersteht.  Uebcr  dea 
Verlauf  der  Krankheit  und  ihre  Dauer  bei  dem  Subjccte, 
von  welchem  die  Rede  ist,  und  selbst  über  die  ihm  gewor¬ 
dene  Behandlungsvveise,  finden  sich  meist  kurze,  doch 
genügende  Angaben;  das  die  Nachstadieu  betreffende  ist 
zweckmäfsig  gesondert. 

Im  cr8tca  Kapitel  schildert  der  Vcrf.  das  Verhalten 
des  Gefafssyslemes  in  Choleraleichcn :  Zunächst  verweilt 
er  bei  dem  Blute  selbst,  das  überall,  in  den  äufsercu,  wie 
in  den  inneren  Theilen,  in  den  Arterien,  wie  iu  den  Ve¬ 
nen  sehr  reichlich  gefunden  ward.  Am  auffallendsten  war 
zwar  immer  der  Blutüber/lufs  in  den  Cculralorgaucn,  dcu 


bei  der  Cholera. 


83 


Eingeweiden,  aber  auch  in  den  peripherischen  Organen 
und  bis  in  die  Spitzen  der  Extremitäten  war  im  Ganzen 
einiger  Blulüberflufs  unverkennbar.  Wo  man  auch  an 
den  Extremitäten  einschnitt,  ergofs  sich,  sowol  in  der 
Haut  und  dem  Zellgewebe,  als  in  den  Muskeln  und  den 
Knochen,  aus  den  kleineren,  und  mehr  noch  aus  den 
gröfseren  Gefäfsen,  mehr  Blut,  als  gewöhnlich.  Viel  stär¬ 
ker  und  gleichmäßiger,  als  bei  den  meisten  anderen  Lei¬ 
chen,  zeigte  sich  immer  das  ganze  Arteriensystem  von  den 
gröfsten  Stämmen  bis  in  die  feinsten,  fast  capillaren  Aest- 
chen  angefüllt.  Das  Blut  selbst  war  immer  sehr  dunkel, 
so  dafs  es  da,  wo  es  in  gröfseren  Massen  angehäuft  war, 
fast  schwarz,  wenn  man  es  aber  in  sehr  dünnen  Schich- 
tnn  betrachtete,  z.  B.  wenn  man  etwas  davon  auf  die  Haut 
des  Leichnams  schmierte,  ungefähr  von  der  Farbe  einer 
Heidelbecrsuppe  erschien.  Es  war  dickflüssiger,  zäher,  als 
gewöhnlich,  so  jedoch,  dafs  es  sich  einigermaafsen  in  zwei 
Theile  sonderte,  einen  mehr  flüssigen,  und  einen  mehr 
halb  geronnenen,  grumösen,  kleine,  Senfkorn-  bis  Bohnen- 
grofse  Klumpen  bildenden.  Die  Farbe  dieser  beiden  Theile 
war  dieselbe;  sie  fanden  sich  auch  immer  neben  -  und  durch¬ 
einander  in  demselben  Gefäfs.  Zugleich  zeigte  das  Blut 
eine  Neigung  zum  Absetzen  von  Gerinnseln,  welche  ent¬ 
weder  blofs  aus  Fibrine,  oder  viel  häufiger  aus  Fibrine  an 
der  oberen  und  einem  sehr  schwarzen  Cruor  an  der  un¬ 
teren  Seite  bestanden.  Die  Fibrine  in  diesen  Gerinnseln 
pflegte  etwas  mehr  gelblich  und  weniger  hell  gefärbt  zu 
sein,  als  wol  sonst.  Diese  Gerinnsel  fanden  sich  vorzugs¬ 
weise  in  den  gröfsten  Gefäfsen  und  im  Herzen.  Diese  Ei- 
genthümlichkeiten  des  Cholerablutes  zeigten  sich  sowol  in 
dem  Blute  der  Arterien,  als  in  dem  der  Venen,  in  dem 
Blute  des  grofsen,  wie  des  kleinen  Kreislaufes.  Häufig 
fanden  sich  kleine  Luftblasen  im  Blute,  welches  durch  sie 
mehr  oder  weniger  schaumig  erschien,  ohne  dafs  die  Lei¬ 
chen  in  Fäuluifs  übergegangen  waren.  Sie  waren  kleiner, 
zahlreicher,  dichter,  als  die  Luftblasen,  welche  man  nicht 

6  * 


84 


II.  Leichenbefund 


sollen  bei  Sectioneu,  besondere  in  den  Venen  findet.  Der 
Vcrf.  vermut  bet,  dafs  sieh  die  Luft  schon  im  Lehen  ge¬ 
bildet  habe,  und  wirft  die  beachtenswerte  Frage  auf:  ob 
diese  im  Blute  enthaltene  Luft  vielleicht  kohlcnsaurcs  Las 
sei.  Häufig  fanden  sich  Kcchymosen  im  subscröscn  Zell¬ 
gewebe,  unter  dem  serösen  Ucberzuge  des  Herzens,  zwi¬ 
schen  der  Aorta  und  dem  Herzbeutel,  zwischen  der  ab¬ 
steigenden  Brust -Aorta  und  den  Pleuren,  zwischen  der 
Rippenpleura  und  den  Brustwänden,  an  der  Oberfläche 
der  Lungen,  mehrmals  an  verschiedenen  Stellen  in  einer 
Leiche.  Wie  es  scheint,  bilden  sich  die  Ecchymosen  auf 
der  llölie  der  Krankheit,  und  bestehen  dann  eine  Zeitlang 
fort,  ehe  sie  resorbirt  werden.  Nach  diesen  allgemeinen 
Bemerkungen  schildert  der  Verf.  specicller  die  einzelnen 
Organe  rüe.keichtlich  ihres  gröfseren  oder  geringeren,  wirk¬ 
lichen  oder  scheinbaren  Blutreickthums. 

War  die  eigentliche  Cholera  schon  in  Nachkrankhei¬ 
ten  übergegangen:  so  fand  sich  das  Blut  immer  mehr  oder 
weniger  zu  seiner  gewöhnlichen  Farbe  und  Consislcnz  zu¬ 
rückgekehrt. 

Wie  alle  Theile  des  Körpers,  erschienen  auch  die  Ge- 
fälswandungen  injicirt,  und  ihre  Arterien  und  Venen  merk¬ 
lich  ar »gefüllt  Die  inneren,  und  namentlich  die  innerste 
Haut  der  Gcfäise,  boteu  nie  Veränderung  dar.  Mehrfach 
angestellte  künstliche  Injectionen  der  Gefalse  bewirkten 
häufig  Extravasate  aus  kleineren  Gcfafsen,  und  scheinen 
durch  ihre  Ergebnisse  überhaupt  darauf  hinzudeuten,  da& 
nicht  hlofs  die  gröfseren,  sondern  auch  die  feineren  und 
feinsten  Verzweigungen  des  Artericnsystcmes  ungewöhn¬ 
lich  mit  Blut  gefüllt  sind.  Der  Ductus  thoracicus  wurde 
fast  immer  leer,  und  auch  sonst  unverändert  gefunden, 
nur  in  drei  l  allen  war  er  stark  zusammengezogen.  Leer 
waren  auch  die  Saugadern  des  Gekröses,  dessen  Drüsen 
uur  iodividuclie  Verschiedenheiten  darboten. 

Das  nächste  Kapitel  ist  der  Schilderung  des  Befundes 
am  Nervensystem  und  an  den  Siuucsorgaueu  gewidmet 


bei  der  Cholera. 


85 


Weder  im  Gehirn,  noch  im  Rückenmark,  noch  in  den 
von  ihnen  ausgehenden  Nerven,  noch  im  Gangliennerven- 
systerne  fand  Phoebus  aulscr  der  allgemeinen  Injection, 
welche  sich  in  diesen  Theilen,  wie  iu  alleu  weifsen  pa¬ 
renchymatösen  Organen  ausspricht  und  nur  bisweilen  in 
ihnen  verkältnifsmäfsig  stark  auftritt,  irgend  eine  constante, 
für  d  ie  Cholera  charakteristische  Veränderung.  Bemer¬ 
kens  werth  ist  der  Umstand,  dafs  in  dem  sogenannten  ty¬ 
phösen  Nachstadium,  wo  der  Zustand  der  Kranken  auf 
eine  Blutstagnation  schliefsen  läfst,  diese  meist  gänzlich 
vcrmilst  ward,  dals  sich  dagegen  in  diesen  Fällen  mehr 
Wasser  in  den  Höhlen  und  zwischen  den  Membranen  fand. 
Sehr  genau  ist  der  Verf.  in  der  Schilderung  der  Eigen¬ 
tümlichkeiten,  die  unter  den  Sinneswerkzeugen  nament¬ 
lich  das  Auge  darbot. 

Im  dritten  Kapitel  wird  das  Muskelsystem  betrachtet. 
Oie  Muskeln  des  animalischen  Lebens  wurden  gewöhnlich 
mäfsig  dunkel  gefunden;  sie  participiren  an  der  allgemei¬ 
nen  ßiutinjection,  und  haben  in  dieser  Hinsicht  auch  durch¬ 
schnitten  dasselbe  Ansehen,  w7ie  andere  dunkel  gefärbte 
parenchymatöse  Organe.  Die  Leichenstarre  tritt  bei  den 
eigentlichen  Choleraleichen  ungemein  früh  ein,  wol  immer 
spätestens  in  den  ersten  Stunden  nach  dem  Tode.  Sie  ist 
aufserordentlich  stark,  und  dauert  ungewöhnlich  lange. 
Die  Stellung  der  Leiche  entsprach  immer  der  Steilung  im 
letzten  Augenblicke  des  Lebens,  ein  Beweis,  dafs  die  der 
Leichenstarre  zum  Grunde  liegende  Muskelcontraction  in 
gleichem  Maafse  in  allen  locomotiven  Muskeln  statt  hat. 
Diese  Erscheinungen  im  animalischen  Muskelsystem  treten 
in  den  Leichen  allmälich  um  so  mehr  zurück,  je  länger 
die  Krankheit  dauerte;  doch  sind  namentlich  die  Eigen- 
thümlichkeiten  der  Leichenstarre  in  den  ersten  Tagen  der 
Nachkrankheiten  noch  meistens  deutlich  ausgesprochen. 

Im  vierten  Kapitel  wird  das  Verhalten  des  Zellgewe¬ 
bes  und  der  verschiedenen  Membranensysteme  erörtert, 
wo  sich  der  Verf.  zunächst  gegen  die  angeblich  vorhandene 


86 


II.  Leichenbefund 


Trockenheit  der  äufscren  Haut  und  der  Schleimhäute  er¬ 
klärt.  Dagegen  bieten  unter  den  serösen  Häuten  mehre, 
namentlich  die  Pleura,  das  Bauchfell  und  der  Herzbeutel 
den  gewöhnlichen  Grad  der  Feuchtigkeit  und  die  gewöhn¬ 
liche  Menge  des  Secrclcs  nicht  dar.  Durchgängig  trocken 
war  auch  das  Zellgewebe,  sovvol  das  atmosphärisahe,  als 
das  organische  —  selbst  bis  in  die  Nachstadien  hinein. 
Charakteristisch  ist  auch  die  früh  cintretcndc  Austrock¬ 
nung  der  Coujunctiva  und  Sclerotica.  Auffallend  ist 
der  Collapsus  des  Zellgewebes,  welcher  sich  in  den 
äufscren  Theilen  dadurch  kund  gibt,  dafs  die  Haut  für 
die  unter  ihr  liegenden  Weichtheile  zu  weit  erscheint, 
an  mehren  Stellen  Runzeln  bildet,  und  dafs  die  Weich¬ 
theile  scharf  und  eckig  unter  ihr  hervortreten.  Die  nach 
dem  Tode  sich  findende  gewöhnliche  violette  Färbung  der 
äufscren  Haut  tritt  bei  den  eigentlichen  Choleralcichcn  früh, 
stark  und  6ehr  verbreitet  ein.  Bei  den  in  den  Nachsta¬ 
dien  Gestorbenen  tritt  sie  in  demselben  Maafse  zurück,  als 
die  qualitative  und  quantitative  Rückbildung  des  Blutes 
von  der  cholerischen  Beschaffenheit  zur  gewöhnlichen  er¬ 
folgt  ist.  Die  von  Mehren  gemachte  Bemerkung,  dafs 
Hautreize  bei  Cholerakranken  viel  weniger,  als  bei  ande¬ 
ren  wirken,  kann  der  Verf.  in  so  fern  bestätigen,  als  er 
an  den  Leichen  in  der  Regel  nur  unbedeutende,  oft  gar 
keine  Spuren  derselben  fand. 

Der  Gegenstand  des  fünften  Kapitels  ist  das  Verhalten 
des  Herzens  in  Cbolcraleichen.  Es  wurde  gewöhnlich  in 
seinen  beiden  Hälften,  mehr  jedoch  in  der  rechten,  von 
Blut  stark  ausgedehut  gefunden,  das  die  oben  angegebe¬ 
nen  Eigenthümliclikcitcn  zeigte.  Bei  den  in  den  Nachsta¬ 
dien  Gestorbenen  war  die  Anfüllung  im  Ganzen  weniger 
stark,  bisweilen  sogar  die  linke  Herzhfilfte  fast  leer. 

Der  Schilderung  der  Respirationsorganc  in  den  Cho- 
leraleichcn  ist  das  sechste  Kapitel  gewidmet.  Die  Lungen 
zeigen  die  allgemeine  Blutüberfüllung  der  parenchymatösen 
Organe.  Am  Acufsercu  der  Lungen,  so  wie  in  ihrem  Luft- 


bei  der  Cholera. 


87 


gehalt,  wurde  keine  bemerkbare  Verschiedenheit  wahrge¬ 
nommen.  Die  in  anderen  Leichen  so  häufige  starke  An- 
f ü Hang  der  Lungen  mit  einem  schaumigen  und  mehr  oder 
weniger  blutigen  Serum,  einem  Residuum  kurz,  vor  dem 
Tode  cingetrctener  Congestion ,  in  Folge  welcher  die  stark 
ausgedehnten  Lungen  bei  der  Eröffnung  der  Brust  nicht  zu¬ 
sammenfallen,  hatPhoebus  bei  den  eigentlichen  Cholera¬ 
leichen  nie  gefunden.  Die  Schleimhaut  der  Bronchialästc 
ist  gewöhnlich  mäfsig,  capilliform  injicirt;  sie  ist  feucht, 
oder  es  lindet  sich  auch  wol  eine  geringe  Quantität  schau¬ 
migen,  bisweilen  grünlichen  Schleimes  auf  ihr.  Der  Verf. 
bestreitet  die  oft  vorgetragene  Ansicht,  als  ob  mit  Lun¬ 
gentuberkeln  behaftete  Individuen  selten  oder  gar  nicht 
von  der  Cholera  befallen  worden  wären.  Die  Schleim¬ 
haut  des  Kehlkopfes  und  der  Luftröhre  verhielt  sich  wie 
die  der  Bronchialäste,  nur  dafs  sie,  wo  die  letztere  be¬ 
sonders  stark  injicirt  und  dunkel  gefärbt  war,  es  weniger 
zu  sein  pflegte.  Schilddrüse  und  Thymus  zeigten  die  all¬ 
gemeine  charakteristische  Blutüberfüllung.  Die  geschilder¬ 
ten  Erscheinungen  in  den  Respirationsorganen  und  ihren 

i  .  ^ 

Annexen  erhielten  sich  auch  in  den  iSachstadieu  der  Cho¬ 
lera  so  lange,  als  die  übrigen  charakteristischen  Ergebnisse 
des  Leichenbefundes. 

Mit  den  Digestionsorganen  beschäftigt  sich  das  sie¬ 
bente  Kapitel.  Im  Munde  und  Rachen  fanden  sich  aufser 
der  allgemeinen  Injection,  auch  einigemal  die  gröfseren 
Schleimbälge  an  der  Wurzel  der  Zunge  ungewöhnlich 
grofs.  Die  Speiseröhre  pflegte  mehr  oder  weniger  ange¬ 
füllt  zu  sein,  oft  sehr  stark.  Falls  nicht  Arzeneien  dem 
Innern  der  Speiseröhre  eine  accidentelle  Färbung  gaben, 
pflegte  dasselbe  bei  den  eigentlichen  Choleraleichen  von 
einem  charakteristischen,  matt- weifsröthlichen  Teint  zu 
sein,  welches  wol  von  einer  Veränderung  des  Epithelium 
herrührte;  denn  wo  dieses  sich  stellenweise  abgelöset  hatte, 
erschien  die  Schleimhaut  duukler  und  mehr  roth  gefärbt. 
Bei  den  in  den  Nachstadien  der  Cholera  Sterbenden  scheint 


8$ 


IL  Leichenbefund 


jene  blasse,  wcifsrötblicbe  Färbung  allmälich  aufzuhören 
und  einer  dunklereu  Platz  zu  macken.  l)ie  Injection  der 
Speiseröhre  ist  die  allgemeine  des  ganzen  Körpers.  Die 
Schleimfollikeln  fanden  sich  bisweilen  stark  entwickelt. 
Magen  und  Darmkanal  sind  unter  allen  Thcilcn  des  Kör¬ 
pers  die  einzigen,  welche  nicht  nur  die  allgemeine  passive 
Blutüberfüllung  in  höherem  Grade,  sondern  auch  aufscr- 
dem,  wenigstens  Stellenweise,  eine  unzweideutig  active 
zeigten.  Schon  äufserlich  war,  namentlich  ain  Dünndarm 
und  besonders  am  unteren  Theile  desselben,  die  allgemeine 
Injection  der  Venen  und  Arterien  auffallend  stark,  weni¬ 
ger  anj  Magen  und  Dickdarm.  Aufser  den  unterscheidba¬ 
ren  gröberen  und  feineren  Geiafsvcrzvvcigungcn,  sah  mau 
noch  ain  Dünndarm  einen  rotheu  Farbenton,  welcher  bald 
heller,  bald  merklich  dunkler  rolh  war,  bald  einen  Stich 
ins  Bläuliche,  selleu  io  andere  Farben  zeigte.  Magen  und 
Dickdarm  dagegen  erschienen  weit  weniger  verändert,  bald 
mehr  bläulichgrau,  bald,  in  dcu  intensiveren  Fällen  und 
hei  etwas  stärkerer  Injection,  mehr  bräunlichgrau,  rauch¬ 
grau.  Namentlich  zeigte  der  Dickdarm  häufig  kaum  eine 
Abweichung  in  Injection  und  Farbenton.  Hatten  die  Lei¬ 
chen  etwas  länger  gelegen,  so  traten  ähnliche  Farbenän¬ 
derungen  ein,  wie  sie  auch  in  anderen  Leichen  als  eines 
der  ersten  '/.eichen  der  stärker  vorschrcitendcn  Fäulnifs  er¬ 
scheinen.  Magen  und  Darmkanal  waren  im  Ganzen  ge¬ 
wöhnlich  stark  ausgedehnt,  und  zwar  in  solchen  Fällen, 
wo  die  Kranken  einer  höchst  iutensiven  Cholera  erlagen, 
ehe  es  noch  recht  zu  den  charakteristischen  Ausleerungen 
durch  Stuhlgang  und  Erbrechen  kam,  hauptsächlich  von 
Flüssigkeit,  sonst  doch  gewöhnlich  von  Flüssigkeit  und 
Luft,  selten  waren  sie  mehr  leer  und  zusamincugezogco. 
Nur  der  Dickdarm  fand  sich  häufig  in  Fällen  verschiede¬ 
ner  Art  grofsenlkeils  leer  und  zusammengezogen;  war  er 
ausgedehnt,  so  pflegte  dies  mehr  die  Luft  zu  sein.  Nicht 
selten  war  er  Stellenweise  ausgedehnt,  und  an  anderen 
Stellen  zusammengezogen.  Besonders  häufig  fand  sich  eine 


bei  der  Cholera. 


89 


starke  Zusammenziehung  beim  Mastdarm.  Der  Dünndarm 
war  sehr  ausgedehnt,  und  erfüllte  namentlich  den  Raum 
des  kleinen  Beckens  oft  zum  gröfsten  Theile.  Im  Innern 
des  Magens  und  Darmkanales  fanden  sich  sehr  gewöhnlich 
ganz  gleiche  Massen,  wie  sie  bei  Lebzeiten  durch  Erbre¬ 
chen  und  Durchfall  entleert  wurden.  Man  überzeugte  sich 
in  solchen  Fällen,  wo  die  Kranken  starben,  ehe  diese  Mas¬ 
sen  von  der  Stelle  ihres  Ursprunges  entfernt  wurden,  leicht, 
dal's  sie  im  Dünndarm  vorzugsweise  oder  ausscldiefslich 
ihre  Quelle  haben.  Im  Magen  fand  man  in  solchen  Fäl¬ 
len,  wo  die  Kranken  starben,  ehe  es  zum  Erbrechen  kam, 
oft  halb  verdaute  Ueberreste  von  Speisen  und  Getränk. 
Selten  fanden  sich  im  Dickdarm  noch  Ueberreste  gewöhn¬ 
licher  Fäces.  Nicht  selten  dagegen  fand  man  im  Wurm¬ 
fortsatz,  selbst  wenn  die  Cholera  schon  einige  Tage  ge¬ 
dauert  hatte,  noch  ein  sehr  geringes  Residuum  gewöhn¬ 
lichen  Darmkothes.  Würmer,  die  sich  nicht  selten  fan¬ 
den,  gaben  kein  Lebenszeichen,  auch  wenn  die  Leichen 
noch  sehr  frisch  waren.  Im  Inneren  des  Magens  und  Darm¬ 
kanales  bemerkte  man  zunächst  dieselbe  Injection,  wie  an 
der  äufseren  Fläche.  Hierzu  aber  tritt  im  Magen  fast  im¬ 
mer,  sehr  oft  auch  im  Darmkanale,  Stellenweise  noch 
eine  Injection  der  Schleimhaut  selbst.  Während  jene  dem 
Unterschleimhautzellgewebe  angehörende  Injectien  neben 
feineren  und  sehr  feinen  Zweigen  auch  gröbere  in  mehr 
baumförmiger  Vertheilung  zeigt,  auch  Venen  und  Arterien 
unterscheiden  läfst,  bietet  diese,  der  Vascularität  der 
Schleimhaut  entsprechend,  nur  feinere  und  sehr  feine  Ver¬ 
zweigungen  in  mehr  netzförmiger  Vertheilung  dar,  und 
man  kaun  nicht  mehr  zweierlei  Gefäfssysteme  unterschei¬ 
den.  Es  wird  aber  diese  eigentlich  mucöse  netzförmige 
Injection  nicht  selten  stellenweise  so  reich  und  dicht,  dafs 
man  auf  den  ersten  flüchtigen  Blick,  besonders  wenn  man 
den  Darm  nicht  nahe  ansieht,  rothe  Punkte,  Streifen  und 
Flecke  zu  bemerken  glaubt;  und  die  einzelnen  feinen  Ge- 
fafse,  welche  sie  bilden,  übersieht.  Die  Röthe  an  den 


<10 


II.  Leichenbefund 


nuf  diese  Weise  injicirtcii  Stellen  ist  nach  weniger  inten¬ 
siven,  aber  auch  nach  7,11  rasch  tödilieh  gewordenen  Krank¬ 
heitsfällen  mehr  blafsroÜ»,  nach  intensiven  und  zugleich 
gehörig  zur  Entwickelung  gekommenen  Fällen  bei  reiche¬ 
rer  Aufüllung  der  Gcfiifse  mehr  lebhaft  und  intensiv  roth, 
nach  höchst  intensiven,  so  wie  nach  älteren  Fällen  mehr 
dunkelroth.  Diese  Injcction  bekundet  sich  nicht  bloi's 
durch  ihren  Sitz  in  der  Schleimhaut  selbst,  sondern  auch 
durch  ihr  mehr  oder  weniger  partielles,  oft  auf  sehr  kleine 
Stellen  beschränktes  Vorkommen,  an  nicht  abhängigen  eben 
8ovvol,  als  an  abhängigen  Stellen,  dadurch  dafs  die  ihr 
angchörigen  capillifornien  Verzweigungen  weniger  offen¬ 
bar  mit  den  Verzweigungen  der  submucösen  Injeetion  Zu¬ 
sammenhängen  oder  doch  in  einem  Grade  entwickelt  sind, 
welchem  die  der  Stelle  nach  entsprechende  submucöse  In- 
jection  nicht  gleichkömmt,  so  wie  dadurch,  dafs  fast  im¬ 
mer  gleichzeitig  die  Cousistcnz  der  Schleimhaut  an  diesen 
Stellen  verändert  ist,  unzweideutig  als  eine  activc,  falls 
anders  unsere  Wissenshaft  irgend  so  weit  gediehen  ist ^ 
eine  active  Injcction  im  Dannkanale  vou  einer  passiven 
unterscheiden  zu  können.  Diese  Injcction  findet  sich  im 
Magen  sehr  constunt  und  meistens  sehr  verbreitet,  oft  den 
bei  weitem  gröfsten  Tbeil  der  inneren  Oberfläche  einneh¬ 
mend;  wo  sie  partieller  vorkömmt,  sind  die  Stellen,  an 
welchen  sie  erscheint,  nicht  immer  dieselben.  Nicht  sel¬ 
ten  setzt  sie  sich  aus  dem  Magen  noch  auf  eine  Strecke 
des  Duodenum  fort,  während  sic  im  übrigen  Darmkanalc 
nicht  za  finden  ist.  Im  Darmkanale  ist  sie  bei  weitem 
nicht  so  coustant,  als  im  Magen,  und  kömmt  auch  mei¬ 
stens  nur  an  vcrhältnifsmäfsig  geringen  und  wenig  zahlrei- 
eben  Stellen  vor.  Eine  Ausnahme  hiervon  machen  am 
häufigsten  diejenigen  Individuen,  welche  im  Lehen  blutige 
Stuhlgänge  hatten;  hei  dieseu  findet  sie  sich  6ehr  gewöhn¬ 
lich  in  gröfserem  Umfange,  und  zwar,  sowol  was  die  Häu¬ 
figkeit,  als  was  die  Ausdehuung  betritft,  vorzugsweise  im 
Dünndarm;  uicht  selten  erreicht  sie  hierbei  einen  uuge- 


bei  der  Cholera. 


91 


wohnlich  hohen  Grad,  bisweilen  färbt  sich  sogar  die  ganze 
Schleimhaut  oder  selbst  alle  Darmhäute  durch  uud  durch 
blutroth.  Die  blutgefärbten  Massen  selbst,  die  sich  im 
Darmkanalc  finden,  haben  übrigens  nichts  Eigentümliches 
und  Charakteristisches,  sondern  es  sind,  je  nach  dem  Ver¬ 
laufe  des  Krankheitsfalles,  bald  die  eigentümlichen  cho¬ 
lerischen,  bald  mehr  fäcale  Massen,  bald  nur  eine  den 
Darm  Wandungen  adhärirende  schleimig -viscide  Schicht, 
und  den  einen,  wie  den  andern,  ist  nur  accidentell  I31ut 
beigemischt,  aber  so  wenig,  dafs  man  es  nicht  mehr  als 
solches,  sondern  nur  durch  die  Farbe,  die  es  den  Massen 
gibt,  erkennen  kann. 

Die  blutige  Färbung  der  Darmcontenta  fand  sich  so- 
wol  bei  auf  der  Höhe  der  Krankheit,  als  auch  bei  im  ty¬ 
phösen  Nachstadium  Gestorbenen,  und  zwar  bei  den  letz¬ 
teren  häufiger  in  beträchtlichem  Grade.  Phoebus  fand 
sie  schon  nach  einer  6*~stündigen,  und  noch  nach  einer 
fünftägigen  Dauer  der  Krankheit.  Die  stärkere  lujection 
auf  der  Innenfläche  des  Darmkanales  und  Magens  und  die 
damit  zusammenhängende  blutige  Färbung  der  Häute  kam 
zwar  vorzugsweise,  doch  nicht  ausschliefslich  in  Verbin¬ 
dung  mit  der  blutigen  Färbung  der  Contenta  vor,  war 
vielmehr  häufiger  als  diese,  Der  Verf.  fand  nicht  blofs 
bisweilen  hier  und  da  in  der  Schleimhaut  des  Magens  und 
Darmkanales  einzelne  kleinere  Stellen  gleichmälsig  dunkel- 
roth  oder  braun  gefärbt,  ohne  unterscheidbare  Gefäfse,  bis¬ 
weilen  eiuigermaafsen  an  Ecchymoscn  erinnernd,  sondern 
er  fand  auch  jene  Veränderungen  in  gröfserer  Ausdehnung, 
ohne  dafs  im  Leben  etwas  von  blutiger  Färbung  der  Ex¬ 
cremente  angemerkt  worden,  oder  bei  der  Section  wahr¬ 
zunehmen  gewesen  wäre.  Die  blutige  Färbung  der  Darm¬ 
contenta  ist  also  die  zwar  gewöhnliche,  aber  nicht  noth- 
wendige,  und  deshalb  nicht  ganz  constante  Folge  der  acti- 
ven  Hyperämie,  wenn  diese  einen  höheren  Grad  erreicht 
hat.  An  den  mucös  injicirten  Stellen  ist  die  Schleimhaut 
gewöhnlich  aufgelockert,  verdickt,  weniger  durchscheinend: 


92 


II.  Leichenbefund 


in  manchen  recht  intensiven  Fällen  sogar  durchgängig,  ob- 
wol  in  geringerem  Grade,  häufiger  blofs  im  Magen.  In 
manchen  intensiven  Fällen  erscheinen  auch  die  Häute  des 
Magens  und  Darmkanales  im  Allgemeinen  etwas  erweicht 
und  leicht  zcrrcifsbar.  I)ic  Scblcimfollikeln  des  Magens 
und  Darmkanalcs  erscheinen  im  Allgemeinen  grols;  weni¬ 
ger  die  des  Magens,  als  die  Brenner  sehen  Drüsen,  die 
solitären  Drüsen  des  Krumnidarms  und  Dickdarms,  und 
die  Pey ersehen  Drüsen.  Die  Mündungen  der  Dickdorm- 
drüseu,  unter  welchen  sich  meistens  die  des  Wurmfort¬ 
satzes  durch  ihre  Entwickelung  besonders  auszcichncu, 
pfle  gen  stark  zu  klaffen,  weniger  deutlich  die  der  andern. 
Bisweilen  sind  in  einer  Peyerscben  Drüse  nur  einzelne 
Krypten  stark  entwickelt,  die  übrigen  mehr  oder  weniger 
undeutlich.  Von  den  solitären  Drüsen  linden  sich  nament¬ 
lich  die  des  Dickdarmes  an  ihrem  Umfange  bisweilen  mit 
einem  aus  haarförmigeu  Getafsvcrzweigungcn  gebildeten, 
schmalen  Injectionsringc  umgeben,  seltener  die  im  Krumm¬ 
darme.  Auch  die  Peyerscben  Drüsen  zeigen  bisweilen 
um  ihren  Gesammt umfang  einen  schmalen,  nicht  immer 
vollständigen  Injectionskranz.  Die  Oberfläche  der  Pey  er¬ 
sehen  Drüsen  participirt  oft,  nicht  immer,  in  den  Inter- 
stitien  zwischen  den  einzelnen  Krypten  an  der  allgemei¬ 
nen  submucösen  oder  mucösen  Injection  der  Stelle  des  Dar¬ 
mes,  welcher  sie  angeboren.  Da  die  Peyerscben  Drü¬ 
sen  stark  entwickelt  sind,  so  werden  selbst  die  kleineren 
unter  ihnen,  welche  bis  in  die  obere  Hälfte  des  Dünndar¬ 
mes  hinaiifgehen,  deutlich. 

Nachdem  die  Entwickelung  der  Darmdrüsen  etwa  am 
zweiten  Tage  ihr  Maximum  erreicht  hat,  bilden  sie  sich 
in  den  Nachstadien  der  Cholera  allmälich  zurück.  Die 
Zotten  sind  im  Allgemeinen  stark  entwickelt,  besonders 
im  Krummdarm.  Sie  sind  meist  mattvveifs  gefärbt,  und 
nehmen  nur  accidcntell  durch  die  Couteula  des  Dünndarms 
bisweilen  eine  andere  Farbe  an,  welche  sich  aber  dann  in 
der  Kegel  leicht  abwascheu  lälst.  Sie  zeigen  sich  auch 


93 


bei  der  (Cholera. 

auf  der  Oberfläche  de?  Pey ersehen  Drüsen,  in  den  Inter- 
stifien  der  Krypten,  stark  entwickelt.  Dreimal  fand  Plioe- 
hus  bei  Choleraleichen,  von  denen  jedoch  eine  dem  ty¬ 
phösen  Nachstadiurn  angehörte,  Darminvaginationen.  Was 
die  Nachstadien  betrifft:  so  erhält  sich  die  äufsere  und  in¬ 
nere,  suhmucöse  und  mucöse  Injection  lange;  die  mucöse 
scheint  sogar  nebst  der  von  ihr  hervorgerufenen  blutigen 
Färbung  des  Darmkanals  ihr  Maximum  gewöhnlich  erst  im 
typhösen  Nachstudium  zu  erreichen.  Die  gesammte  Inje¬ 
ction  wird,  wie  auch  der  Grundton  der  äufseren  und  in¬ 
neren  Färbung  des  Magens  und  Darfnkanalcs,  bei  ihrer 
Abnahme  allmälich  dunkler  und  schmutziger,  bis  endlich 
Beides,  Injection  und  Grundton,  wieder  in  das  normale 
Ansehen  übergeht.  Die  aufgetriebenen  Schleimfollkeln  tre¬ 
ten  allmälich  wieder  zurück.  Die  Coutenta  des  Dünu- 
darms  und  Dickdarmes  nähern  sich,  von  der  blutigen  Fär¬ 
bung  abgesehen,  in  Ansehen  und  Geruch  wieder  der  ge¬ 
wöhnlichen  Beschaffenheit- der  Fäces,  werden  auch  allmä¬ 
lich  wieder  consistenter. 

Sowol  auf  der  Höhe  der  Krankheit,  als  in  den  Nach 
Stadien,  hat  Phoebus  nicht  selten  deutliche  Zeichen  von 
Gallenergiefsung  im  Zwölffingerdarm,  und  oft  auch  noch 
tiefer  herunter,  im  Duodenum  gesehen.  In  vier  Fällen 
fand  sich  bei  im  typhösen  Nachstadium  Gestorbenen  be¬ 
ginnende  Geschwürbildung  in  der  Schleimhaut  des  Dick¬ 
darms.  Die  Leber  zeigte  die  allgemeine  Blutüberfüllung, 
wie  sie  sich  in  allen  parenchymatösen  Organen  ausspricht. 
Die  Gallenblase  findet  sich  bei  den  auf  der  Höhe  der  Krank¬ 
heit  und  bei  den  in  den  Nachstadien  Gestorbenen  biswei¬ 
len  mäfsig,  bisweilen  auch  stark  angefüllt  von  einer  in  der 
Regel  etwas  dunkleren  Galle.  In  den  Gallengängen  fand 
sich  auch  nicht  die  geringste  Abnormität.  In  den  Gallen¬ 
gängen  im  Innern  der  Leber  findet  sich  in  allen  Stadien 
der  Cholera  gerade  eben  so  viel  Galle,  als  gewöhnlich  in 
anderen  Leichen,  von  derselben  intensiv  hellgelben  Farbe. 
Galleustcine  finden  sich  in  Choleraleichen  verhältnifsmäfsig 


94 


11.  Leichenbefund 


eben  so  selten,  als  Lungentubcrkcln.  In  der  normal  so 
blutreichen  Milz  kann  sich  eine  mäfsige  Blutüberfüllung 
nicht  bemerklich  machen;  unter  allen  Organen  des  Kör¬ 
pers  bietet  sic  daher  am  wenigsten  Charakteristisches  dar. 
Phoebus  fand  sechsmal  die  von  Malpighi  beschriebenen 
weifsen  Körnchen  in  grofscr  Menge  durch  die  Milz  zer¬ 
streut,  von  der  Gröfsc  eines  müfsigen  Stecknadelknopfcs, 
und  kleiner,  so  dafs  sic  beim  Hcraushebcn  mit  der  Mes¬ 
serspitze  zerflossen.  Das  Pancreas  zeigt  die  allgemeine 
Blutüberfüllung  und  das  Ansehen  deiumchr  weifsen,  paren¬ 
chymatösen  Organe. 

Gegenstand  des  achten  Kapitels  sind  die  Harnorgane. 
Die  Nebennieren  zeigen  die  allgemeine  Injection  der  pa¬ 
renchymatösen  Organe.  Eben  so  die  Nieren.  Sehr  schön 
sieht  man  gewöhnlich  die  Nieren  an  ihicr  Oberfläche  in 
Gestalt  unregelmäfsiger  Sterne  blau  injicirt.  Ibr  Inneres 
erscheint  dunkel,  und  zwar,  dem  normalen  Verhalten  ent¬ 
sprechend,  die  Marksubstanz  mehr  als  die  Rindensubstanz. 
Das  Iuncre  der  Niercnkelche  und  Nierenbecken  erscheint 
wie  das  der  Ureteren  und  der  Harnblase  matt  röthlich- 
weifs  gefärbt,  und  fein  ramiform  und  capilliform  injicirt. 
In  allen  diesen  Theilen  findet  sich  eine  äufserst  geringe, 
in  der  Harnblase  nicht  leicht  über  1  bis  2  Theclöffel  be¬ 
tragende,  oft  aber  in  einem  oder  dem  anderen  Theiic  der 
Ilarnwegc  kaum  bemcrkliche  Quantität  einer  mehr  oder 
weniger  trübeu,  gräulich  -  oder  gelblich- weifsen,  nicht  uri- 
nös  riechenden,  Lackmuspapicr  röthenden  Flüssigkeit.  Die 
Harnblase  ist  sehr  zusamraengezogen,  bisweilen  bis  zur 
Gröfse  einer  Kastanie,  meist  etwas  platt,  so  dafs  sie  we¬ 
nig  hinter  der  Syrophysis  pubis  ins  kleine  Becken  hincin- 
ragt,  wenig  ins  Auge  fällt.  Oft,  aber  nicht  immer,  fühlt 
sie  sich  dabei  etwas  hart  an.'  Sie  ist  nach  aufsen  fein  ra¬ 
miform  und  capilliform  injicirt;  ibr  Inneres  erscheint  bei 
so  starker  Zusammcnziehuug  stark  gerunzelt;  die  Injection 
an  ihrer  Innenfläche  ist,  der  normalen  Vascularität  ent- 
sprehend,  um  den  BlaseuhaU  herum  bedeutend  stärker,  als 


bei  der  Cholera. 


95 


in  den  übrigen  Theilen.  In  den  Nachstadien  der  Cholera 
tritt  die  Injcction  der  Harnorgane  in  demselben  Maafse, 
als  die  auderer  Theile  zurück,  eben  so  wie  die  eigenthüm- 
liche  Färbung  ihrer  Schleimhaut.  Sehr  lange  erhält  sich 
die  Beschaffenheit  des  Contentum  der  Harn  Wege;  der  Verf. 
hat  sic  wiederholt  noch  am  vierten  Tage,  nachdem  die 
Krankheit  längst  in  den  typhösen  Zustand  übergegangen 
war,  ziemlich  unverändert  gefunden.  Dann  erst  wird  die 
Flüssigkeit  copiöser,  weniger  trübe  und  geht  allmälich  in 
einen  mehr  normal  aussehenden  Harn  über,  der  einigemal 
noch  sehr  spät  das  Lackmuspapier  röthete.  Die  Zusam¬ 
menziehung  und  Runzelung  der  Blase  verschwinden  natür¬ 
lich.  Die  männlichen  und  weiblichen  inneren  Geschlechts- 
theile  zeigten  die  allgemeine  Blutüberfüllung.  Die  Saamen- 
gänge  uud  Saamenblaseu  fand  Pboebus  mehr  oder  weni¬ 
ger  angefüllt  mit  der  gewöhnlichen,  in  den  Gängen  weifs- 
lichen,  in  den  Blasen  bräunlichen  Flüssigkeit. 

Der  Schilderung  des  Aeufseren  der  Choleraleichen  ist 
das  zehnte  Kapitel  gewidmet. 

Das  elfte  Kapitel  enthält  sehr  interessante  Bemerkun¬ 
gen  über  die  angeblich  lange  Bewahrung  der  thierischen 
Wärme  der  Choleraleichen,  über  das  angeblich  späte  Ein¬ 
treten  der  Fäulnifs,  über  Ansteckung  durch  Leichen,  über 
die  Zuckungen  der  Muskeln  nach  dem  Tode,  über  den 
Einflufs  der  Individualität  der  Kranken  und  der  verschie¬ 
denen  Medicalien  auf  die  Erscheinungen  in  der  Leiche, 
über  die  Verschiedenheit  des  Leichenbefundes  in  den  ver¬ 
schiedenen  Epidemieen  (und  Städten),  über  die  Aehnlich- 
keit  die  zwischen  dem  Leichenbefund  der  an  Cholera  und 
der  an  anderen  Krankheiten  Verstorbenen  statt  hat. 

Das  zwölfte  Kapitel  enthält  die  Beschreibung  des  Er¬ 
gebnisses  zweier  Sectionen  von  Individuen,  an  denen  im 
Leben  die  Transfusion  gemacht  worden,  und  der  Sectio¬ 
nen  einiger  Neugebornen.  Den  Schlufs  bildet  eine  Paral¬ 
lele  zwischen  einem  Obductionsbcricht  des  Herrn  Professor 
Scoutetten  und  einem  vom  Verfasser. 


m  hi.  Allgemeine  Krankhoitslchre. 

'  Das  ganze  Werk  ist  mit  so  vieler  Sorgfalt,  Genauig¬ 
keit,  vorurtheilsfrcicn  Umsicht  und  Gelehrsamkeit  abgc- 
fafst,  dafs  es  gewifs  nicht  nur  den  treulichsten  Schriften, 
die  wir  über  die  Cholera  besitzen,  sondern  auch  den  vor¬ 
züglichsten  Leistungen  im  Fache  der  Pathologie  überhaupt 
an  die  Seile  gestellt  werden  kann.  Aufscr  dem  nur  die 
Cholera  Betreffenden^  enthält  cs  eine  Menge  wichtiger 
anatomischer  und  physiologischer  Bemerkungen,  und  kann 
namentlich  Jedem,  der  aus  Leichenöffnungen  überhaupt  Be¬ 
lehrung  zu  schöpfen  denkt,  nicht  genug  als  Muster  und 
Vorbild  vorgchaltcu  >verden. 

►  •  ,  '  *  i%  *  St» 


y  in. 

Allgemeine  Krankheitslehrc;  von  Dr.  K.  F. 
H.  Marx,  ordentlichem  Professor  der  Medicin  in 
Göttingen,  der  König).  Gesellschaft  der  Wissen¬ 
schaften  daselbst  nnd  mehrer  gelehrten  Gesellschaf¬ 
ten  Mitgliede.  Göttingen,  bei  Vandcnhoek  und 
Ruprecht.  1833.  8.  XII  u.  273  S.  (iThlr.  6  Gr.) 

Die  grofsen  Schwierigkeiten,  mit  denen  die  Darstel¬ 
lung  eines  Zweiges  der  Wissenschaft  in  seiner  Gesanmt- 
heit  verknüpft  ist,  erkennt  derjenige,  den  eigene  Erfah¬ 
rung  sic  nicht  kennen  lehrte,  am  besten  aus  deu  vielen  mifs- 
lungcnen  Arbeiten  solcher  Art.  Selten  nur  halten  diese  das 
richtige  Maafs.  Die  Geistreichen  unter  den  Bearbeitern 
pflegen  häufig  weniger  deu  Standpunkt  der  Wissenschaft 
zu  bezeichnen,  als  den,  welchen  sic  seihst  behaupten: 
sie  geben  weniger  das  reine  Resultat  aller  Erfahrungen, 
die  ihnen  nicht  selten  fremd  sind,  als  sic  vielmehr  ihre 
eigene  Anschauungsweise  aller  Gegenstände  kennen  lehren; 
sie  sind  weniger  objectiv,  als  subjectiv:  überall  leuchtet 

des 


97 


III.  Allgemeine  Krankheitslehrc. 

des  Verfassers  Individualität  durch.  —  Diesen  gegenüber 
stehen  Andere,  die  sich  selber  gern  als  «nüchtern»  be¬ 
zeichnen,  dafs  ihr  Gegensatz  gegen  jene,  die  im  Rausche 
gewissermaafsen  Alles  vollbrachten,  klar  werde.  Aengst- 
lieh  meiden  sie  Alles,  was  einer  individuellen  Anschauungs¬ 
weise  ähnlich  seben  könnte;  mit  Zittern  erheben  sie  sich 
zu  allgemeinen  Sätzen,  lieber  eine  Masse  von  Thatsachen 
aufzähleud,  als  das  allen  Gemeinschaftliche  daraus  selber 
entnehmend.  Es  könne  doch  einmal  eine  Zeit  kommen, 
meinen  die  Furchtsamsten  unter  ihnen,  wo  ein  einziges 
neues  Factum  ein  erkanntes  Gesetz  umstofse:  darum  sei  es 
besser,  keine  Gesetze  aufzustellen;  als  ob  es  ein  Verbre¬ 
chen  wäre,  einmal  einen  Irrthum  zu  begehen;  als  ob  es 
eine  Schande  wäre,  ihn  einzugestehen;  als  ob  nie  ein 
Versuch  zur  Erkenntnifs  des  Gesetzmäfsigen  in  den  Er¬ 
scheinungen  gemacht  werden  dürfte!  —  Indefs  läfst  man 
dieser  Leute  Treiben  gerne  sich  gefallen,  wenn  sie  nur 
Material  schaffen  und  sichteu  und  ordnen;  dadurch  haben 
ihrer  Viele  Grofses  genützt  und  das  Wichtigste  vorberei¬ 
tet,  und  ihre  Namen  werden  mit  Recht  gefeiert.  Scha¬ 
den  aber  stiften  unter  den  Nüchternen  diejenigen,  die  zu 
wenig  Lust  haben,  Beobachtungen  anzustellen,  zu  wenig 
Fleifs,  Vorhandenes  zu  sammeln,  zu  wenig  Geist,  es  zu 
ordnen,  zu  viel  Selbstgefälligkeit,  um  schweigen  zu  kön¬ 
nen,  die  das,  was  sie  in  dumpfer  Beschränktheit  von  der 
Wissenschaft  fassen,  als  deren  Gesammtinhalt  verkaufen 
wollen.  — - 

Nachdem  der  Verf.  in  einer  kurzen  Vorrede  sein  Un¬ 
ternehmen  gerechtfertigt,  beginnt  er  den  ersten  Abschnitt: 
V  on  der  Krankheit  und  dem  Erkranken  im  Allgemeinen. 
Die  Pathologie  ist  ihm  die  Lehre  von  der  Bildung  und 
Dauer  der  Krankheit;  eine  Natur-  und  Lebensgeschichte 
der  Gesundheitsstörung.  Ihre  Aufgabe  ist  die  Beantwor¬ 
tung  der  Frage:  Wie  entsteht  Krankheit,  und  welche 
sind  die  Gesetze  ihres  Bestehens?  —  Sie  entwickelt  die 
Bedingungen  des  Erkrankens  überhaupt,  die  Gesammlheit 
Band  28.  Heft  I.  7 


98 


III.  Allgemeine  Krankheitslehre. 

der  in  Unordnung  gerathenen  Vorgänge  im  Inneren  des 
Körners,  und  deren  cigenthümlichcs,  räumliches  und  zeit¬ 
liches  Verhalten,  ohne  besondere  Rücksicht  auf  das  Her- 
vortreten  einer  bestimmten  Form.  Das  genaue  Eingehen 
in  eine  Krankheitsart,  oder  in  eine  besondere,  in  sich  ab¬ 
geschlossene  Form  der  Gesundheitsstörung,  welche  in  einer 
gesetzlichen  Folge  ihre  eigenthümlichen  Zufälle  entwickelt, 
bleibt  ausgeschlossen.  Die  allgemeine  Pathologie  soll  die 
Bedingung  und  Regel  des  Erkrankcns  nach  weisen,  die 
Grenzen  unseres  W  issens  in  dem  Gebiete  der  Krankheits¬ 
entstehung  bezeichnen,  den  Zusammenhang  der  einzelnen 
Thcilc  der  Mcdicin  klar  machen  und  auf  jede  Weise  den 
ärztlichen  Forschungsgeist  wecken.  Sie  bildet  den  philo« 
sophischen  Thcil  der  Arzneiwissenschaft.  Die  mit  der  all¬ 
gemeinen  Pathologie  zunächst  verbundenen  Lehren  von  den 
Zeichen,  durch  welche  die  Krankheit  sich  offenbart,  und 
von  den  Mitteln  und  Wegen,  wie  die  Heilung  einzuleiten 
ist,  stehen  zwar  in  der  innigsten  Beziehung  zu  ihr  und 
können  kaum  abgesondert  von  einander  behandelt  werden, 
allein  ihr  grofscr  Umfang  wird  zum  Bcstimmungsgrunde, 
sic  einzeln  für  sich  darzustellen.  Mit  der  allgemeinen  Pa¬ 
thologie  und  Therapie  beginnt  der  Arzt,  und  er  endigt 
damit,  in  so  fern  sein  höchstes  Ziel  das  deutliche  Bewufst- 
werden  der  Gesetze  ist;  von  welchen  sein  Handeln  be¬ 
stimmt  und  regiert  wird.  Da  die  genannten  Lehren  die 
Grundlage  des  medicinischeu  Wissens  bilden,  Uebersicht 
und  allgemeine  Resultate  liefern,  und  zu  Leitsternen  in 
dem  weiten  Meere  der  Beobachtung  und  Erfahrung  dieuen 
sollen,  so  darf  ihre  Entwickelung  nicht  in  einem  blofseu 
Aggregate  trockener  Begriffsbestimmungen  bestehen.  Die 
scholastische  Form,  welche  von  der  ganzen  Seelenkraft 
fast  blofs  das  Gedächlnifs  in  Anspruch  nimmt,  beengt  den 
Geist,  der  an  der  Schwelle  der  Wissenschaft  mit  der  Ah¬ 
nung  eines  grofsen  und  reifen  Ganzen  befruchtet  wer¬ 
den  soll. 


III.  Allgemeine  Krankheitslehre.  99 

Dies  ist  das  Ziel,  nach  dessen  Erreichung  der  Ver¬ 
fasser  strebt.  Sehen  wir,  wie  es  ihm  gelungen. 

«Krankheit  ist  ihm”  derjenige  Zustand  des  Organis¬ 
mus,  wodurch  dieser  in  Folge  einer  inneren  Ursache  ver¬ 
hindert  wird,  seiner  Bestimmung  zu  folgen.  Jedem  ist  für 
die  Dauer  seines  Daseins  eine  Gesetzlichkeit  seines  Ver¬ 
haltens  vorgezeichnet;  je  mehr  diese  im  Wechsel  der  Zeit 
ohne  Störung  in  der  Ausbildung  des  Körpers,  wie  des  Gei¬ 
stes  behauptet  wird,  desto  mehr  ist  Gesundheit,  oder  das 
Zusammenstimmen  aller  organischen  Thätigkeiten  zugegen. 
Wo  die  Symmetrie  in  dem  angewiesenen  qualitativen  und 
quantitativen  Maafse  unterbrochen  oder  gehemmt  wird,  wo 
die  Verrichtungen  nicht  mehr  mit  Leichtigkeit  und  Kraft 
vor  sich  gehen,  wo  die  einzelnen  Theile  einen  andern,  als 
den  naturgemäfsen  Zweck  zu  erreichen  streben,  da  beginnt 
Krankheit.  Stahl  leitete  sie  von  den  Anstrengungen  der 
denkenden  Seele  ab,  um  den  Einflüssen,  welche  mittelbar 
oder  unmittelbar  der  Zusammensetzung  der  Organe  entge¬ 
genwirken,  Widerstand  zu  leisten.  An  sich  sei  sie  nichts 
Verderbliches,  sie  werde  es  dadurch,  wenn  die  Seele  in 
der  Wahl,  in  dem  Grade  und  in  der  Zeit  der  in  Anspruch 
genommenen  Bewegungen  einen  MifsgrilF  thue.  Allein, 
wie  in  seinen  Ansichten  überhaupt,  so  wies  Stahl  auch 
hier  der  psychischen  Mitwirkung  einen  zu  grofsen  Spiel¬ 
raum  an. » 

« Bei  der  mannigfaltigen  Zusammensetzung  des  Kör¬ 
pers,  bei  der  Menge  der  äufseren,  natürlichen  und  künst¬ 
lichen  Einflüsse,  bei  der  zeitweisen  Entwickelung  und 
dem  verschiedenen  eigenthümlichen  Leben  der  einzelnen 
Organe  kann  die  volle  Harmonie  nur  selten  statt  finden; 
auch  der  anscheinend  Gesundeste  geniefst  meistens  blofs 
eiuer  relativen  Gesundheit.  Unpäfslichkeit,  Uebelbefinden 
gränzt  schon  an  Krankheit.  ” 

Es  folgen  im  §.  4.  «Wortbestimmungen”,  d.  i.  Defi¬ 
nitionen  von  M.  lenis,  gravis,  benignus,  malignus  n.  s.  w.; 

7  * 


100 


III.  Allgemeine  Krankheitslehrc. 

im  nächsten,  <lcr  die  Uebcnchrift  führt:  «<  örtliche  und  all¬ 
gemeine  Krankheit,”  wird  hierin  fortgefahren.  ««Leidet 
der  ganze  Kürzer  mehr  oder  weniger,  so  nennt  man  die 
Krankheit  eine  allgemeine,  wie  z.  B.  die  ausgebildete  Lust- 
scuehe.  Gellt  aber  das  Ucbcl  nur  von  einer  Stelle  aus, 
oder  bleibt  es  auf  einen  Thcil  beschränkt,  so  heilst  cs  ein 
örtliches.  Broussais  und  seine  Anhänger  nehmen  selbst 
hei  Fiebern  blofs  die  örtliche  Heizung  als  bestimmende 
Ursache  an.  ” 

Ucber  die  Gesetzlichkeit  der  Krankheit  erfahren  wir 
im  nächsten  Paragraph  Folgendes:  ««Auch  die  Störung  hat 
ihre  Regel,  und  diese  ist  so  einfach  und  constant,  als  es 
nur  das  Gesetz  der  vollkommensten  Harmonie  sein  kann. 
In  der  Art,  wie  eine  Pflanze  wächst,  blüht  und  vergeht, 
so  kömmt  und  schwindet  die  Krankheit.  Sind  die  Ursa¬ 
chen  ihrer  Bildung,  ist  ihr  Saame  gegeben,  so  entwickelt 
sic  sich  in  bestimmter  Regelmäfsigkcit,  und  offenbart  ei¬ 
nen  jeden  ihrer  Zeiträume  und  Zustände  durch  sichtbare 
und  unsichtbare  Zeichen  und  Vorgänge.  Indem  sie  übri- 
geus  besonderen  constantcn  Gesetzen  folgt  und  ihr  Verlauf 
eigcntkütnlich  ist,  kann  sie  nicht  als  blofser  Gegensatz  der 
Gesundheit  angesehen  werden.  ” 

Die  Möglichkeit  der  Krankheitsentstehung  wird  so  de- 
ducirt:  «Schon  in  der  Zusammensetzung,  in  der  allmü- 
lichen  Bildung  und  Rückbildung  der  Theile,  liegt  die  wech¬ 
selseitig  bedingte  Abhängigkeit,  und  aus  der  Nothwendig- 
keit,  in  der  Zeit  und  im  Raume,  wo  so  unendlich  Vieles 
sich  bewegt  und  durchkreuzt,  seine  Integrität  zu  behaup¬ 
ten,  ergibt  sich  die  Möglichkeit  der  Störung.  Diese  be¬ 
ginnt,  wenn  das  Maafs  der  Lebcnsthätigkcit,  welches  dem 
Ganzen  oder  den  einzelnen  Gebilden,  als  Bedingung  des 
Daseins  zukömmt,  überschritten  oder  verkürzt  wird.  Als¬ 
dann  entsteht  ein  Mifsverhältnifs  in  den»  Zusammentreffen 
der  I  hätigkeiten ;  namentlich  in  der  \N  ccbselwirkung  zwi¬ 
schen  den  Kräften  und  den  .Stoffen,  und  der  gesetzmäfsige 
Bau,  die  horin  uud  Mischung  der  Gebilde,  erleidet  eine 


101 


III.  Allgemeine  Kranklieitslehrc. 

Veränderung  durch  einen  abnormen  inncrn  Vorgang,  oder 
durch  einen  äufsern  Eingriff. ” 

»Abweichung  von  der  Regel,”  ist  die  Ucberschrifl 
des  nächsten  Paragraphen.  Wir  erfahren  hier,  dals  das 
erste  Werden  der  Krankheit  in  ein  Dunkel  gehüllt  ist, 
dafs  die  Alten  den  Organismus  einen  Microcosmus  genannt 
haben,  der  mit  dem  Makrokosmus  Zusammenhänge,  in  ihm 
lebe,  dafs  sowol  der  Körper  als  Ganzes,  wie  jedes  Organ 
von  Aufsen  und  von  Innen  in  seinem  Thun  und  Lassen 
bedingt  wird.  Der  lebendige  Leib  befindet  sich  durch 
seine  Beziehungen  auf  die  Aufsenwelt  in  Wechselwirkung 

t 

mit  dieser,  und  zwar  um  so  mehr,  je  gröfser  die  Bedürf¬ 
nisse  und  Ansprüche  von  jeder  Seite  sind.  So  wie  die 
Fäden  dieses  gegenseitigen  Bezuges  verschoben,  verwdrrt, 
zerrissen  werden,  so  erleidet  das  Einzelwesen  eine  Stö¬ 
rung  in  seinem  Zustande. ” 

Die  «  Ueberschreitung  des  Maafses  ”  soll  im  folgenden 
Paragraphen  abgehandelt  werden.  Wirerfahren,  dafs  not h- 
wendig  das  richtige  Maafs  von  Zeit  zu  Zeit  überschritten 
werden  müsse,  und  dafs  jedes  unrichtige  Maafs  in  den 
wechselseitigen  Verrichtungen,  wie  in  dem  Verhältnisse 
zwischen  Bildung  und  Verzehrung,  Absonderung  und  Ein¬ 
saugung,  Störung  bedingt. 

«Fehler  der  Mischung  und  Form,»  so  lautet  des  §.  10. 
Ueberscbrift.  « Abweichungen  von  der  angewiesenen  Mi¬ 
schung  können  in  Folge  erblicher  Anlage,  eines  gestörten 
Ernährungsprozesses  oder  örtlicher  Fehler,  Abweichungen 
von  der  angewiesenen  Form  durch  unordentliche  eigene 
innere  Thätigkeiten  und  mechanische  Einwirkungen  von 
Aufsen  zu  Stande  kommen. ” 

«Der  Grund,»  so  heifst  es  im  nächsten  Paragraph, 
« warum  der  Körper  bei  seiner  mannigfachen  Zusammen¬ 
setzung  und  Blofsstellung,  nicht  öfter  schwer  erkrankt  und 
erliegt,  als  es  der  Fall  ist,  rührt  hauptsächlich  daher,  dafs 
nicht  leicht  viele  Gebilde  zugleich  gestört  werden,  und  so 
immer  einige,  welche  von  dem  Eingriffe  frei  bleiben,  die 


102 


III.  Allgemeine  Krankheltslehrc. 

zum  Fortbestehen  des  Daseins  unentbehrlichen  Thäligkci- 
ten  zu  erhalten  suchen.  Oft  übernimmt  ein  Organ  stell¬ 
vertretend  die  Stelle  eines  andern,  das  für  die  Ausübung 
seiner  Functionen  unbrauchbar  geworden. »» 

«c  Der  lebende  Körper,  welchem  der  Trieb  zur  Sclbst- 
crhaltung  eingeboren  ist,  sucht  auf  jede  Weise  einwirkende 
Schädlichkeiten  von  sich  fern  zu  halten,  oder  diese  so 
auszugleichen,  dafs  für  das  Fortbestehen  keine  Gefahr 
entsteht. »» 


Dies  ist  nun  die  Darstellung  von  der  Krankheit  und 
dem  Erkranken  im  Allgemeinen,  durch  welche  Schüler 
«Liebe  zum  Gegenstände,  geordnete  Fächer  eines  zuver¬ 
lässigen  Materials,  so  wie  Anregung  zum  Selbstdenkcn  und 
Weiterforschen  gewinnen  sollen.  ” 

Der  zweite  Abschnitt  handelt  von  den  näheren  Be¬ 
dingungen  des  Erkrankens.  Die  Möglichkeit  krank  zu 
werden  liegt  hauptsächlich  in  der  Bestimmbarkeit  des  Or¬ 
ganismus  durch  Einflüsse.  Die  Einsicht  in  die  innersten 
Berührungen  und  Beziehungen  aller  constituirenden  Thcilc 
des  Organismus  unter  sich  und  zur  Aufsenwelt,  die  Kennt- 
nifs  ihrer  Entartung,  so  wie  der  verschiedenen  Wirkungs¬ 
weise  auf  dynamische,  chemische  und  mechanische  Beize, 
liefern  das  Material  für  die  Erkcnntnifs  der  Krankheitsent¬ 
stehung.  Von  der  Anlage  zur  Krankheit  erfahren  wir, 
dafs  die  Möglichkeit  krank  zu  werden  auch  so  genannt 
werde,  dafs  sie  entweder  eine  allgemeine,  der  menschli¬ 
chen  Natur  überhaupt  zukommende,  oder  sine  besondere 
ist.  «  Diese  besondere  Möglichkeit  heilst  auch  Empfäng¬ 
lichkeit,  oder  Beccplivilüt,  die  gewissermaafsen  das  Er¬ 
gebnis  der  zufälligeu  Körper-  und  Gcmüthsstimmung  ist, 
iu  der  sich  ein  Individuum  befindet.  Da  eine  solche  Stim¬ 
mung  von  Einflüssen  bedingt  wird,  welche  schwer  nach¬ 
weisbar  sind,  da  alle  Eindrücke  der  Sinne,  des  Gcmüthes 
und  Geistes  eine  Umänderung  in  ihr  zu  verursachen  ver¬ 
mögen.  so  lüist  sich  kaum  etwas  Bestimmtes  über  jene  aus- 


103 


III.  Allgemeine  Krankheitslehre. 

sagen.  Die  Folge  erst  zeigt,  ob  sie  da  war  oder  nicht. 
Sie  verhält  sich  nach  den  mannigfachsten  Umständen 
äufserst  verschieden;  bald  findet  sie  in  hohem,  bald  in 
geringem  Grade,  bald  gar  nicht  statt,  wie  dieses  am  auf¬ 
fallendsten  bei  einwirkenden  Contagien  beobachtet  wird. 
Daher  oft  der  Streit,  ob  eine  Krankheit  ansteckend  sei 
oder  nicht,  indem  von  einer  Anzahl  Menschen,  welche 
unter  den  gleichen  Verhältnissen  der  Ansteckung  sich  aus¬ 
setzen,  einige  erkranken,  andere  vollkommen  gesund  blei¬ 
ben.  «  Das  erfahren  wir  über  die  Krankheitsaulage  in  ei¬ 
nem  Lehrbuche  der  allgemeinen  Pathologie,  das  in  Deutsch¬ 
land  im  ersten  Drittel  des  neunzehnten  Jahrhunderts  ge¬ 
schrieben  ist!  In  demselben  Geiste  sind  alle  übrigen  Ab¬ 
schnitte  abgehandelt. 

Der  dritte  Abschnitt  handelt  «  von  dem  Nervensysteme 
als  Krankheitsursache”,  der  vierte  «von  dem  verschiede¬ 
nen  Verhalten  der  Reizbarkeit  als  Krankheitsursache,” 
der  fünfte  «von  dem  Blute  als  Krankheitsursache,”  der 
sechste  «  von  den  verschiedenen  organischen  Geweben  als 
Krankheitsursache,”  der  siebente  von  der  Ernährung,  den 
Ab  -  und  Aussonderungen  als  Krankheitsursache,”  der  achte 
von  der  angeborenen  und  erworbenen  Krankheitsanlage,” 
der  neunte  «  von  den  gewöhnlichen  Lebensbedürfnissen  als 
Krankheitsursache,”  der  zehnte  «von  dem  Einflüsse  der 
äufseren  Natur  als  Krankheitsursache,  ”  der  elfte  «von  den 
Giften  und  Ansteckungsstoffen  als  Krankheitsursache ,  ”  der 
zwölfte  «  von  dem  Verlaufe  der  Krankheit. » 

Um  noch  eine  Probe  zu  geben  von  dem  Geiste,  in 
dem  dies  Buch  geschrieben,  und  den  Leser  in  den  Stand 
zu  setzen,  sich  selbst  ein  Urtheil  über  dasselbe  zu  bilden, 
thcilen  wir  noch  den  Anfang  des  achten  Abschnittes  «  von 
der  angeborenen  und  erworbenen  Krankheitsanlage,”  mit, 
der  gewifs  zu  den  besten  gehört: 

« Aufser  den  allgemeinen,  in  den  Verhältnissen  und 
in  der  Zusammensetzung  des  Körpers  gegebenen  Ursachen 
des  Erkrankens,  entspringt  hierfür  noch  eine  reiche  (Quelle 


104  III.  Allgemeine  krankheitsichre. 

in  ursprünglichen,  individuellen  Anlagen,  die  theils  in  der 
Gesuiidheitsbeschaffenheit  der  Ellern,  theils  in  der  durch 
Geburt  und  Lebensverhältnisse  bedingten  Verfassung  des 
Gemüthe9  wie  der  Seele,  und  in  den  durch  das  Alter  her¬ 
vorgerufenen  Einflüssen  begründet  sind.  So  wie  durch  die 
Zeugung,  als  den  vergröfserten  Heproductionsact,  die  Achn- 
lichkcit  mit  den  Eltern  oder  Grafseltern,  in  der  Form  des 
Körpers,  in  Richtungen  des  Gcmüthes  und  des  Charakters 
gegeben  werden  kann,  so  vermag  auch  der  Keim  zu  Krank¬ 
heiten,  durch  (len  Moment  der  Vereinigung  der  Geschlech¬ 
ter  und  durch  den  Aufenthalt  des  Gezeugten  im  Mutter¬ 
leibe  übertragen  zu  werden.  Die  durch  den  Begattungs¬ 
act  und  durch  die  Schwangerschaftszeit  mitgetheilte  Ab¬ 
weichung  von  dem  regclmäfsigen  Stande  der  Kräfte,  der 
Form  und  Mischung,  ist  gewissermaafsen  eine  in  die  To¬ 
talität  des  Organismus  gesäete  Ursache,  die  in  einer  blofscn 
vermehrten  Empfänglichkeit  für  Reize,  oder  in  wirklichen 
Uebeln  besteht.  Jede  von  der  Geburt  an  eingepflauzte, 
angeborene  Anlage  unterscheidet  sich  von  der  später  er¬ 
langten  oder  der  erworbenen  dadurch,  dafs  sie  fast  durch 
das  ganze  Leben  mehr  oder  weniger  sich  zeigt,  und  trotz 
mancher  Vorkehrung  von  Jugend  auf,  trotz  einer  umge¬ 
änderten  Lebensweise  unter  andern  localen  und  socialen 
Verhältnissen  häufig  dann  sich  geltend  macht,  wenn  die 
afficirten  Organe  am  meisten  in  Anspruch  genommen  wer¬ 
den.  Die  körperliche  und  geistige  Verfassung  während 
der  Gcschlechtsvereinigung  übt  auf  die  Fortpflanzung  krank¬ 
hafter  Zustände  einen  unbestreitbaren  Eiuflufs  aus.  Kin¬ 
der,  welche  vom  Vater  in  der  Trunkenheit  erzeugt  wer¬ 
den,  verfallen  häufig  in  Blödsinn.  Fast  zu  allen  Zeiten 
und  bei  allen  Völkern  galten  Scrophcln,  Lungenschwind¬ 
sucht,  Gicht,  Hämorrhoiden  und  Stein  für  erbliche  Uebel. 
Die  Scrophcln,  als  Leiden  der  lymphatischen  Gefäfse,  bre¬ 
chen  im  Kindcsalter,  die  Lungenschwindsucht,  mehr  in 
arterieller  Reizung  begründet,  im  Jünglingsalter,  Gicht  und 
Hämorrhoiden,  als  mit  dem  Vcncnsystciuc  zusammenhän- 


105 


III.  Allgemeine  Krankheltslehre. 

gcnd,  mehr  im  Mannesalter  hervor.  Je  ähnlicher  die  Kin¬ 
der  ihren  Eltern  oder  Grofsältern  hinsichtlich  der  Körper- 
constilution ,  des  Gcmüthcs  und  des  Charakters  sind,  desto 
mehr  werden  sie  von  denselben  Beschwerden,  an  denen 
jene  leiden,  heimgesucht.  Dals  die  erbliche  Anlage  kei- 
nesweges  blofs  im  Einllusse  nachtheiliger  Gewohnheiten 
und  einer  verkehrten  Lebensart  begründet  sein  können, 
das  erhellt  mit  daraus,  dafs  auch  bei  Thieren  unter  sehr 
wechselnden  Umständen,  angeerbte  Krankheiten  Vorkom¬ 
men,  wie  namentlich  beim  Pferde  der  stille  und  rasende 
Koller,  der  Wurm,  der  Rotz  und  der  Dampf;  beim  Rind¬ 
vieh  die  Franzosen  und  die  Fallsucht,  beim  Schaafc  die 
Rückenmarksdarre  und  der  Wasserkopf,  beim  Schweine 
die  Finnen.  —  Die  Anlage  zu  Geisteskrankheiten  ist  ge¬ 
wissen  Familien  eigen,  und  zwar  erscheint  nicht  nur  die 
eine  oder  andere  bestimmte  Form,  sondern  bald  diese,  bald 
jene.  In  den  höchsten  Ständen  findet  sic  sich  verbreite¬ 
ter,  als  in  den  unteren,  besonders  da,  wo  die  einzelnen 
Glieder  einer  Familie  ausschliefslich  untereinander  heira- 
then.  Daher  die  Häufigkeit  dieser  Ucbel  in  den  alten 
schottischen  Geschlechtern.  Auch  die  Neigung  zum  Selbst¬ 
morde  gehört  hierher.  Uebrigens  ist  eine  sorgfältige  Le¬ 
bensweise  von  Jugend  auf,  um  den  Krankheitskeim  zu  til¬ 
gen  oder  zu  schwächen,  nicht  so  erfolglos,  als  manche 
ältere  Aerzte,  namentlich  der  als  Polygraph  bekannte  Spa¬ 
nier  Lud.  Mercatus  behauptete.  Wenn  auch  die  Bedin¬ 
gung  dieser  Leiden  noch  so  tief  in  der  Constitution  und 
in  einzelnen  Organen  liegt,  so  kann  doch  bei  consequen- 
ter  Vermeidung  der  wahrscheinlichen  Veranlassung  der 
wirkliche  Ausbruch  verzögert  und  gemildert  werden.  Die 
Nachkommenschaft  wird  nur  (?)  dann  von  den  Uebeln  der 
Väter  heimgesucht,  wenn  sie  ohne  Nachdruck  und  Aus¬ 
dauer  dagegen  ankämpft.  Organische  Fehler,  ja  sogar  zu¬ 
fällige  oder  künstliche  Verstümmelungen,  können  auf  spä¬ 
tere  Geschlechter  übergehen.  Taube  erzeugen  öfters  wie¬ 
der  Taube  und  Augenübel,  wie  v  B.  die  Cataracta  centra- 


106 


JV.  Das  (Quecksilber. 

Iis,  kommen  zuweilen  erblich  in  Familien  vör.  Auf  die 
Bluterfamilien  hat  man  in  neuerer  Zeit  mehr  als  sonst  ge¬ 
achtet.  Unter  den  angeborenen  organischen  Fehlern  wer¬ 
den  gar  niht  selten  die  Verschlickungen  des  Aflers,  der 
Mutterscheide  und  des  Muttermundes  zur  verborgenen  Krank¬ 
heitsursache.  (Wie  kommen  denn  die  hierher?)  Alle  Ucbcl 
die  nicht  durch  erbliche  Anlage,  sondern  erst  während  des 
Lebens  durch  ein  ungleiches  Verhältnis  nachtheiliger  Ein¬ 
flüsse  sich  bilden,  heifsen  erworbene.  Sic  unterscheiden 
6ich  von  jenen  dadurch  (sic!),  dafs  sie  leichter  zu  heben, 
und  fast  immer  die  sie  erzeugenden  oder  veranlassenden 
Ursachen  nachweisbar  sind.  Esquirol  nennt  den  ange¬ 
borenen  Blödsinn  Demencc,  deu  erworbenen  Idiotie.  Der 
angeborene  ist,  wenn  er  nur  auf  Mangel  der  Entwickelung 
eines  Thciles  oder  des  ganzen  Gehirns  beruhet,  unheilbar, 
hingegen  der  erworbene,  der  durch  Druck  des  Gehirns  ver¬ 
mittelst  eines  Knochens  oder  einer  Flüssigkeit  entsteht, 
weicht  einer  zwcckmäfsigcn  Behandlung.  »  —  Sic. 

Sl  annius. 


IV. 

Das  Quecksilber.  Ein  pharmakologisch  -  therapeu¬ 
tischer  Versuch  von  Doctor  Ludwig  Wilhelm 
Sachs,  ordentlichem  Professor  der  praktischen  Me- 
dicin  An  der  Universität  Königsberg,  Director  des 
medicinischcn  Policlinicums  u.  s.  w.  Königsberg, 
im  Verlage  der  Gebrüder  Bornträger.  8.  VIII  und 
368  S.  ( 1  Thlr.  22  Gr.) 

In  dieser  beachtenswerten  Schrift  erhalten  wir  den 
Abdruck  eines  Artikels  aus  dem  dritten  Bande  des  von 
Sachs  und  I)ulk  bearbeiteten  Handwörterbuches  der  prak- 
ischcn  Arzneimittellehre.  Der  erste  Abschnitt  enthält  die 


107 


IY.  Das  Quecksilber. 

Pharmacognostik  des  Quecksilbers  und  seiner  wichtigsten 
Präparate,  und  hat  Dulk  zum  Verfasser,  der  ihn  mit 
allem  Fleifse  bearbeitet  hat.  Der  zweite,  bei  weitem  um¬ 
fassendere  Abschnitt,  hat  die  Pharmacodynamik  der  wich¬ 
tigsten  Quecksilberinittal  zum  Gegenstände,  und  rührt  von 
Sachs  her. 

Der  Conflict  des  Menschen  mit  der  Aufsenwelt  ge¬ 
biert  die  Krankheit,  deren  Beendigung,  wird  sie  durch 
Umänderung  der  Tbätigkeit  im  Innern  des  Körpers  allein 
nicht  erreicht,  die  Kunst  durch  Mittel,  die  die  Aufsenwelt 
beut,  zu  erlangen  bemühet  ist.  Die  Erkenntnifs  des  Ver¬ 
hältnisses,  in  welchem  diese  Mittel  zum  menschlichen  Or¬ 
ganismus  stehen,  gehört  also  zu  den  wichtigsten,  aber  auch 
schwierigsten  Aufgaben  des  Arztes,  und  bei  den  geringen 
Fortschritten,  die  wir  in  dieser  Erkenntnifs  gemacht  ha¬ 
ben,  gebührt  jedem  Versuche  zur  Förderung  derselben  Auf¬ 
merksamkeit  und  Dank.  Das  Produkt  jener  Aufmerksam¬ 
keit  ist  aber  Uebereinstimmung,  oder  Zweifel.  —  Die 
eine  oder  den  anderen  darzulegen,  wo  sie  in  dem  Ver¬ 
folge  der  Darstellung  des  Herrn  Sachs  über  das  Verhält- 
nifs  des  Quecksilbers  zum  menschlichen  Organismus  sich 
uns  aufgedrungen,  werden  wir  nicht  unterlassen. 

Der  Verfasser  beginnt  mit  -dem  Beweise,  dafs  reguli- 
nisches  Quecksilber  auf  den  thierischen,  wenigstens  auf 
den  menschlichen  Organismus  nur  mechanisch,  sonst  gar 
nicht  wirke,  dafs  die  Präparate  also,  welche  das  Queck¬ 
silber  in  Verbindung  mit  Sauerstoff  oder  einer  Säure  (oder 
einem  andern  einfachen  Körper,  wie  Chlor,  Jod;  Ref.) 
nicht  enthalten,  wirksam  sind,  nicht  durch  das,  was  sic 
bei  der  Anwendung  sind,  sondern  durch  das,  was  sie 
unter  der  Anwendung  werden.  Die  Wirkung  der  grauen 
Quecksilbersalbe  tritt  da  am  stärksten  hervor,  wo  die 
Ausbauchung  am  gröfsten  ist. 

Es  folgt  eine  Schilderung  der  Veränderungen  im  Or¬ 
ganismus,  wrelche  durch  das  Quecksilber  hervorgerufen 
werden:  zuerst  wenn  cs  kurze  Zeit  in  kleineren  Gaben 


108 


IV.  Das  Quecksilber. 

im  Allgemeinen,  dann  wenn  C8  so  in  Fällen  von  Hyper¬ 
trophie,  von  Anschoppung,  von  Säfteviscidität  gereicht 
wird;  hierauf  kommen  die  Erscheinungen,  welche  dem 
anhaltenden  Gebrauche  des  Quecksilbers  folgen,  iu  Be¬ 
trachtung,  dann  die  Effecte  grüfsercr,  und  endlich  sehr 
grofser  (iahen. 

Da  regulinisches  Quecksilber,  wie  der  Verf.  mit  Hecht 
bemerkt,  keinen  Einflufs  auf  den  menschlichen  Organismus 
übt:  sondern  diesen  erst  durch  seine  Verbindung  mit  an¬ 
deren  Stoffen  erhält,  so  wäre  es  wol  w&nschenswerth  ge¬ 
wesen,  statt  der  W  irkungen  des  «  Quecksilbers  >»  (oder  des 
Calomel),  die  seiner  einzelnen  Präparate  zu  schildern.  So 
nur  wäre  es  möglich  gewesen  zu  unterscheiden,  was  dem 
Quecksilber,  was  den  ihm  verbundenen  Stoffen,  was  der 
Verbindung  als  solcher  gebührt.  Das  wäre  der  Gang  ei¬ 
ner  wahrhaft  wissenschaftlichen  Untersuchung  gewesen. 

Halten  wir  uns  indessen  an  dem,  was  der  Verfasser 
gegeben!  StaU  das  Verhältnis  «  des  Quecksilbers  »»  zu  ein¬ 
zelnen  Systemen  und  Organen  scharf  ins  Auge  zu  fassen 
statt  aus  dem  Effecte  seltener  und  kleiner  Dosen,  die  der 
Darreichung  häufiger  und  grüfsercr  folgender  Wirkungen 
abzuleiten  und  immer  gleichzeitig  die  Verhältnisse  zu  be¬ 
achten,  in  denen  die  afücirten  Systeme  und  Apparate  des 
Körpers  zu  einander  stehen,  statt  eines  ruhigen,  beson¬ 
nenen,  langsam,  doch  sicher  fortschreitenden  Ganges:  wird 
gleich  ein  gewaltig  kühner  Sprung  gewagt  e9  wird  gleich 
nach  einem  einfachen,  in  seiner  Einfachheit  aber  umfas¬ 
senden  Ausdruck  für  die  arzneiliche  Grundwirksamkeit  des 
hier  in  Hede  stehenden  giofsen  Mcdicamcntcs  gesucht,  und 
ohne  weiteres  als  mcdicamentöser  Grundcharakter 
des  Quecksilbers,  «die  Tendenz,  aller  Vegeta- 
tionsthätigket  direct  entgegen  zu  wirken,»*  ge¬ 
funden. 

Zur  Erläuterung  wird  nun  Folgendes  hinzugefügt:  «  Die 
organische  V  egetationsthätigkeit  nämlich  hat  zwei  Facto- 
reu:  den  \  erflüssiguugs-  und  Fcstbildungsprozcfs,  vcuüse 


109 


IV.  Das  Quecksilber. 

und  arterielle  Thätigkeit,  Blutbereitung  und  Blutgerinnung 
(Ernährung),  Bildung  des  flüssigen  und  des  festen  Orga¬ 
nismus.  Alle  diese  Ausdrücke  sind  physiologisch  völlig 
gleichbedeutend.  Krankhafte  Veränderungen  des  Vegeta¬ 
tionsprozesses  können  daher  nur  in  folgenden  Grundweisen 
(denn  der  Zusammensetzungen  hier  zu  gedenken,  ist  nicht 
nöthig)  zu  Stande  kommen:  entweder  nämlich  beide  Facto- 
ren  sind  in  einem  Zustande  gesteigerter  Thätigkeit,  oder 
in  verminderter  Thätigkeit.  Dafs  das  erste  auf  beiden 
Seiten  und  im  ganzen  Organismus  in  gleichem  Maafse  ge¬ 
schehen  sollte,  ist  gewifs  ein  seltener,  vielleicht  nie  cin- 
tretender  Fall,  wenigstens  würde  sich  dies  schwerlich  als 
Krankheit  manifestiren  können;  das  letztere  hingegen,  die 
quantitative  Depotenzirung  beider  Vegetationsfactoren,  ist 
ein  sehr  häufiges  pathologisches  Ereignils,  und  z.  B.  bei 
jeder  wahrhaften  Cachexie  gegeben;  oder  es  sind  die  bei¬ 
den  Glieder  des  plastischen  Prozesses  in  ein  disharmoni¬ 
sches  Verhältnifs  zu  einander  versetzt,  dergestalt,  dafs  eine 
der  beiden  Functionen  sich  auf  Kosten  und  mit  Zurück- 
drängung  der  andern  vollzieht  (diesen  pathologischen  Zu¬ 
ständen  liegt  allezeit,  mehr  oder  weniger,  näher  oder  fer¬ 
ner,  ein  qualitativer  Fehler,  d.  h.  ein  Nervenleiden  zum 
Grunde);  oder  endlich,  sie  gerathen  in  eine  rein  qualitativ 
fehlerhafte  Thätigkeit,  so  dafs  das  Krankhafte  eben  ledig¬ 
lich,  oder  wenigstens  in  der  Art,  nicht  in  dem  Maafse  der 
Energie,  mit  welchem  der  Prozefs  geschieht,  enthalten  ist. 
Unerinnert  sieht  also  jedermann,  dafs  es  vier  Familien  rei¬ 
ner  Vegetationskrankheiten  geben  könne:  Entzündungen 
mit  ihren  generischen  und  specifischen  Differenzen,  Ato- 
nieen,  Differenzen  der  Harmonie  zwischen  den  Thätigkei- 
ten  der  Grundfactoren  des  Vegetationsprozesses  (welche 
freilich  den  Ursachen  oder  Wirklingen  nach  mit  qualitativ 
fehlerhaften  Zuständen  eng  Zusammenhängen),  und  reine 
Nervenkrankheiten.  » 

« Bei  der  entschiedenen  arzneilichen  Beziehung  des 
Quecksilbers  zur  Vegetationsthätigkeit  kann  cs,  auch  bei 


110 


IV.  Das  Quecksilber. 

(Irr  mindesten  Uebcrlegung  und  bei  den  auseinandergebend* 
*tcn  Ansichten  über  den  specifischcn  und  erschöpfenden 
pharmacody namischcn  Charakter  dieses  Mittels,  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dafs  innerhalb  der  angegebenen  Sphäre 
pathologischer  Prozesse  das  Quecksilber  eine  ausgezeich¬ 
nete  medicamentöse  Stelle  einnehmen  müsse.  *»  Da  aber 
hierüber  viel  Unklarheit  und  Verworrenheit  verbreitet  ist, 
wendet  sich  der  Verf.  zur  Widerlegung  der  von  Vogt  vor- 
getragenen  Ansicht:  Der  Grundcharakäcr  der  Quecksil- 
berwirkung  sei  Erhebung  des  Vertlüssigungsprozesses  und 
gleichzeitige  Beschränkung  und  Zurückdrängung  der  Bil¬ 
dung  aus  dem  Flüssigen  ins  Feste  und  der  damit  beauf- 
tragten  organischen  Gebilde.” 

Herr  Sachs  setzt  dieser  Ansicht  entgegen:  «Wo  ein 
solcher  Zustand  des  vorschlagenden  Verilüssigungsprozesscs 
in  irgend  einem  Grade  gegeben  sei,  da  sei  in  dcmselbcu 
Grade  und  als  unausbleibliche  Folge  Congestion  gesetzt. 
Niemand  wi?d  dies  aber  zu  behaupten  wagen,  ja  kein  er¬ 
fahrener  Arzt  wird  anzuerkennen  anstehen  können,  dafs 
das  Quecksilber  eben  zu  den  allerwirksamsten  Mitteln  ge¬ 
gen  Congcstionszustiindc  gehört.  ”  Letzteres,  dafs  das  Queck¬ 
silber  wirksam  sich  beweiset  gegen  Congestionszustände, 
räumen  wir  mit  Freuden  ein,  finden  aber  den  Grund  da¬ 
von  in  dem  Umstande,  dafs  eben  andere  Congestions¬ 
zustände  mit  der  entschiedensten  Tendenz  zur  Absonde¬ 
rung  durch  das  Quecksilber  erzeugt  werden.  Gesetzt  z.  B. 
das  Quecksilber,  oder  um  uns  bestimmter  auszudrücken, 
das  Caloinel  wird  angewendet  bei  einem  Congestionszu- 
standc  gegen  das  Gehirn:  so  wird  es  sich  wirksam  bewei¬ 
sen,  weil  es  einen  Congpstionszustand  nach  einem  andern 
Organ,  z.  B.  nach  der  Leber,  der  Darmschleimhaut  hin 
erregt,  welchem  in  eben  diesen  Thcilen  Absonderungen 
folgen.  'Herr  Sachs  scheint  hier  gänzlich  den  Umstand 
aufscr  Augen  gclasscu  zu  haben,  defs  eben  jedes  auf  den 
menschlichen  Organirmus  dynamisch  wirksame  Mittel  ciu 
Spccificum,  d.  h.  ein  bestimmten  Organen,  oder  Systemen 


111 


IV.  Das  Quecksilber. 

entsprechendes  ist.  Auf  dieselbe  Weise  ist  die  Wirkam- 
keit  des  Quecksilbers  «gegen  Hypertrophie,  gegen  An¬ 
schoppungen  iu  drüsigen  Gebilden,  gegen  krankhafte  Ex¬ 
sudationen  in  Höhlen  oder  parenchymatösen  Eingeweide], »» 
zu  erklären.  Hier  findet  in  einem  System  oder  Orgme 
eine  vermehrte  Thätigkeit,  eine  vermehrte  Abscheiding 
statt:  die  Thätigkeit  in  einem  andern,  diesem  gegeuübtr- 
stehenden,  wird  daher  vermindert. 

Wollte  man  annehmen,  das  Quecksilber  wirke  aller  Ve¬ 
getation  im  Allgemeinen  und  gleichmäfsig  entgegen:  so 
müfste  man  seine  Wirksamkeit  bei  vorhandener  Exsudi- 
tion  von  Serum,  z.  B.  in  einer  serösen  Höhle,  sich  so  er¬ 
klären  :  dafs  ln  verhältnifsmäfsig  ganz  gleichem  Maafse  mit 
der  Abnahme  dieser  Flüssigkeit  ein  Schwinden  der  Sub¬ 
stanz,  und  damit  der  Energie  des  gesammten  Körpers  statt 
finde.  Bestätigt  aber  die  Erfahrung,  das  hier  einzig  sichere 
Criteriuin,  diese  Erklärungsweise?  Gewifs  nicht.  Gleich- 
wol  nimmt  Herr  Sachs  dies  an,  wenn  er  sagt:  «Die 
Quecksilberwirkung  ist  gleichzeitig  und  gleichartig  gegen 
beide  Factoren  des  Vegetationsprozesses  gerichtet,  d.  h.  sie 
hat  weder  die  Tendenz  die  Liquation  (oder  den  organi¬ 
schen  Bildungsprozefs  des  Flüssigen)  zu  befördern,  noch 
die  Festbildung  zu  beschränken,  sondern  sie  Beide  direct 
zu  untergraben,  d.  h.  Colliquation  zu  erzeugen.  »  « Colli- 

quation  also  beruhet  nicht  auf  der  Deterioration  weder  des 
einen,  noch  des  andern  einzelnen  Factors  des  Vegetations¬ 
prozesses,  sondern  in  beiden  Richtungen,  in  seiner  Ge- 
sammtheit  ist  er  in  ein  mehr  oder  minder  beschleunigtes 
Rückschreiten  versetzt;  die  Krankheit  besteht  nicht  in  fal¬ 
scher  Bildung,  sondern  die  Entbildung  (Auflösung)  ist  die 
Krankheit  und  ihre  Vollendung  hat  den  Tod  nicht  zur 
Folge,  sondern  ist  er  selbst.» 

Gewifs  wäre  es  der  Wissenschaft  förderlicher  gewesen, 
Herr  Sachs  hätte  nicht  blofs  die  Extreme  der  Queeksil- 
berwirkuug  zur  Bestimmung  ihres  Charakters  beachtet: 
sondern  gewissermaafsen  Stadien  unterschieden,  je  nach  der 


1||  IV.  Das  Quecksilber. 

G'rfsc  und  Dauer  der  zur  Einwirkung  auf  den  Organis- 
iiii5  benutzten  Gabe.  Er  würde  auch  Vogt1«  Ansicht 
nötiger  gewürdigt  haben,  die  eben  die  Einwirkungsweise 
de  Mittels  iu  einem  bestimmten  Grade  sehr  richtig  bezeich¬ 
ne.  Bei  Vogt  ist  noch  besonders  zu  loben,  dafs  er  zu¬ 
gleich  den  lebenden  Organismus  als  solchen  achtet  und  die 
Vechselwirkung  seiner  Gebilde  uud  Functionen  anerken¬ 
nend,  die  primären  Wirkungen  des  Mittels  von  den  sc- 
CJndüren,  bei  denen  das  Verhältnis  der  Organe  und  Sy- 
s.eme  zu  einander  die  gröfstc  Bolle  spielt,  unterscheidet. 
aIs  eine  solche  secundäre  Wirkung  des  Quecksilbers  er¬ 
kennen  wir  aber  hier  die  nach  seiner  Darreichung  bcob- 
ichtete  «  belebte  Thatigkeit  des  lymphatischen  Systemes 
und  Erhebung  des  Besorptionsprozesscs.  »»  Herr  Sachs, 
ohne  Zweifel  der  Meinung,  jeder  Arzt  müsse  diese  Ein¬ 
wirkung  des  Quecksilbers  als  eine  primäre  betrachtet  ha¬ 
ben,  zieht  scharf  dagegen  zu  Felde.  «Zuvörderst  stellt  er 
den  Widerspruch  heraus,  der  darin  liegt,  ein  Mittel  für 
ein  mächtiges  Besorbens  geltend  zu  machen,  dessen  Wir¬ 
kung  in  dem  Maaise  entschieden  befördert  wird,  je  mehr 
cs,  sei  es  durch  den  gegebenen  Krankheitszustand  selbst, 
oder  durch  andere  absichtlich  herbeigeführte  Erregungen, 
oder  durch  begünstigende  äufsere  Verhältnisse  mit  ver¬ 
mehrter  Exhalationsthätigkeit  in  Verbindung  gesetzt  ist. 
Wird  nicht  die  Wirkung  des  Mercurs  um  vieles  erhoben, 
wenn  bei  seiner  Anwendung  gleichzeitig  eine  Methodus 
diaphoretica  beobachtet  wird?»»  Ganz  gewifs,  und  um 
so  mehr  wird  gewifs  auch  die  Resorption  krankhafter 
Erzeugnisse  verstärkt  werden,  da  sie  eben  nicht  directe, 
sondern  indirecte,  durch  W  echselwirkung  der  Gebilde  des 
Organismus  bedingte  Folge  der  Quecksilbereinwirkung  ist. 

Etwas  sophistisch  fragt  Herr  Sachs  alsbald:  «Ob 
nicht,  wenn  man  das  Quecksilber  als  Besorbens  betrach¬ 
tet,  ganz  kunstgerecht  die  örtliche  Syphilis,  statt  dadurch 
geheilt,  durch  das  Hinübcrtreiben  des  Virus  in  die  ge- 
saminte  Säftemasse  iu  allgemeine  verwandelt  werden  müsse? 

Hätte 


IV.  Das  Quecksilb  er/ 


< 


113 


Hätte  dies  nicht  um  so  mehr  geschehen  müssen,  ruft  er 
aus,  da  in  solchen  Fällen  der  Mercur  in  Gaben  gereicht 
wird,  die  den  Ausscheidungsprozefs  gar  nicht,  oder  doch 
kaum  merklich  befördern? 

Zunächst  möchten  wir  aber  an  Herrn  Sachs,  der  mit 
vollem  Rechte  die  Wirksamkeit  des  Mercurs  gegen  Syphi¬ 
lis  anerkennt,  die  Frage  richten,  wie  es  dann  kömmt,  dafs 
ein  Mittel,  als  dessen  ausschliefsender  Charakter  die  Ten¬ 
denz,  aller  Vegetation  eutgegenzuwfrken  anerkannt  wird, 
überhaupt  gegen  eine  Krankheit  sich  wirksam  beweisen 
kann,  die  ebenfalls  diese,  oder  wenigstens  eine  ganz  ähn¬ 
liche  Tendenz  der  Zerstörung  durch  ihren  ganzen  Verlauf 
bekundet?  Sollte  es  nicht  rathsam  sein,  das  syphilitische 
Virus  als  ein  specifisches  anzuerkennen,  das  durch  ein  an¬ 
deres  Specificum,  das  Quecksilber,  getilgt  werden  kann, 
und  um  so  mehr  getilgt  werden  mufs,  je  ausschliefslicher 
bei  verhinderter  Einwirkung  auf  die  diesem  Mittel  entspre¬ 
chenden  organischen  Gebilde,  seine  Wirksamkeit  der  des 
syphilitischen  Giftes  entgegengestellt  wird?  Damit  ist  nicht 

gesagt,  dafs  das  Quecksilber  als  Gegengift  die  Syphilis 

\ 

unter  allen  Umständen  tilgen  müsse.  Wir  haben  mit  or¬ 
ganischen  Körpern,  wir  haben  mit  Individuen  zu  thun: 
die  Vorgänge  im  Organismus  sind  uns  häufig  sehr  dunkel, 
und  die  Individualität  ist  das  Product  der  ganzen  Vergan¬ 
genheit,  nicht  des  Einzelnen  allein,  sondern  in  gewissem 
Sinne  auch  der  seiner  Vorfahren.  Die  eine  oder  die  andere 
der  beiden  im  Organismus  in  Conflict  gerathenden  Potenzen 
kann  durch  diesen  eine  solche  Umänderung  erfahren  ha¬ 
ben,  dafs  ihre  gewöhnliche  Wirksamkeit  verloren  geht.  — 
Wir  wiederholen  es  nochmals,  dafs  eine  primäre  und  eine 
secundärc,  eine  gewissen  Theilen  des  Organismus  und  eine 
der  in  ihn  eingedrungenen  fremden  Potenz  gegenüberstchende 
Wirkung  des  Quecksilbers  sorgfältig  unterschieden  werden 
mufs.  Hierdurch  bewahrt  man  Respect  vor  dem  Satze  des 
Widerspruches,  und  braucht  nicht  «in  Hebung  zu  sein, 
in  Einem  Athemzuge  Entgegengesetztes  zu  behaupten, n 
Band  28.  Heft  1.  8 


114 


*IV.  Das  Qaccksill)cr. 

ohne  deshalb  genöthigt  zu  sein,  der  individuellen  Ansicht 
des  Herrn  Sachs  zu  huldigen.  — 

Folgen  wir  nun  der  Darstellung  des  Herrn  \  erfassers, 
so  finden  wir  alsbald  von  ihm  das  Quecksilber  da  überall 
als  augezeigt  betrachtet,  wo  cs  eine  vernünftige  ärztliche 
Aufgabe  sein  kann:  einen  directcn  Angriff  auf  den  Yege- 
tationsprozefs  zu  machen  und  untersagt  überall,  wo  einen 
solchen  Angriff  zu  machen,  dem  Heilzwecke  direct  wider¬ 
sprechend  ist.  Erfweudet  sich  zunächst  zu  den  Entzün¬ 
dungen.  Als  cingeräumt  nimmt  er  hier  an:  den  allge¬ 
meinen  Begriff  der  Eulzündung,  als  bestehend  in  einem 
Zustande  der  Reaction  aller  organischen  Systeme  mit  (ab¬ 
solut  oder  relativ)  gesteigerter  Energie;  ferner:  das  Zer¬ 
fallen  der  Entzündung  in  drei  Ordnungen:  sensible,  irri¬ 
table  und  vegetative:  sodann:  das  Auseinandergehen  jener 
Entzündungsordnung  in  drei  Gattungen,  nach  den  Spaltun¬ 
gen  jedes  organischen  Systemes  in  sich  selbst  in  drei  llaupt- 
modificationen ;  und  endlich  die  wichtige  Verschiedenheit, 
welche  durch  die  doppelte  Weise  entsteht  wie  jede  Ent¬ 
zündung  ihren  Verlauf  haben  kann,  als  acute  nämlich, 
oder  als  chronische. 

«  Zuvörderst  erledigt  sich  nun  die  Frage:  ob  und  in 
wie  fern  das  Quecksilber  ein  Autiphlogisticum  sei?  ganz 
von  selbst.  Entschieden  verneinend  nämlich  mufs  die  Ant¬ 
wort  ausfallen,  wenn  man  bei  der  Entzündung  lediglich 
auf  die  beiden  constituirenden  organischen  Systeme  (das 
sensible  und  irritable)  Rücksicht  nimmt;  zu  beiden  steht 
das  Quecksilber  in  gar  keiner  directcn  Beziehung;  bedenkt 
man  aber,  dafs  die  Vegetation  eben  nur  als  Resultat  der 
vereinten  Thätigkeit  der  beiden  organischen  Grundsysteme 
zu  Stande  kömmt,  und  erinnert  man  sich,  dafs  bei  der 
Entzündung,  in  wie  fern  sic  ein  Reactionszustand  mit  ge¬ 
steigerter  Energie  ist,  allezeit  auch  der  Vegetationsprozeis 
einen  starkem  Anstofs  erhalten  mufs:  so  begreift  sich  au¬ 
genblicklich,  dafs  das  Quecksilber,  obwol  an  sich  gewifs 
kein  Autiphlogisticum,  doch  in  einzelnen  Momenten  jedes 


115 


IV.  Das  Quecksilber. 

Entzünduugsvcrlaufes  und  für  ein  einzelnes,  wicwol  im 
Ganzen  nur  untergeordnetes,  Moment  jedes  Entzündungs¬ 
prozesses,  durch  seine  medicamentöse  Grundeigenschaft  ve¬ 
getationswidrig  zu  wirken,  ein  heilsames  Mittel  werden 
kann.  Eben  so  ist  es  nun  unmittelbar  einleuchtend,  dafs 
der  organische  Werth  des  Quecksilbers  bei  Entzündungen 
(nie:  gegen  dieselben)  in  demselben  Maafse  gröfser  ist, 
als  das  vegetative  Moment  in  ihnen  bedeutender  wird. 

Der  Verf.  verweilt  zuerst  bei  der  Erörterung  der  Wir¬ 
kungen  des  Quecksilbers  bei  der  sensibeln  Entzündung, 
d.  h.  derjenigen,  in  deren  Krankheitsprozesse  das  sensible 
System  der  vorschlagende  Factor  ist.  Gegen  die  beiden 
ersten  Gattungen  der  sensibeln  Entzündung  (des  Cerebral- 
und  Rückenmarksystemes)  ist  das  Quecksilber  rationell  we¬ 
nig  anwendbar,  vorzüglich  indicirt  aber  bei  der  dritten 
Gattung,  bei  den  Entzündungen  des  plastischen  Nervensy- 
stemes.  Auch  bei  den  sensibeln  Entzündungen  des  Cere¬ 
bral-  und  Rückenmarksystemes  kann  es  ohne  Zweifel  in 
einzelnen  Momenten  geschehen,  dafs  der  damit  nothwen- 
dig  verbundene  Nisus  zu  einem  krankhaften  Vegetations¬ 
prozesse  die  ernsteste  Berücksichtigung  und  schleunige  Be¬ 
seitigung  erfordert,  in  welchen  Fällen  sich  dann  die  An¬ 
wendung  des  Quecksilbers  empfehlen  und  in  der  That 
auch  bewähren  würde.  Es  gilt  dies  namentlich  von  den 
chronischen  Entzündungen  dieser  beiden  Gattungen,  wel¬ 
che  vorzugsweise  zur  Erzeugung  fehlerhafter  Vegetations¬ 
produkte  den  Grund  hergehen.  Jede  chronische  sensible 
Entzündung  und  was  sich  irgendwie  der  Natur  nach  die¬ 
ser  nähert  (z.  B.  chronische  Rheumatalgien),  hat  die  Nei¬ 
gung  in  ein  Nervenleiden,  oder  deutlicher  gesprochen,  in 
eine  Nervenkrankheit  sich  zu  verwandeln;  am  meisten  dro¬ 
het  diese  Gefahr,  wenn  das  secundär  von  sensibler  Ent¬ 
zündung  ergriffene  Organ  von  grofser  sensitiver  Dignität 
ist.  Diesem  bedenklichen  Uebergange  kann  das  Quecksil¬ 
ber  steuern,  indem  es,  ein  künstlich  herbeigeführtes  vege¬ 
tatives  Leiden  setzend,  die  pathologisch  eingeleitete  Rich- 

8  • 


tfß  IV.  Das  Onecksilbcr. 

hing  des  Krankheitsprozesses  zu  einer  Nervenkrankheit  ver¬ 
ändert,  mit  Einem  Worte:  indem  cs  eine  günstige  Kcvul- 
sion  erzeugt.  Als  Beispiel  wird  die  Rlieumatalgia  facialis 
angeführt.  Ein  Irrthum  der  Folgenreichsten  Art  wäre  cs, 
das  Quecksilber  bei  Entzündungen  des  plastischen  Nerven¬ 
systems  für  schlechthin  indicirt  zu  halten.  Aon  den  sen- 
sibcln  Entzündungen  des  Ganglicnsystemes  untersagen  die 
acuten  wenigstens  (als  solche  betrachtet  der  Verf.  den 
Causus,  die  Fchris  ardens)  die  Anwendung  des  Quecksil¬ 
bers  ganz  entschieden. 

Ehe  der  Verf.  nun  in  die  Untersuchung  über  das  phar- 
macologisch  -  therapeutische  Verhaltnifs  des  Quecksilbers 
zur  chronischen  Ganglienentzündung  eingeht,  spricht  er 
sich  aus  über  die  physiologischen  und  pathologischen  Ver¬ 
hältnisse  des  Gangliensystems.  Seine  allgemeine  plastische 
Fuuction  beruhet  auf  seiner  Eigenschaft,  die  Blutincitation 
zu  bewirken.  Diese  Blutincitation ,  obwol  die  allgemeine 
und  Grundeigenschaft  dieses  Systems,  wird  doch  nicht 
überall  von  demselben  auf  gleiche  Weise  und  mit  gleichem 
Ergebnils  vollzogen,  der  plastische  Prozefs  vielmehr  kömmt 
in  seiner  Besonderheit  nach  der  Verschiedenheit  der  zu  rc- 
staurirenden  einzelnen  Theile  wirklich  nur  dadurch  zu 
Stande f  dafs  das  Blut,  die  allgemeine,  ernährende  Masse, 
an  jeder  einzelnen  Stelle  in  einen  verschiedenen,  dem  be¬ 
stimmten  Theile  entsprechenden  innern  Zustand,  d.  h.  in 
einen  verschiedenen  inuern  Erregungszustand  versetzt  wird. 
Diesem  Zwecke  entsprechend,  ist  das  Gangliensystem  ei- 
genthümlich  gebaut,  und  auf  eine  völlig  verschiedene  Weise 
(dendritisch)  mit  den  Gclafsen  verbunden.  Seine  Haupt- 
thätigkeit  hat  dieses  Nervensystem  zwar  auf  die  Arterien, 
d  h.  auf  dasjenige  Gcfäfssystem  gerichtet,  das  den  Prozefs 
der  organischen  Festbildung  vollbringt;  glcichwo!  übt  cs 
aber  auch  einen  äufserst  bedeutenden  Einflufs  auf  die  Ve¬ 
nen,  namentlich  auf  die  Pfortader,  d.  h.  auf  dasjenige  Ge- 
fiiUsystem  aus,  das  vorzugsweise  dem  Prozesse  der  Blut¬ 
bereitung,  d.  h.  der  Bildung  des  flüssigen  Organismus  vor- 


117 


IV.  Das  Quecksilber. 

steht.  In  diesem  Systeme  kann  der  Erregungszustand  aut' 
eine  krankhafte  Weise  gesteigert  sein,  sowol  allgemein, 
als  auch  nur  örtlich.  Dieser  krankhaft  gesteigerte  Erre¬ 
gungszustand  kann  aber  in  diesem  Systeme  in  sehr  ver¬ 
schiedenem  Grade  statt  finden,  wodurch  denn  der  Erschei¬ 
nung,  wie  der  Wirkung  nach  sehr  verschiedene  Krauk- 
heitsverhältnisse  sich  entwickeln  müssen.  Die  pathologi¬ 
sche  Veränderung  des  Erregungszustandes  im  sympathi¬ 
schen  Nervensysteme  kann  röin  qualitativer  Art  sein,  und 
dies  entweder  allgemein  (was  sich  schwer  durch  die  Be¬ 
obachtung  zur  Gewifsheit  bringen  läfst,  jedenfalls  gewifs 
aber  nur  ein  höchst  seltenes  Ereignifs  sein  kann,  oder  nur 
örtlich,  aber  an  mehren  einzelnen  Stellen  (was  ebenfalls 
nicht  häufig  geschieht),  oder  nur  an  einer  einzelnen  Stelle 
(ein  relativ  sehr  häufiger  Fall);  woraus  sich  denn  drei 
Reihen  pathologischer  Zustände  hervorbilden  können: 

a)  Es  kann  nämlich  das  plastische  und  insensitive 
Nervengebilde  zu  einem  sensitiven,  nicht  plastischen  sich 
umbilden.  Hieraus  erzeugen  sich  vielfache  Geistes-  und 
Gemüthskrankheiten,  und  ihnen  verwandte  krankhafte  Zu¬ 
stände. 

(Mit  diesem  Satze  kann  Ref.  durchaus  nicht  einver¬ 
standen  sein.  Es  geht  dem  Gangliensysteme,  wie  der  Milz 
und  anderen  Gebilden  dieser  Art,  in  deren  Function  eine 
klare,  über  jeden  Zweifel  erhobene  Ansicht  uns  abgeht: 
was  uns  dunkel  ist  an  normalen  und  normwidrigen  Vor¬ 
gängen  im  Organismus,  wird  auf  ihre  Rechnung  gescho¬ 
ben.  Schon  was  der  Vcrf.  oben  als  Bedeutung  des  Gang¬ 
liensystems  zusammenfafste,  ist  grofsentheils  wahrschein¬ 
lich,  aber  keinesweges  durch  scharfe  Beobachtung  der  Wis¬ 
senschaft  gesichert  und  über  allen  Zweifel  erhoben.  Nun 
soll  aber  ein  Gebilde,  dessen  Functionen  «plastische”  sind, 
zu  einem  «  sensitiven  ”  sich  ausbilden.  Die  Function  eines 
Gebildes  ist  das  Resultat  seiner  eigenthümlichen  Form, 
Mischung  und  Verbindung  mit  andern  Gebilden  (alle  diese 
Eigenlhümlichkeiten  sind  der  Ausdruck  des  Waltens  eines 


i 


118 


IV.  Das  Quecksilber. 

Höheren,  eins  wir  eben  nur  durch  seine  Manifestation  im 
Körperlichen,  durch  die  höchste  hierin  siel* t bare  Zweck¬ 
mäßigkeit  ideell  erkennen;  aus  ihnen  resultirt  nicht  das 
Leben,  sondern  sic  aus  ihm).  Geht  seine  cigcnthüm- 
liche  Function  ihm  verloren,  um  einer  anderen  Platz  zu 
machen:  so  finden  gleichzeitig  die  auffallendsten  Verände¬ 
rungen  in  den  eben  genannten  Verhältnissen  statt.  Wie 
ganz  anders  verhält  sieb  v  B.  ein  Ilautsiiick,  das  der  Sitz 
einer  anomalen  Sccrction  geworden  ist,  als  ein  gesundes? 
Und  wie  anders  wieder  eine  solche  anomale  Sccrction, 
als  irgend  eine  gesunde?  So  lange  uns  nun  nicht  bei  cincrUm- 
wandlung  der  (angeblich)  normal  plastischen  Function  eines 
Nerven  in  eine  anomal  sensible  eine  dieser  corrcspondirende 
Umwandlung  des  formellen  und  chemischen  Verhaltens  dieser 
Nerven  anatomisch  sonnenklar  nachgewiesen  wird,  welche 
Forderung  keinesweges  übertrieben  zu  nennen  ist,  müssen 
wir  eine  solche  Umwandlung  in  das  Gebiet  der  (aller  Ana¬ 
logie  ermangelnden)  vagen  Hypothesen  verweisen.  Die 
Wissenschaft  bedarf  fester  Stützen:  wehe  dem  Gebäude, 
dessen  Grund  zusammenstürzt.  Es  zerfällt,  so  prachtvoll 
und  glänzend  es  immer  aufgefiihrt  sein  mag!) 

Oder  b)  es  kann  das  plastische  Ncrvcngcbilde  zwar 
eine  rein  qualitative  Veränderung  seiner  Thätigkcit  erfah¬ 
ren,  ohne  jedoch  seine  allgemein  plastische  Function  auf¬ 
zugeben,  oder  eine  sensitive  anzunehmen.  Es  bleibt  viel¬ 
mehr  allerdings  plastisch  thütig,  aber  in  qrialitativ  verän¬ 
derter  Art,  seine  (?)  Productc  (?)  sind  z.  B.  nicht 
animalisch,  sondern  vegetabilisch  (?  doch  höchstens,  den 
Ausdruck  an  und  für  sich  betrachtet,  vegetabilischen  ähn¬ 
lich),  z.  B.  ein  Diabetes  mellitus. 

Oder  c)  das  plastische  Nervengebildc  hat  weder  seine 
allgemeine  plastische  Function  cingebüfst,  noch  den  ani¬ 
malischen  Charakter  derselben,  noch  hat  er  eine  ihm  fremd¬ 
artige  sensible  Thätigkcit  angenommen;  aber  seine  plasti¬ 
sche,  obwol  animalische  Function  selbst  ist  eine  fremdar¬ 
tige  geworden,  sic  entspricht  nicht  dem  Typus  der  Gat- 


119 


IV.  Das  Quecksilber. 

tuug,  sondern  nähert  sich  dem  einer  tiefer  untergeordneten 
Gattung,  wird  z.  B.  zu  einer  der  weilsblutigen  Thiere; 
ihre  Produclc  daher,  wenn  sie  zur  Selbstständigkeit  ge¬ 
langen,  reifsen  sich  innerhalb  des  Organismus  von  dem¬ 
selben  zu  einer  selbstständigen  Existenz  los,  verzehren  aber 
gleichsam  das  höhere  Thier;  jedenfalls  bildet  dieses  nicht 
weiter  sich  selbst,  sondern  ist  in  der  entschiedensten  Ge¬ 
fahr,  in  untergeordnete  zu  zerfallen.  Hierher  gehört  eine 
nicht  ganz  geringe  Zahl  höchst  wichtiger,  leider  aber  auch 
vielfach  verkannter  pathologischer  Zustände,  wovon  wir 
nur  einen  hier  nennen  wollen,  in  so  fern  es  denken¬ 
den  Aerzten  nicht  zweifelhaft  sein  kann,  w7ie 
sehr  unsere  Deutung  ihm  entspricht.  Der  Verfasser  wei¬ 
set  auf  Helminthiasis  hin.  (Begründet  die  Art  der  Secre- 
tion  den  Charakter  des  Nervensystems?  Viel  weniger  pomp¬ 
haft  läfst  sich  des  Verfassers  letzter  Satz  doch  wol  so 
ausdriieken:  durch  die  Wechselwirkung  der  Gebilde  des 
Organismus,  vorzüglich  wahrscheinlich  des  Gefäfssysle- 
mes  und  Ganglien  -Nervensystemes,  können  unter  Umstän¬ 
den  Secretionen  zu  Stande  kommen,  die  dem  Organismus 
fremd  werden  und  unter  günstigen  Verhältnissen  eine  be¬ 
schränkte  Selbstständigkeit  zu  erlangen  vermögen.) 

Endlich  ists  auch  leicht  sowol  der  Möglichkeit  nach 
zu  erkennen,  als  in  der  Beobachtung  nachzuweisen,  dafs 
sich  krankhafte,  auf  gesteigertem  (überall:  quantitativ  ver¬ 
ändertem)  Erregungszustamle  des  Gangliensystemes  beru¬ 
hende  Zustände  mit  andern  qualitativ  fehlerhaften  inneru 
Zuständen  und  Prozessen  (allgemeinen  oder  nur  örtlichen ) 
desselben  Systemes  zusammensetzen  und  bis  auf  einen  ge¬ 
wissen  Grad  mit  einander  verschmelzen  können. 

Auf  diese  Sätze  sich  stützend,  fährt  der  Verf.  fort: 
«Wo  ein  allgemein  gesteigerter  Erregungszustand  des  Gan¬ 
gliensystemes,  also  eine  allgemein  erhöhetc  Blutincitation 
zu  Stande  kömmt,  da  müssen  sich  die  höchsten  Grade  des 
lieberhaften  Prozesses  überhaupt  entwickeln.  Je  aufgereg¬ 
ter  aber  das  Blut  ist,  desto  weniger  ist  es  geschickt,  dern 


120 


IV.  Das  Quecksilber. 

fast  eine  pflanzliche  Ruhe  (?)  erfordernden  Veget^tions- 
prozesse  zu  dienen;  wenn  dieser  daher  durch  jede  fieber¬ 
hafte  Bewegung  schon  leidet,  bei  stärkerer  jedoch  sehr 
bald  eine  fühlbare  Niederlage  erfährt:  so  uiufs  er  hier  bei 
der  höchsten  Exaltation  des  fieberhaften  Prozesses  unter 
dem  tobenden  Blutstroin  völlig  erdrückt  werden.  Mit 
jeder  Fieberbewegung  ist  vermehrte  Wärmccntwickelung 
verbunden;  hier  bei  den  extravagantesten  Fiebcranslrcn- 
gungen  mufs  auch  die  kraukhaftc  Wärmccntwickelung  ihre 
höchsten  Grade  erreichen.  Nun,  eben  dies  aber  bildet  den¬ 
jenigen  Kraukheitszustaud,  den  die  Alten  Causus,  febris 
ardens  genannt  haben,  den  wir  aber  besser  durch  die  Be¬ 
nennung:  Erethismus  univcrsalis,  oder  allgemeine,  acute 
Ganglicnentziindung  bezeichnen  zu  können  glaubten.»  (Auch 
hier  handelt  es  sich  nur  um  Eines  —  um  die  Nachwei¬ 
sung  der  Existenz  einer  Gangliencntzündung.  Mit  dem  Be¬ 
griffe  *  Entzündung  »  sind  wir  schon  gewohnt,  dcu  einer 
Veränderung  in  den  entzündeten  Organen  selbst  zu  ver¬ 
knüpfen.  Hat  der  Verf.  Gelegenheit  gehabt,  oder  es  der 
Mühe  werth  erachtet,  eine  solche  Veränderung  die  auch 
nur  entfernt  auf  «Entzündung»  deuten  könnte,  zu  beob¬ 
achten?  So  lange  nicht  wenigstens  dies  geschehen  ist,  ist 
und  bleibt  die  ganze  Annahme  Hypothese.) 

Wichtig  erscheint  dem  Verf.  die  Differenz  zwischen 
chronischer  Ganglienentzündung  und  acuter. 

«Der  chronische  Erethismus  ( Ganglienentzündnng)  ist 
in  seiner  Erscheinung  immer  erkannt,  seinem  eigentlichen 
Sein  nach  aber  bisher  immer  verkannt  worden.  Allge¬ 
meine  Gereiztheit,  Blutaufregungen,  Stärke-  und  Schwä¬ 
chegefühl,  flüchtig  kommend  und  gehend,  lassen  sich  nicht 
übersehen.  Es  hat  denAerzlcn,  namentlich  wenn  sie  sich 
nicht  leicht  entschliefsco  konnten,  der  mcdicinischcn  Grund¬ 
wissenschaft,  der  allgemeinen  Pathologie  den  Rücken  zu 
kehren,  Mühe  genug  gemacht :  Congcstion,  Erethismus  und 
Orgasmus  begrifflich  irgendwie  auscinader  zu  halten;  wie 
wenig  es  ihnen  aber  damit  gelungen  ist,  erkennt  man 


I 


IV.  Das  Quecksilber.  121 

schon  an  ihrer  Scheu,  diese  Dinge  auch  nur  phänomeno¬ 
logisch  einander  gegcnübcrzustellen,  um,  was  inan  fort  und 
fort  verwechselt  und  dennoch  zu  scheiden  sich  gedrängt 
fühlt,  im  Bilde  wenigstens  zu  fixiren.  Man  befindet  sich 
indessen  schon  in  einer  geradlinigen  Richtung  zur  natur- 
gemäfseu  und  wesentlichen  Auffassung  der  gewöhnlichen 
Form  des  Erethismus,  wenn  man  ihn  in  seiner  Entstehung 
aus  chronischer  Ganglienentzündung,  ja,  als  eben  diese 
selbst,  denkt.  Wo  überall  im  Gangliensysteme  eine  Ent¬ 
zündung  auf  chronische  Weise  sich  bildet,  da  wird  frei¬ 
lich,  mehr  oder  weniger,  eine  gewisse  Gereiztheit  des 
Blutes  überhaupt,  ferner  desjenigen  Organs,  in  welchem 
die  Entzündung  ihren  Sitz  hat,  und  derjenigen,  mit  wel¬ 
chen  dieses  in  einem  nicht  gar  zu  entfernten  sympathi¬ 
schen  Verhältnisse  steht,  nicht  unbemerkt  bleiben  können; 
eben  so  werden,  bei  einiger  Dauer  eines  solchen  Zustan¬ 
des,  Trübungen  in  den  Functionen  der  primär  und  secun- 
där  betheiligten  Gebilde  nicht  ausbleiben  können,  deren 
respective  Wichtigkeit  von  der  Bedeutung  der  in  die 
Krankheitssphäre  gezogenen  Theile  abhängig  ist.  Alles  dies, 
unter  Umständen  nicht  unwichtig,  zuweilen  sogar  sehr 
wichtig,  jedenfalls  aber  der  Beobachtung  sich  von  selbst 
aufuöthigend ,  soll  freilich  von  ihr  nicht  zurückgewiesen 
werden,  doch  ists  in  Wahrheit  nur  die  Aulsenseite,  das 
hei  weitem  Unwichtige,  ja  nur  das  relativ  Zufällige  in  Be¬ 
ziehung  auf  den  eigentlichen,  unscheinbar  und  verdeckt, 
aber  desto  leichter  zum  Verderben  fortschreitenden  innern 
Krankheitsprozefs.  Von  der  chronischen  Ganglienentzün¬ 
dung  nämlich  ist  ein  quantitativ  fehlerhafter  plastischer 
Prozefs  ganz  unabtrennlich,  .ja  eben  dieser  ist  ihr  wesent¬ 
lichstes  inneres  Moment.  Dieser  fehlerhafte  Vorgang  setzt 
sich  innerlich  auf  eine  intensive  Weise  fort,  erregt,  we¬ 
nigstens  anfänglich,  oft  lange  Zeit  hindurch,  keine  sehr 
auffallende  Störungen,  oder  nur  solche,  welche  man  wie¬ 
derum  auf  das  lediglich  und  relativ  zufällige  äufsere  Er¬ 
scheinungsmoment  des  Erethismus,  auf  individuelle  Con- 


m 


IV.  Das  Quecksilber. 

6titutionsverlnillnis.se,  oder  auf  Blutwallung,  ungleiche  Blnl- 
vcrlbciluug,  krankhafte  Heizung  u.  s.  w.  zu  beziehen  in 
der  Uebung  ist." 

Nach  diesen  Expcctorationcn  bemüht  sich  der  Verf., 
den  Prozcfs  der  Tuberkclbilduug  als  aus  chronischer  Gan- 
licnentzündung  hervorgegaugen  zu  schildern.  Rüge  ver¬ 
dient  hier  die  unablässige  Polemik  gegen  anders  denkende, 
oder,  da  6ic  den  Vorgang  nicht  zu  erklären  vermögen, 
zweifelnde  oder  schweigende  Aerzte,  dabei  das  ewig  wic- 
derkehrende  Verwundern,  dafs  man  des  Herrn  Verfassers 
Ansichten  nicht  angenommen.  Haben  denn  diese  irgend 
eine  Basis,  als  die  individuelle  Anschauungsweise  des 
Verfassers?  Nur  Klarheit  und  Beweis  —  der  blinde  Glaube 
ist  mit  Hecht  längst  verbannt.  Es  mag  Mancher  das  Un¬ 
zulängliche  unseres  Wissens  über  so  dunkle  Vorgänge  im 
Innern  des  Organismus  gefühlt,  Mancher  auch  Versuche  zu 
ihrer  Aufklärung  gemacht,  aber  auch  ihre  Unzulänglichkeit 
erkannt,  und  darum  lieber  geschwiegen  haben.  Nicht  als 
sollte  hierdurch  Herrn  Sachs  irgend  ein  Vorwurf  gemacht 
werden;  im  Gegcntheil  verdienen  seine  Bestrebungen  dank¬ 
bare  Anerkennung,  und  mit  Freuden  würden  gewifs  von 
Allen  die  Resultate  derselben  als  grofs  und  schön  ange¬ 
nommen  werderden,  wenn  nur  —  ihre  Wahrheit  einleuch¬ 
tend  dargethan  wäre.  VortrelTIich ,  acht  wissenschaftlich, 
hat  Herr  Sachs  von  seinen  Grundsätzen  aus,  Alles  bear¬ 
beitet;  fragt  man  aber,  woher  diese  Grundsätze  kommen, 
so  erfährt  man  ohne  grofse  Mühe,  dafs  sie  nur  Kinder  des 
Verstandes  des  Herrn  Verfassers  sind,  deren  Ansscheu,  bis 
jetzt  wenigstens,  jede  andere  Vaterschaft  bestreitet. 

Wir  müfsten  ein  Buch  schreiben,  wollten  wir  in  eine 
Beleuchtung  aller  pathologischen  und  therapeutischen  An¬ 
sichten  cingehen,  die  der  geistreiche  Verf.  bei  Gelegenheit 
seiner  Darstellung  der  Einwirkungen  des  Quecksilbers  bei 
einzelnen  Krankheitsgruppen  und  Arteu  dieser  cingcwobcn. 
Die  Fieber  und  die  Nervenkrankheiten  werden  nach  einer 
sehr  ausführlichen  Darstellung  der  Entzündungen  kürzer 


123 


V.  Physiologische  Arbeiten. 

abgehandelt;  es  folgen  Syphilis ,  Drüsenkrankheiten,  Haut¬ 
krankheiten,  Krankheiten  der  Schleimhäute,  Exantheme. 
Nirgend  ein  Huldigen  der  gewöhnlichen  Ansichten ,  überall 
Neues  und  Geistvolles,  aus  dem  das  Wahre  rascher  aner- 
kannt  und  assimilirt  werden  würde,  wäre  nicht  Alles  mit 
zu  apodictischer  Bestimmtheit  als  Solches  geboten  und 
gepriesen. 

Praktischen  Regeln  über  die  Anwendung  des  Queck¬ 
silbers  folgt  eine  Darstellung  seiner  einzelnen  Präparate  in 
ihren  Beziehungen  zu  krankhaften  Zuständen  des  mensch¬ 
lichen  Körpers,  die  den  Schlufs  macht. 

Sts. 


V.  ' 

Ueberslcht  der  physiologischen  Arbeiten, 

mit  Einschlufs  der  zugehörigen  Doctrinen« 


Die  Elementartheile  des  thierischen  Körpers. 

(Nach  Car.  Aug.  Sigismund  Schultze  Prodromus  de- 
scriptionis  formarum  partium  elementarium  in  animali- 
bus.  Berol.  4.) 

Es  kann  kein  Zweifel  obwalten,  dafs  in  den  klein¬ 
sten  und  einfachsten  Theilen  der  Organe  und  ihrem  Wech- 
selverhältnifs  die  Lehensquelle  seihst  und  die  Ursachen  der 
Verschiedenheit  der  Lebensprozesse  zu  suchen  sind.  Eine 
genaue  mikroscopische  Untersuchung  dieser  Theilchen  in 
BetretT  ihrer  Gestalt,  Verbindung,  Zahl,  Farbe,  Gröfse, 
Festigkeit,  Mischung,  und  eine  Bestimmung  ihrer  übrigen 
physischen  und  chemischen  Verhältnisse,  würde  gewifs  um 
ein  Bedeutendes  in  der  Einsicht  in  die  Lebenserscheinun¬ 
gen  uns  fördern. 


124 


V.  Physiologische  Arbeiten. 

I)a  ein  großer  Theil  der  Physiologen  unserer  Zeit  noch 
die  Meinung  liegt,  dafs  die  gröfseren  Thiere  aus  Infusorien 
zusammengesetzt  werden:  so  hält  der  Ycrf.  eine  Aufzäh¬ 
lung  der  Urformen  organischer  Theilchen,  die  er  binucu 
einem  Zeiträume  von  10  Jahren  aufgefunden,  für  zweck- 
mfifsig.  Alle  zeigen  keine  Spur  weiterer  Zusammensetzung, 
sie  schwimmen  entweder  einzeln  in  Flüssigkeit,  oder  bil¬ 
den  durch  ihre  Vereinigung  Gewebe  und  Organe.  Alle 
sind  sehr  klein,  die  meisten  mit  unbewaffnetem  Auge 
nicht  sichtbar;  alle  enthalten  Wasser,  einige  in  gröfsercr, 
andere  in  geringeirr  Menge,  je  nach  dem  Grade  ihrer 
Stärke  oder  Weichheit. 

1.  Der  Schleimstoff,  Thierstoff  Döllinger’s.  Der 
einzige  Bestandteil  der  einfachsten  Thiere,  durchsichtig, 
weifs,  jeder  Gestaltung  fähig,  daher  inmitten  der  flüssi¬ 
gen  und  festen  Elementartheile  stehend,  Mutter  der  übri¬ 
gen  Elemente,  die  die  festen  Organe  bilden,  Hülle  und 
Bindestoff  in  den  höheren  Thieren;  in  allen  Organ  der  Er¬ 
nährung  und  Absonderung;  in  den  einfacheren  zugleich 
Gefühl  und  Bewegung  bewirkend. 

2.  Die  Schleimkügelchcn.  Rund,  sehr  durchsichtig, 
farblos,  nur  bei  stärkster  Vergröfscrung  sichtbar,  den 
Schleimstoff  fast  aller  Thiere  und  den  von  den  Schleim* 
membranen  abgesonderten  Schleim  erfüllend.  Die  Kügel¬ 
chen  der  Tracheen,  die  S.  in  den  Trachcalsäckeu  der  In¬ 
sekten  gefunden,  weichen  wenig  von  ihnen  ab.  Sic  sind 
in  den  Luftsäcken  unbefestigt  enthalten,  und  dürften  kaum 
eine  eigene  Art  bilden. 

3.  Die  Ncrvenkügelchen.  Rund,  halbdurchsicbtig, 
weifs  oder  grau,  von  gleicher  Kleinheit  bei  den  Thieren 
der  verschiedenen  Klassen,  überall  in  Linearform  angeord¬ 
net,  der  Empfindung  vorstehend.  (Gewifs  nicht  richtig.  Ref.) 

4.  Die  Chylus-  und  Lymphkügclchen.  Beinahe  rund; 
bisweilen  winkelig  und  plattgedrückt  (besonders  aus  den 
(  hylusgefäfsen  des  Verdauungskanales,  ehe  diese  in  die 
Drüsen  getreten  sind ),  halbdurchsicbtig,  von  verschiedener 


V.  Physiologische  Arbeiten. 

I 

Gröfse  in  demselben  und  in  verschiedenen  Thie 

dem  blofsen  Auge  nicht  wahrzunehmen,  in  dein 

Theile  des  Chylus  und  der  Lymphe  schwimmei 

den  Blutkügelchen  besonders  dadurch  unterschiede^  üals 

Schaale  uud  Kern  nicht  getrennt  sind,  sondern  eine  Masse 

bilden. 

5  und  6.  Kern  und  Schaale  der  Blutkügelchen.  Ein 
fester,  kugelrunder,  oder  fast  kugelrunder,  durchsichtiger 
Kern,  eingeschlossen  in  einer  meistens  runden,  halbdurch¬ 
sichtigen,  linsenförmigen  oder  erbsenförmigen,  oder  kugel¬ 
runden  Schaale;  die  aus  beiden  Bestandtheilen  gebildeten 
Kügelchen  nur  mikroscopisch  wahrnehmbar,  von  verschie¬ 
dener  Gröfse  bei  verschiedenen  Thieren,  am  gröfsten  im 
Proteus  anguineus,  am  kleinsten  in  der  Ziege:  die  Zahl 
der  im  Blute  schwimmenden  Kügelchen  bei  den  warm¬ 
blütigen  Thieren  am  gröfsten. 

7.  Hautdrüsenkügelchen.  In  der  milchigen  Flüssigkeit 
der  Hautdrüsen  der  Salamander,  Tritonen,  Kröten,  fand  S. 
sehr  kleine,  runde,  halbdurchsichtige,  weifse  Kügelchen 
in  sehr  grofser  Anzahl. 

8.  Milchkügelchen.  In  grofser  Anzahl  in  der  Milch 
der  Säugethiere  schwimmend,  rund,  durchsichtig,  weifs, 
sehr  klein,  durch  Gerinnen  der  Milch  sich  verbindend, 
übrigens  fest,  so  dafs  sie  durchs  Kochen  sich  nicht  verän¬ 
dern;  den  KäsestofT  wahrscheinlich  enthaltend. 

9.  Pigmentkörner  des  Auges.  Sie  haben  in  den  ver¬ 
schiedenen  Thierklassen  verschiedene  Gestalt  und  Verbin¬ 
dung.  In  den  zusammengesetzten  Augen  der  Insekten  sind 
sie  keilförmig,  durchsichtig  und  hängen  an  den  Gesichts- 
flächen ,  die  an  ihrer  Basis  mit  schwarzem  Pigmente  über¬ 
zogen  sind;  bei  den  Fischen  sind  diese  Körper  kleiner, 
von  allen  Seiten  mit  schwarzem  Pigmente  überzogen,  und 
bilden,  mit  der  Chorioidea  sowol,  als  unter  sich  mittelst 
Schleimstoffes  verbunden,  eine  Membran.  Bei  den  Vögeln 
und  Säugethieren  fand  S.  statt  der  keilförmigen  vielwiuk- 
ligen,  fast  kugelrunde,  mit  schwarzem  Pigmente  überzo- 


126 


V.  Physiologische  Arbeiten. 

pene,  ohne  dies,  durchsichtige  Körper,  an  der  Chorioidca 
befestigt,  welche  das  gewöhnlich  sogenannte  schwarze 
Pigment  bilden. 

10.  Schleimgcwcbfasern.  Cylindrisch,  durchsichtig, 
weifslich,  bei  den  höheren  Thieren  in  allen  Richtungen 
durch  den  SchlcimstolT  dringend,  nicht  parallel,  elastisch, 
cootractil,  aber  bei  der  Contractiou  keine  Runzeln  bildend. 

11.  Nervenfasern.  In  den  Ccntraltheilen  des  Ncr- 
vcnsyslemcs  sind  die  Nervcnkügclchen  durch  eine  zähe, 
klebrige,  bei  den  niedern  Thieren  durchsichtige,  hei  den 
höhern  Thieren  halbdurchsichtigc  Materie  zu  Fasern  ver¬ 
bunden,  so  dafs  die  einzelnen  Kügelchen  nicht  von  ein¬ 
ander  getrennt  werden  können.  Die  Fasern  bilden  Plat¬ 
ten  und  Bündel. 

12.  Muskelfasern  oder  Muskelfäden.  Cylindrisch,  so¬ 
lide,  sehr  dünn,  fast  undurchscheinend,  weifs  oder  gelb, 
bei  den  niederen  Thieren;  roth  bei  den  höheren,  beson¬ 
ders  den  warmblütigen,  parallel,  durch  Schlcimgewebe 
zu  Bündeln  verbunden,  coutractil,  bei  der  Contraclion  sich 
runzelnd. 

13.  vSehnenfasern.  Sehr  feste,  solide,  elastische,  durch¬ 
scheinende,  bläulich -weifse  Fäden  von  Perlglanz,  ohne  Zu- 
sainmcnzichungskraft,  parallel,  durch  sehr  festes  Schleim¬ 
gewebe  verbunden.  Sie  bildeu  die  Ligamente  und  Sehucn. 

14.  Spiral-  oder  Tracheenfasern.  Cylindrisch,  sehr 
wenig  zusammengedrückt,  elastisch,  silberfarben,  halbdurch- 
sichlig.  Sie  sind  spiralförmig  zwischen  der  innersten  und 
der  äufseren  Tracheenhaut  in  drei  oder  vier  Zügen  umgc- 
wundeu,  und  durch  ihre  nebeneinander  gelegenen  Enden 
verbunden.  Ihre  Dicke  ist  je  nach  dein  Umfange  der  Tra¬ 
cheen  verschieden,  und  sic  kommen  nur  iu  den  Tracheen 
der  Insekten  vor. 

15.  Gcfäfshaut  fasern.  Fast  cylindrisch,  dünn,  glanz¬ 
los,  elastisch,  zerbrechlich,  in  spitzen  Winkeln  mit  den 
benachbarten  mittelst  Zellgewebes  verbunden,  fest.  'Sie 
bilden  die  plattgcdrücktcu  Kreis-  und  Läugsfaserbüudel, 


127 


V.  Physiologische  Arbeiten. 

die  die  innerste  Haut  der  Arterien  und  Venen  umgeben, 
durch  deren  Zusammenziehungen  die  Blutbewegung  ver¬ 
stärkt  wird. 

16.  Knochenkörner.  Fast  rund,  glanzlos,  wcifslich, 
hart,  mit  blofsen  Augen  sichtbar,  durch  Knorpel  unter¬ 
einander  verbunden;  bei  den  grüfseren  Knorpelfischen: 
Haien  und  Rochen,  sehr  deutlich;  hei  den  höheren  Thie- 
ren  nur  in  der  Ossificaiionsperiode  erscheinend. 

17.  Knochcnblättchen.  Gli  izlose,  weifsliche,  harte, 
mit  blofsem  Auge  erkennbare  Plättchen,  durch  Winkel  und 
Ränder  untereinader  verbunden,  sehr  häufig  Zellen  bildend. 
Sie  sind  die  Bestandteile  des  Inneren  der  ausgehildeteren 
Knochen. 

18.  Knochenfasern.  Von  faseriger  Gestalt  unterschei¬ 
den  sie  sich  vorzüglich  durch  Lage  und  Verbindung  von 
den  Knochenblättchen ,  da  sie  in  scharfen  Winkeln  unter¬ 
einander  verwachsen,  den  äufseren,  dichteren  Theil  der 
Knochen  bilden. 

19.  Hornblättchen.  Meistens  schuppenförmig,  trocken, 
hart,  elastisch,  halbdurchsichtig,  von  verschiedener  Farbe 
und  Gröfse  in  demselben  Thiere,  unter  allen  Elementar¬ 
theilen  die  gröfsten,  die  äufsere  Oberfläche  der  höheren 
Thiere,  seltener  einen  Theil  der  Innenfläche  unter  dem 
Namen  Oberhaut,  Schuppen,  Nägel,  Schilder  bedeckend. 

20.  Ilornzellen,  hornige  Bläschen.  Trocken,  elastisch, 
weifs,  mikroscopisch,  durchsichtig,  das  sogenannte  Mark 
der  Federn,  Haare,  Stacheln  bildend,  mit  Luft  oder  Ocl 
erfüllt. 

21.  Hornfasern.  Cylindrisch,  trocken,  hart,  elastisch, 
halbdurchsichtig,  von  verschiedener  Farbe  und  Gröfse.  Un¬ 
tereinander  verwachsen  bilden  sie  die  Bedeckung  der  Hör¬ 
ner,  die  Schafte  der  Federn,  Stacheln  und  Haare. 

Oie  letztgenannten  sechs  Elementartheile  haben  eine 
gröfsere  Aehnlichkcit  untereinander,  als  die  übrigen,  mei- 
stcntheils  sind  s  ie  aber  durch  die  Gestalt  unterschieden 
und  haben  verschiedene  chemische  Eigentümlichkeiten,  da 


/ 


% 


128  VI.  Medicinische  Bibliographie. 

in  den  Knochen  der  Kalk,  in  den  Hörnern  der  Ilorns 
vorwaltet.  Die  übrigen  anatomischen  Elcmeutarthciie  si  . tl 
auch  in  chemischer  Hinsicht  von  einander  verschieden,  wie 
die  Blut-,  Lymph-  und  Milchkügelchen,  die  gefärbten  Kör¬ 
perchen  des  Auges,  die  Nerven-,  Muskel-  und  Gcfafshaut- 
fasern.  Wahrscheinlich  werden  auch  bei  den  übrigen  che¬ 
mische  Verschiedenheiten  nachweisbar  sein. 

8. 


Medicinische  Bibliographie. 


Ilcinroth,  J.  Ch.  A.,  die  Lüge.  Ein  Beitrag  zur  Seelen- 
krankheitskundc  für  Aerzte  u.  8.  w.  gr.8.  Leipzig,  F.  Flei¬ 
scher.  2  Thlr.  12  Gr. 

Hellmuth,  F.,  die  Seife,  ein  neu  entdecktes  Heilmittel 
gegen  Erkältung,  Frostbeulen,  Hautschwäche,  Rheuma¬ 
tismen,  Verbrennungen  und  einige  andere  Beschwerden. 
8.  Stuttgart,  Neff.  br.  8  Gr. 

In  Verbindung  mit  der  Redaction  des  Originals  er¬ 
scheint  gleichzeitig  in  unserm  Verlag  eine  deutsche  Ucber- 
setzung  der  interessanten  Zeitschrift:  Journal  des  connais- 
sances  Medico- Chirurgicalcs  etc.,  unter  dem  Titel: 

Allgemeines  Journal  für  medicinische 
und  chirurgische  Kenntnisse,  hcrausge- 
geben  von  I)r.  Armand  Trousseau,  Dr.  Ja¬ 
cob  Le  band y  und  Dr.  Henri  Gonraud; 
übersetzt  durch  Dr.  Lo ebner  in  Nürnberg. 
Monatlich  erscheint  1  Heft  mit  mehreren  Stahl¬ 
stichen.  Preis  für  den  Jahrgang:  2  Thlr.  16  Gr. 
oder  5  Fl.,  für  den  halben  Jahrg.  1  Thlr.  8  Gr. 
oder  2  Fi.  30 Kr.,  für  3  Monate  18  Gr.  oder  1  Fl. 
20  Kr. 

In  Frankreich  fand  dieses  Journal  vermöge  seines  ge¬ 
diegenen,  interessanten  Inhaltes,  ungewöhnliche  Aufnahme, 
und  wir  dürfen  einen  gleichen  Erfolg  für  obige  gelungene 
Ucbersctzung  erwarten.  Alle  solideu  Buchhandlungen  neh¬ 
men  Bestellung  darauf  an. 

Paris,  im  Jauuar  1834. 

II  ei  de  1  off  und  C  a  m  p  c. 


au 


Untersuchungen  über  Lymph-  und  Chylus- 
körnchen,  und  ihr  Verhältnis  zu  den  Blut¬ 
körperchen. 

*  \  >  • 

Von 

Rudolph  W  a  g  n  e  r  , 

Professor  in  Erlangen *  1 ). 


.Oie  Untersuchungen  über  Lymphe  und  Chyhis,  ihr  Ver- 
hältnifs  zum  Blute  und  zu  den  Kernen  der  Blutkörperchen 
sind  sehr  sparsam  und  unvollständig,  und  dennoch  ist  die 
nähere  Kenntnifs  hiervon  die  erste  Bedingung  zu  einer  ge¬ 
naueren  Einsicht  in  den  Vorgang  bei  der  Ernährung.  Man 
findet  in  dem  Blute  aller  Wirbelthiere,  mit  Ausnahme  des 

•  *  \ 

1)  Ich  hatte  vorliegenden  Aufsatz  vor  mehren  Mo¬ 
naten  Herrn  Professor  Bur  dach  für  den  fünften  Band  sei¬ 
ner  Physiologie  zugesandt;  da  aber  erst  der  sechste  Band  die 
Blutbildung  abhandeln  soll,  der  vielleicht  erst  in  einigen 
Jahren  erscheint,  so  V,og  ich  ihn  zurück  und  gebe  ihn  hier, 
uin  wo  möglich  weitere  Forschungen  zu  veranlassen.  Der 
im  nächsten  Jahre  erscheinende  fünfte  Band  wird  übrigens 
einige  Untersuchungen  über  die  feinere  Structur  der  Ge¬ 
webe  enthalten,  wozu  Herr  Burdach  die  Güte  hatte,  mich 
aufzufordern. 

R.  Wagner. 


f30  I.  Lympli-  nnd  Chyluskümclien. 

f 

Menschen  und  der  Sauget  liiere,  wo  die  Blutkörnclien  sehr 
klein  und  rund  sind,  neben  den  gewöhnlichen  ovalen  Blut¬ 
körnchen,  sparsamer  andere  Körperchen  von  einer  zwei¬ 
ten,  mehr  rundlichen  Form.  Die  sparsameren  Körnchen 
sind  weit  kleiner,  farblos,  und  haben  ein  ganz  anderes 
Aussehen;  diese  sprach  man  für  dem  Blute  beigemengte 
Lymphkörnchcn  au,  weil,  wie  Job.  Müller  sagt,  der  sie 
bei  den  Fröschen  beobachtete,  sie  ganz  mit  den  sehr  spar¬ 
samen  Körnchen  der  gerinnbaren  Lymphe  bei  den  Fröschen 
übereinkämen,  wie  sie  daselbst  unter  der  Haut  sich  findet. 
Ich  habe  sie  im  Blute  der  Fische,  Amphibien  und  Vögel 
häufig  beobachtet,  wo  sie,  wie  gesagt,  durch  ihre  Gröfsen- 
verschicdenheit  und  ihr  übriges  Ansehen  sich  sogleich  von 
den  gewöhnlichen  Blutkörnclien  unterscheiden  lassen.  Sie 
wechseln  in  ihrer  individuellen  Gröfse  noch  mehr,  als  die 
Blutkörnchen.  So  fand  ich  sie  im  Blute  der  Taube  4-J-0- 
und  j-J-y'"  im  Mittel,  beim  Frosch  bis  auc^ 

darüber  und  darunter;  noch  kleiner  sind  sie  bei  den  Fi¬ 
schen.  Bei  Ammocoetes  branchialis,  welcher  Fisch  runde, 
scheibenförmige,  den  menschlichen  ähnliche,  nur  gröfsere 
Blutkörnchen  hat,  welche  tj‘ö  To*o /y/  messen,  und  da¬ 
her  ganz  von  dem  ovalen  Typus  der  übrigen  Fische  ab¬ 
weichen,  fand  ich  sic  von  -5-^-  bis  TJT/y/  wechselnd.  — 
Am  interessantesten  war  mir  aber  ihre  Beobachtung  im 
Blute  der  Wassersalamander,  welche  die  gröfsten  Blutkör¬ 
perchen  unter  den  von  mir  beobachteten  Amphibien  ha¬ 
ben,  weshalb  sic  sich  auch  am  besten  zu  Versuchen  eig¬ 
nen.  Die  Blutkörnchen  von  Triton  taeniatus  messen  im 
Durchschnitt  Linie  in  der  Länge;  sie  sind  sehr  flach, 
scheinen  aber,  wie  bei  allen  Amphibien,  doch  einen  mitt¬ 
leren  Nabel  zu  haben,  den  man  bald  deutlich,  bald  weni¬ 
ger  zu  bemerken  glaubt.  Unter  diesen  Blutkörnchen  la¬ 
gen  nun  in  sehr  beträhtlichcr  Menge  kleine,  rundliche, 
doch  etwas  abgeplattete  Körnchen  (wahrscheinlich  flache 
Linsen),  von  sehr  verschiedener  Gröfse;  meist  maafsen  sic 
Liuie,  viele  waren  aber  auch  gröfser,  bis  zu  TJ-0  ; 


( 


/ 


I.  Ly  mph  -  und  Chyluskurnchen.  131 

die  gröfsten  hatten  eine  ovale,  keine  kreisförmige  Gestalt, 
hatten  aber  doch  stets  ein  körniges  Aussehen,  wie  die 
kleineren,  wodurch  sie  sich  von  den  Blutkörperchen  un¬ 
terschieden;  andere,  wenige,  schienen  endlich  den  Blut¬ 
körnchen  noch  ähnlicher,  so  dafs  sich  entschieden  die  An¬ 
sicht  aufdrang,  als  wenn  diese  rundlichen  Körnchen  suc- 
cessive  in  die  Blutkörnchen  übergingen,  indem  man  eine 
Wenge  Uebergangsformen  sehen  konnte.  Eben  so  verhielt 
es  sich  mit  der  Farbe.  Die  Lymphkörnchen  waren  unter 
dem  Mikroskop  ungefärbt,  die  Blutkörnchen  gelblich,  die 
gröfsten  Lymphdrüsen  schienen  bereits  deutlich  etwas  ge¬ 
färbt.  I)afs  diese  zweite  Form  von  Körnchen  wirklich 
Lymphkörnchen  sind,  dafür  sprechen  mehre  andere  Beob¬ 
achtungen.  Vor  Allem  ihre  Vergleichung  mit  wirklichen 
Lymphkörnchen.  So  hat  schon  J.  Müller  bemerkt,  dafs 
diese  Körnchen  bei  den  Fröschen  mit  denjenigen  Körnchen 
die  gröfste  Aehnlichkeit  haben,  welche  in  der  Lymphe 
unter  der  Haut  dieser  Thiere  Vorkommen.  So  verhält  es 
sich  auch  hei  Vögeln,  wo  ich  bei  verschiedenen  Arten 
Lymphe  und  Blut  untersucht  habe.  Bei  der  Taube  z.  B. 
maafsen  die  äufserst  deutlichen  Lymphkörnchen,  welche 
sich  in  der  Lymphe  der  Halsdrüsen  finden,  bis  -gig-,  ja 
auch  nur  gJ-g-'",  einzelne  weniger,  andere  auch  etwas  mehr; 
im  Allgemeinen  sind  sie  aber  gewifs  etwas  kleiner,  als 
die  dem  Blute  beigemengten  Lymphkörnchen,  welche  -j-J-y 
bis  -g-i-ö ,u  messen.  Diese  Lymphkörnchen  aus  der  Hals¬ 
drüse  hatten  aber  sonst  im  Ansehen  grofse  Aehnlichkeit 
mit  den  dem  Blute  beigemengten;  mit  den  Blutkörnchen 
der  Taube  verglichen,  scheinen  sie  drei-  bis  viermal  klei¬ 
ner,  mit  menschlichen  Blutkörnchen  zugleich  betrachtet, 
fast  noch  einmal  so  klein;  sie  sind  farblos,  etwas  körnig, 
und  sehen  wie  plattgedrückte  Linsen  aus.  Aehnlich  fand 
ich  es  bei  anderen  Vögeln,  was  zu  beweisen  scheint,  dafs 
wirklich  die  dem  Blute  beigemengte  zweite  Form  von 
Körnchen,  der  Lymphe  angehöre. 

Sonst  habe  ich  noch  mehre  Versuche  und  Beobach- 

9  * 


132 


1.  Lymph  -  und  Chylaskomcben. 


tungcn  an  der  Lymphe  und  dem  Chylus  bei  Säugcthiercu 
und  Vögeln  angestellt,  von  welchen  ich  die  wichtigsten 
liier  mitthcilcu  will.  Die  mikroskopische  Untersuchung  der 
Lymphe  ist  leichter  anzustellen,  und  man  ist  weniger  der 
Täuschung  ausgesetzt,  als  beim  Blute,  weil  die  Lymphe 
in  getödteten  Thicren  länger  unverändert  zu  bleiben  scheint, 
und  Verdünnung  mit  Wasser  auch  hei  weitem  nicht  so 
altcrirend  einwirkt 

Aus  der  Mesentcrialdriise  eines  seit  zwei  Tagen  ge¬ 
tödteten  Kalbes  drückte  ich  den  Saft  aus,  einen  weifsli- 
chen  Chylus,  der  noch  sehr  schöne,  wohlerhaltcnc  Körn¬ 
chen  enthielt,  welche  yjy  bis  yJy"'  maafsen,  und  platt 
zu  sein  schienen:  Die  Chyluslymphc  vom  Kaninchen  un¬ 
tersuchte  ich  hierauf;  ein  Kaninchen  wurde  nach  einer 
reichen  Mahlzeit  getüdtet  und  noch  warm  untersucht;  die 
Drüsen  des  Gekröses  strotzten  von  weifslichein  Chylus; 
die  Körnchen  waren  sehr  zahlreich  und  von  verschiedener 
Gröfsc,  sie  maafsen  yjy  bis  t  Jyy//j  die  gröfseren  schienen 
mir  deutlich  kreisrund  und  flach,  vielleicht  selbst  bicon- 
cav;  einzelne  maafsen  nahe  an  yJ-y  Linie,  alle  batten  eine 
etwas  körnige  Oberfläche,  wodurch  sie  sich  von  den  Blut- 
körneben  durchaus  unterschieden;  sic  waren  ganz  farblos, 
oder  matt  bläulich  -  weifs;  die  Blutkörnchen  erschienen 
deutlich  etwas  hiconcav  und  maafsen  y-Jy  Linie  im  Durch¬ 
schnitt;  individuelle  Gröfsenunterschicdc  waren  bei  den 
Blutkörnchen  weit  geringer,  als  hei  den  Lytnphkörnchcu.  — 
Von  einem  ebeu  getödteten  Schaafc  untersuchte  ich  Chy¬ 
lus  und  Lymphe  ganz  frisch.  Die  Lymphe  wurde  aus 
einer  Ilalsdrüse  genommen,  wo  sie  beim  Durchschnitt  aus¬ 
träufelte;  die  Kügelcheu  waren  rund,  wahrscheinlich  lin¬ 
senförmig  abgeplattet  (da  keines  auf  dem  Rande  stand,  so 
konnte  ich  die  Form  nicht  scharf  erkennen),  hatten  eine 
feinkörnige  Oberfläche  und  eine  wechselnde  Gröfsc,  meist 
zwischen  y und  y-Jy'",  einzelne  maafsen  bis  nahe  an 
TVoi  manche  dagegen  fast  nur  yjy'";  Wasser  veränderte 
sic  nicht  merklich.  Die  Drüsen  des  Gekröses  entleerten 


133 


I.  Lymph-  und  ChyluskÖrnchen. 

beim  Durchscheiden  und  Ausdrücken  einen  bläulich- weifscn 
Chylus,  der  ganz  ähnliche  Körnchen,  wie  die  Lymphe  der 
Ilalsdriise  enthielt,  nur  war  die  Gröfsendifferenz  noch  be¬ 
trächtlicher,  indem  sie  zwischen  -j-fo  bis  schwank¬ 

ten;  dabei  schwammen  noch  eine  Menge  kleinerer  Körn¬ 
chen  umher,  welche  etwa  ytVo  Linie  messen  mochten;  die 
Körnchen  hatten  ein  körniges  Aussehen,  keines  schwamm 
auf  dem  Rande,  so  dafs  ich  auf  diese  Weise  die  Form 
hätte  beobachten  können,  was  doch  die  Blutkörnchen,  die 
ich  gleichzeitig  mit  untersuchte,  sehr  leicht  thaten,  wo 
man  daun  den  münzenförmigen,  aber  doch  wie  es  schien  r), 
etwas  abgerundeten  Rand  sah,  der  dicker  war,  als  im 
menschlichen  Blutkörnchen;  diese  Blutkörnchen  waren  deut¬ 
lich  röthlich,  viel  gleichmäfsiger  in  der  Gröfse  als  die 
Lymph-  und  ChyluskÖrnchen,  maafsen  zwischen  und 
yj-g-"',  waren  aber  nicht  gröfser  und  kleiner,  so  dafs  sie 
unter  die  Lymphkörnchen  gemischt  im  Allgemeinen  weit 
kleiner  erschienen,  indem  die  Mehrzahl  der  letzten  gröfser 
war;  auch  hatten  sie  kein  körniges  Ansehen,  wie  die 
Lymphkörnchen,  sondern  zeigten  den  Schatten,  welcher 
den  Blutkörperchen  des  Menschen  und  der  Säugethiere  das 
Ansehen  giebt ,  als  seien  sie  auf  der  platten  Fläche  etwas 
vertieft.  Lymphe  und  Chylus  wurden  24  Stunden  im  Uhr* 
glas  unter  Wasser  gesetzt  und  hierauf  wieder  mikrosko¬ 
pisch  untersucht,  wo  ich  gar  keine  merkliche  Veränderung 


1)  Ich  mufs  hier  bemerken,  dafs  die  Kupfertafel, 
welche  meiner  kleinen  Schrift  über  das  Blut  (Leipzig,  bei 
Vofs.  1833.)  angehängt  ist,  nicht  gelungen  ist;  die  Um¬ 
risse  sind  zu  hart,  zu  grell  und  scharf,  der  Schatten  zu 
rauh;  ich  finde  überhaupt,  dafs  der  Ausdruck  «münzen¬ 
förmiger  Rand”  nicht  wörtlich  zu  nehmen  ist,  sondern 
dafs  sich  der  Rand  zugeruudet  auf  die  Flächen  umbiegt, 
wie  bei  allen  weichen  organischen  Theilen.  Als  Druck¬ 
fehler  mögen  dort  verbessert  werden:  S.  34  Lymphkügel- 
chen  vom  Frosch  maafsen  bis  •>  statt  yj-y  bis 

und  S.  80  Z.  9  v.  u.  mufs  es  statt  Ernährungsfiüssigkeiten  — 
Absonderungsllüssigkeiten  heifsen. 


134 


I.  Lymph-  und  Chyluskürnchen. 

wahrnehmen  konnte;  sie  blieben  rund,  batten  das  fein¬ 
körnige  Aussehen,  was  nur  bei  einzelnen  noch  stärker 
hervortrat,  und  zeigten  dieselben  GröfiendifFerenzen  wie 
früher;  die  meisten  maafsen  zwischen  yjy  untl  ToT  Linie. 

Noch  interessantere  Resultate  gewährt  die  Untersu¬ 
chung  der  Lymphe  bei  Vögeln,  wegen  der  grofsen  Ver¬ 
schiedenheit  der  darin  enthaltenen  Körnchen  von  den  Blut- 
körperclten.  Die  Lymphe  erhält  inan  rein  aus  den  Lytnph- 
drusen  am  Ilalse,  welche  besonders  bei  Wasser-  und  Sumpf¬ 
vögeln,  namentlich  den  langhalsigcn ,  z.  IL  dem  Fischrei¬ 
her,  sehr  stark  entwickelt  sind.  Ich  habe  sic  bei  ver¬ 
schiedenen  Vögeln  untersucht,  von  der  Taube  habe  ich  die 
Resultate  schon  oben  angegeben;  bei  einer  Henne  waren 
die  Körnchen  in  einer  Lymphdriisc  am  Halse  sehr  zahlreich, 
ganz  rund,  und  maafsen  y-Jy  bis  y-§y  Linie;  sic  waren  ganz 
farblos,  hatten  eine  körnige  Oberfläche;  ähnlich  fand  ich 
sie  bei  einem  jungen  Falco  tianunculus,  wo  sie  y-£y  bis 

Linie  maafsen.  Einige  Versuche  stellte  ich  mit  der 
Lymphe  vom  Fischreiher  an,  wo  aus  den  ansehnlichen  5 
bis  G  Halsdrüsen  auf  jeder  Seite  ziemlich  viel  Lymphe  zu 
gewinnen  ist;  die  Körnchen  waren  zahlreich,  maafsen  y-*y ut 
im  Mittel,  hatten  eine  feinkörnige  Oberfläche  (feinkörni¬ 
ges  Aussehen,  als  ob  sie  aus  kleinen  Körnchen  zusammen¬ 
gesetzt  wären,  was  aber  auch  von  Unebenheit  der  Ober¬ 
fläche  herriihren  kann)  und  wechselten  in  der  Gröfsc  so 
stark,  dafs  manche  nahe  an  y-£- y/7/,  andere  nahe  an 
kamen,  während  die  Blutkörperchen  yiT  bis  T]y'"  lang, 
yfö'"  ungefähr  breit  waren.  Mit  Wasser  behandelt  blic- 
beu  die  Körnchen  unverändert,  eben  so  mit  Essigsäure; 
auch  Essignaphtha  veränderte  sie  weiter  nicht,  als  dafs  sic 
zum  Thcil  zusammenklebten  und  zusammenhängende  Mas¬ 
sen  bildeten;  Liq.  ammonii  caust.  dagegen  zu  einer  in 
\\  asser  suspendirten  Menge  von  Lymphkörnchcn  gesetzt, 
verwandelte  alles  in  eine  schleimige  Masse;  man  sah  keine 
Spur  von  Körnchen  mehr,  diese  lösten  sich  vielmehr  sehr 
rasch  auf. 


\ 


I.  Lymph-  und  Chyluskörnchen.  135 

Aus  den  bisherigen  Beobachtungen  geht  mit  grofscr 
Wahrscheinlichkeit  hervor,  dafs  die  dem  Blute  beigemengte 
zweite  Form  von  Körnchen  hei  Vögeln,  Amphibien  und 
Fischen,  wirkliche  Lymphkörnchen  sind,  weil  die  Körn¬ 
chen  aus  der  Lymphe  dieser  Thiere  mit  jenen  die  gröfste 
Achnlichkeit  haben.  Beim  Menschen  und  bei  Säugethieren 
sind  wegen  der  runden  Form  und  der  Kleinheit  der  Blut- 

ff 

körnchen,  so  wie  wegen  geringer  Gröfsendifferenz  zwi¬ 
schen  Blut-  und  Lymphkörnchen,  letzte  schwerer  im  Blute 
aufzufinden;  doch  wird  dies  bei  einiger  Genauigkeit  und 
Angestrengtheit  in  der  Beobachtung  gewifs  auch  der  Fall 
sein,  wenn  man  erst  einmal  die  Bilder  von  Lymph-  und 
Blutkörnchen  der  Säugethierc  sich  recht  wird  eingeprägt 
haben. 

i 

Sehr  wünschenswerth  mufs  es  erscheinen,  das  Ver- 
hältuifs  der  Lymphdrüsen  zu  den  Kernen  der  Blutkörnchen 
auszumitteln.  J.  Müller  sagt,  es  sei  möglich,  dafs  die 
Kerne  der  elliptischen  Blutkörperchen  aus  den  Lymph- 
und  Chyluskügelchen  entständen;  ich  habe,  so  manches 
Anziehende  auch  diese  Ausicht  hat,  in  meiner  Schrift  zur 
vergleichenden  Physiologie  des  Blutes  einige  Zweifel  da¬ 
gegen  erhoben,  und  jetzt,  nach  wiederholten  Versuchen, 
mehren  sich  diese  Zweifel  auf  der  einen  Seite,  während 
auf  der  anderen  wieder  Kerne  der  Blutkörnchen  und  Lymph¬ 
körnchen  unverkennbar  viele  Aehnlichkeit  zeigen.  Ich  habe 
aus  verschiedenen  Thieren  die  Kerne  der  Blutkörnchen 
durch  Behandlung  mit  Wasser  dargestellt,  und  dieselben 
gleichzeitig  mit  Lymphkörnchen  unter  dem  Mikroskop  be¬ 
trachtet,  verglichen  und  gemessen.  Die  Blutkörnchen  von 
Menschen  und  Säugethieren  haben  ebenfalls  im  Wasser  un¬ 
auflösliche  Kerne,  wie  J.  Müller  und  ich  gesehen  haben; 
sie  sind  ungefähr  um  \  kleiner,  als  die  ganzen  Blutkör¬ 
perchen,  so  fand  ich  die  Kerne  wenigstens  neuerlich  im 
geschlagenen  Menschenblute,  wo  die  durch  Essigsäure  sicht¬ 
bar  gemachten  Kerne  bis  maafsen,  während  die 

ganzen  Blutkörperchen  im  Durchschnitt  eine  Gröfse  von 


136  I.  Lymph«  und  Chylnskürnchen. 

y*—  Linie  haben.  Dagegen  sind  die  Lymphkörnchen  vom 
Schaaf  und  die  Chyluskörncheo  yom  Scbaaf  und  Kanin¬ 
chen  nach  meinqn  Beobachtungen  im  Durchschnitte  sek  st 
grüfser,  als  die  ganzen  Blutkörnchcn  dieser  Thiere,  ob¬ 
wohl  auch  einzelne  kleiner  sind.  Meine  Beobachtungen 
elimmen  in  diesem  Bezüge  ganz  mit  denen  von  J.  Mül¬ 
ler  überein,  was  mir  um  so  interessanter  ist,  als  ich  die 
meinigen  ohne  Kcnntnifs  dieser  schon  vor  einem  halben 
Jahre  angestellt,  die  Physiologie  von  J.  Müller  aber  erst 
vor  einigen  Wochen  erhalten  habe.  Müller  fand  die 
Gröfse  der  Chyluskügelchen,  welche  er  allein  untersuchte, 
bald  gleich  derjenigen  der  Blutkörperchen,  wie  bei  der 
Katze,  bald,  und  zwar  meistens  etwas  kleiner,  wie  beim 
Kalbe,  bei  der  Ziege,  beim  Hunde;  bei  welchem  letzten 
er  sic  von  sehr  verschiedeper  Gröfse,  die  meisten  sehr 
klein,  und  alle  kleiner  als  die  Blutkörperchen  fand;  beim 
Kaninchen  fand  er  sogar  die  Chyluskügelchen  zum  Theil 
grüfser,  als  die  Blutkörperchen;  die  meisten  waren  sehr 
klein,  ^  bis  ^  so  grofs,  und  einige  waren  offenbar  grüfser, 
wenigstens  noch  einmal  so  grofs.  Was  die  Vögel  betrifft, 
so  habe  ich  die  Kerne  der  Blutkörperchen  aus  der  Taube 
dargestellt,  und  genau  mit  den  Lymphkörnchen  gemessen; 
die  Kerne  fand  ich  thcils  rundlich,  wie  Lymphkörnchen, 
aber  nicht  ganz  regelmäfsig  rund,  sondern  etwas  eckig, 
wie  Sandköruchcn ,  andere  waren  länglich,  wie  die  Flecke 
der  Blutkörnchcn,  aber  auch  von  körnigem  Aussehen;  sie 
maafsen  y-J-y  bis  und  darunter;  die  Lymphkörnchen 

fand  ich  zu  bis  -r*-5-'//,  manche  grüfser,  manche  klei¬ 
ner;  wurden  beide  zugleich  unter  dem  Mikroskope  be¬ 
trachtet,  so  konnte  man  sie  am  Ansehen  leicht  unterschei¬ 
den,  auch  nicht  verkennen,  dafs  die  Lymphkörnchen  im 
Allgemeinen  stets  grüfser  waren,  obwohl  auch  einzelne 
ßich  kleiner  erwiesen;  ich  möchte  ungefähr  sagen,  dafs 
man  die  Mehrzahl  der  Kerne  zu  die  Mehrzahl  der 

Lymphkörnchen  zu  annehmen  kann ,  sie  sich  also 

verhalten,  wie  6  zu  5.  —  Beim  Frosche  maafsen  die 


i 


137 


I.  Lyinph-  und  Chyluskürnchen. 

dem  Blute  beigemengten  Lymphkörnchen  bis  yj-g-'", 
die  Kerne  der  Blutkörnchen  bis  yjy"';  das  Ansehen 
war  sonst  von  beiden  einander  ähnlich.  —  Noch  auffal¬ 
lender  war  die  Aehnlichkeit  zwischen  Lymphkörnchen  und 
Kernen  der  Blutkörnchen  beim  Wassersalamander,  wo  sie 
sich  mit  Wasser  überaus  schön  darstellen  lassen;  ich  fand 
die  Kerne  hier  grofs,  theils  rund,  theils  oval,  und  hielt 
sie  für  flachgedrückte  Kugeln;  sie  raaafsen  his  tto"') 
und  glichen  mit  ihrer  körnigen  Oberfläche  aulserordentlich 
den  Lymphkörnchen ,  nur  wTarcn  diese  im  Allgemeinen 
ebenfalls  gröfser.  So  fand  ich  auch  bei  Fischen,  wie  ich 
in  meiner  früheren  Schrift  angegeben  habe,  die  Kerne 
stets  kleiner,  als  die  dem  Blute  beigemengten  Lymphkörn¬ 
chen;  dies  fand  ich  auch  neuerlich  bei  den  anomalen,  rund¬ 
lichen  Blutkörnchen  von  Ammocoetes  branchiälis  bestätigt, 
wo  die  durch  das  Wasser  dargestelltcn  Kerne  Linie 
maafsen,  und  alle  weit  kleiner  waren,  als  die  Lymph¬ 
körnchen  im  Blute,  welche  yj-g-  bis  y^y'"  maafsen.  Man 
sieht  ein ,  dafs  die  mikrometrische  Messung  hier  einen  si¬ 
cheren  Anhaltspunkt  bietet,  um  darauf  Schlüsse  über  Ueber- 
einstimmung  und  Verschiedenheit  von  Blutkernen  uud 
Lymphkörnchen  zu  gründen.  —  Da  die  Lyinph-  und 
Chyluskürnchen  bei  allen  Wirbelthieren  gröfser  sind,  als 
die  Kerne  der  Blutkörnchen,  bei  Säugethieren  die  letzten 
nicht  nur  bei  weitem  übertreffen,  sondern  sogar  häufig 
den  ganzen  Blutkörperchen  derselben  an  Gröfse  gleichkom- 
men,  ja  dieselben  sogar  noch  häufig  übertreffen,  so  ist  es 
klar,  dafs  die  Lymphkörnchen  wenigstens  nicht  so,  wie 
sie  sind,  die  Kerne  der  Blutkörnchen  abgeben,  und  um 
solche  zu  werden,  mit  einer  farbigen,  dem  Blutkörnchen 
erst  seine  so  entschiedene  individuelle  Form  gebende  Hülse, 
umgehen  werden  kennen. 

Was  das  Verhältnifs  der  Kerne  zu  den  Blutkörperchen 
betrifl’t,  so  ist  es  schwer  zu  sagen,  auf  welche  Weise  die 
Kerne  im  ganz  frischen  lebendigen  Blute  im  Blutkörperchen 
enthalten  seien;  die  Ausmittelung  der  Structur  dieser  zar- 


V 


138 


I.  Lymph-  und  Chylnskörnchen. 

tcn  Gebilde  ist  sehr  schwierig.  Es  hat  mir  jedoch  immer 
geschienen,  dafs  je  frischer  und  je  reiner,  d.  h.  hlofs  für 
sich  und  im  Serum,  man  elliptische  Blutkörperchen  un¬ 
tersucht,  um  so  weniger  deutlich  ist  der  Kern;  ja  seihst 
der  ovale  Flos,  mit  dem  Schatten  auf  der  einen  Seite,  hei 
ovalen  Blutkörperchen  (ein  nothwendiger  Ausdruck  der 
Wölbung),  verhält  sich  anders,  als  nach  einiger  Zeit, 
weun  im  Blutkörperchen  Veränderungen  vor  sich  gehen; 
sobald  dies  der  Fall  ist,  sobald  Luft  oder  Wasser,  oder 
dergleichen  äufsere  Potenzen  auf  die  Blutkörperchen  ein¬ 
wirken,  scheint  sich  sogleich  der  Kern  inwendig  stärker 
zu  bilden,  sich  gleichsam  von  seiner  Schaalc  erst  abzulö¬ 
sen;  er  tritt  stark  hervor,  während  der  Band,  die  Hülse, 
Kerben,  Risse,  Sprünge  bekommt;  kurz  der  Kern  scheint 
sich  in  gewisser  Hinsicht  zu  bilden,  als  Folge  eines  Auf¬ 
lösungsprozesses,  obwohl  gewifs  schon  ursprünglich  sich 
Centrum  und  Peripherie  eines  Blutkörnchens  immer  ver¬ 
schieden  verhalten,  was  sich  schon  aus  ihrem  Verhältnils 
und  ihrer  Löslichkeit  oder  Unlöslichkeit  im  Wasser  ergiebt. 

Auf  der  anderen  Seite  spricht  aber  auch  wieder  aus¬ 
nehmend  viel  zu  Gunsten  der  Meinung,  dafs  die  Lymph- 
kürneben  die  Kerne  der  Blutkörperchen  abgeben.  Die 
Farblosigkeit,  das  ganze  äufscre  Ansehen,  die  körnige  Ober¬ 
fläche,  und  die  wirklich,  besonders  beim  Wassersalaman¬ 
der  deutliche,  successive  Annäherung  der  Lymphkörncheu 
in  Form  und  Gröfse  zu  den  Blutkörnchen;  ferner  das  Ver¬ 
halten  gegen  Reagcntien;  Blutkernc  und  Lymphkörnchen 
sind  auflöslich  im  Wasser  und  werden  darin  nicht  verän¬ 
dert,  eben  so  wenig  werden  sic  vom  Alcojiol,  von  Naph¬ 
tha,  von  Essigsäure  aufgelöst,  während  sowohl  Kerne,  als 
Lymphkörnchen  in  Alkalien,  z.  B.  in  Liq.  ainmon.  und 
Liq.  kali.  caust.  vollkommen  löslich  sind.  Sie  stimmen 
darin  nach  meinen  Untersuchungen  mit  den  Eiter-  und 
Scblcimkörnchen  überein,  welche  ebenfalls  in  Säuren  nicht, 
in  Alkalien  sehr  leicht  löslich  siud. 

Erlangen,  im  August  1833. 


t 


I.  Lymph-  nnd  Chyluskornchen.  139 
Nachschrift. 

Ich  ging  im  Vorigen  nicht  weiter  auf  die  schönen 
Untersuchungen  von  J.  Müller  ein,  der  auch  in  der 
menschlichen  Lymphe  Körnchen  fand,  indem  ich  mir  vor-' 
behalte,  in  der  nächsten  Zukunft,  so  es  Gottes  Wille  ist, 
mich  recht  speciell  mit  den  mikroskopischen  Untersuchun¬ 
gen  des  menschlichen  Körpers  zu  beschäftigen.  Des  treff¬ 
lichen  Ehrenberg’s  Angaben  über  die  Ablagerung  von 
Kernen  an  bestimmten  Stellen,  kenne  ich  leider  nur  aus 
der  Andeutung  in  Poggendorf’s  Annalen,  welche  Ab¬ 
handlung  er  mir  gütigst  mittheilte.  Seine  Gratulations-, 
Schrift:  De  usu  globulorum  sanguinis,  ist  mir  noch  nicht 
zugekommen.  Seine  Mittheilungen  über  die  Structur  der 
Nerven  stimmen  ganz  mit  den  meinigen  überein;  ich  habe 
sie  in  den  Beiträgen  für  Burdach’s  Physiologie  bespro¬ 
chen;  dort  werden  auch  noch  einige  Zweifel  gegen  seine 
Ansicht  ihre  Stelle  finden,  dafs  die  Körner  der  Retina 
Kerne  von  Blutkörnchen  seien.  Indefs  bescheide  ich  mich 
gern  und  stelle,  dem  Publikum  gegenüber,  meine  wenig 
zahlreichen  Beobachtungen  unter  seine  zahlreicheren. 

Ich  berühre  hier  nur  noch  eine  Angabe  des  Herrn 
Prof.  Job.  Müller,  und  lade  darüber  ihn  und  andere 
Physiologen  zur  Prüfung  ein.  Ich  ziehe  die  Stelle  aus 
meinen  Noten,  wie  ich  sie  früher  niederschrieb:  «Ein  fri¬ 
sches,  lebendiges  Blutkörperchen  innerhalb  eines  Gefäfses 
scheint  Kein  und  Hülse  innig  verbunden  zu  haben;  es  ist 
ein  zwar  weiches,  aber  dessenungeachtet  sehr  elastisches 
Körperchen;  die  lebendigen  Blutkörperchen  können  sich 
zusammendrücken  uud  verlängern,  und  nehmen,  sobald  der 
Widerstand  aufhört,  sogleich  ihre  alte  Gestalt  an;  Job. 

I 

Müller  leugnet  mit  Unrecht  diese  Thatsache;  man  kann 
sich  nirgends  besser  davon  überzeugen,  als  wenn  man 
eine  frisch  ausgeschnittene  Frosch-  oder  Wassersalainandcr- 
Lunge  zwischen  zwei  starken  Glasplatten  platt  drückt, 
und  sie  so  unter  das  Mikroscop  bringt;  die  Blutkörperchen 
drängen  sich  theils  unter  sich,  tiieils  durch  die  engen 


j40  I.  Lvmph-  und  Chyluskümchen. 

Wände  des  Parenchyms,  und  nehmen  so  allerlei  Gestalten 
und  Formen  an,  werden  länger  und  schmäler,  geigenför¬ 
mig,  herzförmig  u.  s.  w.  Sobald  der  Druck  aufhört,  keh¬ 
ren  sic  in  ihre  ursprüngliche  Form  zurück.  Hier  kann 
man  auch  sehr  schön  jenes  höchst  merkwürdige  Phänomen 
beobachten,  welches  mau  an  den  Kiemen  sieht,  nämlich 
ein  Abstofsen  und  Anziehen  (?),  ein  Tanzen  und  Rotiren 
der  Blutkörperchen^  sobald  sie  einem  mit  Luftzellen  be¬ 
setzten  Streifen  sich  nähern,  längs  welchem  eine  zitternde 
Bewegung,  gleichsam  das  Ausströmen  eines  gasförmigen 
Fluidums,  bemerklich  ist.  Dieses  Phänomen  beruht  wohl 
nicht  auf  derselben  Ursache,  wie  das  Abstofsen  kleiner 
Thcilchen  an  den  Kiemenfasern.  Auch  die  Czermack- 
sehen  Beobachtungen  lassen  sich  wohl  hier  anreihen.  ” 

Ich  benutze  feiner  die  Gelegenheit,  einige  Druckfeh¬ 
ler  in  diesen  Annalen  zu  verbessern.  So  steht  in  meiner 
llecension  von  Schultze’s  Lehrb.  der  vergl.  Anatomie, 
November  1832.  S.  300  Z.  7  v.  u.  Zoll,  und  soll 

heifsen:  yy*0y  Zoll.  Bei  meiner  Anzeige  von  Eble’s  Ta- 
schenb.  der  Physiol.  März  1833.  S.  355  und  356  heifst  es 
immer  fälschlich  Richard  statt  Prichard.  Ferner  werde 
ich  auf  der  Liste  der  Mitarbeiter  der  Hefte  Januar,  Fe¬ 
bruar,  März  1833  als  in  «  München  aufgeführt.  Fs  beruht 
dies  auf  einer  Pcrsonalvcrwcchsclung,  die,  wie  ich  in  Brie¬ 
fen  und  öffentlichen  Blättern  sehe,  so  wie  in  manchen 
Schriften,  z.  B.  in  H.  v.  Meycr’s  Palacologica,  zu  bei¬ 
derseitigem  Schaden  der  zwei  Namenträger  führt.  Mein 
sehr  weither  Freund  Dr.  Job.  Andreas  Wagner  näm¬ 
lich,  war  früher  hier  Doceut  der  Zoologie,  und  ist  seit 
einem  Jahre  Mit-Conservator  der  zoologischen  Sammlung 
in  München  und  nun  auch  Professor  der  Zoologie  daselbst 
an  Wagder’s  Stelle.  Ich  selbst  bin  immer  hier  gewesen. 
Dies  zur  Nachricht  namentlich  für  die  verehrten  Herren  Col- 
legen,  mit  denen  ich  in  Briefwechsel  zu  stehen  dieEhrc  habe. 

Erlangen,  den  0.  November  1833. 


I 


II.  Anatomische  Bemerkungen.  141 

*  I 

\ 

n. 

Anatomische  Bemerkungen. 

Yoa 

Dr.  C.  Krause, 

Professor  in  Hannover. 


Kürzlich  ist  von  einem  der  berühmtesten  Physiologen 
die  innere  Substanz  des  Corpus  cavernosum  penis,  nämlich 
die  rölhlichen,  ziemlich  weichen,  aber  festen  Bündel, 
welche  die  von  der  fibrösen  äufseren  Haut  des  Corpus  ca¬ 
vernosum  gebildete  Röhre  in  verschiedenen  Richtungen 
netzartig  durchziehen  und  ausfüllen,  für  musculös  erklärt, 
und  in  dieser  Substanz  freie  Zellen  erkennt,  die  nicht  Er¬ 
weiterungen  der  Venen,  also  nicht  von  der  innersten  Ge- 
fäfshaut  umkleidet  sein  sollen.  Gegen  diese  Ansicht,  welche 
Herr  Prof.  Müller  gewifs  mit  besseren  Gründen  unter¬ 
stützen  wird,  als  J.  Hunter,  welcher  schon  durch  die 
Annahme  eines  in  diesen  Bündeln  stattfindenden  Krampfes 
für  berechtigt  sich  hielt,  sie  für  musculös  zu  erklären,  — 
glaube  ich,  so  weit  sie  den  Bau  des  Corpus  cavernosum 
im  Menschen  betrifft,  vorläufig  aus  folgenden  anatomi¬ 
schen  Gründen  auf  das  Bestimmteste  mich  erklären  zu  dür¬ 
fen,  indem  ich  die  physiologischen  Verhältnisse,  aus  wel¬ 
chen  man  für  oder  gegen  die  Existenz  von  Muskelfasern 
an  dieser  Stelle  schliefsen  könnte,  hier  übergehe. 

1)  Die  Farbe  jener  Bündel  ist  von  der  Menge  und 
Qualität  des  in  den  Zwischenräumen  derselben  stagniren- 
den  Blutes  abhängig.  In  einem  und  demselben  Corpus 
cavernosum  sind  sie  oft  in  der  Nähe  der  Wurzel  ganz  von 
derselben  blafsröthlichen  Farbe,  wie  die  Tunica  dartos 
des  Hodensackes  solche  darbietet;  in  der  Nähe  der  Eichel 
dagegen,  wenn  daselbst  die  Zwischenräume  von  dunklem 
Blute  erfüllt  angetroffen  werden,  purpurroth,  blauroth, 


142 


II.  Anatomische  Bemerkungen. 

violetf;  dagegen  die  Farbe  der  Muskeln  nach  sehr  ver- 
schiedenen  Todesarten  häufig  höher  oder  tiefer,  zuweilen 
aueh  noch  auffallender  verändert  ist,  aber  doch  stets  ihre 
eigentümliche  Nuance  erkennen  läfst. 

2)  Jene  röthlichen  Bündel  sind  zwar  durch  ihre 
Farbe  und  Weichheit  von  den  Sehnenfaserbündeln  im  In¬ 
nern  der  Corpora  cavernosa  penis  merklich  verschieden; 
besitzen  aber,  wenn  man  sie  zerreilst,  eine  bei  weitem 
gröfscre  Festigkeit  und  Flasticität,  als  die  (todten)  Mus¬ 
kelfasern  aus  irgend  einem  unzweifelhaft  musculösen  Or¬ 
gane  des  Menschenkürpers.  (Die  Vergleiche  sind  vorzugs¬ 
weise  mit  den  Muskelfasern  der  Blase  und  des  Darinka- 
ualcs  anzustcllcn.) 

3)  Unter  dem  Mikroskop  bieten  sie  ein  unregelmäfsig 
fascrigkörniges  Ansehen  dar,  welches,  mit  Ausnahme  der 
Farbe,  ganz  dem  Ansehen  kleiner  Partikeln  verdichteten 
Zellstoffes,  namentlich  der  sogenannten  Tunica  nervea  des 
Darmkanals,  gleich  kommt.  Abgesehen  von  der  netzarti¬ 
gen  Anordnung  der  gröberen  Bündel,  welche  noch  bei 

• 

weitem  unregelmäfsiger  ist  als  z.  B.  die  der  Muskelfasern 
der  Blase,  zeigen  sich  nirgends  die  verhältnifsmäfsig  lan¬ 
gen,  gestreckten,  parallelen  Fibrillen,  die  man  in  kleinen, 
dem  unbewalTnctcn  Auge  kaum  sichtbaren  Partikeln  der 
Muskelfasern  bemerkt.  In  einem  Zoll  langen  Stück  der 
inneren  Substanz  eines  sehr  frischen  Corpus  cavernosuin 
penis  von  einem  stark  muskulösen  Manne,  welches  ich,  in 
möglichst  kleine  Partikeln  zerlegt,  vermittelst  eines  Plö- 
selschcn  Mikroskopes  bei  140maliger  und  stärkerer  Ver- 
gröfscrung  untersuchte,  konnte  ich  nicht  eine  einzige  Mus¬ 
kelfaser,  die  doch  von  Fasern  anderer  Art  leicht  zu  un¬ 
terscheiden  sind,  auffinden. 

4)  Schon  durch  mehrstündiges  Kochen  verwandeln 
sich  die  Fasern  des  Corpus  cavcruosun  penis  gröfstcntheils 
iu  Gallerte,  während  beim  Kochen  der  Muskelsubstanz 
nur  der  Zellstoll  in  ihr  diese  Veränderung  erleidet,  uud 
die  Muskelfasern  nur  deutlicher  hervortreten.  Untersucht 


II.  Anatomische  Bemerkungen.  143 

v  / 

man  alsdann  ein  noch  nicht  zu  Gallerte  geschmolzenes 
Stückchen  der  inneren  Substanz  des  Corpus  cavernosum, 
und  ein  gleich  lange  Zeit  gekochtes  Stückchen  Muskelfaser, 
unter  dem  Mikroskop,  so  zeigt  sich  der  Unterschied  noch 
deutlicher,  als  im  frischen  Zustande. 

5)  Eine  Auflösung  der  gehörig  ausgewässerten  Fasern 
des  Corpus  cavernosum  in  concentrirter  Essigsäure,  wird 
durch  eisenblausaures  Kali  nicht  gefällt:  in  der  Auflösung 
der  auf  gleiche  Weise  behandelten  Muskelfasern  erfolgt  aber 
ein  reichlicher  weifser  oder  weifsblaulicher  Niederschlag. 

Bringe  ich  daneben  in ‘Anschlag,  dafs  man  nicht  sel¬ 
ten  noch  in  den  Leichnamen  die  Zwischenräume  der  Bün¬ 
del  in  grofsen  Strecken  vollkommen  von  Blut  angefüllt 
findet,  und  dafs  die  Injectionsmassen,  in  einen  beliebigen 
Zwischenraum  der  Bündel  eingespritzt,  in  die  Venen  an 
der  Oberfläche  des  Corpus  cavernosum  übergehen:  so  kann 
ich  nur  der  Ansicht  anhangen,  dafs  die  röthlichen  Faser¬ 
bündel  der  Corpora  eavernosa  penis  aus  verdichtetem  Zell¬ 
stoffe  bestehen,  dafs  ihre  Zwischenräume  von  sinuösen, 
vielfach  um  jene  Bündel  sich  windenden  und  communici- 
renden  Venen  zwar  ausgefüllt  werden,  deren  dünne,  aber 
verbältnifsmäfsig  sehr  starke  innere  Haut  (einer  äufseren 
entbehren  sie)  die  Bündel  allerdings  bekleidet,  und  ihnen 
dadurch  zum  Theil  die  grofse  Festigkeit  verleihet,  welche 
die  des  lockeren  Verbindungszellstoffes  und  die  der  Mus¬ 
kelfasern  weit  übertrifft.  — 

Derselbe  von  mir  sehr  und  wahrhaft  verehrte  For- 

✓  \ 

scher  erklärt  hinsichtlich  der  Wirkung  der  Muse,  ischio- 
cavernosi  seine  Anhänglickeit  an  die  Meinung  Sömmer- 
ring’s:  dafs  nämlich  diese  Muskeln  die  hinteren  Enden 
der  Corpora  eavernosa  abwärts  und  rückwärts  ziehen,  diese 
verkürzen  und  pressen,  und  dadurch  im  mit  Blut  gefüll¬ 
ten  Zustande  die  Anschwellung  und  die  Steifigkeit  ver¬ 
mehren.  Im  angefüllten  Zustande  bringe  ihre  willkühr- 
liehe  Zusammenziehung  keine  Wirkung  hervor:  käme  es 
auf  ein  Zusammendrücken  der  Vena  dorsalis  penis  an,  so 


144 


II.  Anatomische  Bemerkungen. 

sei  der  Impotenz  leicht  abgeholfcn.  —  Unzweifelhaft  ver¬ 
mehren  diese  Muskeln  die  Anschwellung  und  Steifigkeit 
durch  Verkürzung  und  Pressung,  aber  nur  unter  der  Be¬ 
dingung,  dafs  der  Hückflufs  des  Blutes  aus  dem 
Penis  durch  den  Ilauptvcncnstamm  zugleich  ge¬ 
hemmt  ist:  denu  wäre  dieses  nicht*  der  Fall,  so  müfste 
ein  durch  Anspannung  der  äufscren  fibrösen  Haut  des  Pe¬ 
nis  auf  das  innere  mit  Blut  überfüllte  Gewebe  dieses  viel¬ 
mehr  von  Blut  entleeren:  ein  Verhältnis,  welches  der 
verewigte  Meckel  sehr  richtig  erkannt,  und  daher  den 
genannten  Muskelu  die  Function  zugeschriebeh  hat,  nach 
beendigter  Ereetion  die  Entleerung  des  angehäuften  Blutes 
zu  befördern.  Es  ist  nicht  zu  übersehen,  dafs  die  Muse, 
iscbiocavernosi  einer  eine  gewisse  Zeit  anhaltenden  un- 
wi  llküli rücken  Contraction  fähig  sind,  und  in  dieser 
während  einer  kräftigen  Ereetion  sich  wirklich  befinden: 
so  wie  auch,  dafs  mehre  Menschen  imStande  sind,  durch 
möglichst  lange  fortgesetzte  und  wiederholte  willkühr- 
liche  Zusammenziehungen  der  genannten  Muskeln,  eine 
anfangende  Ereetion  hervorzubringen,  die  bei  aufhörender 
willkührlicher  Wirkung  der  Muskeln  alsbald  nachläfst, 
oder  in  eine  unfreiwillige  Erectiou  übergeht.  Wenn  es 
übrigens  bei  der  Impotenz  von  mangelnder  Ereetion  nicht 
noch  auf  andere  Verhältnisse  ankäme,  als  auf  eine  nicht 
in  hinlänglicher  Stärke  und  Dauer  ausgeübte  Zusammen¬ 
drückung  der  Vena  dorsalis  penis:  so  'würde  dennoch  diese 
Congestion  (etwa  durch  mechanische  Mittel)  bei  einem 
lebenden  Menschen,  ohne  gleichzeitige  Verschliefsung  der 
zuführenden  Gefäfse,  nicht  sogar  leicht  zu  bewerkstelligen 
sein:  dafs  aber  eine  Unterbindung  dieser  Vene,  unter  Scho¬ 
nung  der  Arterien,  wirklich  die  Ereetion  zur  Folge  hat, 
ist  durch  zahlreiche  directc  Versuche,  wie  Ticdemaun 
sich  ausdrückt,  sattsam  bestätigt.  — 

Das  Ganglion  am  hinteren  Umfange  der  Wfurzel  des 
Nervus  glossopharyngeus  ist,  seit  Herrn  Prof.  Müller’s 
Bekanntmachung,  von  Herrn  Dr.  Baring  und  von  mir 


I 


I 


IH.  Kopfverletzungen.  145 

in  mehren  verschiedenen  Köpfen  aufgefunden  worden,  wo¬ 
bei  wir  indessen  bemerken,  dafs  mehre  der  hinteren  Wur¬ 
zelbündel  an  seiner  Bildung  Anthcil  nehmen.  Ich  erin¬ 
nere  mich,  diesen  Nervenknoten  schon  gesehen,  aber  sein 
Verhältnifs  zum  Ganglion  petrosum  nicht  vollständig  er¬ 
forscht,  sondern  ihn  für  eine  Varietät  des  letzten  hinsicht¬ 
lich  der  Lage,  und  für  ein  doppeltes  Vorkommen  dessel¬ 
ben,  gehalten  zu  haben.  Unter  dankbarer  Anerkennung 
der  vielen  Bereicherungen,  welche  die  Wissenschaft  dem 
Entdecker  bereits  verdankt,  wird  dasselbe  gegenwärtig  un¬ 
ter  dem  Namen  Ganglion  Mülleri  s.  jugulare. nervi  glos- 
sopharyngei  in  die  Reihe  der  Wurzelganglien  eintreten 
müssen. 


'  '  '  III. 

Erfahrungen  und  Beobachtungen  über  Kopf¬ 

verletzungen. 

Von 

J.  F.  Dieffenbach, 

\ 

Professor  in  Berlin. 


Schon  vor  einigen  Jahren  habe  ich  in  dieser  Zeit¬ 
schrift  eine  Reihe  von  Beobachtungen  über  Kopfverletzun¬ 
gen  mitgetheilt.  Es  sind  mir  seitdem  wieder  Verletzungen 
des  Kopfes  vorgekommen,  aber  ich  müfste  der  Wahrheit 
geradezu  widersprechen,  wenn  ich  sagte,  meine  Kennt¬ 
nisse  über  diese  Verletzungen  hätten  seitdem  bedeutend 
zugenommen,  meine  Einsichten  wären  tiefer  geworden, 
und  meine  Behandlung  wäre  viel  glücklicher.  Das  Ein¬ 
zige  was  ich  seitdem  noch  mehr  habe  einsehen  gelernt  — 
ist,  dafs  ich  alle  Verletzungen  des  Kopfes  für  bei  weitem 
Baifvl  28.  Heft  2. 


146 


III.  Kopfverletzungen. 

gefährlicher  halte,  als  dies  früher  der  Fall  war,  oder  als 
ich  dies  von  mehren  berühmten  chirurgischen  Schriftstcl- 
lcrn  vernehme.  —  Welch  eine  rohe  Ansicht  war  es  doch, 
nach  welcher  man  in  der  Trepanation  ein  Mittel  gefunden 
zu  haben  glaubte,  eine  grofe  Zahl  von  Kopfverletzungen 
zu  heilen!  Welch  eine  Verirrung  der  Einsicht  und  An¬ 
sicht,  seehsunddreifsigmal  die  Krone  an  den  Schädel  an¬ 
zusetzen,  und  ihn  dadurch  in  ein  weitlöcheriges  Sich  zu 
verwandeln  1  *  Dergleichen  hält  aber  kein  Pferd  aus.  Pud 
wenn  auch  wohl  Einer  zum  Triumph  der  unvernünftigen 
Kunst  davon  kommt,  so  mufs  man  bedenken,  dats  ein 
Mensch,  dem  ein  Pfahl  durch  den  Leih  gefahren,  oder  ein 
anderer,  dem  ein  Anker  in  den  Hauch  gedrungen,  oder 
ein  dritter,  dem  eine  Wagendeichsel  queer  durch  die  Brust 
gefahren,  dennoch  am  Lehen  geblieben;  alles  Fälle  aus 
der  neuesten  Zeit,  die  uns  Froricp’s  interessante  Noti¬ 
zen  berichten. 

In  der  Regel  fürchtet  man  nur  diejenigen  Kopfver¬ 
letzungen,  wo  der  Schädel  gebrochen  ist;  man  fürchtet 
Splitterung,  Druck,  Reizung,  Extravasat,  Entzündung  oder 
Erschütterung  des  Gehirns  u.  s.  w. ,  ist  hier  ungemein  fein 
und  gelehrt  im  Deuten  und  Distinguiren  der  Erscheinun¬ 
gen,  und  beachtet  die  äufserlichen  Beschädigungen  der 
W  eichthcilc,  besonders  der  Kopfschwarte  wenig,  hält  eine 
Verwundung  derselben  für  unbedeutend,  legt  ein  Heftpfla¬ 
ster  darauf,  und  denkt,  die  Hautwunde  werde  schon  hei¬ 
len.  Ein  Anderer  hat  Rust’s  treffliche  Grundsätze  über 
Kopfverletzungen  und  seine  Regeln  für  die  Fälle,  wo  lu- 
cisioncn  oder  Dilatationen  nöthig  sind,  ganz  mifsverstau- 
den,  er  glaubt,  jedem  der  sich  nur  den  Kopf  gestofsen 
hat,  müsse  ein  Kreuzschnitt  an  diese  Stelle  gemacht  und 
das  Periost  abgeschabt  werden;  er  sucht  nach  Ritzen,  er 
macht  förmlich  unterirdische  Jagd  auf  Fissuren  und  un- 
terrninirt  die  Sehädelbcdeckung  wie  ein  Maulwurf.  Stirbt 
dann  der  Kranke  an  Erysipclas  der  Galea,  oder  an  Nc- 
crose  des  Knochens,  iu  deren  Folge  sich  Abtrennung  der 


147 


III.  Kopfverletzungen. 

dura  Mater  vom  Schädel  bildet,  so  war  dies  bei  der  Scctiou 
alles  Folge  der  richtig  erkannten  schweren  Kopfverletzung. 

Es  ist  ein  himmelweiter  Unterschied  zwischen  einer 
gewöhnlichen  Hautwunde  und  einer  Wunde  der  Kopfhaut. 
Wer  zu  irgend  einem  Heilzweck  eine  einfache  Incision  in 
die  Kopfbedeckungen  gemacht  hat,  und  zwar  so,  dafs  sich 
die  eine  Hälfte  der  Wunde  in  der  Galea,  die  andere  in 
der  Stirnhaut  befindet,  wird  bemerken,  dafs  ungeachtet 
der  genauesten  Vereinigung  durch  Heftpflaster  und  sorg¬ 
fältig  angewandter  kalter  Umschläge,  der  Wundtheil  der 
Kopfhaube  bald  in  Eiterung  überging,  bald  zusammen¬ 
klebte,  während  die  ganze  Umgegend  sich  crysipela- 
tös  entzündete,  worauf  dann  nachträglich  Eiterung  ein¬ 
trat  —  wogegen  die  Wunde  der  Stirnhaut  genau  von  der 
Haargränze  an,  gar  nicht  entzündet  erschien,  sondern 
schon  in  wenigen  Tagen  vollkommen  geheilt  war. 

Dies  beweist  doch  eine  ganz  besondere  Vulnerabilität 
der  Kopfschwarte,  welche  uns  sehr  aufmerksam  machen 
mufs.  Mehrmals  habe  ich  den  Tod  nach  ganz  einfachen 
Verletzungen  der  Kopfschwarte  eintreten  sehen,  indem 
diese  Haut  sich  rosenartig  entzündete,  worauf  Delirien  und 
der  Tod  eintraten,  und  wovon  ich  einige  Beispiele  anfüh¬ 
ren  werde.  In  anderen  Fällen  entstand  profuse  Eiterung 
und  Entblöfsung  des  Knochens  im  Umkreise,  und  ebenfalls 
Tod.  Es  findet  nämlich  zwischen  der  äufseren  Oberfläche 
des  Schädels  und  der  inneren  ein  inniger  Lebenszusammen¬ 
hang  statt,  indem  sich  auf  der  letzten  secundär  derselbe 
Lcidenszustand  ausbildet,  der  auf  der  äufseren  Oberfläche 
statt  hat. 

Jene  rosenartige  Entzündung  der  Galea,  welche  oft 
unter  den  stürmischen  Erscheinungen  der  Entzündung  der 
harten  Hirnhaut  zum  Tode  führt,  zeigt  eine  weitverbrei¬ 
tete  Lostrennung  dieser  Haut  vom  Knochen,  und  dazwi¬ 
schen  eine  schmierige  Beschaffenheit  der  convexen  Ober¬ 
fläche  der  dura  Mater.  Bei  äufserer  Eiterung  des  Kopfes, 
welche  einer  leichten  Verletzung  folgte,  wird  dieser  schmie» 

10* 


148 


III.  Kopfverletzungen. 

ri"c  Ueberzug  mit  graulicher  Entfärbung  der  dura  Mater 
auch  bisweilen  angetroffen;  weit  häufiger  ist  aber  dagegen 
eine  Ansammlung  von  Eiter  an  der  der  äufscren  Verletzung 
entsprechenden  Stelle  unter  dem  Schädel,  welcher  hei  der 
Eröffnung  als  eine  dünne  ichcrösc  Masse  hervorstürzt.  Ei¬ 
nige  solcher  Beobachtungen  ,  wo  also  der  Tod  nach  ganz 
leichten  äufscren  Verletzungen,  welche  durchaus  nur  die 
Kopfschwarte  betrafen,  erfolgte,  werde  ich  weiter  unten 
anführen.  Ich  bemerke  hier  nur  noch,  dafs  diese  Gefahr 
der  Verletzung  der  Galca  auch  grüfstentheiis  in  ihrer  sch 
neuartigen  Structur  liegt,  da  sehnige  Gebilde  bekanntlich 
der  heftigsten  Entzündung  unterwarfen  sind. 

Jede  leichte  Verletzung  der  Galca  begehrt  daher  die 
strengste  antiphlogistische  Behandlung;  jede  Incision  und 
jede  Dilatation,  frischer  Stofs,  Fall,  Schlag,  bedarf  der  sorg¬ 
fältigsten  Uebcrlegung;  denn  immer  wird  dadurch  die  Ver¬ 
wundung,  und  mithin  die  Gefahr  vergröfsert. 

Am  allerwenigsten  darf  man  aber  einen  Einschnitt  in 
den  Kopf  machen,  um  unter  der  Haut  liegendes  Blut  zu 
entfernen,  oder  eine  Fissur  aufzusuchen.  Wer  wird  dies 
heim  Beinbruch  tlmn,  wo  die  Haut  oft  zerrissen  ist?  Es 
würde  allein  durch  die  Eröffnung  der  Haut  die  Verjau¬ 
chung  des  Gliedes  und  der  Tod  herbeigeführt  werden. 
Wenn  wir  dies  inzwischen  hei  den  Knochen  der  äufscren 
Gliedmaafsen  so  sehr  fürchten,  so  mufs  cs  hei  der  Kopf¬ 
bedeckung  noch  weit  mehr  der  Fall  sein.  Bleibt  z.  B.  hei 
einer  starken  Quetschung  des  Kopfes  die  Haut  un  eröffn  et, 
so  kann  das  Blut  wieder  resorhirt  werden;  wird  eine  Oelf- 
nung  gemacht,  so  tritt  die  Luft  in  das  Innere  der  Extra- 
vasathöhlc  ein,  ein  Theil  des  Blutes  wird  entleert,  der 
andere  decomponirt,  die  Wunde  erscheint  unrein,  schmutzig, 
und  die  Verjauchung  beginnt. 

Ganz  anders  verhält  sich  die  Sache  mit  den  Einschnit¬ 
ten  am  Kopfe,  wenn  die  Verletzung  in  Eiterung  überge¬ 
gangen,  oder  Ahsccssc  vorhanden  sind;  hier  kann  man 


« 


III.  Kopfverletz  ungen. 


149 


nach  Belieben  cinschncidcn;  ein  grofser  Einschuilt,  der  auf 
beiden  Seilen  über  die  Eiterhöhle  hinaus  reicht,  ist  bei 
weitem  einem  kleinen  vorzuzichen,  und  am  verwerflich* 
slen  ist  dann  das  blofse  Eiustechen  mit  einer  Lancette. 
Das  ist  nachtheiliger,  als  das  gar  nicht  Oeirueu.  Die 
Höhle  füllt  sieh  immer  von  neuem  mit  Eiter,  die  Luft 
macht  den  Schädel  necrotisch,  es  kommt  zu  keiuer  reinen 
Entzündung  d  r  Wandungen,  die  sich  nicht  wieder  anle- 
gen.  Wer  nun  hier  gar  an  Druckverbände  denkt,  um 
eine  Anlegung  zu  erzwingen,  verursacht  eine  immer  wei¬ 
tere  Abtrennung;  denn  zwei  unreine  Flächen  wachsen  nicht 
zusammen.  Es  giebt  keinen  verderblicheren  Grundsatz  in 
der  Chirurgie,  als  den,  dafs  man  zwei  mit  necrotisirtem 
Zellgewebe  überzogene  Flächen  mit  einander  in  Berührung 
erhält,  sie  dccomponircn  sich  wechselseitig,  und  werden 
immer  unreiner.  Selbst  zwei  reine  Granulationsflächen 
werden  meistens  unrein,  wenn  sie  aufeinander  liegen;  ge¬ 
nähert  müssen  sie  einander  wohl  werden,  aber  es  mufs 
ein  fremder  StolF  dazwischen  liegen.  Hier  ist  die  wech¬ 
selseitige  Berührung  eben  so  nachtheilig,  als  sie  bei  fri¬ 
schen  Wuuden  nolhwendig  ist;  bei  letzten  der  dazwischen 
liegende  fremde  Körper  so  schädlich,  als  bei  jenen  vor- 
theilhaft.  —  » 

Es  sei  mir  erlaubt,  hier  eine  Anzahl  von  Fällen  mit- 
zuthcilen,  welche  mir  innerhalb  der  letzten  Jahre  vorge¬ 
kommen  sind.  Manchem  mag  es  vielleicht  ganz  unnütz 
erscheinen,  dals  ich  auch  Fälle  von  einfachen  Verletzun¬ 
gen  der  Kopfhaut  bekannt  mache;  doch  erhallen  diese 
durch  ihre  namhafte  Zahl,  und  durch  die  Zusammenstel¬ 
lung  mit  schweren  Beschädigungen  des  Kopfes  einigen 
Werth.  Dieser  ist  auch  gewifs  nicht  geringer,  als  der  so 
mancher  anderen  in  mcdicinischen  Journalen  mitgelheiltcn 
Aufsätze.  — 


/ 


150 


III.  Kopfverletzungen. 


Falle  von  Verletzungen  der  ankeren  Bedeckungen 
des  Kopfes  an  verschiedenen  Stellen  desselben. 

Ich  habe  schon  oben  bemerkt,  dafs  die  Kopfbedeckun¬ 
gen  durchaus  keine  Neigung  zur  ersten  Vereinigung  ha¬ 
ben.  Kein  Tbeil  des  Körpers  zeichnet  sich  in  dieser  Be¬ 
ziehung  auf  eine  so  unvorteilhafte  Weise  vor  allen  übri¬ 
gen  aus.  Fast  jede  einfache  Wunde  der  Kopfhaut,  sie 
mag  klein  oder  grofs  sein,  der  Länge  oder  der  Quere  nach 
verlaufen,  die  Haut  gerade  oder  schief  durchschnciden ,  sie 
teilweise  oder  ganz  trennen,  es  mag  das  Periosteum  un¬ 
verletzt  sein,  oder  vom  Knochen  getrennt,  die  W  unde 
von  einem  scharfen  Werkzeuge  oder  vou  einem  stumpfen 
Körper  herrühren:  fast  immer  geht  die  Wunde  in  Eite¬ 
rung  über,  und  heilt  nur  durch  den  Granulationsprozefs. 
Einige  höchst  seltene  Ausnahmen  von  dieser  Hegel  können 
nicht  berücksichtigt  werden.  Wir  müssen  uns  bei  unserer 
Behandlung  nach  der  eigentümlichen  Neigung  der  Wun¬ 
den  der  Kopfbedeckungen  nur  durch  jenen  Prozefs  zu  hei¬ 
len  richten.  Wir  müssen  daher  alles  vermeiden,  was  die 
Heizung  und  Entzündung  vermehrt,  die  prima  intentio 
nicht  etwa  durch  blutige  Näthc  oder  auch  nur  durch  Heft¬ 
pflaster  erzwingen  wollen,  sondern  immer  unsere  Zuflucht 
zum  Eise  oder  zum  kalten  Wasser  nehmen.  Blutige  Hefte 
sind  höchstens  in  den  Fällen  anzuwenden,  wo  ein  losgc- 
rissener  Lappen  der  Kopschwartc  sich  so  stark  zurück¬ 
zieht,  dafs  dadurch  der  Schädel  auf  einer  bedeutenden 
Fläche  entblöfst  wird,  aber  hier  nur  in  der  Absicht,  um 
den  Knochen  nicht  absterben  zu  lassen,  und  das  Gehirn 
gegen  den  mittelbaren  Einllufs  der  Luft  zu  schützen. 

Diese  geringe  Neigung  der  Kopfschwarte,  ihre  zufäl¬ 
ligen  Wunden  durch  prima  intentio  zu  schliefsen,  beob¬ 
achtete  ich  nicht  allciu  bei  allen  zufälligen  Beschädigun¬ 
gen,  sondern  auch  bei  unendlich  vielen  Operationen  am 
Kopfe,  z.  B.  Exstirpationen  von  Blutschwämmen,  Hygro- 
men  heilten  die  Wunden  immer  durch  Granulation,  auch 


UL  Kopfverletzungen.  15 1 

wenn  kein  Hautmangel  da  war.  Verpflanzt  dagegen  legt 
diese  Haut  diese  Eigenthümlichkeit  ab,  indem  sic  sich, 
zum  Nasenersatz  benutzt,  eben  sowohl  wie  die  Stirnhaut, 
mit  der  Gesichlshaut  verbindet.  Doch  bin  ich  von  dieser 
Operationsmethode,  wegen  jetziger  gröfserer  Besorgnils 
vor  hedeutenderen  Wunden  der  Galea,  etwas  zurückge¬ 
kommen. 

Bei  diesen  oberflächlichen  Kopfverletzungen  sind  aulser 
den  kalten  Umschlägen,  Blutentziehungen  und  Abführmit¬ 
teln  in  der  ersten  Zeit,  in  der  zweiten,  besonders  bei  öde- 
matöser  Geschwulst  der  Kopfschwarte,  Umschläge  von 
lauer  Aqua  saturnina  vortheilhaft.  Bei  sccundären  Zu¬ 
fällen  behaupten  Galomel  und  Aruica  noch  immer  ihren 
alten  Ruf. 

-vl  *  ,  -  >  r  I 

Ich  gehe  hier  nun  zuerst  zu  den  Fällen  von  Ver¬ 
letzung  der  Kopfbedeckungen  ohne  Beschädigung  des  Kno¬ 
chens  über: 

1.  Ein  Maurergeselle,  24  Jahre  alt,  stürzte,  indem  er 
eine  Last  trug,  mit  dem  Kopfe  auf  eine  steinerne  Stufe, 
worauf  er  einige  Zeit  bcwufstlos  liegen  blieb.  Die  einige 
Zoll  lange  Wunde  auf  dem  linken  Scheitelbeine  zeigte  eine 
Entblöfsung  des  Knochens,  die  Galea  im  Umkreise  der 
Wunde  war  stark  angeschwollen.  Bei  einer  kühlenden 
Behandlung  erfolgte  die  Heilung  durch  Eiterung  ohne  wei¬ 
tere  Zufälle. 

•  \ 

2.  C.  Pascnow,  ein  12jähriger  Knabe,  stürzte  zwei 

Stock  hoch  herab  und  traf  mit  der  Stirne  zuerst  den  Bo¬ 
den,  wo  er  gegen  die  Ecke  eines  Holzstücks  fiel.  Unge¬ 
achtet  der  Höhe  des  Sturzes,  war  das  Bewufstsein  keinen 
Augenblick  gestört.  An  dem  rechten  vorderen  Theile  des 
Scheitelbeines  befand  sich  eine  gelappte  Wunde  von  Zoll 
Länge.  Der  Knochen  war  zwar  entblöfst,  aber  kein  Bruch 
zu  entdecken.  Zwei  obere  Schneidezähne  waren  abge¬ 
brochen,  und  das  linke  Knie  stark  gequetscht.  Blutegel, 


152 


III.  Kopfverletzungen. 


Eisuraschliige  und  kühlende  Abführungen  stellten  den  Kran¬ 
ken  so  schnell  wieder  her,  dafs  er  schon  nach  12  Tagen 
mit  geheilter  Wunde  entlassen  werden  konnte. 

3.  Der  27jährige  Glaser  wurde  durch  einen  Ochsen, 
welchen  er  an  einem  Seile  führte,  Hingerissen,  eine  Strecke 
weit  geschleift,  und  erlitt  hierbei  an  mehren  Körpertei¬ 
len  Contusionen  und  eine  Zerrcifsung  der  Kopfbedeckun¬ 
gen  von  drei  Zoll  Länge  über  dem  linken  Scheitelbeine, 
mit  Entblöfsung  des  Knochens.  Er  wurde  streng  antiphlo¬ 
gistisch  behandelt,  und  die  Heilung  erfolgte  binnen  weni¬ 
gen  Wochen. 

4.  E.  Pagel,  30  J.  alt,  eine  Epileptische,  stürzte  in 
einem  heftigen  Anfälle  rückwärts  zu  Boden,  und  erlitt 
eine  bedeutende  Quetschung  des  Hinterhauptes.  In  der 
Mitte  der  Geschwulst  befand  sich  eine  W7undc  von  einem 
Zoll  Länge.  Eine  Erweiterung  der  W  unde  zeigte  den  Kno¬ 
chen  unverletzt.  Die  gewöhnliche  Behandlung  stellte  die 
Kranke  wieder  her;  doch  entzog  sie  sich  der  Behandlung, 
ehe  die  W  unde  geschlossen  war.  Epileptische  Anfälle 
waren  in  der  Zeit  der  Behandlung  nicht  cingetrctcn. 

5.  Joh.  Schubert,  21  jähriger  Arbeitsmann,  stürzte 
rücklings  vom  Gerüste  etwa  12  Fuls  hoch  herab  aufs 
Kreuz,  mehre  Steine  mit  sich  nachreifscnd.  Der  Kranke 
wurde  sogleich  bei  Besinnung  nach  der  Charite  gebracht. 
Hechts  auf  der  Stirn  waren  geringe  Spuren  einer  Contu- 
sion,  rechts  eine  etwa  -j  Zoll  lange  gequetschte  Längen- 
wunde.  Uebrigens  klagte  der  Kranke  nur  noch  über  einen 
Schmerz  in  der  linken  Seite,  der  durch  einen  hcrabrol- 
Jendcu  Steiu  vcranlafst  worden  war;  äufscrlich  war  nichts 
sichtbar. 

Behandlung:  Adcrlals,  Eisumschläge  über  den  Kopf, 
innerlich  Natr.  sulph.  Nach  18  Tagen  wurde  die  W’unde 
durch  Eiterung  geheilt. 


1IL  Kopfverletzungen. 


153 


6.  Mar ie  Lohmey,  ein  öffentliches  Mädchen,  stürzte 
sich,  um  einer  Mifshandlung  zu  entgehen,  aus  dem  zwei¬ 
ten  Stock  ihrer  Wohnung  auf  die  Strafse.  Die  linke  Seite 
der  Stirn  erlitt  eine  bedeutende  Quetschung,  und  über 
dem  Arcus  superciliaris  entstand  eine  kleine  tiefe  Wunde, 
durch  welche  man  indessen  keinen  Knochenbruch  ermit¬ 
teln  konnte.  Aufserdem  war  das  Gesicht  und  das  linke 
Handgelenk  stark  gequetscht.  Eine  Reihe  bedenklicher  Zu¬ 
fälle  folgte  der  Verletzung;  doch  wurde  durch  eine  streng 
antiphlogistische  Behandlung,  durch  Aderlässe,  Blutegel, 
kalte  Umschläge,  die  Gefahr  beseitigt,  und  die  Kranke 
war  binnen  vierzehn  Tagen  geheilt. 

7.  Sophie  Klatt,  Dienstmädchen,  22  Jahre  alt,  aus 
Freienwalde,  ward  von  Kavallerie  übergeritten  und  durch 
einen  Säbelhieb  in  den  Kopf  verletzt.  Der  Hieb  geht, 
quer  anfangend,  über  das  rechte  Scheitelbein,  ist  zwei 
Zoll  lang,  und  durchdringt  nur  die  Haut.  Dabei  empfin¬ 
det  die  Kranke  Schmerzen  in  der  Brust  und  dem  Rücken, 
Taumel  und  Schwere  im  Kopfe.  Es  ward  eine  Venaseetion 
von  einem  Pfunde  gemacht,  kalte  Umschläge  über  den 
Kopf,  und  innerlich  eine  Solut.  Natri  sulph.  cum  Nitro 

t 

depur.  gegeben.  Da  sich  am  folgenden  Tage  die  Schmer¬ 
zen  nicht  gehoben  hatten,  wurden  20  Blutegel  auf  die 
Brust  gesetzt,  kalte  Umschläge  fortgesetzt,  und  innerlich 
ein  Decoct.  Althaeae  mit  Nitrum  und  Tart.  stibiat.  gereicht. 

Bei  dieser  Behandlung  liefsen  die  Schmerzen  bald  ganz 
nach,  und  da  die  Kopfwunde  schon  längst  vernarbt  war, 
so  konnte  die  Kranke  als  geheilt  entlassen  werden. 

8.  Georg  Herzog,  38  J.  alt,  fiel  mit  dem  Hinter¬ 
kopfe  auf  das  Steinpflaster,  und  wurde  dadurch  stark  be¬ 
täubt.  Es  fand  sich,  nachdem  das  Haar  abgeschoren  wor¬ 
den,  gerade  mitten  auf  dem  Hinterhauptsbeine,  eine  £  Zoll 
lange  und  3  Zoll  breite  gequetschte  Wunde,  die  Umge¬ 
gend  contundirt,  sonst  weiter  keine  Verletzung.  —  Der 


154 


III.  Kopfverletzungen. 

Kopf  war  frei,  das  Allgemeinbefinden  ungetrübt.  —  Eine 
Salzlaxanz,  ‘20  Blutegel  und  kalte  Umschläge  beseitigten 
die  Nacht  hindurch  den  Schmerz  in  der  Wunde,  so  dafs 
der  Kranke  bald  wieder  entlassen  werden  konnte. 

9.  C.  Schice f,  ein  31  J.  alter  gesunder  Arbeitsmann, 
erhielt  durch  den  Fall  von  einem  Wagen  eine  fast  1  Zoll 
lange  Wunde  an  der  linken  Kopfseite.  Durch  einen  zu 
gleicher  Zeit  über  den  Kopf  gehenden  Schlitten  wurden 
der  Antitragus  und  die  Concha  des  rechtcu  Ohres  dicht 
am  Knochen  abgerissen.  Drei  blutige  Hefte  wurden  zur 
Vereinigung  der  letzten  Wunde  angelegt,  und  über  beide 
verletzte  Stellen  kalte  Umschläge  gemacht,  innerlich  wurde 
eine  Salzlaxanz  gegeben. 

Nach  drei  Wochen  konnte  der  Kranke,  vollkomineu 
geheilt,  entlassen  werden. 

10.  Johann  Lehmann,  Arbeitsmanu,  30  J.  alt,  ward 
in  einem  Streite  mit  seiner  Frau  von  derselben  in  den 
Kopf  gebissen.  Der  Bifs  war  oberflächlich  durch  die  Kopf¬ 
bedeckung  gedrungen,  und  hatte  unbedeutende  Geschwulst 
und  später  Eiterung  zuwege  gebracht.  Es  wurden  Catapl. 
cnioll.  ad  locum  affectum  applicirt,  und  die  Geschwulst 
schwand  bald.  Die  Vernarbung  der  Wuude  ging  bei  ein¬ 
facher  Behandlung  leicht  von  statten. 

11.  Wilhelm  Bon  net,  Schneidergesclle,  31  J.  alt, 
fiel  so  stark  auf  ein  stumpfkantiges  Stück  Eisen  mit  dem 
Gesicht,  dafs  er  besinnungslos  nach  Hause  gebracht  wei¬ 
den  rnufste.  Am  folgenden  Tage  kam  er  in  die  Charite. 
Eine  genaue  Untersuchung  ergab  Folgendes:  Dicht  über 
dem  oberen  Orbitalrandc  des  rechten  Auges  war  eine  un¬ 
gefähr  ‘2  Zoll  lange  und  -J-  Zoll  breite  Wunde;  der  Knochen 
war  jedoch  unverletzt.  Das  obere  und  untere  Aogenlied 
waren  bedeutend  angesch wollen,  und  thciUveise  mit  Blut 
unterlaufen;  das  Allgemeinbefinden  gut.  Es  wurde  eine 


155 


III.  Kopfverletzungen. 

Venasectiou  von  1  Pfund  gemacht,  und  20  Blutegel  ad 
locum  affect.  gesetzt.  Hierauf  kalte  Umschläge  gemacht, 
innerlich  eine  Solut.  Natri  sulph.  gereicht.  —  l)a  am 
Abend  ziemlich  lebhaftes  Fieber  eintrat,  was  auch  am  fol¬ 
genden  Tage  noch  fortdauerte,  so  erhielt  Pat.  ein  Decoct. 
Althaeae  mit  Nitr.  und  Natr.,  wonach  das  Fieber  nachliefs. 
Die  Geschwulst  sank  bei  Anwendung  der  kalten  Um¬ 
schläge  immer  mehr,  und  die  Wunde  wurde  nun  einfach 
behandelt,  so  dafs  Patient  bald  als  geheilt  entlassen  wer¬ 
den  konnte. 

12.  J.  Berendt,  Arbeitsmann,  21  J.  alt,  aus  Witten¬ 
berg,  ward  im  Gedränge  von  berittenem  Militär  verfolgt, 
und  erhielt  einen  Säbelhieb  in  den  Kopf.  Bei  näherer  Un¬ 
tersuchung  fand  sich,  dafs  die  Wunde  2-J-  Zoll  lang,  gerade 
in  der  Vereinigung  der  beiden  Scheitelbeine  verlief,  und 
sich  bis  an  den  Winkel  des  Hinterhauptbeines  erstreckte, 
nach  vorn  nur  die  Haut  durchdrang,  nach  hinten  aber  an 
einer  ±  Zoll  langen  Stelle  die  Beinhaut  durchfühlen  liefs. 
Die  Ränder  waren  scharf  abgeschnitten,  durch  Coagulum 
mit  einander  vereinigt,  und  nur  nach  hinten  einige  Linien 
auseinander  stehend.  Aufserdem  klagte  der  Kranke  über 
Schmerzen  an  der  linken  Seite,  in  der  Gegend  des  Tro¬ 
chanter,  die  nach  seiner  Aussage  von  erhaltenen  Kolben- 
stöfsen  herrühren  sollten.  Es  war  jedoch  keine  Verletzung 

* '  i 

wahrzunehmen. 

Es  wurden  an  die  schmerzhafte  Stelle  20  Blutegel  ge¬ 
setzt,  und  über  die  Kopfwunde  kalte  Umschläge  gemacht; 
innerlich  Solut.  Natr.  sulph.  gegeben. 

Die  Schmerzen  an  der  Hüfte  nahmen  bald  ab,  und 
die  Kopfwunde  heilte  durch  Eiterung,  so  dafs  der  Kranke, 
beinahe  völlig  geheilt,  seine  Entlassung  forderte. 

9 

13.  Heinrich  Günther ,  Schlossergeselle,  36  J.  alt, 
aus  Halle,  fiel  von  einer  beträchtlichen  Höhe  herab  und  ver¬ 
letzte  eich  dabei  bedeutend  den  Ilinterkopf.  Bei  der  Un- 


156  IH.  Kopfverletzungen. 

/ 

tcrsuchung  zeigte  sich  an  der  rechten  Seite  des  Ilintcr- 
kopfcs  eine  halbmondförmige,  etwa  im  Kreise  2  Zoll  be¬ 
tragende  gequetschte  Wunde,  die  bis  auf  das  Periosteum 
ging,  und  neben  dieser  eiue  zweite,  1  Zoll  lange  Längen- 
wumle.  Beide  wurden,  durch  Trennung  der  llautbriicke, 
mit  dem  Pilaster  in  eine  verwandelt,  und  Eisumschläge 
gemacht;  auch  ward  eine  Vcnäsection  angeslcllt,  und  in¬ 
nerlich  Natrum  sulph.  gegebeu.  Die  Wuude  heilte  ohne 
Zufalle  durch  Eiterung. 

14.  Johann  Berger,  Arbeitsmann,  3S  J.  alt,  bekam 
in  der  Trunkenheit  Schläge,  und  fiel  dabei  auf  den  II in* 
terkopf.  Bei  seiner  Aufnahme  in  die  Charite  war  er  noch 
im  trunkenen  Zustande,  Gesicht  geröthet,  Puls  fieberhaft, 
die  Zunge  belegt,  Erbrechen  war  vorher  dageweseu.  Am, 
lliulerkopfe,  an  der  Verbindungsstelle  des  Hinterhaupt¬ 
beines  mit  dem  Scheitelbeine,  fand  sich  eine  dreieckige 
Längenwunde,  die  bis  auf  den  Knochen  drang,  letzter  war 
jedoch  ganz  unversehrt.  Es  wurde  ein  Aderlafs  von  1  Pfund 
gemacht,  und  Sohlt,  uatr.  sulph.  mit  Tart.  stib.  gegeben. 
Es  trateu  keine  weitereu  Zufälle  ein,  und  die  Wuude 
heilte  durch  Eiterung. 

* 

15.  C.  Köpke,  53  J.  alt,  Wäscherin,  stürzte  mit  ei¬ 
ner  Last  Holz  von  einer  steilen  Treppe  herab,  und  traf 
mit  dem  Kopfe  auf  deu  scharfen  Hand  einer  Mauer,  wo¬ 
durch  ein  fast  handgrofser  Lappen  der  Kopfschwarte  vom 
linken  Os  bregmatis  abgestreift  wurde;  das  Pericranium 
war  an  dieser  Stelle  meistens  mit  abgeschält.  Ungeachtet 
keine  Erscheinung  von  Affcctiou  des  Gehirns  sich  cin- 
stellte,  so  wurden  doch  Blutentzichungcn  angewandt,  kalt 
fomentirt  und  kühlende  Abführungen  gegeben.  Darnach 
trat  heftiges  Fieber  ciu,  dem  eine  starke  Eiterung  und 
thcilweisc  Zerstörung  des  Lappens  durch  dieselbe  folgte. 
Da  sich  die  Kopfschwarte  nach  allem  Seiten  hin  untermi- 
uirte  uud  der  Ausllufs  des  Eiters  durch  den  Lappen  geh  in- 


III.  Kopfverletzungen.  157 

dert  wurde,  so  wurde  dieser  gespalten,  und  bald  darauf 
bildete  sich  eine  üppige  Granulation,  und  schon  nach  vier 
Wochen  war  die  Kranke  so  weit  genesen,  dafs  sie,  ihrem 
dringenden  Wunsche  gemäfs,  mit  einer  kleinen  noch  ei¬ 
ternden  Stelle  am  Kopfe,  in  ihre  Wohnung  entlassen  wer¬ 
den  konnte. 

%'  .  ^  t  i  .  . 

,  * 

6.  Johann  Münchow,  34  J.  alt,  erhielt  durch  ei¬ 
nen  Schlag  mit  dem  Bayonettc  an  der  linken  Seite  des 
Ilinterkopfes,  über  der  Protuber,  occipit.  externa,  eine 
ly  Zoll  lange  Wunde,  welche  stark  blutete.  Die  Unter¬ 
suchung  ergab,  dafs  es  eine  einfache  Trennung  der  Haut 
vom  Zellgewebe  sei,  ohne  Verletzung  derGalea  aponeurotica. 
Die  Wunde  wurde  mit  Charpie  bedeckt  und  Eisumschläge 
angewandt.  —  Das  Allgemeinbefinden  blieb  immer  gut, 
und  als  wegen  einer  Eiteransammlung  die  Wunde  dilatirt 
wurde,  fand  sich  der  Schädel  noch  vom  Pericranium  be¬ 
deckt.  Er  war  in  drei  Wochen  so  gebessert,  dafs  er  ent- 
lassen  werden  konnte. 

/ 

7.  J.  Köhler,  Schlossergeselle,  42  J.  alt,  ein  cor- 
pulenter  Säufer,  wurde  von  einem  Spielsgesellcn  überfal¬ 
len  und  durch  einen  Schlag  mit  einem  Steine  am  Hinter¬ 
haupte  verwundet,  so  dafs  er  vorn  überstürzte. und  sich, 
indem  er  mit  dem  Gesicht  zur  Erde  liel,  die  Umgegend 
des  linken  Auges  bedeutend  quetschte.  Die  gequetschte, 
bis  auf  die  Protuberantia  occipitalis  eindringende  Wunde, 
war  in  einem  weiten  Umkreise  geschwollen  und  entzün¬ 
det,  und  das  ganze  Auge  mit  Blut  unterlaufen.  Bei  küh¬ 
lender  Behandlung  trat  indessen  kein  gefährlicherer  Zufall 
ein,  und  der  Kranke  wurde  vollkommen  geheilt. 

8.  J.  Zachert,  45  J.  alt,  erhielt  in  einem  schwer¬ 
betrunkenen  Zustande  eine  Hiebwunde  in  den  Kopf,  in 
der  Mitte  des  linken  Scheitelbeines,  wodurch  diesem  1  Zoll 
lang  entblöfst  wurde.  Anfangs  zeigten  sich  keine  Erschei- 


I 


158 


UI.  Kopfverletzungen. 


oungcn,  nach  zwei  Tagen  jedoch  entwickelte  sich  ein  hef¬ 
tiges  Fieber,  und  die  Wunde  und  die  umgebende  Kopf¬ 
haut  entzündeten  sich  bedeutend.  Bei  der  strengsten  anti¬ 
phlogistischen  äufscren  und  inneren  Behandlung  legten  sich 
indessen  diese  Symptome,  es  trat  eine  gutartige  Eiterung 
ein,  und  der  Kranke  konnte  rach  vier  Wochen  geheilt 
entlassen  werden. 

19.  W.  Nonicke,  39  Jahre  alt,  erhielt  im  trunkenen 
Zustande  mit  einem  eisernen  Instrumente  mehre  Schläge 
auf  den  Kopf  und  ins  Gesicht.  Es  wurde  eine  Venäsection, 
kalte  Umschläge  auf  den  Kopf,  und  eine  Abführung  durch 
Natr.  sulphuricum  verordnet.  Nach  einem  ruhigen  Schlafe 
fühlte  sich  der  Kranke  vollkommen  wohl,  und  wurde  am 
dritten  Tage  entlassen. 

‘20.  Fricdrikc  Mcurit,  17  J.  alt,  fiel  mit  dem  Kopfe 
so  heftig  gegen  ein  Treppengeländer,  dafs  sic  sogleich  das 
Bewufstscin  verlor.  Ein  herbeigerufener  Arzt  schickte  die 
Kranke,  nachdem  er  Einiges  verordnet  hatte,  sogleich 
nach  der  Charite,  wo  sie  in  eiuem  sehr  abgespannten  Zu¬ 
stande  ankam.  Auf  dem  linken  Scheitelbeine  war  eine 
durch  eioen  Kreuzschnitt  vergrpfserte  Wunde.  Die  Un¬ 
tersuchung  mit  der  Sonde  ergab,  dafs  der  Knochen  nicht 
verletzt  war.  Sogleich  wurde  eine  Venäsection  von  lj- Pfund 
vollzogen;  innerlich  erhielt  die  Kranke  eine  Solut.  natri 
sulphur.,  äufserlich  kalte  Umschläge  über  den  ganzen  Kopf. 
Am  folgenden  Tage  hatte  die  Kranke  sich  wieder  erholt, 
und  ihr  Befinden  war,  Schwäche  abgerechnet,  recht  "ut. 
Mit  den  kalten  Umschlägen  auf  die  Kopfwunde  wurde 
noch  einige  Tage  fortgefahren,  und  diese  sodann  durch  cin- 
gcbrachte  Charpie  bis  zum  21  sten  Tage  offen  erhalten, 
von  welcher  Zeit  ab  man  die  Heilung  (durch  einfachen 
Salbenvcrband  und  durch  Anwendung  des  Lapis  infornalis) 
einleitetc,  die  rasch  von  statten  ging.  Das  Allgemeinbe¬ 
finden  der  Kranken  war  fortwährend  gut. 


III.  Kopfverletzungen.  159 

21.  W.  Ortei,  18  J.  alt,  wurde  von  einem  von  ei¬ 
ner  bedeutenden  Höhe  herabstürzenden  Mehlfasse,  von  des¬ 
sen  scharfem  Rande,  am  Kopfe  gestreift,  auf  dem  sich 
rechts  von  der  Pfeilnath  eine  1^  Zoll  lange,  bis  auf  den 
Schädel  dringende  Wunde  fand,  deren  Umgebung  bei  der 
Aufnahme  in  die  Charite»  stark  entzündlich  erschien.  Da¬ 
bei  war  starkes  Fieber  und  Heftige  Affection  des  Kopfes 
vorhanden.  Durch  kühlende  äufsere  und  innere  Behand¬ 
lung  wurde  der  Kranke,  ohne  weitere  Zufälle ,  völlig  wie¬ 
der  hergestellt. 

22.  Der  41jährige  Sommerlotte  trug  durch  einen  Fall 
mit  der  Mitte  der  Stirn  auf  das  Steinpflaster  eine  Wunde 
von  drei  Zoll  Länge  davon.  Erst  mehre  Tage  nach  dem 
Eintritte  der  Eiterung  begab  sich  der  Kranke,  heftiger 
Schmerzen  und  Anschwellung  der  Umgegend  wegen,  in 
die  Charite,  wo  er  durch  Cataplasmen  und  Salbe  ge¬ 
heilt  wurde. 

23.  Der  Kattundrucker  Niemann,  23  J.  alt,  fiel  mit 
dem  Kopfe  auf  das  Steinpflaster.  Es  zeigte  sich  darauf 
eine  Wunde  von  über  vier  Linien  Länge  auf  dem  rechten 
Scheitelbeine.  Die  Sonde  stiefs  auf  den  blofsen  Schädel. 
Es  zeigten  sich  einige  Gehirnzufälle  und  Vorboten  von  De¬ 
lirium  tremens.  Es  wurde  stark  zur  Ader  gelassen  und 
eine  sehr  kühlende  Behandlung  angefangen,  und  mehre 
Tage  lang  fortgesetzt.  Es  entzündete  sich  dann  die  Galea 
in  grofsem  Umkreise  um  die  Wunde,  sie  wurde  teigig  und 
löste  sich  vom  Schädel.  Ein  Einschnitt  wurde  nüthig. 
Die  Jauche  verwandelte  sich  in  guten  Eiter,  und  die 
Wunde  heilte,  ohne  dafs  sich  etwas  vom  Knochen  exfo- 
liirt  hätte.  Fünf  Wochen  nach  seiner  Aufnahme  verliefs 
der-  Kranke  die  Anstalt. 

24.  Daniel  Herms,  Zimmergeselle,  20  Jahr  alt,  aus 
Perleberg,  fiel  von  eiuem  Gerüste,  und  ward  ohne  Besin- 


III.  Kopfverletzungen. 


160 

uung  nach  der  Charite  gebracht.  Bei  der  Untersuchung 
fand  6ich  au  der  rechten  Augenbraune  eine  Ij-Zoll  lange,  ge¬ 
quetschte,  schiefe,  nach  aufsen  verlaufende  Wunde,  die 
durch  Anlegung  einer  blutigen  ISath  in  der  Mitte  verei¬ 
nigt  wurde;  aufserdom  aber  am  rechten  oberen  Augenlicde 
ein  Ecchymom,  und  beide  Hände  etwas  geschwollen  uud 
schmerzhaft.  Aufserdem  war  nichts  wahrzuuehmen. 

Es  wurde  sogleich  ein  Adcrlafs  von  12  Unzen  gemacht, 
an  die  Handgelenke  Blutegel  gesetzt,  und  über  letzte  und 
den  Kopf  Eisumschläge  applicirt.  Die  prima  intentio  ge¬ 
lang  vollkommen,  eben  so  verschwand  das  Ecchymom  bei 
fortgesetzter  Behandlung,  nur  blieben  die  Handgelenke 
noch  längere  Zeit  schmerzhaft,  so  dafs  öftere  Anwendung 
von  Blutegeln  nüthig  wurde.  Es  verminderten  sich  die 
Schmerzen,  und  der  Krauke  ward  auf  6ein  Verlangen,  bei¬ 
nahe  ganz  geheilt,  entlassen. 

25.  II.  Min  gram,  30  Jahre  alt,  ein  kräftiger  Mann, 
wurde  durch  einen  Lanzenstofs  am  oberen  Theile  der  Stirne 
verwundet,  worauf  er  augenblicklich  besinnungslos  zu  Bo¬ 
den  stürzte.  Es  stellten  sich  hierauf  andere  Zufälle,  welche 
auf  eine  bedeutende  Hirnaffcction  schlicfsen  liefsen,  ein. 
Bei  der  Aufnahme  in  die  Charite  war  der  Kranke  noch 
unbesinnlich,  auch  hatte  sich  ein  starkes  Fieber  eingestellt. 
Nach  einer  starken  Blutcntlcerung  und  starken  Abführ¬ 
mitteln,  verschwand  indefs  alle  Gefahr,  es  stellten  sich 
keine  neuen  Zufälle  wieder  ein,  und  der  Krauke  konnte 
in  der  fünften  W  oche  geheilt  entlassen  werden. 

26.  Neumann,  Tischler,  26  J.  alt,  zwei  Kopfver¬ 
letzungen  von  1  Zoll  Länge;  der  Schädel  lag  blofs;  keine 
Zufälle;  fast  geheilt  entlassen. 

27.  Dem  A.  B  ruin  ert,  19  J.  alt,  wurde  durch  ein  un- 
bcschlagcucs  Pferd  eine  mehre  Zoll  lange  Wunde  über  der 
liukeu  Augcubraunc  geschlagen,  und  zugleich  der  Kuochcn 


von 


f 


III.  Kopfverletzungen.  161 

von  der  ßcinhaut  entblöl'st.  Die  Wunde  heilte  binnen  drei 
Wochen  ohne  Zufälle. 

28.  J.  Apfelbaum,  Sclmhmachergcselle,  42  J.  alt, 
ein  kräftiger  Mann,  stürzte  eine  Treppe  herab,  und  fiel 
mit  dem  Kopfe  auf  den  Boden.  Er  blieb  bewufstlos  lie¬ 
gen.  An  der  rechten  Seite  des  Schädels,  auf  der  Mitte 
des  Scheitelbeines,  fand  sich  eine  1  Zoll  lange,  gequetschte, 
bis  auf  den  Knochen  eindringende  Wunde  mit  angeschwol¬ 
lener  Umgegend.  Der  Kranke,  welcher  die  erste  Zeit  von 
einem  anderen  Arzte  behandelt  worden  war,  erholte  sich 
bald  wieder,  und  bei  einer  kühlenden  Behandlung  und 
einem  einfachen  Verbände  erfolgte  binnen  sechs  Wochen 
völlige  Heilung. 

29.  C.  Horn,  Nachtwächter,  43  J.  alt,  erhielt  mit 
einem  kleinen  Beile,  welches  die  Krücke  eines  Spazier¬ 
stockes  bildete,  einen  Hieb  auf  den  Kopf,  dafs  er  zu  Bo¬ 
den  fiel.  Dennoch  folgten  keine  weiteren  Zufälle,  welche 
auf  eine  Affection  des  Gehirns  deuteten.  Die  zwei  Zoll 
lange  Wunde  befand  sich  am  oberen  Rande  des  linken 
Scheitelbeines,  der  Schädel  war  aber  nicht  entblöfst.  Eine 
kleinere,  leichtere  Wunde,  befand  sich  etwas  weiter  ab¬ 
wärts.  Obgleich  dem  Kranken  zur  Ader  gelassen  und 
kalte  Umschläge  gemacht  wurden,  so  bildete  sich  dennoch 
in  den  nächsten  Tagen  ein  Erysipelas  aus,  welches  den 
ganzen  Kopf  und  das  ganze  Gesicht  einnahm,  mit  den  ge¬ 
fährlichsten  Erscheinungen  ab  wechselte,  und  von  Delirien 
und  tiefem  Sopor  begleitet  war.  Die  Heilung  gelang  in¬ 
dessen  binnen  drei  Wochen. 

30.  C.  Herhold,  Maurerlehrling,  21  J.  alt,  aus  Kö¬ 
nigsberg  in  der  Neumark,  ward  durch  einen  hcrabfalleu- 
den  Mauerstein  am  Kopfe  verletzt.  Er  ward  den  26.  Au¬ 
gust  1830  in  die  Charite  gebracht.  Bei  näherer  Untersu¬ 
chung  zeigte  sich  die  WTunde  höchst  unbedeutend,  gegen 

Band  28.  Heft  2.  11 


162 


III.  Kopfverletznngcn. 


1»  Zoll  lang,  oberflächlich,  nicht  einmal  überall  die  Cutis 
pcnctrircnd.  Die  Umgegend  dagegen  war  bedeutend  ge¬ 
schwollen,  doch  fehlten  bedenkliche  Zeichen  gänzlich.  Es 
ward  eine  reichliche  Vcnäscction  gemacht,  und  Eisuin- 
schlage  auf  den  Kopf;  innerlich  eine  salinischc  Abführung 
gegeben. 

In  nicht  gar  langer  Zeit  erholte  sich  der  Kranke  gänz¬ 
lich,  die  Wunde  vernarbte,  und  er  ward  den  3.  Scpt.  ge¬ 
heilt  entlassen. 

31.  Gottlob  Wallow,  30  J.  alt,  bekam  einen  Hieb 
mit  einem  stumpfen  Säbel  über  den  Kopf,  welcher  eine 
1’  Zoll  lange,  bis  auf  die  Beinhaut  des  Schädels  gehende 
Wunde  hervorbrachte.  Zu  gleicher  Zeit  wurde  der  linke 
Oberarm  durch  einen  dicken  Knittel  stark  contundirt.  Es 
wurde  eine  Venäsection  von  anderthalb  Pfund  gemacht, 
und  Eisumschläge  angewandt.  Es  traten  im  Verlaufe  der 
Krankheit  keine  bedenklichen  Zufälle  ein,  und  die  Wunde 
heilte  bei  einer  einfachen  Behandlung  durch  Granulation. 

32.  Charlotte  Volker,  49  J.  alt  (aufgenommen  in 
der  Charite  den  7.  Octob.  1829,  gebessert  entlassen  den 
10.  Nov.).  Patientin  wurde  von  ihrem  Sohne  mit  einem 
Steine  geschlagen.  Eine  gequetschte  Wunde  durchdrang 
am  linken  Scheitel  die  Haut  zwei  Zoll  lang  bis  auf  den 
Knochen,  eine  ähnliche  war  daneben,  und  eine  dritte  rech- 
tcrscits.  Erweiterung  der  Wunden,  Aderlafs,  kalte  Um¬ 
schläge,  Laxanzen,  Fufsbäder.  Es  traten  keine  bedenkli¬ 
chen  Zufälle  ein,  und  die  Wunden  heilten  binnen  drei 
Wochen  durch  Eiterung. 

33.  W.  Alisch,  Maurergeselle,  22  J.  alt,  stürzte  von 
einem  einstöckigen  Gerüste  auf  das  Steinpflaster,  und  be¬ 
rührte  mit  dem  Bande  der  Orbita  des  rechten  Auges  den 
Boden.  Der  Augcnliedrand  hatte  eine  -J  Zoll  lange,  ge¬ 
quetschte  W unde,  und  der  Knochen  war  cntblöfst  und 


IIL  Kopfverletzungen.  163 

rauh,  die  Augcnliedcr  mit  Blut  unterlaufen;  aufserdem  war 
der  rechte  Arm  stark  gequetscht  und  eine  Crepitation  am 
unteren  Ende  des  Radius  vorhanden.  Aderlafs,  Blutegel 
und  kalte  Umschläge  wurden  sogleich  angewandt,  und 
nach  einigen  Tagen  der  Arm  eingewickelt.  Die  Heilung 
erfolgte  ohne  Zufälle. 

34.  Val.  Cap  sch,  40  J.  alt,  Drechslergeselle,  fiel 
mit  dem  Kopfe  gegen  eine  Tischecke  und  stiefs  sich  eine 
1  Zoll  lange  Wunde  auf  der  Mitte  des  Scheitels.  Der  no- 
chen  war  entblöfst.  Es  erfolgte  Heilung  durch  Granulation. 

35.  Carl  Fanchow,  ein  kräftiger,  sonst  gesunder,  21  J. 
alter  Kutscher,  fiel  am  2.  Nov.  1829  rücklings  mit  dem 
Scheitel  gegen  die  Ecke  eines  harten  Körpers,  wodurch 
er  sich  eine  stark  blutende,  sehr  geröthete  und  an  den 
Rändern  gerissene,  einen  Zoll  lange  Wunde  zuzog,  welche 
sich  in  die  Tiefe  bis  zur  Gal.  aponcur.  erstreckte.  Die 
genauere,  nach  Entfernung  der  Kopfhaare  und  Erweite¬ 
rung  der  Wunde  angestellte  Untersuchung  ergab  das  näm¬ 
liche.  Kühlende’  Ableitungen  auf  den  Darmkanal  und  eis¬ 
kalte  Umschläge  auf  den  Kopf  wurden  bis  zum  Eintritte 
der  Eiterung  angewandt,  sodann  die  Wunde  ganz  einfach 

verbunden,  und  der  Kranke  am  zwölften  Tage  entlassen. 

<  \ 

36.  Johanna  Kuntz,  44  J.  alt,  erhielt  mit  einem 
stumpfen  Werkzeuge,  2  Zoll  über  dem  rechten  Ohre,  eine 
-f-  Zoll  lange,  4  Zoll  breite  gequetschte  Hautwunde,  mehre 
Contusionen  in  der  Umgegend  und  fiel  darauf  io  eine  Ohn¬ 
macht,  die  wohl  eine  Viertelstunde  anhielt.  Sie  empfand 
darauf  dumpfen  Kopfschmerz,  Schwindel,  Schmerz  in  der 
Umgegend  der  Wunde,  wie  in  derselben,  welche  Schmer¬ 
zen  bei  ihrer  Aufnahme  noch  fortdauerten. 

Ein  Aderlafs  von  10  Unzen  Blut,  mehrmaliges  An¬ 
setzen  von  Blutegeln  und  anhaltend  fortgesetzte  kalte  Um¬ 
schläge,  hatten  das  Befinden  der  Kranken  sehr  gebessert, 

11  * 


164 


III.  Kopfverletzungen. 

und  nacli  dem  Gebrauche  von  einer  Solulio  natri  sulphur. 
cum  nitro  wurde  sie  nach  acht  Tagen  als  geheilt  entlassen. 

37.  Ale,  Schlosser,  41  J.  alt,  bekam  durch  einen  Fall 
auf  den  Kopf  während  eines  Rausches,  eine  1  Zoll  grofse 
Wunde  auf  den  rechten  Scheitel,  wobei  zugleich  das  Pe- 
riosteum  mit  abgestreift  war.  Die  Heilung  erfolgte  in 
vier  Wochen. 

38.  C.  Heydcmann,  39  J.  alt,  hatte  mit  einem  Drci- 
fufs  einen  Schlag  auf  den  Kopf  bekommen,  an  der  Stelle, 
wo  sich  das  Stirnbein  mit  dem  unteren  vorderen  Winkel 
des  Scheitelbeines  verbindet.  Die  Wunde  war  zehn  Li¬ 
nien  lang.  Man  sah  an  dieser  Stelle  eine  Spalte  im  Kno¬ 
chen,  deren  Grund  etwas  eingedrückt  war.  Die  Haut¬ 
wunde  wurde  etwas  erweitert,  und  darauf  die  strengste 
antiphlogistische  Behandlung  angefangen.  Gchirnzufälle  wa¬ 
ren  gar  nicht  vorhanden,  und  traten  auch  in  späterer  Zeit 
nicht  ein.  Die  Wunde  füllte  sich  bald  mit  Granulation 
aus,  und  die  Kranke,  welche  am  24.  August  aufgenom¬ 
men  war,  wurde  am  14.  October  geheilt  entlassen. 

39.  Frau  Hasse,  32  J.  alt,  erhielt  durch  einen  Schlag 
mit  einem  scharfen  Blechlöffel  eine  dreieckige  Wunde, 

welche  sich  von  der  Stirne  über  die  Nasenwurzel  er- 

\ 

streckte,  und  bis  auf  den  Knochen  cindrang.  Die  Heilung 
erfolgte  ohne  weitere  Zufälle. 

40.  Carl  Richter,  Arbeitsmann,  31  J.  alt  ,  von  ziem¬ 
lich  guter  Constitution,  war  vor  8  Jahren  von  einem 
Hause  gefallen,  und  hatte  seitdem  noch  eine  lähmungsar¬ 
tige  Schwäche  der  unteren  Extremitäten,  und  zuweilen 
ziehende  Schmerzen  nach  dem  Laufe  des  Nerv,  ischiadicus 
und  cruralis.  —  Jetzt  kam  er,  am  5.  September,  mit 
einer  gequetschten  Wunde  über  der  linken  Schläfe  und 
einigen  blauen  Hecken  in  derselben  und  um  die  Augen 


165 


III.  Kopfverletzungen. 

Zeichen  der  Kraftäufserung  seiner  Frau,  in  die  Anstalt.  — 
Er  klagte  über  heftige  Schmerzen  in  den  afficirten  Stel¬ 
len,  der  Puls  war  langsam,  kräftig,  voll,  deshalb:  Venac- 
sect.  ad  libr.  j.,  Solut.  Natr.  sulphur.,  kalte  Umschläge  auf 
die  gequetschten  Stellen.  Die  Heilung  der  Wunde  erfolgte 
durch  Eiterung. 

41.  Die  45jährige  Frau  Böhm  erhielt  von  ihrem  Manne 
mit  einem  Stücke  Holz  einen  Schlag  auf  die  Mitte  des 
Kopfes,  wodurch  eine  mehre  Zoll  lange,  bis  auf  den  Schä¬ 
del  dringende  Wunde  hervorgebracht  wurde.  Sie  war 
anfangs  betäubt,  und  Zufälle  der  Hirnreizung  dauerten 
mehre  Tage  lang.  Bei  kühlender  äufserer  und  innerer  Be¬ 
handlung,  und  bei  einem  späteren  einfachen  Verbände,  er¬ 
folgte  die  Heilung  binnen  einigen  Wochen  durch  den  Eite- 

rungsprozefs. 

* 

42.  Caroline  Körner,  34  J.  alt,  aufgenommen  den 
13.  Iuli  1829,  geheilt  den  20.  ejusd.  Patientin  sprang, 
von  ihrem  Manne  gemifshandelt,  aus  dem  Fenster,  fiel  auf 
den  Kopf,  verlor  aber  nicht  die  Besinnung.  Wüstheit 
udü  Schwindel,  über  dem  linken  Auge  eine  kleine  Exco- 
riation  mit  schwacher  Geschwulst  und  Suggillation,  unter 
dem  Auge  ein  kleines  Ecchymom.  Auf  dem  linken  Auge 
Striemen  und  geringe  Schmerzen,  am  Halse  Schmerz  ohne 
Merkmale  der  Verletzung.  Die  Heilung  erfolgte  ohne 
weitere  Zufälle. 

43.  Jacob  Friese,  54  J.  alt,  aufgen.  14.  4.  30,  ge¬ 
heilt  27.  4.  30.  Patient  fiel  von  einer  Treppe,  mit  dem 
Gesicht  auf  die  Stufen.  Betäubung  unbedeutend.  Das 
rechte  Auge  suggillirt  und  schmerzhaft,  der  Rücken  längs 
der  Wirbelsäule,  ohne  äufsere  Merkmale,  schmerzhaft.  Kalle 
Umschläge.  Sol.  nitri  et  natri  sulph. 

v  ] 

44.  Otto  Rösener,  41  jähr.  Schneidermeister,  erhielt 
im  Streite  einen  Schlag  auf  die  linke  Schläfe,  worauf  er 


166  III.  Kopfverletzungen. 

bevvufstlos  niederst ürzte.  Zu  sieh  gekommen,  empfand  er 
heftige  Schmerzen  in  der  ganzen  liuken  Seite  des  kopfe9, 
und  wurde  mit  dieser  Klage  aufgenommen.  Die  Stelle 
war  geröthet  und  keife,  auf  dem  liuken  oberen.  Augenlicde 
Suggillation. 

Behandlung.  Blutegel  an  die  Schläfe,  und  kalte 
Umschläge,  stellten  den  Kranken  nach  fünf  Tagen  voll¬ 
kommen  her. 

45.  Johann  Bastian,  ein  48  Jahre  alter  Tagelöhner, 
bekam  bei  einer  Rauferei  bedeutende  Faustschläge  ins  Ge¬ 
eicht  und  auf  das  Hinterhaupt;  auch  hatte  man  ihm  den 
Hals  mehrcmale  stark  zusammengedrückt.  Gegen  die  Folgen 
dieser  Gewalttätigkeiten,  nämlich  Heiserkeit  und  Contu- 
sionen,  wurde  eine  starke  Venäsection  gemacht,  worauf 
der  Kranke  sich  um  so  vieles  besser  fühlte,  dafe  er  so¬ 
gleich  wieder  entlassen  zu  werden  verlangte. 

t 

46.  Georg  Ziegen  heim,  30  J.  alt.  Der  trunkene 
Kranke  fiel  von  einer  Treppe  mit  dem  Kopfe  gegen  einen 
Eckstein,  und  blieb  betäubt  liegen.  Aus  der  Kopfwunde 
soll  er  an  vier  Pfund  Blut  verloren  haben.  Bei  der  Un¬ 
tersuchung  fand  man  über  dem  äufseren  Augenhöhlenrande 
der  rechten  Seite  eine  1^  Zoll  lange,  }  Zoll  tiefe  bis  auf 
die  Galea  aponeur.  dringende,  J-  Zoll  klaffende  und  in 
ziemlich  gerader  Richtung  auf  dem  Stirnbeine  von  oben 
nach  unten  gehende  Wunde.  Die  Umgegend  war  ge¬ 
spannt  und  schmerzhaft,  die  rechten  Augenlicder  etwas  ge¬ 
schwollen  und  suggillirt;  Knochenverletzungen  waren  nicht 
zu  entdecken.  —  Das  Allgemeinbefinden  war,  aufser  ei¬ 
nem  Gefühl  von  Schwere  im  Kopfe  und  geringen  Ucbel- 
keiten,  gut;  wie  auch  Puls  und  dio  übrigen  Functionen 
normal  waren. 


47.  Runge,  Maurergeselle,  28  J.  alt.  Patient  hatte 
mit  einem  eisernen  Instrumente  mehre  Schläge  auf  den 


III.  Kopfverletzungen.  167 

t  *  i 

Kopl  erhalten,  uml  war  eine  halbe  Stunde  lang  besinnungs¬ 
los  liegen  geblieben.  Eine  genaue  Untersuchung  des  Ko¬ 
pfes  ergab,  dafs  nur  die  Weichtheile  des  Schädels,  aber 
durchaus  nicht  die  Knochen  gelitten  hatten.  Das  Allge¬ 
meinbefinden  des  Kranken  war  den  Umständen  nach  gut; 
er  war  bei  vollkommenem  Bewufstsein,  und  klagte  nicht 
über  besondere  Schmerzen  im  Kopfe.  Erbrechen  war  eini- 
gemale  eingetreten;  der  Puls  sehr  voll  und  frequent. 

Es  wurde  sogleich  eine  Venäsection  gemacht;  kalte 
Umschläge  über  den  Kopf,  innerlich  Solut.  natri  sulph. 
verordnet.  Allmählig  stellten  sich  jedoch  Eingenommen¬ 
heit  des  Kopfes,  lebhafte  Aufregung  des  Gefäfssystemes, 
Apathie,  Rothe  des  Gesichtes  u.  s.  w.  ein.  Eisumschläge, 
wiederholtes  Aderlafs,  Btutegel,  Blasenpflaster  in  den 
Nacken,  Salut,  natri  mit  Nitrum,  brachten  indefs  bis  zum 
5ten  Tage  bedeutende  Milderung  der  Zufälle  hervor.  Nach 
einigen  Tagen  bildete  sich  indessen  eine  Gesichtsrose  aus» 
worauf,  als  diese  ungestört  verlaufen  war,  völliges  Wohl¬ 
befinden  bei  dem  Kranken  eintrat. 

Die  Wunden,  welche  fortwährend  gut  geeitert  hat¬ 
ten,  wurden  geheilt,  und  der  Patient  entlassen. 

48.  Johann  Wunsch,  Schneidergeselle ,  40  J.  alt. 
Patient  erhielt  in  einem  Streite  mehre  Faustschläge  in  die 
Schläfengegend,  und  wurde  mit  dem  Hinterhaupte  so  hef¬ 
tig  auf  das  Steinpflaster  niedergeschleudert,  dafs  er  2  Stun¬ 
den  lang  besinnungslos  liegen  blieb.  49  Stunden  darauf, 
den  27.  April  1831,  kam  Pat.  zur  Anstalt. 

Auf  der  linken  Seite  des  Hinterhauptbeines  war  eine 
ungefähr  anderthalb  Zoll  lange,  von  oben  nach  unten  ge¬ 
hende  Wunde.  Da  rings  um  dieselbe  die  Kopfhaut  stark 
angeschwollen  war,  so  wurde  ein  Kreuzschnitt  gemacht, 
worauf  man  den  darunter  liegenden  Knochen  unverletzt 
fand.  In  der  rechten  Schläfengegend  war  eine  nach  den 
Faustschlägen  entstandene  bedeutende  Geschwulst. 

Das  Allgemeinbefinden  des  Kranken  war  gut.  Er  war 


168 


111.  Kopfverletzungen. 


bei  völliger  Besinnung,  und  klagte  nur  über  Schmerz,  in 
der  rechten  Schläfengegend.  Erbrechen  war  nicht  einge¬ 
treten,  wiewohl  Patient  Uebclkcitcn  empfand.  Es  wur¬ 
den  nach  einer  \  enäsection  kalte  Umschläge  über  den  Kopf, 
und  innerlich  Solut.  Natri  sulph.  verordnet,  bei  welcher 
Behandlung  sich  Pat.  sehr  wohl  befand.  Am  ersten  Mai 
stellte  sich  aber  gegen  Mittag  deutliches  Fieber  ein,  das 
gegen  Abend  bedeutend  exacerbirtc,  und  erst  gegen  Mit¬ 
ternacht  remittirte;  dabei  war  der  Kranke  weniger  besinn¬ 
lich,  mehr  apathisch,  klagte  über  Kopfschmerz,  und  hatte 
in  der  Nacht  mehrmals  ein  bitteres,  galliges  Erbrechen. 
Eine  Venäsection  von  1J  Pfund  und  Solut.  von  Glau¬ 
bersalz  mit  Nitrum  wurden  mit  Erfolg  angewandt.  Drei 
Tage  darauf  bildete  sich  ein  Erysipelas  faciei  aus,  gegen 
weiches  ,  da  das  Kopfleiden  ganz  verschwunden  war,  ein 
Brechmittel  mit  dem  besten  Erfolg  angewandt  wurde.  Mit 
der  Abnahme  der  Geschwulst  im  Gesichte,  schwanden 
auch  das  Fieber  und  die  gastrischen  Symptome,  und  Pat. 
befand  sich  darauf  ganz  wohl.  Die  Wunde,  welche  durch 
eingelegte  Charpie  offen  erhalten  war,  eiterte  gut,  und 
wurde  endlich  bei  einfachem  Verbände  geheilt.  Patient 
verliefe  die  Anstalt  aiu  24.  Mai. 

49.  Fricdr.  Daberietz,  Maler,  41  J.  alt,  aus  Ber¬ 
lin,  ward,  als  er  sich  von  einem  Falle  wieder  aufrichten 
wollte,  durch  die  Deichsel  eines  schnell  fahrenden  Wagens 
wieder  zu  Boden  geworfen,  und  dabei  vielfach  verletzt. 
vSein  Zustand  war  folgender:  Uebcr  dem  linken  Auge,  ge¬ 
rade  über  dem  Orbitalrande,  war  eine  nicht  tief  cindrin- 
geude  Wunde  von  1  Zoll  Länge,  unter  demselben  Auge, 
am  unteren  Orbitalrande,  ebenfalls  eine  nur  kleine  Exco- 
riation.  Der  rechte  Oberarm  und  die  rechte  Hand  waren 
bedeutend  gequetscht,  weniger  der  linke  Unterschenkel; 
keiner  der  Knochen,  weder  das  Os  frontis,  Os  maxill. 
superius,  Os  brachii  und  der  Handknochen  waren  gebro- 


III.  Kopfverletzungen.  169 

eben.  Das  linke  Auge  war  wegen  der  heftigen  Geschwulst 
geschlossen,  dasselbe  war  unverletzt.  —  Da  der  Kranke 
sich  im  trunkenen  Zustande  befand,  so  konnte  er  über  den 
Hergang  des  Unglücksfalles  nicht  genügende  Auskunft  ge¬ 
ben,  was  er  jedoch  am  folgenden  Tage,  nachdem  er  sei¬ 
nen  Rausch  verschlafen,  vollkommen  zu  thun  im  Stande 
war.  —  Es  wurden  sogleich  20  Blutegel  an  den  rechten 
Arm  und  Hand  gelegt,  eine  Yenäsection  von  1  Pfund  ge¬ 
macht,  darauf  kalte  Umschläge  auf  den  Kopf,  Arm  und 
Hand,  und  innerlich  eine  Solut.  Natr.  sulph.  mit  Nitr.  ge¬ 
reicht.  In  den  folgenden  Tagen  mufste  dem  Kranken  der 
mäfsige  Genufs  von  Branntwein  gestattet  werden,  da  die 
Vorboten  des  Delir,  tremens  sich  schon  zeigten;  nichts 
destoweniger  ward  die  Method.  antiphlogistica  in  ihrem 
ganzen  Umfange  noch  fortgesetzt. 

\ 

Den  zehnten  Tag  nach  geschehener  Verletzung  fing 
Patient  an  sehr  unruhig  zu  werden,  bekam  einen  stieren 
Blick,  und  sprach  viel  und  lebhaft.  Da  gegen  Abend  diese 
Erscheinungen  bedeutend  Zunahmen,  so  wurde  ein  Aderlafs 
von  8  Unzen  gemacht,  und  innerlich  Calomel  zu  4  Gran 
gegeben.  Seine  Unruhe  dauerte  jedoch  die  ganze  Nacht 
hindurch,  und  da  eine  Metastase  auf  das  Gehirn  befürch¬ 
tet  ward,  so  bekam  er  kalte  Umschläge  auf  den  Kopf, 
des  Nachmittags  10  Eimer  kaltes  Wasser  als  Uebergiefsung, 
und  3  Eimer  als  Sturzbad  auf  den  Kopf,  in  einem  war¬ 
men  allgemeinen  Bade  sitzend.  Nach  dieser  Application 
bekam  er  starke  Vesicatoria  in  den  Rücken  und  auf  die 
Waden ,  cufserdem  innerlich  die  Calomelpulver. 

An  den  folgenden  Tagen  ward  Patient  ruhiger,  und 
hatte  seine  Besinnung;  die  Vesicatorc  hatten  gut  gezogen, 
und  die  Wunden  wurden  reizend  verbunden,  um  die  Se- 
cretion  zu  unterhalten.  Des  Abends  erhielt  er:  Inf.  ilor. 
Sambuci  mit  Spir.  Minderen  und  Vin.  stib.  Hierauf  nahm 
die  Besserung  des  Kranken  täglich  zu,  die  Wunden  heil- 


170  IIL  Kopfverletzungen. 

ten  ohne  bedeutende  Entstellung,  und  Patient  wurde  ge¬ 
heilt  entlassen. 

50.  Charlo  tte  Zellmcr,  eine  30jährige,  kräftige  Frau, 
war  mit  der  Stirn  gegen  eine  Badewanne  gefallen,  und 
ohnmächtig  liegen  gehliehen.  Beim  Erwachen  fühlte  sie 
dumpfen  Kopfschmerz,  Schwindel,  Neigung  zum  Erbre¬ 
chen.  Eiu  bald  nachher  angestelltcs  Adcrlafs  brachte  zwar 
einige  Erleichterung,  aber  die  Beschwerden  wurden  hin¬ 
nen  24  Stunden  wieder  ärger,  und  cs  trat  ein  starkes 
Fieber  hinzu.  Am  dritten  Tage  kam  die  Kranke  in  die 
Charite.  Sie  hatte  neben  dem  Tuber  frontale  der  rechten 
Seite,  und  zwar  nach  aufsen,  eine  gerade  herablaufende, 
gequetschte,  über  einen  Zoll  lange,  bis  auf  das  Periost 
eindringende  Wunde  mit  entzündeten  Rändern,  deren  Um¬ 
gebung  contundirt  und  sehr  empfindlich  war.  Fieber, 
Uebelkeit,  belegte  Zunge  und  Schwindel  wurden  durch 
einige  starke  Venäsectionen ,  mehrmaliges  Ansetzen  vieler 
Blutegel,  kalte  Umschläge  und  abführende  Salze,  so  wie 
durch  das  einige  Tage  nachher  reichlich  gegebene  Calo- 
mcl,  bald  zu  bedeutender  Besserung  gebracht.  Doch  ent¬ 
stand  eine  sehr  starke  Salivatiou  mit  heftiger  Anschwel¬ 
lung  der  Schlingwerkzcuge,  wozu  obnmachtähnlichc  Zu¬ 
fälle  und  Fieber  hinzutrateu.  Nach  zweckmäfsiger  Be¬ 
kämpfung  dieses  neuen  Ucbcls,  wurde  die  zurückbleibcnde 
Geschwulst  der  Zunge  sehr  glücklich  durch  Betupfen  mit 
Höllenstein  gehoben.  Die  Kopfwunde,  welche  während 
dieser  Zeit  mittelst  eines  Kreuzschnittes  erweitert  worden 
war,  um  keine  Eitersenkung  entstehen  zu  lassen,  heilte 
bei  dem  einfachsten  Verbände,  so  dafs  die  Kranke  nach 
einer  vierwöcheutlichen  Behandlung  vollkommen  herge- 
stellt  war. 

51.  Carl  Koch,  23  J.  alt,  ein  kräftiges,  plcthorischcs 
Subjcct,  erhielt  Abends  mit  Knütteln,  wie  er  glaubt, 
mehre  Schläge  auf  den  Kopi,  und  wurde  noch  obeuein 


III.  Kopfverletzungen.  '  J  7 1 

mit  Sporen  getreten,  so  dafs  er  betäubt  zu  Boden  gesun¬ 
ken.  Er  kam  nach  fünf  Minuten  wieder  zu  sieb,  blutete 
wenig,  und  da  die  Blutung  ärger  ward,  so  liefs  ein  geru¬ 
fener  Arzt  kalte  Umschläge  machen.  Als  der  Kranke  zur 
Charite  kam,  war  sein  Zustand  folgender: 

Die  Weichtbeile  des  behaarten  Kopfes  waren,  wie 
auch  noch  die  Scheitelgegend  besonders,  angeschwollen 
und  empfindlich.  Sieben  Wunden  zeigten  sich  auf  dem 
abgeschorenen  Scheitel,  wovon  die  gröfste  zwei  Zoll  lang 
und  mitten  auf  dem  Scheitel  bis  auf  den  Knochen  ging, 
wo  dieser  i  Zoll  lang  zu  fühlen  war.  Die  anderen  Wun¬ 
den  gingen  nicht  bis  auf  den  Knochen.  —  Aufserdem 
waren  noch  unbedeutende  Quetschungen  und  kleine  Risse 
auf  dem  Kopfe.  Brüche  der  Schädelknochen  waren  nicht 
wahrzunehmen,  auch  keine  Gehirnaffectionen.  —  Es  wur¬ 
den  sogleich  kalte  Umschläge  über  den  Kopf  gemacht, 
welche  so  lange  fortgesetzt  wurden,  bis  die  Wunden,  bei 
übrigem  vollen  Bewufst-  und  Wohlsein  des  Kranken,  an- 
fiugen  zu  eitern. 

* 

Der  jetzt  angewandte  einfache  Verband  wurde  einmal 
mit  Vin.  camphor.  aufgelegt,  wegen  Schlaffheit  der  Wun¬ 
den,  und  eine  consensuelle  Narbeuansch wellung  verlor  sich 
bald  wieder.  Der  Kranke  wurde  geheilt  entlassen. 

52.  Fr.  Pabathan,  34  J.  alt,  ein  kräftiger  Mann, 
erlitt  durch  einen  Sturz  von  einem  Wagen  auf  das  Stein¬ 
pflaster  eine  Verletzung  des  Hinterhauptes.  Bei  der  Un¬ 
tersuchung  nach  mehren  Tagen  fand  sich  eine  Geschwulst 
von  der  Gröfse  einer  Wallnufs,  und  in  der  Mitte  eine 
Wunde  von  anderthalb  Zoll  Länge,  durch  welche  man 
den  Knochen  vom  Periost  entblöfst  fühlte.  Ungeachtet 
der  strengsten  antiphlogistischen  Behandlung  bildete  sich 
eine  Rose  aus,  welche  zuerst  den  ganzen  behaarten  Theil 
des  Kopfes  eiunahm,  und  sich  dann  auch  über  das  Gesicht 
verbreitete.  Die  Augen  waren  durch  die  kugelförmig  auf¬ 
getriebenen  Lider  völlig  zugeschwollen,  und  das  Auseheu 


172 


III.  Kopfverletzungen. 

des  Kranken  höchst  frappant.  Dabei  war  heftiges  Fieber, 
und  mit  Delirien  abwechselnder  Sopor  vorhanden.  Unge¬ 
achtet  des  Nachlassens  der  Rose  dauerte  der  aflicirte  Zu¬ 
stand  des  Gehirns  fort.  Die  Kopfschwartc  hatte  sich  in 
einem  weiten  Umkreise  vom  Knochen  getrennt,  so  dafs 
mehre  Einschnitte  nölbig  wurden,  um  denselben  zu  ent¬ 
leeren.  Allmählig  verschwanden  alle  bedenklichen  Sym¬ 
ptome,  das  Bewufstsein  kehrte  wieder,  die  Haut  schuppte 
sich  vom  ganzen  Kopfe  ab,  die  Wunden  begannen  üppig 
zu  granuliren,  und  heilten,  ohne  dafs  sich  ein  Kuochen- 
stück  abgestofsen  hätte.  Die  ganze  Krankheit  dauerte  bei¬ 
nahe  drei  Monate. 

53.  Carl  Maconi,  22  J.  alt.  Patient  wurde  mit  ei¬ 
nem  Kloben  IIolz  in  das  Gesicht  geschlagen,  worauf  er 
betäubt  zu  Boden  fiel.1  Der  Schlag  hatte  eine  Quetsch¬ 
wunde  von  1|-  Zoll  auf  der  rechten  Backe,  wie  cs  scheint 
ohne  Verletzung  der  Ilartthcile  veranlafst,  dem  eine  be¬ 
deutende  Anschwellung  des  ganzen  Gesichtes  folgte.  — 
Durch  den  Fall  während  der  ersten  Betäubung  zog  sich 
Patient  eine  Wunde  auf  dem  Hinterkopfe  zu,  etwas  über 
der  Protuberantia  occipitalis,  von  ungefähr  1  Zoll  Länge, 
welche  ziemlich  stark  blutete  und  eine  bedeutende  An¬ 
schwellung  der  Wcichtheilc  veranlagte,  die  sehr  schmerz¬ 
haft  bei  der  Berührung  war.  Eine  Verletzung  des  Kno¬ 
chens  war  nicht  bemerkbar.  Der  Kranke  befand  sich  in 
ciuem  fieberhaft  aufgeregten  Zustande,  der  Puls  war  fre¬ 
quent,  voll  und  hart,  w’eshalb  eine  Veuäsection  von  1  Pf. 
gemacht  wurde.  Innerlich  erhielt  er  eine  Solut.  natri  sul- 
phur.,  und  über  den  Kopf  kalte  Umschläge.  —  Unter 
diesen  letzten  erfolgte  sehr  bald  Resorption  des  ergossenen 
Blutes,  doch  bildete  sich  ein  kleines  fistulöses  Geschwür 
auf  dem  Ossc  zygomatico,  welches  aber  durch  Touchircn 
mit  Höllenstein  bald  verheilte.  —  Da  sich  eine  kleine 
Eitcrscnkuüg  in  der  Wunde  am  Hinterkopfe  gebildet  hatte, 


> 


III.  Kopfverletzungen.  173 

so  wurde  dieselbe  durch  einen  Kreuzschnitt  erweitert  und 
die  Eiterfläche  blofsgelegt,  und  nachdem  bei  trockenem 
Verbände  eine  gute  Granulation  eintrat,  diese  durch  Ung. 
basilicum  unterstützt.  Die  Heilung  ging  nun  so  rasch  vor 
sich,  dafs  nur  eine  kleine  Stelle  noch  wund  war,  die  Pa¬ 
tient  aber  nicht  für  wichtig  genug  hielt,  um  noch  länger 
in  der  Anstalt  zu  bleiben. 

i  ^ 

54.  Heinrich  Jaschinski,  29  J.  alt,  wurde  mit 
einem  stumpfen  Instrumente  an  den  Kopf  geschlagen,  und 
fiel  bewufstlos  nieder.  —  Die  rechte  Seite  des  Gesichtes 
war  bedeutend  angeschwollen  und  suggillirt,  vorzüglich  die 
Augenlieder.  Auf  der  rechten  Seite  des  Stirnbeines,  dicht 
über  dem  Augenhöhlenrande,  zeigte  sich  eine  gerissene, 
gequetschte,  in  zwei  Schenkel  auslaufende  Wunde.  Der 
eine,  am  Augenhöhlenfortsatze  des  Stirnbeines  anfangende 
Schenkel,  war  2^  Zoll  lang,  klaffte  anfangs  1  Linie  breit, 
weiter  hinauf,  nach  oben  und  innen  verlaufend,  \  Zoll 
weit  auseinander,  und  drang  bis  auf  den  Knochen.  Der 
zweite  Schenkel,  von  innen  nach  aufsen  und  oben  lau¬ 
fend,  in  einem  Winkel  von  ungefähr  60  Grad  mit  dem  vo¬ 
rigen,  drang  nur  bis  auf  den  Muscul.  frontalis  und  einen  klei¬ 
nen  Theil  des  temporalis.  Der  Hautlappen  konnte  zurück¬ 
geschlagen  werden;  Spuren  von  Verletzung  des  Knochens 
waren  nicht  da. 

Gleich  nach  der  Verletzung  befand  sich  der  Kranke 
gut;  dann  klagte  er  über  Schmerz,  faden  Geschmack  und 
Hitze.  Der  Puls  war  frequent,  voll,  härtlich;  die  Zunge  be¬ 
legt,  die  Respiration  frequent.  Man  machte  eine  Venäsection 
von  1  Pfund,  und  gab  eine  Solut.  natri  sulphur.  und  Eis¬ 
umschläge.  Die  Nacht  war  leidlich.  Den  folgenden  Tag 
war  der  Puls  grofs  und  frequent,  und  die  Respiration  kurz 
und  abgestofsen;  die  Geschwulst  war  bedeutend,  und 
wurde  durch  Blutegel  gemäfsigt.  —  Symptome  und  tie¬ 
fere  Leiden  fehlen  gänzlich,  und  das  Be^vufstsein  ist  un- 


i 


174 


III.  Kopfverletzungen. 

gestört.  —  Später  wurde  ein  einfacher  Verband  angelegt, 
der  Lappen  heilte  vollkommen  an;  und  cs  erfolgte  Hei¬ 
lung  und  Vernarbung. 

55.  Wilhelm  Licrcowski,  28  J.  alt.  Durch  einen 
Fall  auf  den  mit  Quadersteinen  bedeckten  Flur,  hatte  Pa¬ 
tient  sich  eine  Verletzung  zugezogen  —  wobei  im  ersten 
Augenblicke  die  Symptome  einer  Commotio  cercbri  sich 
zeigten;  —  und  so  ward  er  denn  auch  der  Charite  über¬ 
geben.  —  Hier  gelang  es  den  Acrzten  bei  der  näheren 
Untersuchung,  die  affectirte  Geistesabwesenheit  zu  erken¬ 
nen,  thcils  durch  Drohungen,  thcils  durch  Zureden.  Die 
Wunde  war  nur  unbedeutend,  wurde  durch  eine  ge¬ 
wöhnliche  antiphlogistische  Behandlung  geheilt,  und  der 
Kranke  am  30.  Juli  1831  entlassen. 

56.  Albcrtinc  Dasselmann,  aus  Königsberg,  Sol¬ 
datentochter,  16  J.  alt,  von  kräftiger  Constitution  und  ple- 
tborischem  Habitus,  ward  am  21.  Juli  von  einem  Steine 
auf  den  Kopf  getroffen,  welcher  drei  Stockwerke  hoch  her¬ 
unterfiel  und  sie  zu  Boden  warf.  Sie  blieb  anderthalb  Stun¬ 
den  besinnungslos  liegen,  und  weifs  auch  nicht,  was  einige 
Zeit  darauf  mit  ihr  vorging.  Den  darauf  folgenden  Nach¬ 
mittag  hatte  sie  fortwährend  Uebelkeit  und  Erbrechen.  Sie 
kam  am  22.  Juli  zur  Anstalt,  mit  einer  Wunde  am  An- 
gul.  lambdoidcus  oss.  occipitalis,  welche  den  Knochen  ent- 
blöfst  hatte.  Der  Knochen  war  aber,  wie  ein  gemachter 
Kreuzschnitt  zeigte,  nicht  verletzt.  Das  Gesicht  war  auf¬ 
gedunsen,  geröthet.  Sie  klagte  über  Druck  in  der  Nieren¬ 
gegend;  daher  innerlich:  Nitrum  mit  Natrum  sulph.,  Salz¬ 
säure;  auf  die  Wunde:  Charpie  und  eiskalte  Ucberschlägc; 
unter  das  Getränk:  Crcmor  Tartar,  mit  Zucker. 

Eä  stellte  sich  Oeffnung  ein,  der  Kopfschmerz  schwand, 
der  frequente,  unterdrückte,  gespannte  Puls  ward  normal. 
Allmählig  wurden  die  kalten  Ucberschläge  ausgesetzt,  die 
etwas  schlaff  gewordene  Wunde  mit  Chamomillcn  -  Infus, 
bedeckt,  bis  sich  gute  Granulation  cinstcllte;  dann  ward 


[II.  Kopfverletzungen.  175 

die  Wunde  blofs  trocken  mit  Charpie  verbunden,  die  wu¬ 
chernde  Granulation  hierauf  wieder  mit  Lapis  infernalis 
touchirt.  Die  Vernarbung  schritt  gut  fort,  und  es  war 
nur  noch  ein  kleiner  Thcil  der  W’unde  offen,  als  die 
Patientin  auf  ihren  Wunsch  entlassen  wurde. 

57.  Friderike  Genzer,  Arbeitsfrau,  42  J.  alt.  Pa¬ 
tientin  war  von  kräftigem  Körperbau,  kam  am  3.  Octo- 
ber  1829  früh  um  4  Uhr  in  die  Anstalt,  da  ihr  in  der 
vergangenen  Nacht  (11  Uhr)  am  Kopfe  und  dem  linken 
Arme  mehre  Verletzungen  mittelst  eines  faustgrofsen,  in 
ein  Tuch  gewickelten  Steines  beigebracht  worden  waren. 
Eine  genaue  Untersuchung  ergab  indessen,  dafs  selbst  die 
tiefste  Wunde,  über  der  Mitte  des  Orbitalrandes  des  rech¬ 
ten  Auges,  nicht  über  3  bis  4  Linien  tief  eindrang.  In 
der  Nähe  des  linken  Ellenbogens,  am  Ober-  und  Vorder¬ 
arme,  zeigte  sich  eine  bedeutende  Quetschwunde  mit  ober¬ 
flächlicher  Schwappung  der  Haut  und  einer  schon  bei  lei¬ 
ser  Berührung  ziemlich  schmerzhaften  Geschwulst.  Eine 
Verletzung  der  Knochen  war  au  keiner  Stelle  bemerkbar. 
Das  Allgemeinbefinden  der  Kranken  war  bei  ihrer  Auf¬ 
nahme  ganz  ungetrübt. 

Ein  Aderlafs  am  ersten  Tage  von  \\  Pfund,  am  fol¬ 
genden  von  1  Pfund,  Blutegel  an  den  Kopf,  kalte  Ueber- 
schläge  über  denselben  und  der  Gebrauch  von  Calomel 
(2  Gran  alle  2  Stunden,  zwei  Tage  lang  fortgesetzt,  bis 
zu  den  Prodromen  des  Ptyalismus)  verhüteten  jedes  beun¬ 
ruhigende  Symptom  und  jede  Entzündung.  Eine  später 
(am  6ten  Tage)  durch  die  eintretende  Menstruation  erzeugte 
Aufregung  de3  Gefäfssystemes,  wurde  schnell  durch  eine 
Solut.  vou  Nitrum  sulphuricum  mit  Tart.  stib.  und  ein 
reizendes  Fufsbad  beseitigt.  Die  Heilung  der  Wunden  ging 
glücklich  von  statten,  und  als  auch  die  letzte  Wunde  über 
dem  Orbitalrande  wieder  durch  Verband  mit  Ung.  basilic. 
vernarbt  war,  wurde  die  Kranke  am  20.  October  als  ge¬ 
heilt  entlassen. 


176  III.  Kopfverletzungen. 

58.  Carl  Ross  eck,  20  J.  olt.  Kurz  vor  seiner  An¬ 
kunft  war  der  kräftige,  etwas  hagere  Kranke,  seiner  Aus¬ 
sage  nach,  vom  dritten  Stock  auf  einen  Haufen  Steine  und 
Holz  herabgcfallen,  hatte  jedoch  sogleich  wieder  aufstc- 
hen  und  den  Weg  nach  der  Anstalt  zu  Fufsc  machen  kön¬ 
nen.  Erbrechen  war  auf  den  Fall  nicht  erfolgt.  Es  fan¬ 
den  sich  durchaus  keine  Erscheinungen  von  Gehirnleiden, 
sondern  blofs  eine  drei  Zoll  lange,  nach  dem  grofseu 
Durchmesser  des  Kopfes  verlaufende  Wunde  auf  dem  lin¬ 
ken  Scheitelbeine,  welche,  ihrer  scharfen  Ränder  wegen, 
ganz  einer  Hiebwunde  glich,  und  nur  die  Schädelbedcekun- 
gen  durchdrungen  halte;  doch  waren  diese  in  bedeuten* 
dem  Umfange,  besonders  nach  der  Schläfe  hinab,  vom  Pe- 
ricranium  gelöst.  Die  anfangs  noch  bedeutende  Blutung, 
dauerte  in  geringem  Grade  noch  fort.  Verletzungen  an¬ 
derer  Körpertheile  fänden  sich  nicht.  Die  Wuude  ward 
sogleich  durch  einen  quer  durchgeführten  Schnitt ,  so  weit 
die  Ablösung  sich  erstreckte,  in  eine  Kreuzwunde  ver¬ 
wandelt,  und  Charpie  hineingeschoben.  Auf  die  ganze 
leidende  Seite  des  Kopfes  wurden  kalte  Umschläge  ge¬ 
macht,  aufserdem  zwei  Pfund  Blut  aus  dem  Arme  abge¬ 
lassen,  und  innerlich  eine  Solut.  Na  tri  sulph.  gereicht. 

Die  Schnittwunde,  anfangs  mit  trockener  Charpie  ver¬ 
bunden,  nahm  nach  einigen  Tagen  ciu  übclcs  Ansehen  an; 
nach  Anwendung  des  Chlorkalks  erfolgte  jedoch  die  Rei¬ 
nigung  des  Geschwürs  in  kurzer  Zeit.  Zur  Beförderung 
der  Granulation  wurde  dasselbe  immer  anfangs  mit  Cam- 
pherweiu,  darauf  wiederum  mit  trockener  Charpie  ver¬ 
bunden,  und  zuletzt  der  Vernarbunsprozefs  durch  Touchiren 
mit  Lap.  infernal,  und  Auflegen  vou  Charpie  cingcleitct, 
vor  dessen  gänzlicher  Vollendung  der  Kranke,  auf  eigenes 
Verlangen,  als  geheilt  die  Anstalt  verliefs. 


IV. 


IV.  Flcckfieher. 


177 


iv. 

Beiträge  zur  Geschichte  der  Epidemieen. 

Von 

Dr.  J.  Rosenbaum, 


Lange  Zeit  hindurch  war  der  ärztliche  Forschungs¬ 
geist  in  Hinsicht  auf  die  epidemischen  Krankheiten  in  einen 
sorglosen  Schlummer  versunken,  höchstens  waren  Pocken 
und  einige  andere  einzelne  Leiden  der  Gegenstand  seiner 
Beschäftigungen  gewesen ,  und  auch  hier  entfernte  man 
sich  bald  von  der  geschichtlichen  Bahn,  um  desto  freier 
sich  in  dem  Gebiete  der  Theorie  ergehn  zu  können,  bis 
endlich  die  Cholera  auftrat,  sich  zum  Charakter  einer 
VVeltseuche  emporschwingend.  Vergebens  mühte  sich  die 
Theorie  ab,  eine  Erkenntnifs  zu  affectiren;  wie  sehr  sie 
sich  auch  wandte  und  sträubte  —  die  Mifsgriffc  die  sie  jeden 
Augenblick  beging,  zwangen  sie  endlich  zu  dem  Gestäud- 
nifs,  dafs  sie  Führerlos  auf  unbekannten  Wegen  wandle, 
und  sie  bei  ihren  kühnen  Sprüngen  eine  Lücke  hinter  sich 
gelassen,  die  nicht  sogleich  auszufüllen  war.  Allerdings 
fehlte  es  nicht  ganz  an  Hülfsmitteln,  die  wenigstens  für 
den  ersten  Anlauf  einigen  Anhalt  darbieten  konnten,  allein 
diese  waren  bisher  meistens  so  unberücksichtigt  geblieben, 
dafs  sie  ein  grofser  Theil  kaum  den  Namen  nach  kannte, 
und  selbst  eines  derselben  dadurch  der  Zernichtung  Preis 
gegeben  war;  wir  meinen  Webster’ s  Werk  *),  das,  auf 
Kosten  des  Verfassers  gedruckt,  weil  es  nicht  gekauft 
ward,  den  Weg  der  Maculatur  wandeln  mufste,  so  dafs 
sich  kaum  noch  einige  Exemplare  erhalten  haben.  Eiues 
viel  besseren  Schicksals  hatten  sich  auch  die  Werke  von 


1)  A  brief  history  of  epidemic  and  pestilential  disea¬ 
ses,  etc.  by  Noah  Webster.  2  Voll.  Hartford,  1799.  8. 

Band  28.  Heft  2.  12 


178 


IV.  Fleckfieber. 


Villa  Iba,  Ozanam  und  Schnurrcr  nicht  zu  erfreuen, 
welches  letzte  namentlich,  ungeachtet  seiner  vielfachen 
Mängel,  doch  seine  Vorgänger  ziemlich  gut  benutzt  hat, 
und  so  wenigstens  einigermaafsen  einen  Anhaltspunkt  dar- 
hictet.  Bei  einer  solchen  Lage  der  Dinge  war  es  ein 
durchaus  zeitgemäfses  Unternehmen  des  Herausgebers  die¬ 
ser  Annalen,  dafs  er  das  ärztliche  Publikum  auf  diese 
Schwäche  der  Litteratur  aufmerksam  machte,  und  ihr  seit 
der  Zeit  durch  eigenes  Beispiel  kräftig  entgegenzuwirken 
strebte.  Die  Masse  der  Gegenstände  ist  aber  zu  grols  für 
die  Kraft  des  Einzelnen,  und  die  Ilülfsmittcl  oft  so  zer¬ 
streut  und  unzugänglich ,  dafs  die  Ilerbeischaffung  der  letz¬ 
ten  schon  nicht  ganz  unvcrdicnstlich  sein  kann;  um  so 
mehr,  wenn  dadurch  gleichzeitig  alte  eingewurzelte  Irr- 
thüiner  berichtigt  werden.  Solch  einen  Zweck  nun  sollen 
gegenwärtige  Beiträge  haben;  mögen  sie  denen  als  Bau¬ 
steine  dienen,  welche  einen  Thcil  des  grofsen  Gebäu¬ 
des  ausfüllen  sollen;  nicht  jeder  kann  ja  nach  Corinth 
reisen!  Wenn  irgend  aber  eine  epidemische  Krankheit  in 
geschichtlicher  Hinsicht  Geist,  Gelehrsamkeit  und  Ausdauer 
im  Forschen  erfordert,  so  sind  es  sicher  die  Pctechialfic- 
berepidemie»  u ,  welche  trotz  einzelner  schätzbaren  Bemü¬ 
hungen,  noch  immer  sehr  im  Argen  liegen,  da  sic  durch 
die  nur  zu  häufigen  Verwechselungen  mit  der  Pest  ira 
löten  und  ITten  Jahrhundert  in  eine  fast  babylonische  Ver¬ 
wirrung  gerathen  sind,  und  ein  Labyrinth  darstellen,  zu 
dessen  sicherer  Durchwandlung  der  Faden  der  Ariadne 
nicht  so  leicht  zu  finden  sein  möchte.  Sic  sollen  uns  da¬ 
her  zunächst  beschäftigen,  und  so  Gelegenheit  darbicten, 
den  Auszug  aus  einigen  Schriften  mitzutheileu ,  die  in  viel¬ 
facher  Hinsicht  einander  ähnlich  sind.  Indem  sie  unter 
dem  Namen  Purpura  zwei  Pctechialflebcrepidemicen  be¬ 
schreiben,  hat  man  sie  beide  lange  Zeit,  durch  den  aller¬ 
dings  zweideutigen  Titel  verleitet,  fast  allgemein  zur  Con- 
statirung  von  Frieselficberepidemieeu  benutzt  (Ploucquet, 
\  ogcl,  Jos.  Frank  und  andere),  was  zum  Theil  die  Sei- 


IV.  FJcckfieber. 


179 


tenheit  der  Quellen  entschuldigen  mag.  Schon  aus  Spren¬ 
gel^  Geschichte  der  Arzneikunde,  Bd.  3.  S.  239,  hätte 
man  sich  wenigstens  in  Bezug  auf  die  erste,  gleich  zu  er¬ 
wähnende,  eines  Besseren  belehren  können.  Vogel  giebt 

gar  das  Jahr  des  Eischienenseins  derselben  als  das  der  Epi- 

* 

demie  an!  Doch  gehen  wir  jetzt  zur  näheren  Angabe  die¬ 
ser  Monographie  selbst  über.  Sie  erschien  unter  folgen¬ 
dem  Titel: 

i 

Joannis  Coyttari,  Thaerei  Alnisiensis,  consiliarii  et 
medici  regii:  De  Febre  purpura  epidemiali 
et  contagiosa  Lib.  II.  Ad  Illustrissimum  Anti- 
stitem  Baptistam  Tiercellinum,  Episcopum  Lucionen- 
sem,  D.  Kochaemanae.  Parisiis  apud  Martinum  Juvi- 
nem,  via  S.  Jo.  Lateranensis  ad  insigne  Serpentis. 
1578.  4. 

Das  was  der  Titel  giebt,  ist  auch  fast  alles,  was  wir 
über  den  Verfasser  selbst  wissen,  der  übrigens  nicht,  wie 
öfters  geschehen,  mit  dem  allerdings  gleichzeitig  zu  Nürn¬ 
berg  lebenden  Anatomen  Volch er  Coi ter  (1534 — 1600) 
zu  verwechseln  ist.  In  dem  Distrikte  Aunis,  dem  jetzi¬ 
gen  Departement  Niedercharente  geboren,  practicirte  Coy  t- 
tar  zu  Poitiers,  und  beobachtete  hier  und  da  in  der  Um¬ 
gegend,  vom  Mai  bis  zu  Weihnachten  des  Jahres  1557, 
eine  Petechialfieberepidemie,  welche,  wegen  Unbekannt¬ 
schaft  der  damaligen  Aerzte  mit  dieser  Krankheit,  eine 
nicht  geringe  Verheerung  anrichtete.  Die  verschiedenar¬ 
tigen  Ansichten,  welche  sich  damals  nothwendig  gleich 
anfänglich  bilden  mufsten,  bestimmten  C. ,  seine  Beobach¬ 
tungen  täglich  sorgfältig  aufzuzeichnen,  um  so  zu  einem 
bestimmten  Resultate  zu  gelangen,  und  die  Seichtigkeit 
einer  Schrift  des  Dr.  Nicolas  Michaelis,  Decans  der 
Aerzte  zu  Poitiers  (deren  nähere  Angabe  jedoch  fehlt), 
worin  zugleich  die  gröbsten  Ausfälle  auf  die  übrigen  Ge¬ 
nossen  der  Kunst  enthalten  waren,  war  die  Veranlassung 
zur  Herausgabe  der  seinigen.  Dies,  so  wie  mehres  andere. 

12* 


180 


IV.  Fleckfioher. 


was  wir  an  passenderen  Orten  einschalten  werden,  erfah¬ 
ren  wir  aus  der  Vorrede.  Die  Schrift  selbst  ist  in  zwei 
Bücher  abgcthcilt,  von  denen  das  erste  das  pathologische 
Bild  der  Krankheit,  mit  einer  Menge  zum  Theil  dem  Ge- 
genstande  etwas  fern  liegender  Deductionen  nach  Galen 
und  Avicenna  verwebt,  enthalt,  das  zweite  aber  die 
therapeutischen  Ansichten  und  Erfahrungen  des  Verfassers, 
riebst  Krankengeschichten,  darstcllt.  Ohne  uns  streng  an 
den  Gang  der  Darstellung  irn  Werke  selbst  zu  binden, 
suchen  wir  das  Gegebene  vielmehr  unter  folgende  .Rubri¬ 
ken  zu  ordnen:  1)  Witterungs-  und  Krankhcitseonstitn- 
tiou;  2)  Krankheitsbild,  Diagnose;  3)  Ursache  und  Wesen 
der  Krankheit;  4)  Therapie. 

1)  W  as  die  Witterung  und  den  Zustand  der  At¬ 
mosphäre  überhaupt  betrifft,  so  wurde  am  14.  Marz  1556 
ein  C'omct  sichtbar,  welcher  bis  z:i  Ende  dieses  Monats 
stehen  blieb.  (Forest  beobachtete  ihn  sorgfältig,  nach 
demselben  war  er  vom  28.  Februar  bis  21.  April  sichtbar. 
In  Pommern  sah  man  ihn  zuerst  den  3.  März,  Cramcri 
Pommrische  Kirchen -Chronik.  Stettin  1626.  fol.  Th.  III. 
S.  36.  Anfserdem  wurden  auch  Erdbeben,  Blutregen  und 
eine  Conjunction  der  Sonne  mit  dem  Mars  in  diesem  Jahre 
beobachtet.  Pertschii  Origincs  Voitlandiac  et  Ronside- 
liensium.  1675.  4.  S.  155.)  Eben  so  sah  man  Sonncn- 
und  Mondfinsternisse,  S.  115.  Vom  Aufgang  der  Plejaden 
bis  zum  Ilcrbstäquino^tium  herrschte  eine  brennende  Hitze, 
hierauf  regnete  es  mehre  Tage  anhaltend,  und  dann  folgte 
eine  ziemlich  heftige  Winterkälte,  welche  bis  zum  Ende 
des  Februars  1557  anhielt.  Dann  regnete  es  wieder  bis 
zum  April,  wodurch  grofsc  Nässe  entstand,  und  hier¬ 
auf  folgte  abermals  eine  ziemlich  starke  Hitze,  S.  116,  die 
m  September  von  einer  plötzlich  einlretendcn  Kälte  ver¬ 
drängt  ward,  S.  7.  (Nach  Cramcr  I.  c.  IV.  S.  110  war 
nach  der  Ernte  des  Jahres  1556  bis  zu  der  des  folgenden 
Jahres  überall,  namentlich  in  Deutschland  und  den  Nie¬ 
derlanden,  grofse  Theurung,  und  nach  Schnurrer’s  Chro- 


IV.  Flecklieber. 


1S1 


uik  der  Seuchen,  II.  S.  99,  bemerkte  man  im  Frühling  1557 
an  mehren  Orten  starke  Ueberschwemmungen.)  In  Hin¬ 
sicht  auf  Krankheitsconstitution  linden  wir  von 
C.  Folgendes  angegeben:  Im  Frühlinge  des  Jahres  1557 
herrschten  in  Poitiers  und  der  Umgebung  Masern  und 
Pocken  unter  den  jüngeren  Bewohnern,  gleichzeitig  aber 
keine  andern  Krankheiten,  mit  Ausnahme  einiger  sporadi¬ 
schen  Fälle  vn  Faulliebern,  die  aber  bei  passender  Be¬ 
handlung  meist  leicht  geheilt  wurden,  S.  4.  Gegen  den 
Mai  begann  nun  an  mehren  Orten  Purpura  zu  wüthen,  und 
den  15ten  d.  M.  brach  diese  Krankheit  auch  in  Poitiers 
aus.  (In  Italien,  namentlich  in  Florenz,  herrschte  die¬ 
selbe  Krankheit  um  diese  Zeit,  Schnurrer  1.  c.  S.  99.) 
Sic  hielt  bis  zu  Weihnachten  an,  und  verschwand  dann, 
nachdem  lange  Zeit  Nordwind  geweht  hatte,  S.  24.  Wäh¬ 
rend  die  Purpura  noch  mit  verheerender  Wuth  um  sich 
griff,  erschien  plötzlich  im  Anfänge  des  Septembers,  mit 
dem  schnellen  Eintritt  der  Kälte,  unter  dem  Volke  ein 
anstrengender,  anhaltender  Husten,  der  mit  drückendem, 
spannendem  und  klopfendem  Kopfschmerz  verbunden,  den 
Kranken  äufserst  beschwerlich  war,  der,  ohne  sie  gerade 
bettlägerig  zu  machen,  doch  von  den  gewöhnlichen  Ge¬ 
schäften  abhielt.  Das  Volk  nannte  diese  Affection  mit 
ihren  Symptomen  Coqueluche  oder  Cocceluche,  wel¬ 
che  die  Griechen  unter  dem  Namen  Cephalalgie,  die  Ara¬ 
ber  unter  Soda  beschrieben,  S.  7.  Diese  Krankheit  befiel 
gleich  anfangs  ohne  Unterschied  den  ganzen  Monat  Sep¬ 
tember  hindurch  bis  zum  15.  October  so  viele  Menschen, 
dafs  man  kaum  Tausend  fand,  die  daran  nicht  gelitten 
hätten.  Von  denen  die  C.  sah,  starb  beinahe  niemand, 
aufser  etwa  solche,  die  seit  vielen  Jahren  an  phthisischer 
Engbrüstigkeit  litten,  und  die  von  der  durch  die  Cocce- 
Iuchc  erregten  Uongestion  zu  den  Lungen,  endlich  au  der 
Auszehrung  starben,  S.  7.  NiclU  immer  war  die  Krank¬ 
heit  einfach,  sie  wurde  oft  mit  Febris  diaria,  Synochus 
non  putridus  und  Catarrhus  pulmonum  verbunden  beob- 


182 


IV.  Fleckficber. 


achtet.  C.  versprach  zwar,  zu  Ende  des  Werkes  die  Be¬ 
handlungsart  der  Coqucluehe  anzugeben,  allein  es  findet 
sich  nichts  davon  vor,  wahrscheinlich  weil  er  dies  zum 
Gegenstände  einer  eigenen  Abhandlung  machen  wollte,  die 
er  später  mit  der  Beschreibung  der  Influenza  von  1580 
vereinigt  herausgab;  wenigstens  fuhrt  Ca  ne  re  Biblioth.  de 
la  mcd.  folgende  Schrift,  jedoch  ohne  Jahreszahl ,  von  ihm 
an:  Discours  de  la  coqucluehe  et  autres  maladies  popu- 
laires,  qui  ont  eu  cours*  ä  Poitiers  en  15S0.  Poitiers.  8. 

2)  Was  nun  die  Krankheit  betrifTt,  welche  der 
eigentliche  Gegenstand  der  Schrift  ist,  so  herrschte  sie, 
wie  gesagt,  nicht  blofs  zu  Poitiers,  sondern  auch  zu  Bo- 
cbcllc,  Angouleme,  Bordeaux,  Tours  etc.,  überhaupt  in  der 
jetzigen  Vendee,  Charente  und  Gironde,  und  zwar  na¬ 
mentlich  in  den  ersten  Monaten  mit  einer  solchen  Wuth, 
dafs  eine  Menge  Menschen  sehr  schnell,  sie  mochten  in 
ärztlicher  Behandlung  gewesen  sein  oder  nicht,  starben; 
ja  die  Zahl  der  Todteu  fast  gröfscr  war,  als  in  den  Pest¬ 
zeiten,  da  viele  schon  vor  Schreck  und  Todesfurcht  ins 
Grab  sanken,  S.  3.  Fast  alle  Mittel  zeigten  sich  anfangs 
fruchtlos,  weder  über  den  Namen,  noch  über  die  Natur 
der  Krankheit  konnte  man  einig  werden,  Aerzte  und  Volk 
wareu  in  Verzweiflung.  An  d<pi  Kranken  bemerkte  man 
aber  Folgendes:  Sie  fühlten  zuerst  grofse  Mattigkeit,  uud 
Trägheit  in  den  Gliedern;  drückenden  Kopfschmerz;  bei 
den  meisten  rötheten  sich  anfangs  die  Augen,  wenn  das  Fie¬ 
ber  heftig  war,  Bachen  und  Kehle  waren  zusannncngc- 
schniirt,  und  ein  eigentümliches  Gefühl  zwischen  den 
Schulterblättern  vorhanden.  Das  Fieber  war  anfangs  bei 
vviclen  gelinde,  sie  gingen  noch  herum  und  verrichteten 
ihre  Geschäfte;  andere  dagegen  fieberten  gleich  anfangs 
heftig,  wareu  entweder  schlaflos  und  unruhig,  konnten 
weder  sitzen  noch  gehen,  und  wollten  dennoch  vor  Un¬ 
ruhe  und  Hitze  nicht  im  Bette  bleiben;  oder  sie  waren 
comatös,  und  blichen  cs  bis  zum  Tode.  Obschon  iLie  Kran¬ 
ken  über  heftige  innere  Hitze  klagten,  so  zeigte  doch  we- 


IY.  Flecklieber. 


183 


der  Temperatur  noch  Puls  etwas  widernatürliches,  oder 
venigstens  nur  geringe  Abweichungen,  meist  fühlten  sie 
sich  vielmehr  kühl  an;  der  Puls  war  unentwickelt,  selten, 
olt  dem  gesunden  ähnlich.  Die  Zunge  war  in  den  ersten 
Tagen  sehr  rauh  und  trocken,  der  Athem  stinkend;  einige 
waren  verstopft,  andere  hatten  Durchfall,  sie  mochten  Me- 
dicin  genommen  haben  oder  nicht;  die  Sedes  waren  dünn, 
übelriechend.  Der  Urin  dünn,  wässerig,  gelblich;  ein  Enaeo- 
rem  in  der  Mitte  habend;  oft  war  er  während  der  ganzen 
Krankheit  dünn  und  crude;  öfter  noch  konnte  man  aber 
gar  kein  Urtheil  aus  demselben  entnehmen,  S.  160  —  165. 
Das  Fieber  zeigte  sich  sehr  verschieden,  und  C.  theilte 
danach,  indem  er  noch  die  Dauer  der  Krankheit  berück¬ 
sichtigte,  diese  in  verschiedene  Formen,  in  pathologischer 
und  therapeutischer  Hinsicht  ein.  Nämlich  1)  Purpura 
cum  synocho  wurde  nur  bei  jungen  Leuten,  Männern 
wie  Frauen,  beobachtet.  Die  innere  Hitze  war  hier  sehr 
grols,  Kopfschmerz  heftig;  zuweilen  auch  Schmerz  in  der 
Magen-  und  Lumbargegend,  und  an  anderen  Stellen  des 
Körpers.  Das  Gesicht  war  roth,  Durst  heftig,  Puls  un¬ 
gleich,  schnell,  häufig,  das  Athmen  erschwert,  Schmerz 
in  Schlund  und  Kehle;  hierzu  gesellten  sich  Angst,  Un¬ 
ruhe,  Delirien;  der  Urin  war  roth,  schäumend;  bei  denen, 
welche  genasen,  wurde  er  am  dritten  Tage  dick,  trübe, 
und  setzte  etwas  weifses  Sediment  ab;  am  vierten  Tage 
setzte  sich  der  Urin  schnell,  aber  das  Sediment  war  gleich- 
mäfsiger,  weifser,  und  das  Fieber  verschwand,  S.  295. 
Die  Flecken  erschienen  den  zweiten  oder  dritten  Tag, 
mit  allgemeinem  copiösen  Schweifse,  wenn  der  Ausgang 
gut  war;  mit  wenigem  und  mühsam  hervordringendem, 
wenn  die  Krankheit  tödtlich  endete,  wobei  sich  die  übri¬ 
gen  Symptome  steigerten.  Die  Krankheit  löste  sich  ent¬ 
weder  am  vierten  Tage,  oder  der  Kranke  starb,  S.  167. 
2)  Purpura  cum  febre  continua  acutiore,  dauerte 
bis  zum  siebenten  Tage.  In  den  ersten  drei  Tagen  klag¬ 
ten  die  Kranken  entweder  über  grofse  Mattigkeit  und  Ge- 


184 


IV.  FIcckfieber. 


•J 

fühl  vod  Zerschlagenheit  der  Glieder,  oder  Kopfschmerz., 
Herzensangst,  Traurigkeit;  andere  über  Schmerz  in  der 
Nierengegend,  Appetitlosigkeit,  Schlaflasigkeit  oder  schreck¬ 
hafte  Träume;  der  Puls  war  selten  und  schwach,  Urin 
dünn  und  crude,  hatte  zuweilen  gelbliches  Enaeorem.  Dies 
dauerte  bis  zum  fünften  Tage,  wo  Unruhe,  Delirien,  Brech¬ 
neigung,  selbst  Erbrechen  von  vielen  .Spulwürmern,  na¬ 
mentlich  bei  denen,  die  gleich  anfangs  über  einen  Schmerz 
in  der  Magengegend  geklagt  hatten,  eintrat.  Dann  erfolgte 
reichlicher  häutiger  Urinabgang,  so  dafs  es  schien,  als 
wollte  die  Natur  dadurch  die  Krankheit  zur  Entscheidung 
bringen.  Bald  aber  gesellte  sich  hierzu  Diarrhöe  von  stiu- 
kendeo  Massen,  S.  168.  Die  übrigen  Symptome  steiger¬ 
ten  sich  nun,  es  brach  Schweifs  auf  Stirn  und  Brust  aus, 
die  Extremitäten  wurden  kalt,  und  die  Kranken  starben. 
Bei  denen  welche  genasen,  zeigten  sich  vom  fünften  Tage 
an  des  Nachts  blande  Delirien,  während  die  Kranken  des 
Tages  über  meistens  bei  sich  waren,  dann  brach  ein  reich¬ 
licher  Schweifs  aus,  und  die  Kranken  schliefen  am  sieben¬ 
ten  Tage  und  die  folgende  Nacht  hintereinander  fort.  Auf- 
gewacht  fühlten  sie  sich  daun  wie  neugeboren ,  doch  blich 
noch  lange  grofse  Schwäche  zurück.  Zuweilen  beobach¬ 
tete  man  schon  am  dritten  oder  fünften  Tage  reichlichen 
stinkenden  Schweifs  mit  Petechialausbruch  auf  Brust  und 
Armen,  oft  auch  auf  den  Schenkeln,  was  die  Genesung  ver¬ 
kündete,  S.  169.  Selten  entschied  sich  die  Krankheit  durch 
Diarrhöe  mit  Abgang  von  Spulwürmern.  Meist  bot  der 
Urin  bei  den  Genesenden  schon  am  dritten  Tage  Zeichen 
von  Kochung  dar.  3)  Purpura  cum  febre  maligna 
continua  acuta,  dauerte  bis  zum  elften  oder  vierzehn¬ 
ten  Tage.  Diese  Form  wurde  meist  nur  bei  robusten  Sub- 
jccten  beobachtet.  Das  Fieber  war  hier  bis  zucn  seebsteu 
Tage  kaum  bemerkbar,  weder  Temperatur  noch  Puls  zeig¬ 
ten  etwas  abnormes;  die  Kranken  klagten  blofs  über  Ab¬ 
scheu  vorSpeisen,  zunehmende  Kraftlosigkeit,  Kopfschmerz, 
Schwere  in  den  Gliedern,  gingen  dunu  meist  bis  zum  sie- 


IV.  Fleckfieber. 


185 


honten  Tage  noch  herum,  und  schrieben  ihr  Unwohlsein  ge¬ 
wöhnlich  dem  Schnupfen  oder  der  Erkältung  zu.  Am  elften 
Tage  flofs  einigen  die  Nase,  oder  sie  bekamen  Diarrhöe  mit 
Abgang  von  Spulwürmern;  bei  den  meisten  erschien  dann 
copiöser  und  sehr  übelriechender  (graveolcns)  Schweifs, 
nebst  Petechien,  wobei  sich  aber  alle  Symptome  steiger¬ 
ten,  S.  171.  Die  Kranken  lagen  dann  entweder  co- 
matös  im  Bette,  oder  hatten  furibunde  Delirien,  die  auch 
den  zwölften  Tag  mit  Angst  und  heftigem  Durst  fort¬ 
dauerten;  am  dreizehnten  Tage  wollten  die  Kranken  auf¬ 
stehen  ,  bekamen  aber  bald  kalte  Schweifse  und  starben 
den  vierzehnten  Tag.  Einige  genasen  unter  starkem  Na- 
senbluteu  oder  allgemeinem  copiösen  Schweifs,  S.  172. 
Partielle  Schweifse  brachten  meist  den  Tod;  S.  296. 
4)  Purpura  cum  febre  continua  ex  accidentia 
acuta.  Hier  waren  die  Erscheinungen  wie  bei  der  Acuta, 
nur  dafs  Genesung  oder  Tod  den  17ten  oder  20sten  Tag 
erfolgte.  5)  Purpura  cum  febre  longa  et  mixta. 
Die  Krankheit  hatte  hier  anfangs  die  Gestalt  einer  Febris 
lenta,  gegen  den  14ten  oder  17ten  Tag  zeigten  sich  nicht 
selten  Spuren  von  kritischen  Bewegungen,  entweder  durch 
Ausbruch  von  Schweifs,  Nasenbluten,  Diarrhöe,  oder  häu¬ 
figen  Urinabgang,  wobei  einzelne  Flecke  ausbrachen,  S.  174. 
D  ie  Krankheit  endete  zuweilen  erst  gegen  den  34  —  40sten 
Tag  unter  profusen  Schweifsen;  nicht  selten  entstand  auch 
ein  bedeutender  Lendenabscefs,  S.  173.  Selbst  Abscesse  in 
den  Muskeln  der  epigastrischen  Gegend  beobachtete  man, 
die  leicht  für  Leberabscesse,  welche  übrigens  auch  vorka¬ 
men,  genommen  werden  konnten,  S.  290.  Meist  fiel  diese 
längere  Dauer  der  Krankheit  in  die  Monate  Juli  und  Au¬ 
gust,  S.  311.  (Also  vor  dem  Erscheinen  der  Influenza!) 
Bei  einigen  konnte  man  Tertiantypus  in  den  Exacerbatio¬ 
nen  wahrnehmen;  sie  bekamen  an  einem  Tage  zweimal 
Frost  und  Hitze,  und  am  folgenden  Tage  nicht,  S.  69. 
Niemals  erschien  aber  die  Krankheit  unter  irgend  einer  Form 
von  lutcrmitteus,  S.  70.  (Dennoch  sagt  C.  S.  314,  dafs  die 


186 


IV.  Fleckfieber. 


Krankheit  zuweilen  den  Charakter  einer  bösartigen  Iutcr- 
mittens  gehabt  habe!)  Niemals  sah  man  Epiala,  wohl 
aber  Lipyria  damit  verbunden,  was  auch  I)r.  N.  Michae¬ 
lis  in  seiner  Schrift  bemerkt,  S.  70.  Aufserdem  beobach¬ 
tete  man  auch  Hepatitis,  Nephritis,  S.  327,  und  Encepha¬ 
litis,  S.  307,  mit  der  Purpura  vergesellschaftet.  Merkwür¬ 
dig  war  die  zahlreiche  Menge  von  Spulwürmern,  welche 
durch  Mund  und  After,  bei  einigen  gleich  anfangs,  bei 
anderen  auf  der  Höhe  der  Krankheit,  oder  in  der  Zeit 
der  Krise  ausgeleert  wurden.  Nur  bei  einigen  beobachtete 
man  dies  nicht,  und  dann  fand  man  sie  meist  in  den  Lei¬ 
chen.  In  den  10  oder  12  Leichen,  welche  C.  untersuchte, 
fand  er  sie  an  verschiedenen  Orten,  im  Dickdarm,  Dünn¬ 
darm  oder  im  Magen.  Ihre  Gröfse  zeigte  deutlich,  dafs 
sie  nicht  in  einem  oder  zwei  Monaten  entstanden  waren, 
sondern  viel  früher;  denn  diese  entstehen  nur  in  dem  Men¬ 
schen,  wenn  eine  Verderbnifs  der  Säfte  vorausgegangen 
ist,  S.  138.  (Man  glaubte  nämlich  früher,  dafs  diese  En- 
tozocu  ein  Produkt  der  Krankheit  seien,  cf.  Balth.  Con¬ 
rad  de  Febr.  misc.  Ungar,  c.  10.  Selbst  Ilippocrates 
nannte  ja  daher  Fieber,  wobei  häufiger  Abgang  von  Wür¬ 
mern  statt  fand,  -rv^tTovq  und  den  Herbst,  in 

welchem  diese  Erscheinung  häufig  war, 

Vcrgl.  Foesius  ad  Hippocrat.  Sect.  VH.  p.  m.  75  Occo- 
nom.  Hipp.  s.  v.  3-n^let.  Erzählt  doch  selbst  Hercules 
Saxon.  Lib.  X.  de  plica  c.  28.,  dafs  15*19  in  der  Pannoni- 
schen  Pestilenz  Schlangen  und  Eidechsen  im  Körper  ent¬ 
standen  wären!) 

Was  nun  die  Petechien  betrifFt ,  so  äufsert  sich 
Coyttar  darüber  auf  eine  Weise,  die  gar  keinen  Zweifel 
übrig  lassen  kann,  dafs  sie,  und  nicht  Friescl,  wie  so  viele 
geglaubt  haben,  hier  das  begleitende  Symptom  waren.  Bei 
allen,  sagt  er  Seite  5,  che  sic  ihren  Geist  aufgaben,  bra¬ 
chen  Flecke  auf  der  Haut  aus,  in  Gestalt  von  Blutstropfen, 
welche  auf  den  verschiedensten  Thcilen  des  Körpers  zer¬ 
streut,  vorzüglich  Arme,  Brust  uud  Schenkel  bedeckten. 


IV.  Fleckfieber. 


187 


Es  entstand  nur  die  Frage:  waren  dies  Ueberbleibsel  von 
Mückenstichen  (pulicum  puneturae  vestigia),  oder  Pro¬ 
dukte  der  innerlich  afficirten  Elutmasse?  Ich  wusch  also, 
fährt  0.  fort,  um  hierüber  Gewifsheit  zu  erlangen,  die 
Arme  mit  lauwarhiem,  weifsen  Weine,  worin  Weizenkleie 
gekocht  war,  und  trocknete  sie  dann  ab.  Da  aber  hier¬ 
durch  nichts  abgewaschen  war,  so  strich  ich  mit  der  Hand 
sauft  über  die  Haut,  um  zu  sehen,  ob  sich  dem  Gefühle 
nicht  etwas  Rauhes,  Ungleiches,  Tumorähnliches  darbiete. 
Auch  hierbei  vermochte  ich  nichts  wahrzunehmen.  Es 
waren  nur  unter  dieser  Zeit  einige  Flecke  bleicher  gewor¬ 
den,  andere  hatten  eine  schwarze,  violette  oder  blaue 
Farbe  angenommen  (in  blaum  degenerare  intuerer).  Die 
Farbe  hielt  sich  3  bis  5  Tage,  namentlich  bei  denen,  die 
starben.  Weder  waren  es  also  Bisse  oder  Stiche  von 
Mücken,  noch  Hauteruptionen,  wie  wir  sie  bei  ebulliren- 
dem  Blute  blutreicher  Subjekte  oft  als  Begleiter  nicht  pe- 
stilenzialischer  Fieber  sahen,  und  welche  wieder  ver¬ 
schwanden,  wenn  der  Fervor  sanguineus  nachliefs.  Eben 
so  wenig  waren  es  Eruptionen,  wie  sie  bei  Leuten  er¬ 
scheinen,  bei  denen  die  Leber  sich  in  erhöheter  Thätigkeit 
befindet,  oder  das  Blut,  wenn  sie  durch  Reiben  oder  Lau¬ 
fen  erschöpft  sind;  sondern  es  waren  Flecken,  welche  die 
Alten  von  der  Aehnlichkeit  mit  Mückenstichen,  puncti- 
culae,  oder  von  der  linsenförmigen  Gestalt,  lenticulae 
nannten.  Unsere  Frauen  nannten  sie  von  der  Farbe  ma- 
culae  purpureae,  und  die  Krankheit  selbst  febris 
purpurea,  oder  schlechthin  purpurea,  welchen  Namen 
auch  die  Aerzte  beibehielten,  da  er  schon  seit  vielen 
Jahren  gebräuchlich  war,  S.  6.  Die  Gestalt  der 
Flecke  war  verschieden,  bei  einigen  waren  sie  gröfser  und 
breiter,  bei  anderen  kleiner;  seltener  oder  häufiger,  dich¬ 
ter  oder  zahlreicher,  und  erschienen  bald  schneller,  bald 
langsamer,  S.  137.  Meistens  sah  man  sie  am  4ten,  7tcn 
und  I4ten  Tage  hervorbrechen,  bei  einigen  jedoch  auch 
erst  den  lösten  (s.  Vorrede).  Auf  das  Fieber  hatte  ihr  Er- 


t 


188  IV.  F  leckfieber. 

scheinen  meistens  keinen  Eiutlufs,  nur  zuweilen  waren  sie 
bei  der  synochiselicn  Form  der  Krankheit  kritisch,  was 
auch  Prof.  Ko nd eiet  zu  Montpellier  beobachtete.  (Vorr. ) 

Die  Diagnose  der  PurpuraSjvon  Variola  und  Morbil- 
lon,  welcheS.  9—17  gegeben  wird,  so  wie  die  von  der 
Pest  S.  184  u.  185,  übergeben  wir,  da  sie  nichts  besonde¬ 
res  enthält.  Genug,  dafs  C.  namentlich  zwischen  letzter 
und  der  Purpura  einen  Unterschied  macht,  was  viele  nach 
ihm  nicht  gethan  haben. 

3)  Was  das  Wesen  der  Krankheit  bctrilTt,  so 
ist  es  eine  Febris  continua  epidemialis,  bei  der 
an  den  kritischen  Tagen  Flecke  auf  der  Ilaut  er¬ 
scheinen,  S.  46,  die  das  Produkt  einer  im  Inne¬ 
ren  sich  befindenden  giftigen  Materie  sind,  S. 45. 
Denn  der  Name  Purpura  bezeichnet  nicht  sowohl  eine 
besondere  Krankheit,  als  nur  ein  Symptom  derselben, 
S.  45.  Während  bei  der  Pest  vorzüglich  die  Lebensgeister 
ergriffen  sind,  ist  bei  der  Purpura  vorzüglich  das  Blut 
aflicirt,  und  zwar  im  Centro,  S.  1S6.  Obscbon  sic  meist, 
wie  jetzt,  nur  epidemisch  erscheint  (wir  beobachteten  sie 
mehrmals  in  unseren  Provinzen,  Vorrede),  so  wird  sie 
doch  auch  zuweilen  sporadisch  beobachtet,  wo  sie  aber 
leicht  den  passenden  Mitteln  weicht.  Ansteckend  war 
die  Krankheit  nicht,  S.  48,  da  immer  nur  einer  oder 
der  andere  aus  einer  Familie  davon  ergriffen  ward  und 
starb,  während  in  der  Pestzeit  ganze  Familien  ausstarben, 
wenn  erst  einer  ergriffen  war,  S.  45.  Dennoch  inufs  man 
sic,  wegen  der  Wuth  womit  sic  in  den  ersten  drei  bis 
vier  Mouaten  ihre  Opfer  ergriff,  einen  .Morbus  epidemialis 
pestilcns  nennen,  S.  44.  (Coyttar  scheint  aber  über  die 
Ansteckung  nicht  recht  im  Klaren  gewesen  zu  sein,  denn 
er  nennt  die  Krankheit  auf  dem  Titel  des  Werkes  eine 
Febris  contagiosa,  und  S.  44  sagt  er,  sic  sei  nicht  so  sehr 
(non  usque  adco)  ansteckend  gewesen,  als  die  Pest,  die 
früher  an  diesen  Orten  geherrscht  habe.)  Neu  wrar  die 
Krankheit  eigentlich  nicht.  Die  Allen  kannten  sie  wahr- 


IV.  Fleckfieber. 


189 


scbci nlicli ,  rechneten  sie  aber  zu  den  Exanthemen,  wie 
ja  noch  jetzt  die  meisten  Praktiker  Purpura  wie  Morbillen 
beschreiben  und  behandeln;  oder  sie  herrschte  früher  nicht 
so  epidemisch  und  pestilentialisch,  wie  sie  Fraca storo 
in  Italien  sah,  und  wir  bei  uns  mehr  als  einmal! 

I 

(Vorrede.)  Was  die  Ursachen  der  Krankheit  betrifft, 
so  liegen  sie  vorzüglich  in  der  Luft,  die  auf  eine 
eigenthümlichc  Weise  verderbt  ist,  S.  151.  (Purpura  vero 
ab  ambientis  aeris  vitio  in  humana  corpora  invelii  osten- 
demus,  p.  9.)  Namentlich  ist  der  Grund  in  dem  schnel¬ 
len  Witterungswechsel,  der  in  diesem  und  dem  vorherge¬ 
henden  Jahre  statt  fand,  zu  suchen,  8.  143.  146.  ^Denn 
meist  ging  verhinderte  Ausdünstung  bei  den  Kranken  vor¬ 
her,  S.  141.  Viele  erkrankten  unmittelbar,  nachdem  sic 
vom  Regen  durchuäfst  waren  und  sieh  mit  den  nassen  Klei¬ 
dern  niedergelegt  hatten.  Auch  sind  die  Bewegungen  der 
Gestirne,  das  Erscheinen  des  Cometen,  in  Anspruch  zu 
nehmen,  S.  143.  Der  Unbekanntschaft  der  Alten  mit  den 
letzten  Momenten  ist  namentlich  die  mangelhafte  Kennt- 
nifs  mehrer  Krankheiten  zuzuschreiben.  (Vorrede.)  Der 
Genufs  schlechter  Nahrungsmittel  ist  zwar  auch  mit 
in  Anschlag  zu  bringen,  nur  darf  man  nicht  zu  viel  dar¬ 
auf  geben,  da  Krankheit  bei  verschiedenen  Menschen  aus- 
brach,  die  keinesweges  ein  und  dasselbe  genossen  hatten, 
S.  150.  Uebermäfsige  Ausübung  des  Coitus  trug  ebenfalls 
zur  Entstehung  der  Krankheit  bei,  S.  148.  Obschon  Leute 
jedes  Standes,  Alters  und  Geschlechtes,  Knaben,  Jünglinge, 
Jungfrauen,  Menschen  in  der  Bliithe  der  Jahre,  Greise, 
Bauern,  Städter,  Arme  wie  Reiche  und  Vornehme,  Prie¬ 
ster,  Mönche,  so  wie  Frauen  jedes  Alters  und  Standes, 
von  der  Krankheit  ergriffen  wurden  und  starben,  S.  4, 
so  herrschte  dieselbe  doch  meist  unter  dem  gemeinen 
Volke,  von  dem  die  meisten  ein  Opfer  derselben  wurden, 
weil  sie  entweder  keinen  Arzt  hatten,  oder  dessen  Vor¬ 
schriften  schlecht  befolgten ,  S.  255.  Die  übrigen  waren 
meist  cacochymische,  plethorische  und  solche  Subjecte,  die 


i 


190 


IV.  Fieckfiebcr. 


schon  längst  an  Obstructioncn  und  Schwäche  innerer  Theile 
gelitten  halten.  S.  45.  Auch  Schwanke  re  erkrankten; 

O  v 

namentlich  erwähnt  C.  die  Geschichte  zweier,  von  denen 
die  eine,  6  Monate  schwanger,  den  vierten  Tag  der  Krank¬ 
heit  Abortus  erlitt  und  an  Haemorrhagia  utcri  starb,  weil 
sic  durchaus  den  Aderlafs  verweigerte,  S.  ‘250.;  die  an¬ 
dere,  im  vierten  Monate  der  Schwangerschaft,  ward  ge¬ 
rettet,  und  gebar  zur  gehörigen  Zeit  glücklich,  S.  253. 

4)  Die  Behandlung  der  Krankheit  giebt  nun 
Coyttar  im  zweiten  Buche,  nachdem  er  zuerst  eine  lange 
Litanei  über  die  Unwissenheit  der  Aerzte  seiner  Zeit,  und 
die  Frechheit  derselben,  Krankheiten  bebandclu  zu  wol¬ 
len,  die  sie  nicht  verstehen,  abgesungen  hat,  S.  181  —  1S3. 
Im  Anfänge  der  Krankheit  sei  weder  V.  S.  noch  Arznei 
nöthig,  wenn  nicht  Synocha  oder  andere  dringende  Sym¬ 
ptome  sich  zeigten,  S.  39.  Wenn  deutliche  Zeichen,  na¬ 
mentlich  galliger  Cruditäten,  vorhanden  sind,  giebt  er 
Emetica,  die  oft  die  ganze  Krankheit  endigten,  S.  314. 
Dagegen  war  Vorsicht  nöthig  bei  dem  Gebrauche  von  Ab¬ 
führmitteln,  welche,  höchstens  im  Anfänge  der  Krankheit 
pafsten,  S.  329.  Die  Hauptsache  beruht  bei  einigermaalsen 
erheblichen  Symptomeu  auf  Aderlafs,  der  aber  nicht 
zu  stark  sein  darf!  S.  306,  denn  7  bis  8  Unzen  sind 
vollkommen  hinreichend.  Dagegen  war  es  oft  nöthig,  be¬ 
sonders  bei  der  synochalcn  Form,  die  Venäsection  zwei- 
his  dreimal  zu  wiederholen,  S.  39,  denn  wenn  dies  nicht 
geschah,  so  entstand  meist  eine  nicht  zu  stillende  Blutung 
aus  der  Nase,  und  die  Kranken  mufsten  ohne  Rettung 
sterben,  S.  329.  In  Hinsicht  der  Zeit  hatte  C.  sie  sowohl 
am  3ten ,  als  am  IStcn,  22sten,  selbst  25sten  Tage  der 
Krankheit  mit  Glück  vorgenommen  und  wiederholt,  S.  39. 
Da  nämlich  das  Blut  bei  Purpura  im  Centro,  und  nicht  iu 
der  Peripherie  entmischt  sei,  wie  bei  Variolac  und  Mor¬ 
billi,  so  könne  auch  von  keinem  Zuriicktreten  der  ent¬ 
mischten  Flüssigkeit  nach  Ausbruch  der  Flerke  durch  die 
^  enäsection  gesprochen  werden,  wie  dies  hei  jenen  Exan- 


IV.  Fleckfiebcr. 


191 


tliemen  allerdings  der  Fall  sei,  S.  246.  Das  zum  zweiten- 
male  entleerte  Blut  war  meist  dick,  schwarz  oder  aufge¬ 
löst,  S.  327.  Bei  vielen  bemerkte  man  schon  nach  einer 
solchen  zweiten  Venäsection ,  die  meist  nur  aus  4  bis  6  Un¬ 
zen  bestand,  auffallende  Besserung,  cs  stellten  sich  allge¬ 
meine  copiöse  Schweifse  ein,  und  die  Kranken  genasen, 
S.  329.  (Wenn  Massa  de  Febr.  pest.  tr.  3.  c.  9.  f.  78b, 
und  Erastus  Epist.  23.  f.  84  a.  Figur.  1595.  4.,  welche 
Sprengel  III.  S.  241  anführt,  entgegengesetzte  Resultate 
von  der  Venäsection  erhielten,  so  lag  dies  vielleicht  zum 
Theil  an  der  gröfseren  Menge  von  Blut,  die  sie  entzo¬ 
gen!  Doch  gesteht  Coyttar  S.  3  selbst,  dafs  im  Anfänge 
der  Epidemie  die  Kranken  trotz  dem,  dafs  er  zwei-  bis 
dreimal  Venäsectionen  gemacht,  gestorben  seien.)  Bei  der 
bereits  erwähnten  vier  Monate  Schwangeren  hatte  er  am 
fünften  Tage  der  Krankheit,  zwei  Tage  nach  dem  Aus¬ 
bruche  der  Flecke,  eine  Venäsection  von  8  Unzeu  ge¬ 
macht,  und  sie  genas,  wie  gesagt,  ohne  Abortus  zu  lei¬ 
den,  S.  253.  Bei  deutlich  ausgesprochener  Phrenitis  öff¬ 
nete  er  V.  cephalica  oder  frontalis,  S.  307,  und  wenn  dann 
die  Symptome  nicht  schwranden,  liefs  er  die  Haare  ab- 
scheeren  und  Ol.  rosar.  Nuc.  jugh,  oder  Amygdal.  amar. 
einreiben,  S.  308.  In  gelinderen  Fällen  aromatische  Kräu¬ 
terkissen  auf  die  Stirn,  oder  Leinwandlappen  mit  den  ge¬ 
nannten  Oelen  bestrichen  auflegen,  S.  288.  Bei  Schmer¬ 
zen  in  der  Magengegend ,  Einreibungen  aus  Salben  von  Ol. 
mastic. ,  Ol.  rosar.,  Ol.  papav.  alb.,  S.  289.  Aehnliche 
Einreibungen  und  Ueberschläge  auf  das  Herz,  das  ja  vor¬ 
zugsweise  afficirt  ist,  so  wie  auf  Milz-  und  Nierengegend, 
S.  292.  Innerlich  wurden  überall  bezoardische  Tränke  ge¬ 
geben.  Sehr  ausführlich  giebt  C.  die  Krankengeschichte 
und  Behandlungsart  seines  ersten  Patienten  an.  Die  Krank¬ 
heit  war  mit  Synochus  verbunden,  daher  gleich  anfangs 
eine  Venäsection  von  8  Unzen,  das  Blut  war  hellroth  und 
gesund;  C.  glaubte,  es  würden  sich  Variolae  ausbilden, 
bis  Purpura  am  dritten  Tage  erschien.  Dann  liefs  er  ihn 


192  V.  System  der  praktischen  Mcdicin. 

baden,  abermals  eine  Vonäsection  von  1  Unacn  machen, 
und  gab  Pot  io  bezoardica;  die  Krankheit  entschied  sich 
durch  Schweife,  und  der  Patient  genas,  S.  245  u.  f.  — 

(Fortsetzung  folgt.) 


V.  •  ' 

Opnifc  Sistemui  praktisch eskoi  m c d i c i n n i , 
d.  i.:  Versuch  eines  Systems  der  prakti¬ 
schen  Mcdicin;  von  Prochor  Tscharu- 
kowski,  Dr.  Med.,  ord.  Prof,  der  med.  Klinik 
und  gelehrtem  Secretiir  der  Kaiser!.  Russ.  medico- 
chirurg.  Academie.  Erster  Theil,  die  Fieber  ent¬ 
haltend.  St.  Petersburg,  1833.  8.  XIII  n.  352  S. 

Während  die  russische  belletristische  Litteratur  so  sehr 
anwächst,  dafe  die  Uebcrsetzungslust  und  die  Lesesucht  der 
Deutschen  schon  manches  Erzcugnife  derselben  sich  ange- 
cignet  liat,  fehlt  es  nocli  immer  sehr  an  Thütigkeit  inner¬ 
halb  der  Wissenschaften;  vielen  derselben  fehlt  e9  noch 
an  Original- Lehrbüchern  und  Uandbücbern.  Wenn  nun 
der  Verf.  der  vorliegenden  speciellcn  Therapie  schon  als 
mehrjähriger  Lehrer  der  Klinik  auf  Abfassung  eines  prak¬ 
tischen  Handbuches  volles  Recht  hat,  so  bedurfte  cs  für 
ihn  keiner  Entschuldigung,  dafe  er  keine  blofee  Ucker» 
Setzung  geliefert  habe,  was  laut  der  Vorrede  seine  erste 
Absicht  war.  Rufsland  hat  übrigens  so  viele  Eigentüm¬ 
lichkeiten  in  physischer  und  moralischer  Beziehung,  dafs 
Art,  Verlauf  und  Behandlung  der  Krankheiten  besondere 
Rücksichten  verdienen.  Jedoch  nicht  hierdurch  hat  sich 
der  Verf.  zur  Abfassung  eines  neuen  Handbuches  bewogen 
gefühlt,  sondern  durch  das  Studium  des  Kicscrschcn  Sy- 
stemes  der  Medicin,  und  die  vermöge  desselben  aufgereg¬ 
ten 


i 


V,  System  der  praktischen  Medicin.  193 

ten  Gedanken.  Obgleich  nun  der  Verf.  jenem  Werke  nicht 
unbedingten  Beifall  giebt,  so  hat  er  doch  mehre  wesent¬ 
liche  Grundsätze  desselben,  namentlich  die  erkünstelte  Drei¬ 
heit,  immer  im  Auge,  und  erregt  in  uns  das  Bedauern, 
dafs  die  jungen  Aerzte,  denen  das  Buch  in  die  Hand  ge¬ 
geben  werden  soll,  in  eine  Systematik  gedrängt  werden, 
die  ihnen  nichts  nutzen,  wohl  aber  schaden  kann.  Doch 
die  Gewalt  des  praktischen  Bedürfnisses  ist  so  grofs,  dafs 
die  Lernenden  ein  unpraktisches  System  bald  ab  werfen, 
und  sich  nur  das  Einzelne  aneignen.  In  dieser  Beziehung 
aber  hat  der  Verf.  sich  meistens  an  gute  Vorbilder  gehal¬ 
ten,  uns  jedoch  kaum  etwas  Eigenes  gegeben,  was  übri¬ 
gens  gerade  bei  der  so  vielseitig  bearbeiteten  Fieberlehre 
sehr  schwierig  ist.  Das  Bestreben  des  Verf.,  ein  System 
zu  begründen,  und  die  neuere  Physiologie  mit  der  Patho¬ 
logie  näher  zu  verbinden,  scheint  uns  ganz  mifslungen. 
Unsere  Leser  werden  selbst  beurtheilen,  ob  die  folgende 
Darstellung  den  Namen  eines  Systemes  mehr  verdient,  als 
frühere  Werke;  nach  der  neueren  Physiologie  haben  wir 
uns  ganz  vergeblich  umgesehen;  denn  w7as  etwa  davon 
nach  Kiese r  mitgetheilt  wird,  entspricht  nicht  den  Fort¬ 
schritten  der  beiden  letzten  Jahrzehende.  —  Das  gesammte 
Werk  ist  auf  vier  Theile  berechnet;  während  der  erste 
die  fieberhaften  Allgemeinleiden  enthält  (einschliefslich  der 
Exantheme),  wird  der  zweite  die  Entzündungen,  und  die 
beiden  letzten  die  chronischen  Krankheiten  enthalten. 

Das  in  Paragraphen  abgetheilte  Werk  beginnt  mit  all¬ 
gemeinen  Grundsätzen,  wobei  jedoch  weder  der  gegen¬ 
wärtige  Standpunkt  der  praktischen  Medicin,  noch  deren 
geschichtliche  Entwickelung  berührt  wird.  Vielleicht  wer¬ 
den  diese  Gegenstände  nach  dem  Lehrplane  der  Academie 
anderweitig  vorgetragen.  Die  angegebene  Litteratur  ist 
überaus  gering,  und  enthält  selbst  grofse  Werke  nicht  im¬ 
mer;  so  fehlen  bei  der  allgemeinen  Litteratur  die  ausführ¬ 
lichen  Handbücher  von  Jos.  Frank  und  Sundelin.  Noch 
magerer  sind  die  Angaben  bei  den  einzelnen  Krankheiten; 

Baud  28.  Heft  2.  1’3> 


104  V.  System  der  praktischen  Medicin. 

so  fehlt  zJ  B.  jede  Andeutung  der  neueren  Litteratur  der 
Nerven fieber  rücksichtlich  ihres  Zusammenhanges  mit  Un- 
terlcibszuständen;  hingegen  ist  manches  Buch  angegeben, 
was  jetzt  nur  antiquarisch  merkwürdig  ist;  x.B.  Stark  von 
den  Schwämmchen  (vom  J.  1784);  alles  Neuere  über  diese 
Krankheit,  seihst  Billard,  fehlt.  Auffallend  ist  cs,  dafs 
von  den  in  russischer  Sprache  geschriebenen,  freilich  mei¬ 
stens  übersetzten  Werken,  auch  nicht  mit  Einem  Worte 
die  Hede  ist. 

Einleitung.  §.  1  —  7.  lieber  Krankheitsichre  über¬ 
haupt,  und  über  den  BegrifT  einer  Species  niorbi. 

§.  8  —  17.  Ueber  Krankheit  überhaupt,  und  deren 
Einthcilung.  Indem  die  Begriffe  von  Materie  und  Kraft 
als  oberste  Grundlage  aller  Naturbelrachtuug  angegeben 
werden,  soll  zugleich  darauf  die  oberste  Einthcilung  der 
Krankheiten  bezogen  werden.  Die  alte  Sonderung  dersel¬ 
ben  in  acute  und  chronische,  welche  trotz  ihrer  Mängel 
doch  immer  unentbehrlich  bleibt,  wird  von  dem  Verf.  so 
gedeutet,  dafs  die  acuten  Uebel  auf  einer  vorzugsweisen 
Veränderung  in  den  Kräften,  die  chronischen  aber  mehr 
in  Veränderung  des  materiellen  Zustandes  beruhen.  Es  ist 
aber  ein  wesentlicher  Vorzug  des  letzten  Jahrzehends,  dafs 
die  Annahme  einer  vom  Materiellen  getrennten  Dynamik 
in  der  Krankheitslehre  immer  mehr  Beschränkungen  er¬ 
halten  hat.  Alle  Krankheiten  gehen  wesentlich  von  ma¬ 
teriellen  Veränderungen  in  Systemen  oder  Organen  aus, 
und  sind  ohne  dieselben  geradehin  undenkbar.  Was  wir 
rein  dynamisch  nennen,  ist  nur  Ausdruck  unserer  Unwis¬ 
senheit.  In  den  hitzigen  Krankheiten  ist  namentlich  durch 
die  Bemühungen  der  neueren  Acrzte,  wozu  die  Anatomen 
nicht  wenig  beigetragen  haben,  das,  was  früher  dynamisch 
genannt  worden,  ungemein  zusammengeschmolzen,  und  zer¬ 
fällt  immer  mehr.  Es  giebt  gegenwärtig  sogar  mehr  chro¬ 
nische  Uebel,  deren  materielle  Grundlage  noch  nicht  aus- 
gemittelt  ist,  und  die  daher  für  sogenannte  dynamische 
gelten,  als  acute;  denn  dafs  die  Nervenfieber,  welche  sonst 


V.  System  der  praktischen  Medicin.  195 

als  rein  dynamische  Affectioncn  galten,  es  nicht  sind,  wird 
jetzt  wohl  von  wenigen  Aerzten  bezweifelt,  die  mit  der 
neueren  Litteratur  bekannt  sind.  Jene  alte  Eintheilung 
könnte  daher  nicht  weiter  bestehen,  wenn  sic  auf  den 
vom  Verf.  angegebenen  Gründen  beruhte;  allein  sie  wird 
bestehen,  weil  gewisse  Uebcl  wesentlich  fieberhaft  sind,  an 
dere  aber  nicht;  dabei  wird  nicht  in  Abrede  gestellt,  dafs 
bei  nicht  wenigen  Uebeln  zweifelhaft  bleibt,  in  welche 
Hauptabtheilung  sie  zu  stellen  sind.  Doch  die  Aerzte  ha¬ 
ben  überhaupt  nicht  in  vollkommener  Systematik  ihren 
Ruhm  zu  suchen,  und  können  sich  mit  vielen  unvollkom- 

I 

menen  Abtheilungen  der  Naturgeschichte  trösten. 

§.  18  —  30.  Ueber  hitzige  Krankheiten  im  Allgemei¬ 
nen.  In  Folge  der  Annahme,  dafs  dieselben  vorzüglich 
auf  veränderter  Lebensthätigkeit  ohne  materielle  Grundlage 
beruhen,  wird  nun  weiter  geschlossen,  dafs,  da  alle  Le¬ 
bensthätigkeit  vom  Nervensysteme  ausgeht,  auch  jene  Krank¬ 
heiten  im  Nervensysteme  ihren  nächsten  Grund  haben  müs¬ 
sen.  Diese  Behauptung  der  alten  Solidar- Pathologie  kann 
zu  den  gefährlichsten  praktischen  Irrthümern  führen;  sie 
ist  falsch,  w-ie  ihre  Prämisse;  denn  so  wichtig  auch  das 
Nervensystem  ist,  so  kann  es  doch  für  sich  allein  das  Le¬ 
ben  nicht  begründen.  —  Die  nähere  Entwickelung  der 
Erscheinungsweise  dieser  Krankheiten  ist  naturgemäfs,  je¬ 
doch  sehr  unvollständig  in  Vergleich  mit  den  Darstellun¬ 
gen  von  Reil,  P.  Frank,  Baumgärtner  u.  a.  Unge¬ 
gründet  ist  die  Behauptung,  dafs  diese  Krankheiten  immer 
plötzlich  auftreten;  denn  wir  beobachten  oft  Fälle,  wo 
Menschen  tagelang  fieberhaft  einhergehen,  ohne  den  An¬ 
fang  ihres  Erkrankens  angeben  zu  können.  —  Häufig 
äufsert  sich  der  Verf.  gegen  die  Humoralpathologie,  und 
scheint  damit  unbekannt,  dafs  neuerdings  sehr  ausgezeich¬ 
nete  Männer  ihr  das  Wort  geredet,  und  dieselbe  alltäg¬ 
lich  mehr  Raum  gewinnt.  —  Diese  Krankheitsklasse  zer¬ 
fällt  in  allgemeine  und  örtliche. 

§.  31  —  135.  Dieser  Abschnitt  enthält  eine  nosologi- 

13  * 


196  V.  System  der  praktischen  Medicin. 

gehe  und  therapeutische  Darstellung  der  allgemeinen  hitzi¬ 
gen  Krankheiten  oder  Fieber,  als  eines  besonderen  Krank¬ 
heitsgeschlechtes.  Da  nnn  in  den  Gcschlcchtscharaktcr 
nichts  aufgenommen  werden  darf,  wa9  nicht  jeder  Gat¬ 
tung  und  Art,  die  zu  diesem  Geschlechtc  gehören,  ange¬ 
messen  wäre,  so  dürfte  also  hier  nichts  Vorkommen,  was 
nicht  jedem  idiopathischen  Fieber  eigen  wäre.  Dieser  lo¬ 
gischen  Anforderung  entspricht  jedoch  der  Verf.  nicht,  in¬ 
dem  er  hier  ganz  Kies  er  folgt.  So  stellt  er  denn  nach 
ihm  die  Behauptung  auf,  dafs  jedes  allgemeine  Fieber  vom 
vegetativen  Leben  beginne,  dann  zum  Blutsystem  über¬ 
gehe,  und  endlich  sich  im  Centralnervensysteme  äufscre, 
worauf  denn  die  Rückbildung  in  entgegengesetzter  Ord¬ 
nung  erfolge.  Dieser  Hypothese  zufolge,  welche  jetzt  kei¬ 
ner  Widerlegung  mehr  bedarf,  mufs  es  6  Stadien  geben, 
in  deren  Schilderung  man  allenfalls  das  Bild  eines  soge¬ 
nannten  Nervenfiebers,  nicht  aber  die  schlichteste  Ficber- 
fortn,  d.  i.:  den  Geschlechtscharakter  erkennen  kann, 
lieber  die  Gelegenhcitsursacheu  wird  ganz  erfahrungsmäfsig 
gehandelt.  Die  Therapie  mufs  sich  gewaltsam  in  die  Form 
jener  6  Stadien  schmiegen.  Das  erste  Stadium  erfährt  eine 
viel  zu  reizende  Behandlung;  Kampher  und  Opium  können 
hier  in  der  Regel  nur  schaden.  Hieraus  ergiebt  sich  fer¬ 
ner,  wie  wenig  der  Tadel  gerecht  ist,  den  der  Verf.  über 
diejenigen  ausspricht,  die  in  diesem  Stadium  ganz  der  Heil¬ 
kraft  der  Natur  vertrauen.  Mögen  diese  zuweilen  durch 
Unthätigkeit  schaden;  nie  aber  können  sie  so  grofsen  Nach¬ 
theil  bringen,  als  wenn  man  den  Anfang  der  Krankheiten 
mit  Beizmitteln  bestürmt.  Wenn  man  bedenkt,  wie  viele 
Millionen  innerhalb  Rufslands  ohne  alle  ärztliche  Behand¬ 
lung  genesen,  so  mufs  man  der  Heilkraft  der  Natur  alle 
Ehre  widerfahren  lassen,  wenn  man  auch  gleichzeitig  zu- 
giebt,  dafs  die  Sterblichkeit  innerhalb  Rufslands  wohl  er- 
mäfsigt  werden  könnte,  wenn  die  Heilkunst  auf  die  Masse 
des  Volkes  innerhalb  des  Landes  mehr  cinzuwirken  ver¬ 
möchte,  als  bisher.  —  Die  Einthcilung  der  Fieber  in  iu- 


V.  System  der  praktischen  Medicin.  197 

tcnnittcntcs,  rernittentes  und  continuae  scheint  dem  Verf. 
den  Auforderungen  der  Physiologie  am  meisten  entspre¬ 
chend;  den  ersten  liege  ein  Leiden  der  vegetativen  Ner¬ 
ven,  den  folgenden  ein  krankhafter  Zustand  der  Häute, 
den  letzten  eine  fehlerhafte  Thätigkeit  des  Blutgefäfssyste- 
nies  zum  Grunde.  Man  erstaunt  über  die  Möglichkeit,  Be¬ 
hauptungen  dieser  Art,  die  freilich  nicht  neu  sind,  mit 
einem  Tone  der  Sicherheit  vortragen  zu  hören,  der  nur 
aus  der  festesten  Uebcrzcugung  hervorgehen  kann.  Leider 
sucht  man  vergebens  nach  irgend  einem  Beweise. 

Wir  kommen  nun  an  die  einzelnen  Fiebergattungen. 
Sic  beginnen  mit  dem  Wechselfieber ,  §.136  —  227.  Bei 
den  classischen  Arbeiten,  die  wir  über  dieses  uralte  Uebel 
haben,  von  denen  jedoch  der  Verf.  keine  einzige  anführt, 
ist  auch  die  Darstellung  desselben  dem  Zwecke  entspre¬ 
chend  ausgefallen.  Nur  gegen  Einzelnes  lassen  sich  Ein¬ 
wendungen  machen.  Wenn  der  Verf.  §.  146.  sagt,  dafs 
das  Wechselfieber  in  St.  Petersburg  nicht  zu  den  gewöhn¬ 
lichsten  Krankheiten  gehöre,  so  könnte  man  glauben,  dafs 
es  daselbst  selten  sei.  Es  mufs  daher  heifsen,  dafs  es  nicht 
sehr  häufig  sei.  Dafs  das  Wechselfieber  nicht  selten  chro¬ 
nische  Uebel  hebe  (§.  161.),  ist  wiederum  etwas  zu  viel 
behauptet;  denn  die  Fälle  sind  in  der  That  selten.  C.  G. 
Neumann  leugnet  sie  sogar  ganz.  Die  sehr  häufig  auf¬ 
gestellte  und  hier  vom  Verf.  wiederholte  Behauptung,  dafs 
das  Wechseifieber  auf  veränderter  Lebensthätigkeit  der 
Nerven  des  organischen  Lebens  beruhe  (§.  171.),  ist  zwar 
völlig  unerwiesen;  allein  sie  mag  als  unschuldige  Hypo¬ 
these  gelten,  da  die  folgenden  praktischen  Vorschriften 
nicht  nach  derselben ,  sondern  nach  der  ungeheuren  Er¬ 
fahrung,  die  man  hierüber  hat,  verfafst  sind.  Die  Frage, 
ob  man  nicht  in  manchen  Fällen  einige  Paroxysmen  ab- 
vvarten  müsse,  ehe  man  zur  Heilung  schreitet,  behandelt 
der  Verf.  als  widersinnig  (  §.  198.);  allein  er  widerspricht 
hierbei  seiner  eigenen  Ansicht,  dafs  das  Wechselfieber  nicht 

selten  chronische  Krankheiten  hebe,  wozu  doch  wohl  eine 

7  • 


198  V.  System  der  praktischen  Mcdicin. 

gewisse  Zeit  erforderlich  ist.  Unsere  Meinung  gellt  dahin, 
dafs  inan  allerdings  jederzeit  das  Wechselfieber  zu  entfer¬ 
nen  suchen  müsse,  dafs  man  aber  dazu  nicht  immer,  na¬ 
mentlich  nicht  hei  bedeutendem  Gastricismus  und  unvoll¬ 
kommen  ausgebildcter  Form,  die  China  und  deren  Präpa¬ 
rate,  also  die  sichersten  Febrifuga,  sogleich  in  Anwen¬ 
dung  ziehen  dürfe.  —  Bei  dem  Chinin  hätte  wohl  die 
salzsaure  Verbindung  desselben,  wegen  ihrer  leichteren 
Auflöslichkeit,  Erwähnung  verdient. 

Als  zweite  Fiebergattung  folgen  die  nachlassenden  Fie 
ber,  von  denen  zuerst  im  Allgemeinen,  §.  228  —  236,  und 
dann  im  Besonderen,  bis  §.  364,  gehandelt  wird.  Diese 
völlige  Trennung  von  den  folgenden  anhaltenden  Fiebern 
ist  ein  theoretischer  Gcwaltstreich;  die  Natur  kennt  ci i e- 
selbe  nicht;  vielmehr  ist  jedes  Fieber,  welches  kein  Wcc.h- 
selfieber  ist,  in  seinen  milderen  Formen  ein  nachlassendes, 
und  wird  hei  zunehmender  Heftigkeit  ununterbrochen,  wo¬ 
bei  jedoch  längst  bemerkt  worden,  dafs  cs  ununterbrochene 
Fieber  eigentlich  gar  nicht  giebt,  wenn  dieser  Ausdruck 
im  strengsten  Sinne  genommen  wird,  was  auch  der  Vcrf. 
anerkennt  §.  265.  —  Die  Behauptung,  dafs  den  nachlag* 
senden  Fiebern  vorzüglich  schwächliche  Personen  unter¬ 
worfen  6ind,  §.  233,  scheint  uns  nicht  naturgemäfs. 

§.  237  —  252  handeln  vom  Catarrhalfieber,  und  dann 
vom  rheumatischen  Fieber;  §.  253  —  278  vom  gastrischen 
Fieber,  in  seiner  einfachen  Gestalt,  ferner  als  Schleimfie¬ 
ber  und  als  Gallcnfieber.  Ganz  nach  den  Ansichten  der 
gastrischen  Schule  abgchandelt;  Broussais  ist  nicht  eines 
Wortes  der  Widerlegung  gewürdigt.  —  In  den  übrigen 
Theilen  dieses  Abschnittes  folgt  das  gelbe  Fieber,  wel¬ 
ches  unter  den  ununterbrochenen  Fiebern  stehen  sollte, 
und  mit  einer  den  Grunzen  dieses  Werkes  nicht  angemes¬ 
senen  Weitläufigkeit  abgchandelt  wird;  der  Ilemitritaeus, 
welcher  zu  den  Wechselfiebern  gehört,  und  die  Cholera. 
Bei  der  letzten  werden  alle  einfachen  und  gewöhnlichen 
Formen  übergaugeu,  und  sogleich  zur  Beschreibung  der 


V.  System  der  praktischen  Medicin.  199 

/  *.  ;<«  \  . 

asiatischen  Cholera  geschritten,  die  als  ein  ganz  miasma¬ 
tisches  Uebel  angesehen  wird.  Die  Stellung  einer  Krank¬ 
heit,  bei  der  die  stockende  Gefäfsthätigkeit  charakteristisch 
ist,  unter  den  nachlassendcn  Fiebern  ist  in  merkwürdigem 
Gegensätze  mit  der  oft  wiederholten  Behauptung  des  Verf., 
dafs  seine  Darstellung  eine  physiologische  sei.  —  Der  Ab¬ 
schnitt  schliefst  mit  einem  Kapitel  über- die  Erhaltung  der 
Gesundheit  in  heifsen  Gegenden,  welches  wir  schwerlich 
in  einem  Lehrbuche  der  speciellen  Therapie  zu  linden  er¬ 
warten  durften. 

Die  ununterbrochenen  Fieber,  zuerst  das  Allgemeine, 
§.  364  —  369.  Nach  der  Ansicht  des  Verf.,  dafs  diese 
Fieber  im  Blutgefäfssysterne  ihren  Sitz  haben,  erwartet 
man  hier  eine  Berücksichtigung  der  Veränderungen  des 
Blutes;  allein  davon  ist  gar  nicht  die  Rede;  er  spricht 
immer  nur  von  den  Gefäfsen,  und  zwar  ganz  im  Allge¬ 
meinen. 

Das  Entzündungsfieber,  §.  370  —  388.  Diese  natur- 
gemäfs  abgehandelte  Form,  welche  übrigens  in  reiner  Ge¬ 
stalt  selten  vorkommt,  giebt  den  besten  Beweis  gegen  die 
Unzweckmäfsigkeit  der  Annahme  dieser  Fiebergattung,  da 
sie  immer  deutliche  Nachlässe  hat. 

Das  Nervenfieber,  §.  389  —  416,  würde  am  besten 
im  Verein  mit  dem  besonders  abgehandelten  Faulfieber  und 
Typhus  zusammengestellt  worden  sein.  Hier  ist  zunächst 
das  einfache,  gewöhnliche  und  nicht  ansteckende  Nerven¬ 
fieber  zweckmäfsig  abgehaudelt,  und  bei  der  Behandlung 
auf  die  Therapie  des  Fiebers  überhaupt,  die  dem  Werke 
verangeht,  hingewiesen. 

Delirium  potatorum ,  §.  417  —  438.  Das  Pathologi¬ 
sche  nach  Bark  hausen,  die  Therapie  nach  Sutton. 

Das  Faulfieber,  §.  439  —  479.  Die  dieses  Fieber  be¬ 
zeichnende  Neigung  zur  Zersetzung  hätte  auf  die  Mischungs¬ 
verhältnisse  hinführen  können;  der  Verf.  bleibt  jedoch  fest 
in  seiner  solidarpa Biologischen  Ansicht. 

Ansteckende  Fieber,  zuerst  überhaupt,  §.  480  —  502. 


200  V.  System  der  praktischen  Mcdicin. 

Was  hier  abgehandelt  wird,  gehört  meistens  in  die  allge¬ 
meine  Pathologie.  Alle  früher  abgehandelten  Arten  gelten 
dem  Verf.  als  uicht  ansteckend,  was  man  ihm  nicht  leicht 
zugeben  wird.  Dafs  derselbe  bei  seiner  Richtung  alle  An¬ 
steckung  auf  das  Nervensystem  beziehen  würde,  liefs  sich 
erwarten;  wie  wenig  aber  die  Impfung  und  die  oft  zur 
Ansteckung  nöthige  Berührung  hiermit  stimmen,  ist  leicht 
zu  begreifen.  Dafs  kräftige  Menschen  seltener  angesteckt 
werden,  als  schwächliche,  ist  nicht  richtig;  oft  trifft  das 
Gegcntheil  ein. 

Bewahrung  vor  epidemischen  und  ansteckenden  liebeln, 
§.  503  —  507.  (Hier  sind  Druckfehler  in  der  Paragraphen¬ 
zahl,  wie  denn  überhaupt  die  Zahl  der  Druckfehler  über- 
grofs  ist.) 

Die  Pocken,  §.  508  (nach  unserer  Berechnung)  —  539 
nach  Schriftstellern  des  vorigen  Jahrhunderts;  lebhaft  müs¬ 
sen  wir  dem  Verf.  widersprechen,  wenn  er  bei  den  vor 
dem  Ausbruche  der  Pocken  eintretenden  Krämpfen  Opium 
zu  geben  anrätb,  und  zwar  einjährigen  Kindern  zu  2, 
zweijährigen  zu  4  Tropfen.  Gewifs  hat  er  dies  nie  aus¬ 
geübt;  die  verderblichen  Folgen  würden  ihn  verhindert  ha¬ 
ben,  einen  solchen  Rath  zu  ertheilen.  —  Einimpfung 
der  Menschenpocken,  §.  540  und  511.  —  Falsche  Pocken, 
§.  542  —  547.  —  Varioloiden,  §.  548  —  550,  für  die 
Wichtigkeit  und  nach  dem  gegenwärtigen  Standpunkte  der 
Sache  viel  zu  kurz.  —  Kuhpocken,  §.550  —  570.  Auch 
dieser  Abschnitt  hätte  nach  den  neueren  Verhandlungen 
bearbeitet  werden  müssen.  Die  Fragen  über  Schwächung 
der  Vaccine,  Zahl  der  Stiche,  erneuerte  Impfung  u.  s.  w. , 
sind  gar  nicht  berührt. 

Die  Masern,  §.  571  —  590.  Die  Darstellung  bündig 
und  wahr;  nur  scheint  der  Verf.  mit  dem  in  manchen  Epi- 
demieen  bösartigen  Verlaufe,  den  unter  andern  Kreis ig 
in  diesen  Annalen  geschildert  hat,  unbekannt,  und  stellt 
daher  die  Prognose  zu  günstig.  —  Der  Rötheln  wird  nur 


V.  System  der  praktischen  Medicin.  201 

in  einem  Paragraph  (591)  gedacht;  ein  vom  Verf.  erleb¬ 
tes  Beispiel  bestätigt  die  allgemeine  Annahme,  dafs  sie 
eine  Mittelform  zwischen  Scharlach  und  Masern  sind, 

Scharlach,  §.  592  —  620..  Zweekmäfsige  Darstellung, 
bei  der  man  jedoch  eine  genügende  praktische  Anweisung 
vcrmifst.  Bei  einem  so  gefährlichen  Uebel  mufs  der  Schü¬ 
ler  nicht  blofs  erfahren,  was  in  Anwendung  gezogen  wor¬ 
den,  sondern  was  sich  am  meisten  erprobt  hat. 

Das  ansteckende  Nervenfieber,  §.  621  625,  wird 

mit  Beziehung  auf  die  früheren  Darstellungen  wahr¬ 
scheinlich  nur  wegen  der  Flecke  als  besondere  Form  er¬ 
wähnt,  Eben  so  findet  die  Pest*  §.  626  —  660,  hier  wahr¬ 
scheinlich  wegen  der  Analogie  der  Carbunkeln  mit  den 
Hautausschlägen  ihre  Stelle.  —  Ueber  die  Richtigkeit 
der  Schilderung  vermag  Ref.  nicht  zu  urtheilen;  jedenfalls 
werden  die  neueren  litterarischen  Hülfsmittel,  z..  B.  Wol- 
mar,  vermifst. 

Nach  einigen  Bemerkungen  (§.  661  —  664.)  über  die 
zufälligen  (d.  i.  minder  geregelten)  Ausschläge  hitziger  Art, 
folgen  dieselben: 

Das  Nesselfieber,  §.  665  —  670.  — *  Der  Friesei,  §,671 
bis  678.  — *•  Die  Schwämmchen,  §.679  —  688,  deren  Stel¬ 
lung  in  dieser  Reihe  wohl  sehr  bestritten  werden  kann.  — 
Der  Pemphigus,  §.  689  —  695.  Der  Gürtel,  §.  696 
bis  704.  —  Petechiae,  §.  705  710.  Der  Verf.  thut 

nicht  wohl,  sie  mit  dem  Ausdrucke  zu  bezeichnen,  der  im 
Russischen  für  Flecken  gebraucht  wird  (pötnui),  da  es  vie¬ 
lerlei  Flecken  giebt,  die  nicht  Petechien  sind,  und  daher 
hier  nicht  abgehandelt  werden,  Uebrigens  dürften  diesel¬ 
ben  überhaupt  hier  keine  Stelle  finden,  da  sie  theils  als 
Symptom  der  Nervenfieber  bei  denselben  ihre  Stelle  fin¬ 
den,  theils  bei  chronischen  Zuständen  Vorkommen,  und 
also  nicht  hierher  gehören. 

Möge  der  Verf.  in  den  folgenden  Bänden  sich  immer 
mehr  von  den  Schlingen  eines  gewaltsamen  Systemes  los- 


20?  VI.  Phrenologie. 

sagen,  mul  durch  Dai-stcllung  der  Ergebnisse  schlichter 
Beobachtung  seinem  Werke  eine  dauernde  Stelluug  in  der 
mediciuischeu  Litteratur  erringen.  — 

—  i. 


VI. 

George  Combe's  System  der  Phrenologie. 

Aus  dem  Englischen  übersetzt  von  Dr.  S.  Ed. 

Hirschfeld.  Mit  neun  lithographirten  Tafeln. 

Braunschweig,  bei  Friedr.  Vieweg  und  Sohn.  1833. 
8.  XXIV  und  498  S.  (3  Tblr.  12  Gr.) 

Die  Lehre  Gall’s,  welche  den  früheren  Namen,  Cra- 
nioscopie,  mit  dem  jetzt  üblicheren  der  Phrenologie  ver¬ 
tauscht  hat,  enthält  zwar  innig  verbundene,  jedoch  we¬ 
sentlich  verschiedene  Elemente:  die  Aufstellung  einer  lieihc 
selbstständiger  Erkcuntnifs-  und  Gemüthstriebe,  um  aus 
dem  Vorherrschen  eines  oder  mehrer  unter  ihnen  die  in- 
dividucllc  Eigentümlichkeit  eines  jeden  Menschen  zu  er¬ 
klären;  und  die  Bezeichnung  bestimmter,  jenen  als  Organe 
angchöriger  Gehirntheilc,  welche  nach  Maalsgabc  ihrer  Ent¬ 
wickelung  die  über  ihnen  gelegene  Parthie  des  Schädels 
nach  aufsen  drängen,  und  an  den  gröfseren  oder  geringe¬ 
ren  Jlcrvorragungen  desselben  in  ihrer  relativen  Grüfse  er¬ 
kennbar  sein  sollen.  Die  Kritik  kann  beide  Elemente  leicht 
und  vollständig  von  einander  trennen,  da  die  Bestimmung 
jedes  Triebes  ausschlicfslich  von  der  Beobachtung  solcher 
Individuen  abgeleitet  wird,  die  ihn  in  ihrer  Denk-  und 
Handlungsweise  am  stärksten  entwickelt  zeigen.  Erst  nach¬ 
dem  derselbe  auf  rein  psychologische  Weise  festgeslcllt 
worden  ist,  bemühen  sich  die  Phrenologcn,  den  ihm  ent¬ 
sprechenden  Gchirnthcil  aufzusuchen;  cs  kann  sich  daher 
sehr  leicht  ercigueu,  (lafs  die  Phrcuologic  vor  dein  Forum 


203 


VI.  Phrenologie. 

der  Psychologie  in  ihren  wesentlichen  Bestrebungen  ge* 
rechtfertigt  erscheint,  während  ihre  anatomisch -physiolo¬ 
gischen  Deutungen  als  unhaltbar  befunden  werden.  Eben 
weil  ihre  beiden  Elemente  mit  einander  vermengt  wurden, 
fand  sie  so  zahlreiche  Gegner,  sowohl  unter  den  Philoso¬ 
phen,  welche  sich  gegen  die  Annahme  von  Geisteskräften 
sträubten,  die  in  einzelnen  Gehirntheilen  gleichsam  sub- 
stanziirt  sein  sollten,  weil  hierin  der  crasseste  Materialis¬ 
mus  ausgesprochen  zu  sein  schien;  als  unter  den  Anato¬ 
men,  denen  die  Ansicht  des  Gehirns  als  einer  zusammen¬ 
gefalteten  Membran  nicht  zusagte,  und  die  gegen  die  Ueber- 
einstimmung  der  Hervorragungen  des  Schädels  mit  den  un¬ 
ter  ihnen  gelegenen  Gehirntheilen  die  mannigfachsten  Ein- 
wiirfe  erhoben.  So  ist  es  denn  gekommen,  dafs  Deutsch¬ 
land,  aus  dessen  Schoofse  Gail  hervorging,  die  Acten  über 
seine  Lehre  als  geschlossen  ansieht,  während  zu  ihrer  Aus¬ 
bildung  in  Frankreich  und  Schottland  gelehrte  Vereine  zu¬ 
sammengetreten  sind,  welche  ihr  Werk  mit  grofsem  Eifer 
und  mit  reicher  Ausstattung  au  Hülfsmitteln  fördern,  und 
Amerika  ihr  sogar  eigene  Lehrstühle  errichtet  hat. 

Da  die  Gränzen  einer  kritischen  Anzeige  nicht  gestat¬ 
ten,  eine  so  umfassende  Lehre  in  allen  Richtungen  zu  ver¬ 
folgen  ;  so  hebt  Ref.  vorzugsweise  ihre  psychologische  Seite 
hervor,  wobei  er  sieh  einige  vorläufige  Bemerkungen  er¬ 
laubt.  Es  giebt  eine  analytische  und  eine  synthetische  Me¬ 
thode  der  psychologischen  Forschung.  Jene  strebt  die 
Thatsachen  des  Bewufstseins  auf  ursprüngliche  Kräfte  der 
Seele  zurückzuführen,  und  dieselben  in  den  Formen  oder 
Gesetzen  ihres  Wirkens  abgesondert  aufzustellen.  Sie 
ist  das  nothwendige  Ergebnifs  des  logischen  Verstandesge¬ 
brauches,  welcher  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  uud  Ver¬ 
wickelung  der  concreten  Erscheinungen  auf  die  Grundver¬ 
hältnisse  ihrer  ursächlichen  Elemente  bezieht,  also  jene  in 
der  Einheit  und  Allgemeinheit  der  Prinzipien  verknüpft. 
Alle  Zweige  der  Naturkunde  geben  Zeugnils,  dafs  nur  ein 
solches  Verfahren  wissenschaftliche  Befriedigung  zu  gewäh- 


204  VI.  Phrenologie. 

ren  vermag;  und  wenn  es  der  Psychologie  bisher  so  we¬ 
nig  gelungen  ist,  sich  jener  hierin  glcichzustcllen ,  dafs  sie 
sicli  durch  den  endlosen  Widerstreit  der  in  ihr  herrschen¬ 
den  willkührlichen  Meinungen  fast  lim  allen  Credit  ge¬ 
bracht  hat:  so  liegt  die  Schuld  davon  nicht  in  der  Unan¬ 
wendbarkeit  der  analytischen  Methode  auf  sie,  sondern 
darin,  dafs  die  wesentlichen  Thatsachcu  des  geistigen  Le¬ 
bens  noch  nicht  mit  der  erforderlichen  Bestimmtheit  her¬ 
ausgestellt  worden  sind.  Abgesehen  von  den  Verirrungen 
in  das  unfruchtbare  Gebiet  metaphysischer  Streitigkeiten 
über  das  Wesen  der  Seele,  über  die  innere  Einheit  oder 
Verschiedenheit  ihrer  Kräfte,  wurde  ihre  Erkenntnifs  da¬ 
durch  verzögert,  dafs  man  die  Aufmerksamkeit  zu  sehr 
den  Vorstellungen  zuwandte,  welche  iu  ihre  Merkmale 
zergliedert,  und  nach  diesen  mit  einander  verglichen,  sich 
den  logischen  Regeln  gcmäfs  leicht  in  höhere  und  niedere 
Rangordnungen  bringen  liefsen,  nach  denen  die  verschie¬ 
denen  Vorstellungskräfte  bestimmt  werden.  Von  diesem 
Standpunkte  aus  glaubte  man  das  ganze  Gebiet  der  Seelen- 
cr8cheinungen  überschauen  zu  können,  da  die  Gemüths- 
triebe  jederzeit  an  Vorstellungen  geknüpft  sind,  und’ sich 
scheinbar  in  diese  auflösen  lassen;  ihre  Definition  war  da¬ 
her  leicht  gegeben,  und  somit  die  subjectivc  oder  gemiith- 
liclie  Richtung  der  Seele  bald  in  eine  abstracto  Lehre  ge¬ 
bracht.  Aber  es  fehlte  dieser  an  allem  inneren  Leben  und 
an  objectiver  Wahrheit;  man  konnte  aus  ihr  nicht  die  zu 
Leidenschaften  anwachsende  Macht  der  einzelnen  Triebe 
erklären,  weil  es  im  logischen  Sinne  schlechthin  unbegreif¬ 
lich  ist,  warum  die  leidenschaftlichen  Vorstellungen  unge¬ 
achtet  aller  in  ihnen  enthaltenen  Widersprüche  und  Unge¬ 
reimtheiten  dennoch  eine  so  entschiedene  und  andauernde 
Herrschaft  über  alle  anderen  Vorstellungen  behaupten,  dafs 
sic  diese  mehr  oder  weniger  vollständig  aus  dem  Bewufst- 
sein  verdrängen,  und  sich  durch  die  einleuchtendsten  Be¬ 
weise  ihrer  Verkehrtheit  nicht  widerlegen  lasscu.  Die 
Psychologen  nahmen  daher  zu  erkünstelten  Dcutungcu  ihre 


VI.  Phrenologie.  205 

Zuflucht,  indem  sie  die  Gewalt  der  Leidenschaften  theils 
aus  hartnäckigen  Irrthümern  des  Verstandes  erklärten,  ohne 
zu  bedenken,  dafs  die  von  ihnen  Befangenen  oft  ihre  Thor- 
heit  sehr  deutlich  begreifen,  und  dennoch  dem  ungestü¬ 
men  Drange  nicht  widerstehen  können;  theils  indem  sie 
sich  auf  die  Macht  der  Gewohnheit  beriefen,  die  wenig¬ 
stens  bei  allen  zum  erstenmale  ausbreebenden  Leidenschaf¬ 
ten  gänzlich  vermifst  wird  —  anderer  eben  so  unhaltbarer 
Tbeorieen  nicht  zu  erwähnen.  Viele  Aerzte  glaubten  dies 
Räthsel  dadurch  zu  lösen,  dafs  sie  den  Sitz  der  Leiden¬ 
schaften  in  die  Organe  der  Brust  und  des  Unterleibes  ver¬ 
legten,  welche  allerdings  oft  eine  so  lebhafte  Reaction  bei 
jenen  zeigen.  Indels  nur  ein  völliges  Verzichtleisten  auf 
selbstständige  psychologische  Forschung  konnte  eine 
solche  Lehre  erzeugen,  welche  durch  unzählige  Beispiele 
leidenschaftsloser  Gemüthszustände  bei  allen  möglichen  Stei¬ 
gerungen  und  Depressionen  der  organischen  Thätigkeit  je¬ 
ner  Gebilde,  so  wie  andererseits  dadurch  auf  das  Bestimm¬ 
teste  zurückgewiesen  wird,  dafs  die  mächtigsten  Leiden¬ 
schaften,  wenn  der  Körper  durch  Gewohnheit  sich  gegen 
ihre  Impulse  abstumpfte,  oder  wenn  sie  weniger  in  stür¬ 
mischen,  vorübergehenden  Affecten,  als  in  gleichmäfsig  be¬ 
harrlicher  Richtung  des  Gemüthes  wirken,  kaum  eine  Ver¬ 
änderung  in  den  körperlichen  Functionen  hervorbringen. 
Auf  jenen  Aerzten  lastet  daher  der  Vorwurf,  dafs  sie  die 
Bedeutung  der  physischen  Lebensbedingungen  in  ihrem  Zu¬ 
sammenwirken  mit  der  Seele  weit  überschätzten,  und  die 
Abhängigkeit  dieser  von  jenen  in  so  grellen  Farben  schil¬ 
derten,  dafs  die  Fähigkeit  des  Menschen  zur  moralischen 
Selbstständigkeit  fast  auf  Null  reducirt  wurde. 

Wollen  wir  uns  daher  auf  erfahrungsgemäfse  Weise 
von  dem  Seelenleben  Rechenschaft  geben,  so  müssen  wir 
vorher  die  Lehre  von  den  Gemüthstrieben  sowohl  von  der 
logischen  Behandlungsweise  der  Psychologen,  als  von  der 
materialistischen  Deutung  der  Aerzte  unabhängig  machen. 
Um  in  die  Betrachtung  der  Gcmüthserscheinungen  Klarheit 


206  VI.  Phrenologie. 

und  Ordnung  zu  bringen,  bedürfen  wir  allerdings  des  ana¬ 
lytischen  Verfahrens,  welches  sic  nach  der  verschiedenen 
Richtung  des  Gcmüthes  auf  die  mannigfachen  Motive  sei¬ 
ner  Thätigkeit,  Religion,  Liebe,  Freiheit,  Ehre,  Macht  u. 
s.  w.  unter  allgemeine  Gruppen  bringt,  weil  jedes  dieser 
Motive  einen  ihm  entsprechenden  Trieb  vorausselzt,  ohne 
dessen  Regsamkeit  seine  Wirkung  auf  den  Menschen  ver¬ 
loren  geht.  Ohne  die  genaue  Bestimmung  der  Triebe,  und 
ohne  ihre  Ableitung  als  Verzweigungen  aus  einer  Slamm- 
wurzel  würde  die  Betrachtung  der  Gemüthsregungen ,  und 
ihre  Beziehung  zu  den  concrcten  Handlungen,  welche  aus 
dem  vereinzelten  oder  gemeinsamen  Wirken  derselben  her¬ 
vorgehen,  sich  in  ein  endloses  Chaos  verlieren.  Aber  die 
auf  analytischem  Wege  gewonnene  abstracte  Definition  und 
systematische  Zusammenstellung  der  Triebe  giebt  uns  kei¬ 
nen  Aufschluls  über  die  extensive  und  intensive  Macht, 
die  Dauer  und  andere  Modifikationen  ihrer  Thätigkeit.  Wir 
müssen  sie  im  Conflicte  untereinander  beobachten,  denn 
die  wahre  Bedeutung  eines  Triebes  lüfst  sich  weniger  an 
seiner  in  die  Sinne  fallenden  Aeufserung,  als  an  dem  Eiu- 
flussc  erkennen,  den  er  auf  andere  Triebe  ausübt,  oder  von 
ihnen  erleidet.,  wodurch  die  jedesmalige  Gemüthsvcrfas- 
sung  bedingt  wird.  Diese  Betrachtung  der  Seelcnzustände 
in  der  Gcsammtwirkung  aller  Triebe  bildet  die  synthe¬ 
tisch-psychologische  Forschung,  welche  uns  vor¬ 
nehmlich  mit  der  grofsen  Wahrheit  bekannt  macht,  dals 
jene  Triebe,  ungeachtet  der  vollständige  Inbegriff  ihrer  An¬ 
lagen  bei  jedem  Menschen  vorausgesetzt  werden  mufs, 
dennoch  in  unendlich  verschiedenen  Verhältnissen  ihrer 
Thätigkeit  auftreten,  und  durch  da»  Vorherrschen  eines 
oder  mehrer  unter  ihnen  die  Richtung  der  Denk-  und 
Handlungsweise  bestimmen.  Hierin  ist  die  individuelle  Ei¬ 
gentümlichkeit  des  Charakters  begründet,  welche  unter 
eben  so  vielen  Gestalten  erscheint,  als  cs  Menschen  gab 
und  geben  wird.  Praktische  Mcnsckenkenntnifs  besteht 
daher  in  der  durch  scharfe  Beobachtungsgabe  und  ausgc- 


207 


VI.  Phrenologie. 

/ 

breitete  Erfahrung  erworbenen  Geschicklichkeit,  die  we¬ 
sentliche  Geistes-  und  Gemüthsverfassung  eines  jeden  deut¬ 
lich  zu  erkennen.  In  diesem  Sinne  war  daher  ächte  Le¬ 
bensklugheit  jederzeit  das  Eigenthum  aller  grofsen  Gesetz¬ 
geber,  Herrscher,  Geschäftsmänner,  Weltweisen,  Geschichts¬ 
forscher  und  Dichter,  welche  das  innere  Triebwerk  des 
Gemüihes  durchschauten,  und  ungeblendet  durch  den 
Schimmer  einer  erkünstelten  Gesinnung  und  Handlungs¬ 
weise,  deren  wahre  Bedeutung  an  den  leisesten  und  un- 
willkührlichsten  Zügen  erkannten.  In  den  Werken  dieser 
Männer  ist  ein  unerschöpflicher  Schatz  ächter  Menschen- 
kenntnifs  niedergelegt,  und  aus  der  wissenschaftlichen 
Durchdringung  ihrer  Erfahrungen  mufs  die  Seelenlehre  her¬ 
vorgehen,  wenn  sie  ihre  objective  Gültigkeit  durch  prak¬ 
tische  Anwendbarkeit  bewähren  soll.  Indefs  das  gröfste 
Genie  vermag  es  nicht,  jenen  unermefslichen  Stoff  zu  be¬ 
herrschen,  und  sich  von  allen  Beschränkungen  seines  Ge¬ 
sichtskreises  durch  Individualität,  Zeitalter  und  Lebens¬ 
weise  zu  befreien.  Der  Mensch  bleibt  sich  immerdar  eine 
Aufgabe,  an  deren  Lösung  alle  Geschlechter  ihre  Kräfte 
versuchen  sollen,  um  das  Leben  stets  neu  zu  gestalten, 
und  nicht  in  einer  als  allgemein  gültig  angenommenen 
Form  erstarren  zu  lassen.  Eine  vollständige  Psychologie 
verlangen,  hiefse  daher  beinahe  so  viel,  als  eine  umfas¬ 
sende  Naturkunde  fordern;  aber  die  Behauptung,  dafs  wir 
bisher  von  aller  pragmatischen  Seelenkuude  entblöfst  ge¬ 
wesen  seien,  würde  nichts  anderes  aussagen,  als  dafs  die 
Menschen  stets  in  voller  Unkenntnifs  ihrer  selbst  gehan¬ 
delt,  und  daher  nie  etwas  aus  Ueberlegung,  sondern  alles 
nach  blofsem  Zufall  hervorgebracht  hätten. 

Gail  besafs  ein  ausgezeichnetes  Talent,  die  hervor¬ 
stechenden  Eigenshafteu  einzelner  Menschen  zu  bemerken. 
Schon  in  der  Jugend  fesselte  ihn  die  Beobachtung,  dafs 
seine  Geschwister  und  Mitschüler,  ungeachtet  sie  unter 
gleichen  oder  doch  ähnlichen  Verhältnissen  der  Erziehung 
und  des  Unterrichtes  lebten,  dennoch  in  ihren  Fähigkeiten 


208 


VI.  Phrenologie. 

und  Neigungen  die  auffallendsten  Unterschiede  zeigten,  Von 
denen  die  Richtung  ihrer  geistigen  Entwickelung  und  ihrer 
Lebensweise  durchaus  bestimmt  wurde.  Es  leuchtete  ihm 
bald  ein,  dafs  die  praktische  Philosophie  vor  allem  die 
Bedingungen  der  Individualität  erforschen  müsse, 
um  nach  Maafsgabc  derselben  die  Verhältnisse  eines  jeden 
naturgcmäfs  zu  beurtheilen  und  zu  regeln.  Je  weniger 
Aufschlufs  hierüber  die  Compendicn  der  analytischen  Psy¬ 
chologie  ihm  gaben,  um  so  mächtiger  fühlte  er  sich  zur 
Beobachtung  hingezogen,  bei  welcher  ihm  die  grofse  Ge¬ 
schwindigkeit  seines  Geistes,  sich  in  die  verschiedenartig¬ 
sten  Seelenzustände  anderer  zu  versetzen,  ungemein  zu 
Hülfe  kam.  Weniger  reich  war  er  mit  dem  philosophi¬ 
schen  Takte  ausgestattet,  welcher  die  allgemeinere  Bedeu¬ 
tung  der  einzelnen  Geistes-  und  Gemüthstriebe  richtig  er- 
fafst,  daher  er  sich  durch  vereinzelte  Beobachtungen  dazu 
verleiten  liefs,  einen  Mord-,  Diebes-  und  Kaufsinn  aufzu¬ 
stellen,  und  hierdurch  alle  diejenigen  gegen  sich  einzu¬ 
nehmen,  welche  angeborene  Anlagen  zu  Lastern  mit  Ab¬ 
scheu  verwarfen.  Wir  werden  sehen,  wie  glücklich  die¬ 
ser  Anstofs  von  seinen  Nachfolgern  beseitigt  worden  ist. 

Vom  psychologischen  Standpunkte  aus  betrachtet  ist 
daher  Gall's  Lehre  die  Sprache  der  Natur,  welche  ihre 
Werke  zwar  nach  allgemeinen  Typen  vollbringt,  aber  ihre 
zusammengesetzteren  Geschöpfe,  namentlich  den  Menschen, 
unter  beträchtlichen  Modificationen  der  Grundform  entste¬ 
hen,  und  diese  in  Folge  ihrer  Entwickelung  unter  abwech¬ 
selnden  \  erhältnissen  noch  mannigfacher  sich  gestalten 
läfst.  Aus  dieser  auf  individuelle  Eigentümlichkeit  ge¬ 
wendeten  Richtung  seines  Forschens  entsprang  die  Muth- 
maafsung,  dafs  es  äufsere,  sinnliche  Merkmale  gebe,  an  de¬ 
nen  sich  die  Seelcnverfassung  eines  Menschen,  auch  w’enn 
er  sie  zu  verbergen  strebe,  erkennen  lasse.  Dieser  Ge¬ 
danke  war  nicht  neu;  denn  das  zu  allen  Zeiten  rege  In¬ 
teresse  der  Menschenken ntuiJfe  hat  die  mannigfachsten  Ver¬ 
suche  erzeugt,  die  Geheimsprachc  der  Seele  in  den  Chif- 

fern 


209 


VI.  Phrenologie. 

/ 

fern  der  äufseren  Gestalt  .zu  lesen,  wie  denn  namentlich 
La  vater’ s  Physiognomik  dergleichen  in  den  Liueamenteu 
des  Gesichtes  aufgefunden  zu  haben  sich  rühmte.  Auch 
sind  die  Ausdrücke  des  Antlitzes  eine  genaue  Symbolik 
des  Geistes;  nur  dafs  wir  ihr,  wie  den  hieratischen  Schrift¬ 
zügen,  kaum  Worte  unterlegen,  sondern  dem  plastischen 
Künstler  die  Nachahmung  jener  Bildersprache  überlassen 
müssen,  welche  wir  besser  mit  dem  Gefühl,  als  mit  dem 
Verstände  begreifen.  Da  Gail,  als  Arzt  von  der  wesent¬ 
lichen  Bedeutung  des  Gehirns  als  Seelenorgan  überzeugt, 
in  der  verschiedenen,  durch  die  äufserc  Schädelbildung  be- 
zeichneten  Gestaltung  desselben  die  Andeutung  der  geisti¬ 
gen  Eigentümlichkeit  aufsuchte,  so  war  seine  Lehre  ur¬ 
sprünglich  nichts  anderes,  als  eben  auch  eine  Physiogno¬ 
mik  ,  der  man  durchaus  nicht  den  Vorwurf  machen  konnte, 
dafs  sie  das  Bezeichnete  über  dem  Zeichen  vergesse,  oder 
mit  anderen  Worten,  dafs  sie  die  Seele  mit  dem  Gehirn¬ 
mark  identiücire,  um  alle  Erscheinungen  des  Bewustseins 
ausschliefslich  aus  organischen  Regungen  desselben  zu  er¬ 
klären. 

In  der  Gal  Ischen  Physiognomik  lag  aber  ein  Keim 
weiterer  Entwickelung,  die  sie  als  blofse  Semiotik  der  In¬ 
dividualität  nicht  hätte  erreichen  können.  Wenn  es  sich 
nämlich  durch  die  Erfahrung  bestätigen  sollte,  dafs  einer 
hervorstehenden  geistigen  Anlage  jedesmal  die  Vergröfse- 
rung  eines  bestimmten  Gehirntheiles  entspräche;  so  liefse 
sich  der  Gedanke  nicht  abweisen,  das  letztes  ein  eigen¬ 
tümliches  Organ  jener  darstelle,  dafs  folglich  das  Gehirn 
ein  Gliederbau  selbstständiger  Geistesorgane  sei.  Diese  An¬ 
sicht  stand  der  herrschenden  Meinung  direct  gegenüber, 
der  zufolge  das  Gehirn  als  allgemeines  Seelenorgan  mit  der 
Gesammtheit  seiner  Substanz  bei  jeder  Geistesthätigkeit 
wirksam  sein  soll.  Wir  verlassen  indeis  diese  Streitfrage, 
zu  deren  Lösung  die  bisherigen  physiologischen  und  ana¬ 
tomischen  V  orarbeiten  lange  noch  nicht  ausreichen. 

Es  wurde  schon  bemerkt,  dafs  Gail  aus  vorkerrschen- 

•  Band  28.  Heft  2.  14 


210 


V II.  Bildungsfclder 

der  Neigung  zu  individualisiren ,  die  Charakterformen  zu 
concrct,  und  darum  einseitig  auffai'slc.  Spurzheim  half 
diesem  Mangel  grofsenihcils  durch  gründlichere  Bestim¬ 
mung  der  einzelnen  Triebe  ab,  und  ihm  ist  der  Verf.  vor¬ 
liegender  Schrift  vornämlich  in  der  Darstellung  derselben 
gefolgt.  Jndcfs  haben  selbst  die  neueren  Phrenologen  sich 
durch  da9  eifrige  Bestreben .  jedem  Triebe  sogleich  eiu  Or¬ 
gan  anzuweisen,  in  ihrer  psychologischen  Forschung  Fes¬ 
seln  angelegt,  und  sich  der  übereilten  IIolTbung  hingege¬ 
ben,  nach  der  bildlichen  Tafel,  auf  welcher  jene  Organe 
in  ihrer  Aneinanderreihung  bezeichnet  sind,  das  Triebwerk 
der  Seele  construircn  zu.könncn.  Es  wurde  indels  schlimm 
mit  der  Seelenlchre  bestellt  sein,  wenn  die  Zahl  ihrer 
Elemente  durch  die  Summe  von  Gehirnwindungen  be¬ 
stimmt,  und  der  Umfang  des  geistigen  Wirkens  auf  dem 
engen  Gebiete  der  Oberfläche  des  Schädels  abgemessen 
werden  müfste.  An  eine  Gestaltung  der  Psychologie  zur 
wissenschaftlichen  Einheit  ist  daher  bei  der  Phrenologie 
nicht  zu  denken;  sie  liefert  nur  eine  Fülle  vereinzelter 
Thatsachen,  und  in  diesem  Siune  wollen  wir  die  von  ihr 
aulgestellten  Triebe  der  Reihe  nach  durchgehen. 

(Schlufs  folgt.) 


VII. 

Beobachtungen  ursprünglicher  Bildungs- 
fchler  und  gänzlichen  Mangels  der  An¬ 
gen  bei  Men  scheu  und  Tbieren.  Von  Dr. 
Burkhard  Wilhelm  Seiler,  Königl.  Sachs. 
Hof-  und  Medicinalratbe,  Director  der  chirurgisch- 
medicinischen  Acadcmie,  Professor  der  Anatomie, 
Physiologie  und  gerichtlichen  Arzneikunde,  In¬ 
spector  der  anatomischen  Sammlungen,  des  Kü- 


% 

und  Mangel  des  Auges.  211 

nigl.  S  ächs.  Ordens  für  Verdienst  und  Treue  Rit¬ 
ter,  des  König].  Schwedischen  Sanilalscollegiums, 
der  medicinischen  Facultafen  zu  Kasan  und  ^esth 
auswärtigem,  mehrer  Gelehrten- Gesellschaften  or¬ 
dentlichem  und  correspondirendem  Mitgliede.  Dres¬ 
den,  in  der  Waltherschen  Buchhandlung.  1833. 
(3  Thlr.) 

Der  hochberühmte  Verfasser  bringt  mit  dieser  äufserst 
fleifsigen  Schrift  seinem  Collegen  Hedenus  am  Tage  des 
vollendeten  fünfzigsten  Jahres  treuer  und  ehrenvoller  Amts¬ 
führung  im  Namen  der  Professoren  der  chirurgisch -medi¬ 
cinischen  Academie  zu  Dresden,  freundliche  und  herzliche 
Glückwünsche  dar  —  selbst  durch  vorliegendes  Werk  zu¬ 
gleich  aufs  Schönste  den  Beweis  führend,  dafs  hohes  Al¬ 
ter,  folgt  es  einer  in  geistiger  Regsamkeit  und  Thätigkeit 
vollbrachten  Jugend,  eine  Segnung  des  Himmels  ist,  in¬ 
dem  es  nicht  unfähig  macht  Treffliches  zu  leisten,  son¬ 
dern  dem  Trefflichen  nur  noch  das  Siegel  voller  Reife 
aufdrückt. 

Das  Verlangen,  einzelne  interessante  Beobachtungen 
anzureihen  dem  bisher  Bekannten,  und  selbst  in  organi¬ 
sche  Verbindung  zu  setzen  mit  dem  Verwandten,  hat  den 
Verfasser  getrieben,  auf  die  Beschreibung  einiger  wichti¬ 
gen  Mifsbildungen  der  Augen,  ausführliche  Zusammenstellun¬ 
gen  und  Abhandlungen  über  die  Bildungsfehler  dieserOrgane 
folgen  zu  lassen.  Es  beginnt  das  Werk  mit  der  Beschrei¬ 
bung  der  Mifsbildungen.  Zunächst  verweilt  der  Verf.  bei 
dem  Kopfe  eines  vollkommen  reifen,  todtgeborenen  Kin¬ 
des  männlichen  Geschlechts,  dessen  übrige  äufsere  und  in¬ 
nere  Organe  ganz  normal  gebildet  sind.  Zu  einer  sehr 
grolsen  Hirnhöhle,  ist  das  Gesicht  sehr  niedrig.  Die  Stirn¬ 
beine,  die  Scheitelbeine  und  das  Hinterhauptbein  stehen 
weit  auseinander,  durch  häutiges  Gewebe  mit  einander 
verbunden,  nach  dessen  Durchschneidung  eine  beträcht¬ 
liche  Menge  trübes  Wasser  ausfliefst  und  die  harte  Hirn- 

14  * 


2fO  VII.  Bildnngsfchler 

haut  sich  als  eine  grofsc  Wasserblase  zeigt,  in  welcher 
durchaus  keine  Spur  von  Gchirnmassc  zu  finden  ist,  ob- 
wol  ^is  Rückenmark  die  gehörig  geschlossene  Wirbelbcin- 
höhle  bis  zu  dem  ersten  Halswirbel  anfüllt.  Das  Schloch 
und  die  obere  Angenhöhlenspalte  sind  sehr  verengert,  der 
Türkensattel  flach.  —  Betrachtet  man  die  Augen  von 
vorn,  so  sicht  man  längs  des  oberen  und  unteren  Augen¬ 
höhlenrandes  die  Augenlider  in  Form  niedriger,  nur  eine 
Linie  im  senkrechten  Durchmesser  haltender  haarloser  Haut¬ 
falten  hinlaufen,  zwischen  welchen  die  Augcnlidcrspalten 
von  5  Linien  Breite  und  4  Linien  Höhe  sich  finden,  die 
von  jenen  in  der  Bildung  gehemmten  Augenlidern  unge¬ 
fähr  bis  zur  Hälfte  bedeckt  werden.  In  der  Tiefe  zwi¬ 
schen  jener  Spalte  sieht  man  die  Bindehaut  des  Augapfels, 
als  Fortsetzung  der  innern  Platte  der  Augenlider.  Es  geht 
das  Hautgewebe  von  dem  obern  Augcnlide  zu  dem  untern 
ununterbrochen  über  die  vordere  Fläche  der  Augengrubc 
fort;  da  wo  es  diese  bedeckt  wird  es  dünner,  und  im  fri¬ 
schen  Zustande  konnte  man  seine  zartere,  den  Schleim¬ 
häuten  ähnliche  Decke  (Epithelium)  deutlicher  erkennen; 
auch  war  diese  Hautfläche  etwas  röthlichcr,  als  die  äafsere 
Platte  der  Augenlider.  Wo  hinten  das  Rudiment  des  Aug¬ 
apfels  anlicgt,  sieht  inan  von  vorn  nur  eine  schwache  Er¬ 
habenheit.  Thränenpunkte  sind  vorhanden.  Dicht  hinter 
der  Hautplatte,  welche  die  Augengrube  bedeckt  und  nach 
vorn  zu  schliefst,  liegt  der  kleine  Augapfel,  dessen  Durch¬ 
messer  von  vorn  nach  hinten  1‘  Linie,  dessen  (4)uecr- 
durebmesser  1|  Linie  beträgt.  An  einer  Stelle  ist  seine 
vordere  Fläche  genau  mit  der  Conjunctiva  verbunden;  seine 
untere  Fläche  liegt  auf  dem  unteren  geraden  Augenmus¬ 
kel;  seitlich  und  hinten  ist  er  mit  Zellstoff  umgeben,  in 
welchem  man  eben  so  wenig,  als  an  seiner  hin¬ 
teren  Fläche,  eine  Spur  des  Sehnerven  ent¬ 
decken  kann.  An  der  vorderen  Fläche  ist  eine  kleine, 
trübe  Cornea  zu  erkennen,  durch  'welche  man  im  Innern 
des  Augapfels  schwarzes  Pigment  sehen  kann,  und  die  sich 


und  Mangel  des  Auges.  213 


tcn  Theil  jenes  kleinen  Augapfels  umgibt,  deutlich  unter¬ 
scheiden  läfst.  Bei  der  Oeffnung  des  linken  Augapfels 
llielsen  einige  Tropfen  ganz  klaren  Wassers  aus.  Die  in¬ 
nere  Fläche  der  Sclerotica  ist  mit  einer  hinten  bräunlich, 
vorn  nur  schwärzlich  gefärbten  Choroidea  bedeckt.  Uebri- 
gens  bilden  diese  Häute  nur  einen  kleinen  mit  Wasser  an¬ 
gefüllten  Sack,  in  welchem  weder  Nervenhaut,  noch  Glas¬ 
körper  oder  Krystalllinsc  zu  finden  ist.  Die  Thränendrü- 
sen  fehlen  in  beiden  Augen.  In  der  Augenhöhle  der  rech¬ 
ten  Seite  fehlen  der  obere  gerade  und  untere  schiefe  Au¬ 
genmuskel;  in  der  linken  Augenhöhle  fehlt  der  untere 
schiefe  Augenmuskel.  Alle  andere  Muskeln,  mit  Ausnahme 
des  unteren  geraden,  mit  welchem  der  kleine  Augapfel 
verbunden  ist,  endigen  sich  in  Zellstoff  an  der  hinteren 
Fläche  der  Bindehaut  des  Augapfels.  Von  den  Nerven 
fehlen  in  der  rechten  Seite  das  Ganglion  ciliare  und  die 
zu  demselben  gehörigen  Aeste  des  dritten  und  des  ersten 
Astes  des  fünften  Hirnnerven,  welcher  sein  Ganglion  Gasseri 
bildet,  und  aus  welchem  Ober-  und  Unterkiefernerven  her¬ 
vorgehen.  In  der  Augenhöhle  der  linken  Seite  fehlen  alle 

Nerven.  Der  sechste  Ilirnncrv  geht  eben  so,  wie  eine 

/ 

leere  Nerveuscheidc  des  ersten  Astes  des  fünften  Nerven- 
paares  nur  bis  zu  der  oberen  Augenhöhlenspalte,  dann  ver¬ 
weben  sie  sich  mit  dem  Zellstoff,  von  welchem  aus  sich 
ein  dichterer  Streif,  wahrscheinlich  ein  Rudiment  der  Ncr- 
venscheidc,  als  Fortsetzung  des  sechsten  Hirnnerven  zu 
dem  äufseren  geraden  Augenmuskel  verfolgen  läfst.  Ueber- 
haupt  ist  von  dem  fünften  Nervenpaare  auf  dieser  Seite 
nur  eine  dünne  Nervenscheide  vorhanden,  die  sich  da,  wo 
der  halbmondförmige  Nervenknoten  liegen  sollte,  in  Zell¬ 
stoff  /verliert.  Demuogeachtet  sind  Aeste  des  Oberrollner- 
veu  und  des  Stirnnerven  auf  der  Stirne,  so  wie  die  Aeste 
des  Uuteraugenhöhlenucrveu  auf  die  gewöhnliche  Weise 
in  dem  Gesichte  verbreitet.  Der  Stamm  des  fünften  Ner¬ 
ven  ist  also  durch  eine  dünne  Nervenscheide  angcdcutet, 


214  VH.  Bildungsfehlcr 

die  bald  ganz  verschwindet,  und  doch  sind  die  Endästc 
entwickelt.  —  Die  Arteria  ophthalmica  verbreitete  sich 
zu  den  vorhandenen  Gebilden  regclmüfsig. 

Eine  zweite  Mifsgcburt,  ein  reifes,  gut  genährtes,  todt- 
geborenes  Kind  männlichen  Geschlechts,  mit  zu  grofsem 
Kopfe,  fehlendem  linken,  kleinem  und  mifsgebildetom  rech¬ 
ten  Ohre,  mit  verkürzten  und  gekrümmten  Vorderarmen, 
mit  verbildetem  Daumen  der  rechten  und  fehlendem  der 
linken  Hand,  und  mit  zu  grofsem  Hodensacke,  wird  riiek- 
sich t lieh  der  Mifsbildungcn  seiner  Augen  zunächst  genauer 
beschrieben.  Nach  Eröffnung  des  Schädels  flofs  eine  zuin 
Theil  sulzige,  zum  Theil  ganz  wässerige  Flüssigkeit  aus, 
und  die  harte  Hirnhaut  zeigte  sich  alä  eine  grofse  Was¬ 
serblase;  von  dem  Gehirn  war  keine  Spur  zu  finden.  Auf 
dein  Schädclgrundc  sind  die  Sicbplatte  des  Sicbbcincs  mit 
sehr  kleinem  Hahnenkamm,  die  Augenhöhlenplatle  des 
Stirnbeines,  die  grofsen  ud*  kleinen  Flügel  des  Keilbeines, 
der  Grundthcil  des  Hinterhauptbeines  von  normaler  Bil¬ 
dung.  Das  Sehloch  und  die  obere  Augenhöhlenspalte  sind 
sehr  eng;  der  Felsenthcil  des  Schläfenbeines  der  linken 
Seite  ist  nur  durch  eine  Knochcnlciste  angedeutet;  auf  der 
rechten  Seite  ist  er  auch  kleiner  ata  gewöhnlich.  Be¬ 
trachtet  man  die  Augen  von  vorn,  so  findet  man  die  Au¬ 
genlider  und  den  Augapfel  normal  gebildet,  aber  die  Thrä- 
nenpunktc  fehlen  an  beiden  Augen.  Nach  Wegnahme  der 
Augenhöhlcnplattc  des  Stirnbeines  vermifst  man  die  Thrä- 
ncudrüsen.  In  der  rechten  Seite  fehlen  der  obere  und  der 
untere  schiefe  Augenmuskel.  Von  den  zum  Auge  gehöri¬ 
gen  Nerven  findet  man  nur  die  leere  Scheide  des  Sehner¬ 
ven.  welche  aber  so  dünne  ist,  dafs  sic  nur  bis  zu  dem 
Zellstoffe,  welcher  in  dem  Sehloche  liegt,  verfolgt  werden 
kann.  In  der  linken  Augenhöhle  fehlen  der  obere  gerade 
und  die  beiden  schicfeu  Augenmuskeln.  Man  findet  die 
von  Nerven maVk  ganz  leere  vSchcidc  des  Sehnerven,  in 
welche  man  von  der  zur  Wasserblase  ausgedehnten  harten 
Hirnhaut  aus  ein  Uotshaar  bis  zu  dem  Augaptcl  einführen 


215 


und  Mangel  des  Auges. 

kann,  und  welche  daher  ohne  Zweifel  mit  der  in  jener 
Blase  befindlichen  Flüssigkeit  angefüllt  war,  die  sich  dem¬ 
nach  bis  iu  die  Höhle  des  Augapfels  selbst  verbreitete, 
und  die  Sl eile  des  Glaskörpers  einnahm.  Das  dritte  Ner¬ 
venpaar  geht  wie  gewöhnlich  zu  dem  äufseren  geraden  Au¬ 
genmuskel.  Von  den  übrigen  Nerven  bis  zu  dem  Vagus 
sind  zwar  dünne,  leere  Scheiden  auf  der  harten  Hirnhaut 
zu  sehen,  allein  sie  sind  so  dünn  zellstoffig  und  verwe¬ 
ben  sich  mit  dem  Zellstoffe  der  harten  Hirnhaut  so  innig, 
dafs  man  sie  nur  bis  in  diesen  verfolgen  kann.  Erst  von 
dem  Giossopharyngeus  an  werden  die  Nervenscheiden  et¬ 
was  fester;  sie  enthalten  aber  nur  wenig  Nervenmark  und 
erscheinen  wie  verkümmert;  doch  kann  man  den  N.  gios¬ 
sopharyngeus,  vagus,  accessorius  Willisii  und  hypoglossus 
bis  zu  ihrem  Austritte  aus  der  Hirnhöhle  verfolgen.  Die 
Augäpfel  sind  etwas  gröfser,  als  sie  nach  dem  Alter  und 
der  Gröfse  des  Kindes  hätten  sein  sollen.  Conjunctiva, 
Sclerotica,  Cornea,  Iris  und  Krysfalllinse  sind  normal  ge¬ 
bildet;  die  Choroidea  ist  hinten  bräunlich,  nur  vorn  in 
der  Gegend  des  Faltenkranzes,  und  an  diesem,  zeigt  sich 
schwarzes  Pigment.  Die  Nervenhaut  und  Glaskörperhaut 
fehlen  ganz,  und  die  Stelle  des  Glaskörpers  ersetzt  eine 
ganz  wasserhelle  Flüssigkeit.  —  Sehr  merkwürdig  ist  an 
dieser  Mifsgeburt,  dals  Nieren,  Nebennieren,  Harnleiter? 
Harnblase,  Harnröhre  und  die  Eichel  des  männlichen  Glie¬ 
des  fehlen,  dagegen  Hoden,  Nebenhoden  und  schwammige 
Körper  des  männlichen  Gliedes  vorhanden  sind. 

3.  Einem  Microcephalus  fehlt  von  den  Kopfknochen 
das  Stirnbein;  die  Scheitelbeine,  das  Hinterhauptbein  bis 
auf  den  Grundtheil,  welcher  unförmlich  breit,  der  Schup- 
pcntheil  und  die  Felsentheile  des  Schläfenbeines  sind  un¬ 
vollkommen  entwickelt;  von  dem  Keilbeine  fehlen  die 
grofsen  Flügel;  von  den  kleinen  Flügeln  finden  sich  nur 
Rudimente,  der  Körper  des  Keilbeins  ist  unförmlich  grofs. 
Die  Halswirbel  mangeln  ganz;  die  übrigen  Wirbelbeine 
sind  gehörig  entwickelt.  Die  Ilirnncrven  fehlen  alle,  bis 


216 


VII.  Bildungsfeblcr  , 

auf  den  Sehnerven.  —  Es  fehlen  von  den  Knochen, 
welche  die  Augenhöhlen  bilden,  die  Augenhühlcnplattc  des 
Stirnbeins,  *cr  grofse  Flügel  des  Keilbeins  und  die  Au- 
genhöhlenplatte  des  Jochbeins.  Das  obere  und  untere  Au¬ 
genlid  besteht  aus  Linien  hohen  llautfaltcn,  welche  den 
stark  hervorragenden  Augapfel  wie  ein  Kranz  umgeben. 
Die  Augenliderspaltc  ist  von  einem  Augenwinkel  zu  dein 
anderen  7  Linien  breit.  Die  Augäpfel  sind  vcrhältnifs- 
mafsig  zu  grofs.  Von  den  Muskeln  licls  nur  der  Augen- 
lidhebcr  sich  ganz  deutlich  darstellen;  übrigens  ist  die  hin¬ 
tere  Flache  der  Sclcrotica  mit  einem  undeutlichen  Faser¬ 
und  Zellstofigcwcbc  umgeben,  aus  welchem  man  nur  den 
oberen  geraden  Augenmuskel  mit  Mühe  herauspräpariren 
konnte.  Ungeachtet  der  Sehnerve  ziemlich  schwach  ist, 
so  hat  sich  doch  die  Ncrveuhaut  des  Augapfels  entwickelt; 
auch  alle  übrigen  Iläutc  desselben  und  die  Krystalllinse 
haben,  die  unvcrhältuifsmäfsigc  Gröfsc  abgerechnet,  eine 
normale  Bildung;  die  Glaskürperhaut  fehlt  dagegen,  und 
eine  wasscrhcllc  Flüssigkeit  ersetzt  die  Stelle  des  Glaskör¬ 
pers.  Schwarzes  Pigment  findet  sich  nur  vorn  auf  der 
Uvea,  dem  Faltenkranze  und  in  dessen  Nähe  auf  der  Cho- 
roidea;  der  hiutere  Thcil  dieser  Haut  hat  eine  bräunliche 
Farbe.  Nebcu  diesen  Missbildungen  ist  auch  das  äufsere 
Ohr  sehr  unvollkommen  entwickelt;  Helix  und  Antitragus 
sind  uoch  wenig  gesondert.  Ein  grofser  Nabelbruch  ent¬ 
hält  fast  die  ganze  Leber,  die  meisten  dünnen  und  einen 
Theil  der  dicken  Gedärme. 

Es  folgt  viertens  die  Beschreibung  eines  vollkommen 
reifen,  wohlgenährten  Kindes  männlichen  Geschlechtes,  mit 
gänzlichem  Mangel  der  Augen,  aller  zu  denselben  gehöri¬ 
gen  Gebilde  und  mehren  anderen  Mifsbildungcu.  Dieses 
Kiud  hat  3  läge  lang  nach  der  Geburt  gelebt,  und  wurde 
durch  Linflöfscn  von  Milch  und  Chaniillenlhce  erhalten. 
Die  Stellen,  wo  die  Augenhöhlen  ihren  Sitz  haben  soll¬ 
ten,  sind  mit  einer  Fortsetzung  der  Kopfhaut  überzogen, 
die  auch  bis  zu  den  verwachsenen  Nasenbciucu,  welche 


217 


und  Mangel  des  Anges. 

wie  ein  Schnabel  hervorragend  mit  Haaren  bedeckt  sind. 
Den  mittleren  Tlieil  des  Gesichtes  nimmUein  grofser  Wolfs¬ 
rachen  ein.  Von  der  äufseren  Nase  sind  nur  die  unvoll¬ 
kommen  entwickelten  und  verwachsenen  Nasenbeine  vor¬ 
handen;  der  Zwischenkieferknochen,  die  Hirufortsätze  des 
Oberkiefers  und  die  Gaumenknochen  fehlen  ganz,  so  dafs 
man  frei  in  die  zusammengeschmolzene  Nasen-  und  Mund¬ 
höhle  hineinsieht,  in  welchen  oben  in  der  Mitte  die  senk¬ 
rechte  Platte  des  Siebbeines,  zu  beiden  Seiten  die  unte¬ 
ren  Muscheln ,  und  neben  diesen  vorwärts  die  Rudimente 
des  Zahnzellentheiles  des  Oberkiefers  liegen;  die  Grund¬ 
fläche  dieser  grofsen  Höhle  bilden  die  Zunge  und  der  Un¬ 
terkiefer.  Das  rechte  äufsere  Ohr  ist  vollkommen  ent¬ 
wickelt,  das  linke  Ohr  ist  verkrüppelt;  weder  Helix  und 
Anthelix,  noch  Tragus  und  Antitragus  sind  deutlich  ge¬ 
sondert;  der  äufsere  Gehörgang  ist  verschlossen. 

Die  rechte  obere  Gliedmasse  fehlt  bis  auf  Schulter¬ 
blatt  und  Schlüsselbein.  Die  linke  obere  Gliedmasse  ist 
vorhanden,  aber  der  Daumen  fehlt;  statt  des  zweiten,  drit¬ 
ten  und  vierten  Fingers  ist  ein  unförmlich  grofser  Finger 
vorhanden;  der  kleine  Finger  ist  normal.  Die  untere  Kör¬ 
perhälfte  ist  äufserlich  ohne  Bildungsfehler. 

Nach  Eröffnung  der  Hirnhöhle  flofs  viel  Wasser  aus; 
in  dem  Grunde  dieser  Wasserblase  sah  man  ein  unvoll¬ 
kommen  entwickeltes  Gehirn.  Von  den  Stirnbeinen  ist 
nur  ein  kleines,  unförmliches  Rudiment  vorhanden ,  wel¬ 
ches  links  neben  der  Siebplatte  des  Siebbeines  und  unmit¬ 
telbar  über  dem  Rostro  liegt;  die  Schuppentheile  der  Schlä¬ 
fenbeine  fehlen,  dagegen  haben  die  Scheitelbeine  einen 
sehr  ausgedehnten  Umfang;  sie  erstrecken  sich  von  dem 
Hinterhauptbeine  bis  zu  dem  Felsen tlieile  der  Schläfenbeine, 
vorn  bis  zu  dem  Rudimente  der  Stirnbeine  und  bis  an  die 
ungewöhnlich  breiten  kleinen  Flügel  des  Keilbeines.  Auf 
der  Grundfläche  der  Hirnschaale  sieht  man,  aufser  dem 
Rudiment  des  Stirnbeines,  die  Siebplatte  des  Sicbbeincs, 
die  sehr  dünn  ist  und  statt  der  Siebbeinlöcher*  nur  seichte 


‘21 8 


VII.  Bildungsfehler 

Vertiefungen  zeigt;  der  llahneokamm  fehlt  ganz;  zu  bei¬ 
den  Seiten  jener  Platte  liegen  die  ungewöhnlich  breiten 
kleinen  Flügel  des  Keilbeins;  sie  gehen  gekrümmt  aufwärts 
und  seitwärts,  verbinden  sich  mit  dem  Rudimente  des 
Stirnbeines  und  den  Scheitelbeinen  nach  aus-  und  auf¬ 
wärts  und  nach  einwärts  mit  der  Siehplatte  des  Siebbeines. 
Zwischen  ihnen  und  den  weiter  rückwärts  liegenden  grofsen 
Flügeln  des  Keilbeines  ist  ein  beträchtlicher  Spalt,  wel¬ 
cher  mit  einer  weichen,  sehnenfaserigen  Masse  ausgclüllt 
ist  und  in  die  Nasenhöhle  führt.  Die  obere  Fläche  des 
Körpers  des  Keilbeines  ist  ungewöhnlich  breit;  die  grofsen 
Flügel  des  Keilbeines  und  die  Felsentheile  der  Schläfen¬ 
beine  liegen  so  dicht  an  einander,  dafs  die  Keilbein- Fel¬ 
senspalte  fehlt.  Da  die  Augenhöhlenplatte  des  Stirnbeins, 
der  Oberkieferknochen  und  der  Jochbeine,  so  wie  die  Pa- 
pierplatten  des  Siebbeines  und  die  Thräncnbeiue  fehlen,  so 
sind  auch  beide  Augenhöhlen  ganz  unentwickelt  geblieben; 
die  Scheitelbeine  schliefscn  sich  au  die  kleinen  Flügel  des 
Keilbeines  an,  und  die  behaarte  Haut  setzt  sich  unmittel¬ 
bar  in  die  Wangenhaut  fort.  Von  dem  Gehirne  sind  ei¬ 
nige  unvollkommen  gebildete  Theile  vorhanden,  doch  hat 
die  Entwickelung  die  hinteren  Lappen  des  grofseu  Gehir¬ 
nes,  die  Sehhügel  und  die  Vierhügcl  auf  beiden  Seiten 
erreicht.  Von  oben  sicht  inan  nämlich  im  Grunde  der 
Wasserblase  der  harten  Hirnhaut  und  auf  der  Grundfläche 
der  Hirnschaale  ein  gröfercs  Rudiment  des  rechten,  ein 
kleineres  des  linken  hinteren  Lappens  der  Halbkugeln  des 
grofseu  Gehirnes;  rechts  eine  halbmondförmige  Vertiefung, 
als  Spur  der  Seitenhirnhöhlen;  in  dem  linken  Rückenmarke 
eine  kleine,  unförmliche  Grube.  \orn  hinter  der  Sieb¬ 
platte  treten  beide,  nur  zum  Thcil  entwickelten,  hinteren 
Lappen  des  grofsen  Gehirnes  divergirend  auseiuader,  so 
dafs  man  jene  Knochcnplattc,  nur  von  der  harten  Hirn¬ 
haut  bedeckt,  sogleich  blofs  liegen  sieht.  In  der  Mitte 
zwischen  jenen  Rudimenten  ist  eine  Spur  der  dritten  Hirn- 
höhle,  welche  hinten  auf  beiden  Seiten  durch  die  Seh- 


219 


und  Mangel  des  Auges. 

hiigel  und  unten  von  der  grauen  Platte  begränzt  wird; 
hinter  dieser  liegen  die  nicht  recht  deutlich  gesonderten 
Vierhügel,  die  Sylvische  Wasserleitung,  das  kleine  Gehirn 
mit  dem  oberen  Wurm  und  ungleichen  Halbkugeln,  in 
dem  die  rechte  die  gröfsere  ist.  Betrachtet  m^n  diese  Ge- 
hirntheile  von  unten,  so  findet  man  die  unvollkommen  ent¬ 
wickelten  hinteren  Lappen  dei^  rechten  und  linken  Halb¬ 
kugeln  des  grofsen  Gehirnes;  dazwischen  vorn  liegt  der 
grofse  Spalt,  durch  das  Auseinanderweichen  ihrer  innern 
Flächen  bewirkt;  hinter  diesem  folgen  der  rechte  und 
linke  Hirnschenkei,  der  Gehirnknoten,  das  verlängerte 
Mark  mit  deutlich  gesonderten  Pyramiden  und  Olivenkör¬ 
pern,  das  kleine  Gehirn  nebst  dem  unteren  Wurm  und 
alle  llirnnerven,  mit  Ausnahme  des  Geruchsnerven;  die 
Sehnerven  können  bis  zu  den  Sehhügeln  verfolgt  werden, 
und  beide  vereinigen  sich  an  der  gewöhnlichen  Stelle.  Es 
fehlen  demnach:  die  Zirbel,  der  grofse  und  kleine  Seepfer- 
defufs,  die  Nebenerhabenheit,  die  gezahnte  Leiste,  der 
Hornstreif,  die  gestreiften  grauen  Körper,  die  vordere  und 
hintere  Commissur,  der  Balken,  die  Scheidewand,  das  Ge¬ 
wölbe,  die  Markhügelchen,  der  Trichter  und  der  Hirn¬ 
anhang. 

In  Betreff  der  Unterleibshöhle  ist  noch  zu  bemerken, 
dafs  die  Milz  ungewöhnlich  grofs,  die  linke  Niere  sehr 
klein,  die  rechte  flach,  schlaff  und  überhaupt  unförmlich 
ist;  die  Nebennieren  fehlen;  die  dicken  De* me  sind  sehr 
erweitert,  besonders  das  letzte  Stück,  vor  der  linken 
Krümmung  bis  zu  dem  Ende  des  Mastdarmes;  der  wurm¬ 
förmige  Anhang  hat  eine  beträchtliche  Länge. 

Nach  der  Beschreibung  dieser  merkwürdigen  Mifsgc- 
burten  und  der  Erläuterung  ihrer  und  einiger  anderen  Ab¬ 
bildungen,  geht  der  Verf.  über  zu  der  Abhandlung:  Von 
den  ursprünglichen  BilduDgsfehlern  und  dem  gänzlichen 
Mangel  der  Augen.  \ 

In  dem  Abschnitt,  der  die  Zahl  der  Augen  behan¬ 
delt,  macht  der  Verf.  darauf  aufmerksam,  dafs  man  die 


220 


VII.  Bikhmgsfchlcr 

i 

Art  von  Monophthalmie,  bei  welcher  das  vorhandene  Auge 
seine  gewöhnliche  Lage  behalt  und  gar  keiue  Spur  von 
doppelter  Entwickelung  seiner  einzelnen  Thcile  zeigt,  wohl 
unterscheiden  müsse  von  der  Art  der  Einäugigkeit,  bei 
welcher  die  Augen  in  der  Milte  unter  dem  Stirnbeine  lie¬ 
gen  und  immer  das  Bestreben  zur  Bildung  zweier  Augen 
in  irgend  einem  Thcile  wenigstens  angcdcutet  ist.  Für 
jenen  Bilduugsfehler  schlägt  er  den  Namen  Monophthalmia 
perfecta,  für  diesen  Monophthalmia  imperfecta  s.  Cyclopia 
vor.  Diese  letztere  betrachtet  der  Verf.,  gestützt  auf 
lluscb ke ’s  und  auf  eigene  Untersuchungen,  mit  II.  als 
eine  Folge  der  in  ihrem  normalen  Wirken  gehemmten  or- 
ganisirendeu  Thätigkeil,  wenn  ihm  gleich  die  Annahme, 
dafs  der  vollkommensten  Cyclopenbildung  nie  früheste  Pe¬ 
riode  der  normalen  Entwickelung  des  Auges  entspräche, 
noch  der  Bestätigung,  besonders  durch  Untersuchungen  der 
Embryonen  der  Säugethicre  zu  bedürfen  scheint. 

In  dem  die  Gröfse  des  Augapfels  behandelnden  Ab¬ 
schnitte  wird  eine  nicht  geringe  Zahl  von  Bildungsabwci- 
chuugcn  der  einzelnen  Gebilde  auf  normale  Entwickeluugs- 
stufen  reducirt, ,  wobei  besonders  Huschke’s  trclllicher 
Aufsatz  im  Mcckelscheu  Archiv  beuutzt  und  gewür¬ 
digt  wird. 

«In  der  Abhandlung  über  den  gänzlichen  Mangel  der 
Augen  findet  sich  alles  hierher  Gehörige  mit  grofsem  Fleifsc 
zusa  mm  enge  trogen;  die  einzelnen  Bilduugsabwcichungcn  der 
oben  beschriebenen  Mifsgeburt  werden  auf  normale  Eut- 
wickcluogsstufen  reducirt,  und  daun  wird  einigen  allge¬ 
meinen  Betrachtungen  Baum  gegönnt. 

Mau  kann,  wie  das  der  Fall  beweiset,  in  dem  bei 
dem  gänzlichen  Mangel  der  Augen  und  aller  zu  denselben 
gehörenden  Thcile,  doch  der  Sehnerv  selbst  bis  zur  Ver¬ 
bindung  beider  Nerven,  die  Sehnerven-  und  Vicrhügel, 
nebst  allen  andern  für  das  Auge  bestimmten  Nerven  vor¬ 
handen  waren,  nicht  als  allgemein  gültig  anuchmcn. 


221 


und  Mangel  des  Auges. 

dafs  die  Nerven  solcher  Organe  fehlen,  die  nicht  gebildet 
sind,  wenn  gleich  dieser  Satz  für  die  meisten  Fälle  gilt. 

Aber  auch  Rudolphi’s  Satz,  dafs  Augen  ohne  Seh¬ 
nerven  und  Netzhaut  nicht  Vorkommen  können,  steht  nicht 
fest,  wie  dies  die  oben  angeführten  Fälle  beweisen. 

Auch  bei  Mangel  des  Geruchsnerven  und  des  fünften 
Ncrvenpaarcs  kann  sich  das  Gcruchsorgan  entwickeln. 

Für  die  Richtigkeit  der  Beobachtung,  dafs  die  zu  ei¬ 
nem  Systeme  gehörigen  Tlieile  oft  zusammen  fehlen,  spre¬ 
chen  die  oben  beschriebenen  Mifsbildungen:  gleichzeitiger 
Mangel  der  Geruchsnerven  und  der  zum  Geruchsorgan  ge¬ 
hörigen  Gebilde;  Mangel  der  Thränendrüse,  Thräuenpunkte, 
des  Thränensackes  und  Thränenkanales.  In  demselben  Kinde 
fehlten  Nieren,  Nebennieren,  Harnblase,  Prostata,  die  hin¬ 
leitenden  Saamengänge,  die  Harnröhre  nebst  ihren  schwam¬ 
migen  Körpern  und  die  Eichel  zusammen,  während  Hoden 
und  schwammige  Körper  des  männlichen  Gliedes  vorhan¬ 
den  sind,  wodurch  die  nähere  Beziehung  der  schwammi¬ 
gen  Körper  des  männlichen  Gliedes  und  der  männlichen 
Saamenfliissigkeit,  als  gemeinschaftlicher  Träger  der  männ¬ 
lichen  Kraft  angedeutet  zu  sein  scheint,  während  die  man¬ 
gelnden  Gebilde  nur  den  niedriger  stehenden  Ausführungs¬ 
organen  angehören. 

Doch  kann  man  aus  diesen  Beobachtungen  nicht  den 
Schlufs  ziehen  und  als  Entwickelungsgesetz  aufstellcn :  dafs 
ein  Theil  durch  den  andern  gebildet  werde,  oder  dafs  die 
verschiedenen  Organe  aus  einem  Centrum  nach  der  Peri¬ 
pherie  gleichsam  herauswachsen  müssen.  Bei  der  rcgel- 
mäfsigen  Entwickelung  des  Embryo  sehen  wir  allerdings, 
wie  ein  Theil  nach  und  nach  an  den  anderen  sich  anrei¬ 
het,  allein  eben  so  wenig  hierin,  als  in  dem  oft  vorkom¬ 
menden  gleichzeitigen  Mangel  der  zu  einem  Systeme  ge¬ 
hörigen  Gebilde  können  wir  die  Beweise  für  eine  solche 
Abhängigkeit  der  Organe  von  einander  finden,  und  es 
scheint  das  von  Ru dolp hi  aufgestelltc  Bildungsgcsetz,  dafs 


222 


VIT.  TUMnngsfohlor 

jeder  Theil  des  Centrums  und  der  Peripherie  nach  Manfs- 
^abc  des  Zeitpunktes  seiner  Entwickelung,  an  seiner  Stelle 
als  primitiv,  oder  durch  Zeit  und  Ort  nothwendig  bedingt, 
nach  bestimmtem  Typus  geformt  werde,  wofern  kein  Hin- 
dernifs  in  diesem  'Punkte  statt  findet,  durch  mehre  Beob¬ 
achtungen  bestätigt  zu  werden.  Klinkosch  sab  schon 
bei  gänzlichem  Mangel  der  Stämme  des  sechsten  Nerven- 
paarcs  die  peripherischen  Acste  entwickelt.  Seiler  un¬ 
tersuchte  einen  Fötus,  bei  welchem  alle  Nerven  vorhan¬ 
den  waren,  ungeachtet  Gehirn  und  Rückenmark  gänzlich 
mangelten.  Solche  Fälle  genügen  aber  doch  nicht,  um 
Serres  Meinung  zu  bestätigen,  dafs  die  Bildung  der  Ner¬ 
ven  in  der  Peripherie  beginne  und  nach  dem  Centrum 
dringe;  die  Entwickelungsgeschichte  des  ganzeil  Embryo 
von  den  ersten  Monaten  bis  zur  Vollendung  aller  seiner 
Organe,  die  frühere  Bildung  des  Stammes,  die  spätere  des 
Kopfes,  der  Extremitäten  und  dieser  im  Einzelnen  ganz 
vom  Centrum  aus,  ja  jede  Regeneration  widerlegt  diese 
Meinung.  Die  Tendenz  der  Bildung  geht  vom  Centruni 
aus;  allein  es  können  Zwischenglieder  in  ihrer  Entwicke¬ 
lung  gehemmt  werden,  während  die  sie  umgebenden  Thcilc 
immer  im  Wachsthum  fortschreiten;  an  eine  entferntere 
Stelle  angekommen ,  wird  die  orgauisirende  Kraft  auch  für 
das  Zwischenglied  gleichsam  von  Neuem  belebt.  Beson¬ 
ders  sprechen  für  die  Unabhängigkeit  der  Entwickelung 
einzelner  Tbcile  die  halben  oder  Viertelskörper,  wo  Kopf. 
Brust  und  die  oberen  Gliedmaafscn ,  ja  selbst  auch  ein 
Theil  des  Unterleibes  fehlen;  hier  haben  sich  die  wenigen 
vorhandenen  Theile  ganz  ausgebildct,  ohne  dafs  sie  von 
einem  Mittelpunkte  aus  herausgewachsen  sind. 

Bald  wendet  sich  jetzt  der  \  erf.  zur  Darstellung  der 
ursprünglichen  Bildungsfehler  des  Auges  insbesondere.  Zu¬ 
erst  werden  die  Augenhöhlen  betrachtet  rücksichtlidh  ihrer 
Gröfse,  ihrer  Slellung  zu  einander,  ihrer  Gestalt  und  des 
Mangels  von  I  heilen,  die  zu  ihrer  Bildung  beitragen.  Es 
folgen  Augenbraunen  und  Augenwimpern,  Augenlider  und 


223 


nntl  Mangel  des  Auges. 

Thränenorgane;  hierauf  die  Augenmuskeln,  Augennerven 
und  die  Bindehaut  des  Augapfels.  Bei  Betrachtung  der 
angeborenen  Bildungsabweichungen  der  Sclerotica  und  Cor¬ 
nea  verweilt  der  Verfasser  länger  bei  der  Hyperkeratosis. 
Es  kommt  hier  zuerst  die  Frage  in  Betracht,  ob  dieser 
Bildungsfehler  als  eine  Hemmungsbildung,  oder  als  Folge 
eines  krankhaften  Zustandes  angeboren  anzusehen  ist. 
Wimmer’s  Gründe  für  die  Annahme  der  ersten  Erklä¬ 
rungsweise  sind  sehr  schwach.  Seiler  fand  bei  der  Un¬ 
tersuchung  sehr  vieler  Embryonen  von  Menschen  und  Thie- 
ren  die  Hornhaut  wohl  ebenmäfsig  kugelig  erhoben,  nie 
aber  konisch  hervorragend.  Es  dürfte  daher  die  Hyper¬ 
keratosis  wol  als  Folge  einer  früher  vorhanden  gewese¬ 
nen,  aber  zum  Stillstand  gekommenen  krankhaft  zu  reich¬ 
lichen  Absonderung  von  Wasser  in  dem  vorderen  Theile 
des  Augapfels  (Hydrops  bulbi  oculi  anterior)  zu  betrach¬ 
ten  sein,  welches  zur  Wucherung  und  Verdickung  der 
Hornhaut  Veranlassung  gegeben  hat,  wie  wir  dies  auch 
bei  anderen  Geweben  sehen,  die  zum  Stillstand  gekom¬ 
mene  krankhafte  Wasseransammlung  umgeben.  Ammon’s 
Beobachtung  von  öfterem  gleichzeitigen  Bestehen  eigen¬ 
tümlich  abweichender  Schädelformen  und  der  Amaurose 
bei  der  angeborenen  Hyperkeratosis  scheint  zu  einflußrei¬ 
chen  Folgerungen  für  die  Genesis  dieses  ßildungsfeblers 
führen  zu  können,  weil  jene  Kopfformen  auf  einen  nicht 
normalen  Gang  der  Entwickelung  des  Gehirnes,  auf  eine 
zu  langdauernde  Ansammelung  von  Wasser,  ehe  sich  die 
Gehirntheile  gebildet  haben,  auf  einen  hydrocephalischen 
Zustand  und  auf  eine  zugleich  vorhandene  zu  reichliche 
Wasserabsonderung  in  dem  ganzen  Augapfel,  oder  wenn 
die  Krystalllinse  sich  schon  gebildet  hat,  vielleicht  nur 
zwischen  ihr  und  der  Hornhaut  hindeuten;  besonders  da 
die  Entwickelung  des  Auges  und  des  Gehirnes  in  so  ge¬ 
nauer  Beziehung  zu  einander  stehen  und  nach  Huschke’s 
Beobachtung  die  Höhle  der  Augenhäute  anfänglich  mit  den 
Hirnblasen  durch  den  Kanal  der  Sehnervenscheidc  in  Ver- 


224 


VII.  Bildtmgsfchlcr 

bindung  steht.  Diese  Meinung  gewinnt  dadurch  noch  an 
Wahrscheinlichkeit,  dafs  mau  bei  Kindern  mit  Wasseran¬ 
sammlung  in  der  Schädelhöhle  jene  Missbildungen  des  Schä¬ 
dels  öfters  beobachtet  hat,  und  weil  bei  der  Hyperkera- 
tosis  immer  Schwachsichtigkeit;  öfters  Amaurose  beobach¬ 
tet  worden  ist.  Wenn  sich  nämlich  die  Eirnmassc  über¬ 
haupt  langsamer  und  uykräftig  aus  dem  Wasser  hcrans- 
bildct,  so  wird  dasselbe  ohne  Zweifel  auch  mit  dem  Marke 
des  Sehnerven  der  Fall  sein;  er  wird  dem  unbewaffneten 
Auge  schon  in  Hinsicht  der  Materie  zu  dünn,  die  Netz¬ 
haut  mehr  einer  serösen  Hautplatte,  als  einer  Nervenmark- 
Ausbreitung  ähnlich  erscheinen;  noch  mehr  wird  er  aber 
in  den  für  uns  unerforschbaren  Mischungsverhältnissen  von 
dem  gesunden  Nervenmark  abweichen,  und  dieses  ist  ge- 
wifs  eine  Ilauptursache  des  angeborenen  schwarzen  Staa- 
rcs.  Mit  dieser  Ansicht  über  die  Genesis  der  angeborenen 
Hyperkeratosis  läfst  sich  die  partielle  Verdickung  der  Horn¬ 
haut  von  ihrem  äufscrcn  Rande  gegen  das  Centrum  hin, 
recht  gut  vereinigen.  Denn  wir  Finden  öfter,  dafs  da,  wo 
krankhafte  Wasseransammlungen  zum  Stillstand  kommen, 
oder  selbst  durch  Efeisaugung  etwas  verringert  w'erdeu, 
Verdickungen  der  Gewebe  entstehen,  welche  die  Wasser¬ 
ansammlungen  einschlicfscn.  So  sehen  wir  cs  an  allen  se¬ 
rösen  Häuten,  an  allen  Wasserblasen,  die  sich  in  dem  Pa- 
renchyma  der  Eingeweide  bilden,  ja  selbst  die  Schädel¬ 
knochen  werden  nicht  selten  bei  Ilydroccphalis  verdickt 
gefunden.  Man  könnte,  fahrt  der  Verf.  fort,  die  Einwen¬ 
dung  machen,  dafs  man  nicht  bei  jeder  angeborenen  Hy¬ 
perkeratosis  jene  cigenthiimlichc  Kopfform  gefunden  hat; 
aber  abgesehen  davon,  ob  die  Beobachter  so,  wie  Am¬ 
mon,  auf  genaue  Untersuchung  des  Schädels  Rücksicht  ge¬ 
nommen  haben,  so  wird  sich  dieser  Eiuwurf  leicht  da¬ 
durch  beseitigen  lassen,  dafs  die  Wasseransammlungen  in 
der  Scbädclhöhlc  in  sehr  verschiedenen  Graden  statt  lin¬ 
den  können,  selbst  in  so  geringen,  dafs  sie  keine  unge¬ 
wöhnliche  SchädcLform  bewirken,  wenn  gleich  die  mit 

jenes 


und  Mangel  des  Auges. 


225 


jener  Disposition  verbundene  krankhafte  Wassererzeugung 
in  dem  Auge  die  konische  Hornhaut  bedingt  hat.  End¬ 
lich  dürfte  man  bemerken:  es  seien  ja  bei  dem  Hydroph- 
thalmus  jeder  Art  die  Augenhäute  dünner,  nicht  verdickt. 
Dieses  ist  allerdings  der  Fall,  so  lange  die  Krankheit  noch 
im  Zunchmen  ist,  oder  noch  nicht  lange  genug  still  ge¬ 
standen  hat,  um  jenen  Verdickungsprozefs  der  Augenhäute 
durch  die,  das  Organ  gleichsam  schützende,  bildende  Kraft 
hervortreten  zu  lassen.  Doch  sind  auch  bei  der  Augapfel¬ 
wassersucht  die  Haute  des  Auges  nicht  immer  verdünnt. 
Seiler  hat  selbst  bei  einigen  hydrocephalischen  neugebo¬ 
renen  Kindern,  bei  denen  zugleich  llydrophthalmia  poste¬ 
rior  vorhanden  war,  die  Sclerotica  nicht  dünner,  sondern 
dicker,  als  gewöhnlich,  gefunden.  — 

Zunächst  werden  nun  der  Mangel  der  Gefäfshaut,  der 
theilweise  Mangel  des  Strahlenkörpers,  das  Coloboma  cho- 
roideae  abgehandelt,  und  dann  gelangt  der  Verf. ,  vom 
schwarzen  Pigmente  redend,  zur  Weifssucht,  bei  deren  Be- 
trachtung  er  wieder  länger  verweilt. 

«Die  bei  den  Albinos  so  merkwürdige,  gemeinschaft¬ 
liche  Entfärbung  der  Haut,  der  Haare  und  der  Augeu, 
und  die  mehrfachen  Beziehungen,  in  welchen  diese  beiden 
Gebilde  zu  einander  stehen,  finden  zwar  zum  Theil,  nach 
Blumenbach,  ihre  Erklärung  in  der  Aehnlichkeit  der 
Gewebe.  Vorzüglich  klar  wird  uns  aber  jenes  Verhält- 
nifs,  wenn  wir  uns  daran  erinnern,  dafs  die  Augenhäute 
aus  den  Primitivfalten,  den  ersten  Bildungen  für  das 
äufscre  Hautsystem,  eben  so  wie  die  Hirnhäute,  entste¬ 
llen.  Es  entspricht  demnach  die  Sclerotica  der  dura  Ma¬ 
ter,  und  dadurch  der  Lederhaut,  die  Choroidea  der  pia 
Maler,  dadurch  dem  freien  Gefäfsnetze  auf  der  Lederhaut 
und  dem  Malpighi sehen  Schleime,  die  Nervenhaut  der 
Ilirnmasse  selbst  und  dadurch  einer  freieren  Entwickelung 
des  in  der  Lederhaut  reichlich  verbreiteten  Nervengewe¬ 
bes.  Ja  selbst  der  Arachnoidca  hat  Iluschke  ihr  Analo¬ 
gon  in  der  Lamina  fusca  Scieroticae  und  der  Descemet- 
Band  28.  Heft  2.  15 


226  VII.  Bildangsfehler 

gehen  Haut  nachgewiesen.  Sehr  interessant  ist  cs  aber, 
«lafs  dieses  seröse  Hautgewebe  stufenweise  gleichsam  sich 
mehr  spndert  und  aus  den  benachbarten  Geweben  sich 
herausbildet.  In  der  Lederhaut  erscheint  cs  ganz,  unbe¬ 
stimmt,  nur  durch  die  Function  angedeutet;  jene  analogen 
Hautgewebc  des  Auges  sind  auch  noch  sehr  zart,  und  erst 
im  Gehirne,  und  vorzüglich  im  Kückenmarke,  tritt  die 
Arachnoidea  als  dichtere  und  von  den  benachbarten  Ge¬ 
bilden  gesonderte  Haut  auf.  Aus  dieser  Achnlichkeit  der 
Kildungsverhältnissc  kann  man  sich  wol  auch  die  genauen 
pathologischen  Beziehungen,  in  denen  das  Hautsystem  und 
die  Augen  zu  einander  stehen,  zum  Tbeil  erklären;  denn 
es  ist  bekannt,  wie  Dyscrasicen,  welche  jenes  System  vor¬ 
zugsweise  ergriffen,  auch  nicht  selten  in  hartnäckigen 
Krankheiten  der  Augen  hervortreten  und  im  antagonisti¬ 
schen  Laufe  sich  äufsern. » 

Folgende  Gründe  sind  cs,  die  den  Verf.  bestimmen, 
die  Weifssucht  zu  den  Hemmungsbildungcn  zu  rechnen: 
1 )  T)ie  Pigmentbildung  'im  Auge  beginnt  allerdings  sehr 
zeitig;  schon  bei  Embryonen  vom  19tcn  und  20sten  Tage 
bei  Säugethicren ,  bei  vier-  und  fünfwöchentlichen  Embryo¬ 
nen  beim  Menschen  erscheint  das  Auge  schwarz;  allein 
das  schwarze  Pigment  ist  noch  in  der  späteren  Zeit  des 
Fötuslehcns  an  dem  vorderen  Theilc  der  Choroidea  und 
dem  Strahlenkörper  am  reichlichsten  angehäuft,  so  dals  der 
hintere  Thcil  dieser  Haut  röthlich  erscheint,  ja  öfters  hat 
Seiler  diesen  Theil  der  Choroidea  noch  ganz  frei  von 
demselben  gefunden.  Es  ist  nicht  zu  zweifeln,  dafs  in  der 
früheren  Zeit  der  Entwickelung  der  Augen,  die  man  bei 
Säugethieren  noch  nicht  beobachtet  hat,  das  schwarze  Pig¬ 
ment  ganz  fehlt.  2)  In  den  Augen  der  Isabellenpferde 
sieht  man  jene  Hemmung  der  Pigmentbildung  deutlich,  in¬ 
dem  sie  durch  das  ganze  Leben  auf  den  Strahlenkörper 
beschränkt  bleibt.  3)  Die  Haut  der  Embryonen  ist  in  den 
ersten  Monaten  ohne  Pigment.  4)  Auch  die  Infusorien 
sind  ungefärbt  oder  grün.  5)  Die  feinen  weifsen  Haare 


227 


und  Mangel  des  Auges. 

(Lanugo),  welche  die  Haut  der  Albinos  durch  das  ganze 
Lehen  bedecken,  deuten  ebenfalls  auf  eine  Hemmungsbil¬ 
dung,  denn  dieses  Gebilde,  ein  Product  des  fünften  Mo- 
uats  des  Fötuslebens,  fällt  gewöhnlich  schon  vor  der  Ge¬ 
burt,  oder  doch  bald  nach  derselben  aus.  Weniger  Werth 
möchte  auf  das  längere  Bestehen  der  Sehlochhaut  zu  legen 
sein,  denn  es  sind  bis  jetzt  nur  zwei  Fälle  bekannt,  bei 
denen  sie  sich  fand.  6)  Die  Schwächlickeit  der  Körper- 

und  Geisteskräfte  gehört  zwar  nicht  zu  den  beständigen, 

< 

charakteristischen  Zeichen  der  Weifssucht;  sie  ist  aber  doch 
bei  vielen  Albinos  beobachtet  worden,  und  wie  Troxler 
bemerkt,  kommt  die  Weifssucht  in  der  Schweiz  oft  in 
Verbindung  mit  dem  Cretinismus  vor,  so  dafs  sich  dann 
in  der  unvollkommenen  Entwickelung  des  Seelenorganes, 
und  mit  ihm  mehrer  anderer  Gebilde  des  Körpers,  jenes 
Bleich-,  Welk-  und  Mattsein  recht  deutlich  ausspricht, 
welches,  wie  Troxler  sagt,  der  Taubstummheit  beim  Cre¬ 
tinismus  entspricht,  und  als  eine  Art  des  Cretinismus  selbst, 
in  einer  besondern  eigenthümlichen  Form  auftritt,  die  ihr 
durch  die  besondere  Reihe  der  hauptsächlich  leidenden  Or¬ 
gane  ertheilt  wird.  Wie  aber  vielseitiger  Forschungen  un¬ 
geachtet,  unsere  Kenntnisse  über  die  Entwickelung  des 
angeborenen  Cretinismus  doch  noch  uicht  weiter  gediehen 
sind,  als  zu  der  Annahme  einer  Hemmung  der  organisi- 
renden  Kraft,  oder,  nach  Troxler:  «  einer  Entartung,  und 
zwar  ursprünglich  einer  eigenthümlichen  Umwandlung  des 
organisirenden  Prinzipes,  ”  so  dürfte  über  jenen  merkwür¬ 
digen  Pigmentmangel,  und  warum  die  Hemmung  der  Ent¬ 
wickelung  in  diesem  vorzugsweise,  ja  bei  der  sporadischen 
Weifssucht  oft  allein  hervortritt,  nach  unseru  gegenwärti¬ 
gen  Kenntnissen  von  den  Bildungsgesetzen,  ebenfalls  nicht 
mehr  zu  sagen  sein. 

Was  endlich  die  entfernten  Ursachen  der  Leucosis  an- 
betrifft,  so  ist  wol  wahrscheinlich,  dafs  alles,  was  depri- 
mirend  auf  Seele  und  Körper  der  Schwangeren  einwirkt, 
die  Thätigkeit  der  organisirenden  Kraft  mindern  oder  hem- 

15  * 


«228  VII.  Bildtingsfehlcr 

men  kann,  wie  es  auch  in  der  That  hei  mehren  Mutlern 
von  Albinos  nachgewiesen  worden  ist;  theils  lebten  sie  in 
Dürftigkeit,  oder  der  Körper  war  durch  häufige  Wochen¬ 
betten  erschöpft,  thcils  halten  sie  Kummer  und  Sorgen,* 
oder  sic  gabeu  an,  dafs  sic  in  den  ersten  Monaten  der 
Schwangerschaft  über  weifsc  Kaninchen  mit  rothen  Augen 
u.  dergl.  erschrocken  seien.  Unstreitig  geht  aber  Mans¬ 
feld  zu  weit,  wenn  er  glaubt,  dafs  bei  Europäern  und 
Negern  psychische  Einflüsse  einzig  und  allein  als  entfernte 

Ursache  der  W'eifssueht  anzusehen  seien,  wenn  es  gleich 

% 

allerdings  merkwürdig  ist,  dafs  auch  bei  Erwachsenen 
Kummer,  Furcht  und  Schreck  das  Verschwinden  des 
Pigmentes  in  den  Haaren  und  der  Haut  schnell  herbeige- 
fiihrt  haben.  — 

Bei  der  Darstellung  der  Mifsbildungcn  der  Iris  wer¬ 
den  auch  die  neueren  divergirenden  Ansichten  über  das 
Coloboma  iridis  besprochen.  Der  Verf.  rechnet  dasselbe 
allerdings  zu  den  llcinmungsbildungcn;  allein  die  Kegen- 
bogenhaut  erscheint  sowol  bei  Embryonen  von  Vögeln  und 
Säugethieren,  als  bei  denen  von  Menschen,  in  Form  eines 
geschlossenen  schmalen  Ringeb,  wie  dies  Kiescr,  Bacr, 
Ammon  und  Arnold  beschrieben  haben,  und  Seiler 
nach  eigenen  Untersuchungen  an  Embryonen  von  Menschen 
und  Thieren  bestätigen  kann.  Bei  Katzen  schien  S.  zwar 
cinigcmalc  der  untere  Theil  jenes  Ringes  der  Iris  gespal¬ 
ten  zu  sein,  allein  der  Verf.  zweifelt  nun  nach  genauer 
und  mehrmaliger  Untersuchung  nicht  mehr,  dafs  die  eigene 
Bildungsweise  der  Iris  bei  jeneu  Thieren  mit  senkrecht 
gespaltenen  Pupillen  ihn  getäuscht  habe,  was  auch  bei  der 
horizontal  gespaltenen  Pupille  leicht  geschehen  kann.  Diese 
eigene  Bildung  ddr  Iris  hat  vielleicht  auch  andere  Beob¬ 
achter  irre  geführt,  oder  sie  haben  die  Spalte  in  der  Cho- 
roidea  und  dem  Ciliarkörper  für  eine  Spalte  in  der  Iris 
gehalten,  was  gewifg  bei  denen  der  Fall  gewesen  ist, 
welche  die  Irisspalte  bei  sechs-  und  sieben  wöchentlichen 
Embryonen  gesehen  haben  wollen.  Seiler  kann  daher 


\ 


und  Mangel  des  Auges. 


2  29 


Müller  nicht  beistimmen,  wenn  er  behauptet,  die  Spalte 
der  Iris  an  der  unteren  Seite  sei  bei  allen  Thieren,  und 
an  der  unteren  inneren  Seite  auch  bei  dem  menschlichen 
Embryo  eine  unleugbare  Thatsache.  Kömmt  aber  die  Iris¬ 
spalte  während  der  Entwickelung  des  Embryo  als  normale 
Bildung  nicht  vor,  so  kann  das  Coloboma  iridis  auch  nicht 
zu  den  Ilemmungsbildungen  in  dem  von  Walther  aufge- 
fafsten  Sinne  gerechnet  werden;  vielleicht  könnte  man 
dasselbe  aber  doch  als  theilweise  Hemmungsbildung  der 
Iris  ansehen.  Hie  Gefalse  der  Iris  charakterisiren  sich 
nämlich  dadurch,  dafs  sie  am  äufscren  und  inneren  Rande 
Kreise  bilden,  und  die  zwischen  beiden  liegenden  Stämme 
von  aufsen  nach  innen  geschlängelt  verlaufend,  mit  einan¬ 
der  anastomosiren ,  ohne  netzartige  Verbindungen  einzu¬ 
gehen,  wie  dies  die  Gefäfse  der  Aderhaut  thun.  Wenn 
nun  an  irgend  einer  Stelle  ein  zur  Bildung  eines  oder  ei¬ 
niger  neben  einander  liegender  Kreise  bestimmtes  Gefäfs- 
stämmchen  obliterirt,  so  wird  die  Iris  an  dieser  Stelle  in 
ihrer  Entwickelung  gehemmt  werden,  während  die  übri¬ 
gen  Gefafskreise  gegen  den  Pupillarrand  hin  sich  ent¬ 
wickeln,  und  auf  diese  Weise  wird  da,  wo  die  Bildung 
der  Iris  zurückgeblieben  ist,  eine  Spalte  entstehen.  Aehn- 
liche  Obliterationen  von  Gefäfsen  kommen  ja  während  der 
Entwickelung  des  Embryo  als  normale  und  pathologische 
Erscheinungen  öfter  vor;  im  Auge  selbst  hat  man  die  Ar- 
teria  centralis  obliterirt  gefunden,  und  hält  dieses  mit  liecht 
für  eine  der  Ursachen  des  angeborenen  grauen  Staares. 

Es  folgen  die  Bildungsfehler  der  Nervenhaut,  der  wäs¬ 
serigen  Feuchtigkeit,  der  Krystalllinse  und  ihrer  Kapsel, 
des  Glaskörpers  und  des  Strahlenplättchens. 

H  ie  Kupfertafel  enthält,  aufser  den  Darstellungen  der 
oben  beschriebenen  Mifsgeburten,  die  einiger  Bildungsfehler 
der  Augen. 


i 


‘230 


VIII.  Symblepharon. 


VIII. 

Das  Symblepharon,  und  die  Heilung  dieser 
Krankheit  durch  eine  neue  Operations¬ 
methode.  Ein  Gliickwlinschungsschreiben ,  dem 
Herrn  Dr.  J.  A.  W.  Hedenus  am  Tage  seines 
fünfzigjährigen  Amtsjubiläums,  den  16.  Juli  1833, 
überreicht  von  Dr.  F.  A.  v.  Ammon.  Zweite, 
verbesserte  Auflage.  Mit  einer  Kupfertafel.  Dres¬ 
den,  in  der  Waltherschen  Ilofbuchandlung.  1834. 
8.  32  S. 

Symblepharon  definirend,  als  Verwachsung  eines  oder 
beider  Augenlider  mit  dem  Augapfel,  unterscheidet  der 
Verfasser  zwei  Arten,  je  nachdem  diese  Verwachsung  an 
der  vorderen,  bei  der  Abduction  sichtbaren  Fläche  der  Li¬ 
der,  oder  an  den  hinteren  Stellen  derselben  vorkömmt. 

1.  Symblepharon  posterius,  entstanden  durch  Ver¬ 
kürzung  der  degCnerirten  Bindehaut  an  der  Übergangs¬ 
stelle  vom  Augapfel  zu  den  Augenlidern. 

2.  Symblepharon  auterius,  entstanden  durch  theil- 
weise  oder  gänzliche  Verwachsung  der  vorderen  Fläche 
der  Augapfclbin'dehaut  mit  der  des  Augenlides,  oder  durch 
neue  Bildungen  auf  derselben. 

Untersucht  man  d?s  S.  posterius,  das  bei  weitem  häu¬ 
tiger  am  unteren,  als  <ftn  oberen  Augenlidc  vorzukommen 
scheint,  genauer,  so  findet  man  eine  Verkürzung  des  Rau¬ 
mes  an  dem  äufscrcn  Palpebralrandc  bis  zur  Tiefe  der  Bin- 
dehautuinschlagung.  Diese  Verkürzung  des  Raumes  ist 
stets  Folge  einer  chronischen  Entzündung  der  Coujunctiva, 
wodurch  diese  Membran  eigentümlich  degenerirt,  dann 
verdickt  sich  zusammenzieht,  den  hintersten  Tbeil  des  Au¬ 
genlides  und  die  unterste  Partie  des  Bulbus  gleichsan*  ver¬ 
lädt  und,  ohne  eine  Falte  nach  hinten  und  innen  zu  bil* 
den,  vom  Augenlidc  gerade  zum  Augapfel  geht.  Bei  die- 


i 


VIII.  Symblepharon. 


23 I 

«er  Verkürzung  der  Conjunctiva  in  Folge  chronischer  Ent¬ 
zündung  bilden  sieh  sehr  bald  Längenfalten,  die  an  die 
Stelle  der  verloren  gegangenen  normalen  hinteren  Quer- 
falte  treten.  Diese  Längenfalten  erstrecken  sich  bisweilen 
von  der  inneren  Seite  der  Palpebralconjunctiva  bis  zur 
Ilornhautbindehaut  uud  werden  mit  Unrecht  für  neue  Bil¬ 
dungen  gehalten,  während  sie  doch  nur  die  zusammenge¬ 
schrumpfte  und  verdickte  Conjunctiva  sind.  Dieses  Sym¬ 
blepharon,  herbeigeführt  durch  Verkürzung  der  Conjunctiva 
bulbi  et  palpebrarum,  kömmt  am  häufigsten  bei  solchen 
Erblindeten  vor,  die  an  Phthisis  bulborum  in  Folge  hefti¬ 
ger  Ophthalmieen,  vorzüglich  der  Ophth.  neonatorum  und 
der  sogenannten  Ophth.  contagiosa  leiden.  Der  Verf.  ge¬ 
denkt  hier  eines  Falles,  wo  der  atrophische  linke  Aug¬ 
apfel  unter  der  Conjunctiva  des  unteren  Augenlides  liegt, 
welches  dadurch,  dafs  sich  zwischen  dem  atrophischen 
Bulbus  und  der  unteren  Palpebralconjunctiva  ein  Fluidum 
abgesondert  hat,  in  die  Höhe  gehoben  ist,  so  dafs  also 
mehr  eine  Ausdehnung  des  unteren  Augenlides  nach  oben, 
als  eine  Ectopia  bulbi  statt  findet. 

Aufserdem  kommt  aber  diese  Verkürzung  der  Binde*, 
haut  blofs  in  der  Mitte  derselben,  manchmal  aber  auch 
ganz  in  ihrer  Ausbreitung,  und  zwar  bei  Menschen  vor, 
die  Jahre  lang  an  dyscratischen  Ophthalmieen  gelitten  ha¬ 
ben,  namentlich  an  scrophulös-catarrhalischen.  Jeder  Be¬ 
wegung  des  Bulbus  folgen  die  Falten,  welche  am  unteren 
Rande  der  Ilornhautbindehaut  zu  der  verkürzten  inneren 
Fläche  des  Augeulides  gehen,  wenigstens  theilweise,  und 
dehnen  sich  nach  oben  und  unten  bald  aus,  bald  ziehen 
sie  sich  zusammen.  Häufig  entzünden  und  vergröfsern  sich 
diese  Falten.  Es  bildet  sich  sodann  eine  nicht  unbedeu¬ 
tende  Schleimabsonderung  im  Auge,  die  vorzüglich  am 
Morgen  sehr  lästig  wird;  hierdurch  wird  ein  chronisch¬ 
entzündlicher  Zustand  unterhalten,  und  sehr  bald  erstrecken 
sich  dann  Gefäfse  in  zahlreichen  Windungen  über  die  Fal¬ 
ten  der  degenerirten  Conjunctiva  zur  Cornea,  und  verur- 


232  VIII.  Symblepharon. 

Sachen  hier  nicht  selten  Auflockerungen  der  Bindehaut  oder 
Trübungen  derselben,  wodurch  das  Gesicht  bedeutend  be¬ 
einträchtigt  wird,  liier  wird  fast  immer  ein  operatives 
Verfahren  nothwendig.  Auf  dem  umgeklappten  Augenlidc 
fafst  man  die  Conjunctivafalten  mit  einer  kleinen  Augcn- 
pincctte  und  trägt  sic  durch  Querschnitte,  mit  einer  schar¬ 
fen  Coo  per  sehen  Scheere  geführt,  ganz  ab.  Bei  der  Ent- 
fernung  der  Bindehautfalten  ist  der  Scheerenschnitt  sehr 
grofs  zu  machen,  und  so  die  kranke  Bindehaut  der  Aus¬ 
breitung  des  ganzen  Augenlides  nach  abzutrennen.  \N  ird 
nur  ein  kleiner  Tlicil  der  Conjunctivafalten  entfernt,  so 
gelingt  eine  gute  Heilung  nicht,  weil  sich  immer  die 
Wundränder  leicht  berühren  können  und  um  so  schneller, 
zusammcnklebcn ,  je  geneigter  die  degcncrirtc,  aber  jetzt 
verwundete  Conjunctiva  zur  entzündlichen  Rcaction  und 
zum  plastischen  Exsudate  ist.  Die  Verhinderung  der  Ag¬ 
glutination  gelang  dem  Verf.  durch  fieifsige  Abduclion  des 
unteren  Augenlides  und  durch  zeitige  Anwendung  der 
Opiumtinctur  als  Eintröpfelung,  die  öfters  schon  am  vier¬ 
ten  Tage  nach  der  Operation  gebraucht  ward.  Kalte  Um¬ 
schläge  nach  derselben  wirken  stets  woblthatig. 

Der  zweite  Grad  des  Symblepharon  posterius  ist  der- 
jenige  Zustand,  wo  die  Verkürzung  der  Conjunctiva  noch 
stärker  ausgchildct,  und  wo  diese  Membran  aufserdem  so 
degenerirt  ist,  dafs  sie  sich  hinsichtlich  ihrer  Dicke  der 
Cutis  nähert.  Das  obere  Augenlid  erhält  in  diesen  Fällen 
eine  ganz  eigene  Stellung,  indem  es  in  der  Mitte  durch 
Einschrumpfung  des  Tarsus  sich  verkürzt,  als  sei  ein  Stück 
ausgeschnitten  worden,  oder  als  sei  ein  geringes  Colohoma 
palpebrae  vorhanden.  Dabei  kann  man  das  obere  Augen¬ 
lid  vom  Bulbus  gar  nicht  abduciren,  da  cs  mit  diesem 
durch  die  verkürzte  und-  verdickte  Conjunctiva  zusammen¬ 
hängt;  manchmal  ist  cs,  als  wolle  die  Natur  durch  Bil¬ 
dung  von  Oucrfalten  in  der  verdickten  Conjunctiva  vor  dem 
oberen  Augenlide,  der  Verkürzung  dieses  Organes  also 
gleichsam  durch  Bildung  eines  zweiten  oberen  Augenlides 


233 


VIII.  Symblepharon. 

abhclfeti.  Am  unteren  Augenlitle  ist  die  Verkürzung  ge¬ 
wöhnlich  bei  weitem  geringer,  obgleich  sie  auch  hier  be¬ 
deutend  ist.  Die  übrigen  Symptome,  welche  der  Ucber- 
häutung  der  Conjunctiva  angehöreu,  fehlen  nicht,  so  wie 
eine  grofse  Menge  von  Falten  vom  Augenlide  zum  Bulbus 
und  über  diesen  hinweg  um  die  Hornhaut  herumgehen. 
Die  Conjunctiva  stellt  in  diesen  Falten  gleichsam  einen 
Vorhang  dar,  der  unmittelbar  von  dem  oberen  Augenlide 
an  der  vorderen  Fläche  des  Bulbus  herabhängt.  Hier  be¬ 
findet  sich  hinter  der  Conjunctiva,  da  wo  dieselbe  sich 
zwischen  Bulbus  und  Augenlid  herumschlagen  sollte,  eine 
grofse  Anhäufung  einer  neu  gebildeten,  sehr  verdickten 
Cellulosa,  welche  mit  der  hinteren  Fläche  jener  Membran 
dicht  zusammenhängt  und  hier  die  abnorme  Verbindung 
zwischen  dem  hinteren  Theile  des  Augenlides  und  Aug¬ 
apfels,  sonach  ein  wahres  Symblepharon  posterius  bildet. 
Die  vordere  Fläche  der  verdickten  Conjunctiva  hat  ganz 
das  Ansehen  der  Cutis.  Bei  genauerer  Untersuchung  mit 
der  Lupe  sah  der  Verf.  auf  ihr  regelmäfsige,  eckige  Figu¬ 
ren,  denen  ähnlich,  welche  man  bei  näherer  Betrachtung 
der  Epidermis  wahrniijimt;  Haarbildung  war  nicht  wahr¬ 
zunehmen. 

Dicht  unter  dieser  oberen  Hautschicht,  welche  die 
verdickte  Conjunctiva  ist,  liegt  eine  Menge  sehr  verdick¬ 
ter  Cellulosa,  die  eine  sehr  feste  und  körnige  Beschaffen¬ 
heit,  und  eine  sehr  dunkle  Farbe  hat.  Eine  Ueberhäutung 
der  Conjunctiva  hat  der  Verf.  nicht  auffinden  können.  Es 
folgt  jetzt  die  Geschichte  der  von  dem  Verf.  in  einem 
Falle  dieser  Art  angestellten  Operation,  die  vielleicht  glück¬ 
licheren  Erfolg  gehabt  hätte,  wäre  hier  die  Cornea  ge¬ 
sund  gewesen. 

Das  Symblepharon  anterius  ist  verschieden,  je  nach¬ 
dem  es  entsteht: 

.  1)  durch  abnormen  Zusammenhang  der  Augenlider  mit 

dem  Augapfel,  veranlafst  durch  theilweise  oder  gänz¬ 
liche  Zerstörung  der  Bindehaut  der  Augenlider  und 


234 


VIII.  Symblepharon. 

des  Augapfels.  Es  kann  gänzlich,  thcilwcisc,  ein¬ 
fach,  complicirt  statt  finden.  Oder 
2)  durch  regelwidrige  Verbindung  der  Augenlider  mit 
dem  Augapfel,  veranlafst  durch  Excrescenzeu  auf 
der  inneren  Fläche  der  Bindehaut. 

Selten  entsteht  das  Symblepharon  durch  Verwundung. 
Einfache  Verletzungen,  namentlich  Einrisse  der  Augenlider, 
können  deshalb  kein  Symblepharon  veranlassen,  weil  die 
unverletzte  Bindehaut  des  Augapfels  als  Schleimhaut  zur 
Agglutination  mit  der  ihrer  Lage  nach  correspondirendeu 
und  verletzten  Stelle  der  Bindehaut  des  Augenlides  nicht 
geschickt  ist.  Trifft  aber  die  Verletzung  die  Schleimhaut 
der  Augenlider  und  des  Bulbus  zugleich  und  so,  dafs  diese 
partiell  verloren  geht,  und  dafs  die  ihrer  Bindehaut  be¬ 
raubten  Stellen  der  Augenlider  und  des  Augapfels  sich  ge¬ 
genseitig  berühren,  so  ist  durch  die  auf  diesen  Stellen  nun 
eintretende  adhäsive  Entzündung  die  nächste  Bedingung 
zuin  Symblepharon  gegeben,  die  im  Aufauge  häufig  ver¬ 
kannt  wird  und  bei  etwa  verordneter  anhaltender  Com- 
pression  der  Augengegend  durch  Verbandstücke  fast  immer 
zu  einem  unheilbaren,  das  Angesicht  des  Verwundeten 
beeintiächtigenden  und  sehr  verstellenden  Symblepharon 
führt.  Ocfters  gesellen  sich  in  diesen  Fällen  zu  der  Ver¬ 
wachsung  des  Augenlides  mit  dem  Augapfel  Dislocationen 
jener,  z.  B.  Ectropium,  so  dafs  dann  ein  complicirtcs  Sym¬ 
blepharon  entsteht.  Eine  Krankengeschichte  erläutert  die¬ 
sen  letzten  Satz. 

Bei  weitem  häufiger  aber  kömmt  die  gleichzeitige  Zer¬ 
störung  der  Oberfläche  oder  des  Corpus  papillare  der  Bin¬ 
dehaut.  des  Augapfels  uud  der  Augenlider  durch  ätzende 
Stoffe  vor.  Je  gröfscr  hier  die  Menge  des  zerstörenden 
Stoffes  ist,  welcher  zwischen  Lider  uud  Augapfel  drrngt, 
je  intensiver  die  corrodirende  Thätigkeit  desselben  wirkt, 
desto  ausgebreiteter  und  schneller  geht  die  Bildung  des 
Symblepharon  vor  sich,  indem  sich  aus  den  zerstörten 
uud  dann  uleerirenden  Bindchautstellcn  des  Augapfels  und 


VIII.  Symblepharon.  235 

des  Augenlides  üppige  und  feste  Granulationen  erheben , 
sich  gegenseitig  berühren  und  sodann  fest  verwachsen. 
Nun  können  entweder  beide  Augenlider  gleichzeitig  mit 
dem  Augapfel  verwachsen,  wozu  dann  sehr  häufig  eine 
krankhafte  Verbindung  der  Augenlider  untereinander  sich 
gesellt,  oder  das  Symblepharon  betrifft  nur  ein  Augenlid, 
und  dies  entweder  theilweise,  oder  ganz.  Im  ersteren 
Falle  sind  meistens  die  Seitentheile  verwachsen,  und  zwar 
vorzüglich  das  obere  Augenlid  mit  der  Caruncula  lacry- 
malis.  Während  diese,  meistens  klein,  das  Gesicht  nicht 
stören,  wird  nicht  selten  die  Normalstellung  des  Augen¬ 
lides  verändert,  wenn  zu  beiden  Seitentheilen  und  am 
convexen  Theile  des  Tarsus  die  Verwachsung  des  Augen¬ 
lides  mit  dem  Bulbus  statt  findet.  Durch  eine  sehr  innige 
Verwachsung  eines  Theiles  der  Augenlider  mit  dem  Bul¬ 
bus  kehrt  sich  jener  nicht  selten  nach  innen  um,  so  dafs 
die  Augenwimpern  den  Augapfel  reizen  und  partielles  Ek- 
tropium  mit  dem  Symblepharon  vorkömmt,  ln  allen  die¬ 
sen  Fällen  ist  das  Gesicht  sehr  gestört,  meistens  ganz  auf¬ 
gehoben,  und  die  vordere  Fläche  des  Bulbus  fast  immer 
für  den  Durchgang  der  Lichtstrahlen  ungeschickt.  Je  aus¬ 
gebreiteter  dies  Symblepharon  ist,  desto  inniger  und  fe¬ 
ster  ist  auch  gewöhnlich  die  Verwachsung;  diese  zeigt, 
wenn  man  sie  trennt,  ein  sehr  festes,  cellulöses,  gefäfs- 
reiches  Gewebe,  das  sich  bisweilen  ziemlich  tief  in  das 
Parenchym  der  Cornea  oder  Sclerotica,  oder  der  Augen¬ 
lidsubstanz  erstreckt,  und  mit  diesem  so  verschmilzt,  dafs 
man  die  Gränzen  des  einen  oder  des  anderen  Organes  gar 
nicht  bestimmen  kann.  Bei  gröfseren  Symblepharen  kann 
die  Operation  nie  schaden,  indem  sie  durch  Erregung  von 
Entzündung  in  der  festen  Cellulosa  deren  Neigung  zu  Gra¬ 
nulation  und  Verwachsung  befördert. 

Die  Excrescenzen,  welche  Ursache  eines  Symblepha¬ 
ron  anterius  werden,  sind  eigentümliche,  ligamentöse 
Stränge,  ein  Conglomerat  einer  festen,  organischen,  nicht 
gefäfsreichen ,  sondern  cellulösen  Masse,  deren  Oberfläche 


236 


VIII.  Symblepharon. 

meistens  rolli  ist  und  sich  von  dein  Gewebe  der  Schleim¬ 
häute  durch  Mangel  an  Glanz  unterscheidet. 

Die  Operation  des  Symblepharon  besteht  darin,  dafs 
man  das  mit  dein  Augapfel  verwachsene  Angenlidstuck 
von  dein  Augenlidrande  aus  umschneidet,  auf  dem  Bulbus 
sitzen  läfst  und  über  ihm  die  Vereinigung  des  verwunde¬ 
ten  Augenlides  bewirkt,  die  ohne  Verwachsung  mit  dem 
Bulbus  dann  zu  Stande  kömmt.  Nur  beim  wahren  Sym¬ 
blepharon  antcrius  partiale,  einerlei,  ob  durch  Granulation 
der  Bindehaut,  oder  durch  Excrescenzcn  auf  derselben  ver¬ 
ursacht,  ist  diese  Operationsweise  indicirt. 

Mittelst  eines  scharfen  Staarmessers  oder  eines  feinen 
länglicheu  Bistouris,  durchschneidet  man  das  durch  eiuigc 
Sonden  in  der  Nähe  der  Verwachsung  stark  in  die  Höhe 
gehobene  Augenlid  so,  dafs  man  dicht  um  die  Verwach¬ 
sung  herum  in  triangulärer  Form  das  verwachsene  Stück 
dej  Augenlides  von  den  freien  Theilen  dieses  Organes  von 
den  allgemeinen  Ilautbcdeckuugen  aus  trennt.  Die  Stelle 
des  Augenlides,  an  der  dasselbe  mit  dem  Augapfel  ver¬ 
wachsen  ist,  bleibt  an  diesem  sitzen  und  das  Augenlid 
hängt,  in  zwei  Lappen  gethcilt  und  in  der  Mitte  eines 
gröfseren  oder  eines  geringeren  Theilcs  seiner  Substanz  be¬ 
raubt,  herunter.  Ist  die  Blutung  durch  kaltes  Wasser 
gestillt,  so  ist  zu  versuchen,  ob  die  zur  Heilung  nöthige 
Berührung  der  Wundränder  des  durchschnittenen  Augen¬ 
lides  zu  bewirken  ist.  Kann  dies  wegen  zu  grofsen  Sub¬ 
stanzverlustes  nicht  geschehen,  so  wird  die  Verlängerung 
des  äufseren  Stückes  des  durchschnittenen  Augenlides  uoth- 
wendig.  Hierdurch  wird  die  innigste  Berührung  der  Wund¬ 
ränder  des  durchschnittenen  Augenlides  möglich,  die  mau 
dadurch  erhält,  dafs  man  drei  bis  vier  feine,  umschlun¬ 
gene  Inscklcnnadcln  so  cinlegt,  dafs  der  übrig  gebliebene 
Th  eil  des  Tarsus  dabei  gefafst  wird.  Sollte  die  Spannung 
in  der  Wunde  sehr  grofs  sein,  so  läfst  sich  in  der  Nähe 
des  äufseren  Orbitalrandcs,  dicht  oberhalb  der  Augcubrau- 
neu  oder  am  unteren  Theilc  der  Orbita,  die  allgemeine 


237 


VIII.  Symblepharon. 

Bedeckung  durch  einen  halbzirkelförmigen,  tiefen  Einschnitt 
trennen  und  dadurch  die  Spannung  heben,  wo  denn  die 
nach  dem  äufseren  Theile  des  durchschnittenen  Augenlides 
geschobene,  vom  Knochen  gelösete  Ilautbedeckung  durch 
eine  schmale  Compresse  in  dieser  Lage  zu  erhalten  ist. 
Manchmal  ist  es,  die  Spannung  zu  mindern,  noch  vor¬ 
teilhafter,  den  äufseren  Augenwinkel  zu  dilatiren.  Vorn 
dritten  Tage  an  löset  man  nach  und  nach  die  umwundene 
Insektennadelnath,  hat  aber  wohl  zu  beachten,  dafs  kein 
entstellender  Spalt  zurückbleibt1.  Dies  ist  der  erste  Act 
der  Operation.  Das  über  dem  am  Augapfel  noch  fest¬ 
sitzenden  Palpebralhautstücke  vereinigte  Augenlid  hat  auf 
seiner  inneren  Fläche  eine  gesunde  Schleimhaut;  diese 
kommt  mit  der  äufseren  Fläche  des  mit  dem  Augapfel  ver¬ 
wachsenen  Palpebralhautstückchens,  also  mit  der  Epider¬ 
mis  in  Berührung,  einer  Membran ,  mit  der  zu  verwachsen 

0  •  1 

sie  keine  Tendenz  hat.  Finden  sich  auf  dem  zurückge¬ 
bliebenen  Palpebralstückchen  Wimpern,  so  müssen  diese 
ausgezogen  werden. 

In  den  Fällen,  wo  Atrophie  des  Bulbus  oder  Degene¬ 
ration  der  Cornea  in  der  Art  da  ist,  dafs  an  eine  Wieder¬ 
herstellung  der  Sehkraft  nicht  gedacht  werden  kann,  wo 
es  sich  demnach  hei  der  Operation  des  Symblepharon  um 
Beseitigung  der  Entstellung  des  Gesichtes,  oder  darum  han¬ 
delt,  ein  künstliches  Auge  einlegen  zu  können,  reicht  die¬ 
ser  Operationsact  hin.  In  dem  vom  Verf.  operirten  Falle 
nahm  die  Epidermis  des  auf  dem  collabirten  Augapfel 
sitzen  gebliebenen  Augenlidstückes  schon  nach  wenigen 
Wochen  eine  Schleimhautähnliche  Beschaffenheit  an,  und 
das  ganze  Palpebralstück  verkleinerte  sich  bedeutend.  Nur 
dann,  wenn  das  am  Bulbus  haftende  Palpebralstück  rei¬ 
zend  auf  Augenlid  oder  Auge  ein  wirkt,  ist  dasselbe  zu 
entfernen,  was  jedenfalls  auch  dann  geschehen  mufs,  wenn 
Hoffnung  vorhanden  ist,  durch  Abtragung  desselben,  die 
verlorene  Sehkraft  wieder  herzustellen.  Dies  ist  der  Zweck 
des  zweiten  Operationsactes,  welcher  vollzogen  wird,  so- 


238  IX.  Entozocn  des  Auges. 

bald  die  Vernarbung  des  durchschnittenen  Augenlides  zu 
Stande  gekommen  ist,  und  dasselbe  sich  überhaupt  gut  ge¬ 
staltet  hat.  Die  Augenlider  werden  vom  Gehiilfcn  gehö¬ 
rig  vom  Bulbus  abgezogen  und,  wo  dies  nicht  leicht  an¬ 
geht,  wird  der  äufsere  Augenwinkel  dilatirt.  Nun  wird 
das  Palpebralhautstück  vom  Bulbus  abgetrennt.  Ist  dies 
geschehen,  so  stillt  man  die  Blutung,  reinigt  das  Auge 
von  Coagulum,  macht  mehre  Tage  hindurch  kalte  Um¬ 
schläge  auf  das  Auge  und  wiederholt  alle  2  bis  3  Stun¬ 
den  Einspritzungen  von  kaltem  Wasser,  die  später  mit  In- 
jectionen  einer  durch  warmes  Wasser  diluirlen  Aqua  ve- 
geto-mineralis  Goulardi  zu  vertauschen  sind.  Die  durch 
die  Exstirpation  wund  gewordene  Stelle  des  Auges  findet 
die  ihr  jetzt  gegenüber  liegende  innere  Fläche  des  Augen¬ 
lides  gesund,  und  kann  6onach  nicht  mehr  mit  ihr  ver¬ 
wachsen;  die  eintretendc  Granulation  auf  dem  Augapfel  ist 
möglichst  bald  durch  Blei-  oder  Zinkmittel,  wol  auch 
selbst  durch  eine  Auflösung  von  Höllenstein  mit  Opium 
zur  Ueberhäutung  und  Heilung  zu  bringen,  wobei  aber  zu 
erinnern  ist,  dafs  eine  Pellucidität  derselben  schwerlich  zu 
erlangen  sein  dürfte. 


IX. 

Die  E ntozoen  des  Auges,  Eine  naturhistori¬ 
sche,  opthalmonosologische  Skizze  von  Dr.  An¬ 
ton  Gesch  cidt,  prakt.  Arzte  in  Dresden.  Ans 
Ammon  s  Zeitschrift  für  Ophthalmologie  Bd.  3. 
St.  4.  besonders  abgedruckt.  Dresden,  in  der  Wal- 
tberschen  Hofbachhandlung.  1833.  8.  59  S. 

Nach  historischer  Darlegung  des  bisher  über  diesen 
Gegenstand  Gelieferten,  geht  der  Vcrf.  an  die  Mitlheiluug 
seiner  eigenen  Beobachtungen.  In  dem  menschlichen  Auge 


239 


IX.  Entozoen  dos  Auges. 

fand  er  drei  Entozoenformen:  1)  Distoma  oculi  bumani 
(vier  Stück  bei  einem  fünfmonatlichen  Kinde,  das  mit  Ca¬ 
taracta  lenticularis  cum  partiali  capsulae  suffusione  gebo¬ 
ren,  an  Atrophia  mesaraica  starb).  2)  Filaria  oculi  hu- 
mani  (drei  Stück  in  der  cataractosen  Linse  bei  einem 
61  jährigen  Manne).  3)  Echinococcus  hominis  (zwischen 
Linse  und  Choroidea  in  dem  kranken  Auge  eines  24jähri- 
gen  Zöglings  des  Blindeninstituts,  der  an  Phthisis  tuber- 
culosa  starb).  —  Id  Säugethier- Augen  sind  vom  Yerf. 
zwei  Entozoenformen  beobachtet:  eine  Filaria  im  Glaskör¬ 
per  eines  Hundes,  und  Cysticercus  cellulosae  im  Auge  des 
Schweines;  ein  Exemplar  des  letztem  fand  sich  in  der 
vorderen  Augenkammer,  ein  zweites  in  einem  anderen 
Auge  zwischen  Choroidea  und  Retina;  in  einem  dritten 
Auge  wurde  von  Prinz  ein  Exemplar  zwischen  Conjun- 
ctiva  und  Sclerotica  gefunden.  In  allen  Fällen  wurden  Cy- 
sticerken  in  anderen  Theilen  des  Körpers  gefunden.  — 
Vogelaugen  untersuchte  der  Yerf.  lange  vergeblich  auf  Hel¬ 
minthen,  bis  es  ihm  endlich  gelang,  im  Glaskörper  eines 
Falco  lagopus  eine  Filaria  zu  entdecken,  die  er  Filar.  ar- 
mata  nennt. 

Nach  genauen  Mittheilungen  über  alle  diese  Fälle, 
geht  der  Verf.  über  zu  Betrachtungen  über  Entozoogenese 
im  Allgemeinen.  Wie  dies  für  die  übrigen  Organe  längst 
anerkannt  ist,  müssen  pathologische  Veränderungen  statt 
finden,  ehe  es  zur  Wurmerzeugung  im  Auge  kömmt.  Sind 
aber  die  Würmer  einmal  erzeugt,  so  unterhalten  diese 
nicht  nur  den  Krankheitsprozeis,  aus  dem  sie  hervorge¬ 
gangen,  sondern  veranlassen  auch  noch  neue  Erscheinun¬ 
gen.  Da  jedoch  die  die  Wurmerzeugung  bedingenden  Af- 
fectionen  mit  den  von  den  Würmern  ausgehenden  coindi- 
ciren  und  eine  ununterbrochene  Kette  von  Erscheinungen 
bilden,  so  ist  es  wol  eine  kaum  lösbare  Aufgabe,  diese 
von  jenen  zu  trennen  und  zwischen  ihnen  eine  Demarca- 
tionslinie  zu  ziehen.  Dafs  die  der  Entozoogenese  voraus¬ 
gehenden  krankhaften  Erscheinungen  sich  meist  auf  gehin- 


240  X.  Entzündliche  Anlage 

derten  oder  aufgehobenen  StolFwechscl  beziehen,  läfst  sich 
aus  den  meisten  Beobachtungen  schlicfscn.  Der  Verfasser 
schildert  nun  die  in  den  verschiedenen  Tlieilen  des  Auges 
bei  Vorhandensein  von  Entozoen  beobachteten  krankhaften 
Erscheinungen,  uud  schliefst  mit  einer  Widerlegung  der 
Nord ina nn sehen  Ansicht,  dafs  das  Scotoma  durch  vor¬ 
handene  Entozoen  vielleicht  bewirkt  werden  könne.  Fol¬ 
gend  Punkte  werden  Nord  man  n  entgegengesetzt:  1)  Die 
bis  jetzt  beobachteten,  zwischen  der  Netzhaut  und  der 
OefTnuog  der  Pupille,  und  zwischen  dieser  und  der  Horn¬ 
haut  lebenden  Biunenwürmcr  sind  zu  grofs,  als  dafs  sic 
nach  dem  von  Nordmann  gegebenen  Calcul  das  Scheu 
der  bei  Myodesopsic  vorkommenden  Gestalten  verursachen 
können.  2)  Die  meisten  an  diesem  Uebel  Leidenden  se¬ 
hen  die  Figuren  bald  entfernter,  bald  näher.  3)  Der  Zu¬ 
stand  ist  gewöhnlich  ein  vorübergehender,  und  kann  nicht 
selten  willkührlich  hervorgerufen  werden.  4)  Der  Erzeu¬ 
gung  von  Würmern  gehen  pathologische  Veränderungen 
voraus,  die  das  Sehen  mehr  oder  minder  trühen.  5)  Die 
erzeugten  Würmer  verursachen  sehr  bald  solche  organi¬ 
sche  Störungen ,  die  das  Sehen  in  hohem  Grade  beeinträch¬ 
tigen,  oder  gänzlich  aufheben. 


X. 

•  i  • 

Memoire  et  observations  pratiques  sur  la 
diathese  infl  ammatoire  des  enfans  nou- 
veaux-nes.  Par  P.  E  t  i  e  n  n  e  Martin,  Membre 
de  la  legion  d  honneur,  Ancien  -  Chirurgien  en  chef 
de  lhospice  de  la  charite  de  Lyon  etc.  Lyon, 
chez  Louis  Perrin.  1831.  8.  82  S. 

Die  Krankheit,  welche  Martin  Diathese  inflamma- 
toirc  des  nouveaux-ncs  nennt,  ist  eine  bösartig  verlau¬ 
fende 


f 


der  Neugeborenen.  124 1 

lende  Rose,  welche  in  der  Privatpraxis  zu  Lyon  häufig  Vor¬ 
kommen  und  viele  Kinder  wegraffen  soll.  So  wie  bei  al- 
leu  entzündlichen  Affectionen  der  Haut  nicht  selten  auch 
Entzündungen  innerer  edler  Organe  sich  zeigen,  so  wer¬ 
den  auch  hier  diese  Complicationen  wahrgenommen  und 
zu  oft  nur  erst  bei  der  Section  erkannt,  was  besonders 
dann  der  Fall  zu  sein  schein!  ,  wenn  die  anfänglich  ery- 
sipelatöse  Entzündung,  in  der  Tiefe  um  sich  greifend,  nach 
und  nach  die  Gestalt  einer  phlegmonösen  annimmt.  Mar¬ 
tin  ist  der  Meinung,  dafs  diese  Diathesis  iuflammatoria 
von  den  Aeltern  auf  die  Kinder  übergehe,  da  er  sie  nur  in 
gewissen  einzelnen  Familien,  hier  aber  bei  sämmtlichen 
Kindern,  beobachtet  habe.  Dies  galt  insonderheit  von  drei 
Haushaltungen,  in  welchen  die  Väter  eine  athletische  Con¬ 
stitution  und  ein  sanguinisch -biliöses  Temperament  hatten, 
indefs  die  kräftigen  und  mit  einem  sanguinisch -lymphati¬ 
schen  Temperamente  begabten  Mütter  während  der  monat¬ 
lichen  Reinigung  viel  Blut  verloren,  selbst  in  der  ersten 
Schwangerschaftshälfte  regelmäfsig  ihren  Monatsflufs  beka¬ 
men,  und  während  der  Dauer  der  Schwangerschaft  an  Na¬ 
senbluten,  Congestionen  des  Blutes  nach  dem  Kopfe  und 
der  Brust,  Kreuzschmerzen ,  Krämpfen  und  Erschlaffen  der 
Glieder  litten. 

Die  Kinder  dieser  Mütter  pflegten  bei  der  Geburt  un¬ 
gewöhnlich  stark  und  vollsaftig  z^u  sein,  auf  der  Binde¬ 
haut  der  Augen  fanden  sich  Ecchymosen,  um  den  After 
herum  wirkliche  Hämorrhoidalknoten,  und  ihre  ganze 
äufsere  Körperfläche  bot  die  Erscheinungen  dar,  welche 
Jahn  im  Conversationsblatte  als  Symptome  der  Rothsucht 
beschrieben. 

Der  Anfang  der  Krankheit  war  in  der  Regel  24  bis 
48  Stunden  nach  der  Geburt,  um  welche  Zeit  sich  ein¬ 
zelne  Hautpartien  entzündet  zeigten.  Die  Entzündung  ver¬ 
breitete  sich  nach  und  nach  über  die  Schleimhaut  der  Lip¬ 
pen,  des  inneren  Mundes,  der  Nase,  der  Vorhaut  und  der 
Eichel,  des  Nabels,  welche  Gebilde  mit  sero-sanguinolen- 
Band  28.  Heft  2.  16 


242  X.  Entzündliche  Anlage  der  Neugeborenen. 

$ 

ten  oder  mit  citcrartigcn  Pscudogebilden  gleichsam  über¬ 
zogen  wurden. 

Die  anfangs  rein  crysipelatösc  Entzündung  nahm  spä¬ 
ter  den  phlegmonösen  Charakter  an,  und  ging  in  Eiterung, 
auch  wohl  in  Brand  über.  Gleichzeitig  entstanden  Meteo¬ 
rismus,  Erbrechen,  Auftreibung  der  Lebergegend,  Kolik, 
eine  grüne  Diarrhöe,  profuse  Harnentleerung,  keuchende 
Respiration,  Schluchzen,  ein  Zucken  des  Gesichtes,  allge¬ 
meine  Krämpfe,  heftiges  Fieber,  unter  welchen  Zufällen 
endlich  der  Tod  erfolgte. 

Bei  der  Leicheuölfnung  fand  M.  die  Haut  mit  Brand¬ 
flecken  bedeckt,  Eiteransammlungen  und  Blutaustrctungcu 
im  Zellgewebe,  Geschwürbildungen  auf  den  Schleimhäu¬ 
ten;  die  Lungen  bald  hepatisirt,  bald  vom  Blute  strotzend, 
bald  mit  der  Pleura  und  den  Rippen  verwachsen,  das  Herz 
entzündet  und  die  Herzgclafse  blutreich,  den  Magen  und 
die  Gedärme  entzündet,  die  Blutgefäße  im  Gehirn  und  die 
Gehirnhäute  strotzend. 

Die  Krankheit,  sich  selbst  überlassen,  nimmt  einen 
tödtiiehen  Ausgang,  welcher  auch  nicht  auszublciben  pflegt, 
sobald  einzelne  Partien  in  Eiterung  oder  Brand  übergegan¬ 
gen  sind.  Ein  günstiger  Ausgang  ist  nur  bei  Zertheilung 
der  Entzündung  möglich,  welcher  nur  mit  Hülfe  eines 
streng  entzündungswidrigen  Verfahrens  gelingt.  Unter  die¬ 
sen  Umständen  verschwinden  die  Symptome,  ohne  beson¬ 
dere  Krisen,  mit  Ausnahme  eines  Falles,  wo  M.  ein  Blut¬ 
harnen  voraugeheu  sah. 

Martin ’s  Kurmethode  ist  vorzugsweise  auf  die  Müt¬ 
ter  gerichtet,  ihnen  schreibt  er  den  wiederholten  Gebrauch 
lauwarmer  Bäder,  eine  strenge  Diät  und  wiederholte  Blul- 
ausleerungen  während  der  Schwangerschaft  vor.  Rück¬ 
sichtlich  der  Kinder  warnt  er  vor  zu  schneller  Unterbin¬ 
dung  der  Nabelschnur,  vor  zu  warmer  Bedeckung  und  zu 
festem  Wickeln,  empfiehlt  ein  seltenes  Anlegen  an  die  Brust, 
statt  dessen  häufig  Zuckerwasser ,  kühlende  Laxantia  und 
fleifsiges  Baden.  Nach  erfolgtem  Ausbruche  der  Krankheit 


XI.  Bl  ancards  Lcxicon. 


243 

empfiehlt  er  Blutegel,  Bäder,  ableitende  und  entzündungs¬ 
widrige,  den  Leib  eröffnende  Mittel,  um  so  dem  Ueber- 
gange  in  Eiterung  vorzubeugen.  Den  Beschlufs  machen 
fünfzehn  besondere  Krankengeschichten. 

Ref.  hat  eine  weitläufige  Mittheilung  für  um  so  nütbiger 
erachtet,  als  gerade  diese  Krankheit,  besonders  von  deut¬ 
schen  Aerzten,  für  die  Zellgewebsverhärtung  angesehen 
worden  ist;  daher  die  fehlerhafte  Beschreibung  derselben 
in  den  Lehr-  und  Handbüchern  über  Kinderkrankheiten. 

Hey  fei  der. 


XI. 

Neue  Ausgabe. 


Stephani  Blancardi  Lexicon  medicum,  in 
quo  artis  medicae  termini  anatomiae,  chi- 
rurgiae,  pharm  aciae,  chcmiae,  rei  bota- 
nicae  etc.,  proprii  dilucide  breviterque  exponun- 
tur.  Editio  novissima  multum  emendata  et  aucta  a 
Carolo  Gottlob  Kühn,  med.  ac  chirurg.  D. 
Physiologiae  et  Pathologiae  in  litterarum  univer- 
sitate  Lipsiensi  Prof,  publico.  Vol.  I.  A  —  L. 
Lipsiae  sumt.  Bibi.  Schwickert.  1832.  8  maj.  pp.  890. 
Yol.  II.  Lipsiae.  1832.  8maj.  p.  891  —  1743. 

Das  Blancardsche  medicinisehe  Lexicon  hat  von  sei¬ 
nem  Erscheinen  an  bis  auf  unsere  Tage  einen  allgemein 
anerkannten  Werth  erlangt  und  behauptet,  und  hat  des¬ 
halb  nach  dem  Tode  des  Verfassers  in  gelehrten  Männern, 
wie  z.  B.  Isen  flamm,  Autoreu  gefunden,  welche  das¬ 
selbe  unter  ihren  Schutz  nahmen.  in  unseren  Tagen 
hat  der  berühmte  Leipziger  Herausgeber  der  Griechischen 


244 


XI.  Blancnrd's  Lexicon. 


V 


Acrzle,  ein  in  seinem  hohen  Alfer  noch  ungemein  th.ili 
ger  Mann,  es  der  Mühe  werth  gehalten,  das  in  Hede  ste 
hende  Huch  zu  emendiren  und  zu  erweitern. 

Wer  könnte  unter  so  bewandten  Umständen  daran 
zweifeln  wollen,  dafs  das  Blancard  -  KQhnsche  mcdici- 
nisclic  Lexicon  ein  den  Ansprüchen  der  Zeit  genügendes 
Werk  sei.  Jede  Seite,  ja  fast  jeder  Artikel  ist  ein  Beweis 
für  die  eben  gegebene  Ansicht.  Aber  wer  ganz  Vollstän¬ 
diges  hier  sucht,  der  irrt  sich,  wie  es  der  Natur  der  Sache 
nach  nicht  anders  s^in  kann!  Denn  wer  könnte  verlan¬ 
gen  wollen,  hier  die  gesammten  Ausgeburten  des  neuen 
Graecobarbarismus,  der  in  unsern  Tagen  unter  den  Aerz- 
ten  so  viele  Anhänger  hat,  zu  finden?  Wer  könnte,  wenn 
er  cs  mit  der  Kunst  gut  meint,  auch  nur  entfernt  wün¬ 


schen  mögen,  liier  eine  niederschlagende  und  abweisende 
Kritik  aller  der  falschen  Wörter  zu  finden,  mit  deren  Bil¬ 
dung  sich  so  viele  Aerzte  unserer  Tage,  gleichsam  als  ver¬ 
ständen  sic  das  Griechische  aus  dem  Fundamente,  beschäf¬ 
tigen?  Sonach  ist  es  wohl,  wenn  auch  nur  stillschwei¬ 
gend,  die  Absicht  des  Bearbeiters  gewesen,  nur  das  was 
wahrhaft  nützlich  ist  in  griechisch  benennender  Hinsicht 
hici  namhaft  zu  machen  und  zu  erklären!  In  dieser  Be¬ 
ziehung  genommen,  ist  das  vorliegende  Lexicon  sehr  um¬ 
fassend  und  sehr  vollständig,  und  wir  wünschen  ihm  ein 
grofses  Publikum!  Das  «nocturna  versarc  manu,  versarc 
diurna»  gilt  von  diesem  Werke,  wie  nicht  leicht  von  ei¬ 
nem  anderen,  für  unsere  medicinischc  Jugend.. 


Ammon. 


XII.  Dissertationen.  ‘245 

XII. 

D  isser  tationen. 

J.  Der  Universität  Gent. 

D  iss  er  tat  io  inedico  -  iuaug.  de  Taenia,  quam  a.  D. 
o.  M.  ex  auctoritate  rectoris  Magu.  Jos.  Franc.  Kl uys- 
kens  nec  non  nobil.  facultatis  med.  decreto  pro  Gradu 
Doctoris  etc.  in  Academia  Gandavensi  p.  def.  Job.  Ro- 
mualdus  Marinus,  Tubecensis,  Chirurgus  nec  non  art. 
obstetr.  Magister,  plur.  societ.  med.  sodalis.  Bruxellis, 
1831.  4.  pp.  30. 

Eine  durch  ihren  inneren  Gehalt  ausgezeichnete  Schrift, 
welche  in  Holland,  Belgien  und  Frankreich  eine  allgemeine 
Aufmerksamkeit  erregte,  in  Deutschland  dagegen  wenig 
noch  gekannt  zu  sein  scheint.  Sie  besteht  aus  vier  Haupt¬ 
abschnitten,  deren  erster  die  Naturgeschichte  des  Band¬ 
wurms  nach  Bremser  bearbeitet  enthält,  indels  der  zweite 
von  der  Entstehungsweise  desselben  und  von  den  verschie¬ 
denen  Theorieen  darüber,  der  dritte  von  der  Symptoma¬ 
tologie,  der  vierte  von  der  Therapie  handelt.  Nach  einer 
kurzen  Prüfung  einzelner  Verfahrungsarten,  verweilt  er  bei 
der  Anwendung  der  Granatrinde,  die  verschiedenen  Schrift¬ 
steller  anführend,  welche  günstige  Resultate  davon  sahen, 
zugleich  aber  auch  elf  einzelne  Fälle  beschreibend,  in  wel¬ 
chen  er  von  dem  Gebrauche  desselben  in  folgender  Weise 
die  Abtreibung  des  Wurms  bewirkte: 

Den  Tag  zuvor  beobachtet  der  Kranke  eine  absolute 
Diät,  und  nimmt  zugleich  anderthalb  bis  zwei  Unzen  Ri- 
cinusöl.  Am  folgenden  Morgen  trinkt  er  in  halbstündlichen 
Zwischenräumen  eine  Abkochung  von  der  Granatrinde, 
welche  nach  24stündigcr  Maccration  in  2  Piund  Wasser 
bis  auf  l  Pfund  eingekocht  worden  war.  Zuweilen  ent¬ 
steht  Erbrechen,  in  der  Regel  aber  erfolgt  unter  leichten 


r  ,  \ 

; 


i 


246  XII.  Dissertationen. 

Koliksrinnerzen  und  einigen  diarrhöeartigen  Stühlen  der  Ab¬ 
gang  des  Wurms. 

Hef.  versuchte  die  Abkochung  der  Granatrinde  in. meh¬ 
ren  Fallen,  ohne  einen  reellen  Nutzen  davon  zn  sehen. 
Er  bescheidct  sich  indessen  sehr  gern  jedes  Urthcils  über  die 
Wirksamkeit  dieses  Arzneikörpers,  und  wünscht  nur.  dals 
andere  Praktiker  sich  veranlafst  fühlen  mühten,  ihre  NN  ahr- 
nehmungen  darüber  mitzutheilen,  besonders  wenn  diese  in 
größeren  Heilanstalten  gemacht  wurden. 

Ueyfclder , 


2.  Der  Universität  Erlangen  im  Jahre  1SH-. 

1.  Buschhorn,  Ilislorischc  Andeutung  über  den  gegen¬ 
wärtigen  Standpunkt  der  psychischen  Arzncikundc.  8. 
36  S. 

Der  Verf ,  ein  Schüler  Friedrcich’s,  wie  er  sich 
nennt,  schildert  kurz  und  ungenügend  die  Lehren  der  vier 
Schulen,  in  welche  er  die  Ansichten  über  psychische  Heil¬ 
kunde  theilt,  nämlich:  1)  die  He i n ro t hsche,  2)  die 
Nasse  -  Fr ic d re i ch sehe  Schule,  3)  die  Lehre  von  Ja¬ 
cob  i,  4)  die  Lehre  von  Groos. 

2,  Jäcklc,  Ucbcr  die  Formen  der  Epilepsie.  8.  49  S, 
Nach  Prof.  Schönleiu’s  Vorträgen  bearbeitet. 

3-  Uckcrmanu,  Ucbcr  Seirrhus  und  Krchsbildung,  uud 
deren  Behandlung.  8.  46  S. 

NVie  es  scheint,  ganz  nach  Prof.  Jäger’s  Heften  be¬ 
handelt, 

4.  De  arsenlci  vi  medicatricc  auctorc  Hoffmauu.  8. 
31  S. 

Bekanntes  wohlgeordnet. 

5.  Loschge,  Einiges  über  die  Atrophie.  4.  16  S. 

Unbedeutend. 


XII.  Dissertationen. 


247 


$  \  % 

6*.  Oe  sanguinis  in  periculosa  haemorrhagia  uterina  trans- 

lusione  auctore  Carolo  Waller,  Londinensi.  8.  29  S. 

Oer  Verf.  erzählt  drei  Fälle,  nach  eigener  Beobach¬ 
tung,  die  günstig  abliefen. 

7.  Kunhardt  (aus  Lübeck),  Ueber  Mydriasis.  8.  16  S. 
Mit  einer  illuminirten  Kupfcrtafel. 

Gut  behandelt;  Prof.  Jäger  theilte  dem  Verf.  einen 
Fall  zur  Beschreibung  mit. 

8.  Handschuch,  De  plantis  fumariaceis  systematis  ua- 
turalis  earumque  viribus  et  usu,  adjectis  descriptionibus 
specierum,  quae  in  Germania  crcscunt.  8.  44  S. 

Die  trefflichen  Beschreibungen  der  sämmtlichen  Arten 
mit  ausführlicher  Litteratur  und  Synonymik  rühren  vom 
Prof.  Koch  her,  und  sind  natürlich  das  Beste  der  ganzen 
Abhandlung. 

9.  Kästner,  Ueber  die  Natur  des  weifscn  Blutes.  8. 
108  S. 

Diese  lleifsig  geschriebene  Inaugural-  Abhandlung  ist 
vom  Sohne  des  Prof,  der  Chemie  und  Physik  Dr.  Käst¬ 
ner  zu  Erlangen  verfafst.  Der  Verf.  betrachtet  zuerst  Lym¬ 
phe  und  Chylus  besonders  in  chemischer  Hinsicht,  und 
geht  dann  auf  das  rothe  Blut  über.  Eine  eigenthümliehe 
Meinung  stellt  er  über  Blutfaser  und  Blutroth  auf,  indem 
er  sie  als  polare  Bildungserzeugnisse  des  Eiweifses,  der 
Lymphe  und  des  Chylus  betrachtet,  Je  weiter  nämlich 
der  Chylus  iu  der  Entwickelung  fortschreitet,  um  so  mehr 
wird  er  reich  an  Fibrin,  oder  wahrscheinlicer,  um  so 
mehr  geht  das  Eiweifs  desselben  (galvanischer  Entwicke¬ 
lung  unterliegend?)  in  Blutfaserstoff  und  Blutroth,  d.  i.  in 
zwei  Bihlungstheile  über,  die  sich  durch  Berührung  inner¬ 
halb  der  salzig  -  wässerigen  Substanz  des  Serums  (die  als 
solche  sich  analog  verhält  dem  feuchten  Leiter  wirksamer 
galvanischer  Ketten)  wechselseitig  elektrisircn  und  so  elek¬ 
trische  Strömungen  bewirken,  die,  wie  in  den  Schliefsungs- 


248 


XII.  Dissertationen. 


<1  rät  heil  zusammengesetzter  galvanischer  Ketten,  fortdauernd 
Wörme  erzeugen.  Wahrscheinlich  wird  hierbei  der  Blut¬ 
faserstoff  clcktro-negativ,  das  Blutroth  hingegen  clcktro- 
positiv.  —  Ueber  das  rothe  Blut  stellt  der  \  crf.  die  neue¬ 
sten  Beobachtungen  gut  zusammen.  Der  zweite  Abschnitt 
handelt  vom  gesunden  und  krankhaften  weifsen  Blute.  Was 
der  Verf.  über  das  (weifse)  Blut  der  wirbellosen  Thiere 
sagt,  ist  dürftig,  und  ohne  dafs  eigene  Beobachtungen  nö- 
thig  gcwescu  waren,  die  doch  leicht  anzustellen  waren, 
hätte  der  Verf.  mehr  benutzen  können.  Hätte  er  die 
wichtige  Schrift  von  Carus:  «über  die  äufseren  Lcbcns- 
bedingungen  der  weifs-  und  kaltblütigen  Thiere,”  ge¬ 
kannt,  die  schon  1824  erschien,  so  würde  er  nicht  gesagt 
haben:  «dafs  die  weifsen  Säfte  dieser  Thiere  der  Gcrin- 
nung  fähig  seien,  und  dabei  in  Serum  und  Placenta  zer¬ 
fallen,  wird  aus  den  darin  nachgewiesenen  Kügelchen  und 
Faserfäden  sehr  wahrscheinlich; »  denn  Carus  hat  dies 
weitläufig  am  Blute  der  Wcinbergsschncckc  und  des  Fluss¬ 
krebses  beschrieben.  —  Indem  der  Verf.  ferner  von  dcu 
weifsen  Stiften  der  Mollusken,  Insekten,  Spinnen,  Crusta- 
ceen  und  Uiugelwürmer  spricht,  könnte  es  scheinen,  als 
schriebe  er  auch  den  letzten  ein  weifses  Blut  zu,  da  dies 
doch,  mit  wenigen  Ausnahmen,  sehr  intensiv  roth  gefärbt 
ist.  —  Schlemm  uud  Mayer  habcu  bekanntlich  an  jun¬ 
gen  saugenden  Katzen  und  Hunden  eine  weifslichc  Färbung 
des  Blutes  bemerkt;  der  Verf.  fand  dies  nach  Versuchen 
an  zwei  jungen  Kätzchen  nicht;  doch  zeigte  cs  sich,  dafs 
das  Serum  des  Blutes  der  einen  Katze  eine  merkliche 
Menge  von  Fett  enthielt.  Am  ausführlichsten  und  genaue¬ 
sten  verbreitet  sich  nun  der  Verf.  in  dem  Abschnitte  über 
das  krankhafte  weifse  Blut,  welchen  Kcf.  den  Lesern 
empfiehlt. 

10.  Dalmatiae  nova  Serpcntum  gcncra  auctorc  Fride- 
rico  Ludovico  Fleisch  mann,  Norimbergcnsi.  Ac- 
ccduut  tabulae  aeucac  duac.  4.  .‘15  S. 


XII.  Dissertationen. 


249 


Zwei  in  Dalmatien  gefundene  Schlangen,  deren  Dar¬ 
stellung  die  beiden  schon  gestochenen  und  vortrefflich  eo- 
lorirten  Tafeln,  worauf  sich  auch  die  Schädel  befinden, 
gewidmet  sind  ,  gaben  dem  Yerf.  den  Stoff  zur  vorliegen¬ 
den  Abhandlung.  Sie  gehören  zur  alten  Gattung  Coluber, 
von  welcher  indefs  die  mit  hinteren  Giftdrüsen  und  Gift¬ 
zähnen  versehenen  Arten  von  den  neueren  genaueren  Her- 
petologen  mit  Recht  abgetrennt,  und  als  eigene  Gattungen 
unterschieden  werden.  Ob  die  beiden  vom  Verf.  beschrie¬ 
benen  Schlangen  wirklich  als  neue  Genera  (Tarbophis  und 
Rbabdodon,  wie  er  sie  nennt)  bestehen  können,  und  nicht 
etwa  zu  den  schon  bestehenden  von  Oppcl,  Kühl  oder 
Boie  gerechnet  werden  müssen,  wie  dies  wahrscheinlich 
ist,  mufs  der  Entscheidung  geübter  Herpetologen  anheim¬ 
gestellt  bleiben.  So  viel  Ist  gewifs,  und  dies  zeigen  die 
Beobachtungen  von  Schlegel,  Joh.  Müller  und  Du- 
verroy  über  die  höchst  mannigfaltigen  Bildungen  der 
Drüsen  und  Oberkieferzähne  der  Ophidier,  dafs  noch  ein 
grofses,  interessantes  Feld  der  Zergliederung  geöffnet  ist, 
und  woraus  hervorgehen  wird,  dafs  viele  bisher  als  un¬ 
giftig  bekannte  Schlangen  wirklich  mit  einem  Giftapparate 
versehen  sind.  Der  Yerf.  fand  bei  der  ersten  beschriebe¬ 
nen  Art  oder  Gattung  (Tarbophis)  den  hintersten  Ober¬ 
kieferzahn  viel  länger,  als  die  übrigen,  und  äufserlich  mit 
einer  Furche  versehen;  bei  der  zweiten  Art  (Rhabdodou 
fuscus)  finden  sich  an  derselben  Stelle  mehre  gerade  tief¬ 
gefurchte,  längere  Zähne,  wovon  zwei  (unter  den  drei 
vorhandenen)  offenbar  Ersatzzähne  sind,  ganz  wie  bei  den 
vorderen  Giftzähnen  der  Yipern.  —  Die  anatomischen 
Angaben,  besonders  über  die  Drüsen,  sind  leider  so  kurz 
und  ungenau,  dafs  sie  gar  keinen  Aufschlufs  geben,  ob 
Giftdrüsen  vorhanden  sind,  und  wo  sie  liegen.  Sehr  wich¬ 
tig  wäre  es  gewesen,  wenn  der  Verf.  den  Streit  über  die 
Existenz  der  Milz  bei  den  eigentlichen  Ophidiern  beriiek- 
sichtigt  und  die  dargebolene  Gelegenheit  benutzt  hätte, 
ihn  aufklären  zu  helfen,  denn  die  Worte:  «Lien  non  de- 


250  XIII.  Medicinische  Bibliographie. 

cst M  bei  der  einen,  und  «  lien  miuiinus  »>  bei  der  anderen 
Art,  sind  viel  zu  ungenau.  Rcf.  bat  zwar,  übereinstim¬ 
mend  mit  Duverroy  und  Retzius,  sieb  von  der  Exi¬ 
stenz  der  Milz  bei  den  Ophidiern  überzeugt  und  gesehen, 
dafs  Meckel’s  Nichtauffindcn  derselben  auf  einem  Irr- 
tbume  beruht,  der  sich  aus  der  eigenthömlicben  Verbin¬ 
dung  der  Milz  mit  dem  Pankreas  leicht  erklärt. 

11.  Zirngibl,  De  haemorrhoidibus  et  colica  haemorrhoi- 
dali.  8.  32  S. 

12.  Einige  Bemerkungen  über  den  Unterschied  zwischen 
Gicht  und  Rheumatismus,  von  Sc  u  ffe  r  h  e  1  d.  8.  23  S. 

13.  Jnaugural- Abhandlung  über  das  Chlor,  dessen  Präpa¬ 
rate  und  Anwendung  zum  mediciuischcu  Gebrauche,  von 
A.  F.  Weiler.  8.  64  S. 

Gute  chemische  Kenntnisse  verrathend,  flcifsig  und 
brauchbar. 


XIII. 

Medicinische  Bibliographie. 


Fl  eck  1  es,  L. ,  die  Krankheiten  der  Reichen.  Diätetische 
Grundlinien  für  das  höhere  und  conversationelle  Le  en. 
gr.8.  Wien;  Gerold,  br.  20  Gr. 

liofmann,  J. ,  Genius  morborum  epidemicus  anno  1832. 
Vindobonae  observatus  haustus  ex  observatiouibus  in  no- 
socomio  c.  r.  universali  viennensi  institutis.  Cum  XII 
tabulis  litho-impr.  Smaj.  Wien,  Gerold,  br.  n.  21  Gr. 

Jahrbücher,  mcdicinische,  des  Kaiscrl.  Köuigl.  österrei¬ 
chischen  Staates.  Ilcrausg.  von  A.  J.  v.  StitTt  und  red. 
von  J.  N.  v.  Raimann.  liier  Band  oder  neueste  Folge 
Vr  Band,  ls  —  3s  Stück.  Mit  6  Kupf.  gr.8.  Wien,  Ge¬ 
rold.  br.  4  Thlr. 


251 


XIII.  Medicinische  Bibliographie. 

I 

Karpff,  A.  F.,  descriptio  morbornm  anno  1831  Jaurini 
epidemicorum ,  cum  adversariis  pathologico-therapeutieis, 
8maj.  Wien,  Gerold,  br.  14  Gr. 

Krüger-IIansen,  die  Homöopathie  und  Allopathie  auf 
der  Wage.  Mit  Bildnifs.  gr.8.  Rostock,  Oeberg.  n.  2Thlr. 

Mittheilungen  aus  dem  Tagebuche  eines  Arztes.  Aus 
dem  Engl,  von  C.  Jürgens.  3  Bde.  8.  Braunschweig, 
Vieweg.  4  Thlr, 

Schroff,  E,  St.  und  K.  D.,  Taschenbuch  der  Arzneimit¬ 
tellehre  und  Receptirkunde,  nach  dem  neuesten  Stand¬ 
punkte  dieser  Wissenschaften  entworfen.  Auch  unter 
dem  Titel:  Arzneimittellehre  und  Receptirkunde,  zum 
Behufe  der  Vorlesungen  entworfen.  12.  Wien,  Gerold, 
hr,  1  Thlr.  8  Gr. 

Siebold,  A.  E,,  Journal  für  Geburtshülfe,  Frauenzimmer- 
und  Kinderkrankheiten.  Herausgeg.  von  E.  C.  J.  v,  Sie¬ 
bold.  13r  Bd.  2s  Stück,  gr.8.  Frankfurt,  Varrentrapp. 
br.  20  Gr. 

Strempel,  J.  C.  F.,  Untersuchungen  über  Arzneitaxen, 
mit  besonderer  Hinsicht  auf  die  ältere  Preufsische,  Han¬ 
noversche  und  auf  die  neue  Preufsische  Arznei -Taxe.  4. 
Rostock,  Oeberg.  geh.  n.  12  G rj 

Sachs,  L,  W. ,  das  Quecksilber.  Ein  pharmakologisch- 
therapeutischer  Versuch,  gr.8.  Königsberg,  Bornträger. 

1  Thlr.  22  Gr. 

Amussat,  J.  Z.,  die  Harnconcretionen  beim  Menschen 
nach  ihrer  Gröfse  und  Form  geordnet,  um  die  verschie¬ 
denen  Schwierigkeiten  bemerkbar  zu  machen ,  auf  welche 
man  bei  der  Lilhothripsie  und  beim  Steinschnitte  stofsen 
kann.  Grofse  Tafel  mit  illum.  Abbildungen,  gr.Fol.  Wei¬ 
mar.  Industr.Compt.  21  Gr. 

Arznei-Taxe,  neue,  für  Hannover,  vom  1.  Octob.  1833. 
8,  Hannover,  Hahn.  6  Gr. 

Caspar i,  C.,  Bibliothek  für  die  homöopathische  Medicin 
uud  Materia  Medica.  Zweite  Auflage.  3  Bde.  gr.8,  Leip¬ 
zig,  Focke.  br.  3  Thlr. 


‘J52  XIII.  Mechanische  Bibliographie. 

Glaser,  alphabetisch- nosologisches  Repertorium  der  An 
zeigen  zur  Anwendung  der  bis  jetzt  bekannten  homöo¬ 
pathischen  Arzneien,  in  verschiedenen  KrankheiUzustnu- 
den  nach  S.  Hahnemann’s  u.  a.  Schriften  bearbeitet.  lb\ 
Heidelberg,  Groos.  cart.  18  Gr. 

Hahne  mann,  Sam.,  Organon  der  Heilkonst.  Fünfte,  verb. 
und  verm.  Aufl.  Mit  dem  Bildn.  des  Verf.  gr.8.  Leip- 
zig,  Arnold,  br.  •  ,  2  Thlr.  8  Gr. 

Segin,  Fr.,  die  chirurgischen  Werkzeuge  aus  elastischem 
Harze.  Nebst  Angabe  ihrer  Bereitung  und  Gebrauchs¬ 
weise.  Mit  6  Steiutafeln.  gr.Fol.  Heidelberg,  Groos. 

1  Thlr.  12  Gr. 

Wcndt’s,  Job.,  praktische  Matcria  mcdica,  als  Grund¬ 
lage  am  Krankenbette  und  als  Leitfaden  zu  akademischen 
Vorlesungen.  Zweite,  verm.  Ausg.  gr.8.  Breslau,  VV. 
G.  Korn.  2  Thlr.  4  Gr. 

Abbildungen  aus  dem  Gesammtgebicte  der  theoretisch- 
praktischen  Geburtshülfe,  nebst  beschreibender  Erklä¬ 
rung  derselben.  Nach  dem  Franzos,  des  Maygrier  bcarb. 
und  mit  Annlerkungen  versehen  von  E.  C.  J.  v.  Sicbold. 
Zweite,  umgearb.  u.  verm.  Aufl.  lste  Lief.  Lex. 8.  Ber¬ 
lin,  Hcrbig.  Subscriptionspreis  mit  Vorausbezahlung  der 
letzten  Lieferung  n.  1  Thlr.  8  Gr. 

Duj)  uytren’s  klinisch -chirurgische  Vorträge  etc.,  bearb. 
von  E.  Bech  uud  R.  Lcoohardi.  (itc  Lief.  gr.8.  Leipzig, 
Baumgärtner.  15  Gr. 

Funk,  R.,  Katechismus  der  Chirurgie,  oder  systematisches 
Handbuch  der  gesummten  Chirurgie  in  katechetischer 
Form.  Zweite,  völlig  umgeänd.,  sehr  verm.  Ausg.  gr<8 
Leipzig,  Baumgärtuer.  br.  1  Thlr.  8  Gr. 

Hartlaub,  C.  G.  Chr.,  Katechismus  der  Homöopathie. 
Vierte,  verm.  und  verb.  Aufl.  gr.8.  Leipzig,  Baumgart¬ 
ner.  br.  16  Gr. 

Kämmerer,  die  Homüopathik  heilt  ohne  Blutcntzichun- 
gen.  Mit  Vorrede  von  Sam.  Hahnemann.  gr.  12.  Leip¬ 
zig,  Baumgärtuer.  br.  9  Gr. 


253 


XI!!,  Medicinische  Bibliographie. 

Baring,  O. ,  über  den  Markschwamm  der  Hoden.  Mit 
4  lithogr.  Taf.  gr.8.  Göttingen,  Dieterich.  1  Thlr.  8  Gr. 
Brandt,  J.  F. ,  und  J.  T.  C.  Ratze  bürg,  getreue  Darstel- 
lu  ng  und  Beschreibung  der  Thiere,  die  in  der  Arznei¬ 
mittellehre  in  Betracht  kommen.  Bd.  II.  Heft  VI — VIII. 
oder  11s  —  13s  Heft.  gr.4.  Berlin,  Hirsch  wähl.  n.  4  Thlr. 
Encyclopädie  der  gesammten  medicinischcn  und  chirur¬ 
gischen  Praxis,  von  G.  Fr.  Most.  4s  Heft.  Gonorrhoca  bis 
Hystriciasis.  Lex. -8.  Leipzig,  Brockhaus.  hr.  n.  20  Gr. 
Mühry,  A.  A.,  ad  parasitorum  malignorum  imprimis  fungi 
medullaris  oculi  historiam  symholae  aliquot.  4maj.  Göt¬ 
tingen,  Dieterich.  n.  1  Thlr. 

Tuchen,  L.  F.,  kurze  Uebersicht  der  wichtigsten  Rea- 
gentien,  welche  bei  Apotheken -Revisionen  erforderlich 
sind.  8.  Leipzig,  Berger,  br.  9  Gr. 

Universal  -  Lexicon  der  praktischen  Medicin  und  Chi¬ 
rurgie,  von  Andral  etc.  Frei  hearh.  von  mehr,  deut¬ 
schen  Aerzten.  Ir  Bd.  4te  Lieferung.  Lexic. -8.  Leipzig, 
Franke,  hr.  n.  8  Gr. 

Wagenfeld,  L.,  allgemeines  Vieharzneibuch.  Zweite, 
sehr  verm.  u.  verb.  Aufl.  Mit  9  lithogr.  Tafeln,  gr.  8. 
Königsberg,  Bornträger.  1  Thlr.  18  Gr. 

W  e  n  z  1 ,  J.  B. ,  vom  Umrifs  des  Lebens  und  der  letzten  Krank¬ 
heitsgeschichte  Dr.  Sim.  v.  Häberls,  zunächst  für  Aerzte. 
Mit  2  Steinzeichnungen  io  Fol.  8.  Landshut,  Krüll.  18  Gr. 
Kahn,  medicinisch -polizeiliche  Abhandlung  über  die  Mo- 
saischcnSanitätsgesetze.  gr.  12.  Landshut, Krüll.  hr.  n.  8  Gr. 
Weber,  M.  J.,  Schema  des  medicinischen  Studiums,  gr.8. 

Bonn,  Weber,  geh.  3  Gr. 

Attomyr,  Briefe  über  Homöopathie.  8.  Leipzig,  Koll- 
mann.  br.  20  Gr. 

Becker  und  Gräger,  Beiträge  zur  Würdigung  der  Ho¬ 
möopathie.  gr.8.  Mühlhausen,  Heinrichshofen.  8  Gr. 

Borges,  W.  II.  L.,  über  Schädelrisse  an  einem  neuge- 
hornen  Mädchen,  und  deren  Entstehung,  gr.8.  Münster, 
Regensberg.  br.  6  Gr. 


‘i54  XIII.  Medicinische  Bibliographie. 

Eschcrich,  F.,  die  Influenza,  ein  epidemisches  Katar« 
rhalliebcr.  gr.8.  Würzburg,  Stahcl.  geh.  n.  8  Cr. 

Hcnslcr,  Ph.  J.,  über  die  verschiedenen  Arten  des  thic- 
rischcn  Magnetismus  und  ihre  verschiedenen  Wirkungen 
auf  den  Menscheu  im  kranken  Zustande,  gr.  8.  NN  ürz- 
burg,  Stahel.  br.  n.  1  Thlr. 

Simon,  J.  Fr.,  kurze  Beleuchtung  der  Schrift  des  Herrn 
Kranniehfeld  über  die  Nothwendigkeit  gründlicher  phar¬ 
makologischer  Kenntnisse  zum  Ueben  einer  glücklichen 
Praxis,  gr.8.  Berlin,  Hirsch wa Id.  br.  6  Gr. 

Stilling,  B.,  die  künstliche  Pupillenbilduog  in  der  Scle- 
rotica.  Mit  Abbildungen,  gr.8.  Marburg,  Elvvcrt.  br.  IG  Gr. 

Bi  sch  off,  Chr.  II.  E.,  die  Lehre  von  den  chemischen 
Heilmitteln,  oder  Handbuch  der  Arzneimittellehre,  gr.8. 
Bonn,  Wehes,  br.  n.  2  Thlr.  12  Gr. 

Macher,  M. ,  die  den  Gränzen  der  Steyermark  nahen  Heil¬ 
wasser  in  Ungarn,  Kroatien  und  Illyricn.  (Giätz.)  Leip¬ 
zig,  Kummer,  br.  14  Gr. 

Universal -Lexicon  der  praktischen  Mcdicin  und  Chi¬ 
rurgie,  von  Andral  etc.  Frei  bearb.  von  mehr.  Aerzten. 
IrBd.  5te  Liefer.  Lexic.-S.  Leipzig,  Franke,  br.  n.  8  Gr. 

v.  Achthofen,  reiue  Erfahrung  über  die  Kindviehkrank¬ 
heit  des  Jahres  1830  am  Niederrhein,  gr.8.  Wesel, 
Bagel.  br.  n.  6  Gr. 

Hu  eck,  A.,  Lehrbuch  der  Anatomie  des  Menschen.  Mit 
Hinweisung  auf  M.  J.  Weber’s  anatomischen  Atlas,  gr.8. 
Riga,  Frantzen.  20  Gr. 

—  —  über  das  Studium  der  Anatomie,  in  drei  Vorle¬ 
sungen.  gr.8.  Ebcnd.  br.  4  Gr. 

Simon,  F.  A.,  der  unsterblichen  Narrheit  Samuelis  Hab- 
nemanni  dritter  Thcil  erste  Abtheilung,  oder  kritische 
Betrachtungen  über  Herrn  Kopp’s  Erfahrungen  und  Be¬ 
merkungen.  gr.8.  Hamburg,  Uoflinauuu. Campe,  br.  1  Thlr. 


I 


XIII.  Medicinische  Bibliographie.  255 

Weber,  M.  J.,  Schema  des  medicinischen  Studiums.  Für 

angehende  Mediciner,  und  als  Leitfaden  zu  Vorles.  über 

\ 

Encyclop.  und  Methodol.  gr.8.  Bonn,  Weber,  geh.  3  Gr. 

Abbildung  und  Beschreibung  aller  in  der  Pharmacopoea 
Borussica  aufgeführten  Gewächse;  von  Fr.  Guimpel;  Text 
von  F.  L.  v.  Schlechtendal.  2r  Bd.  15s  u.  16*s  lieft,  gr.4. 
Berlin,  Oehmigke.  br.  n.  1  Thlr.  12  Gr. 

Pfeufer,  Chr.,  Beobachtungen  über  Krätze,  und  ihre  Be¬ 
handlung  durch  die  Schmier-  oder  grüne  Seife.  8.  Bam¬ 
berg,  Dresch.  br.  8  Gr. 

Puchelt,  F.  A.  B.,  tabellarische  Uebersicht  der  Zeichen, 
welche  das  Herz  darbietet,  und  der  Krankheiten,  welche 
sie  andeuten.  Fol.  Heidelberg,  Mohr.  3  Gr. 

Weber,  G.  A.,  systematische  Darstellung  der  reinen  Arz¬ 
neiwirkungen  aller  bisher  geprüften  Mittel.  Mit  Vorw. 
von  Sam.  Hahnemaun.  Fünfte  und  letzte  Liefer.  gr.  8. 
Braunshweig,  Vieweg.  br.  2  Thlr.  4  Gr. 

Zeitschrift  für  Physiologie.  Herausgeg.  von  Fr.  Tiedc- 
mann,  G.  R.  Treviranus  und  L.  Chr.  Treviranus.  Vr  Bd. 
ls  Heft.  Nebst  2  Tafeln  Abbildungen,  gr.4.  Heidelberg, 
Groos.  br.  n.  3  Thlr. 

% 

Bei  dem  Verleger  dieser  Annalen  sind  im  Jahre  1833 
folgende  medicinische  Schriften  erschienen  und  in 
allen  Buchhandlungen  zu  haben: 

Caii,  Joh.  Britanni,  de  Ephemera  britannica  über;  recudi 

curavit  J.  F.  C.  Hecker.  12.  br.  12  Gr. 

/ 

Friedreich,  J.  B.,  systematische  Literatur  der  ärztlichen 
und  gerichtlichen  Psychologie,  gr.8.  2  Thlr.  6  Gr. 

Günther,  J.  J.,  Versuch  einer  medicinischcn  Topographie 
von  Köln  am  Rhein;  nebst  mehreren  die  Erhaltung  der 
bestehenden  und  Herstellung  der  verlorcneu  Gesundheit 
betreffenden  Bemerkungen,  gr.8.  1  Thlr.  3  Gr. 


I 


25G 


XIII.  Medicinische  Bibliographie. 

II  o j»  c ,  J.,  von  den  Krankheiten  des  Herzens  und  der 
grofsen  Gefäfsc;  Ucbersctzung  aus  dem  Engl.,  mit  einer 
Vorrede,  Aumcrkungcn  und  Zusätzen  von  F.  W.  Becker. 

g r.s.  2  Tblr.  12  Gr. 

Horn,  W.,  Reise  durch  Deutschland,  Ungarn,  Holland, 
Italien,  Frankreich,  Grofsbritannien  und  Irland,  in  Rück¬ 
sicht  auf  mcdicinische  und  naturwissenschaftliche  Insti¬ 
tute,  Armenpflege  etc.  4ler  und  letzter  Baud,  Ergän¬ 
zungen.  gr.8.  1  Thlr.  Alle  4  Bände  10  Thlr. 

Richter,  A.  L.,  Lehrbuch  von  den  Brüchen  und  Verren¬ 
kungen  der  Knochen,  zum  Gebrauche  für  Studircnde; 
nebst  8  Kupfertafeln  in  Folio,  gr.8.  2  Thlr.  18  Gr. 

—  —  die  Seebäder  auf  ISorderncy,  Wangeroog  und  Hcl- 
golaud,  nebst  topographischen  und  geognostischen  Be¬ 
merkungen  über  diese  Inseln  der  Nordsee.  8.  br.  15  Gr. 

Rust,  J.  N.,  Handbuch  der  Chirurgie.  9rBaud:  Hcro  bis 
Inh.  gr.8.  Pränumerationspreis  3  Thlr. 

- desselben  lOrBand:  Ini  bis  Lithi.  gr.8.  3  Thlr. 

—  —  desselben  1 1  r  Band:  Litho  bis  Men.  gr.8.  3  Thlr. 

Strahl,  IM.  II.,  über  das  Scharlachfieber  und  ein  gegen 

alle  Formen  und  Stadien  desselbcu  höchst  wirksames  Spc- 
ciOcum.  gr.8.  br.  6  Gr. 

- der  Alp,  sein  Wesen  und  seine  Heilung.  Eine  Mo¬ 
nographie.  gr.8.  1  Thlr.  6  Gr. 

Sundclin,  K.,  das  Krankenexamen,  ein  Taschenbuch  für 
junge  Acrzte  zum  Gebrauch  am  Krankenbette.  12.  geh. 

1  Thlr.  9  Gr. 

Zeitung,  medicinischc,  hcrausg.  von  dem  Verein  für  Heil¬ 
kunde  io  Preufsen  (unter  RusVs  Präsid io).  2r  Jahrgang. 
1833.  Fol.  Wöchentlich  1  bis  l-£  Bogen.  3  Tblr.  16  Gr. 

Ferner  ist  bei  demselben  so  eben  erschienen  und  in 

$ 

all  en  Buchhandlungen  zu  haben: 

Der  c n g  1  i sc h c  vSc h  wc  i fs;  ein  ärztlicher  Beitrag  zur  Ge¬ 
schichte  des  15  teil  und  16ten  Jahrhunderts  von  Dr.  J. 
F.  C.  Hecker,  gr.8.  Patenlvelinpapicr.  br.  1  Thlr.  12  Gr. 


- 


/  \ 

I. 

Ueber  die  Gestalt  und  Grofse  der  Durch- 

*  » 

messer  der  feinsten  Blutgefäfse  in  den  klein¬ 
sten  Netzen  derselben. 

Von  ,  1 

Doctor  Valentin 

in  Breslau, 


Es  ist  durch  die  Bemühungen  eines  Ruysch,  Albin, 
Lieherkühn,  Barth,  Prochaska,  Sömmerring,  Sei¬ 
ler,  Döllinger,  Joh.  Müller,  E.H.  Weber,  Berres 
u.  a.  ermittelt,  dafs  die  feinsten  Blutgefäfse  des  thierischen 
Körpers  keinesweges  frei  enden,  sondern  zuletzt  zu  netz¬ 
artigen  Verbindungen  eingehen,  um  die  durch  die  Arte¬ 
rien  herbeigeführte  und  dem  Einflüsse  der  kleinsten  Theile 
der  Organe  ausgesetzte  Blutmasse  zum  Herzen  wieder  zu¬ 
rückzuleiten.  Man  hat  bekanntlich  seit  Bichat’s  Zeit  diese 
Gefafse  als  ein  eigenes  System  angesehen,  und  mit  dem 
Namen  des  Capillargefäfssystemes  belegt.  Wenn  überhaupt 
es  häufig  der  Fall,  und  der  Natur  unseres  Denkvermögens 
gernäfs  nothwendig  ist,  einzelne  abgerissene  Momente  des 
Uebergangcs  und  des  Werdens  zu  fixiren  und  mit  beson¬ 
deren  Namen  zu  belegen,  so  dürfte  aus  diesem  Grunde 
auch  diese  Benennung  ihre  volle  Rechtfertigung  finden. 

Band  28.  Heft  3.  7  17 


258  I.  Die  feinsten  Blutgcfäfsc. 

•  i 

Wir  wurden  auch  dcu  Gebrauch  derselben  unbedingt  ge¬ 
billigt,  und  die  Ausdrücke:  Capillargcfafee,  HaHrgcfiiCsc  u. 
dergl.  angenommen  liabcn,  wenn  nicht  offenbar  durch  diese 
allgemeine  Bezeichnung  eine  in  der  Natur  der  Sache  seihst 
begründete,  wichtige  Differenz  unausgcdrückt  bliebe.  Denn 
in  den  allermeisten  Fällen  finden  sich  zwar  an  den  Stel¬ 
len,  wo  die  kleincu  Arterien  in  die  Venen  cinhiegen,  zahl¬ 
reiche  und  feine  Netze,  welche  eben  wegen  ihrer  Natur 
als  vermittelnde  Uebergangsform  eben  so  gut  zu  den  Ar¬ 
terien,  als  zu  den  Venen  gerechnet  werden  können.  Nicht 
so  häufig  aber,  dennoch  andererseits  eben  uicht  selten,  bil¬ 
den  die  Arterien  allein,  oder  die  Venen  allein,  charakteri¬ 
stische  Netze  ihrer  kleinsten  Blutgcfäfse,  welche  sich  zu 
einem  oder  mehren  Acstchen  gleichartiger  Natur  sammeln, 
und  so  dem  äufseren  Ansehen,  der  Gröfsc  und  der  Form 
nach  zwar  mit  den  sogenannten  Capillargefafsen  Überein¬ 
kommen,  die  für  die  Physiologie  aber  so  überaus  wichtige 
Vermittelung  der  Arterien  und  Venen  durchaus  nicht  be¬ 
wirken.  Die  Arterien  allein  bilden  in  den  drüsigen  Or- 
gauen  vorzüglich  solche  Netze,  wie  in  der  Leber,  den  Nie¬ 
ren  u.  dergl.,  wo  dieselbe  Erscheinung  auch  ^ehen  so  häufig 
in  den  Venen  zu  beobachten  ist.  Die  Blutadern  des  Bauch¬ 
felles  und  des  Saamenstrauges  dagegen  haben  diese  Bildung 
in  so  ausgezeichnetem  Grade,  dafs  sie  selbst  bei  minder 
glücklichen  Einspritzungen  schon  deutlich  zu  erkennen  ist. 

Wollte  man  daher  die  bczcicbncten  Unterschiede  fest- 
lialten,  so  könnte  man  die  kleinsten  Gefafse  überhaupt, 
feinste  Blutgefäfsnetzc  nennen,  diese  aber  in  drei  Klassen 
Zerfällen,  nämlich  in  Arlericunetzc,  welche  von  dcu  Ar¬ 
terien  allein,  in  Vencnnctze,  welche  von  den  Venen  allein 
gebildet  werden,  und  endlich  in  Ueb^rgangsnetze,  welche 
die  Vermittelung  von  Arterien  und  Venen  in  den  Organen 
bedingen.  Doch  mufs  ausdrücklich  bemerkt  werden,  dafs 
die  letzte  Bezeichnung  nur  Für  die  in  jedem  mit  Blut- 
gefäfsen  versehenen  Theile  vorkommenden  feinsten  Ueber- 
gangsbildnngen  gilt.  Uebergänge  gröfscrcr  Arterienstämme 


259 


I.  Die  feinsten  ßlntgefafse. 

in  gröfserc  Venenstämine  sind  zwar  bei  weitem  seltener, 
doch  aber  an  manchen  Theilen,  z.  B.  den  Extremitäten, 
constant.  ■ — 

Diese  feinsten  Blutgefäfsnetze,  sie  mögen  von  den  Ar¬ 
terien  oder  den  Venen  allein,  oder  beiderlei  Gefäfsen  her- 
riihren,  haben  in  jedem  Theile  etwas  durchaus  Eigentüm¬ 
liches  und  Charakteristisches,  welches  schon  bei  dem  er¬ 
sten  Anblicke  derselben  auffällt  —  eine  Wahrheit,  welche 
dem  in  der  Technik  der  Anatomie  schon  so  weit  vorge¬ 
schrittenen  R  uysek  nicht  unbekannt  war  *)•  Dafs  sie  an 

i 

derselben  Stelle  desselben  Organes  verschiedener  Thiere 
ein  ganz  eigenthüinlich  differentes  Aussehen  besitzen,  hat 
S.  Th.  Sömm erring  schon  am  Auge  gezeigt,  und  durch 
die  Reiflichen,  von  seinem  Sohne  nach  dem  Wollaston- 
schen  Apparate  verfertigten  Zeichnungen  bildlich  darge¬ 
stellt 1  2).  Wie  schon  nach  diesem  zu  erwarten  ist,  findet 
nicht  blofs  an  demselben  Theile  bei  verschiedenen  Thie- 
ren,  sondern  an  verschiedenen  Theilen  desselben  Thieres 
ein  durchaus  constanter  Unterschied  dieser  Netzchen  statt. 
Von  dem  Menschen,  welcher  mit  Recht  als  vorzüglicher 
Anhaltpunkt  bei  solchen  sonst  zu  vagen  Untersuchungen 
angesehen  werden  inufs,  haben  Prochaska,  E.  H.  We¬ 
ber  und  J.  Berres  einiges  hierher  Gehörige  geliefert,  und 
zum  Theil  durch  Worte  und  einige  mehr  oder  minder  na¬ 
turgetreue  Abbildungen  erläutert.  Allein  die  Unmögliok- 
keit,  den  Charakter  der  so  vielfach  und  so  zierlich  ver¬ 
schlungenen  Gefäfse  durch  die  Rede  wiederzugeben,  und 
die  daher  in  der  Natur  der  Sache  selbst  liegende  Mangel¬ 
haftigkeit  einer  jeden  Beschreibung  der  Art,  macht  die 
Noth wendigkeit  eines  vollständigen  Kupferwerkes  über  die 
feinsten  Blutgefäfsnetze  fühlbar,  um  so  durch  unmittelbare 


1)  Vergl.  Fr.  Ruyschii  ep.  probl.  III.  S.  28. 

2)  S.  Denkschriften  der  Königl.  Academie  der  Wis¬ 
senschaften  zu  München  für  die  Jahre  1818  ins  1820.  Bd.  Vll. 
München  1821.  4.  S.  3  bis  16.  Tab.  2. 

17  * 


260 


I.  Die  feinsten  Blutgefafse. 

Anschauung  das  zu  ergänzen,  was  das  Wort  nie  zu  ver¬ 
vollständigen  vermag. 

Auincrkung.  Gegen  die  Möglichkeit  einer  solchen  Ar¬ 
beit  hat  sich  keiner  bestimmter  ausgesprochen,  als 
Prochaska.  S.  seine  Bemerkungen  über  den  Or¬ 
ganismus  des  menschlichen  Körpers,  Wien  1S10.  N. 
Vorrede  S.  2  und  3,  in  welchem  Werke  sich  schon 
fast  wörtlich  das  über  die  feinsten  Blutgefafsnctze 
in  der  Disquisitio  anatomico- physiologica  organismi 
corporis  huinani  ejus  processus  vitalis,  Viennae  1812. 
4.,  gegebene  und  so  häufig  benutzte  neunte  Kapitel 
(pp.  92  —  109)  deutsch  vorfindet  S.  65  —  101. 
Wenn  es  auch  wahr  ist,  dafs  keine  Abbildung  die 
Natur  je  erreicht,  so  ist  cs  doch  von  unberechen¬ 
barem  Nutzen,  wenigstens  das  Nothwendigste  und 
Wichtigste  durch  solche  Mittel  auch  für  diejenigen, 
welche  feine  Injcctionen  unter  guten  Microscopcn, 
welches  letzte  wahrlich  keine  Nebensache  hier  ist, 
zu  sehen  keine  Gelegenheit  haben,  zugänglich  zu 
machen.  Wie  weit  cs  aber  hier  zu  bringen  mög¬ 
lich  sei,  zeigen  gewifs  in  hinreichendem  Maafsc  die 
von  Falbe  gezeichneten  und  Lyon  net  gestochenen 
Abbildungen  zu  Licbcrkühn's  Diss.  de  fabrica  et 
actione  villorum  iutestinorum  tenuium  hominis:  L.  B. 

.  1745.  4.,  vorzüglich  Tab.  I.  und  II.  Dasselbe  fast 

läfst  sich  von  manchen  neueren  Zeichnungen  behaup¬ 
ten,  wie  Rcifsciscn  über  Structur  der  Lungen. 
Berlin  1822.  Fol.  Tab.  3.  Fig.  3.,  Söinmcrring  in 
den  Denkschriften  der  Münchener  Acadcmic  Bd.VII. 
Tab.  2.  Fig.  1  —  4.,  Bcrrcs  in  den  Jahrbüchern 
des  österreichischen  Staates,  vorzüglich  Tab. II. Fig.  1., 
Tab.  III.  Fig.  1.,  Tab.  V.  Fig.  3 —  5.,  Windiseb- 
mann,  de  penitiori  auris  in  amphibiis  struclura 
Bonnac  1831.  4.  Tab.  II.  Fig.  6.  u.  m.  a.  der  neue¬ 
sten  V>cit  angehörigen  Schriften.  Doch  ist  cs  an 
dererseits  richtig,  dafs  völlige  Wahrheit  und  Schön- 


L  Oie  feinsten  ßlutgefafse.  *261 

fielt  nie  bei  diesen  Dingen  durch  bildliche  Darstel¬ 
lung  zu  erreichen  ist.  Allein  welche  Abbildung, 
besonders  so  verwickelter  Dinge,  leidet  nicht  an 
denselben  Fehlern?  und  ist  dennoch  ganz  brauch¬ 
bar,  weil  sie  die  nicht  immer  zu  Gebote  stehende 
Anschauung  des  Gegenstandes  selbst  ersetzt.  Auch 
der  trell'liche  E.  II.  Weber  spricht  sich  mit  gleicher 
Gesinnung  über  diesen  Gegenstand  aus.  S.  Hilde 
brandt's  Anatomie,  besorgt  von  E.  II.  Weber. 
Th.  III.  Braunschw.  1831.  8.  S.  33.  34. 

Wenn  nun  jedem  Theile  bestimmte  und  charakteristi¬ 
sche  Netze  der  feinsten  Blutgefäfse  eigen  sind,  so  fragt  es 
sich  mit  Recht,  worin  denn  diese  Unterschiedsverhältnisse 
begründet  sind,  und  ob  sich  diese  auf  gewisse  Gesetze  re- 
duciren  lassen.  Wir  müssen  aber  hier  durchaus  Mehres 
in  Betrachtung  ziehen,  um  zu  bestimmten  Resultaten  zu 
gelangen,  nämlich  den  Charakter  der  Organe  selbst,  ihre 
Gröfse,  Eage,  Form,  Verbindung  mit  anderen  Theilen, 
und  die  histologischen  Verhältnisse  eines  jeden  mit  Blut- 
gefäfsen  versehenen  Theiles.  Alle  diese  Momente  sind  für 
die  Betrachtung  von  grofscr,  doch  ungleicher  Wichtigkeit 
Lage,  Form  und  Gewebe  scheinen  unter  ihnen  den  ersten 
Rang  einzunehmen;  doch  ist  es  noth wendig,  vorzüglich 
die  beiden  ersten  zu  sondern,  und  dem  letzten  entgegen¬ 
zustellen.  Die  Form  und  Lage  hat  auf  die  Form  der  Ueber- 
gangsnetze  den  gröfsten  Einilufs;  eben  so  sehr  werden  diese 
aber  auch  durch  den  histologischen  Charakter  bestimmt, 
so  dafs  dieser,  er  finde  sich  in  welchem  Organe  oder  Or~ 
gantheile  er  wolle,  immer  in  derselben  Urgestalt  wieder¬ 
kehrt,  und  nur  Metamorphosen  seines  eigenthümlichen  Ty¬ 
pus  darstellt.  Ueberhaupt  müssen  wir  den  Charakter  der 
feinsten  Blulgelafsnetze  eines  Theiles  als  aus  dem  Conflictc 
zwischen  Lage  und  Form  einerseits,  und  Gewebe  anderer¬ 
seits  hervorgegangen  betrachten.  Es  hat  daher  jede  Form 
ihre  Eigentümlichkeit,  jedes  Gcwehe  seine  Eigentüm¬ 
lichkeit,  welche  überall  hiudurchbliekl,  und  cs  Ucfscn  sich 


262  I.  Die  feinsten  Blntgefafse. 

zwei  Urreihcn  dieser  Charaktere  aufstcllcn,  mit  deren 
Hülfe  sich  schon  der  Charakter  der  feinsten  Blutgclafsuctzc 
eines  Theilcs  im  Voraus  bestimmen  licfsc. ,  Keiner  der  ge¬ 
nannten  Schriftsteller  scheint  diese  der  unmittelbaren  Beob¬ 
achtung  entnommene.  Ansicht  speciell  ins  Ange  gefafst  zu 
haben.  Vielmehr  vermengen  die  meisten  Organ  und  Hi¬ 
stologie  derselben  (also  den  Complex  verschiedener  histo¬ 
logischer  Bestandteile),  und  scheinen  im  Ganzen  weder 
ein  sicheres  Prinzip,  noch  wissenschaftliche  Ordnung  hei 
der  Aufzählung  ihrer  Injectionen  beobachten  zu  wollen. 
Prochaska  führt  die  einzelnen  Organe  auf.  E.  II.  We¬ 
ber  schaltet  seine  inicromctrischen  Messungen  nebenbei 
bei  der  Behandlung  der  Theile  ein,  an  welchen  sic  angc- 
stcllt  wurden.  Berrcs  dagegen,  welcher  die  ganzen  Netze 
ihrem  äufseren  Ansehen  nach  unter  acht  llauptrubriken 
bringt,  stellt  zwar  häufig  histologisch  analoge  Theile,  wie 
Gehirn  und  Nerven,  willkührlichc  und  unwillkiihrlicho 
Muskeln  u.  dergl.  zusammen,  vereinigt  aber  auch  dem  Ge¬ 
webe  nach  durchaus  verschiedene  Gebilde,  wie  iris  und 
willkührliche  Muskeln,  Linsenkapsel  und  Scheidenhaut  des 
Hodens  u.  dergl.,  in  eine  Abtheilung.  Es  ist  datier  wohl 
der  Mühe  wert!»,  wenigstens  das  im  Allgemeinen  hierher 
Gehörige  genauer  durchzugehen,  um  die  hier  obwaltenden 
Grundgesetze,  wenn  auch  nur  im  Ucberblicke,  zu  erken¬ 
nen,  da  eine  ins  Spccicllste  ciugehendc  Durchführung  not¬ 
wendig  eine  Darstellung  säinmtlicher  Blutgefäfsnetze  des 
Körpers  erforderte.  Eine  solche  zu  liefern,  würde  aber 
ein  eigenes  Werk,  nicht  einen  ephemeren  Aufsatz  verlan¬ 
gen.  Um  aber  rein  analytisch  zu  Werke  zu  gehen,  wer¬ 
den  wir  zuerst  von  dem  schon  oben  hingesteUten  Resul¬ 
tate  abstrabiren,  und  die  sich  uns  darbietenden  Thatsachcn 
kürzlich  beleuchten. 

I)afs  der  histologische  Charakter  eines  Theilcs  auch 
das  Altssehen  seiner  Blutgefäfsnetze  bestimme,  zeigt  sich 
da  am  deutlichsten,  wo  verschiedene  Gewebe  auf-  oder 
nebeneinander  liegen,  und  zusammen  erst  ein  Organ  oder 


I.  Die  feinsten  ßlutgefafse.  263 

einen  Organthcil  ausmachen.  Die  Bronchialgeiafse  sind 
durchaus  schon  dem  Aeufscren  nach  von  den  der  Lungen 
verschieden,  wie  Reifs  eisen  so  schön  dargestellt  hat. 
Ganz,  anders  verhalten  sich  die  Gefafse  der  Buyschiana, 
als  die  der  vorliegenden  und  zum  grofsen  Theile  mit  ihr 
verwachsenen  Choroidea.  Selbst  die  Netze  des  Knorpels, 
sowohl  des  bleibenden,  als  des  ossificirenden,  sind  von 
denen  des  Knochens  durchaus  verschieden.  Am  meisten 
jedoch  ist  der  Darmkanal  dazu  geeignet,  diese  Wahrheit 
zu  bekräftigen  und  allem  Zweifel  zu  überheben.  Denn  an 
vollkommen  injicirten  und  aufgespannten  Darmstücken  kann 
man  mit  Bestimmtheit  die  drei  verschiedenen  Netze  unter¬ 
scheiden,  welche  den  drei  verschiedenen  Geweben  des 
Nahrungskanales  angehören;  nämlich  nach  innen  das  der 
Schleimhaut,  und  an  den  Stellen,  wo  sie  sich  vorfinden, 
der  Zotten  und  Magen-  und  Darmdrüsen,  in  der  Mitte  das 
der  Muskelhaut,  und  nach  aufsen  das  des  serösen  Ueber- 
zuges  des  Bauchfelles,  nebst  dem  dazu  gehörenden  Schleim- 
gewebe.  Ja  die  Differenz  ist  hier  so  grofs  und  so  auffal¬ 
lend,  dafs  die  innere  Oberfläche  eines  glücklich  injicirten 
Darmrohres  etwas  durchaus  anderes  zu  sein  scheint,  als 
seine  äufsere.  Auch  an  den  accessorisclien  Drüsen  des 
Darmkanales  läfst  sich  eben  so  gut,  doch  seltener,  das¬ 
selbe  wahrnchmen,  weil  die  Injection  des  serösen  Ueber- 
zuges  dieser  Theile  ohne  Extravasat  im  Inneren  fast  nie 
gelingt,  oder,  wie  ich  vorzüglich  häufig  bei  Fötusinjectio- 
nen  gefunden  habe,  diese  letzte  vollkommen  sich  füllt, 
während  das  Parenchym  von  aller  Injectionsmasse  frei 
bleibt.  Auch  die  Nieren  zeigen  diese  Unterschiede  nach 
vollständiger  Anfüllung  mit  grofser  Deutlichkeit,  noch  mehr 
aber  der  Hoden,  vorzüglich  wenn  die  Einspritzung  durch 
die  Vena  spermatica,  welche  sehr  leicht  gelingt,  glücklich 
gemacht  ist. 

Das  Schleimgewebe  scheint  von  diesem  Gesetze,  dals 
jedem  histologischen  Theile  seine  eigene  Bildung  der  Ge- 
fafsnetze  zukommc,  eine  Ausnahme  zu  machen.  Die  ge- 


‘264 


I.  Die  feinsten  Blutgcfafse. 

wohnliche  eigentümliche  Form  ist  eine  gewisse  freie  Ver¬ 
breitung  dieser  Blutgefäfsnctzc,  als  seien  diese  liier  durch 
keinen  histologischen  Urtheil  gebunden  in  ihrer  höchsten 
Verbreitung  und  Verknüpfung,  durch  nichts  gehindert.  Am 
schönsten  sieht  man  dieses  in  dem  Schleimgewcbc  der 
Achselhöhle,  des  Daumens,  in  der  Nähe  der  Patella  und 
dergleichen  mehr,  unvergleichlich  schön  auch  an  den  so 
häufig  vorkommenden  krankhaften  Adhäsionen  der  Lungen 
und  der  Pleura  an  dem  Brustkasten.  Eine  völlig  verschie¬ 
dene  Form  haben  aber  die  Uebcrgangsnetzc  in  dem  zwi¬ 
schen  den  Nerven-,  Muskel-  und  Sehnenfasern  atisgebrci- 
teteu  Schleimgcwebe.  Es  ist  an  diesen  Stellen  überhaupt 
von  so  verschiedenem  Aussehen,  dafs  man  wohl  zu  glau¬ 
ben  verleitet  wird,  als  sei  diese  Form  der  stringenteste  Be¬ 
weis  gegen  die  Indentitüt  eines  Urtypus  in  den  einzelnen 
Gewcbtbcilen.  Bedenkt  man  aber  andererseits,  dafs  das 
Schleimgewebe  an  diesen  Thciicn  durch  die  in  dasselbe 
hineingcbildcten  Urbestandtheile  der  Gewebe  zusammenge¬ 
drängt  und  modificirt  ist,  dafs  uie  zwischen  den  einzelnen 
Nerven-,  Muskel-  und  Sehuenfasern  verlaufenden  Gefäfs- 
chcn  auf  den  Charakter  der  Uebergangsgefäfse  in  dem  ver¬ 
bindenden  Schlei mgevvcbe  von  dem  höchsten  Einflüsse  sind, 
so  wird  das  so  sonderbare  Phänomen  uns  begreiflicher  und 
in  der  Natur  der  Sache  begründeter  erscheinen.  Wo  auch 
nur  im  mindesten  das  Schleimgcwebe  freier  und  ungebun¬ 
dener  hervortritt,  da  nimmt  cs  auch  sogleich  die  eigen¬ 
tümliche  Form  wieder  an.  Am  schönsten  ist  dieses  an 
wohlgelungencn  Einspritzungen  der  Extremitäten  zu  ver¬ 
folgen,  wenn  man  der  Reihe  nach  das  Schleimgewcbc 
zwischen  den  einzelnen  Muskelfasern,  Muskclbündcln,  Mus¬ 
keln,  diesen  uud  den  umhüllenden  Scheiden,  diesen  und 
der  Fett-  und  Lederhaut  betrachtet,  eine  Anschauung, 
welche  man  durch  einen  passenden  Pcrpendicularschnitt 
einer  solchen  Extremität  auf  das  deutlichste  darstcllcn 
kann.  —  Die  Vergleichung  zwischen  dem  zwischen  dem 
Pcritonaeum  uud  der  Muskelhaut  des  Darmkanalcs  gclegc- 


265 


I.  Die  feinsten  Blutgefäfse. 

nen  mit  dem  die  beiden  Platten  der  Netze  verbindenden 
Schleimgewebe  ist  nicht  minder  geeignet,  uns  dieser  Wahr¬ 
heit  zu  vergewissern. 

So  sehr  nun  auch  diese  Thatsachen  für  die  Abhängig¬ 
keit  der  feinsten  Blutgefäfsnetze  von  dem  histologischen 
Charakter  sprechen,  so  ist  dieses  doch  keinesweges  das 
einzige  Moment,  von  welchem  diese  bedingt  werden.  Mit 
Bestimmtheit  läfst  sich  noch  kein  histologischer  Unterschied 
zwischen  Cortical-  und  Medullarsubstanz  der  Nieren  naeh- 
weisen,  und  doch  sind  die  kleinsten  Blutgefäfse  beider  so 
durchaus  verschieden.  Etwas  Aehnliches  sehen  wir  an  den 
Uebergangsnetzen  der  oberflächlichen  und  tieferen  Schicht 
der  Lungen,  der  Leber  in  ihrem  Parenchym  und  in  der 
Nähe  der  gröfseren  Gallengänge,  der  Drüsen  bei  ihren  x\us- 
führungsgängen  u.  dergl.  mehr.  Gegen  diese  Erfahrungen 
liefse  sich  freilich  noch  die  Einwendung  machen,  dafs  diese 
Theile  auch  verschiedene  Gewebe  haben.  Eine  solche  Be¬ 
hauptung  ist  aber  durch  genaue  Beobachtung  nichts  weniger, 
als  erwiesen.  Die  Bronchien  behalten  ihre  eigentüm¬ 
liche  Natur  bis  kurz  vor  ihrer  Endigung  als  Lungenbläs¬ 
chen,  wie  Reifs  eisen  schon  gefunden  hat  *).  Die  Natur 
der  Speichelkanäle  in  den  Speicheldrüsen  ist  nach  E.  H. 
Weber,  Müll  er ’s  und  meinen  eigenen  Untersuchungen 
durchaus  dieselbe.  Denn  bei  dem  Embryo  zeigt  die  in 
früherer  Zeit  der  Entwickeln  g  als  Traube  erscheinende 
Parotis  durchaus  keinen  Gewebeunterschied  in  ihren  En^. 
den,  oder  ihrem  gröfsten,  gemeinschaftlichen  Ausführungs¬ 
gange.  Dasselbe  haben  wir  auch  während  der  Entwicke¬ 
lung  an  den  Gallengängen  der  Leber  mit  Deutlichkeit  wahr- 
genommen.  Bei  dem  Erwachsenen,  wo  die  isolirte  Unter¬ 
suchung  dieser  letzten  Theile  noch  nie  vollkommen  geglückt 
ist,  zeigt  sich  wenigstens  nirgends  ein  Gewebeunterschied 
derselben,  man  mag  sie  so  tief  in  das  Parenchym  hinein 
verfolgen,  als  man  nur  immer  wolle. 

1)  L.  c.  S.  9  und  10.  * 


I 


26(i 


1.  Die  feinsten  Blotgefafsc. 

Doch  auch  auf  histologisch  durchaus  gleichartige  Thcile 
hat  die  Verschiedenheit  des  Organes  oder  der  Organthcilc, 
in  welchen  sie  Vorkommen,  bisweilen  einen  ganx  entschie¬ 
denen  Kinilufs.  Der  Charakter  der  Ucbergangsnctzc  der 
Schleimhäute  ist  durchaus  verschieden,  je  nachdem  diese 
dem  Auge,  der  Nase,  den  Nebenhöhlen  derselben,  dem 
Munde,  dem  Hachen,  der  Luftröhre,  den  Lungen,  dem 
Schlunde,  dem  Magen,  dem  Zwölffingerdärme,  den  übri¬ 
gen  Abtheilungen  des  Verdauungsrohres,  den  Geschlechts- 
thcilen  u.  dergl.  mehr  angehören.  Die  Nervcnsubstauz  be¬ 
sitzt  ein  ganz  verschiedenes  kleinstes  Blulgcfiifsnelz  im  Ge¬ 
hirne,  den  Nerven,  der  Sehhaut,  den  Ganglien  u.  dergl. 
mehr.  In  den  Drüsen  und  drüsigen  Organen  finden  wir 
die  auffallendsten  Differenzen,  wrie  in  der  Thymus,  der 
Schilddrüse,  den  Speicheldrüsen,  den  Lymphdrüsen,  der 
Lieber,  der  Milz,  den  Nieren,  Nebennieren  u.  dergl.  An 
anderen  Geweben  dagegen  ist  die  Textur  durchaus  gleich¬ 
artig,  cs  finde  sich  au  welchen  Stellen  es  wolle,  so  au 
den  willkührlichcn ,  den  unwillkührlichen  Muskeln,  den 
Sehnen,  den  Ligamenten  u.  a.  Vergleichen  wir  aber  diese 
beiden  scheinbar  einander  widersprechenden  Reihen  unter¬ 
einander,  so  6ehcn  wir,  dafs  bei  den  ersten,  zu  einer 
Klasse  gehörenden  Theilen  Form  und  Function  an  den  ver¬ 
schiedenen  Organen  und  den  verschiedenen  Stellen  unge¬ 
mein  von  einander  abwcichen,  während  bei  den  letzten 
diese  beiden  Dinge  überall  gleich  bleiben.  Für  diese  letz¬ 
ten  entstehen  daher  auch  gewisse  Urtypen  der  Gestaltung, 
und  zwar  meistens  der  Längentypus,  welche  sic  immer  be¬ 
gleiten,  und  nur  in  verschiedenen  Nuancen  und  Hiebt ungen 
sich  vorfiuden.  So  herrscht  in  den  Muskeln  offenbar  ein 
Längentypu9  vor,  welcher  sich  in  den  willkührlichcn  Mus¬ 
keln  meist  longitudinal  und  gerade  gegen  die  Axe  des  Kör¬ 
pers  legt,  iu  einer  Schicht  der  Magen-  und  Blascnhaut 
transversal,  au  dem  Darmrohre  und  den  Sphiuctercn  cen¬ 
tral  darstcllt.  Die  Function  aber  ist  überall  dieselbe,  Zu- 
sammeuzichung  und  Ausdehnung.  Nicht  so  ist  es  dagegen 


267 


I.  Die  feinsten  Blntgefafse. 

bei  der  ersten  Reihe  der  Fall.  Wie  verschieden  ist  nicht 
Bau  und  Function  der  Nierenkörnchen  von  den  Lcber- 
körnchen,  und  dieser  von  analogen  in  dem  Drüsenparen¬ 
chym  zerstreuten  Körperchen?  wie  verschieden  die  Form 
der  inneren  Theile  der  Schilddrüse  von  der  der  Thymus 
und  der  Nebennieren?  Ich  brauche  nur  die  Formen  der 
Schleimhaut  vom  Munde  bis  zum  After  zu  nennen,  um 
den  Unterschied  zur  Erinnerung  zu  bringen.  Und  doch 
ist  es  immer  histologisch  dieselbe  Schleimhaut. 

Aber  an  allen  den  Stellen,  wo  bei  demselben  Geweb¬ 
theile  auch  der  Charakter  der  Uebergangsnetze  sich  ändert, 
zeigt  rsich  auch  eine  Veränderung  des  morphologischen 
Verhältnisses,  sei  es  in  dem  Organe  selbst,  oder  in  dessen 
Gewebtheilen.  Beide  Modificatiouen  entsprechen  auch  ein¬ 
ander  auf  das  Bestimmteste.  Die  Schleimhaut  des  Nah¬ 
rungskanales  ist  ein  so  deutlicher  Beweis  des  eben  ausge¬ 
sprochenen  Satzes,  dafs  eine  etwas  speciellere  Betrachtung 
derselben  wohl  hier  am  rechten  Orte  sein  dürfte.  Im  Magen 
finden  sich  vielfache  maschenförmige  Uebergangsnetze,  wel¬ 
che  die  den  Schleim  und  den  Magensaft  übsondernden  drü¬ 
sigen  Organe  auf  das  vielfachste  umspinnen.  Im  Zwölf¬ 
finger-  und  Dünndarme  treten  diese  verhältnifsmäfsig  wei¬ 
teren  und  gröberen  Netze  zurück,  und  an  ihrer  Stelle  fin¬ 
det  sich  jenes  feine,  die  breiten,  kolbigen  und  platten  Zot¬ 
ten  umspinnende  Gefäfsnetz,  welches  Lieberkühn  so 
schön  und  möglichst  naturgetreu  durch  LyonneUs  Mei¬ 
sterhand  hat  darstcilcn  lassen.  Im  weiteren  Verlaufe  des 
Dünndarmes,  wo  die  Zotten  schmaler,  länger,  runder,  und 
bisweilen  etwas  kolbiger  werden,  wird  auch  das  Gefäls- 
uetz  verhältnifsmäfsig  breiter  und  gröfser,  weniger  zwar 
im  Einzelnen  verzweigt,  dagegen  in  seinen  relativ  dicke¬ 
ren  und  gröfseren  Gefäfsen  mehr  ausgebildet.  Dieser  ganze 
Charakter  bleibt  so  lange  constant,  als  die  äufsere  Con- 
formation  der  Schleimhaut  dieselbe  bleibt.  Wo  aber, 
wie  dies  in  dem  unteren  Theile  des  Dünndarmes  zuerst 
geschieht,  die  Drüsenhäufchen  sichtbarer  hervortreten  und 


268 


I.  Die  feinsten  Blutgefafsc. 

eben  dadurch  die  Schleimhaut  des  Darmkanales  gleichsam 
gcthcilt  wird,  in  die  drüsenreichen  Stellen,  deren  Zwi¬ 
schenräume  und  Umgebungen  die  Zotten  einnehmen  und 
die  driiscnloscn,  ändert  sich  sogleich  auch  der  Charakter 
der  feinsten  Blutgefiifsnetze.  Er  spaltet  sich  gleichsam 
nach  dieser  zwiefachen  Umänderung  in  zwei  Theilc.  Die 
Zotten  behalten,  wie  in  den  oberen  Darmstiickeu,  ihre 
eigenen,  charakteristischen  Netze,  während  die  Drusen- 
häufchen  von  besonderen,  äufserst  zierlichen  Maschen  um¬ 
sponnen  werden.  Sehr  schön  stellt  sich  dieses  an  dem  un¬ 
tersten  Theilc  des  Dünndarmes,  nahe  am  Colon  dar.  Im 
Colon  bleibt  das  masebenförmige  Wesen  allein  zurück  und 
bildet,  vorzüglich  im  Colon  descendcns  und  Rectum,  eine 
eben  so  feine,  als  eigentümliche  Compositiou.  Wir  müs¬ 
sen  aber  hier  ausdrücklich  die  Bemerkung  einschalten,  dafs 
alle  diese  Eigenschaften  der  kleinsten  Gefafse  der  Schleim¬ 
haut  des  Nahrungskanales  mit  völliger  Bestimmtheit  und 
Richtigkeit  nur  an  frischen  Präparaten  zu  beobachten  sind. 
Getrocknete  Stücke  zeigen  zwar  aucJi  in  jedem  Theilc  ei¬ 
nen  verschiedenen  Charakter,  allein  dieser  weicht  in  60- 
fern  von  dem  in  der  Natur  statt  findenden  ab,  als  durch 
das  Trocknen  die  kleinen  Netze  sich  verschieben,  oder 
durch  das  Verschwinden  des  Parenchyms  sich  aneinander- 
legcn  *),  und  so  die  ihre  Eigentümlichkeit  mehr  oder 


1)  Es  ist  daher  gewifs  unrecht,  wenn  Rudolphi 
an  vielen  Licberkii  hn sehen  Präparaten,  welche  er  bei 
Augustin  sah,  Extravasate  beobachtet  haben  wollte.  S. 
seine  Bemerkungen  aus  dem  Gebiete  der  Naturgeschichte 
u.  s.  w.  auf  einer  Reise  durch  Deutschland  u.  s.  w.  Th.  1. 
Berlin  1804.  S.  48.  Das  beim  Trocknen  entstehende  Ein¬ 
schrumpfen  des  Parenchyms  läfst  die  Netze,  dereu  Acsfe 
an  einader  rücken,  oft  als  blofsc  Extravasate  erscheinen. 
Dasselbe  fand  wahrscheinlich  auch  hier  statt.  Denn  Lie¬ 
ber  kühn  hob,  wie  Rudolphi  selbst  sagt,  nur  gut  aus- 
gefüllte  Theilc  auf,  und  hatte  bei  Darmzottcu,  w'clchc  so 
leicht  vollständig  sich  füllen,  Extravasate  für  gute  Präpa¬ 
rate  auszugcbcu,  sicher  nicht  uöthig. 


269 


I.  Die  feinsten  Blutgefafsc. 


minder  constituircnde  Regclmäfsigkeit  verlieren.  Gerade 
das  Umgekehrte  läfst  sich  von  manchen  anderen  Theilen 
behaupten,  z.  B.  den  Lungen,  der  Lederhaut  n.  dergl. , 
welche  eben  durch  das  Trocknen  an  Schärfe  und  Bestimmt¬ 
heit  nur  gewinnen,  ohne  von  ihrer  Wahrheit  etwas  ein- 
zubiifsen. 


Wie  sehr  aber  endlich  die  äufsere  Form  überhaupt, 
ohne  Rücksicht  auf  Gewebe  oder  Organ,  auf  den  Charak¬ 
ter  der  Gefäfsnetze  Einflufs  habe,  läfst  sich  durch  mehr, 
als  ein  Beispiel  nach  weisen.  Die  haufenweise  neben  ein¬ 
ander  liegenden  Dröschen  der  Gedärme  sind  jedes  einzelne 
von  einer  einfachen  oder  zusammengesetzten  Gefäfsmaschc 
umgeben,  welche  aus  einem  darunter  liegenden  gröfseren 
Gefäfse  entspringt.  Ganz  dasselbe  findet  sich  bei  allen 
Lymphdrüsen  und  den  gesonderten  Läppchen  der  Speichel¬ 
drüsen.  Auch  hängt  auf  dieselbe  Art  jedes  Fettklümpchen 
an  einem  einzelnen  Gefäfsstämmchen,  während  jedes  Fett¬ 
kügelchen  von  einer  kleinen  Gefäfsmaschc  umschlossen  ist. 
Und  was  findet  zwischen  diesen  Organen  für  eine  andere 
Aehnlichkeit  und  Analogie  sich  vor,  als  die  der  blofs 
äufseren  Form?  Zwischen  je  zwei  Muskelfasern  läuft  ein 
feines  Blutgefäfs,  welches  mit  seinen  Nachbaren  durch 
mehr  oder  minder  geschlängelte  Anastomosen  sich  verbin¬ 
det.  Ein  ähnliches  Verhalten  findet  sich  in  den  Nerven, 
ein  ähnliches  in  den  Sehnen,  wenn  auch  in  den  ersten 
die  Querverbindungen  vor  den  Längsästen  vorherrschen, 
in  den  letzten  dagegen  beide  einander  das  Gleichgewicht 
zu  halten  scheinen.  Dasselbe  liefse  sich  über  die  Knor¬ 
pel,  Knochen,  Schleimdrüsen  u.  dergl.  behaupten,  wenn 
cs  sich  darum  handelte,  monographisch  diese  Richtung  zu 
verfolgen. 

Nach  dem,  was  wir  hier  kürzlich  angedeutet  haben, 
und  an  einem  anderen  Orte  noch  specieller  entwickeln  wer¬ 
den,  hat  also  jeder  Theil  seinen  bestimmten  und  eigen- 
thümlicheu  Charakter  der  feinsten  Blutgefäfsuetze,  welcher 
durch  folgende  drei  Momente  bedingt  ist: 


270  «•  D  ic  feinsten  Blutgefafsc. 

1  )  Durch  «len  histologischen  Charakter  eines  Organes, 
oder  eines  Organlhciles; 

2)  durch  die  Natur  des  Organes  seihst;  und 

3)  durch  die  Verschiedenheit  der  Gcslaltformen,  wel¬ 
che  die  einzelnen  Gewebe  an  bestimmten  Stellen 
eines  einzelnen  Organes  annehmen. 

Erst  durch  die  Combination  dieser  drei  Punkte  ent¬ 
steht  der  eigentümliche  Charakter  der  feinsten  Blutgc- 
fäfsnetze,  und  jede  nähere  Bestimmung  derselben  muß» 
diese  drei  Momente  nothwendig  berücksichtigen.  Allein 
da  die  Gewebe  oft  gleich,  und  was  hier  von  vorzüglicher 
Wichtigkeit  ist,  die  Gestalt  derselben  in  den  verschieden¬ 
sten  Thcilen  oft  ähnlich  ist,  so  darf  es  uns  nicht  wundern, 
wenn  auch  die  äufscre  Form  der  Uebergangsnetze  in  die¬ 
sen  Organtheilen  gleich  oder  ähnlich  ausfallcu  wird  1 ).  Es 
würde  aber  ein  Mifsgriif  und  nur  verwirrend  sein,  wegen 
dieser  blofs  äufseren,  und  selbst  da  nur  unvollständigen 
Achnlichkeit,  diese  verschiedenen  Dinge  in  eine  Klasse 
zusammenzuwerfen,  und  so  einen  Ucbcrblick  des  Ganzen 
nach  dem  minder  wichtigen  Habitus  liefern  zu  wollen. 
Am  zwcckmäfsigsten  verführe  man  in  dieser  Rücksicht, 
wie  ich  glaube,  wenn  man  die  einzelnen  Organsyslemc 
behandelte,  diese  selbst  dagegen  aber  nach  ihren  verschie¬ 
denen  histologischen  Bestandteilen  und  Formen  durch¬ 
ginge.  Dadurch  würden  Wiederholungen,  welche  auf  die¬ 
sem  Felde  nie  umgangen  werden  können,  wenigstens  so 
sehr  als  möglich  vermindert  werden,  und  das  Ganze  über¬ 
haupt  eine  mehr  wissenschaftliche  und  systematische  Form 
bekommen. 

Die  Gröfsc  der  Durchmesser  der  kleinsten  Blutgefäfs- 
netze  ist  erst  in  der  neuesten  Zeit  einer  genaueren  Untcr- 

1)  Ich  kenne  hier  kein  deutlicheres  Beispiel,  als  die 
Vergleichung  der  Schleimhaut  des  Rachens  mit  der  der 
Nase,  wie  sic  minder  leicht  heim  Menschen,  deutlicher 
hei  Haussäugethiereu,  vorzüglich  dem  Kalbe,  zu  beobach¬ 
ten  ist. 


271 


I.  Die  feinsten  Blutgefafse. 

suclmng  und  Prüfung  unterworfen  worden.  Eine  mathe- 
matiscii  bestimmte  Gröfse  hier  finden  zu  wollen,  ist  in 
mehr  als  einer  Rücksicht  ein  sich  selbst  widerlegender 
Widerspruch.  Schon  der  hlolse  Anblick  mehrer  Stücke 
desselben  Präparates,  vorzüglich  unter  einer  etwas  stärke¬ 
ren  Vergröfserung,  wo  die  auch  verhältnifsmäfsig  so  über¬ 
aus  kleinen  Differenzen  deutlicher  hervortreten,  mufs  je¬ 
den  Beobachter  hinlänglich  daVon  überzeugen,  dals  hier 
nur  gewisse  variable  Gröfsen  anzunehmen  sind,  welche  be¬ 
stimmte  Gränzeu  zwar  nicht  überschreiten,  der  Veränder¬ 
lichkeit  dagegen  einen  hinreichenden  Spielraum  gestatten. 
Es  findet  hier  durchaus  dasselbe  statt,  welches  die  Beob¬ 
achter  schon  längst  an  den  gröfseren  Gefäfsstämmen  wahr¬ 
genommen  haben.  Es  ist  gewifs,  dafs  das  stärkste  Gelafs 
des  ganzen  Körpers  die  Aorta  sei,  welche  selbst  aber  von 
oben  nach  unten  allmählich  sich  verschmälert,  und  auf  diese 
die  Iliacae,  Carotides,  Crurales,  Brachiales  u.  dergl.  der 
Reihe  nach  folgen  läfst,  dafs  im  gesunden  Zustande  nie 
eine  Ausnahme  von  dieser  Regel  vorkommt,  die  einzelnen 
Durchmesser  dieser  Gefäfse  dagegen  in  verschiedenen  Lei¬ 
chen  von  einigen  Linien  nicht  selten  bis  zu  einem  halben 
Zolle  variiren.  Will  man  daher  sichere  und  zu  wissen¬ 
schaftlichen  Resultaten  zu  benutzende  Zahlen  aus  den  mi- 
crometrischen  Gröfsenbestimmungen  der  kleinsten  Blutge- 
fäfsnetze  erhalten,  so  ist  eine  Messung  durchaus  unzurei¬ 
chend,  da  diese  nicht  nur  den  so  leicht  möglichen  sub- 
jectiven  Fehler  verhüllt,  sondern  auch  die  Variabilität  des 
Durchmessers  auf  keine  Weise  angiebt,  ja  man  durchaus 
nicht  wissen  kann,  ob  mau  das  Maximum  oder  Minimum, 
oder  eine  dem  einen  oder  dem  anderen  sich  nähernde  Mit¬ 
telzahl  habe.  Man  mufs  daher  eine  ganze  Reihe  von  Mes¬ 
sungen  aufstellen,  welche  wo  möglich  aus  verschiedenen 
Präparaten  desselben  Theiles  entnommen  sind,  um  hier¬ 
durch  Mittel  und  Gränzen  genauer  bestimmen  zu  können. 
Ich  habe  deshalb  von  jedem  der  von  mir  gemessenen 
Theile,  wo  möglich  und  fast  immer  an  verschiedenen  Prä- 


272 


I.  Die  Feinsten  Blntgefafse. 

paraten  zehn  Messungen  angestcllt,  und  so  die  gröfstc  er¬ 
haltene  Zahl  als  Summum,  die  kleinste  als  Minimum,  und 
das  Mittel  aus  allen  zehn  Zahlen  als  Medium  angczcichct 1 ). 

Bei  der  Trefflichkeit  der  Micromcter,  welche  an  den 
neueren  Microseopcn  gröfscrcr  Art  angebracht  sind,  kann 
man  diese  Messungen  auf  eine  Höhe  der  Genauigkeit  brin¬ 
gen,  welche  eben  so  bewdndernswürdig,  als  erspriefs- 
lich  für  die  Physiologie  ist.  Es  wird  aus  der  bald  zu  lie¬ 
fernden  Tabelle  sich  von  selbst  ergeben,  wie  sehr  die  un¬ 
ter  der  Web  ersehen,  auf  dem  Frauenbofcrschcn  lihd 
auf  dem  PI öfsl sehen  Schraubcnmicrometer  angcslelltcn 
Messungen  bis  auf  0,0001  übereinstimmen,  ein  eben  so  si¬ 
cherer  Maafsstab  für  die  Vortrefflichkeit  und  Bestimmtheit 
dieser  Instrumente,  als  für  die  microinctrisclic  Messung  über¬ 
haupt.  Bei  unserem  Gegenstände  ist  C9,  wie  es  sich  bald 
ergeben  wird,  unnöthig,  die  Gröfsenvcrhältnissc  der  Durch¬ 
messer  der  feinsten  Blutgclafsnctzc ,  wie  Job.  Müller  vor¬ 
schlägt,  auf  gewisse  constante  Urgrölscn  desselben  Thiercs 
zu  reducircn.  Auch  kennen  wir  keinen  Theil  im  thieri- 
schen  Körper,  welcher  nicht  der  Variation  zwischen  Grän¬ 
zen,  welche  die  genannten  Micromcter  noch  bestimmt  an¬ 
zugeben  vermöchten,  unterworfen  sei.  Selbst  die  von  Jo h. 
Müller  zu  diesem  Zwecke  vorgcschlagencn  Blutkörperchen 
machen  hier  keinesweges  eine  Ausnahme.  Auch  sie  sind 
noch  durch  Zahlen  zu  bestimmenden  veränderlichen  Gröfsen 
unterworfen.  Es  bleibt  daher  nichts  übrig,  als  sich  auf 

die 


1)  Zu  unserer  nicht  geringen  Freude  sahen  wir, 
nachdem  das  hier  Gesagte  schon  längst  niedergeschrieben 
■worden,  dafs  Job.  Müller  ganz  derselben  Ansicht  ist, 
und  zufällig  dieselbe  Zahl  von  Messungen  als  Normalzahl 
für  micrometrische  Gröfscnbestimnmng  überhaupt  vorschlägt. 
Vergl.  die  Vorrede  zu  seinem  Ilandbuchc  der  Physiologie 
des  Menschen  für  Vorlesungen.  Bd.  I.  Abth.  I.  Coblcnz  1833. 
S.  S.  IV  bis  VI,  wo  überhaupt,  wie  in  mehren  Stellen  des 
Werkes  selbst,  wichtige  und  gründliche  Bemerkungen  über 
Bedeutung  und  Behandlung  der  Micromctric  enthalten  sind. 


273 


I.  Die  feinsten  Biutgefäfse. 

die  Genauigkeit  der  Instrumente  zu  verlassen,  und  es  wäre 
wollt  wünschenswerth,  dafs  jemand,  dem  beide  Arten  von 
Micrometern  zu  Gebote  stehen,  durch  Messung  derselben 
identischen  Theile  unter  beiden  Instrumenten  über  die 
Uebereinstimmung  oder  Abweichung,  welche  zwischen  ih¬ 
nen  statt  findet,  Licht  verbreitete.  Die  grofse  Consonanz 
zwischen  den  meisten  Netzen  der  Biutgefäfse,  sie  mögen 
unter  diesem  oder  jenem  Micromctcr  gemessen  sein,  be¬ 
rechtigt  uns  wohl  zu  der  Vermuthung,  dafs  die  hier  vor¬ 
kommenden  Aberrationen  so  gering  seien,  dafs  sie  ohne 
Schaden  gleich  Null  gesetzt  werden  können.  Doch  fragt 
cs  sich,  ob  auch  andere  nicht  injicirte  Theile  dieselbe 
Uebereinstimmung  der  Resultate  zeigen  oder  nicht,  da  es 
wohl  denkbar  ist,  dafs  durch  die  verschiedenartige  Fül¬ 
lung  der  Gefälse  eine  durch  das  Instrument  entstehende 
Differenz  durch  die  Verschiedenheit  des  Objectes  ausge¬ 
glichen  werden  könnte.  Die  Naturforscher  Berlins,  Wiens 
und  Münchens,  wo,  so  viel  wir  wissen,  wenigstens  Frauen- 
hofersche,  Plöfslsche  und  Schieksche  Schraubenmicro- 
nieter  zugleich  vorzufinden  sind,  könnten  am  leichtesten 
den  erwünschten  Aufschlufs  hierüber  geben. 

Ueberhaupt  wird  häufig  die  Ausdehnung  der  kleinsten 
Gefäfsnetze  durch  die  hineingetriebene  Injectionsmasse  dazu 
benutzt,  um  die  Richtigkeit  einer  micrometriscben  Messung 
der  Art  im  Ganzen  verdächtig  zu  machen.  Als  die  dafür 
sprechenden  Beweise  wird  die  eine  jede  glückliche  In- 
jection  begleitende  Anschwellung -des  eingespritzten  Thei- 
les,  die  microscopische  Anschauung  und  Vergleichung  in- 
jicirter  und  nicht  injicirter  Präparate  desselben  Theiles  u. 
dergl.  mehr  angeführt.  Allein  so  wahr  die  Prämisse  ist, 
so  falsch  ist  dagegen  der  Sehlufs.  Denn  diese  künstliche 
Vorbereitung  verändert  zwar  die  Gröfsen,  doch  nach  ge¬ 
wissen,  wenigstens  dem  Mittel  nach  zu  bestimmenden 
Verhältnissen,  welche  als  Differenzen  zwischen  injicirten 
und  nicht  injicirten  Präparaten  angesehen  werden  können. 
Wenn  man  den  Exponenten  des  Gröfscnvcrhältnisscs  der 
Band  28.  Heft  3.  18 


274 


I.  Die  feinsten  Blutgcfafsc. 

Anschwellung  überall  gleich  annchmcn  könnte ,  so  bliebe 
für  die  Bhitgcfäfsc,  für  sich  betrachtet,  das  Verhältnis 
durchaus  ungestört,  da  die  Grüfsc  des  Exponenten  sich 
absol  t  gleich  bliebe.  Doch  ist  dieses  wenigstens  nicht  iu 
allen  Thcilen  der  Fall.  Es  wäre  daher  wichtig,  alle  Or¬ 
gane  in  dieser  Beziehung  in  beiden  Zuständen,  im  injicir- 
teu  und  nicht  injicirtcn,  zu  vergleichen,  und  so  die  sich 
in  jedem  einzelnen  Thcilc  vorfiudende  Mitteldifferenz  Be¬ 
hufs  der  Kediiclion  anzngeben.  Allein  von  manchen  ist 
dieses  durchaus  nie  möglich,  wie  von  der  Leber,  der  Milz, 
den  Nieren  u.  dcrgl.  mehr.  Wir  sind  daher  genötkigt, 
gewisse  Mitteldifferenzen  überhaupt  anzuuehmen,  um  60 
den  durch  die  Beobachtung  selbst  gegebenen  Fehler  we¬ 
nigstens  so  kleiu  als  möglich  zu  machen.  Nach  mehren 
am  Hodensackc,  der  Kniescheibe,  der  äufscrcn  Haut,  der 
Darmschleimhaut  und  der  Lungenoberfläche  Neugeborener 
in  beiden  Verhältnissen  entnommenen  Messungen  ist  die 
mittlere  Differenz  als  des  Volumens  des  Ganzen  anzu¬ 
nehmen  1 ).  Man  dürfte  daher  in  der  Correction  wenig 
irren,  wenn  man,  besonders  zu  micrortietrischcr  Verglei¬ 
chung  anderer  heterogener  Theile  die  unten  als  Mittelzak- 
len  angegebenen  Wcrthc  auf  £  rcducirte,  und  die  dann 
hcrauskoinmenden  Zahlen  als  den  mit  Blutflüssigkeit  an¬ 
gefüllten  Gefäfschen  augehörig  betrachtete. 

Eine  andere  Frage  ist  die,  ob  es  eineu  Gröfscnuntcr- 
schied  bedinge,  je  nachdem  diese  Präparate  frisch  und 
feucht  oder  getrocknet  gemessen  werden.  Doch  mufs  ich  nach 
meinen  vielfach  in  dieser  Beziehung  angcstcllten  Untersu¬ 
chungen  hier  jede  Differenz  bei  guten  Einspritzungen,  wo 


1 )  Die  sicherste  Vergleichung  fände  freilich  an  sol¬ 
chen  durchsichtigen  Theilen  statt,  welche  die  Beobachtung 
der  Girculation  au  lebenden  Tkieren  zulassen,  wie  z.  B. 
der  Fledermausflügel,  das  Netz  der  Nager,  die  Froschlüfse, 
die  Leber  des  Salamandcrcmbryo  u.  dcrgl.  Allein  bisher 
wollte  uns  die  zu  einer  solchen  Betrachtung  nothige  Voll¬ 
ständigkeit  der  Präparate  nicht  gelingen. 


/ 


I 


\ 


f.  Die  feinsten  Blntgefafse.  275 

die  Injectionsmasse  gleichmäfsig  und  besonders  die  Farbe 
fein  verl heilt  ist,  leugnen.  Denn  nur  das  dazwischen  lie¬ 
gende  Parenchym  vertrocknet  und  wird  durchsichtig,  wäh¬ 
rend  die  mit  Masse  vollkommen  angefüllten  und  ausgedehn¬ 
ten  Gefafschen  durch  jene  in  unverändertem  Zustande  er¬ 
halten  werden.  Eben  dieses  Verschwinden  des  Paren- 

i  * 

chyms  zieht  bei  dem  Trocknen  an  diesen  Theilen  sehr 
grofse  Vortheile,  an  anderen  dagegen  wahre  Nachtheile 
nach  sich.  Denn  manche  Organe,  wie  Leber,  Lungen, 
Lederhaut  u.  dergl.  lassen  getrocknet  den  Zustand  ihrer 
feinsten  Blutgefafsnetze  weit  besser  wahrnehmen,  als  frisch, 
während  dagegen  bei  anderen,  wie  Schleimdrüsen,  Darm¬ 
zotten  u.  dergl.  das  Umgekehrte  statt  findet.  Durch  das 
Trocknen  verschwindet  bei  den  letzten  das  Parenchym 
gänzlich  dem  Auge  des  Beobachters,  und  häufig  erschei¬ 
nen  daher  da,  wo  frisch  die  schönsten  und  feinsten 
Netze  wahrzunehmen  waren,  um  Extravasate  oder  von  In- 
jectionsmasse  gleichmäfsig  gefärbte  Stellen,  welche  keinen 
deutlichen  Gefäfscharakter  wahrnehmen  lassen,  wie  wir 
schon  oben  zu  bemerken  Gelegenheit  hatten.  Es  liegt  da¬ 
her  in  der  Natur  der  Sache,  dafs  die  Micrometrie  die  Beob¬ 
achtung  bald  der  frischen,  bald  der  trockenen  Präparate 
fordert,  und  ich  wiederhole  es  nochmals,  dafs  bei  keiner 
dieser  beiden  Methoden  irgend  eine  Differenz  je  eintrete, 
wenn  die  Messungen  überhaupt  nur  accurat  und  richtig 
angestellt  werden  —  eine  Forderung,  zu  welcher  höchste 
Genauigkeit  des  Beobachters  nicht  minder,  als  des  Instru¬ 
mentes  selbst,  erforderlich  ist. 

Ich  habe  in  die  nun  folgende  Tabelle  alle  mir  be¬ 
kannten  zuverlässigen  Messungen  der  feinsten  Blutgefäfs- 
netze  aufgenommen.  Doch  mufste  ich  hier  mit  strenger 
Kritik  verfahren  und  nur  solche  eintragen,  welche  mit  der 
gröfsten  Genauigkeit  und  durch  gute  und  feine  Instrumente 
augestellt  wurden.  Denn  eine  blofse  Schätzung  nach  dem 
Augenmaafse,  wie  bei  Micrometern,  welche  nur  Linie 
angeben,  kann  auch  bei  der  gröfsten  Vorsicht  sebr  leicht 

IS  * 


276 


I.  Die  feinsten  Blntgefafse. 

wichtige  Fehler  enthalten.  Am  zuverlässigsten  sind  hier 
unbedingt  die  Schraubcmnicromcter,  deren  sich  Job.  Mül¬ 
ler,  Berres  und  ich  bedient  haben,  und  welche  *nr 
nie  mit  gröfster  Präcision  anzugeben  vermögen.  Die  Ouel- 
len  der  einzelnen  Messungen  habe  ich  immer  hinzugeftigt. 
Die  beigcselzten  Buchstaben  bezeichnen  die  Autoritäten. 
\V.  bedeutet  E.  II.  Weber  (Meckel ’s  Arch.  1827.  — 
Hi lJebrand t’s  Anatomie,  bearb.  von  Weber,  Band  I. 
bis  IV.),  M.  Job.  Müller'(Meckel’8  Arch.  1830.  — 
De  glandularum  secernentium  structura  penitiori,  Lips.  1830. 
fol.  —  Ilaudbuch  der  Physiologie  des  Menschen,  Bd.  I. 
Abth.  I.  Coblcnz  1833.  8.),  B.  Berres  (Medicin.  Jahrb. 
des  österr.  Staates.  1833.  Bd.  11.  S.  115  —  132.  258  —  267. 
433  —  414.),  und  II.  llcnle  (De  membrana  pupillari  aliis- 
que  oculi  inembranis  pcllucentibus.  Bonnae  1832.  4.). 
Meine  eigenen,  vermittelst  eines  an  einem  Plöfslscheö 
Instrumente  angebrachten  Schraubcnmicrometers  angestell- 
ten  Messungen,  habe  ich  mit  V.  bezeichnet.  Dafs  die  letz¬ 
ten  Wcrthc  nach  immer  zehn  Messungen  entnommen,  und 
auf  welche  Weise  Summura,  Minimum  und  Medium  be¬ 
stimmt  sind,  habe  ich  schon  oben  angegeben.  Eigene,  von 
mir  angefertigte  Präparate,  bildeten  die  Grundlage  meiner 
Erfahrungen.  Der  Gleichförmigkeit  wegen  habe  ich  alle 
Messungen  nach  den  bekannten  Verhältnissen  auf  Pariser 
Linien  rcducirt,  wiewohl  Bcrres’s  und  das  von  mir  ge¬ 
brauchte  Micromctcr  unmittelbar  Wiener  Linien  augeben. 


/ 


I.  Die  feinsten  Blutgefäfse.  277 

Mi cro metrische  Tabelle 

der  bisher  bekannten  Messungen  der  Durchmesser  der  Aeste 
der  kleinsten  injicirten  oder  injicirbarcu  Blutgefäfse  *)• 

(Bestimmung  in  Theilen  des  Pariser  Zolles.) 

Maximum.  Medium.  Minimum. 


Arterien  unter  demNagel.  B. 

Dieselben.  V.  .  .  .  .  . 

Aeufsere  Haut.  W.  .  .  , 

Lederhaut.  B . 

Dieselbe.  V . 

Dieselbe  von  einem  dcrReife 
nahen  Schweinefötus.  V. 

Haut  des  Hodensackes,  mit 
Blut  gefüllt.  W.  .  .  . 

Entzündete  Haut.  W.  .  . 

Lippe  eines  Kindes.  B.  .  . 

Zunge einesKindes.  B.  .  . 

Schleimdrüse  d.  Mundes.  B. 

Schleimhaut  d.  Rachens.  V. 

Schleimhaut  d.  Magens.  V. 

Schleimhaut  des  Dünndar¬ 
mes.  V . 

Darmzotten  aus  dem  Dünn¬ 
därme  eines  Kindes.  B. 

» 

Dergl.  aus  dem  Dünndarme 
Erwachsener.  V.  .  .  . 

Dergl.  aus  dem  Duodenum 
Erwachsener.  V.  .  . 

Dergl.  der  Katze.  V.  .  . 

Dergl.  des  Huhnes.  V.  . 

Schleimhaut  des  Dickdar¬ 
mes.  B . .  . 


—  0,000582.  — 

0,000756.  6,000438.  0,000253. 

—  0,000800.  — 

0,000776.  —  0,000681. 

0,000405.  0,000369.  0,000278. 

0,000765.  *0,000705.  0,000253. 

>  J  .  . 

—  0^00309.  — 

0,000500.  —  0,000250. 

—  0,000485.  — 

—  0,000776.  — 

0,000681.  —  0,000291. 

0,000507.  0,000243.  0,000202. 
0,000670.  0,000542.  0,000484. 

0,000658.  0,000491.  0,000400. 

■7 

—  0,000485.  — 

/  r  '  • 

0,000791.  0,000566.  0,000506. 

0,000726.  0,000441.  0,000435. 
0,000253.  0,000186.  0,000129. 
0,000610.  0,000506.  0,000305. 

0,000485.  —  0,000388. 


1)  Die  Theile,  denen  keine  spccielleren  Bestimmungen 
hinzugefügt  sind,  sind  aus  dem  Menschen  genommen. 


278 


f.  Die  feinsten  Blntgcfafse. 


Maximum.  Medium.  Minimum. 


Schleimhaut  des  Dickdar¬ 
mes.  W . 

Dieselbe.  V. . 

Schleimhaut  des  Uterus  ei¬ 
nes  trächtigen  Kauiu- 
chcns.  V.  ....  . 
Muskelhaut  des  Düuudar- 

t 

mes.  B . 

Dieselbe.  V . 

Seröse  Haut  des  Dünndar¬ 
mes.  V.  . . 

Vagina  humeri  eines  Neu¬ 
geborenen.  V . 

Netz,  des  Dünndarmes.  B. 
Pia  mater  eines  acht  Zoll 
laugen  Schweinefbtus.  V. 
Dieselbe  mit  Blut  gefüllt.  V. 
Plexus  choroideus  latera¬ 
lis.  B . 

Corticalsubstanz,  des  Ge¬ 
hirns.  B.  .  .  .  >  . 
Ilirn  des  Menschen.  W.  . 
Hegenbogenhaut.  M.  .  . 

Vordere  Flüche  der  Iris.  B. 
Hintere  Fläche  der  Iris.  B. 

Aderhaut.  B . 

Strahlcnkörpcr.  B.  .  .  . 

Ciliarkörper.  M.  .  .  . 
Bindehautblättchen  derCor- 
uea  eines  fast  ausgetra¬ 
genen  Kalbes.  II.  .  . 

Retina.  B . 

Ruyscbiana.  \V.  (nach  Sum¬ 
me  rring's  Abbildung 
berechnet)  . 


0.000500.  —  0.000330. 

0,000507.  0,000380.  0,000355. 


0,000755.  0,000519.  0,000421. 

0,0003S8.  —  0,000194. 

0,000464.  0,000300.  0,000232. 

0,000506.  0,000400.  0,000349. 

—  0,000405.  — 

—  0,000194.  — 

0,000483.  0,000405.  0,000271. 

—  0,000364.  — 

% 

0,001746.  —  0,000191. 

I 

0,000681.  —  0,000097. 

0,000250.  —  0,000190. 

0,000470.  —  0,000370. 

0,001746.  —  0,000681. 

0,000582.  —  0,000485. 

—  0,001746.  — 

—  0,002925.  — 

—  0,000530.  — 


0,001380.  —  0,000700. 

0,001458.  —  0,000097. 


0,000186.  — 


I 


•  ,  / . .  .  .  I 

I.  Die  feinsten  ßlutgefafse.  279 


Ruyschiana.  B.  (nach Som¬ 
mer  ring’ s  Abbild,  be¬ 
rechnet).  B . 

Dieselbe, 

gröfsere  Gefäfse.  V.  . 
kleinereNetzgefäfse.  V. 
Nervus  iscbiadicus  eines 

Kindes.  B . 

Nervus  medianus  eines  Neu¬ 
geborenen.  V.  ... 
Augenmuskel  eines  Kin¬ 
des.  B . 

Biceps  brachii.  V.  .  .  . 

Sehne  des  Flexor  digito- 
rum  sublimis.  V.  .  . 

Verknöchernde  Knieschei¬ 
be,  mit  Blut  gefüllt.  W. 
Lymphdrüse.  M.  .  .  . 
Dieselbe  von  dem  Halse 
eines  der  Reife  nahen 
Schweinefötus.  V.  .  . 
Lungen : 

Tieferes  Adernetz.  B. 

Oberes  Adernetz.  B. 

Leber.  V . 

Milz  eines  Kaninchens.  V. 
Milz  des  Menschen.  V.  . 
Nieren : 

Netzförmige  Blutge- 
fäfse.  M.  .  .  . 

t 

Dieselben.  V.  .  . 

Malpighische  Kör¬ 
perchen.  W.  .  . 

Dieselben.  M.  .  . 

Dieselben.  V.  .  . 


Maximum.  Medium.  Minimum. 


0,000776.  —  0,000485. 

0,005800.  0,004865.  0,002573. 

0,000708.  0,000487.  0,000354. 

\  '  / 

0,000729.  —  0,000485. 

0,000258.  0,000234.  0,000129. 

—  0,000194.  — 

0,000405.  0,000338.  0,000200. 

% 

0,000355.  0,000270.  0,000151. 

* 

—  0,000514.  — 

0,000500.  —  0,000330. 


0,000405.  0,000355.  0,000304. 

—  0,000291.  — 

—  0,00097.  — 

0,000608.  0,000514.  0,000405. 
0,000756.  0,000596.  0,000124. 
0,000756.  0,000405.  0,000360. 


0,000580.  —  0,000370. 

0,000710.  0,000557.  0,000405. 

i  . 

0,008830.  —  0,006666. 

—  0,007000.  — 

0,008583.  0,007096.  0,006416. 


I 


230 


I.  Die  feinsten  Blutgefafsc. 


Nieren -Blutgcfafse  aus  ei¬ 
nem  der  Reife  nahen 

Schaaffbtus.  V . 

Nebenhoden.  B . 

Derselbe.  V . 

Ilodc  eines  Neugeborenen. 

w . 

Derselbe  eines  Schweinc- 

fötus.  V . 

Wolffscher  Körper  eines 
Schaaffötus.  V.  .  .  . 
Placenta  humaua.  V.  .  . 
Gefäfse  an  den  Zotten  des 
Chorion.  W . 


Maximian.  Medium.  Minimum. 

0,000507.  0,000396.  0,000258. 
0,000388.  —  0,000291. 

0,000462.  0,000330.  0,000253. 

0,001126.  —  0,000750. 

0,000355.  0,000303.  0,000253. 

0,000607.  0.000441.  0,000253. 
0,000891.  0,000665.  0,000405. 

0,000750.  —  0,000250. 


Aus  dieser  nun  gegebenen  Reihe  der  bisher  bekann¬ 
ten  micrometrischen  Messungen  der  Durchmesser  der  fein¬ 
sten  Blutgefafsnelze  sehen  wir,  dafs  diese  zwar  oft  zwi¬ 
schen  ziemlich  bedeutenden  Differenzen  variiren,  im  Gan- 
zen  jedoch  eine  gewisse  mittlere  Gröfse  behaupten,  welche 
festzuhalten  und  zu  wissenschaftlicher  Anwendung  zu  be¬ 
nutzen  ist.  Das  Gesagte  dürfte  nicht  blofs  von  diesen, 
sondern  von  allen  kleinsten  Theilen  der  thierischcn  Kör¬ 
per  gelten,  welche  zwar  variiren,  ja  vcrhältnilsmüfsig  noch 
mehr,  als  die  gröfscren,  gewisse  Termini  aber  doch  kaum 
je  überschreiten.  Anders  ist  es  aber  bei  den  Pflanzen. 
Hier  sind  oft  dicht  nebeneinander  liegende  und  zu  einem 
Systeme  gehörende  Zellen  von  so  verschiedener  Gröfse, 
dafs  eiue  micrologische  Bestimmung  derselben  eine  blofsc 
Spielerei,  nicht  aber  eine  wissenschaftliche  Beschäftigung  * 
zu  nennen  wäre.  Doch  haben  auch  hier  manche  der  klei¬ 
neren  Thcilc  eine  constante  und  der  Messung  wohl  werthe 
Gröfse,  wie  der  Durchmesser  der  Spiralgefiifse,  der  von 
Robert  Brown  aus  vielen  Zellen  beschriebene  Nucleus, 
die  Saftkügelchen  (minder  die  Saflbläscbcn),  die  von 


r 


I.  Die  feinsten  Blntgefafse.  281 

Meycn  in  Vallisneria  aufgefundene  Atmosphäre  der  Saft¬ 
bläschen,  u.  dergl.  m. 

Von  gröfserem  Nutzen  ist  die  micrometrische  Verglei¬ 
chung  der  histologischen  Bestandteile  des  Körpers  mit  den 
in  ihnen  enthaltenen  Blutgefäfsen,  als  untereinander  selbst. 
E.  II.  Weber,  und  vorzüglich  Job.  Müller,  haben  hier 
6chon  den  Grund  zu  dieser  Art  von  Erfahrungen  gelegt. 
Die  erste  Art* der  Zusammenstellung  ist  an  einem  und 
demselben  Stücke  mit  eigenen  Schwierigkeiten  verbunden. 
Denn  an  einem  gnt  injicirlen  Präparate  wird  das  Auge 
eines  selbst  geübteren  Beobachters  durch  den  Reichthum 
der  gefüllten  Gefäfse  so  geblendet,  dafs  der  zwischen  die¬ 
sen  liegende  histologische  Urtheil  fast  ganz  dem  Blicke 
entschwindet.  Nicht  injicirte  Präparate  dagegen  lassen 
keine  sichere  Messung  der  feinsten  Blutgefäfse  zu.  Am 
besten  eignen  sich  zu  solchen  Untersuchungen  frische  Prä¬ 
parate  von  Theilen,  welche  nicht  vollkommen  undurch¬ 
sichtig,  und  daher  auch  bei  durchfallendem  Lichte  deut¬ 
lich  erkennbar  sind.  Wo  dieses  aber  nicht  der  Fall  ist, 
ja  bei  frischen  Theilen  die  feinsten  Blutgefäfsnetze  undeut¬ 
lich  oder  gar  nicht  sichtbar  sind,  da  mufs  der  histologische 
Bestandthcil  am  frischen,  das  Aestchen  des  Blutgefäfses 
dagegen  am  getrockneten  Präparate  desselben  Stückes  ge¬ 
messen  werden. 

Ich  habe  in  der  Tabelle  zwar  alle  Messungen  auf  sechs 
Decimalstellen  berechnet,  mufs  aber  selbst  bemerken ,  dafs 
bei  aller  Vorsicht  micrometrischer  Messungen  doch  nur  die 
ersten  vier  Zahlen  unbedingt  als  richtig  angenommen  wer¬ 
den  können,  die  übrigen  dagegen  mehr  für  die  vierte  Zahl 
bestimmend,  als  selbst  bindend  sind.  Vergleichen  wir  die 
einzelnen  oben  angegebenen  Gröfsen  untereinander,  so  se¬ 
hen  wir,  dafs  dem  Gehirn,  den  Lungen  und  der  Aderhaut 
des  Auges  die  feinsten  Gefäfse  eigen  siud.  Setzen  wir 
nun  den  Durchmesser  der  feinsten  Gefäfse,  der  Hirngefäfse, 
auf  0,0001  Pariser  Zoll,  wie  dieses  ohne  bedeutenden  Feh¬ 
ler  geschehen  kann,  so  können  wir  leicht  auf  diese  als 


282 


f.  Die  feinslen  ßlutgefafsc. 

Einheit  zu  supponirende  GröCsc  die  den  übrigen  Organen 
zukommenden  Zahlcnwerthe  rcduciren.  Wir  erhalten  dann 
für  die  Menschen  folgende  Tabelle  1 ): 

Lungen  0.97. 

Aderhaut  1,7. 

Netz  des  Dünndarmes  1,9. 

Nervus  medianus  2,3. 

Schleimhaut  des  Hachens  2,4. 

Sehne  des  Vorderarmes  2,7. 

Muskelhaut  des  Dünndarmes  2,8. 

Strahlenkörper  2,9. 

Biceps  brach i i  3,3. 

Nebenhoden  3,3. 

Lederhaut  3,6. 

Schleimhaut  des  Dick  darin  cs  3,8. 

Seröse  Haut  des  Dünndarmes  4,00. 

Vagina  humeri  4,005. 

Milz  4,05.  '  ‘ 

Lymphdrüse  4,1. 

'  Iris  4,2. 

Arterien  unter  dem  Nagel  4,3. 

Darmzotten  aus  dem  Duodenum  4,4. 

Lippe  4,8. 

»  ltuyscbiana  4,8. 

Schleimdrüsen  des  Mundes  4,85. 
Dünndarmscbleimhaut  4,9. 

Zotten  des  Chorion  5,00. 

Leber  5,1. 

Schleimhaut  des  Magens  6,4. 

NicrengeHifse  5,5. 

Diiundarmzottcn  5,6. 

1)  Die  Bestimmungen  sind  gröfstcnthcils  durch  die 
von  mir  gefundenen  Medien  gemacht.  Wo  nur  ein  Maxi¬ 
mum  und  Minimum  des  Wcrthcs  bekannt  ist,  habe  ich 
nach  diesen  die  Mittclzahl  bestimmt. 


283 


II.  Congestionen. 

Placcnta  6,6. 

Malpighische  Körperchen  7,09. 

Retina  7,7. 

Zunge  7,7. 

Hoden  9,3. 

Künftige  Beobachtungen  werden  wohl  noch  manche 
Correctur  in  dieser  tabellarischen  Uebersicht  nothwendig 
machen,  so  wie  überhaupt  die  specicllen  Data  vervoll¬ 
ständigen.  So  müssen  wir  offen  bekennen,  dafs  wir  nur 
ungern  die  Zahlenwerthe  der  Milz  aufgenommen  haben. 
Denn  wir  sind  fest  überzeugt,  dafs  bis  jetzt  eine  in  jeder 
Rücksicht  wünschenswerte  Injection  dieses  Organes  noch 
nie  geglückt  ist.  Das  sogenannte  pinselförmige  Endigen 
der  Gefäfse  können  wir  keinesweges,  aus  mehr  als  aus 
einem  Grunde,  für  das  Capillargelafssystem  der  Milz  hal¬ 
ten.  Es  breiten  sich  vielmehr  wahrscheinlich  noch  netz¬ 
förmige  Blutgefäfschen  von  grofser  Feinheit  über  die  Milz¬ 
bläschen  aus.  Doch  bleibt  die  Entscheidung,  ob,  und  die 
Bestimmung  der  Art  und  Weise,  auf  welche  dieses  ge¬ 
schehe,  künftigen  Forschungen  überlassen.  Ueberhaupt  ge¬ 
hört  die  Milz  zu  denjenigen  Organen,  für  welche  noch 
am  wenigsten  geschehen,  das  aber  auch  am  schwierigsten 
zu  erforschen  ist. 


II. 


Was  sind  active  Congestionen,  und  wie  ent¬ 
stehen  sie? 

•  %  '  •  •  *  ' 

Von 


Dr.  H.  Sqccow,  < 

Privatdocenten  an  der  Universität  Jena. 

♦ 

-  I 


Bis  auf  die  neuesten  Zeiten  hat  sich  eine  doppelte 
Meinung  über  das  Wesen  der  Congestionen  erhallen.  Wäh- 


284 


II.  Congestionen. 

rcnd  nämlich  Einige  blofs  dca  Andrang  des  Hintes  nach 
einem  Tlicilc  damit  bczcichnctcn,  wollten  Andere  eine 
wirkliche  Anhäufung  desselben  darunter  verstanden  wis¬ 
sen.  Je  nachdem  man  sicli  aber  die  (Kongestionen  durch 
vermehrte,  oder  verminderte  Eebensthäligkcit  entstanden 
dachte,  nanutc  man  sie  activ,  oder  passiv.  Verstand  man 
unter  (Kongestionen  vermehrten  Andrang,  so  hiefsen  sic 
activ,  wenn  man  sic  sich  durch  vermehrte  Tbätigkeit  des 
Herzens  und  der  Arterien;  passiv,  wenn  man  sic  sich 
durch  verminderten  Andrang  herbeigeführt  daclUe.  Nahm 
man  aber  das  Wort  Congestion  gleichbedeutend  mit  An¬ 
häufung,  so  nannte  man  sic  activ,  wenn  sie  durch  An¬ 
drang;  passiv,  wenn  sie  durch  verminderten  Ablluls  ent¬ 
standen  sein  sollte.  —  Aufser  dieser  activen  und  passi¬ 
ven  Congestion  sprechen  jedoch  Heil,  Hartmann,  Neu¬ 
mann,  und  früher  schon  Gaub,  vou  einer  durch  örtlichen 
Heiz  erzeugten  Congestion,  ohne  sich  jedoch  näher  über 
ihre  Entstehung9weise  auszulassen. 

Abstrahiren  wir  aber  von  den  Begrilfbestiminungen 
der  Congestionen,  welche  gleichzeitig  ihr  vermeintliches 
Wesen  bezeichnen  sollen,  so  können  wir  im  Allgemeinen 
vermehrtes  Auftreten  des  Blutes  in  einem  Theile  darunter 
verstehen.  Iu  sofern  aber  die  Verhältnisse,  welche  dieses 
vermehrte  Auftreten  erzeugen,  auf  einer  vermehrten  Thä- 
tigkeit  eines  Organes  oder  Systemes  beruhen,  60  nennen 
wir  die  dadurch  herbeigeführten  Congestionen,  den  allge¬ 
meinen  BegrilTbcstimmungcn  zufolge,  activ;  und  nur  von 
ihnen  soll  hier  gehandelt  werden. 

Vielfach  sind  aber  die  Verhältnisse,  vou  denen  man 
da9  Entstehen  dieser  Congestionen  hergcleitet  hat.  Betrach¬ 
ten  wir  sie  daher  näher,  um  so  das  inehr  oder  weniger 
Wahrscheinliche  trennen  zu  können,  da  durch  die  bishe¬ 
rigen  Untersuchungen  und  bei  der  Schwierigkeit  der  un¬ 
mittelbaren  Beobachtung  an  den  fraglichen  Organen,  von 
einer  Gewifsheit  noch  nicht  die  Hede  sein  kann. 


II.  Congestionen.  285 

Die  Hauptquellen,  voo  denen  man  die  Entstehung  acti- 
ver  Congestioneu  herleitete,  sind  aber  folgende: 

1.  Vermehrte  Thätigkeit  der  Arterien.  —  Dafs  Ar¬ 
terien  durch  vermehrte  Thätigkeit  (Contraction,  Oscilla- 
tion,  Federkraft  u.  s.  w.)  das  Blut  nach  einzelnen  Theilcn 
in  gröfserer  Menge,  als  gewöhnlich,  führen  könnten,  ist 
eine  der  weitverbreitetsten  Ansichten.  Allein  sie  ist,  von 
dem  jetzigen  Standpunkte  der  Physiologie  aus  betrachtet  — 
falsch.  Denn  im  normalen  Leben  tragen  die  Arterien  durch 
abwechselnde  Contraction  und  Expansion,  oder  andere  Be¬ 
wegungen,  zum  Kreisläufe  des  Blutes  nichts  bei.  (Vergl. 
Oestreichcr  vom  Kreisläufe  des  Blutes.  1826.  —  Wc- 
demeyer  Untersuchungen  über  den  Kreislauf  des  Blutes. 
1428.,  und  Burdach’s  Physiologie  Bd.  IV.  §.  734  u.  f.) 
Nach  Heizungen  aber  ziehen  sich  die  Arterien  zwar  zu¬ 
sammen,  allein  ungleichmäfsig  und  anhaltend,  so  dafs  sie 
dann  den  Blutandrang  nach  einem  Theile  nicht  befördern, 
sondern  nur  verhindern  können,  wie  dies  Verse huyr, 
Hunter,  Parry,  Wedemeyer  u.  a.  gesehen  haben. 
(Vergl.  Burdach  a.  a.  O.)  Andere  Thatsachen  aber,  die 
beweisen  könnten,  dafs  durch  Arterien  der  Blutandrang 
auf  irgend  eine  Weise  befördert  werden  könnte,  fehlen 
uns;  und  selbst  wenn  sie  aufgefuuden  würden,  so  könn¬ 
ten  6ie  keinen  Einflufs  auf  Entstehung  der  Congestionen 
haben,  wenn  nicht  gleichzeitig  vom  Hauptstamme  mehr 
Blut  geliefert  würde,  was  Stieglitz  (Pathologische  Un¬ 
tersuchungen  I.  S.  106.)  sehr  richtig  bemerkt. 

2.  Vermehrte  Thätigkeit  der  Capillargefäfse.  —  Wenn 
der  Andrang  nicht  durch  Arterien,  so  könnte  er  vielleicht 
durch  die  Capillargefäfse  bestimmt  werden,  meinten  einige. 
Allein  auch  die  Capillargefäfse  haben  keine  Kraft  dasjllut 
fortzutreiben,  da  ihnen  im  normalen  Zustande  Contraction 
und  Expansion  mangeln  (Vergl.  Oestreichcr  a.  a.  O.  IL 
§.  21.),  und  wenn  sic  sich  im  gereizten  Zustande  zusam¬ 
menziehen,  dadurch  nur  Hemmung  der  Strömung  herbei- 


286 


II.  Congcstionen. 

geführt  wird.  (Vergl.  Burdach  a.  a.  O.  §.736.)  —  Auch 
durch  Saugkraft,  durch  Capillaranziehuug,  können  sic  den 
Blutandrang  nicht  befördern,  da  ihnen  diese  Kraft  völlig 
mangelt.  (Vergl.  Oestrcicher  a.  a.  O.  II.  §.  22.) 

3.  Eigene,  dem  Blute  inwohnende  Bewegungskraft.  — 
Das  Blut  könne  freiwillig  nach  einem  Organe  hin  sich  be¬ 
wegen,  ist  eine  in  neuerer  Zeit  ausgesprochene  Meinung, 
deren  Widerlegung  sich  bei  VVedcmcycr  (a.a.O.  S.  341.) 
und  Burdach  (a.  a.  O.  §.739.)  findet. 

4.  Vermehrte  Thätigkcit  des  Herzens.  —  Wiewohl 
durch  die  Contractionen  des  Herzens  das  Blut  mit  gleicher 
Stärke  nach  allen  Thoilcn  des  Körpers  hingeirieben  wird, 
so  beobachten  wir  dennoch,  dafs  Organe,  die  viel  Anlage 
zu  Congcstionen  haben,  d.  h.  die  bei  einem  expansibeln 
Gewebe  mit  vielen  Gcfäfsen  versehen  sind,  wie  Schleim¬ 
häute,  Lungen,  Wangen  u.  s.  w.,  von  Blute  strotzen,  wenn 
die  Thätigkcit  des  Herzens  vermehrt  wird.  Dann  nämlich 
strömt  in  diese  Organe,  so  wie  in  alle  übrigen,  in  einer 
gegebenen  Zeit  mehr  Blut,  als  gewöhnlich,  aber  nur  in 
den  gefäfsreicheren  treten  die  Symptome  der  Congcstionen 
auf,  während  in  den  gefäfsarmen  die  vermehrte  Blutmenge 
nicht  in  die  Sinne  fällt.  Gleichzeitig  mag  denn  auch  das 
Weiterströmen  des  Blutes  in  diesen  schwammigen  Orga¬ 
nen  erschwert,  und  so  das  Entstehen  der  Congestionen  er¬ 
leichtert  werden.  Auf  diese  Weise  entstehen  vorzüglich 
Congestionen  bei  starken  körperlichen  Bewegungen,  bei 
aufregenden  Leidenschaften  u.  s.  w.,  überhaupt  in  allen 
den  Fällen,  wo  keine  ähnlichen  Reizungen  statt  finden, 
sondern  nur  die  Contractionen  des  Herzens  verstärkt  und 
vermehrt  werden.  Hierher  sind  also  zum  Theil  die  acti- 
ven  Kongestionen  der  Autoren  zu  rechnen,  und  sie  sind 
nach  dein  bisher  Gesagten  die  einzig  denkbaren,  wenn 
von  Andrang  des  Blutes  bei  Congestionen  die  Rede  ist. 

Abgesehen  von  derartigen  Congestionen,  sehen  wir 
jedoch  häufig  partielle  Blutvermehrung  nach  örtlichen 
Reizen  entstehen,  wo  vermehrte  Herzlhätigkeit  nicht  mit 


287 


II.  Congestionen. 

im  Spiele  ist.  Wenn  daher  von  vermehrtem  Andrang  nicht 
die  Rede  sein  kann,  so  bleiben  Festhalten  und  verhin¬ 
dertes  Ahfliefsen  des  Blutes  als  einzig  denkbare  Ursachen 
ührig.  Aufser  den  bisherigen,  hätten  wir  daher  noch  fol¬ 
gende  Zustände  zu  betrachten,  von  denen  man  die  Entste¬ 
hung  der  Congestionen  ableiten  kann. 

5.  Erweiterung  der  Gefäfse,  vorzüglich  der  Capillar- 
gefäfse.  —  Dafs  Erweiterung  der  kleinen  Gefäfe  nach 
mäfsigen  Reizen  entstehen  könne,  darüber  ist  kein  Zwei¬ 
fel  mehr.  Gruithuisen  sah  wie  Gefäfse  drei  bis  vier 
Kügelchen  führten,  da  sie  früher  nur  eins  enthielten.  (Salz¬ 
burger  Zeitung.  1811.  S.  34.)  Dasselbe  beobachtete  Thom¬ 
son  und  Oestreicher  a.  a.  O.  S.  64  und  129.)  Mit  die¬ 
ser  Erweiterung  ist  gleichzeitig  Verlangsamung  des  Blut- 
laufcs  verbunden  (Bur dach  a.  a.  O.  S.  228.  422.  425.), 
und  so  um  so  leichter  das  gleichzeitige  Auftreten  der  Con¬ 
gestionen  erklärlich.  Allein  es  fragt  sich  nur,  ob  denn 
diese  Erweiterung  eine  primäre  sei,  oder  ob  sie  erst  durch 
das  Eindringen  des  Blutes  erzeugt  werde?  Stieglitz  (a. 
a.  O.  I.  S.  176.  177.  187.  195.)  erklärt  sich  für  die  pri¬ 
märe  Erweiterung,  indem  er  meint,  das  der  Tissus  erecti- 
lis,  die  Venennetze  sich  ausdehnen,  und  das  Blut  in  sie 
hineinströme.  Er  beruft  sich  hierbei  vorzüglich  auf  He* 
benstreit’s  Autorität,  und  fühlt  zur  Unterstützung  sei¬ 
ner  Meinung  Stellen  aus  Tiedemann’s  lind  Weber’s 
Schriften  an.  Allein  schlagende,  und  auf  unmittelbare 
Beobachtung  sich  stützende  Beweise  vermifst  man  doch. 
Dazu  kommt,  dafs  die  entgegengesetzte  Meinung,  nach 
welcher  die  Erweiterung  erst  ein  secundärer,  durch  das 
Einströmen  des  Blutes  bedingter  Zustand  ist,  nicht  ohne 
Autoritäten  dasteht.  So  schien  es  Oestreicher  (a.  a.  O. 
I.  2.  §.  11.) ,  dafs  die  Erweiterung  Folgezustand  sei;  auch 
Kaltenbrunncr  und  Müller  sprechen  sich  dahin  aus. 
(Vergl.  Burdach  a.  a.  O.  §.  425.)  Uebcrdem  ist  ja  nir¬ 
gends  ein  Turgor  ohne  gleichzeitig  vermehrte  Säftemasse 
bemerkbar,  und  daher  wohl  nicht  leicht  primär;  wohl 


i 


288 


% 

II.  Congestionen. 

aber  erscheint  in  einzelnen  Fallen  der  Turgor  offenbar  als 
gccundär,  als  vom  Blutandrang  bedingt;  so  schwellen  z.  E. 
Telangiectasieen  beim  Laufen,  beim  Schreien  an.  Endlich 
inufs  man  bedenken,  dafs  feste  Gewebe  durch  Heize  nie 
expandirt,  sondern  contrahirt  werden.  Stieglitz’s  Mei¬ 
nung  würde  daher  nur  dann  zulässig  sein,  wenn  man  an¬ 
nähme,  dafs  die  kleinsten  Gefäfsc  vom  Parenchym  nicht 
geschieden  wären,  sondern  ohne  eigentliche,  ohne  eigen¬ 
tümliche  Gefäfswändc  existirten;  denn  dann  würde,  wenu 
sich  die  festen  Theilc,  wenn  sich  das  Parenchym  contra- 
hirte,  das  Lumen  der  Gefäfse  notwendig  erweitert  wer- 
dcu  müssen. 

Wie  einleuchtend  daher  beim  ersten  Anblick  auch  die 
Idee,  dafs  das  Blut  in  das  erweiterte  Gewebe,  wie  die 
Luft  in  die  ausgedehnten  Lungen  dringe,  uns  Vorkommen 
mag,  so  erscheint  bei  genauerer  Prüfung  die  Annahme  der¬ 
selben  doch  nur  sehr  problematisch.  Ueberdem  würden 
dadurch  auch  wohl  nicht  alle  Erscheinungen  bei  Congc- 
stionen,  namentlich  bei  denen  mit  vermehrtem  Wachs¬ 
tum,  mit  Entzündung  u.  s.  w.  verbundenen,  erklärt  wer¬ 
den  können.  Daher  müssen  noch  andere  Entstehungsw'ei- 
sen  der  Congestionen  aufzufinden  sein.  Dies  scheint  auch 
seihet  Sticglitz’s  Meinung  zu  sein,  weswegen  er  bei 
Entstehung  der  Congestionen  noch  eine  andere,  und  zwar 
folgende  Ursache  auftreten  läfst: 

6.  Contractionen  der  Venen.  —  Es  hat  nämlich 
Stieglitz  (a.  a.  O.  S.  176  und  190)  die  Meinung  aufge¬ 
stellt,  die  Congestionen  nach  dem  Penis  während  der  Ere- 
ction  entständen  so,  dafs  die  Venen  desselben  durch  be¬ 
sondere  Muskeln  contrahirt  würden,  und  so  den  Hückflufs 
des  Blutes  erschwerten,  während  gleichzeitig  das  Capillar- 
netz  sich  erweitere  und  das  cinströinende  Blut  in  gröfsercr 
Menge  aufnehme.  Wenn  nuu  auch  eine  ähnliche  Meinung, 
dafs  nämlich  die  Venen  durch  den  Arcus  oss.  pubis  com- 
primirt  würden,  schou  von  früheren  Aerztcn  ausgesprochen 
war,  so  zeichnet  sich  Stieglitz  doch  dadurch  aus,  dafs 


er 


289 


II.  Congestionen. 

er  eine  Contraction  durch  Muskeln,  und  eine  ähnliche  auch 
beim  Entstehen  anderer  Congestionen  annimmt  (a.  a.  O. 
S.  192).  Allein  wenn  auch  bei  aufserordentlichen  Cou- 
gestionen,  wie  hei  denen  während  der  Erection,  ein  be¬ 
sonderer  Apparat  ( Contractionen  der  Venen  durch  Mus¬ 
keln)  vorhanden  ist,  so  geht  daraus  noch  keinesweges  her¬ 
vor,  dafs  bei  gewöhnlichen  Congestionen  Contraction  der 
Venen,  wenn  auch  nur  durch  Krampf  (wie  Stieglitz 
meint),  nicht  durch  besondere  Muskeln,  als  Ursache  auf¬ 
trete.  Bedenken  wir  nun  noch,  dafs  die  Venen  überhaupt 
nur  wenig  Reizbarkeit  und  Bewegungskraft  zeigen,  und 
sich  im  gesunden,  normalen  Zustande  nie,  nach  angewand¬ 
ten  Reizen  aber  nur  selten  contrahiren  (vergl.  Burdach 
a.  a.  O.  §.  737.,  Oestreicher  a.  a.  O.  I.  4-  §.  4.),  so 
möchte  die  Entstehungsweise  der  Congestionen  durch  Con¬ 
traction  der  Venen,  als  eine  höchst  problematische  er¬ 
scheinen. 

7.  Vitale  Attractionskraft  der  einzelnen  Organe.  — 
Das  Blut  kann  vermöge  der  Beziehung,  in  der  es  zu  den 
Organtheilen  steht,  von  diesen  angezogen,  festgehalten 
werden,  und  durch  Steigerung  dieser  Beziehung  ist  das 
Auftreten  der  Congestionen  an  einem  Theile  gegeben. 
f  Stieglitz  ist  durchaus  gegen  diese  Meinung.  Be¬ 
leuchten  wir  daher  zuvörderst  seine  Gründe,  um  dann 
Thatsachen,  welche  für  die  Attraction  sprechen,  anzufüh¬ 
ren.  Stieglitz’s  Gründe  gegen  diese  Meinung  sind: 

a)  Kanäle  worin  Flüssigkeiten  geleitet  würden,  und 
Attraction,  seien  nirgends  zusammen  zu  finden  (a.  a.  O. 
S.  132).  Allein  das  durch  Kanäle  zu  einer  Stelle  gelei¬ 
tete  Blut  kann  doch  von  den  festen  Organtheilen  angezo¬ 
gen  werden.  Werden  doch  zur  Ernährung  einzelne  Theile 
aus  dem  Blute  angezogen,  warum  nicht  das  Blut  als 
solches? 

b)  Die  Bewegung  des  Blutes  gehe  vom  Herzen  aus, 
und  werde  durch  keine  weiteren  Veranstaltungen  nach 
einem  Theile  hin  determinirt  (a.  a.  O.  S.  261  ).  Allein 

Band  28.  Heft  3.  19 


290 


II.  Congostioncn. 

einmal  ist  dieser  Satz  durchaus  nicht  erwiesen,  dann  aber 
braucht  ja  das  Blut  durch  die  Attraction  nicht  nach  eiuein 
I heile  hin  determinirt  zu  werden;  ist  es  aber  an  einen 
Ort  gcstolscn  worden,  dann  kann  es  daselbst  attrahirt, 
festgchalten  werden. 

c)  Die  Atlractioncn  im  Fötus  seien  Mysterien.  Allein 
der  (»rund  der  Bewegung,  der  Grund  der  Attraction  der 
Flüssigkeiten  im  Fötus,  kann  immer  Rö tilge  1  sein,  die  Er- 
scheinuug  aber  ist  cs  nicht;  und  da  das  eigentliche  Raren 
chym  der  Organe  fortwährend  sich  neu  bildet,  wie  die 
T. heile  im  bötus,  so  ist  cs  wahrscheinlich,  dafs  hier 
auch  fortwährend  ein  ähnliches  Vcrhältnils  statt  findet, 
wie  dort. 

d)  Die  Anziehung  sei  unerweisbar  (a.  a.O.  S.107.2G0). 
Diesen  Grund  wollen  wir  im  Folgenden  zu  entkräften  ver¬ 
suchen.  — —  bür  das  Anziehungsvcrmögcn  der  festen  Theile 
scheinen  nämlich  folgende  Umstände  zu  sprechen: 

a)  Ein  Hauptgrund  scheint  der  zu  sciu,  dafs  in  ver¬ 
schiedenen  Lebens-  und  Ent Wickelungsperioden,  desglei¬ 
chen  bei  gewissen  Reizzuständen  einzelner  Organe,  daselbst 
eine  gröfsere  Menge  Blut  sich  vorfindet.  Es  hat  daher 
offenbar  der  Lebenszustand  eines  jeden  Organes  auf  die 
jedesmal  in  ihm  befindliche  Menge  Blutes  einen  entschie¬ 
denen  Einflufs.  Dies  aber  ist  cs,  was  wir  Attractionskraft 
nennen.  Denn  dafs  in  diesen  ballen  das  Verweilen  des 
Blutes  und  die  gröfsere  Menge  desselben  nicht  von  mecha¬ 
nischen  Einflüssen  abhängen  könne,  ist  ja  daraus  deutlich 
zu  sehen,  dafs  der  jedesmalige  Lebenszustand  stets  damit 
gleichen  Schrill  hält,  was  nicht  der  Fall  ist,  wo  offenbar 
mechanische  Bedingungen  die  Blutanhäufung  erzeugten.  So 
sehen  'wir  da,  wo  Druck,  wo  Krampf  Congestionen  unter¬ 
halten,  bei  \  ariccs  o.  s.  w.,  keine  gleichzeitige  Vitalitäts¬ 
erhöhung,  die  bei  (  ongestionen  nach  dem  Uterus  während 
der  Schwangerschaft,  nach  dem  Zahnfleisch  während  der 
Dcntilionapcrinde  u.  s.  w.  nicht  zu  verkennen  ist.  Des¬ 
wegen  schein!  auch  Stieglitz’«  Meinung,  nach  welcher 


291 


II.  (Kongestionen. 

die  durch  Erweiterung  oder  Verengerung  der  Gefafse  er¬ 
zeugte  gröfsere  Blulmcnge  den  Vegetationsprozefs,  als  et¬ 
was  Secundäres,  erhöhe  (a.  a.  O.  S.  266  und  267),  nicht 
annehmbar. 

b)  Umgekehrt  nehmen  Tbeile,  deren  Lebensthätig- 
keit  sich  vermindert,  weniger  Blut  auf;  so  sehen  wir  nach 
gelähmten  Tbeilcn,  nach  den  Genitalien,  nach  den  Brü¬ 
sten,  wenn  sie  ihre  Function  eingestellt,  keine  Congestio- 
nen  entstehen,  obgleich  man  meinen  könnte,  in  den  ge¬ 
schwächten  Tbeilcn  sei  der  Widerstand  gegen  den  Andrang 
des  Blutes  geringer,  und  die  Weiterbeförderung  desselben 
in  den  Venen  werde  vermindert,  wäre  anders  die  gang¬ 
bare  Meinung  von  den  sogenannten  passiven  (Kongestionen 
richtig. 

c)  Das  Blut  bewegt  sich  auch  ohne  Herz  und  ohne 
Cefäfse  im  Fötus,  daher  denn  offenbar  der  allgemeine  Grund 
des  Blutlaufes,  der  im  Verhältnifs  des  Organischen  zum 
Blute  liegt.  (Vergl.  Burdach  a.  a.  O.  §.  759.  708.) 

d)  Das  Blut  fliefst  an  den  Wanden  der  Gefäfse  lang¬ 
samer,  als  in  der  Mitte,  was  vorzüglich  in  deu  kleinsten 
Arterien  bemerkbar  ist;  da  nämlich  wird  der  Einflus  des 
Herzens  schwächer,  und  eine  andere  Kraft  beginnt  zu  wir¬ 
ken.  (Vergl.  Burdach  a.  a.  O.  §.  724.) 

e)  Das  Blut  fliefst  in  den  kleinsten  Gefäfsen  conti- 
nuirend,  und  nicht  mehr  remittirend,  woraus  ebenfalls  er¬ 
sichtlich,  dafs  es  sich  hier  mehr  und  mehr  der  Kraft  des 
Herzens  entzogen  hat,  und  von  einer  anderen  abhäugt. 
(Vergl.  Bur  da  ch  a.  a.  O.  §.  721.) 

f)  Auch  das  Schwanken ,  das  Balanciren  der  Blut¬ 
körner  bei  gehemmtem  freien  Laufe,  scheint  auf  Anziehung 
hinzudeuten.  (Vergl.  Bur  dach  a.  a.  O.  §.  758.) 

g)  Endlich  spricht  auch  die  Analogie  dafür:  Denn 
es  werden  ja  einzelne  Theile  aus  dem  Blute  angezogen, 
indem  das  arterielle  Blut  in  venöses  verwandelt  wird;  — 
dui’ch  poröse  unorganische  Substanzen  bewegen  sich  Flüs¬ 
sigkeiten  von  einem  Fol  zum  andern,  wenn  sie  dem  Ein- 

19  * 


292 


II.  Congcstioncn. 

flusse  der  Elcktricitüt  ausgcsetzt  werden;  —  ähnliche  Bc- 
wegungen  der  Flüssigkeit  bewirkt  die  orgauischc  Substanz 
in  den  Pflanzen. 

Wenn  nun  durch  diese  Betrachtungen  das  Attractions- 
vermögen  der  organischen  Substanz  in  Beziehung  auf  das 
Blut  büchst  wahrscheinlich,  wo  nicht  ewiesen  erscheinen 
möchte,  so  läfst  es  sich  wohl  behaupten,  dafs  die  Entste¬ 
hung  der  Congcstioncn  durch  Altraciion  des  Blutes  mehr, 
als  eine  blofsc  Hypothese  ist.  Ob  nun  dieses  Attractions- 
vermögen  überhaupt  nur  vom  Verhältnis  der  Organthcilc 
zum  Blute  abhänge,  oder  vielleicht  vom  Nervencinflusse, 
welche  Meinung  ich  in  einer  früheren  Abhandlung  (de 
(  ongestionibus,  Jenac  1820)  zu  verheidigen  suchte,  mufs 
bei  der  Schwierigkeit  der  Untersuchung  und  unmittelbaren 
Beobachtung  für  jetzt  wohl  noch  unentschieden  bleiben. 

Sonach  wären  denn  zwei  Arten  von  activen  Conge- 
stionen  anzunehmen,  die  eine,  welche  als  Symptom  ver¬ 
mehrter  Jlerzlhätigkeit  erscheint,  die  andere,  welche  durch 
vermehrte  Attraction,  die  von  den  einzelnen  Organen  auf 
das  Blut  ausgeübt  wird,  entsteht.  Eine  dritte  Art  der 
Congestionen  von  primärer  Erweiterung  der  Capillargcfafse, 
ist  nach  den  bisherigen  Untersuchungen  wohl  noch  nicht 
zulässig  ( vergl.  5.),  würde  aber,  wenn  eine  solche  Erwei¬ 
terung  wirklich  als  primär  sich  auswiese,  als  ciu  mit  der 
Attraction  coincidirendcr  Zustand  gedacht  werden  müssen, 
indem  derselbe  Reiz,  welcher  Cootraction  des  Gewebes 
erzeugte  (denn  nur  auf  diese  Weise  wäre  hierbei  Erweite¬ 
rung  der  Gelafsräume  denkbar),  auch  gleichzeitig  die  At- 
tractionskraft  erhöhen  würde. 


( 


.111.  Haschischa.  2y3 

iii. 

Ueber  die  Haschischa * 1  2)  oder  das  Kraut  der 

Fakire. 

Nach  dem  Arabischen  des  Tokyy  Eddin  Makrizi  2) 

von 

Dr.  v.  Sontheimer, 

Königl.  Württemberg.  General  -  Stabsarzt. 


Hasan,  Sohn  Mohammed’s,  sprieht  sich  in  dem 
Buche,  betitelt:  die  guten  wissenschaftlichen  Vor- 
bedeutungen,  über  das  Lob  der  Haschischa  (Cannabis 
sativa)  folgendermaafsen  aus:  Im  Jahre  der  Hedschira  658 
fragte  ich  den  Scheik  Djafar  Schirazi,  Sohn  Moiiam- 

% 

1)  Diese  Arzneipflanze,  welche  ihren  Ruf  in  der  An¬ 
wendung  auf  den  menschlichen  Körper  vorzüglich  aus  den 
früheren  Zeiten  des  Orients  herleitet,  ist  in  den  Arznei¬ 
mittellehren  entweder  gar  nicht  aufgeführt,  oder  nur  gauz 
kurz  abgefertigt,  so  dafs  man  nur  ihre  betäubende  oder 
narcoiische  Wirkung  kennt.  (S.  Dictionaire  des  Sciences 
medicales,  Tome  IV.  p.  532,  und  Schwartze’s  pharma- 
cologische  Tabellen  Band  II.  AbtheiL  3.  S.  158.)  Ich  hielt 
es  daher  für  kein  ganz  unnützes  Unternehmen,  wenigstens 
in  historischer  Hinsicht,  wenn  ich  das  Geschichtliche  die¬ 
ser  Pflanze,  so  wie  ihre  Wirkungen  auf  den  menschlichen 
Körper  in  Verbindung  mit  ihrer  damals  ziemlich  allgemein 
verbreiteten  Anwendungsart  nach  den  Nachrichten  eines 
der  ausgezeichnetsten  Geschichtsforscher  der  damaligen  Zeit, 
dem  ärztlichen  deutschen  Publikum  vorlegte. 

2)  Dieser  Aufsatz  des  Tokyy  Eddin  Makrizi  ist 
aus  einem  Manuscript,  welches  sich  in  der  Königl.  Biblio¬ 
thek  zu  Paris  vorfindet  und  betitelt  ist:  Historische 
und  topographische  Beschreibung  Aegyptens  und 
Cairo’s,  entnommen,  und  in  der  Chrestomathie  Arabc 
des  Baron  Sylvestre  de  Sacy  im  ersten  Bande  S.  74 
abgedruckt.  Makrizi  wurde  zu  Cairo  im  Jahre  der  Hed¬ 
schira  760  geboren,  und  starb  daselbst  als  ausgezeichneter 
Gelehrter  im  Jahre  845. 


294 


III.  Haschischa. 


mcd’fl  und  Mönchen  des  Ordens  von  Ilaidcr  im  Lande 
Tusser,  nach  der  Gelegenheit  der  Entdeckung  dieses  Arz¬ 
neikörpers,  seines  ausschließlichen  Besitzes  der  Fackirc, 
und  seiner  nacldierigcn  allgemeinen  Verbreitung.  Er  cr- 
theilte  mir  darüber  folgende  Auskunft:  Ilaidcr,  der  Vor¬ 
steher  derScheicke,  unterzog  sich  sehr  den  Uebungcn  und 
dem  Eifer  der  Frömmigkeit,  nahm  wenig  Nahrung  zu  sich, 
und  brachte  es  auf  einen  hohen  Grad  der  Enthaltsamkeit 
von  irdischen  Dingen  und  zu  der  öffentlichen  Anerkennung 
seiner  Frömmigkeit.  Zu  Nisabur,  einer  Stadt  in  Chorasan, 
war  er  geboren.  Seine  Wohnung  lag  auf  einem  Berge 
zwischen  Nisabur  und  Rama.  Auf  diesem  Berge  hatte  er 
ein  Kloster  erbaut,  und  eine  Menge  Fackire  hatte  sich  um 
ihn  versammelt.  Ilaider  war  in  diesem  Kloster  in  einem 
Winkel  abgesondert,  und  verweilte  daselbst  über  zehn 
Jahre,  ohne  dafs  er  je  aus  diesem  Orte  hervorging,  oder 
jemand  anderem  aufser  mir,  der  ich  zu  seiner  Bedienung 
aufgestellt  war,  den  Zutritt  zu  ihm  gestattete.  Eines  Ta¬ 
ges  als  cs  sehr  heifs  war,  und  zur  Zeit  der  gröfsteu  Ilitze, 
ging  der  Scbeik  ganz  allein  auf  das  Feld.  Als  er  vom 
Lande  in  sein  Kloster  zurückgekehrt  war,  war  über  sei¬ 
nem  Antlitz  Freude  und  Heiterkeit  verbreitet,  gauz  im 
Gegeusatze  von  dem,  was  wir  vorher  an  ihm  zu  sehen 

gewohnt  waren.  Er  gestattete  seinen  Mönchen  den  Zutritt 

♦ 

zu  sich,  und  fing  an,  6ich  mit  ihnen  gesellschaftlich  zu 
unterhalten.  Als  vrir  deu  Scbeik  in  diesem  Zustande  von 
Leutseligkeit  sahen,  indem  er  vorher  eine  so  geraume  Zeit 
in  Einsamkeit  und  Abgeschiedenheit  gelebt  hatte,  fragten 
wir  ihn  um  die  Ursache  dieser  Veränderung.  Haider 
entsprach  unserem  Wunsche,  und  sagte:  als  ich  so  in  mei¬ 
ner  Abgeschiedenheit  lebte,  kam  cs  mir  auf  ciunial  in  den 
Sinn,  ganz  allein  auf  das  Land  zu  gehen.  Ich  ging  hin, 
und  fand  alle  Thcile  der  Pflanzen  in  vollkommener  Ruhe. 
Wegen  Mangel  an  Luftbewegung  und  Heftigkeit  der  Hitze 
bewegte  sich  nichts  an  ihnen.  Ich  stieß  auf  eine  mit  Blat¬ 
tern  versehene  Pflanze;  ich  bemerkte,  wie  ßic  sich  in  die- 


111.  llaschischa. 


295 


sem  Zustande  leicht  und  sanft  hin  und  her  bewegte,  gleich 
dem  Taumeln  eines  Betrunkenen.  Ich  entschlofs  mich, 
von  dieser  Pflanze  Blätter  abzupflücken,  uud  sie  zu  essen. 
Darauf  erzeugte  sich  die  Heiterkeit,  von  der  ihr  nun  Au¬ 
genzeugen  seid.  Kommt  mit  mir,  damit  ich  eure  Aufmerk- 
samkeil  auf  diese  Pflanze  leite,  und  ihr  sie  erkennen  lernt. 
Nachdem  er  ausgeredet  hatte,  gingen  wir  auf  das  Feld, 
wo  er  uns  die  Pflanze  vorzeigte.  Als  wir  dieselbe  be¬ 
trachtet  hatten,  erwiederten  wir  ihm,  dafs  man  diese 
Pflanze  Hanf  (Konuah)  nenne.  Er  trug  uns  auf,  vou 
ihren  Blättern  abzupflücken,  und  zu  essen,  was  wir  Hin¬ 
ten.  Darauf  kehrten  wir  in  das  Kloster  zurück,  und  fan¬ 
den  unsere  Herzen  mit  Heiterkeit  und  Freude  erfüllt, 
welche  wir  unmöglich  verbergen  konnten.  Als  der  Scheik 
uns  in  diesem  Zustande  sah,  den  wdr  beschrieben  haben, 
empfahl  er  uns,  die  Eigenschaften  dieser  Pflanze  geheim 
zu  halten.  Er  nahm  uns  den  Eid  ab,  dafs  wir  den  ge¬ 
meinen  Haufen  von  Menschen  nicht  davon  unterrichten, 
dagegeu  den  Fackiren  diese  Eigenschaften  nicht  verhehlen 
sollten.  Er  setzte  hinzu:  der  höchste  Gott  hat  euch  durch 
eine  besondere  Gnade  in  die  Mysterien  der  Blätter  dieser 

Pflanze  eingeweiht,  um  durch  ihren  Genufs  die  eure  Herzen 

*  1 

umstrickenden  Sorgen  zu  verscheuchen.  Durch  ihre  Wir¬ 
kung  werden  eure  Gedanken  sich  lichtvoll  entfalten.  Be¬ 
wahret  das  euch  Anvertraute  mit  Sorgfalt,  und  haltet  das, 
was  man  euch  zu  verwahren  aufgetragen  hat,  tief  in 
euren  Herzen  verborgen.  Der  Scheik  Djafar  fährt  ferner 
fort:  Ich  pflanzte  dieses  Kraut,  als  der  Scheik  Haider 
uns  damit  bekannt  gemacht  hatte,  während  seines  Lebens 
im  Kloster,  und  er  trug  mir  auf,  nach  seinem  Tode  das¬ 
selbe  um  sein  Grab  zu  pflanzen.  Der  Scheik  Haider 
lebte  nach  dieser  Begebenheit  noch  zehn  Jahre.  So  lauge 
ich  in  seinen  Diensten  war,  sah  ich  nicht  einen  Tag  vor¬ 
übergehen,  ohne  dafs  er  von  dieser  Pflanze  als.  Er  trug 
uns  auf,  von  der  llaschischa  zu  essen,  und  wenig  Nah¬ 
rungsmittel  zu  uns  zu  nehmen.  Der  Scheik  Haider 


‘296 


HF.  Haschischa. 


starb  auf  dem  Berge  in  seinem  Kloster  im  Jahre  618. 
Ueber  sein  Grab  wurde  eine  grofsc  Kapelle  erbaut.  Zahl* 
reiche  Wallfahrer  von  dem  Volke  von  Chorasan  gingen 
dahin,  verehrten  sein  Andenken,  besuchten  sein  Grab,  und 
hatten  hohe  Achtung  vor  seinen  Schülern.  Vor  seinem 
Tode  empfahl  er  seinen  Schülern,  dafs  sie  die  Vornehme¬ 
ren,  und  ausgezeichnete  Männer  des  Volkes  von  Chorasan, 
mit  dieser  Pflanze  und  deren  Wirkungen  bekannt  machen 
sollten,  welche  sie  auch  nachher  in  Anwendung  brach¬ 
ten.  Die  Anwendung  der  llaschischa  hörte  nicht  auf  sich 
auszudehnen,  und  erstreckte  sich  in  die  Provinzen  von 
Chorasan  und  Persien.  Die  Völker  von  Irak  (Chaldaca) 
wufsten  nichts  von  ihrem  Genufs,  bis  unter  der  Regie¬ 
rung  von  Mostanscr  Billah  im  Jahre  628  der  Herrscher 
von  Ormus,  und  Mohammed,  Sohn  Mohammed’s, 
Herrscher  von  Bahrein,  welche  beide  ihre  Staaten  an  den 
den  Ländern  Persiens  nahe  gelegenen  Ufern  des  Meeres 
hatten,  dahin  kamen,  die  Leute  ihres  Gefolges  diese  Pflanze 
dahin  brachten,  und  diese  Völker  mit  ihrem  Genufs  be¬ 
kannt  machten.  Die  Haschischa  verbreitete  sich  in  Irak, 
und  ihre  Kunde  gelangte  bis  zu  den  Völkern  von  Syrien, 
Aegypten  und  Rum  (Graecia),  welche  diese  Pflanze  alle 
in  Anwendung  brachten.  In  diesem  Jahre  erschienen  zu 
Bagdad  die  Silbermünzen,  statt  deren  sich  die  Menschen 
früher  bei  ihren  Käufen  roher  Gold-  oder  Silbcrstiicke  be¬ 
dienten.  Der  weise  Mohammed  Jimaschki,  Sohn  Alis, 
Sohn  Aamos,  schreibt  ebenfalls  die  Bekanntmachung  der 
Haschischa  in  seinem  Gedicht  dem  Scheik  Haider  zu: 

«Lasse  den  WTcin,  und  trinke  aus  der  Schale  von 
Haider,  welche  nach  Ambra  riecht,  und  den  grünen 
Schimmer  des  Schmaragds  an  sich  tragt.  Der  Mundschenk, 
welcher  dir  sie  reicht,  ist  zarter,  aU  der  Türke.  Er  schau¬ 
kelt  sich  sanft  auf  einem  Ast,  der  biegsamer  ist,  als  der 
der  Weide.  Wenn  diese  Schale  in  seiner  Hand  in  der 
Runde  hcruingeht,  so  gleicht  sic  einem  zarten  Flaum  auf 
einer  Wange,  deren  Farbe  mit  der  der  Rose  streitet.  \  on 


III.  Ilaschischa. 


297 


dem  leisesten  Zephir  hin  und  her  getrieben,  schaukelt 
die  Ilaschischa  sich  auf  ihrem  Stengel,  wie  ein  von  Wein 
Berauschter.  An  ihren  Aesten  treibt  sich  nach  Sonnen- 
aulgang  das  Blatt  hervor,  und  das  Girren  der  seufzenden 
Tauben  besingt  sie.  In  ihr  ist  Frohsinn,  nichts  Aehnliches 
ist  im  Wein.  Horche  nicht  auf  die  Rede  der  Thoren,  die 
ihren  Gebrauch  verbieten.  Sie  ist  eine  keusche  Jungfrau. 
Das  Wasser,  welches  aus  den  Wolken  kommt,  hat  ihre 
keuschen  Züge  nicht  verdorben.  Weder  Füfse  noch  Hände 
haben  sie  zerquetscht,  um  ihren  Saft  auszuzieben.  Nie 
hat  sie  ein  christlicher  Priester  in  seinen  Becher  gemischt, 
und  die  Gottlosen  nähern  sich  nicht  diesem  ihrem  Gefäfs. 
Es  ist  kein  Gebot  bekannt ,  welches  sie  nach  Malek  ver¬ 
bietet,  keine  Beschränkung  nach  Schafei  und  Ahmed,  und 
No  man  hat  keine  Befleckung  ihrer  Blätter  aufgestellt. 
Nimm  sie  daher  mit  einem  glänzenden  indischen  Messer 
hinweg.  Durch  die  Hascbischa  halte  die  Hand  des  Kum¬ 
mers  und  der  Sorgen  von  dir  ab.  Freue  dich,  und  ver¬ 
schiebe  den  Tag  der  Freude  nicht  auf  morgen. » 

Der  weise  Ahmed  II  a  1  e  b  i,  Sohn  Mohammeds,  Solim 
Zammans,  schreibt  in  seinem  Gedicht  die  Entdeckung  der 
Ilaschischa  ebenfalls  dem  Scheik  Haider  zu: 

« Eine  schlanke  Schönheit  sah  ich  immer  die  Flucht 
ergreifen.  Ein  Zusammentreffen  ohne  wilde  Blicke  von 
ihr  fand  nie  statt.  Eines  Tages  traf  ich  sie  lächelnd  in 
heiterer  Gemüthsstimmung,  und  leutselig  im  Umgänge. 
Als  ich  alles,  was  ich  wünschte,  erfüllt  sah,  bezeugte  ich 
ihr  meinen  Dank  für  die  nach  so  langem  Widerstreben 
günstige  Aufnahme.  Sie  erwiederte  mir:  Danke  es  nicht 
meiner  angeborenen  Zuneigung  zu  dir,  sondern  danke  es 
deinem  Vermittler,  dem  Wein  der  Armen,  dem  Kraut  der 
Bräute,  der  Ilaschischa.  welche  sich  zwischen  uns  zum 
Vermittler  aufgestellt  hat,  so  wie  zwischen  allen  Lieben¬ 
den,  deren  Herz  sie  erweitert.  Wenn  dir  am  Herzen  liegt, 
eine  flüchtige  Gazelle  zu  erjagen,  so  beeifere  dich,  dafs 
sie  das  Kraut  der  Hascbischa  weide.  Dank’  es  der  Gesell- 


298 


111.  Hascluscha. 


scliaft  der  Schüler  von  Haider,  welche  zu  Gunsten  der 
Freunde  des  Vergnügens  diese  heilige  Institution  cingeführt 
haben.  Lasse  die  Feinde  der  Freude,  und  gestatte  mir 
die  hohe  Achtung  vor  den  Menschen,  welche  den  Ge¬ 
brauch  dieser  Pflanze  bekannt  gemacht  haben.  u 

Der  Scheik  Mohammed  Schirezi  Kalen  de  ri  er¬ 
zählte  mir,  dafs  der  Scheik  Haider  während  seines  Le¬ 
bens  nie  die  llaschischa  genossen  habe,  und  dafs  das  ge¬ 
meine  Volk  von  Chorasan  die  Entdeckung  derselben  des¬ 
wegen  ihm  zuschreibt,  weil  seine  Schüler  in  der  Anwen¬ 
dung  derselben  bekannt  waren.  Die  Bekanntmachung  der 
llaschischa,  wie  er  mir  sagte,  fand,  vor  der  Entdeckung 
derselben  von  Haider,  zu  einer  weit  früheren  Zeit  statt. 
Dieses  geshah  in  Indien  durch  einen  Scheik  Namens  Bir- 
aztan,  welcher  der  erste  war,  der  die  Völker  Indiens 
mit  dem  Genüsse  dieser  Pflanze  bekannt  machte,  welche 
früher  von  derselben  keine  Kenutnifs  hatten.  Sie  wurde 
in  den  Ländern  Indiens  so  bekannt,  dafs  ihre  Kunde  nach 
den  Provinzen  von  Jemen  (Arabia  felix)  gelangte.  Von 
da  aus  verbreitete  sie  sich  zu  den  Völkern  Persiens,  dann 
wurde  sic  uuter  den  Völkern  von  Irak,  Kuin,  Syrien  und 
Aegypten  bekannt  in  dem  Jahre,  welches  ich  oben  ange¬ 
führt  habe.  Birazian  lebte  zur  Zeit  Chossrocs,  bis 
zur  Zeit  des  Ifslamismus,  zu  welchem  er  sich  selbst  be¬ 
kannte.  Die  Menschen  dieser  Zeit  brachten  diese  PJlanze 
in  Anwendung.  Ali,  Sohn  Mekkis,  schreibt  ebenfalls  die 
Bekanntmachung  der  llaschischa  den  indischen  Völkern  in 
seinem  Gedicht  zu,  welches  er  mir  mit  lauter  Stimme 
hersagte: 

«  Eutfernc  von  mir  die  Trauer  uiit  ihren  Stacheln, 
welche  eine  unschuldige  Jungfrau,  die  iu  ihrem  grünen 
Kleide  nach  Hause  geführt  wird,  zerstreut.  Geziert  mit 
ihrem  ganzen  Putz  wird  sie  sich  uus  zeigen,  wie  die 
Braut  sich  unverschlcicrt  ihrem  Gemahl  zeigt  in  einem 
Kleide  von  reichem  Seidenstoff,  über  jede  Vergleichung 
der  Bercdtsamkeit  und  Dicbtkuust  erhaben.  Ihre  Schönheit 


III.  Ilaschischa. 


299 


hat  mit  ihrem  Feuer  im  Augenblicke  des  Erscheinens  die 
Blicke  überrascht.  Sie  beschämte  die  Pracht  der  Gärten 
und  der  Blumen.  Der  verborgene  Schatz  der  Reize  die¬ 
ser  Braut  erfüllt  die  Seele  mit  süfsem  Entzücken,  und 
wenn  sie  sich  des  Nachts  nähert,  so  entzückt  sie  des  Mor¬ 
gens  alle  Sinne.  Den  Geschmack  hat  sie  vom  strahlenden 
Honig,  und  den  Geruch  vom  durchdringenden  Moschus. 
Ihre  ausgezeichnete  Farbe  hat  eine  außerordentliche  Lieb¬ 
lichkeit,  und  man  wendet  sich  bei  ihrem  Anblick  von  al¬ 
len  übrigen  Blumen  hinweg.  Ihre  Farbe  ist  zusammenge¬ 
setzt  aus  Dunkelroth  und  VVeifs,  und  sie  wendet  sich  mit 
Stolz  von  den  kostbarsten  Blumen  hinweg.  Die  Röthe 
ihrer  Farbe  verdunkelt  das  Licht  der  Sonne,  und  der  Voll¬ 
mond  wird  durch  ihre  Weifse  beschämt.  Durch  ihre  Schön¬ 
heit  zum  ersten  Rang  erhoben,  ist  sie  der  Schmaragd  der 
Garten,  den  die  Wolken  mit  ihrem  reichlichen  Gewässer 
bewässert  haben.  Von  dem  Augenblicke  ihres  Erschei¬ 
nens  hat  sie  die  Leidenschaft  heftiger  Liehe  eingeflölst. 
Bei  ihrer  Annäherung  sind  die  Schaaren  von  Sorgen,  die 
meinen  Geist  fesselten,  eilig  verschwunden.  Schön  an  Ei¬ 
genschaften,  ausgezeichnet  an  Rang,  übertrifft  sie  all  mein 
Bemühen  zu  ihrem  Lohe.  Komm  denn,  und  eile,  die 
Schaar  der  Sorgen  zu  verscheuchen.  Halte  die  Hand  der 
Sorgen  durch  diese  indische  Pflanze  ab,  die  schärfer  ist, 
als  Schwert  und  Lanze.  Nach  dem  Ursprünge  ihrer  Er¬ 
scheinung  und  ihres  Genusses  von  den  Menschen,  gehört 
sie  Indien  an.  Nicht  indischen  Ursprungs  ist  die  Farbe, 
wie  Indiens  schwarze  Lanzen.  Durch  ihren  Genufs  wei¬ 
chen  die  brennenden  Sorgen  von  uns.  Sie  verbreitet  in 
unseren  Seelen  Freuden,  die  sich  auf  unserem  Antlitz  ver¬ 
künden.  » 

Was  mich  betrifft,  sagte  der  nämliche  Gelehrte,  so 
behaupte  ich,  dafs  die  Ilaschischa,  welche  ins  hohe  Alter- 
thurn  hinaufreicht,  schon  seit  der  Erschaffung  der  Welt 
bekannt  war.  Den  Beweis  dazu  liefern  die  Aerzte,  wie 
Ilippoc  rates  und  Galen us,  welche  diese  Pflanze  in 


300 


1(1.  Haschischa. 


ihren  Werken  überliefert  haben,  in  welchen  von  der  Natur 
derselben,  von  den  Eigenschaften,  dem  Nutzen  und  Nach¬ 
theil  die  Rede  ist  1 ).  Ihn  Djezla  sagt  in  dein  Werk, 
betitelt  «  Monhadji  albcyan”:  Die  Konnab  ist  das  Blatt 
des  Hanfs.  Es  giebt  einen  in  Gärten  gebauten,  und  einen 
wilden.  Der  in  Gärten  gebaute  ist  besser,  welcher  hitzig¬ 
trocken  im  dritten  Grade  ist.  Einige  nennen  ihn  im  er¬ 
sten  Grade  hitzig,  andere  kalt- trocken  im  ersten  Grade. 
Der  wilde  aber  ist  hitzig -trocken  im  vierten  Grade.  Man 
nennt  diese  Pflanze  auch  Reff,  wie  man  aus  dem  Gedicht 
des  Tokyy  Eddin  Mausili  ersehen  kann:  «Halte  ab 
die  Hand  der  Sorgen  durch  die  KcfT,  denn  die  KeiT  ist  das 
Heilmittel  der  von  grausamen  Sorgen  geplagten  Liebenden. 
Halte  sie  ab  durch  die  Tochter  der  Kon  na  bis,  nicht  durch 
die  Tochter  des  Weinstocks,  sondern  fliehe  vor  der  Toch¬ 
ter  des  Weinstocks. » 

Er  bat  mir  ferner  gesagt,  dafs  die  Fakire  bei  der  An¬ 
wendung  der  Haschischa  die  Absicht  zu  erreichen  glauben, 
aufserdem  dafs  sie  an  ihr  Vergnügen  finden,  die  Saamen- 
feuchtigkcit  zu  verlrockncn,  und  durch  die  Verminderung 
derselben  den  Reiz  zum  Beischlaf  abzuschnciden,  damit 
ihre  Neigungen  nicht  zu  dem  sollicitirt  werden,  was  sie 
zu  fleischlichen  Vergeben  anreizt.  Nach  den  Behauptun¬ 
gen  einiger  Acrzte  mufs  derjenige,  welcher  die  Saamen 
oder  das  Blatt  dieser  Pflanze  geniefst,  sie  mit  Mandeln, 
Pistazien,  Zucker,  Honig  oder  Mohn  geniefsen,  und  dar¬ 
auf  Sauerhonig  triuken,  um  ihre  nachtheiligen  Wirkungen 
abzuwenden.  Wenn  die  Pflanze  geröstet  wird,  ist  sic  we¬ 
niger  nachtheilig;  daher  ist  es  allgemeine  Sitte,  dafs  man 


1)  Ibn  Djezla  Ali  ta teb,  Sohn  Isa’s,  starb  zu  Bagdad 
im  Jahre  493.  Er  schrieb  dieses  Werk,  welches  in  der  Kö- 
nigl.  Bibliothek  zu  Paris  sich  als  Manuscript  vorfindet  und 
betitelt  ist:  «  deutliche  Anweisung  zur  Anwendung  der 
einfachen  und  zusammengesetzten  Arzneimittel, »  nach  al¬ 
phabetischer  Ordnung. 


III.  Haschischa. 


301 


sic  vor  dem  Genüsse  röstet.  Wenn  sie,  ohne  vorher  ge¬ 
röstet  worden  zu  sein,  genossen  wird,  bringt  sie  grofse 
Nachtheile  hervor.  Die  Constitutionen  der  Menschen  äufsern 
sich  auf  ihren  Genufs  sehr  verschieden.  Es  giebt  Leute, 
die  sie  mit  anderen  Dingen  vermischt  nicht  geniefsen  kön¬ 
nen,  und  wieder  andere,  die  sie  rnit  Zucker,  Honig  oder 
anderen  Süfsigkeiten  vermischen.  Ich  las  in  einem  Werke 
von  Galen,  worin  er  sagt,  dafs  sie  die  Unverdaulichkeit 
heile,  und  der  Verdauung  sehr  dienlich  sei.  Ihn  Djezla 
erwähnt  in  seinem  Werke  «  Monhadzi  etc.»,  dafs  die  Saa- 
men  der  Gartenkouuab  die  wirklichen  Haufsaamen  seien, 
und  dafs  ihre  Fructification  der  der  Somna  gleiche,  aus 
deren  Saamen  man  Oei  prefst.  Honain  ßen  Isak  fuhrt 
an,  dafs  die  wilde  Konnab  an  einsamen  und  verödeten 
Oertern  die  Höhe  einer  Elle  erreiche,  und  dafs  ihr  Blatt 
sehr  ins  Weifse  schlage.  Jahya,  Sohn  Masawaih’s, 
sagt  in  seiner  Abhandlung  über  das  Regim  der  Körper  im 
gesunden  Zustande,  dafs  derjenige,  in  dessen  Körper  das 
Phlegma  vorherrscht,  erhitzende  und  trocknende  Nahrungs¬ 
mittel  wählen  soll,  wie  getrocknete  Trauben  und  Hanf- 
saamen.  Der  Verfasser  des  Werkes  von  der  Anwendung 
der  Arzneimittel  sagt,  dafs  die  Hanfsaamen  eine  diureti- 
sche  Wirkung  besitzen,  sehwer  verdaulich,  von  böser  Na¬ 
tur,  und  dem  Magen  schädlich  seien.  Ferner  sagt  er:  Ich 
habe  rie  zur  Reinigung  des  Schmutzes  der  Hände  ein  bes¬ 
seres  Mittel  gefunden,  als  die  Haschischa,  wenn  sie  mit 
derselben  abgewaschen  werden.  Unter  den  Eigenschaften 
dieser  Pflanze  nahm  ich  auch  diese  wahr,  dafs  sehr  viele 
der  giftigen  Thiere,  wie  Schlangen  und  ähnliche,  wenn 
sie  die  Ausdünstung  der  Haschischa  riechen,  fliehen.  Auch 
habe  ich  Menschen  gesehen,  welche,  wenn  sie  nach  ihrem 
Genüsse  die  Wirkungen  derselben  empfinden  und  sich 
von  denselben  befreien  wollen,  etwas  Olivenöl  in  ihre 
Nasenöffnungen  träufeln,  oder  geronnene  Milch  zu  sich  neh¬ 
men,  wodurch  die  Kraft  der  Wirkung  dieser  Pflanze  ge- 


302 


III.  Ilaschischa. 


schwächt  wird.  Das  Schwimmen  in  einem  fliclsendcn 
Wasser  schwächt  ebenfalls  ihre  Wirkung,  so  wie  auch  der 
Schlaf  dieselbe  hemmt. 

Der  Verfasser  dieses  Werkes  sagt  aber  selbst:  Ver¬ 
lasse  die  Pfade  der  Masse  der  Menschen,  auf  welchen  6ic 
sich  verirren;  da  sie  ihre  Naturen  durch  diese  Pflanze  zer¬ 
stören.  Der  Cbadi  und  Reis  Tadji-eddin  Ismail  Mah- 
zumi,  Sohn  von  Abdalwahkal,  Sohn  von  Chat  ha, 
hat  mir  erzählt  von  seiner  Geisteskrankheit,  von  Reis 
Ala-eddin,  Sohn  desNefis,  gehört  zu  haben,  dafs  man 
ihn  über  die  Ilaschischa  um  Rath  gefragt  habe,  und  dafs 
er  folgende  Auskunft  ertheilt  habe:  Ich  habe  mit  der  Ila¬ 
schischa  Versuche  augestellt,  nnd  gefunden,  dafs  sich  auf 
ihren  Genufs  schlechte  und  niedrige  Neigungen  ererben. 
Wir  haben  unsere  ganze  Lebensdauer  hindurch  die  Men¬ 
schen  beobachtet,  welche  sich  den  Genufs  der  Ilaschischa 
angeeignet  haben,  und  die  Erfahrung  gemacht,  dafs  sie  in 
ihren  geistigen  Anlagen  so  tief  herabsanken,  dafs  fast  gar 
nichts  inehr  von  Menschlichkeit  an  ihnen  übrig  blieb  *). 
Ihn  Reitar  in  seinem  Werke  über  die  einfachen  Arznei¬ 
mittel  sagt:  Von  der  Ilaschischa  giebt  cs  noch  eine  dritte 
Art,  welche  uutcr  dem  Namen  indischer  Konnab  bekannt 
ist.  Ich  habe  sie  nirgends,  aufscr  in  Aegypten,  getroffen. 
Sic  wird  in  den  Gärten  gebaut,  und  heilst  ebenfalls  Ila¬ 
schischa.  Sie  wirkt  sehr  berauschend.  Die  Dosis,  in  wel¬ 
cher  die  Menschen  sie  zu  sich  nehmen,  ist  I  bis  2  Drach¬ 
men.  Wenn  aber  jemand  eine  stärkere  Dosis  zu  sich 
nimmt,  so  verfällt  er  in  heftige  Ermattung  mit  Delirien. 
Personen,  welche  dieselbe  beständig  zu  sich  nahmen,  ha¬ 
ben  an  ihren  geistigen  Fähigkeiten  bedeutende  Nachtheile 
erlitten;  indem  sie  iu  einen  Zustand  vvn  Manie  verfielen, 


1)  Dieses  "V  ferk  von  Ihn  Boitar,  welcher  im  12tcn 
bis  13tcn  Jahrhundert  lebte,  befindet  sich  in  der  Biblio¬ 
thek  de  rEscurial,  aus  welcher  nur  wenig  bekannt  ist. 
(S.  Biographie  medieale  Tom.  I.  p.  89.) 


III.  Haschischa. 


303 


der  hier  und  da  mit  dem  Tode  endigte.  Ich  sah  die  Fa¬ 
kire  sie  auf  verschiedene  Art  anweuden.  Einige  davon 
lassen  die  Blätter  der  Haschischa  stark  einsieden,  und  kne¬ 
ten  mit  der  Hand  die  Masse  so  lange,  bis  ein  Teig  daraus 
entsteht,  aus  welchem  sie  nachher  Kügelchen  machen.  An¬ 
dere  lassen  die  Blätter  ein  wenig  trocknen.  Nach  dem 
Trocknen  dörren  sie  dieselben,  zerreiben  sie  mit  der 
Hand,  und  vermischen  sie  mit  Scsamkörnern  (Sesamuni 
indicum,  Forsk. ),  deren  Schaale  weggenommen  wird, 
und  mit  Zucker.  Darauf  essen  sie  dieselbe  trocken,  und 
kauen  sie  lange  im  Munde.  Bald  nach  diesem  Genüsse 
hüpfen  sie  mit  Leichtigkeit  umher,  und  äufsern  grolses 
Vergnügen.  Wenn  die  Haschischa  die  Fakire  berauscht, 
so  verfallen  sie  in  einen  Zustand  von  Manie,  oder  in  einen 
der  Manie  nahen  Zustand.  Diese  Wirkung  der  Haschischa 
habe  ich  selbst  mit  angesehen.  Wenn  man  wegen  der 
Wirkung  ihres  übermäfsigen  Genusses  in  Sorgen  ist,  so 
schreite  man  schnell  zu  einem  Brechmittel  aus  Fett  und 
lauem  Wasser  bestehend,  so  dafs  der  Magen  sie  entleert 
und  gereinigt  wird,  hernach  zu  säuerlichen  Getränken, 
welche  in  diesem  Falle  äufserst  nützlich  sind.  Fasse  das 
Wort  eines  Weisen  über  diese  Pflanze  ins  Auge,  und  hüte 
dich  durch  den  Gebrauch  derselben  vor  Verderbnifs  deines 
Körpers  und  vor  der  Zerstörung  deiner  geistigen  Anlagen. 
Ich  habe  auch  die  Zeit  gesehen ,  in  welcher  nur  Leute 
von  der  niedrigsten  Volksklasse  dieselbe  zu  sich  nahmen, 
und  aufserdem  es  übel  deuteten,  wenn  man  sie  Ilaschischa- 
esser  nannte.  So  sehr  war  der  Genufs  der  Haschischa 
eine  Schande.  Der  Emir  Sudun  Scheikuni  verwüstete 
den  Ort,  wo  diese  Pflanze  wuchs,  welcher  unter  dem  Na- 
meu  Djoneina  in  dem  Landstriche  Thibbalc  und  Baballuk 
und  in  dem  Bezirk  Masil  bei  Bulak  bekannt  war.  Er  zer¬ 
störte  alles,  was  sich  vou  dieser  verwünschten  Pflanze  an 
diesem  Orte  vorfand.  Er  liefs  alle  Leute  von  der  niedrig¬ 
sten  und  verworfensten  Volksklassc,  welche  diese  Pflanze 
zu  sich  nahmen,  gefänglich  einsetzen,  und  strafte  sie,  wenn 


304 


III.  Haschischa. 


sic  solche  wirklich  genossen  hatten,  dadurch,  dafs  er  ihneu 
die  Zähne  nusreiCscn  liefs.  Viele  Menschen  vom  gemeinen 
Volke  erstanden  wirklich  diese  Strafe.  Ungefähr  im  Jahre 
7S0  und  darüber,  wurde  diese  böse  Pflanze  unter  den  Ab¬ 
fall  gezählt,  bis  der  Sultan  von  Bagdad,  Ahmed,  Sohu 
Oweis,  vor  Tammcrlan’s  Waffen  nach  Cairo  floh.  Im 
Jahre  795  sah  man  diejenigen,  welche  den  Sultan  beglei¬ 
tet  hatten,  öffentlichen  Gebrauch  von  der  Ilaschischa  ma¬ 
chen.  Die  Leute  von  Cairo  verabscheuten  die  Leute  des 
Gefolges  des  Sultans,  erkannten  den  Genuis  der  Ilaschischa 
als  einen  schimpflichen,  und  machten  denselben  die  gröfs- 
ten  Vorwürfe.  Als  der  Sultan  von  Cairo  wieder  nach 
Bagdad  zog,  verlicfs  er  zum  zweiteumale  diese  Stadt,  und 
verweilte  geraume  Zeit  in  Damask.  Die  Leute  seines  Ge¬ 
folges  machten  das  Volk  von  Damask  mit  der  Ilaschischa 
bekannt.  Um  diese  Zeit  kam  ein  Mann  von  der  Sekte 
Mohaled’s  in  Persien  nach  Cairo,  welcher  die  Haschischa 
mit  Honig  zubereitete,  und  ihr  eine  Menge  trockener  Sub- 
stanzen,  wie  die  Wurzel  der  Mandragora  und  ähnliche 
Körper  beifügte,  welche  Zusammensetzung  er  Okdas  (Bo¬ 
lus)  nannte,  und  sie  heimlich  verkaufte.  Durch  ciue 
Reihe  von  Jahren  verbreitete  sich  der  Gcnufs  dieser  Pflanze 
unter  einer  Menge  von  Menschen.  Im  Jahre  815  aber 
wurde  diese  verwünschte  Pflanze  öffentlich  verbreitet,  ihr 
Genufs  bekannt,  ihr  Wesen  offenkundig,  uud  die  Schande, 
von  ihr  zu  sprechen,  aufgehoben,  so  dafs  wenig  fehlte, 
dafs  sich  die  gebildeteren  Leute  damit  Geschenke  mach¬ 
ten.  AuS  diesem  Grunde  siegte  die  Niedrigkeit  der  Em¬ 
pfindungen  über  die  geistigen  Anlagen,  und  der  Schleier 
der  Schamhaftigkeit  und  der  Sittlichkeit  wurde  unter  den 
Menschen  gelüftet.  Sic  führten  die  schamlosesten  Rcdeu 
hei  ihren  Gesprächen,  und  rühmten  sich  sogar  ihrer  La¬ 
ster.  Sic  wichen  vor  allen  Tugendhaften  und  Edeln  zu¬ 
rück,  und  alles  Lasterhafte  und  Niedrige  iu  ihrer  Natur 
trat  offen  hervor.  Aufscr  der  Gestalt,  blieb  ihnen  nichts 
Menschliches  mehr  übrig,  uud  wäre  ihnen  nicht  noch  die 

Schön- 


/ 


IV.  St.  Ludwigs- Hospital.  305 

Schönheit  der  menschlichen  Figur  gehliehen,  so  würde 
man  sie  für  Thiere  gehalten  haben.  — 


LV. 

Kurze  Notiz 

über  das  St.  Ludwigs -Hospital  zu  Paris. 

»  .  •  ** 

Von 

Karl  Martins, 

Interne  daselbst. 


Die  Hospitäler,  welche  Für  specielle  Krankheiten  be¬ 
stimmt  sind,  haben  von  jeher  die  besondere  Aufmerksam¬ 
keit  des  reisenden  Arztes  auf  sich  gezogen;  in  dieser  Hin¬ 
sicht  ist  das  Ludwig’s- Hospital  dem  Fremden  eines  der 
wichtigsten  in  Paris,  von  deutschen  Aerzten  wird  es  be¬ 
sonders  fleifsig  besucht.  Eine  kurze  Notiz  über  das  Ge¬ 
bäude  selbst,  das  Personal  der  Aerzte,  und  einige  statisti¬ 
sche  Resultate,  für  deren  Genauigkeit  ich  bürgen  kann, 
werden  vielleicht  den  Lesern  dieser  Annalen  nicht  unwill¬ 
kommen  sein. 

Das  Ludwig’s -Hospital  liegt  am  nördlichen  Ende  der 
Stadt,  von  der  es  durch  den  Canal  St.  Martin  getrennt  ist. 
Es  wurde  auf  Befehl  Heinrich’ s  des  Vierten,  und  nach 
den  Entwürfen  von  Claude  Chastillon  erbaut.  Im 
Juli  1607  wurde  der  Grundstein  gelegt.  Das  Central -Ge¬ 
bäude  bildet  ein  grofses  Viereck,  welches  einen  Garten  für 
die  Kranken  umschliefst.  Dieses  Gebäude  hat  nur  ein 
Stock,  und  bildet  eigentlich  einen  einzigen  grofsen  Saal, 
der  ringsherum  geht,  aber  doch  verschiedene  geschlossene 
Abtheilungeu  bildet.  Die  erste  ist  die  chirurgische;  sie 

Band  28.  Heft  3.  20 

/  .  $•  i 


306 


IV.  St.  Ludwigs- Hospital« 

besteht  in  allem  aus  186  Betten,  davon  141  für  Männer, 
und  45  für  Weiber  bestimmt  sind.  Die  Herren  Kicbc- 
rand  und  Jobert  haben  gemeinschaftlich  112  Kranke  zu 
besorgen;  Herr  Gerdy  74.  Alle  möglichen  chirurgischen 
Fälle  linden  sieb  hier  zusammen,  und  man  siebt  besonders 
sehr  viele  Fracturcu,  Luxationen  u.  s.  w..  weil  das  Spital 
in  einer  volkreichen  Vorstadt,  weit  entfernt  von  allen  an¬ 
deren  liegt.  Zwei  Weibersäle  sind  Herrn  Manry  unter¬ 
geordnet;  sie  enthalten  76  Betten,  und  sind  aasschliei'slich 
für  Weiber  bestimmt,  welche  an  chronischen  liebeln,  Scro- 
pbclu,  Hautkrankheiten,  Syphilis  u.  s.  w.  leiden.  Herr 
Lugol  bat  zwei  Säle,  in  denen  82  Betten  stehen,  die 
für  Scrophulüsc  männlichen  Geschlechts  eingerichtet  sind. 
Diese  Säle  nehmen  das  erste  Stock  des  Gebäudes  ein; 
sie  sind  alle  sehr  hoch,  sehr  luftig,  und  hell.  Unter  ihnen, 
au  rez  de  chausscc,  sind  theils  die  Bade-  uud  Dampfan¬ 
stalten,  thcils  die  Säle  von  Herrn  Erucry,  welche  gröfs- 
tentheils  von  Krätzigen  besetzt  sind.  104  Betten  sind  den 
Männern,  81  den  Weihern  bestimmt.  Alle  diese  Abthei¬ 
lungen  befinden  sich  in  dem  viereckigen  Centralgebäude, 
das  wir  beschrieben  haben,  einbegriffen.  Am  nordöstlichen 
Winkel  des  Hospitals  liegt  der  Pavillon  St.  Matlhicu,  wel¬ 
cher  112  Betten  enthält,  die  nur  Für  chronische  Haut¬ 
krankheiten,  und  zwar  nur  für  Männer  bestimmt  sind; 
Dr.  Biett  ist  hier  Arzt.  In  dem  kleinen  Gebäude  sind 
vier  Badewannen  mit  einem  eigenen  Wasserbehälter,  und 
eine  Küche.  Die  Kranken  haben  einen  eigcucn  Garten. 
Am  entgegengesetzten  Winkel  liegt  der  Pavillon  de  la  Lin¬ 
gerie,  woriu  24  Betten  sind,  welche  zur  Abtheilung  des 
Dr.  Gerdy  gehören,  uud  für  schwangere  Weiber  aufbe¬ 
wahrt  werden;  diese  werden  nur  cUva  24  Stunden  vor 
der  Niederkunft  zugelassen,  und  es  geht  kein  Tag  vorbei, 
wo  nicht  eine  oder  selbst  mehre  Entbindungen  statt  ha¬ 
ben.  Fremde  können  nicht  gegenwärtig  sein.  Der  west¬ 
lichen  Fa 9a de  des  Vierecks  gegenüber  liegt  der  Pavillon 
Gabrielle,  wo  65  Weiber,  welche  an  Hautkrankheiten  lei- 


I 


IV.  St.  Ludwigs- Hospital.  307 

(len,  von  Alibert  behandelt  werden.  Die  Zahl  der  Bet¬ 
ten  im  ganzen  Spital  beträgt  in  allem  tOG.  Die  Säle  sind 
fast  alle  in  der  Mitte  gedielt,  und  haben  Bretterböden  auf 
der  Seite;  sie  werden  alle  Tage  gehöhnt  (cires).  Die  Bett¬ 
stellen  sind  von  Eisen,  mit  weifscn  Gardinen  umgeben. 

Noch  mehre  Gebäude  stehen  um  das  Ceutralhaus;  sie 
dienen  zur  Wohnung  der  Beamten,  der  Internes  und  der 
Augustinerschwestern,  welche  die  Kranken  abwarten.  Sie 
enthalten  aufserdem  eine  schöne  Apotheke,  geräumige  Kü¬ 
chen,  und  eine  eigene  Gasanstalt  (Gazometre),  die  erste, 
welche  in  Paris  erbaut  wurde,  und  nur  zur  Beleuchtung 
des  Hospitals  dient.  Im  gleichen  Bezirk  liegt  noch  eine 
Kirche,  mehre  Werkstätten  (für  Tischler,  Schlosser  u.  s.  w.), 
ein  Sectionssaal,  der  ein  eigenes  Gebäude  ausmacht,  und 
grofse  Gemüsegärten. 

Jeder  Arzt  macht  eine  Visite  Morgens;  in  der  übri¬ 
gen  Zeit  sind  die  Kranken  der  Sorge  der  Internes  über¬ 
lassen,  es  giebt  deren  9,  welche  immer  2  oder  3  Gehül- 
fen  unter  sich  haben.  Zu  diesen  Stellen  gelangt  man,  wie 
in  allen  Pariser  Spitälern,  durch  öffentliche  Prüfungen  (Con¬ 
cours).  Fremde  können  sich  auch  melden. 

Im  Jahre  1833  wurden  im  Hospital  5539  Kranke  auf¬ 
genommen;  nämlich: 

Acute  Krankheiten  .  ...  418. 


Chirurgische  Fälle  .  .  •  1069. 

Krätzige  . 1817. 

Hautkranke  . 717. 

Rheumatische  Kranke  .  .  242. 

Scrophulöse .  230. 


Im  Ganzen  hat  das  Hospital  nur  72  hölzerne  Bade¬ 
wannen  und  15  Fumigatiouskasten;  diese  Zahl  ist  hinrei¬ 
chend  für  die  ungeheure  Menge  Bäder,  welche  sowohl 
den  Kranken  des  Spitales,  als  Auswärtigen  jährlich  gege¬ 
ben  werden.  Die  Kranken,  des  Hauses  nehmen  meistens 
die  Bäder  Nachts,  die  Auswärtigen  am  Tage.  Die  letz¬ 
ten  melden  sich  bei  dem  Arzte,  welcher  täglich  ciue  Con- 

20  * 


\ 


308 


IV.  St.  Ludwig  s  -  Hospital. 


sultation  hält,  uud  empfangen  einen  Zettel  für  6  Bäder; 
es  sind  meistens  solche,  die  mit  leichten  Ilautausschlägcn 
oder  rheumatischen  Schmerzen  befallen  sind.  Die  Bäder 
sind:  einfache  (nur  im  Sommer  für  auswärtige  Kranke), 
alkalinischc,  Schwefelbäder,  und  manchmal  Sublimat  oder 
Jodine  enthaltende.  Die  Fumigationen  bestehen  aus  aro- 
matischcu,  Weingeist-  und  Zinnober- Käucberungcu.  Zwei 
Kammern  sind  auch  für  Dampfbäder  und  Douckes  de  va- 
peur  eingerichtet. 

Hier  eine  Tabelle,  welche  die  Ucbcrsicht  der  im 
Jahre  1832  gegebenen  Bäder,  Räucherungen  und  Douchen 
angiebt: 

Den  Kranken  des  Hauses  (Interieur). 


Fumigationen 


Bäder 


rzbäder  (Do 
cbes)  .  .  , 

Den  auswärtigen  Kranken  (cxtericur). 


309 


V.  Phrenologie. 


•  -  V. 

George  Combe's  System  der  Phrenologie. 
Aus  dem  Englischen,  übersetzt  von  Dr.  S.  Ed. 
Hirschfeld.  Mit  neun  lithographirten  Tafeln. 
Braunschweig,  bei  Fnedr.  Yieweg  und  Sohn.  1833» 
8.  XXIV  und  498  S.  (3  Thlr.  12  Gr.) 

(Schlufs.) 

Der  Verf.  beginnt  mit  dem  Geschlechtstriebe, 
den  er  in  einer  rein  sittlich  gehaltenen  Darstellung  nicht 
als  thierischen  Instinkt  der  Begattung,  sondern  als  die 
starke  Zuneigung  beider  Geschlechter  zu  einander  bezeich¬ 
net.  Der  Irrthum  einiger,  welche  diesen  Trieb  als  bei¬ 
nahe  gleichbedeutend  mit  Befleckung  ansahen,  entstand 
daraus,  dafs  man  die  Aufmerksamkeit  zu  sehr  auf  seinen 
Mifsbrauch  richtete,  dem  er,  wie  jede  weise  Natureinrich¬ 
tung,  unterworfen  ist.  In  dem  ruhigen  und  unzudringli¬ 
chen  Wirken  dieses  Triebes  liegt  selbst  für  die  zarteste 
Empfindlichkeit  nichts  nur  im  Geringsten  Grobes  und  Be¬ 
leidigendes;  er  mildert  alle  stolzen,  reizbaren  und  unge¬ 
selligen  Grundlagen  unserer  Natur  bei  jeder  Sache,  welche 
das  andere  Geschlecht  betrifft,  und  vermehrt  die  Thäfig- 
keit  aller  freundlichen  und  wohlwollenden  Erregungen. 
Der  Mann  ist,  im  Allgemeinen  genommen,  grofsmüthiger 
und  liebreicher  gegen  Frauen,  als  gegen  Männer,  oder  als 
Frauen  untereinander.  Hierdurch  läfst  sich  beweisen,  dafs 
der  Geschlechtstrieb  nicht  durch  Wohlwollen  oder  Anhäng¬ 
lichkeitstrieb  überhaupt  entsteht,  denn  in  diesem  Falle 
würde  kein  Unterschied  in  dem  Verkehre  der  Individuen 
jedes  einzelnen  Geschlechtes  untereinander  statt  finden. 
Gedachtes  Vermögen  begeistert  den  Dichter  in  seinen  Schil¬ 
derungen  der  Leidenschaft  der  Liebe. 

An  dem  Triebe  der  Kinderliebe  erläutert  der 
Verf.  vortrefflich,  dafs  derselbe,  wie  alle  übrigen  Triebe, 


i 


310 


Y.  Phrenologie. 

nicht  ans  »lein  Nachdenken  hervorgeht.  Der  Verstand  ver¬ 
folgt  nur  Ursachen  und  Wirkungen,  und  entscheidet  nach 
e^uer  Vergleichung  der  Umstände.  Die  Mutter,  wenn  sic 
mit  unaussprechlicher  Freude  ihren  Säugling  anlächelt,  ar- 
gumentirt  sich  nicht  in  dies  sceligc  Gefühl  hinein.  Die 
Erregung  geschieht  urplötzlich;  der  Gegenstand  braucht 
sich  nur  darzubieten,  und  die  ganze  Macht  der  elterlichen 
Liebe  bewegt  ihr  Gemiith.  Auch  ist  die  Kinderliebe  ein 
ursprünglicher  Trieb,  denn  sic  steht  in  keinem  bleibenden 
Verhältnis  zu  irgend  einem  anderen  Gefühle  oder  Ver¬ 
mögen  des  Geistes.  Hinge  sie  vom  Wohlwollen  ab,  so 
dürfte  kein  Selbstsüchtler  stark  an  seine  Nachkommen¬ 
schaft  gefesselt  sein,  und  doch  ist  dies  häufig  der  Fall. 
Wäre  sie  eine  Modification  der  blofsen  Eigenliebe,  wie 
einige  vermuthet  haben,  so  nniCste  elterliche  Zuneigung 
im  Verhältnis  schwach  sein,  wie  Allgcmeingeist  vor¬ 
herrscht;  aber  auch  diese  Theorie  ist  durch  die  Erfahrung 
widerlegt.  Eben  so  wenig  finden  wir,  dafs  die  Liebe  zur 
Nachkommenschaft  in  einem  bestimmten  Verhältnifs  zu  den 
intellektuellen  Fähigkeiten  steht.  Das  durch  dieses  Ver¬ 
mögen  erzeugte  Gefühl  ist  so  mächtig,  dafs  kaum  ein  an¬ 
deres  leichter  dem  Mifsbrauchc  unterworfen  ist.  Wirkt  es 
zu  kräftig,  und  ist  dabei  nicht  durch  das  Urthcil  geregelt, 
so  führt  cs  zur  Verbitterung  und  Verziehung  der  Kinder, 
zu  unvernünftigen  Besorgnissen  wegen  derselben,  und  zu 
dem  übertriebensten  Dünkel  hinsichtlich  ihrer  eingebilde¬ 
ten  Vortrefflichkciten.  Mangel  an  jenem  Gefühl  läfst  die 
Kinder  als  eine  schwere  Bürde  betrachten,  welche  der 
Sorge  von  Miethlingen  preifsgegeben ,  jeder  Gefahr  ihres 
zarten  Alters  ausgesetzt  werden.  Dieser  Mangel  ist  es  vor¬ 
nehmlich,  aus  welchem  Mütter  unter  unglücklichen  Um¬ 
ständen  zum  Kindcrmorde  sich  verleiten  lassen,  denn  ein 
starkes  Gefühl  für  ihre  Leibesfrucht  würde  sie  siegreich 
über  jede  Versuchung  erheben.  —  Diese  Bemerkungen 
mögen  als  Frohe  einer  Menge  anderer,  eben  so  vortreff¬ 
licher,  gelten. 


311 


V.  Phrenologie. 

Den  nächstfolgenden  Trieb  bestimmte  Spur  z  heim 
als  Vaterlandsliebe,  welche  bekanntlich  bei  den  Schwei¬ 
zern  und  den  meisten  Bergvölkern  stark  entwickelt  ist. 
Combe  giebt  ihm  dagegen  eine  allgemeinere  Bedeutung, 
in  sofern  derselbe  als  Einheitstrieb  das  Vermögen  der  Seele 
bezeichnen  soll,  in  irgend  einer  Richtung  ihrer  Thätigkeit 
zu  beharren,  gleichviel  ob  sie  mit  Vorstellungen  wissen¬ 
schaftlich  beschäftigt,  oder  mit  irgend  einem  praktischen 
Triebe  wirksam  ist.  Combe’s  Definition  gehört  zu  den 
logischen  Verirrungen  der  Scholastiker,  welche  für  jede 
Qualität  eine  eigenthümliche  Substanz  oder  Kraft  aufstell¬ 
ten;  denn  die  Energie  des  Wirkens,  welche  als  blofses 
Prädicat  jedes  einzelnen  Triebes  gedacht  werden  mufs,  zu 
einem  selbstständigen  Vermögen  zu  erheben,  heifst  nichts 
anderes,  als  allen  Kräften  eine  besondere  Kraft  hinzuge¬ 
sellen,  ohne  welche  jene  nicht  thätig  sein  können.  Aber 
auch  Spurzlieim’s  Begriff  hält  eine  strengere  Prüfung 
nicht  aus;  denn  wollen  wir  jedes  zusammengesetzte  Lebens- 
verhältnifs,  wie  es  die  Nationalität  auf  dem  heimathlichen 
Boden  ist,  auf  ein  Grundvermögen  der  Seele  basiren:  so 
werden  wir  für  jede  neue  Form  der  Civilisation  auch  ei¬ 
nen  besonderen  Trieb  aufstellen  müssen.  Wir  haben  hier 
#  -  , 

ein  einleuchtendes  Beispiel  von  den  Verirrungen  der  syn¬ 
thetischen  Pathologie,  wenn  sie  nicht  durch  das  analyti¬ 
sche  Verfahren  in  Schranken  gehalten  wird.  Combe  hält 
jedoch  seinen  Einheitstrieb  selbst  für  problematisch. 

Der  Verf.  unterscheidet  in  der  Einleitung  Triebe  als 
innere  Anregungen,  die  uns  nur  zu  gewissen  Handlungen 
antreiben,  und  Gefühle,  welche  sich  als  Empfindungen 
nicht  auf  eine  blofse  Neigung  für  Etwas  beschränken,  son¬ 
dern  aufserdem  noch  eine  Erregung  eigenthümlicher  Art 
mit  sich  führen.  Diese  Begriffe  sind  aber  so  unklar  uud 
verworren,  als  ihre  Trennung  dem  Geiste  einer  gesunden 
Psychologie  widerstrebt.  Gefühl  ist  nämlich  nichts  ande¬ 
res,  als  subjectiver  Ausdruck  der  Thätigkcitsweise  eines 
Triebes.  Wirkt  dieser  frei,  so  wird  der  Mensch  sich  des- 


312 


V.  Phrenologie. 

sen  durch  das  Gefühl  der  Freude  bewufst;  so  wie  er  im 
umgekehrten  Falle  Schmerz  empfindet.  Gemischte  Gefühle 
von  Freude  und  Schmerz  zugleich  vcrralhcn  ihm  den  in¬ 
neren  Widerstreit  der  Triebe,  deren  Verhältnis  zu  einan¬ 
der  er  an  jenen  erkennt.  Au  den  Gefühlen  erfährt  er  da¬ 
her  die  jedesmalige  Verfassung  des  Gcmüths,  und  die  ein¬ 
fachste  Reflexion  belehrt  ihn,  auf  welchen  Trieb  das  vor¬ 
herrschende  Gefühl  bezogen  werden  mufs.  Gefühle  sind 
daher  ein  vortreffliches  Mittel  der  praktischen  Selbster- 
kenntnifs,  wenn  man  sich  gegen  ihre  Täuschungen  sicher 
zu  stellen  weifs.  Hiermit  steht  die  Erfahrung  nicht  in 
Widerspruch,  dafg  die  sogenannten  Gefühlsmenschen  ge¬ 
wöhnlich  arm  an  Thatkraft  sind;  denn  eben  weil  sie  sich 
an  dem  subjectiven  Spiele  mit  den  Trieben,  an  der  leeren 
Vorstellung  ihrer  möglichen  Wirkung  ergötzen,  versäu¬ 
men  sie  die  objectiven  Bedingungen  ihrer  positiven  Thä- 
tigkeit,  ohne  welche  der  Wille  uiemals  zum  thatkräftigeu 
Eiuflufs  reift.  —  Nach  diesen  Bemerkungen  mufs  daher 
Ref.  die  Trennung  des  Anhäuglichkeitstriebes  von 
dem  Gefühle  des  Wohlwollens  für  unstatthaft  erklä¬ 
ren,  weil  beide  in  dem  allgemeineren  Begriffe  der  Liebe 
enthalten  sind.  Im  höheren  Sinne  umfafst  diese  allerdings 
auch  die  Geschlechts-  und  Kinderliebe;  doch  lassen  beide 
sich  schon  eher  als  eigenthümlichc  Abzweigungen  des  allge¬ 
meinen  Liebestriebes  bezeichnen,  der  oft  durch  das  mäch¬ 
tige  Naturvcrhältnifs  zu  Gatten  und  Kindern  so  vollständig 
erschöpft  wird,  dafs  er  in  jeder  anderen  Richtung  verküm¬ 
mert.  Da  wir  diese  Beschränkung  des  allgemeinen  Wohl¬ 
wollens  am  häufigsten  bei  dem  weiblichen  Geschlcchte  an- 
treffen,  dem  der  Verf.  den  stärksten  Anhänglichkeitstrieb 
beilegt;  so  fällt  seine  Darstellung  desselben  im  Wesentli¬ 
chen  mit  dem  Geschlcchtstricbe  zusammen.  In  angemes¬ 
sener  Allgemeinheit  ist  dagegen  die  Darstellung  des  Wohl¬ 
wollens  gehalten,  und  durch  die  ausgesprochenen  Maxi¬ 
men  und  die  Handlungsweise  berühmter  Männer,  Hein¬ 
riche  IV.,  Fcuelou  u.  a.,  in  deren  Charakter  Herzens- 


313 


_  * 

V.  Phrenologie. 

güte  (len  vorherrschenden  Zug  ausmachte,  erläutert  wor¬ 
den.  Auch  die  Ausartungen  des  Wohlwollens,  wenn  es 
nicht  durch  Gewissen  und  Verstand  geleitet  wird,  und 
durch  Verschwendung  gegen  Nichtswürdige  Schaden  stif¬ 
tet,  hebt  der  Verf.  gebührend  hervor,  wie  er  denn  über¬ 
haupt  sehr  glücklich  in  dem  Bestreben  ist,  alle  morali¬ 
schen  Gebrechen  aus  Verirrungen  natürlicher  Triebe  zu  er¬ 
klären.  Nur  durch  die  synthetische  Psychologie  können 
wii  uns  von  den  unheimlichen  Gespenstern  des  bösen  Prin¬ 
zips  ,  der  Erbsünde  befreien,  mit  denen  die  Metapbysiker 
eich  so  oft  mystilicirt  haben,  und  denen  sie  abstracle  For¬ 
meln  der  vernünftigen  Willensfreiheit  entgegenstellen  mufs- 
ten,  ohne  uns  jemals  begreiflich  machen  zu  können,  wo¬ 
durch  der  Kampf  des  guten  und  bösen  Prinzips  zu  Gunsten 
des  einen  oder  anderen  entschieden  werde.  Stellen  wir 
uns  dagegen  ein  Individuum  vor,  wie  es  in  dem  bestimm¬ 
ten  Verhältnisse  seiner  Triebe  leibt  und  lebt,  wie  die  vor¬ 
herrschenden  seine  gesammte  Denk-  und  Handlungsweise 
durchdringen,  und  sich  in  tausend  kleinen  Zügen  verra- 
then;  so  wird  es  uris  meistentheils  nicht  schwer  fallen, 
die  Genesis  der  auffallendsten  moralischen  Erscheinungen 
zu  erklären.  Sehr  wahr  sagt  daher  der  Verf.:  Mangel  an 
Wohlwollen  bringt  nicht  etwa  Grausamkeit  oder  irgend 
ein  selbstthätig  schlechtes  Gefühl  hervor;  wohl  aber  führt 
er  zur  Rücksichtslosigkeit  gegen  die  Wohlfahrt  anderer. 
Diejenigen  z.  B.,  bei  denen  jener  Trieb  schwächer  ist,  als 
Erwerbstrieb *und  Selbstachtung,  fühlen  sich  selten  beru¬ 
fen,  Handlungen  der  Liebe  zu  fördern;  sie  bringen  gemei¬ 
niglich  als  Entschuldigung  vor,  dafs  sie  genug  mit  sich 
selbst  zu  thun  hätteri.  Sind  grofser  Erwerbstrieb  und  Selbst¬ 
achtung  mit  geringem  Wohlwollen  verbunden;  so  wird  das 
Individuum  an  gar  keine  uninteressirte  Güte  glauben,  und 
Grofsinuth,  welche  kein  selbstsüchtiges  Ziel  hat,  für 
Schwachheit  halten.  Eine  solche  Verbindung,  zu  der  sich 
noch  starker  Zerstörungslrieb  gesellt,  führt  auch  wahr¬ 
scheinlich  denjenigen,  der  sie  besitzt,  zum  Zweifel  an  dem 


\ 


i 


i 


I 


314  V.  Phrenologie. 

Wohlwollen  des  höchsten  Wesens.  Kurz,  Mangel  an  Wohl¬ 
wollen  macht  das  Gemiith  zum  Vorherrschen  der  niederen 
Triebe  geneigt,  und  die  Geistesstimmung  wird  dann  leicht 
kalt,  hart,  launisch,  unglücklich.  Man  hat  wenig  Mitgefühl 
an  Freude;  das  Antlitz  der  Schöpfung  scheint  nicht  zu 
lächeln;  man  betrachtet  moralische  und  physische  Gegen¬ 
stände  von  ihrer  dunkelsten  Seite,  und  wenn  Zerstörungs- 
tricb  stark  ist,  so  stählt  sich  die  Seele  gegen  ihre  einge¬ 
bildeten  schlechten  Eigenschaften  mit  Bosheit  —  mit  einem 
Worte:  Menschenhais  ist  die  Folge.  Ganze  Nationen,  z. 
B.  die  Caraiben,  verrathen  durch  Grausamkeit  einen  Mau- 
gcl  an  Wohlwollen.  —  Sehr  interessant  sind  die  Bemer¬ 
kungen  des  Vcrf.  über  die  Synthesis  vou  Wohlwollen  und 
Zerstörungstrieb,  welche  man  wegen  ihrer  entgegengesetz¬ 
ten  Natur  für  unvereinbar  in  einem  Individuum  hielt.  In 
wiefern  eine  solche  Verbindung  möglich  sei,  wird  sich  aus 
der  Erklärung  des  Zerstöruogstricbes  ergeben. 

Die  Trennung  des  Bekämpfungs-  und  Zerstö¬ 
rungstriebes  gehört  zu  den  erkünstelten  Subtiliiäten  der 
Phrenologie,  da  beide  im  Wesentlichen  den  Trieb  zur  Ver- 
theidigung  des  Rechtes  gegen  Verletzungen  desselben  dar- 
stcllcn,  und  den  Muth  erzeugen.  Ob  der  Angrilf  auf  einen 
Gegner  blofs  auf  seine  Abwehr,  oder  auf  seine  Vernich¬ 
tung  gerichtet  ist,  hängt  von  Nebenbedingungcu  ab,  die 
dem  Muthe  ursprünglich  fremd  sind.  Iudefs  abgesehen  da¬ 
von  weht  in  der  Schilderung  dieses  Triebes  der  Geist  männ¬ 
licher  Philosophie,  welche  aus  dem  deutlichen  Verständ¬ 
nis  der  gesellschaftlichen  Verhältnisse  entspringt.  Seitdem 
das  Wort  Humanität  Mode  geworden  ist,  beeilt  man  sich 
von  allen  Seiten,  sie  als  das  Evangelium  der  Moral  zu 
predigen.  Im  öffentlichen,  wie  im  Privatleben,  in  der 
LiUeratur,  wie  in  praktischen  Verhältnissen,  in  der  Er¬ 
ziehung  wie  in  Irrenhäusern  und  Gefängnissen,  überall  soll 
die  Milde  vorherrschen,  welche  der  persönlichen  Freiheit 
die  möglichst  weiten  Gränzen  steckt,  und  den  Liberalis¬ 
mus  zur  Pflegerin  der  geistigen  Entwickelung  bestellt.  Rcf. 


315 


V.  Phrenologie. 

ist  weit  davon  entfernt,  die  harten,  geisttödtendcn  For¬ 
men  des  -  Mittelalters  in  Schutz  zu  nehmen;  abe*  jene 
schlaffen  Grundsätze,  welche  den  Leidenschaften  einen  voll¬ 
ständigen  Sieg  verschaffen,  indem  sie  den  sittlichen  Ernst 
verbannen,  der  diesen  durch  angemessene  Strafen  die  nö- 
thigen  Schranken  setzt,  sie  haben  schon  zu  verderbliche 
Folgen  hervorgebracht,  als  dafs  ein  unbefangener  Beobach¬ 
ter  sich  über  ihre  demoralisirende  Tendenz  täuschen  könnte. 

i 

Die  Phrenologie  hat  sich  daher  ein  Verdienst  durch  Auf¬ 
stellung  eines  dem  Wohlwollen  wesentlich  entgegengesetz¬ 
ten  Triebes  erworben,  der  das  Recht  durch  Bekämpfung 
und  Vernichtung  seiner  Gegner  zu  schützen  bestimmt  ist. 
Zu  allen  hochherzigen  Charakteren  ist  eine  bedeutende  An¬ 
lage  dieses  Triebes  unerläfslich.  .Selbst  bei  Wohlthätig- 
keitsentwürfen ,  oder  bei  Plänen  zur  Beförderung  der  Re¬ 
ligion  oder  des  Wissens,  zeigt  sich  Widerstand,  und  der 
Bekämpfungstrieb  beseelt  denjenigen,  der  ihn  besitzt,  mit. 
jener  instinktartigen  Kühnheit,  welche  den  Geist  befähigt, 
ohne  Furcht  auf  einen  Kampf  in  der  Sache  der  Tugend 
zu  blicken,  und  ihn  ohne  Wanken  zu  bestehen.  Wäre 
der  Trieb  bei  den  Urhebern  jener  Entwürfe  sehr  klein; 
so  würden  sie  leicht  durch  Widerstand  erdrückt,  und  alle 
ihre  Bemühungen  vereitelt  werden.  Dieser  aus  dem  Vor¬ 
herrschen  oder  Mangel  des  Bekämpfungstriebes  hervorge¬ 
hende  Gegensatz  des  Charakters  läfst  sich  wohl  nicht  bes¬ 
ser,  als  durch  die  Vergleichung  Luther’s  undMelanch- 
thon’s  erläutern,  welche  unstreitig  beide  von  gleichem 
Eifer  für  die  Reformation  beseelt  waren,  und  doch  in  so 
verschiedenem  Sinne  für  sie  wirkten.  Der  Verf.  verfolgt 
den  Bekämpfungstrieb  in  seinen  mannigfachen  Formen  und 
Ausartungen,  welche  aus  den  verschiedenen  Lebensverhält¬ 
nissen  und  aus  seinem  Verhältnis  zum  Verstände,  iu  wie¬ 
fern  er  durch  denselben  richtig  oder  fehlerhaft  geleitet 
wird,  entstehen.  Derselbe  erzeugt  besonders  die  Neigung  , 
zum  Kriege,  und  flöfst  den  Schriftstellern  eine  Liebe  für 
Schlachten  ein.  Homer  und  Walter  Scott  glühen  mit 


316 


V.  Phrenologie. 

mehr  als  gewöhnlichem  Feuer,  wenn  sic  von  Kämpfen, 
Niederlagen  und  Siegesgeschrci  reden.  Durch  dieses  Mit¬ 
gefühl  der  Geschichtschreiber,  ltedner  und  Dichter  für 
Waffenthaten,  sieht  man  denn  auch  dcu  Krieger  zu  un¬ 
überlegt  zum  Ilcldcu  erlichen,  und  so  das  Schlacbthand- 
werk  hegen,  und,  mit  zu  wenig  Rücksicht  auf  die  Ver¬ 
dienste  des  Kampfes,  glorreich  preiseu.  Ist  jener  Trieb  zu 
kräftig,  und  schlecht  geleitet;  so  hat  er  die  traurigsten 
Folgen.  Er  llüfst  dann  die  Liebe  zum  Streite  um  seiner 
selbst  willen  ein,  zerstört  im  öffentlichen,  'wie  im  Privat¬ 
leben  alle  Wohlfahrt  durch  Händelsucht,  und  artet  in  Nei¬ 
gung  zum  Blutvcrgicfsen  aus.  Wird  er  uicht  durch  hö¬ 
here  Gefühle  geleitet;  so  treibt  er  Schriftsteller  durch  einen 
instinktmäfsigen  Ilang  an,  jede  Maafsregei,  jedes  Gefühl, 
jede  Lehre,  welche  von  anderen  vertheidigt  werden,  an¬ 
zugreifen,  und  sic  täuschen  sich  dabei  oft  dergestalt,  dafs 
sie  diese  Eigenschaft  für  scharfen,  philosophischen  Geist 
halten.  Bayle  war  ein  solcher  Mann,  und  man  bemerkte 
von  ihm,  das  Mittel,  ihn  etwas  Nützliches  schreiben  zu 
lassen,  sei,  ihn  nur  anzugreifen,  wenn  er  Recht  hätte, 
denn  dann  würde  er  zu  Gunsten  der  Wahrheit  mit  aller 
Energie  auftreten.  Da  überhaupt  ein  leichter  Rausch  die 
vorherrschenden  Triebe  am  stärksten  erregt,  wie  denn 
Wohlwollende  in  ihm  alles  Eigenthum  verschenken  möch¬ 
ten;  so  scheinen  auch  Leute,  bei  denen  der  Bekämpfungs¬ 
trieb  grofs  ist,  die  ihn  aber  nüchtern  durch  ihre  morali¬ 
schen  und  intellektuellen  Vermögen  im  Zaume  halten,  in 
der  Trunkenheit  einen  ganz  anderen  Charakter  anzunch- 
inen,  und  aufserordcntlich  streitsüchtig  zu  werden.  Als 
die  höchste,  krankhafte  Ausartung  des  Bekämpfungstriebcs 
mufs  die  Tobsucht  betrachtet  werden;  so  wie  umgekehrt 
sein  gänzlicher  Mangel  hei  ganzen  Nationen,  z.  B.  den  Hin¬ 
dus,  jene  Charakterschwäche  zur  Folge  hat,  welche  sie 
unfähig  macht,  das  Joch  der  Engländer  abzuschiittcln. 
Diese  Bemerkungen  werden  hinreichen,  die  Allgemeinheit 
eines  Triebes  zu  bezeichnen,  dcu  Gail  anfangs  in  beschränk- 


/ 


317 


V.  Phrenologie. 

tester  Bedeutung  als  Würg-  und  Raufsinn  cliarakterisirte, 
welche  ilm  nur  im  Zustaude  höchster  Verwilderung  dar¬ 
stellen. 

Ueber  den  Verheimlichungstrieb  giebt  der  Ver¬ 
fasser  folgende  Erklärung:  Die  verschiedenen  Vermögen 
der  menschlichen  Seele  sind  einer  unwillkürlichen  Thätig- 
keit  ausgesetzt,  welche  oft  auf  Befehl  des  Verstandes  nicht 
wieder  weicht.  Wollte  man  alle  diese  unwillkürlichen 
Regungen,  z.  B.  des  Gcschlechtstriebes,  der  Beifallsliebe, 
des  Erwerbstriebes  in  aller  der  Lebendigkeit,  mit  der  sie 
entstehen,  aufser  sich  zu  erkennen  geben;  so  würde  das 
gesellige  Leben  durch  eine  rohe  Masse  widriger  Unschick¬ 
lichkeiten  verunstaltet  werden,  und  der  Mensch  würde  die 
Gesellschaft  seiner  Mitmenschen  mehr  als  Pest  und  Ilun- 
gersnoth  scheuen.  Ein  instinktartiger  Trieb,  die  verschie¬ 
denartigen  Begierden  und  Bewegungen,  welche  unwill- 
kührlich  im  Geiste  entstehen,  bei  sich  selbst  zurückzuhal- 

i 

ten,  war  also  nöthig,  um  dem  Verstände  Zeit  zu  lassen, 
ihre  Aeufserungen  zu  regeln.  Aufserdem  ist  auch  der 
Mench  manchmal  feindlichen  Angriffen  ausgesetzt,  die  in 
Fällen,  wo  die  Kraft  fehlt,  sie  mit  Gewalt  zurückzu  wei¬ 
sen,  durch  Verschlagenheit  vereitelt  werden  können.  Leute, 
die  selbst  das  zur  Intrigue  erforderliche  Talent  besitzen, 
sind  auch  von  Natur  geschickt,  die  geheimen  Machinatio¬ 
nen  Anderer  zu  errathen  und  zu  vereiteln.  Sie  lesen  rnit 
grofser  Fertigkeit  die  natürliche  Sprache  der  Verheimli¬ 
chung  bei  Anderen  in  ihren  Mienen  und  Aeufserungen. 
Wie  nothwendig  indefs  dieser  Trieb  auch  zur  Lebensklug- 
lieit  ist,  so  artet  er  doch  leicht  in  Lüge,  Heuchelei  und 
Tücke  aus.  Diese  Bemerkungen  sind  naturgetreu  und  füh¬ 
ren  zu  einer  Menge  praktischer  Folgerungen ,  die  man  mit 
vielem  Interesse  bei  dem  Verf.  lesen  wird.  Die  Frage, 
ob  der  Verheimlichungstrieb  ein  ursprüngliches  Seelcnver- 
mögen  ausmache,  müssen  wir  indefs  übergehen,  da  sie 
eine  ausführliche  Erörterung  erfordert. 

Gegen  den  Er werbstrieb  wurde  von  den  Anliphrc- 


318 


V.  Phrenologie. 

nologcn  der  Einwurf  erhoben,  dafs  das  Eigenthum  eine  ge¬ 
sellschaftliche  Einrichtung  sei,  und  dafs  folglich  das  Stre¬ 
ben  nach  persönlichem  Besitze  nicht  von  einem  ursprüng¬ 
lichen  Seelcnvcrmögen  abgeleitet  werden  könne.  Der  Verf. 
erwiedert  darauf,  dafs  der  Gedanke  des  Eigenthums  aus 
der  instinktartigen  Eingehung  eines  bestimmten  Triebes  ent¬ 
stehe,  und  dafs  die  Gesetze  der  Gesellschaft  Folge,  nicht 
aber  Ursache  desselben  sind.  lief.  fühlt  sich  "gedrungen, 
der  letzten  Bemerkung  eine  ganz  allgemeine  Ausdehnung 
zu  geben,  in  sofern  jeder  gesellschaftliche  Zustand  Product 
der  in  einem  Volke  vorherrschenden  Triebe  ist,  nach  de¬ 
ren  Wechsel  sich  die  Epochen  der  Weltgeschichte  umgc- 
slaltcn.  Dies  führt  uns  unmittelbar  auf  den  Begriff  der 
Volkslcideuschaftcn ,  deren  reifsender  Strom  alle  anderen 
Interessen  verschlingt.  Den  Beweis  dafür  finden  wir  in 
den  Kriegen,  welche  bald  durch  religiöse,  bald  durch  ehr¬ 
geizige  oder  gewinnsüchtige  Motive  entflammt  wurden, 
nach  denen  sich  die  volkstümlichen  Institutionen,  so  wie 
die  Nationalgesinnung  richteten.  Ueber  den  Erwerbstrieb 
äufsert  der  Verf.  noch  treffend,  dafs  derselbe  dem  Hange 
der  Menschen  zum  Genufs  Schranken  setzen  müsse,  der 
sie  aufserdem  verleiten  würde,  alles  aufzuzehren.  Wirk¬ 
lich  leiden  wilde  Völker,  selbst  unter  den  glücklichsten 
Himmelsstrichen,  oft  die  größte  Noth,  weil  sic  nicht  lür 
den  kommenden  Tag  sammeln.  Dafs  die  Wohlfahrt  civi- 
lisirter  Völker  grofsentheils  durch  den  Erwerbstrieb,  die 
Quelle  des  Nalionalreichthums,  bedingt  wird,  bedarf  kei¬ 
nes  Beweises,  obgleich  schwarzgalligc  Moralisten  zu  allen 
Zeiten  gegen  ihn  geeifert  haben.  Nur  in  seinen  Ausar¬ 
tungen  stellt  er  sich  der  sittlichen  Rüge  blofs,  weil  er 
dann  den  Geiz,  und  bei  noch  höherer  Demoralisation  die 
Neigung  zum  Diebstahl  erzeugt.  Dafs  letzte  bei  manchen 
wilden  Völkern  vorherrscht,  ist  bekannt  genug,  eben  so, 
dafs  manche  Menschen  einen  unwiderstehlichen  Hang  zum 
Stehlen  von  Kindheit  au  zeigen.  Wenn  Gail  diese  That- 
sachcu  mit  einem  ursprünglichen  Diebcssinne  in  Verbindung 


319 


V.  Phrenologie. 

brachte,  so  hatte  er  nur  den  rohen  Stoff  seiner  Beobach¬ 
tungen  für  einen  allgemein  gültigen  Begriff  ausgegebeu. 
Pie  tägliche  Erfahrung  lehrt,  dafs  manche  Kinder  alles 
verschenken,  andere  dagegen  alles  sich  aneignen  und  nichts 
mittheilen  wollen;  wenn  diese  daher  sittlich  verwahrloset 
werden,  so  kann  der  Erwerbstrieb  leicht  zur  herrschenden 
Leidenschaft  ihres  Lebens  werden,  welche  sie  zu  jedem 
Frevel  verleitet. 

Diese,  und  noch  einige  der  Kürze  wegen  übergangene 
Triebe,  trennt  der  Verf.  von  den  Gefühlen,  als  deren  un¬ 
terscheidendes  Merkmal  er  noch  angiebt,  dafs  sie  nicht  die 
unmittelbare  Folge  des  Daseins  äufserer  Gegenstände  sind, 
sondern  erst  mittelbar  durch  intellektuelle  Wahrnehmun¬ 
gen  oder  Anregungen  hervorgebracht  werden.  Dieser  Un¬ 
terschied  ist  indefs  eben  so  unhaltbar,  wie  der  schon  frü¬ 
her  widerlegte,  da  das  Wesen  eines  Triebes  als  des  in¬ 
neren  Bestimmungsgrundes  der  Handlungen  unverändert 
bleibt,  gleichviel  ob  derselbe  auf  sinnliche  oder  übersinn¬ 
liche  Motive  gerichtet  ist.  Wir  behalten  daher  den  Na¬ 
men  Trieb  bei,  weil  derselbe  das  Streben  zur  Befriedigung 
eines  natürlichen  Bedürfnisses  der  Seele  ausdrückt.  Denn 
man  kann  nur  dann  zu  einer  systematischen  Uebersicht 
aller  Gemiithstriebe  gelangen,  wenn  man  die  wesentlichen 
Verhältnisse,  durch  welche  der  Mensch  zu  Handlungen  be¬ 
stimmt  wird,  vollständig  aufsucht.  Jene  Verhältnisse  las¬ 
sen  sich  aber  daran  erkennen,  dafs  sie  die  Grundlage  des 
gesellschaftlichen  Zustandes  ausmachen,  und  durch  ihre 
Vernichtung  die  Auflösung  desselben  zur  nothwendigeu 
Folge  haben. 

Ein  solches  Element  ist  die  Ehre,  welche  die  Men¬ 
schen  antreiht,  sich  durch  ihre  Handlungen  der  gegensei¬ 
tigen  Achtung  würdig  zu  zeigen.  Wer  sich  darüber  hin¬ 
wegsetzt,  die  Meinung  Anderer  von  sich  als  Prüfstein  sei¬ 
nes  sittlichen  Werthes  zu  betrachten,  rnufs  entweder  ein 
vollkommener  Weiser  unter  einem  Haufen  von  Thoren  sein; 
oder  er  ist  ein  Niederträchtiger,  der  über  die  gröfsten 


320  V.  Phrenologie. 

Schandtaten  nicht  mehr  erröthet.  Rcf.  setzt  diese  kurze 
Schilderung  an  die  Stelle  der  weitschweifigen  Darstellung 
des  Verf. ,  welcher  einen  unnötigen  Unterschied  zwischen 
der  Selbstachtung  und  der  Beifallsliebe  macht.  Denn  beide 
gehören  so  wesentlich  zusammen,  dafs  man  sie  richtiger 
als  innere  und  äufserc  Ehre  bezeichnen  kann.  Wollen  wir 
aber  zur  genaueren  Bestimmung  des  Ebrtriebcs,  in  wiefern 
derselbe  unter  mancherlei  Mifsgcstalten  auftritt,  die  fehler¬ 
haften  Modificationcn  desselben  unterscheiden;  so  gehören 
dahin  der  Stolz,  Hochnmth,  Dünkel,  die  Prahlerei,  Eitel¬ 
keit  u.  s.  w.  Einen  richtigeren  Takt  zeigt  der  Verf.  in 
der  Zusammenstellung  einzelner  Züge,  welche  den  gere¬ 
gelten  und  uumäfsigen  Ehrtrieb  charakterisircn.  In  Betreff 
des  ersten  bemerkt  er  z.  B.,  dafs  diejenigen  immer  mit  der 
dauerndsten  und  aufrichtigsten  Hochachtung  behandelt  wer¬ 
den,  die  sich  selbst  zu  hoch  schätzen,  als  dafs  sie  je  eine 
niedrige  Handlung  begehen  könnten;  dafs  dagegen  aus  zu 
geringem  Selbstgefühl  Mangel  an  Selbstvertrauen  entspringt, 
durch  welchen  selbst  höher  begabte  Individuen  die  Erfolge 
ihrer  Leistungen  vereiteln.  Frau  von  Stael  sagte  von 
einem  Helden  der  Revolution,  dafs  er  bedeutende  Talente 
gehabt  habe:  «Mais  au  lieu  de  travaillcr  il  s’ctonnait  de 
lui-meme. »  Als  ein  besonderes  Verdienst  der  Phrenolo¬ 
gie,  auf  welches  wir  später  zurückkommen  werden,  mufs 
das  Bestreben  betrachtet  werden,  die  Formen  des  Wahn¬ 
sinnes  aus  dem  Vorherrschen  der  ihnen  entsprechenden 
Triebe  zu  erklärcu.  Der  Verf.  führt  mehre  Beispiele  von 
Monomanie  aus  übertriebenem  Stolze  an,  und  schildert 
überhaupt  die  Verirrungen  desselben,  gleichsam  als  Ueber- 
gangsformen  zur  Geistcszerrüllung,  mit  den  lebendigsten 
Farben.  Unrichtig  ist  cs  dagegen,  wenn  er  das  Verlangen 
nach  Macht  aus  dem  Ehrlricbe  ableitet.  Beide  sind  zwvar 
häufig  mit  einander  verbunden,  aber  in  ihren  Wirkungen 
auf  das  Gemüth  sehr  verschieden.  Denn  der  Ehrsüchtige 
bewirbt  sich  nur  um  die  Achtung  anderer,  um  sie  zu  Gun¬ 
sten  seiner  Absichten  zu  stimmen;  er  muls  sich  daher  ihrer 

Denk- 


I 


V.  Phrenologie.  321 

Denkweise  anbequemen,  weil  er  im  Widerstreit  mit  der¬ 
selben  ihre  Wertschätzung  nicht  gewinnen  würde.  Der 
Herrschsüchtige  strebt  dagegen,  den  Willen  anderer  von 
sich  abhängig  zu  machen,  unbekümmert  um  ihr  Urtheil 
über  sich,  dem  er  im  Gefühle  seiner  Ueberlegenheit  gern 
Ilohn  spricht.  Er  ist  daher  weit  eher  der  Grausamkeit 
und  überhaupt  jeder  Barbarei  fähig,  dagegen  der  Ehrsüch¬ 
tige  wenigstens  den  guten  Schein  retten  mufs,  und  oft  wi¬ 
der  seinen  Willen  zu  wohltätigen  Handlungen  sich  ge¬ 
zwungen  sieht.  Die  Phrenologen  haben  daher  einen  wich¬ 
tigen  Gemüthstrieb  übersehen,  weil  sie  das  Organ  dessel¬ 
ben  am  Schädel  nicht  fanden.  Denn  dafs  der  Trieb,  des¬ 
sen  Ausartung  als  Herrschsucht  bezeichnet  wurde,  ein  ur¬ 
sprünglicher  und  wesentlicher  sei,  ergiebt  sich  leicht  aus 
der  Natur  der  gesellschaftlichen  Verhältnisse.  Da  nämlich 
der  Mensch  die  Mitwirkung  anderer  zur  Erreichung  seiner 
Absichten  oft  nicht  dadurch  gewinnen  kann,  dals  er  ihr 
Interesse  durch  Wohlwollen,  Geld,  Achtung  und  andere 
Motive  sich  erwirbt;  so  bleibt  ihm  dann  nur  die  Macht, 
durch  welche  er  sie  auch  wider  ihren  Willen  für  sich  be¬ 
stimmt.  Im  rohen  Naturzustände  macht  er  das  Recht  des 
Stärkeren  geltend;  m  civilisirten  Staaten  bewaffnet  ersieh 
dagegen  mit  dem  Arm  des  Gesetzes,  um  die  Widerstre¬ 
benden  zum  Gehorsam  zu  zwingen.  Unstreitig  ist  dies 
Motiv  der  Handlungen  von  allen  übrigen  Beweggründen 
wesentlich  verschieden,  und  mufs  daher  auf  einen  eigen¬ 
tümlichen  Trieb  bezogen  werden. 

Wir  überschlagen  wieder  einige  Kapitel,  und  schalten 
statt  ihrer  die  Bemerkung  ein,  dafs  der  Verf.  die  meisten 
der  bisher  erläuterten  Triebe  zu  den  niederen  rechnet,  W’eil 
der  Mensch  sie  mit  den  Thieren  gemein  hat,  die  nachfol¬ 
genden  dagegen  dem  Menschen  ausschliefslich  beilegt.  In 
der  Darstellung  der  erstgenannten  vergleicht  er  daher,  wie 
Gail  und  alle  seine  Nachfolger,  ihre  Aeufscrung  bei  Men¬ 
schen  und  Thieren,  und  sammelt  damit  sehr  schätzbare 
Materialien  zu  einer  comparativen  Psychologie.  Ref.  mufs 
Band  28.  Heft  3.  21 


/ 


“x 


322  V.  Phrenologie. 

diesem  Verfahren  seinen  vollen  Hei  fall  schenken,  und  spricht 
seine  Ueberzeugung  aus,  tlafs  nur  die  synthetische  Psycho¬ 
logie  zu  der  auf  unverantwortliche  Weise  vernachlässigten 
Erforschung  der  Thicrscelcn  den  Weg  bahnen  kann.  Denn 
die  Analysis  gelangt  bald  zu  den  transccudentalcn  Begrif¬ 
fen  der  Vernunft,  Willensfreiheit  u.  s.  w.,  welche  aufser- 
halb  jeder  Anwendbarkeit  auf  die  eomparative  Psycholo¬ 
gie  liegen. 

Unter  Ehrfurcht  versteht  der  Phrenologc  zuvörderst 
den  religiösen  Trieb,  der  sehr  richtig  als  unabhängig  von 
dem  Verstände  bezeichnet  wird,  welcher  nach  der  Mei¬ 
nung  der  Metaphysiker  den  Glauben  an  Gott  aus  der  Be¬ 
trachtung  der  Weltordnung  ablciten  soll.  Der  Verf.  hätte 
hinzusclzen  können:  dafs  nach  so  vielen  verunglückten  Be¬ 
weisen  über  das  Dasein  Gottes  jede  syllogistiscbe  Begrün¬ 
dung  der  Religion,  welche  Kant  mit  der  ganzen  Schärfe 
seiner  Kritik  bekämpfte,  uns  verdächtig  sein  müsse,  und 
dafs  wir  in  unserer  heiligsten  Angelegenheit  sehr  übel  bc- 
rathen  wären,  wenn  sic  von  dem  Wechsel  der  dogmati¬ 
schen  Schulen  abhängig  sein  sollte.  Der  Verf.  hat  die 
Thatsache,  dafs  alle  Völker  einen  religiösen  Cultus  begrün¬ 
deten,  und  dafs  Menschen  von  beschränktem  und  ungebil¬ 
deten  Verstände  oft  eine  tiefe  Frömmigkeit  an  den  Tag 
legen,  sehr  passend  zu  dem  Beweise  benutzt,  dafs  der 
Trieb  dazu  dem  Menschen  angeboren  sei,  und  dafs  der 
Verstand  durch  alle  Scblufslolgcn  dem  Gcmiitbe  keine  re¬ 
ligiöse  Gesinnung  einhauchen  könne,  deren  oft  die  aufge¬ 
klärtesten  Denker  ermangeln.  Auch  läfst  sich  aus  der 
oben  gegebenen  Definition  der  Triebe  leicht  beweisen,  dafs 
Religion  eine  Angelegenheit  des  Gcmüthes  ist,  und  dafs 
der  Verstand  dasselbe  nur  dabei  leiten  soll.  Denn  unstrei¬ 
tig  ist  das  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott  eine  der  we¬ 
sentlichen  Grundlagen  des  gesellschaftlichen  Zustandes,  der 
ohne  öffentliche  Ehrfurcht  vor  dem  Heiligen,  dem  unver¬ 
meidlichen  Verderben  entgegencilt.  Das  ßewufstscin  jene« 
Verhältnisses  mufstc  daher  den  Völkern,  wenn  sie  über- 


V.  Phrenologie.  323 

haupt  als  solche  bestehen  sollten,  auch  ohne  schulgerechte 
Philosophen  lebendig  werden,  und  ihre  ausgezeichnetsten 
Männer  hatten  nur  das  Vorrecht,  jene  der  Menge  unbe¬ 
greiflichen  Regungen  des  Gemüthes  in  eine  der  herrschen¬ 
den  Sinnesweise  entsprechende  Form  einzukleiden,  um  sie 
verständlicher  als  Gegenstand  der  Anbetung  aufzustellen. 
Sie  sprachen  daher  als  angeblich  gottgesandte  Propheten 
nur  die  Gesinnung  aller  aus,  und  Gail  bemerkt  sehr  rich¬ 
tig,  wenn  nicht  eine  natürliche  Fähigkeit,  religiöse  Erre¬ 
gung  zu  empfinden,  zuvor  da  gewesen  wäre,  so  hätte  die 
Offenbarung  für  den  Menschen  eben  so  unnütz  werden 
müssen,  als  für  das  Thier.  In  diesem  Satze  ist  eine  ganz 
allgemeine  Wahrheit  angedeutet,  welche  uns  zur  deutlich¬ 
sten  Unterscheidung  des  Wirkens  der  Gemüthstriebe  von 
den  Verstandesoperationen  führt.  Jenes  nämlich  geht  aus 
innerer  Naturnotwendigkeit  hervor,  und  kann  daher  wohl 
gehemmt  und  irre  geleitet,  nie  aber  vertilgt  werden;  ja 
unter  äufserem  BrucKe  steigert  es  sich  sogar  zu  der  ge¬ 
waltigsten  Leidenschaft.  Die  Verstandesthätigkeit  dagegen, 
wenngleich  allgemeinen  Gesetzen  unterworfen,  ist  doch  so 
wenig  an  eine  bestimmte  Form  der  Entwickelung  gebun¬ 
den,  dafs  im  Reiche  des  freien  Denkens  die  widerspre¬ 
chendsten  und  willkürlichsten  Theorieen  sich  gestalten 
und  gegenseitig  bekämpfen,  und  eben  weil  sie  aus  keiner 
allgemeinen  Notwendigkeit  hervorgehen,  auch  keinen  Ein- 
flufs  auf  das  praktische  Leben  haben.  Fast  gegen  jeden 
Trieb  ist  ein  philosophisches  System  gerichtet  gewesen, 
dessen  Lehren  im  Fluge  der  Zeit  verhallten,  während  je¬ 
ner  mit  jedem  Geschlecht  zum  frischen  Wirken  wieder¬ 
geboren  wurde.  Wenn  Sophisten  mit  Erfolg  einen  Grund¬ 
trieb  des  gesellschaftlichen  Lebens  bekämpften,  so  geschah 
es  nur  dadurch,  dafs  sie  andere  Triebe  zu  Leidenschaften 
zu  entflammen  wufsten.  Denn  immer  nur  aus  Trieben, 
nie  aus  philosophischen  Dcductiooen,  entspringen  Leiden¬ 
schaften;  wenn  daher  der  religiöse  Sinn  eines  der  Völker 
sich  zur  Schwärmerei  steigern  konnte,  welche  die  lackel 

21  * 


i 


354 


V.  Phrenologie. 

und  (Ins  Seil  wert  des  Fanatismus  filier  ganze  Zeilnller 
schwang:  so  intifs  derselbe  in  einem  mächtigen  Triebe  ge¬ 
würfelt  sein,  bei  dessen  allgemein  verbreiteter  Aufregung 
Priestersatzungen  einen  so  furchtbaren  Anklang  fanden. 
Das  Verhältnifs  der  Vernunft  zum  religiösen  Triebe  be¬ 
schränkt  sich  folglich  darauf,  denselben  durch  aufgeklärte 
Begriffe  richtig  zu  leiten.  Hierauf  deutet  auch  der  Vcrf. 
hin;  jedoch  bezeichnet  er  die  Verirrungen  des  religiösen 
Triebes  nicht  durch  die  ungeheuren  Erscheinungen  der  Re¬ 
ligionskriege,  sondern  er  begnügt  sich,  die  inifsgestalteten 
Ucligionsansichtcn  balbcultivirter  Völker  zu  nennen,  welche 
mehr  von  intellcctucller  Beschränktheit,  als  von  einem  lei¬ 
denschaftlichen  Triebe  zeugen.  Widersprechen  mufs  dage¬ 
gen  Hef.  dem  Vcrf. ,  wenn  derselbe  die  Ehrfurcht  gegen 
Aclteru,  Vorgesetzte,  und  überhaupt  gegen  alle  Verhält¬ 
nisse,  von  denen  der  Mensch  sich  abhängig  fühlt,  zu  dem 
religiösen  Triebe  rechnet.  Er  hat  dabei  allerdings  den 
Sprachgebrauch  für  sich,  welcher  die  Gesinnung  des  Ge¬ 
horsams  gegen  jede  rechtmäfsige  Autorität  mit  dem  Worte 
Pietät  belegt,  und  diese  als  den  stärksten  Zügel  aller  egoi¬ 
stischen  Leidenschaften,  folglich  als  den  mächtigsten  Hebel 
der  moralischen  Cultur  bezeichnet.  Auch  läfst  sich  nicht 
bestreiten,  dafs  im  unentwickelten  Zustande  des  Gcmüthes, 
wie  er  sich  bei  Kindern  und  uncivilisirtcn  Völkern  findet, 
die  mannigfachen  Kegungen  der  Ehrfurcht  gegen  göttliche 
und  menschliche  Gesetze  innig  mit  einander  verbunden 
sind,  und  sich  so  leicht  mit  einander  vertauschen.  Hier¬ 
auf  hat  sich  zu  allen  Zeiten  die  Macht  der  Hierarchie  ge¬ 
gründet;  denn  wie  hätten  wohl  die  römischen  Priester 
ganz  Europa  an  ihre  herrschsüchtigen  Entwürfe  fesseln 
können,  wenn  nicht  die  päpstlichen  Bullen  als  Emanatio¬ 
nen  des  heiligen  Geistes  gegolten  hätten?  Aber  wenn 
auch  die  uranfänglichen  Kegungcn  der  Triebe  w  ie  die  Blät¬ 
ter  eines  aufbrausenden  Keimes  gleichsam  in  einander  ge¬ 
wickelt  sind,  und  daher  von  dem  rcllcctirenden  Verstände 
leicht  mit  einander  verwechselt  w'erdcn  künucn,  woraus 


325 


V.  Phrenologie. 


die  läuschuiigeu  unaufgeklärter  Völker  über  die  Richtung 
ihres  Strebens  entspringen;  so  tritt  doch  bei  fortschreiten¬ 
der  Entwickelung  des  Gemüthes  durch  freie  Verstandes- 
cultur  die  wesentliche  Verschiedenheit  der  Triebe  nacli 
ihren  Motiven  oder  Zwecken  um  so  deutlicher  hervor. 
Wie  hätte  wohl  das  grofse  Werk  der  Reformation  zu 
Stande  kommen  können,  wenn  der  Heros  deutscher  Gei¬ 
ster,  unser  Luther,  nicht  die  reinste  Verehrung  Gottes  mit 
dem  entschiedensten  Sinne  gegen  jede  menschliche  Auto¬ 
rität  zu  paaren  gew'ufst  hätte?  —  Höchlich  zu  loben  ist 
dagegen  die  Erklärung  des  religiösen  Wahnes  aus  den  Ver¬ 
irrungen  des  ihm  entsprechenden  Triebes,  als  ein  überaus 
schätzbarer  Beitrag  zur  Pathogenie  der  Geisteskrankheiten, 
deren  naturgemäfse  Theorie  an  der  Phrenologie  einen  fe¬ 
sten  Stützpunkt  iindet. 

Die  Bestimmung  des  Gewissens,  welches  sich  in  den 
stärksten  Regungen  des  Gemüthes  kund  giebt,  macht  eine 
der  schwierigsten  Aufgaben  der  Psychologie  aus.  Der  Ver¬ 
fasser,  welcher  eiue  Menge  der  widersprechendsten  Defi- 
uitiouen  desselben  zusammeustellt,  bezeichnet  dasselbe  als 
ein  Vermögen,  dessen  Zweck  es  ist,  das  Gefühl  der  Ge¬ 
rechtigkeit  oder  der  Pflicht,  unabhängig  von  Selbstsucht, 
zu  erzeugen,  und  welches  sich  in  der  Sentenz  ausspricht: 
Fiat  justilia,  ruat  coelum.  Wirkt  es  vereint  mit  dem  Ver¬ 
stände,  so  entsteht  daraus  die  Gerechtigkeit.  Der  Ver¬ 
stand  erforscht  die  Ursachen  und  Folgen  der  Handlungen; 
hat  er  aber  das  gethan,  so  empfindet  er  durch  sich  selbst 
weiter  keine  Erregung,  welche  sich  im  Gefühle  entschie¬ 
dener  Billigung  oder  Mifsbilligung  bei  der  Beurtheiluug  ei¬ 
gener  oder  fremder  Handlungen  offenbart.  Das  Gewissen 
ist  als  Ordner  aller  übrigen  Vermögen  von  der  höchsten 
Wichtigkeit.  Es  zügelt  z.  B.  den  Bekämpfungstrieb,  indem 
es  die  Vcrtheidigung,  nicht  den  tückischen  Angriff,  er¬ 
laubt;  reizt  der  Erwerbstrieb  zu  mächtig,  so  erinnert  es 
uns  an  die  Rechte  Anderer;  neigt  Wohlwollen  zur  Ver¬ 
schwendung,  so  giebt  es  die  Weisung,  sei  gerecht,  ehe 


326 


V.  Phrenologie. 

da  grofsmüthig  bist.  Ja  cswirkt  nicht  allein  als  Zaum 
für  unsere  zu  thätigen  Gelüste,  sondern  dient  zugleich  als 
Sporn,  um  unsere  Vermögen,  wenn  sie  zu  schwach  sind, 
anzutreiben,  lief,  fügt  hinzu,  dafs  das  Gewissen  auch  des* 
halb  als  Gemüthsregung  betrachtet  werden  müsse,  weil  cs 
durch  Vcrstandcstäurchungen  irre  geleitet  werden,  und 
selbst  bis  zum  Wahnsinn  leidenschaftlich  ausarten  kann. 
Penn  in  jedem  Zeitalter  haben  sich  die  Pflichtbegriffe  an¬ 
ders  gestaltet,  und  dadurch  dem  Gewissen  eine  andere 
Richtung  gegeben,  so  dafs  die  nämliche  Handlung  bei  dem 
einen  Volke  die  höchste  Bewunderung,  bei  dem  anderen 
den  tiefsten  Abscheu  weckte,  je  nachdem  die  voi herr¬ 
schenden  Triebe  eine  verschiedene  Lebensansicht  erzeug¬ 
ten.  Wenn  wir  es  also  im  gewissen  Grade  als  abhängig 
von  denselben  erkennen  müssen,  und  wenn  nur  die  voll¬ 
ständigste  Cultur  des  Gemüthes  in  glcichmälsigcr  Entwicke¬ 
lung  seiner  Triebe  gegen  alle  Irrungen  des  Gewissens 
schützt;  so  fragt  es  sich,  ob  und  in  wiefern  wir  es  uns 
als  ein  selbstständiges  Vermögen  denken  können?  Zunächst 
ergiebt  es  sich,  dafs  wir  dasselbe  für  gleichbedeutend  mit 
der  Ehrfurcht  erklären  können;  denn  es  regt  sich  überall 
nur  in  dem  Anerk<ymtnifs  eines  Gesetzes,  von  welchem 
wir  uns  abhängig  fühlen,  dessen  Verletzung  wir  folglich 
als  eine  Beeinträchtigung  der  Bedingungen  unserer  Wohl¬ 
fahrt  betrachten.  Haben  wir  diese  auf  dos  Wirken  der 
edleren  Gemüthstricbc,  der  Religion ,  Liebe,  gegründet;  so 
mufs  uns  alles,  was  wir  im  Widerspruch  mit  denselben 
thun,  als  eine  feindselige  Handlung  gegen  uns  selbst  er¬ 
scheinen,  und  daher  im  Bewufstsein  den  schmerzlichen 
Widerstreit  erzeugen,  in  welchem  unsere  bessere  Natur 
unter  dem  Ausbruche  der  niederen  Triebe  zu  leiden  hat. 
Herrschen  aber  diese  dergestalt  vor,  dafs  die  egoistischen 
Motive  als  oberste  Gesetze  des  Handelns  gleich  Götzen 
von  dem  entarteten  Gemüthc  verehrt  werden;  so  wird 
auch  das  Gewissen  so  sehr  depravirt,  dafs  es  vorder  Ver¬ 
letzung  des  Heiligen  und  Guten  nicht  mehr,  wohl  aber 


327 


V.  Phrenologie.  % 

vor  der  Beschädigung  egoistischer  Interessen  Scheu  empfin¬ 
det.  Lesen  wir  nur  in  der  Seele  eines  Geizigen!  Oh  er 
aller  Religion  entsagt,  die  heiligsten  Rande  der  Natur  zer¬ 
rissen  hat,  kümmert  ihn  wenig;  aber  nicht  verzeihen  kanu 
er  es  sich,  Wenn  er  einer  Anwandlung  von  Grofsmuth 
Raum  gegeben  hat.  Wie  der  Mensch  ist,  so  ist  auch  sein 
Gott,  sagt  ein  wahres  Wort;  und  so  ist  auch  sein  Gewis¬ 
sen,  setzen  wir  hinzu.  Demnach  ist  Gewissen  nicht  Aeufse- 
rung  eines  selbstständigen  Vermögens,  sondern  die  irn  Ge- 
müth  durch  das  Urtheil  über  die  Angemessenheit  oder 
Nichtaugemessenheit  der  Handlungen  zu  seinen  vorherr¬ 
schenden  Trieben  hervorgebrachte  Wirkung.  Wollte  man 
dagegen  einwenden,  dafs  hier  durch  die  Bestimmung  des 
Gewissens,  als  des  allen  Menschen  eingeborenen  inneren 
Richters  über  unseren  Lebenswandel  aufgehoben,  mithin 
die  Allgemeinheit  des  moralischen  Gefühls,  ohne  welches 
die  Menschen  unfehlbar  ihren  Leidenschaften  zur  Beute 
werden  müfsten,  abgeleugnet  werde;  so  läfst  sich  hierauf 
erwiedern,  dafs  wirklich  die  Herrschaft  egoistischer  Triebe 
und  sinnlicher  Begierden  im  Menschengeschiechte  grol’s  ge¬ 
nug  ist,  um  daran  zu  erkennen,  dafs  jener  Richter  nur  zu 
oft  durch  sie  bestochen,  sein  Urtheil  in  ihrem  Interesse 
abgiebt,  und  daher  nichts  weniger,  als  ein  zuverlässiger 
Führer  ist.  Was  ist  denn  häufiger,  als  die  Erfahrung,  dafs 
der  Mensch,  der  bei  bösen  Handlungen  den  inneren  Wider¬ 
streit  seiner  besseren  Regungen  gegen  sie  empfindet,  diese 
durch  Sophistereien  zu  beschwichtigen  sucht,  und  damit 
leider  nur  zu  leicht  fertig  wird?  Sind  dagegen  bei  ihm 
die  edleren  Triebe  lebendig;  so  bedürfen  sie  wiederum 
nicht  eines  besonderen  Vermögens,  welches  ihnen  den  Sieg 
über  die  niederen  Motive  verschallte,  denn  die  Voraus¬ 
setzung  eines  solchen  Vermögens  würde  jenen  Trieben  den 
selbstständigen,  tbatkriiftigen  Charakter  absprechen.  Wenn 
indefs  Ref.  mit  dem  Verf.  über  dessen  oben  gegebene  De¬ 
finition  nicht  einverstanden  sein  kann;  so  mufs  er  doch 
dessen  Bemerkungen  über  das  Gewissen,  in  sofern  darunter 


328 


V.  Phrenologie. 

im  engeren  Sinne  die  Regung  der  edleren  Triebe  verstan¬ 
den  wird,  volle  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen,  denn 
überall  Spricht  sich  in  ihnen  ein  warmer  Eifer  für  die  sitt¬ 
lichen  Angelegenheiten  aus. 

Die  Festigkeit  und  Hoffnung  zu  zwei  Grundver¬ 
mögen  des  Gemüths  erheben,  heifst  wiederum:  blofsen  Zu¬ 
ständen  von  Trieben  eine  abstracto  Selbstständigkeit  beile¬ 
gen.  Dafs  der  Verf.  die  Festigkeit  von  dem  oben  wider¬ 
legten  Einheitstricbe  gesondert  hat,  läfst  sich  gar  nicht 
entschuldigen,  da  beide,  streng  genommen,  nur  einen  Re¬ 
griff  ausmachen.  DerWitz  gehört  ursprünglich  gar  nicht 
zum  Gern  ulk,  denn  er  ist  eine  eigeuthümliche  Art  des 
Verstandesgebrauchs,  obgleich  er  durch  das  Spiel  mit  den 
Trieben  einen  starken  Eiuflufs  auf  das  Gemüth  ausübt. 
Gleiche  Bemerkung  trifft  auch  das  Vermögen  der  Idea¬ 
lität,  von  welchem  der  Sinn  für  Wunder  nur  eine  Spiel¬ 
art  bildet.  Der  Verf.  bezeichnet  Idealität  als  eine  Urem- 
pfindung,  welche  wohl  beschrieben,  aber  nicht  delinirt 
werden  könne,  und  welche  sich  mit  jeder  Empfindung, 
jedem  Begriffe,  jedem  Erzeugnisse,  deren  wesentlichste 
Eigenschaften  mit  ihrer  eigensten  Natur  nicht  in  Wider¬ 
spruch  stehen,  vermischen  können.  Die  Erkenntnils-  und 
Denkkräfte,  heifst  es  an  einer  anderen  Stelle,  nehmen  alle 
Eigenschaften  wahr,  wie  sie  in  der  Natur  vorhanden  sind; 
dies  Vermögen  erlangt  dagegen  etwas  Vollkommenes.  Es 
strebt,  jeden  Gegenstand,  welcher  sich  dem  Geiste  dar¬ 
bietet,  zu  erheben,  mit  den  glänzendsten,  vorzüglichsten 
Eigenschaften  auszustatten,  und  weckt  dadurch  die  Begei¬ 
sterung.  Diese  und  ähnliche  Ausdrücke  sind  etwas  vage 
Bezeichnungen  der  productiven  Phantasie,  über  deren  Wir¬ 
kungen  im  Leben  der  Verfasser  viclo  treffende  Bemerkun¬ 
gen  macht. 

Den  Nachahmungstrieb  beschränkt  der  Verf.  viel 
zu  einseitig  auf  das  Talent  der  Schauspieler,  den  charak¬ 
teristischen  Ausdruck  fremder  Persönlichkeit  aufzufasscu , 
und  künstlerisch  au  sich  darzustcllcn.  Deun  unstreitig  ist 


I 


V.  Phrenologie.  *  329 

%  »  / 

jener  Trieb  einer  der  vorherrschcndsten,  der  das  Leben  so 

sehr  in  allen  Richtungen  durchdringt,  dafs  nur  die  ent¬ 
schiedenste  Eigenthümlichkeit  des  Charakters  sich  von  sei¬ 
nem  mächtigen  Einflüsse  befreien  kann.  Er  ist  cs,  der 
das  Kind  in  seiner  geistigen  Entwickelung  leitet,  weil  es 
unfähig,  sich  die  Regel  seiner  Thätigkeit  vorzuschreiben, 
wenn  auch  nur  spielend  die  Sitten  und  Handlungen  Er¬ 
wachsener  nachbildend  sich  aneignet,  und  sich  dadurch  in 
die  Verhältnisse  hineinlebt,  welche  dereinst  seine  Kräfte 
in  Anspruch  nehmen  sollen.  Er  ist  es,  der  den  Charakter 
jedes  Zeitalters,  jedes  Volksthums  grofsentheils  bedingt, 
weil  die  hin  und  wieder  schwankende  Menge,  geblendet 
durch  die  Autorität  hervorragender  Männer,  sich  von  ih¬ 
nen  seine  Denkweise  vorzeichnen  läfst,  und  ihrem  Vor¬ 
bilde,  mag  es  sie  auf  die  Bahn  der  Tugend  führen,  oder 
auf  verderbliche  Abwege  verlocken,  oft  mit  grofser  Uu- 
beholfenheit  nachstrebt.  Und  die  Sympathie,  welche  ihr 
geistiges  Band  um  die  Menschen  schlingt,  so  dafs  sie  un¬ 
willkürlich  in  die  gleichen  Zustände  des  Wirkens  und 
Leidens  hineingezogen  werden,  was  ist  sie  anders,  als  die 
gegenseitige  Nachahmung,  welche  den  Wetteifer  erzeugt, 
und  durch  diesen  die  Gesammtkraft  der  Nationen  zu  allen 
Grofsthaten  der  Weltgeschichte  entflammt?  Blicken  wir 
endlich  auf  die  ungeheuren  Erscheinungen  finsterer  Jahr¬ 
hunderte,  in  denen  nur  die  wenigen  Hochbegabten  zum 
deutlicheren  Selbstbewufstsein  gelangten,  während  die  grofse 
Menge,  vom  Schwindel  ergriffen,  alle  gesellschaftliche  Ord¬ 
nung  zerstörte,  um  die  wilde  Begeisterung  in  den  Kreuz¬ 
zügen,  Geifslerfahrten,  in  der  Tanzwuth  (deren  leben¬ 
dige  Schilderung  von  Hecker  jedem  Leser  in  frischer 
Erinnerung  sein  wird)  und  anderen  fanatischen  Verirrun¬ 
gen  austoben  zu  lassen;  so  werden  wir  auch  bei  ihrer  Er¬ 
klärung  den  Nachahmungstrieb  zu  Hülfe  nehmen  müssen. 
Ein  so  gewaltiges  Vermögen  bedarf  daher  einer  grofsarli- 
gern  Darstellung,  die  ihm  vom  Verf.  nicht  zu  Theil  ge¬ 
worden  ist. 


I 


330 


V.  Phrenologie. 

Mit  den  genannten  Seelen  vermögen  schliefst  der  Verf. 
die  Keilic  der  Gernüthstricbe,  und  lafst  die  Betrachtung 
der  Erkcnutnifs-  und  Denkkräfte  folgen.  Aus  den  bishe¬ 
rigen  Erörterungen  gebt  indefs  wohl  hervor,  dafs  die  Pbre- 
nologen  zu  wenig  analytische  Denker  sind,  um  die  Grund¬ 
begriffe  ihrem  W  esen  nach  in  reiner  Absonderung  heraus- 
zustcllcn,  und  sie  in  präcisen  Delinitionen  aufzufassen. 
Dieser  Mangel  wird  besonders  in  der  Darstellung  der  in- 

I  * 

teilectüellcn  Functionen  fühlbar,  an  welche  man  nach  so 
vielen  Vorarbeiten  um  so  gröfsere  Ansprüche  machen  mufs, 
je  mehr  der  Verstand  in  der  Logik  sich  auf  dem  eigent¬ 
lichsten  Gebiete  der  Reflexion  befindet,  und  daher  vor¬ 
zugsweise  über  sein  W  irken  Rechenschaft  geben  mufs.  Die 
Phrenologen  verralhcn  auch  hier  ihre,  allen  Synthetikern 
gemeinsame  Neigung  zum  Zersplittern  und  Vervielfältigen 
der  Begriffe,  dem  nur  eine  bis  zu  den  Elementen  aufstei¬ 
gende,  die  wesentlichen  Unterschiede  hervorhebende  Ana¬ 
lyse  Vorbeugen  kann.  So  finden  wir  denn  unter  der  Ru¬ 
brik  der  Erkenntnifsvcrmögcn  nicht  weniger  als  zwölf 
Sinne  aufgezählt,  nämlich  den  Gegenstand-,  Gestalt-, 
Gröfsen-,  Gewicht-,  Farben-,  Ort-,  Zahl-,  Ordnung-, 
Thatsachen -,  Zeit-,  Ton-  und  Sprachsinn.  Durch  einige 
dieser  Sinne  wird  die  verschiedene  Empfänglichkeit  des 
Anschauungsvermögens  bezeichnet,  je  nachdem  cs  iu  der 
Richtung  des  einen  oder  anderen  äufscren  Sinnes  (  Gesicht, 
Gehör,  Getast)  stärker  oder  schwächer  entwickelt  her¬ 
vortritt,  seihst  den  Objekten  eines  Sinnes  verschiedene 
Seiten  der  Betrachtung  ahgewinnt,  wie  denn  namentlich 
das  Auge  bald  für  die  Wahrnehmung  der  Farben,  bald 
für  die  der  Formenverhältnisse  besser  organisirt  ist.  Notii- 
wendig  wird  hierdurch  die  Richtung  der  \  erstandesthätig- 
keit  auf  diese  oder  jene  Reihe  der  Naturerscheinungen  vor¬ 
zugsweise  bestimmt,  gleichwie  auch  die  productive  Phan¬ 
tasie  sich  danach  zu  den  verschiedenen  Talenten  für  die 
schönen  Künste  eigcnthiimlich  gestaltet.  Dennoch  bleiben 
Verstand  und  Phantasie  ihrem  Wesen  nach  in  allen  jeueu 


331 


V,  Phrenologie. 

Modiflcationen  sich  gleich,  und  wir  müssen  diese  fiir  Wir¬ 
kungen  eigenthümlicher  Organisation  des  Nervensystcmes 
erklären,  welche  mit  den  höheren  Denkgesetzen  nichts 
gemein  hat,  ihnen  nur  einen  verschiedenen  Wirkungskreis 
eröffnet.  Anders  verhält  es  sich  mit  den  Gemüthstrieben, 
welche  bestimmten  Verhältnissen  des  geistigen  Lebens  ent¬ 
sprechen,  und  daher  nicht  aus  organischen  Bestimmungen 
abgeleitet  werden  können.  Ref.  überschlägt  die  Lehre  von 
den  Vorstellungsvermögen,  um  noch  für  einige  wichtige 
Sätze  der  Phrenologie  Raum  zu  ersparen. 

Unter  der  Ueberschrift,  «Art  der  Thätigkcit  der  ver¬ 
schiedenen  Vermögen,”  spricht  der  Verf.  zuerst  die  wuch¬ 
tige  Bemerkung  aus:  Sämmtliche  Vermögen  bringen,  wenn 
sie  im  gehörigen  Grade  thätig  sind,  gute  passende,  und 
uoth wendige  Handlungen  hervor.  Nur  ein  Uebermaafs  (oder 
falsche  Richtung,  Ref.)  ihrer  Thätigkeit  erzeugt  Mifsbräuche. 
Mit  diesen  Worten  ist  der  eigentliche  Standpunkt  psycho¬ 
logischer  Naturforschung  bezeichnet,  welche  jede  Mystifi- 
cation  durch  ein  böses  Prinzip  ausschliefst  (vergl.  die  Be¬ 
merkungen  über  das  Wohlwollen). 

Die  Vermögen  der  Triebe  und  Gefühle,  heifst  es  wei¬ 
ter,  können  nicht  mittelst  eines  blofsen  Willensactes  (un¬ 
mittelbar)  zur  Thätigkeit  angeregt  werden.  Wohl  aber 
können  sie  durch  innere  Erregung  thätig  sein,  und  danu 
wird  das  Verlangen  oder  die  Empfindung  eines  jeden  wahr¬ 
genommen,  wir  mögen  wollen  oder  nicht,  und  ohne  dafs 
wir  uns  einen  Grund  dafür  angeben  könuen.  Abermals 
eine  überaus  wichtige  Wahrheit,  welche  den  unwillkühr- 
lichen  Wechsel  in  dem  Wirken  der  Gemüthstriebe  als  die 
Ursache  so  vieler  räthselhaften  und  merkwürdigen  Erschei¬ 
nungen  des  Bewufstseins  aufstellt.  Wie  olt  fühlt  sich  der 
Mensch  in  seinen  festesten  Entschlüssen  erschüttert,  in  sei¬ 
nem  entschiedensten  Wirken  durch  plötzlich  in  ihm  erwa-  - 
chende  Regungen  gehemmt,  welche  selbst  der  scharfsin¬ 
nigste  Selbstbeobachter  nicht  immer  zu  deuten  vermag. 
Dergleichen  Vorgänge  durch  dunkle  Vorstellungen  erklären 


332 


V.  Phrenologie. 

zu  wollen,  ist  ein  arger  IMifsgriflT;  sie  ganz  abzuleugnen, 
wie  dies  ein  berühmter  Mann  gethan  hat,  ciu  noch  grösse¬ 
rer  Fehler.  Nur  durch  Triebe  können  Triebe  gezügelt  wer¬ 
den,  und  wer  sich  hierauf  nicht  versteht,  wird  die  viel¬ 
fältigen  inneren  Anfechtungen  im  Gemüt  he  durch  alle  Rich¬ 
tung  des  Denkens  nicht  beschwichtigeo.  Alle  aufrichtigen 
Selbstbekenntnisse  ausgezeichneter  Menschen  geben  Zcug- 
nifs  von  den  barten  Kämpfen,  die  sie  mit  gewaltsamen 
Regungen  zu  bestehen  hatten.  Für  die  Forschung  bleibt 
liier  noch  viel  zu  thun  .übrig.  Wir  haben  indefs  nicht  nö- 
thig,  mit  den  Phrenologcn  jenen  Wechsel  der  Erregung 
auf  die  Gchiruorgane  zu  bezeichnen,  die  erst  noch  bewie¬ 
sen  werden  sollen;  er  erklärt  sieh  ganz  einfach  daraus, 
dafs  im  Geiniithe  das  Ecwufstscin  seiner  mannigfachen  Be¬ 
dürfnisse  nothwendig  erwachen  mul's,  wenn  nicht  ein  ein¬ 
zelner  Trieb  in  herrschende  Leidenschaft  ausarten  soll. 

Jene  Vermögen  werden  unabhängig  vom  Willen  durch 
die  Gegenwart  für  sie  von  Natur  geeigneter  äufscrer  Ge¬ 
genstände  zur  Thätigkeit  angeregt.  So  inufstc  cs  sein, 
wenn  der  Mensch  rasch  und  entschlossen  handeln  soll,  wo 
zur  Reflexion  keine  Zeit  übrig  bleibt.  Wenn  z.  B.  die 
Gefahr  nicht  alle  Triebe,  sie  zu  bekämpfen  oder  ihr  zu 
entfliehen,  zur  höchsten  Intensität  steigerte;  so  würde  der 
Mensch  ihr  unfehlbar  zur  Beute  werden.  Nur  angodeutet 
hat  der  Verf.  bei  einer  anderen  Gelegenheit,  dafs  die  Triebe, 
wenn  sie  übermäfsig  thätig  werden,  den  Verstand  über¬ 
wältigen,  und  ihn  dadurch  zu  Täuschungen  verleiten;  wir 
können  hier  diese  überaus  wichtige  Wahrheit  uicht  wei¬ 
ter  entwickeln. 

Die  uüwillkührliche,  krankhafte  Steigerung  eines  Trie¬ 
bes  erzeugt  eine  heftige  Begierde  des  Gcmüthcs,  in  der 
Richtung  desselben  zu  wirken,  und  bringt  dadurch  die 
ihm  entsprechende  Form  des  Wahnsinnes  hervor.  Schon 
bei  dem  Bekämpfungs- ,  Ehr-  und  dem  religiösen  Triebe 
war  hiervon  mit  der  gebührenden  Anerkenntnis  des  Ver¬ 
dienstes,  das  sich  die  IMircnologcu  um  die  Theorie  der 


333 


V.  Phrenologie. 

Geisteskrankheiten  erworben  haben,  die  Rede;  ja  cs  ist 
ihnen  diese  Deutung  derselben  so  wichtig,  dafs  sie  die 
Erscheinungen  der  Monomanie  als  einen  Ilauptbeweis  von 
der  Selbstständigkeit  der  Triebe  aufstellen,  von  denen  ei¬ 
ner  entartet  sein  kann,  während  die  übrigen  ihrer  Bestim¬ 
mung  gemäfs  wirken.  Sie  verstehen  es,  in  der  Seele  zu 
lesen,  in  ihr  das  Ursprüngliche  in  allen  Verirrungen  und 
Abweichungen  an  den  wesentlichen  Zügen  wieder  zu  er¬ 
kennen,  und  die  Abhängigkeit  des  Verstandes  von  den 
Trieben  in  das  rechte  Licht  zu  stellen,  in  sofern  er  gleich¬ 
zeitig  durch  regelmäfsig  wirkende  Triebe  zu  richtigen, 
durch  entartete  zu  verkehrten  Urtheilen  geleitet  wird, 
ohne  die  grellsten  Widersprüche  darin  wahrzunehmen. 
Diese  Erscheinung,  welche  den  Charakter  der  Monomanie 
bildet,  mufste  den  logischen  Psychologen  unbegreiflich  Vor¬ 
kommen,  daher  sie  sich  gleichsam  instinktmäfsig  von  dem 
Gebiete  des  Wahnsinnes  abwandten,  und  es  den  Aerzten 
überliefsen,  aller  psychologischen  Deutung  ein  Ende  zu 
machen.  Aber  auch  den  Phrenologen  spielt  ihre  Organen- 
lehre  einen  Übeln  Streich,  denn  nicht  in  den  Trieben,  son¬ 
dern  in  den  Organen  suchen  sie  die  krankhafte  Erregung 

i 

auf,  die  vermöge  ihres  physischen  Charakters  jedes  direct 
psychische  Heilverfahren  ausschliefsen  soll.  Wir  werden 
nun  mit  den  oft  genug  wiederholten  Argumenten  abgefun¬ 
den ,  dafs  der  Geisteskranke  sich  durch  Widerlegung  sei¬ 
ner  Irrthümer  nicht  bekehren  lasse,  weil  wir  durch  Dia¬ 
lektik  eben  so  wenig  sein  krankes  Gehirn  umstimmen,  als 
eine  andere  Krankheit  heilen  können.  Ja  der  Verf.  be¬ 
müht  sich,  diese  Ansicht  sogar  auf  Leidenschaften  auszu¬ 
dehnen,  welche,  weil  sie  übermäfsig  entwickelte  Gehirn¬ 
organe  vorhussetzen ,  durch  die  Reaction  derselben  auf  je¬ 
den  directen  Angriff  nur  noch  gesteigert  werden  sollen. 
Der  Verf.  weifs  daher  keinen  anderen  Rath,  als  einmal 
das  Individuum  in  Verhältnisse  zu  bringen,  welche  sowe¬ 
nig  als  möglich  die  Thätigkeit  des  fehlerhaften  Vermögens 
in  Anspruch  nehmen,  und  zweitens,  allen  seinen  höheren 


i 


i 


334 


V.  Phrenologie. 

Gefühlen,  die  bedeutender  entwickelt  sind,  Beweggründe 
darzubicten,  welche  die  Triebe  im  Zaume  ballen,  und  so 
viel  als  möglich  die  Stelle  des  schwachen  Gewissens  er¬ 
setzen  können.  Offenbar  lenkt  er  mit  diesen  Vorschriften 
wieder  auf  den  rechten  Weg  ein,  wie  denn  überhaupt  ein 
häufiges  Schwanken  der  Phrenologen  zwischen  der  psychi¬ 
schen  und  physischen  Ansicht  fast  nothwendig  aus  ihrer 
Stellung  hervorgellt;  namentlich  wird  niemand  gegen  die 
zweite  Regel  etwas  ciuzuwcndcn  haben,  und  auch  die 
erste  ist  in  sofern  gültig,  als  jede  Aufreizung  des  vorherr¬ 
schenden  Triebes  zu  leidenschaftlichen  Ausbrüchen  sorgfäl¬ 
tig  vermieden  werden  mufs,  wiewohl  dies  nicht  immer 
möglich  ist.  Aber  in  der  Phrenologie  fehlt  ein  wichtiges 
Element  der  Psychagogik.  die  Disciplin,  mag  diese  durch 
die  gebietende  Autorität  des  Arztes,  oder  wenn  diese  auf 
das  verwilderte  Genuith  nicht  mehr  wirkt,  durch  cocrci- 
tive  Maafregeln,  welche  die  eindringlichste  Sprache  zur 
Seele  reden,  gehandhabt  werden.  Denn  wie  in  Volkslei- 
denschaften  Strafen  die  ultima  ratio  geltend  machen  müs¬ 
sen,  der  sich  jeder  Widerstand  beugt,  so  die  Strenge  auch 
im  Bezirke  des  Irrenhauses,  dessen  oberstes  Gesetz  der 
Gehorsam  ist.  Von  ihm  hängt  eben  sowohl  die  Aufrecht¬ 
erhaltung  der  Ordnung  des  Ganzen  ab,  welches  aufserdem 
in  wilder  Zerrüttung  zu  Grunde  gehen  müfste,  als  auch 
die  tobenden  Leidenschaften  Einzelner  an  ihm  den  festen 
Zügel  linden.  So  lange  den  Ausbrüchen  der  Leidenschaf¬ 
ten  uicht  ein  Damm  entgegengesetzt  wird,  sondern  sie 
ungehindert  die  unterjochte  Seele  mit  sich  fortreifsen  kön¬ 
nen,  lassen  sie  keine  ihneu  widerstrebende  Regung  in  der¬ 
selben  aufkommen.  Man  täusche  Vieh  uicht  durch  einzelne 
gelindere  Fälle  von  Wahnsinn  gutgearteter  Gemüther,  de¬ 
ren  bessere  Triebe  bald  geweckt  und  in  siegreichen  Kampf 
mit  der  vorherrschenden  Leidenschaft  gebracht  werden 
können;  man  vergesse  nicht  die  stille  Macht  des  Kranken¬ 
hauses,  welches  dem  Kranken  das  Bewufstsein  seiner  Ab¬ 
hängigkeit  und  die  Nothwcudigkeit  der  Selbstbeherrschung 


I 


V.  Phrenologie.  v  335 

/ 

aufdriogt.  Freilich  würde  der  Arzt  ein  grofser  Thor  sein, 
der  mit  den  Kranken  disputiren  wollte,  ohne  seinen  Wor¬ 
ten  den  Nachdruck  einer  gebietenden  Autorität  geben  zu 
können;  aber  um  die  übermüfsig  wirkenden  Triebe  auf  das 
natürliche  Maafs,  und  die  ausgearteten  in  die  sittliche  Rich¬ 
tung  zurückzubringen,  dazu  bedarf  es  der  Belehrung, 
durch  welche  der  Kranke,  sobald  er  für  sie  empfänglich 
geworden  ist,  bestimmt  werden  mufs,  selbstthätig  an  der 
Cultur  seines  Gemüthes  durch  besonnene  Ueberlegung  zu 
arbeiten.  Denn  die  Triebe  an  sich  siud  blind,  und  wir¬ 
ken  ohne  Leitung  des  Verstandes  allemal  fehlerhaft,  daher 
ohne  sittliche  Aufklärung  desselben,  und  ohne  jene  feste 
Haltung,  welche  den  Willen  von  ihm  abhängig  macht, 

auch  die  edelsten  Triebe  ausarten  müssen. 

> 

Nur  indirect,  keifst  es  ferner,  können  die  Gemüths- 
triebe  durch  den  Willen  in  Thätigkeit  versetzt,  oder  da¬ 
von  zurückgehalten  werden.  Die  Erkenutnifs-  und  die 
Denkvermögen  haben  nämlich  die  Bestimmung,  Ideen  zu 
bilden.  Wenn  diese  Vermögen  gebraucht  werden,  um  in¬ 
nerlich  Gegenstände  vorzustellen,  welche  von  Natur  ge¬ 
eignet  sind,  Triebe  und  Gefühle  zu  erregen;  so  werden 
diese  auf  dieselbe  Weise,  wenn  auch  nicht  mit  gleicher 
Stärke,  in  Thätigkeit  versetzt,  als  wenn  die  geeigneten 
Gegenstände  äufserlich  vorhanden  wären.  Die  Lebendig¬ 
keit  des  Gefühles  wird  in  solchen  Fällen  im  Verhältnisse 
zu  der  Kraft  der  Vorstellungen  und  der  Kraft  der  Triebe 
und  Gefühle  zusammengenommen  stehen.  Daher  wird 
auch  jemand,  bei  dem  diese  oder  jene  Empfindung  durch 
inneren  Reiz  des  Triebes  vorherrschend  tkätig  ist,  seinen 
Verstand  mit  Ideen  gefüllt  haben,  welche  zur  Befriedigung 
jener  dienen,  oder  in  anderen  Worten,  die  gewöhnlichen 
Gegenstände  des  Denkens  richten  sich  nabh  den  Trieben, 
welche  aus  inneren  Ursachen  am  thätigsten  sind.  Eben 
so  hängt  auch  die  Vorliebe  für  die  eine  oder  andere  Be¬ 
schäftigung  von  den  besonderen  Trieben  oder  Gefühlen  ab-, 
welche  (vorherrschend)  thätig  sind,  und  die  Verstaudes- 


\ 


\ 


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336 


V.  Phrenologie. 

# 

kräfte  dienen  nur  als  Werkzeuge  zur  Befriedigung  dersel¬ 
ben.  Hieraus  erklärt  sich  leicht  die  grofsc  Verschieden¬ 
heit  des  Geschmacks  und  der  Anlagen  unter  den  Menschen; 
denn  niemals  findet  sich  unter  zwei  Individuen  genau  die¬ 
selbe  Verbindung  der  Triebe;  eines  jeden  Gefühle  sind  ihm 

% 

daher  gewissermaafsen  eigen  thümlich,  und  jeder  verlangt 
daher  auch  besondere  Gegenstände  zu  seiner  Befriedigung. 
Da  die  Vermögen  der  Triebe  und  Gefühle  keine  Ideen  bil¬ 
den,  und  da  cs  unmöglich  ist,  ihre  Erregungen  direct  durch 
einen  Willensact  »urückzurufcn;  so  folgt  daraus,  dafs  diese 
Vermögen  auch  nicht  mit  den  Eigenschaften  der  Wahrheit, 
der  Vorstellung,  des  Gedächtnisses  und  der  Einbildungs¬ 
kraft  begabt  sein  können.  Sie  haben  nur  die  Eigenschaft 
der  Empfindung,  d.  h.  wenn  sie  thätig  sind,  so  wird  eine 
Erregung  oder  Empfindung  wahrgenommen.  —  Bef.  un¬ 
terschreibt  gern  diese  Bemerkungen,  und  hat  sich  nur  hier, 
wie  an  anderen  Stellen  erlaubt,  das  von  dem  Verf.  häufig 
statt  der  Triebe  gebrauchte  Wort  Organ  auszulassen. 

Wir  brechen  hier  ab,  weil  das  Mitgetheilte  wohl  hin¬ 
reicht,  um  daran  zu  erkennen,  dafs  der  Kern  der  Phre¬ 
nologie  gesund  ist,  und  die  Keime  tieferer  Wissenschaft  in 
sich  birgt,  welche  unter  sorgfältiger  Pflege  gewifs  zur 
fruchtbringenden  Entwickelung  gelangen  werden.  Wenn 
wir  auch  die  Zuversicht  nicht  tkeilcn  können,  mit  wel¬ 
cher  sic  den  geheimnifsvollen  Bau  des  Gehirns  enträthselt 
und  mit  der  Geistesthätigkeit  in  Uebcreinstimmung  ge¬ 
bracht  zu  haben  behauptet;  so  hat  sic  doch  durch  ihre 
Organcnlehre  wesentlich  dazu  beigetragen,  die  Psychologie 
auf  einen  für  die  Erforschung  der  Gemüthstriebc  überaus 
günstigen  Standpunkt  zu  führen.  Ist  es  dem  vereinten 
Streben  wackerer  Männer  erst  gelungen,  hinreichende  Ma¬ 
terialien  zur  synthetischen  Psychologie  zu  sammeln,  und 
dadurch  die  hohlen  Abstroctionen  zu  verdrängen,  'welche 
bisher  für  Seelenkunde  ausgeboten  wurden;  so  mag  immer¬ 
hin  die  Crauioscopie  als  ein  Vehikel  ihrer  Forschungen 
gleich  ciucm  uubrauchbar  gewordenen  Instrument  bei  Seite 

gelegt 


VI.  Schwerhörigkeit.  337 

gelegt  werden.  Der  Irrthum  war  oft  genug  die  Saamcn- 
külle  der  Wahrheit,  welche  aufkeimend  sie  durchbricht, 
und  zu  ganz  anderer  Gestalt  sich  entwickelt,  als  sie  im 
Embryonenzustande  errathen  liefs.  Die  Phrenologie  kehrt 
als  Zögling,  welcher  unter  der  Pflege  des  Auslandes  er¬ 
freulich  gedieh,  in  die  deutsche  Heimath,  den  Mutterboden 
so  vieler  grofsen  Gedanken,  welche  erst  auswärts  ihre  Be¬ 
glaubigung  finden  mufsten,  zurück;  und  das  Vaterland, 
welches  so  viele  ungerathene  Fremdlinge  bereitwillig  auf¬ 
nahm,  wird  nicht  länger  den  eingehornen  Sohn  verleug¬ 
nen,  der  als  kräftiger  Zeuge  deutschen  Forschergeistes  dazu 
beitragen  mag,  das  immer  noch  viel  zu  schwache  Selbst¬ 
gefühl  der  Deutschen  dem  Auslande  gegenüber  zu  steigern. 

Ideler. 


VI. 

« 

Erfahrungen  über  die  Erkenntnifs  und  Hei¬ 
lung  der  langwierigen  Schwerhörigkeit; 
von  Dr.  W.  Kramer.  Mit  lithographirten  Abbil¬ 
dungen.  Berlin,  bei  Nicolai.  1833.  8.  106  S. 

(16  Gr.) 

Eine  Schrift  über  Krankheiten  des  Gehörorgans,  wenn 
sie  nicht  blofse  Compilation,  sondern  wie  die  vorliegende, 
Resultat  eigener  Beobachtungen  ist,  verdient  stets  wegen 
der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  und  des  Mangels  an 
gründlichen  Bearbeitungen  desselben  eine  genaue,  in  das 
Einzelne  eingehende  Würdigung.  Diese  wollen  wir  vor¬ 
anschicken,  ehe  wir  unser  Urtheil  über  das  Ganze  ver¬ 
lautbaren. 

Die  Einleitung  macht  uns  mit  den  Ursachen  bekannt, 
welche  den  Verfasser  bewogen  haben,  seine  Arbeit  zu  ver¬ 
öffentlichen.  Unser  bester  Schriftsteller,  Itard,  habe  viele 
Band  28.  Heft  3.  22 


N 


338 


VF.  Schwerhörigkeit. 

Mängel,  «Ia!i in  gehöre  z.  II.  dafs  er  das  Ohrentönen  als 
eine  selbstständige  Krankheit  abhandele,  während  dasselbe 
stets  nnr  Symptom  der  verschiedenartigsten  Krankheits¬ 
zustände  des  Gehörorganes  sei;  dafs  er  die  chronische 
Schwerhörigkeit  bald  nach  den  Ursachen,  welche  krank¬ 
hafte  Veränderungen  im  Gehörorgane  hervorrufen,  bald 
aber  nach  diesen  Veränderungen  sei  st  in  Unterarten  ab¬ 
theile;  dafs  er  endlich  so  leicht  über  die  Behandlung  der 
nervösen  Schwcrliürigkeit  hinwegschlüpfe.  Der  Tadel  er¬ 
scheint  vollkommen  begründet,  aber  unser  Autor  mufs  cs 
sich  gefallen  lassen,  dafs  wir  an  seinem  eigenen  Buche, 
und  zwar  gleich  am  Titel,  einen  ähnlichen  Fehler  rügen. 


rige  Schwerhörigkeit  an,  als  ob  nicht  auch  die  Schwer¬ 
hörigkeit  eben  so,  wie  das  Ohrentönen,  nur  ein  Symptom 
der  verschiedenartigsten  Affectionen  des  Gehörorganes  wäre. 
Im  Inhaltsverzeichnisse  drückt  sich  der  Verf.  ganz  anders, 
als  auf  dem  Titel ,  und,  wie  mich  dünkt,  richtiger  aus,  denn 
dort  heifst  die  oberste,  alle  übrigen  umfassende  Rubrik: 
«Chronische  Krankheiten  des  Gehörorganes.  ” 
Der  Mangel  eines  gründlichen  Handbuches  der  chro¬ 
nischen  Gehörkrankheiten  also  veranlafstc  den  Verfasser, 
dieselben  zum  Gegenstände  seiner  Untersuchungen  zu  ma¬ 
chen.  Er  gründet  diese  nur  auf  seine  cigencu  Beobach¬ 
tungen,  weil  es,  wie  er  meint,  so  sehr  an  fremden  zuver¬ 
lässigen  Erfahrungen ,  lind  diesen  auch  fast  durchgängig  an 
einer  genauen  Angabe  der  Hörweite  des  Kranken  vor  und 
nach  der  Cur  fehle.  Die  Nichtbeachtung  fremder  Erfah¬ 
rung,  welche  der  Verf.  hierin  und  bei  jeder  vorkouunen- 
den  Gelegenheit  in  seiner  Broschüre  ausspricht,  hat  der¬ 
selbe  zwar  mit  vielen  Acrztcn  neuerer  Zeit  gemein,  Bef 
kann  sic  aber  durchaus  nicht  billigen.  Weit  entfernt,  ge¬ 
fördert  zu  werden,  wird  die  Wissenschaft  vielmehr  da¬ 
durch  in  ihrem  ferneren  Fortschreiten  gehemmt.  Eine 
T^ehre,  welche  wie  die  unsere  nur  auf  Erfahrung  gegrün¬ 
det  ist,  mufs  zurückschreiten,  wenn  man  alles,  was  die 


330 


VI.  Schwerhörigkeit. 

Vorfahren  in  langer  Reihe  von  Jahren  zu  erlernen  Gele¬ 
genheit  hatten,  als  unbrauchbar  verwirft;  und  wer,  wie 
unser  Vcrf. ,  nur  dasjenige  als  reell  gelten  lassen  will,  was 
er  selbst  sah,  der  wird  sicher  eine  nur  sehr  unvollkom¬ 
mene  Kenntnifs  seines  Gegenstandes  erlangen. 

Hätte  der  Verf. ,  welchem  praktisches  Talent  nicht  ab¬ 
gesprochen  werden  kann,  sich  mehr  um  die  Leistungen 
seiner  Vorgänger  bekümmert,  so  würde  er  gewifs  Besse¬ 
res  geliefert  haben.  * 

Ref.  wünscht  dem  Verf.  von  Herzen,  dafs  seine  Leser 
in  dieser  Beziehung  anders  denken,  und  den  von  ihm  mit- 
getheiiten  Thatsachen  mehr  Glauben  schenken  mögen,  als 
er  seinen  Vorgängern  zollt.  Mit  heller  Fackel  der  Kritik 
die  vorhandenen  Beobachtungen  beleuchten,  sie  mit  den 
eigenen  Zusammenhalten,  und  daraus  allgemeine  Schlufs- 
folgerungen  ziehen,  ist  ohne  Zweifel  ein  richtigeres,  aber 
freilich  auch  ein  mühsameres  Verfahren,  als  das  vornehme 
Verwerfen  alles  Fremden,  wohinter  sich  nur  allzuoft  die 
Unkenntnifs  desselben  zu  verbergen  sucht.  Es  mufs  dem 
Verf.  allerdings  zugestanden  werden,  dafs  die  Litteratur 
seines  Gegenstandes  noch  viel  zu  wünschen  übrig  läfst,  allein 
er  war  nicht  berechtigt,  darüber  Klage  zu  führen,  da  wir 
im  Verlaufe  seines  Büchleins  deutliche  Spuren  entdecken, 
dafs  er  mit  den  wichtigeren  Bereicherungen,  weiche  die 
Gehörheilkunde  in  neuerer  Zeit  erhalten,  nicht  durchge-  1 
hends  bekannt  ist.  Weder  sind  ihm  die  besseren  Arbeiten 
von  Deleau,  besonders  sein  Extra! t  d’un  ouvrage  inedit 
inlitule  traitement  des  maladies  de  Poreille  moyenne,  qui 
engendrent  Ia  surdite,  Paris  1830,  bekannt,  noch  erwähnt 
er  Buchanan,  Westrumb  und  andere  verdienstvolle 
Schriftsteller. 

Beobachtungen  mit  Bestimmung  der  Hörweite  linden 
sich  in  der  That  auch  bei  Deleau,  Buchanan,  Saun- 
ders  u.  a.  Diese  Autoren  bedienten  sich  zur  Bestimmung 
der  Hörweite,  wie  alle  Ohrenärzte  und  auch  unser  Verf., 
einer  Cylinderuhr. 

22  * 


340 


VI.  Schwerhörigkeit. 

Ueberdies,  wenn  auch  zugestanden  werden  mufs,  dafs 
eine  Beobachtung  erst  dann  ihren  vollen  W  crtli  erhält, 
wenn  sic  mit  genauen  Bestimmungen  der  Hörweite  ausgc- 
stattet  ist,  giebt  es  doch  so  viele  andere  Mittel,  sich  von 
den  verschiedenen  Graden  der  Feinheit  des  Gehörs,  we¬ 
nigstens  approximativ  zu  unterrichten,  dals  der  blolsc  Man¬ 
gel  der  Angabe  der  Gehörweite  uns  noch  nicht  berechti¬ 
gen  kann,  alte  lehrreiche  Beobachtungen  geradezu  auf  den 
littcrarischen  Kehrichthaufen  zu  werfen.  Es  kommt  hier, 
wie  überhaupt,  auf  die  Glaubwürdigkeit  dessen  an,  der 
die  Beobachtung  angcstellt  hat  und  mittheilt.  Trug  und 
Irrthum  sind  selbst  bei  Bestimmung  der  Hörweite  nicht 
immer  zu  vermeiden.  Der  Verf.  lii Ist  sich  sodann  über 
die  bei  den  Ohrkranken  erforderliche  Localuntersuchung 
aus,  und  giebt  auch  dabei  kurz,  wiewohl  nicht  immer 
ganz  richtig,  die  darauf  Bezug  habende  Structur  der  rI  heile 
an.  V  on  der  Mündung  der  Eustachischen  Trompete  in  der 
Rachenböhle  sagt  er,  sie  liege  vor  dem  Iiamulus  pterygoi- 
deus;  ein  kleiner  anatomischer  Druckfehler.  Zur  Untersu¬ 
chung  des  äufscrcn  Gehörganges  bedient  er  sich  eines  zwei¬ 
armigen  Ohrspicgcls,  wie  er  von  Fabricius  Hilda nus 
bis  auf  Itard  angewandt  worden;  das  simple  Instrument 
hätte  der  doppelten  Abbildung  und  der  ausführlichen  Er¬ 
klärung  nicht  bedurft. 

Ref.  macht  hierbei  auf  die  einfachen,  trichterförmigen, 
inwendig  polirten  Obrspiegel,  wie  Dclcau  sie  braucht, 
aufmerksam;  sie  haben  vor  den  zweiarmigen  den  Vorzug, 
dafs  sic  den  Gehörgang  nicht  blofs  dilatiren,  was  doch 
auch  nur  den  vordersten  Tkeil  desselben  betrifft,  sondern 
ihn  auch  erleuchten. 

Der  Cathetcrismus  der  Eustachischen  Röhre  ist  etwas 
flüchtig  beschrieben.  Dafs  die  Eustachische  Röhre  nur 
8  Linien  lang  sei,  ist  unrichtig,  und  selten  steht,  wie  der 
Verf.  angiebt,  ihr  Eingang  in  gleicher  Höhe  mit  dem  un¬ 
teren  Nasengange,  meist  höher.  Nach  dem  Rathe  des 
V  erf.  soll  der  Catheter,  wenn  er  bis  in  die  hintere  Wand 


341 


VL  Schwerhörigkeit. 

des  Schlundkopfes  gebracht  worden,  mit  gesenktem 
Schenkel  zurückgezogen  werden.  Dieses  der  Struktur  der 
1  heile  widersprechende  Manöver  wird  oft  Anlafs  zu  wie¬ 
derholtem,  vergeblichem  Zutappen  werden  müssen,  ehe  die 
Operation  glückt.  Ref.  hält  die  in  RusVs  Magazin  Bd.  38. 
Heft  3.  angegebenen  Handgriffe  für  rationeller  und  in  der 
Praxis  besser  zum  Ziele  führend,  wie  er  denn  auch  der 
Meinung  ist,  dafs  man  nicht  immer  mit  den  metallenen 
Sonden,  deren  sich  der  Verf.  ausschliefslich  bedient,  aus¬ 
reicht,  und  oft  zu  Doppelröhren,  von  welchen  die  eine 
elastisch,  die  andere  von  Metall  ist,  wie  sie  am  angeführ¬ 
ten  Orte  vorgeschlagen  sind,  greifen  mufs. 

Die  Doppelröhren  haben  den  Vorzug  vor  den  einfa¬ 
chen  metallenen:  dafs  man  sie  viel  tiefer  in  die  Trompete 
einführen  kann,  während  sie  die  Fehler  von  Deleau’s 
Sonden  nicht  thcilen. 

Folgen  wir  nunmehr  dem  Verf.  zu  den  einzelnen 
Krankheitsformen:  Er  beschreibt  zuvörderst  drei  chroni¬ 
sche  Krankheiten  des  äufseren  Gehörganges,  nämlich  eine 
rothlaufartigc  Entzündung  der  auskleidendcn  Membran  des¬ 
selben,  die  Entzündung  dieser  Membran  mit  Neigung  zu 
polypösen  Wucherungen,  und  die  Entzündung  der  ausklei¬ 
denden  Membran  und  des  darunter  liegenden  Zellgewebes. 

Ref.  erstaunte  nicht  wenig,  die  Reihe  der  chroni¬ 
schen  Krankheiten  mit  einer  acuten,  der  rothlaufartigec 
Entzündung,  begonnen  zu  sehen;  doch  bald  ergab  es  sich, 
dafs  das  Leiden,  welches  der  Verf.  als  rothlaufartigc  Ent¬ 
zündung  des  äufseren  Gehörganges  beschreibt,  nichts  an¬ 
ders  ist,  als  die  oft  beobachtete  Verstopfung  desselben 
durch  eine  Ansammlung  von  verhärtetem  Ohrenschmalz, 
welcher  der  Verf.  willkührlich  eine  Entzündung  als  Ur¬ 
sache  unterschiebt.  Es  ist  aber  bekannt,  dafs  dieses  chro¬ 
nische  Uebel  in  der  Regel  ohne  Schmerzen  und  Beschwer¬ 
den  entseht,  so  dafs  die  Kranken  meistens  kein  anderes 
Symptom,  als  das  der  Schwerhörigkeit  empfinden;  sic  wun¬ 
dern  sich  alsdann  sehr,  wenn  cs  sich  zeigt,  dafs  so  viel 


342  \  I.  Schwerhörigkeit. 

Unrath  in  ihrem  Ohre  gewesen.  Die  Ursache  dieser  An¬ 
häufung  ist  in  der  grofsen  Mehrzahl  der  Fälle  nicht  ent¬ 
zündlicher  Art,  und  sehr  oft  mit  Abnormitäten  des  YYachs- 
thums  der  im  äufseren  Gehörgange  befindlichen  Haare  ver¬ 
gesellschaftet,  wo  nicht  dadurch  selbst  herbeigefiihrt.  Schon 
der  alte  Lecu  wenlioek  (Arcana  na  turne  dctecta  pag.418 
seq. )  wufste  es  recht  gut,  und  jeder  Arzt,  welcher  solche 
Gehörkranke  behandelt  hat,  wird  sich  ebenfalls  daran  er¬ 
innern,  dafs  das  aus  den  Ohren  derselben  entfernte  Sccrct 
fast  stets  mit  feinen  Haaren,  oft  mit  sehr  vielen,  vermischt 
ist.  Dafs  aber  die  Abnormitäten  des  Haarwuchses  in  ei¬ 
nem  Causalverhältnissc  mit  Verstopfung  des  äufseren  Ge¬ 
hörganges  durch  Ohrenschmalz  stehen,  darauf  deutet  auch 
der  Umstand,  dafs  diese  Krankheit  meistens  erst  im  vor¬ 
gerückteren  Alter  beobachtet  wird,  in  welchem  der  Haar¬ 
wuchs  in  der  Nase,  den  Ohren  u.  s.  w.  stärker  wird. 

Der  Verf.  sagt  auch  selbst  S.  21  und  22:  «Häufig 
entziehen  sich  diese  Symptome  entzündlicher  Aufregung 
der  Wahrnehmung  des  Kranken  gänzlich,  uud  es  würde 
diese  an  sich  leichte  Entzündung  regelmäfsig  und  unbe¬ 
merkt  verlaufen,  wenn  nicht  die  Anhäufung  eines  zähen 
Ohrenschmalzes  als  mechanisch  und  chemisch  wirkende 
Schädlichkeit  die  iu  der  Absonderung  erlöschende  Entzün¬ 
dung  immer  von  neuen  wieder  anfachte.  ”  Selbst  die  drei 
beigefiigten  Krankengeschichten  zeugen  wider  den  Verfas¬ 
ser.  Sie  betreffen  Subjekte  von  50,  54  und  72  Jahren; 
bei  keinem  derselben  geschieht  Erwähnung  von  entzünd¬ 
lichen  Symptomen,  nur  bei  dem  ersten  heifst  es,  es 
sei  grofse  Empfindlichkeit  gegen  scharfe  Töne  und  öfteres 
Jucken  und  Kitzeln  in  beiden  Gchörgängen  gleichzeitig 
mit  dem  Bestehen  der  Verstopfung  der  Gchörgänge  vor¬ 
handen  gewesen. 

Diese  Beobachtungen  beweiscu  also  nicht,  was  sie 
beweisen  sollen:  dafs  die  Verstopfung  des  äufseren  Gehör¬ 
ganges  Folge  einer  Entzündung  sei. 

Die  Anwendung  des  Seifeuwassers  zur  Erweichung  des 


343 


V  1.  Schwerhörigkeit. 


V 


verhärteten  Ohrenschmalzes  darf  nicht  so  unbedingt  empfoh¬ 
len  werden,  als  es  der  Verf.  thut,  denn  eben  in  den  Fäl¬ 
len,  wo  zugleich  ein  entzündliches  Leiden  vorhanden  ist, 
innls  das  Seifenwasser,  als  zu  reizend,  vermieden  werden. 

Der  zweite  Absch nitt  handelt  die  Entzündung  der 
auskleidenden  Membran  des  Gehörgauges  mit  einer  Nei¬ 
gung  zu  polypösen  Wucherungen  ab.  Diese  Krankheit  ist 
wieder  nichts  anderes,  als  die  unter  dem  Namen  der  Po¬ 
lypen  des  äufseren  Gehörganges  von  den  Autoren  aufge- 

führte.  Ref.  stimmt  zwar  mit  dem  Verf.  darin  üherein: 

/ 

die  Ohrpolypen  als  Folge,  nicht  als  Ursache  der  mit  ihnen 
gleichzeitig  obwaltenden  Entzündung  zu  betrachten;  kann 
es  aber  doch  nicht  ungerügt  lassen,  dafs  der  Verf.  diese 
Ansicht,  welche  nicht  von  allen  Pathologen  getheilt  wird, 
ohne  Beweis  hingestellt,  und  verlangt  hat,  dafs  man  sie 
auf  Treue  und  Glauben  hinnehmen  soll. 

Ueber  Pathologie  und  Behandlung  dieser  dem  Gehör 
gefährlichen  Krankheit  sagt  der  Verf.  das  Bekannte.  Zwei 
darauf  bezügliche  Krankheitsfälle,  welche  er  beifügt,  bie¬ 
ten  kein  neues  Interesse  dar;  der  zweite  lief  in  Folge 
einer  durch  Erkältung  herbeigeführten  Metastase  tödtlich 

ab;  die  Section  des  Kopfes  wurde  aber  nicht  gestattet. 

/ 

Hierauf  folgt  die  chronische  Entzündung  des  äufseren 
Gehörganges  unter  dem  Namen:  Entzündung  der  aus¬ 
kleidenden  Membran  des  Gehörganges  und  des 
darunter  liegenden  Zellgewebes.  —  Die  Beschrei¬ 
bung  ist  nach  der  Natur  gezeichnet,  leidet  aber  an  dem 
Fehler  des  ganzen  Buches;  der  Verf.  hat  nämlich  blofs  be¬ 
schrieben,  was  er  gesehen,  ohne  Benutzung  fremder  Ar¬ 
beiten,  daher  ist  sie  einseitig,  und  umfalst  nicht  alle  Va¬ 
rietäten.  Das  was  er  beschrieben  hat,  ist  die  am  häufig¬ 
sten  vorkommende  Form,  bei  welcher  die  Schmalzdrüsen 
vorzugsweise  entzündet  sind,  wodurch  eine  Verengerung 
des  hinteren  Theilcs  des  Gehörganges  entsteht.  Er  ver¬ 
langt  mit  Recht,  dafs  die  Behandlung  nicht  einzig  und 
allein  auf  den  Gchörgaug  beschränkt  werde,  sondern  den 


344 


VI.  Schwerhörigkeit. 

Gesammtorganismus  zuvörderst  in  Anspruch  nehme,  und  ta¬ 
delt  den  Mifsbrauch  der  adstringirenden  Mittel,  welche 
erst  nach  beseitigter  entzündlicher  Heizung  Platz  greifeu 
dürfen;  er  empfiehlt,  wie  seine  Vorgänger,  künstliche  Ge¬ 
schwüre  hinter  den  Ohren,  und  beginnt  die  Localbchand- 
lung  mit  Einbringung  von  Prefsschwamm  in  den  äufseren 
Gehörgang,  wodurch  die  Verengerung  des  letzten  iheil- 
weisc  gehoben  werden  soll;  dauert  dessenungeachtet  der 
Ohrcnfiufs  fort,  dann  tritt  nach  dem  Verfasser,  gleich¬ 
viel  ob  das  Trommelfell  durchbohrt,  ob  Kno- 
chenfrafs  vorhanden  ist  oder  nicht,  der  Zeit¬ 
punkt  für  die  örtliche  Anwendung  a d stri n giren- 
der  Mittel  ein. 

Dieses  unrationelle  Verfahren  spricht  sich  selbst  das 
Urtheil.  Hef.  glaubt  sich  in  Bezug  auf  dasselbe  jeder  Kri¬ 
tik  cuthalten  zu  können.  Die  drei  erzählten  Krankheits¬ 
geschichten  zeigen  durch  ihren  unvollständigen  Erfolg,  dafs 
es  nicht  so  ein  Leichtes  um  die  Behandlung  der  chroni¬ 
schen  Otitis  ist,  als  der  Verf.  zu  glauben  scheint. 

Die  Verengerung  des  Gehörganges  durch  Flechten  er¬ 
wähnt  der  Verf.  nur  gelegentlich ,  und  verweist  in  Bezug 
darauf  auf  die  allgemeine  Pathologie  uud  Therapie. 

Die  im  Gefolge  der  äufseren  chronischen  Ohrenent¬ 
zündung  erscheinende  Durchlöcherung  des  Trommelfelles 

0 

berührt  der  Verf.  kaum,  indem  er  die  Wiederherstellung 
des  Gehöres  in  diesem  Falle  für  eine  Unmöglichkeit  erklärt. 

Diese  Behauptung  steht  offenbar  mit  der  Erfahrung 
im  Widerspruche;  denn  wenn  gleich  das  Trommelfell  ein 
zum  feinen  Hören  nothwendiger  T heil  ist,  so  wird  doch 
bekanntlich  das  Hören  durch  eine  in  demselben  befindliche 
OefTnung  nicht  unwiederbringlich  vernichtet,  was  auch  der 
Verf.  selbst  recht  gut  zu  wissen  scheint,  indem  er  wei¬ 
ter  unten  Anzeigen  für  die  Perforation  des  Trommelfelles 
aufstellt.  i 

Die  von  vielen  Schriftstellern  nufgeführte  Erschlaffung, 
so  wie  auch  die  zu  starke  Anspannung  des  Trommelfelles, 


345 


VI.  S  chwerhürigkeit. 

hält  der  Verf,  für  durchaus  hypothetisch,  und  folgt  hierin 
dein  Aussprüche  Itard’s.  Solche  Affectionen  sollen  sich, 
wie  er  behauptet,  weder  im  Lebenden,  noch  in  der  Leiche 
nachweisen  lassen.  Was  die  Auffiudung  eines  Vitalitäts¬ 
fehlers,  wofür  doch  die  übermäfsige  Anspannung  des  Trom¬ 
melfelles  gehalten  werden  mufs,  bei  Leichen  betrifft,  so 
wundern  wir  uns  nicht,  dafs  der  Verf.  nicht  gefunden, 
wohl  aber  darüber,  dafs  er  gesucht  hat.  Die  Erschlaf¬ 
fung  des  Trommelfelles  aber  ist  allerdings  am  Cadaver,  und 
zwar  von  Morgagni  (de  sedib.  et  caus.  Epist.  XXL 
art.  24.)  und  von  Rosenthal  (Horn’s  Archiv  1819. 
Juli  und  August.  S.  17  Anmerkung.)  gefunden  worden. 

Die  Verdunkelung  des  Trommelfelles  berührt  der  Verf. 
kurz  und  meint,  dafs  sie  für  sich  allein  dem  Hören  kei¬ 
nen  bedeutenden  Eintrag  thue.  Sodann  handelt  derselbe, 
S.  49  bis  85,  die  Krankheiten  des  mittleren  Ohres  ab. 

Der  Katarrh  der  Eustachischen  Röhre  und  der  Trom¬ 
melhöhle  macht  den  Anfang.  Er  wird,  wie  schon  De- 
leau  lehrte,  durch  den  Catheterismus  der  Eustachischen 
Röhre  erkannt;  die  eingeblasene  Luft,  wenn  sic  eindringt, 
rregt  ein  «brodelndes  »  (Deleau’s  muköses)  Geräusch; 
dringt  die  Luft  nicht  ein,  so  sollen  einige  Tage  lang  In- 
jectionen  von  Wasser  gemacht  werden,  um  den  Weg  zu 
bahnen. 

In  Bezug  hierauf  erinnert  aber  Ref.,  dafs  das  in  die 
Paukenhöhle  gespritzte  Wasser  dieselbe  oft  mehre  Tage 
lang  nicht  wieder  verläfst,  und  daher  kurze  Zeit  nach 
Wasseriujectionen  die  Beschaffenheit  des  durch  Luftinjectio- 
nen  erregten  Geräusches  durchaus  kein  richtiges  Criteriurn 
abgiebt.  —  Wenn  es  mifslingt,  durch  wässerige  Ein¬ 
spritzungen  den  Weg  in  die  Paukenhöhle  zu  bahnen,  so 
giebt  der  Verf.  den  Rath,  durch  den  in  die  Eustachische 
Röhre  eingebrachten  Silberkatheter  eine  Darmsaite  in  die 
Paukenhöhle  zu  führen.  Durch  dieses  Manöver  werden 
organische  Verengerungen  der  Eustachischen  Trompete  von 
Verschleimung  derselben  unterschieden.  Dieses  Verfahren 


i 


346 


» 


VI.  Schwerhörigkeit 

ist  ohne  Zweifel  gut,  und  das  allein  sichere  und  zweok- 
mäfsige.  Rcf. ,  welcher  früher  zu  diesem  Zwecke  dünne 
stählerne  Sonden  empfahl,  hat  dieselben  als  nicht  biegsam 
genug,  selbst  schon  langst  verlassen,  und  sich  ebenfalls  zu 
den  Darmsaiten  gewandt. 

Die  Behandlung  des  Trommclhöhlcnkatarrhs  beruht, 
nebst  Befolgung  der  etwanigen  allgemeinen  Indicationcn, 
nach  dem  Verf.  auf  Fortschaffung  des  augehäuflcn  Schlei¬ 
mes  und  Verhütung  neuer  Anhäufungen.  Dazu  dienen  die 
Injectionen,  und  zwar,  da  die  Perforation  des  Trommelfelles 
und  die  Anbohrung  des  Zitzenfortsatzes  wesentliche  Nach¬ 
theile  verursachen,  die  Injectionen  durch  den  naturge- 
mäfscu  Weg,  durch  die  Eustachische  Köhrc. 

Unser  Autor  behandelt  die  Frage  zwischen  den  Luft- 
und  Wasscrinjectionen  in  die  Eustachische  Köhrc,  wie  die 
meisten  seiner  Vorgänger,  auf  eine  höchst  einseitige  Weise. 
Er  stellt  sich  nämlich,  wie  diese,  die  Frage:  Soll  man 
Luft  oder  Wasser  injiciren?  Kesser  wäre  es  aber,  wenu 
man  sich  fragte:  lu  w  elchen  Fällen  müssen  luftförmige 
deu  wässerigen,  in  welchen  hingegen  wässerige  den  luft¬ 
förmigen  Injectionen  vorgezogen  werden? 

Der  Verf.  verwirft  die  Luftiujectionen ,  von  denen  er 
irrthümlich  glaubt,  dafs  Delcau  ihr  Erfinder  sei,  wäh¬ 
rend  sie  doch  schon  Lentin  anw’audte;  er  zieht  die  wäs¬ 
serigen  Injectionen  vor  und  bemerkt  ganz  richtig,  dafs  der 
gegen  dieselben  erhobene  Eiuwurf,  dafs  sic  nicht  naturge- 
mäfs  seien,  da  die  Trommelhöhle  eine  Lufthöhle  sei,  nicht 
auf  den  kranken  Zustand  Anwendung  finden  könne.  Die 
Erfahrung  zeigt  auch,  dafs  eine  verschleimte  Paukenhöhle 
wässerige  Injectionen  gut  verträgt.  Gleichwohl  mufs  Ref. 
prolcstiren,  wenn  der  Verf.  hei  der  Behandlung  des  Pau- 
kcnhöhlcncatarrhcs  der  Luftinjectiooen  entbehren  zu  kön¬ 
nen  glaubt,  denn  das  von  einem  Catarrh  geueseude  mitt¬ 
lere  Ohr  verträgt  keine  wässerigen  Injectionen  mehr,  wie 
unser  Verf.  Seite  C8  selbst  sagt,  bedarf  aber  oft  noch  der 
Luftinjectioucn. 


347 


VI.  Scliwcriniriikcit. 

Aufserdcm  gicbt  es  Krankheitszustäudc  des  mittleren 
Ohres,  bei  welchen  dasselbe,  wenn  man  Luft  einbläst, 
von  Anfang  her  keinen  schleimigen,  sondern  einen  trocke¬ 
nen  Ton  gicbt,  und  alsdann  selten  wässerige  Einspritzun¬ 
gen  verträgt. 

Der  Verf.  empfiehlt  besonders  die  wässerige  Auflösung 
des  Kochsalzes  zu  Einspritzungen  ;  die  Quantität  des  Koch¬ 
salzes  soll  mit  der  eintretenden  Reconvalcscenz  vermindert 
werden;  er  will  dadurch  sehr  gute  Resultate  erlangt  ha¬ 
ben.  Der  Vorschlag  scheint  eine  praktische  Prüfung  zu 
verdienen. 

Nachdem  der  Verf.  sich  von  Seite  55  bis  59  bemüht 
hat,  die  zum  Theil  allerdings  nicht  haltbaren  Gründe  zu 
widerlegen,  welche  Deleau  für  seine  Sonden  und  für  die 
ausschliefsliche  Anwendung  der  Luftdouchen  angiebt,  thcilt 
er  bis  Seite  64  sehr  ausführlich  Deleau’s  Verfahren  beim 
Catheterismus  der  Eustachischen  Röhre  aus  dessen  Aufsatz 
in  der  Revue  medicale  von  1827,  und  dessen  Rapport 
adresse  aux  membres  de  l’administration  des  hospices  de 
Paris  1829,  mit. 

Der  Verf.  beschreibt  alsdann  seine,  im  Wesentlichen 
mit  der  Itardschen  übereinstimmende  Weise,  die  Injectio- 
nen  in  die  Eustachische  Röhre  zu  machen.  Die  Itard- 
sche  Laufzange  (pince  ä  coulant)  hat  er  modificirt  und 
abbilden  lassen,  die  Modification  scheint  aber  unwesent¬ 
lich  zu  sein. 

Die  Injection,  räth  der  Verf.,  wenn  sie  nicht  gleich 
bis  an  das  Trommelfell  dringt,  mit  Kraft  zu  machen;  spült 
das  eingespritzte  Wasser  nicht  Schleimportionen  aus  der 
Tuba  aus,  so  soll  es  alsdann  mit  Kochsalz  geschärft  wer¬ 
den.  Zusätze  von  aromatischen  Aufgüsseu,  von  Auflösun¬ 
gen  von  Schwefelleber  u.  s.  w.  zu  den  Einspritzungen  zu 

machen,  widerräth  er  als  nachtheilig;  er  macht  von  Neuem 

'  * 

auf  die  Thatsache  aufmerksam,  dafs  der  Erfolg  der  ersten 
Injectionen  fast  stets  nur  vorübergehend  ist,  und  dafs  erst 
nach  lange  fortgesetzter  Behandlung  die  Besserung  von 


/ 


348 


VI.  Schwerhörigkeit. 

Dauer  ist.  Wenn  die  Cur  so  weit  gediehen  ist,  dafs  bei 
starkem  Einblasen  durch  den  Catheter  der  LufUtrom  ohne 
Widerstand  bis  zum  Trommelfell  dringt  und  ein  durchaus 
trockenes  Geräusch  hervorbringt,  sollen  die  Einspritzungen 
aufhören. 

In  Bezug  auf  flüssige  Einspritzungen  ist  Ref.  hierin 
gleicher  Meinung  —  Luftinjectionen  aber  können  alsdann, 
nach  Ref.  Erfahrung,  immer  noch  mit  Vortheil  zur  ferne¬ 
ren  Roboration  der  Schleimmembrau  der  Paukenhöhle  an¬ 
gewandt  werden. 

Es  folgen  fünf  instructive  Krankheitsfälle;  bei  dein 
letzten  kann  man  dem  Vcrf.  den  Vorwurf  machen,  dafs 
er  sich  auf  die  Behandlung  des  rechten  Ohres  beschränkte, 
am  linken  aber  keine  Ileilvcrsuche  anstelltc,  weil  der 
linke  Nasengang  zu  eng  war,  um  dem  Katheter  den  Durch¬ 
gang  zu  gestatten. 

Der  Verf.  hätte  hier  das  von  Dclcau  vorgeschlagenc 
und  ausgeiibte  Verfahren,  den  Katheterismus  der  Eusta¬ 
chischen  Röhre  durch  den  Nasengang  der  entgegenge¬ 
setzten  Seite  zu  verrichten,  mindestens  versuchen  sollen. 
Ref., kann  aus  eigener  Erfahrung  bestätigen,  dafs  dieses  Ma¬ 
növer,  wenngleich  sehr  schwierig,  doch  ausführbar  ist. 

Die  Verengerungen  der  Eustachischen  Trom¬ 
pete,  zu  welcheu  der  Vcrf.  alsdann  übergeht,  vergleicht 
er  wohl  nicht  ganz  glücklich  mit  denen  der  Harnröhre. 
Um  diese  Verengerungen  zu  heben,  bringt  er  durch  einen 
silbernen  Katheter  eine  dünne  Darmsaite  in  die  Tuba, 
läfst  sie  einige  Zeit  liegen,  und  wiederholt  dieses  Manöver 
mehrmals. 

Auch  Ref.  befolgt  dieses  Verfahren,  und  kann  cs  als 
nützlich  und  gefahrlos  empfehlen.  Das  von  Dclcau 
vorgeschlagenc  Einbringen  eines  Stückes  Prefsschwanun 
durch  deu  Katheter  ist  zwar  keinesweges  unausführbar, 
wie  der  Verfasser  behauptet,  aber  cs  erscheint  gefährlich, 
denn  cs  könnte  geschehen,  dafs  der  durch  den  Schleim  er¬ 
weichte  Prcfsschwamm  zurückblicbc,  wenu  mau  ihn  mit- 


349 


VI.  Schwcrli  üri  gkoit. 

tclst  des  durch  ihn  gezogenen  Fadens  wieder  auszieben 
wollte,  indem  dieser  ausrisse.  Zudem  ist  die  in  Anwen¬ 
dung  gebrachte  Darmsaite  ein  weit  einfacheres  Mittel. 

Stricturen  im  knöchernen  Theile  der  Trompete  (bes¬ 
ser  würde  gesagt  sein:  Unwegsamkeit  des  knöchernen 
Thciles  der  Trompete,  denn  ob  Stricturen  oder  andere  Hin¬ 
dernisse  diese  Unwegsamkeit  verursachen,  läfst  sich  doch 
wohl  kaum  a  priori  entscheiden)  vermochte  der  Verf. 
nicht  auf  diese  Weise  zu  heilen,  und  hält  hier  die  Per¬ 
foration  des  Trommelfelles  für  angezcigt. 

Aufser  der  Verschliefsung  der  Eustachischen  Röhre 
läfst  er  nur  noch  Verknorpelung  oder  Verknöcherung  des 
Trommelfelles  als  Indication  für  die  Durchbohrung  dessel¬ 
ben  gelten,  und  erklärt  sich  mit  Recht  gegen  die  in- 
distincte  Anwendung  dieser  Operation  bei  hartnäckiger 
Schwerhörigkeit. 

Die  einzige  beigegebene  Krankengeschichte  betrifft  ei¬ 
nen  Fall,  in  welchem  diö  Darmsaiten,  und  nach  ihnen 
auch  die  zweimalige  Perforation  des  Trommelfelles,  nicht 
von  erwünschtem  Erfolge  waren. 

Die  Verwachsung  der  Eustachischen  Röhre  soll,  wenn 
sie  am  Eingänge  befindlich,  durch  die  Unmöglichkeit  den 
Catheterismus  mit  geschickter  Hand  zu  volllüT.ren,  befin¬ 
det  sie  sich  weiter  oben,  dadurch  erkannt  weiden,  dafs 
die  vordringende  Darmsaite  auf  ein  unüberwindliches  Hin- 
dernifs  stöfst.  Da  die  Diagnose  auf  so  unsicheren,  blofs 
negativen  Gründen  beruht,  verwirft  der  Verf.  auch  die 
ohnehin  unzweckmäfsigen  und  gewagten  Vorschläge  von 
Saissy  und  Perrin,  durch  ein  Stilet  oder  gar  durch 
Höllenstein  die  Röhre  wieder  herzustcllcn.  Ein  Fall  ist 
beigegeben,  wo  dem  Verf.  bei  seiner  vielen  Uebung  der 
Catheterismus  beider  Eustachischen  Röhren  nicht  gelang, 
weshalb  er  eine  Verschliefsung  derselben  zu  erkennen 
glaubte.  Da  das  Trommelfell  beiderseits  durchsichtig  er¬ 
schien,  so  möchte  vielleicht  die  Diagnose  in  Zweifel  zu 
ziehen  sein.  Der  Kranke  wurde  als  unheilbar  entlassen, 


350 


VI.  Schwerhörigkeit. 

ohne  dafs  die  Durchbohrung  des  Trommelfelles  vorgenom- 
inen  worden  wäre. 

Die  dritte  Abtheilung,  von  Seile  86  an,  begreift  die 
Krankheiten  des  inneren  Ohres,  die  nervöse  Schwer¬ 
hörigkeit.  Der  Verf.  theill  dieselbe  in  eine  erethi- 
schc,  und  in  eine  torpide  Form  ein;  er  unterscheidet 
6ie  durch  das  Onrentönen ,  welches  ein  steter  Begleiter  der 
ersten  sei,  hei  der  letzten  aber  fehle.  Die  Diagnose  der 
Krankheit  kann  natürlich  nur  auf  negative  Momente  be¬ 
gründet  sein;  lief,  glaubt  aber,  dafs  die  von  dein  Verf. 
angeführten  noch  nicht  genügend  sind,  um  die  Annahme 
einer  nervösen  Taubheit  in  concreto  zu  rechtfertigen. 

Der  Verf.  sagt:  «Wenn  der  änfscrc  Gehörgang  frei 
und  rein,  das  Trommelfell  durchsichtig  und  glänzend,  die 
Eustachische  Trompete  und  Paukenhöhle  frei  von  jeder 
Schleimauhüufung,  und  zugänglich  für  die  Luft  und  Was- 
scrdouchc  sind,  so  ist  man  berechtigt,  den  Grund  der 
Schwerhörigkeit  im  Gehörnerven  selbst  zu  suchen.”  — 

Ref.  glaubt,  dafs  alle  diese  Negationen  vorhanden  sein 
können,  ohne  dafs  man  berechtigt  ist,  die  Krankheit  als 
im  Nerven  begründet  anzusehen.  Bei  Diagnosen,  welche, 
wie  diese,  lediglich  auf  dem  Wege  der  Exclusion  gestellt 
werden,  kann  man  nicht  vorsichtig  genug  zu  Werke  ge¬ 
hen;  —  nun  ist  cs  aber  seit  Büchner  allgemein  bekannt, 
dafs  die  meisten  tauben  Personen  diejenigen  Töne  recht 
gut  vernehmen,  welche  ihnen  durch  feste,  an  den  Schä¬ 
del  oder  die  Zähne  gelegte  Leiter  mitgcthcilt  werden.  In 
allen  diesen  Fällen  mufs  mau  nach  des  Ref.  Dafürhalten 
den  Gedanken  an  eine  Inhabilität  des  Gehörnerven  ver¬ 
bannen,  dagegen  auf  eine  Krankheit  derjenigen  Organe 
schlicfscn,  welche  das  Geschäft  haben,  den  Schall  zur  Per- 
ception  des  Nerven  zu  bringen.  Diesen  Punkt  hat  der 
Verf.  ganz  übersehen,  und  so  bleibt  es  denn  immer  zwei¬ 
felhaft,  ob  sich  nicht  unter  den  von  ihm  mit  Erfolg  be¬ 
handelten  Kranken  mancher  befand,  desen  Labyrinth  voll¬ 
kommen  gesund,  und  wo  nur  das  mittlere  Ohr  krank  war. 


/ 


Vf.  Schwerhörigkeit.  351 

✓ 

Kann  denn  Krankheit  des  mittleren  Ohres  nicht  auch 
ohne  Verstopfung  und  Schleimanhäufung  gedacht  werden? 
Kommt  sie  nicht  wirklich  vor?  — 

Das  die  nervöse  Schwerhörigkeit  begleitende  Ohren¬ 
tönen,  erklärt  der  Verf.  durch  die  bei  erhöheter  Reizbar¬ 
keit  des  Gehörnerven  von  diesem  percipirte  Bewegung  des 
Blutes  in  den  Arterien  des  Labyrinths.  Diese  Art  des 
Ohrentönens  kommt  vor ,  und  wird  von  gebildeten  Kran¬ 
ken  als  solche  erkannt;  —  Ref.  sieht  aber  nicht  ein, 
warum  das  mit  wahrhaft  nervöser  Schwerhörigkeit  auf¬ 
tretende  Ohrentönen  nicht  auch  in  einer  krankhaften  Thä- 
tigkeit  des  Gehörnerven  selbst  seinen  Grund  haben  kann, 
wie  manche  subjective  Lichterscheinungen  beim  schwar¬ 
zen  Staar. 

Die  Prognose  stellt  der  Verf.  bei  jungen  Subjecten 
und  bei  der  torpid -nervösen  Form  am  günstigsten,  das 
letzte,  weil  hier  die  Anwendung  kräftigerer  Reizmittel  ge¬ 
stattet  ist.  Der  Verf.  dringt  darauf,  dafs  man  die  ört¬ 
liche  Behandlung  des  Gehörorganes  ausschliefslich  in 
Anspruch  nehme;  das  Labyrinth  sei  so  isolirt  von  dem 
übrigen  Körper,  dafs  die  allgemeinen  Mittel,  wie  man  sie 
bisher  mit  geringem  Erfolge  anwandle,  vergeblich  sein 
müssen.  Von  diesem  Grundsätze  ausgehend,  applicirt  er 
seine  Mittel  lediglich  durch  die  Eustachische  Röhre  auf 
die  Paukenhöhle,  und  hat  diesem  Verfahren  seine  guten 
Erfolge  zu  danken.  Der  Verf.  hat  Injectionen  von  Koh¬ 
lensäure,  sowohl  rein,  als  mit  atmosphärischer  Luft  ver¬ 
mischt,  von  Wasserstoffgas,  von  Kohlenwasserstollgas 
(Kohle  im  Maximo)  mit  und  ohne  Zusatz  von  Essigäther, 
ohne  Erfolg  versucht,  und  blieb  zuletzt  bei  den  Essigäther¬ 
dünsten  stehen,  welche  siel)  ihm  bewährten.  —  Ref.  kann 
nicht  über  alle  diese  Mittel  aus  eigener  Erfahrung  urt hei¬ 
len,  nur  die  Kohlensäure  und  die  Essigätherdünste  hat  er 
in  seiner  Praxis,  aber  nur  bei  Krankheiten  der  Pauken- 
höhle,  angewandt,  und  sic  hier  als  nützliches,  erregendes 
Mittel  erkannt.  Die  Aethcrdünste  entwickelte  der  Verf. 


7  1 


I 


I 


352 


VI.  Schwerhörigkeit. 

anfangs  in  dem  von  Itard  hierzu  vorgcsehlngcnen  Appa¬ 
rate,  verlief*  ihn  aber  bald,  weil  in  demselben  der  Aether, 
indem  man  ihn  tropfenweise  auf  eine  glühende  Metallplattc 
fallen  läfst,  nicht  blofs  verflüchtigt,  sondern  zersetzt  wird, 
und  vertauschte  ihn  mit  einem  sehr  einfachen,  leicht  zu 
construirendcn  Apparate  eigener  Erfindung,  mittelst  dessen 
der  Aether  verflüchtigt  und  mit  Wasserdämpfen  vermischt, 
in  einer  Temperatur  von  30  bis  40  Grad  Reaum.  in  die 
Eustachische  Röhre  getrieben  wird.  Der  Verf.  versichert 
von  diesem  Verfahren,  wenn  es  eine  angemessene  Zcitlang 
mit  Beharrlichkeit  fortgesetzt  worden,  die  erfreulichsten 
Resultate  erhalten  zu  haben.  Die  Anwendung  des  Galva¬ 
nismus  hat  er  nicht  versucht,  indem  er  denselben,  so  wie 
die  Elektricität,  für  eine  Kraft  hält,  welche  unserer  Herr¬ 
schaft  noch  nicht  genug  unterworfen  sei,  um  sic  dem 
schwachen  Reizvertrage  des  kranken  Gehörnerven  anpas¬ 
sen  zu  können. 

Zuletzt  berührt  der  Verf.  noch  kurz  die  Hörrohre.  Er 
erklärt  sie  nur  für  die  torpide,  nicht  für  die  crethisch- 
nervöse  Schwerhörigkeit  passend.  Die  Verstärkung  des 
Schalles,  welche  sie  hervorbringe,  mache  den  Schall  zu¬ 
gleich  verworren,  unverständlich,  verstärke  das  Ohrtöneu, 
und  sage  deshalb  den  an  crethisch- nervöser  Schwerhörig¬ 
keit  leidenden  Krankcu  nicht  zu.  I)ic  Thatsache  ist  rich¬ 
tig  das  «  Warum  *»  ist  der  Verf.  aber  schuldig  geblieben, 
und  deshalb  auch  die  Abhülfe.  Dieser  Erscheinung  liegt 
aber  keine  andere  Ursache  zum  Grunde,  als  dafs  durch 
den  langen  und  vcrhältnifsmäfsig  engen  Canal  des  Hör¬ 
rohres  die  Luft  in  beständigem  Strome  zieht,  und  dieser 
Luftzug,  indem  er  an  die  festen  Wandungen  des  Hörrohres 
stöfst,  ein  Vibriren  derselben  erregt,  so  dafs  dem  subjecti- 
ven  Sausen,  welches  der  Kranke  empfindet,  noch  ein  ob- 
jectivcs  hinzugefügt  wird,  weun  er  das  Hörrohr  an  das 
Ohr  legt.  Verschliefst  inan  hingegen  die  weitere,  den 
Schall  aufnehmende  Mündung  des  Hörrohres  durch  ein  dar¬ 
über  ausgespanntes  Goldschlägerhäutchen,  so  wird  dadurch 

der 


VI.  Schwerhörigkeit.  353 

der  Luft  der  Durchzug  verwehrt,  das  Sausen  hört  auf, 
der  Schall  aber  verliert  nur  sehr  wenig  an  Intensität,  und 
so  wird  das  Hörrohr  für  älle  Kranke  ungleich  brauchba¬ 
rer.  Diese  einfache  und  nützliche  Verbesserung  rührt  von 
Itard  her. 

Den  Beschlufs  des  Ganzen  machen  noch  die  Geschich¬ 
ten  von  fünf  Kranken,  bei  welchen  die  in  die  Eustachi¬ 
sche  Röhre  geleiteten  Aetherdämpfe  von  gutem  Erfolge 
waren. 

Nach  dem  Vorangegangenen  stellt  es  sich  nun  heraus, 
dafs  die  Pathologie  der  Gehörkrankheiten  sich  keines 
sonderlichen  Gewinnes  durch  das  vorliegende  Werkcheu 
zu  erfreuen  hat;  denn  bei  den  Krankheiten  des  äufseren 
Ohres  ist  der  Verf. ,  wie  wir  gesehen  haben,  hinter  sei¬ 
nen  Vorgängern  zurückgeblieben;  in  Bezug  auf  die  Krank¬ 
heiten  des  mittleren  Ohres  gebührt  zwar  demselben  das 
Lob,  die  Diagnostik  der  Verengerungen  der  Eustachischen 
Röhre  besser  begründet  zu  haben,  als  frühere  Schriftstel* 
ler;  aber  die  Krankheiten  des  Trommelfelles  und  ihren 
Zusammenhang  mit  denen  des  mittleren  und  äufseren  Oh¬ 
res  hat  er  unvollständiger  gewürdigt,  als  sie  es  verdienen, 
und  Frühere  es  gethan  haben,  und  des  Verf.  Diagnostik 
der  nervösen  Schwerhörigkeit  beruht,  wie  wir  gesehen 
haben,  auf  nicht  ganz  richtigen  Grundlagen,  so  dafs  da¬ 
durch  auch  alles  andere  über  diese  Krankheit  von  dem¬ 
selben  Gesagte  schwankend  wird. 

Was  die  Therapie  betrifft,  so  besteht  das  Verdienst 
des  Verf.  zuvörderst  darin,  dafs  er  von  Neuem  auf  die 
Wichtigkeit  der  örtlichen  Behandlung,  und  besonders  der 
Application  der  mcdicamentösen  Stoffe  auf  die  Schleimhaut 
der  Paukenhöhle  hinweist,  und  sodann  in  der  Einführung 
einiger  neuen  Verfahren  gegen  die  Krankheiten  des  mitt¬ 
leren  und  inneren  Ohres,  über  deren  Werth  fernere  Prü¬ 
fungen  zum  Theil  erst  noch  entscheiden  müssen. 

Erweitert  haben  demnach  die  Forschungen  des  Verf. 
'  die ' Wissenschaft  nicht  eben  um  Vieles,  gleichwohl  aber 
Band  28.  Heft  3.  ^ 


354 


VII.  Heilquellen. 

ist  Hof.  doch  weil  entfernt,  ihm  Verdienst  absprechen  zu 
wollen.  Das  YVerkchcn  enthält  viele  lur  die  Praxis  schätz¬ 
bare  Winke,  besonders  in  den  Krankengeschichten,  diese 
müssen  dankbar  angenommen  werden,  und  cs  würde  un¬ 
gerecht  sein,  mehr  zu  verlangen,  da  der  Verf.  kein  Hand¬ 
buch  schreiben,  sondern  nur  «  K rfa h rungen  »  mittheilen 
wollte.  Seine  Erfahrungen  haben  aber  auch  vielen  früher 
gemachten  Beobachtungen  eine  neue  Bestätigung  geliefert, 
und  dieses  Verdienst  schlägt.  Kef.  sehr  hoch  an;  denn  wenn 
es  gleich  rühmlicher  sein  mag,  Neues  zu  liefern,  so  ist  es 
doch  mindestens  eben  so  nützlich,  das  Alte  zu  befestigen, 
damit  nicht  endlich  hei  stetem  Aufbauen  der  (irund  wan¬ 
kend  werde.  Manches  freilich,  was  lief,  dem  Verf.  hier¬ 
her  rechnet,  will  dieser  als  eine  neue  Eroberung  geltend 
machen,  er  wild  sich  aber  gewifs  bescheiden,  wenn  er 
die  Litteratur  mehr  zu  Rathe  gezogen  haben  wird.  —  Er 
hat  mit  Eifer  gearbeitet,  und  ist  gewissenhaft  zu  Werke 
gegangen.  Dies  und  sein  an  den  Tag  gelegtes  Talent  be¬ 
rechtigt  uns  zu  der  lloll'nung,  dafs  er  künftig  noch  bedeu¬ 
tendere  Beiträge  auf  diesem  Felde  liefern  werde. 

Die  üufserc  Ausstattung  des  Buches  ist  gut. 

K. 


VII. 


Schriften  über  Hcilqnellen. 


1.  Rcmini8ccnzen  über  die  Heilquellen  des  Her¬ 
zogthums  Nassau.  Mit  besonderer  Berücksich¬ 
tigung  Sch  langen bad s.  Zur  Eröffnung  der  Curzeit 
an  den  Heilquellen  des  Taunus  in  dem  Jahre  1833  von 
Dr.  Kenner  v.  Fennenberg,  Badearzte  in  Scbvval hach 
und  Schlangeubad.  Wiesbaden,  bei  Enders.  8.  35  S. 


355 


VII.  Heilquellen. 

Zu  bedauern  ist  es,  dafs  der  von  Ficker  (dem  Vater) 
und  einigen  anderen  Badeärzten  angefangene  Gebrauch, 
nach  Beendigung  einer  jeden  Curzeit  über  ihre  Heilquel¬ 
len  zu  berichten,  nicht  allgemeiner  geworden  ist,  was  frei¬ 
lich  auf  eine  andere  Weise,  als  in  vorliegenden  Blättern, 
geschehen  mufs,  wo  Inhalt  und  Darstellung  die  Vermu- 
thung  erwecken,  dafs  die  Schrift  nicht  aus  der  Feder  eines 
gehildeteu  Brunnenarztes,  sondern  eines  Wirthes  und  Kell¬ 
ners  hervorgegangen,  welcher  nach  Marktschreierweise  sich 
und  seinem  Städtchen  Zulauf  verschaffen  will.  Hieraus 
geht  hervor,  dafs  diese  Broschüre  weder  Aerzte,  noch  ge¬ 
bildete  Nichtärzte  befriedigen  kann,  es  sei  denn,  dafs  mau 
an  Agrypnie  leidend  (was  beim  Gebrauche  der  Eisenbäder 
ja  oft  der  Fall  ist)  mit  Hülfe  einer  langweiligen,  Ekel  er¬ 
regenden  Lectüre  den  Schlaf  herbeiführen  will. 

In  einem  schwülstigen,  an  Hyperbeln  reichhaltigen 
Style  wird  von  den  Verbesserungen,  Verschönerungen  und 
Heiltugenden  Wiesbadens,  Ems,  Schlangenbads,  Schwab 
bachs,  Weilbads  gesprochen,  Selters  und  Geilnau  uner¬ 
wähnt  gelassen.  Lobeserhebungen  werden  gespendet,  die 
nur  schaden  können,  da  die  Wirklichkeit  nicht  bietet, 
was  hier  verheifsen  wird.  Weilbachs  Heilkräfte  werden 
überschätzt,  und  die  erzwungenen  Lobpreisungen  und  die 
vielen  gewagten  Behauptungen  über  alle  Thermen  des  Her¬ 
zogthums  Nassau  erwecken  beim  Leser  den  Gedanken  4 
dafs  der  Verf.  die  Verpflichtung  übernommen,  die  Nas- 
sauischen  Bäder  auf  Kosten  anderer  zu  erheben.  Wahr¬ 
lich,  die  Schrift  ist  ein  Seitenstück  zu  den  Aushängeschil¬ 
dern  jener  in  Paris  geächteten  Aerzte,  welche  ohne  (Queck¬ 
silber  auf  eine  sanfte  Weise  galante  Krankheiten  in  we¬ 
nigen  Tagen  beseitigen  wollen. 

Was  über  das  liebliche  Schlangenbad  hier  gesagt  ist, 
dürfte  auch  eben  nicht  das  Vertrauen  der  Aerzte  zu  dieser 
Heilquelle  befestigen,  welches  besonders  bei  hysterischen 
Frauenzimmern  sich  wirksam  zeigt,  und  durch  kein  an¬ 
deres  Bad,  selbst  Ems  nicht,  zu  ersetzen  ist,  und  bei  ge- 

23  * 


356 


\  II.  I loJIqnclIcn. 

I 

wissen  eingewurzelten  Untci  lcibsk  rank  heilen  mit  grofscr 
Aufregung  des  Nervensystems  .  vorzugsweise  geeignet  zu 
sein  scheint,  eine  Bude-  und  Brunnencur  zu  eröffnen. 

Leider  existirt  über  Schlangcnbad  noch  immer  keine 
genügende  Brunnenschrift,  und  wir  dürfen  auch  nicht  wün¬ 
schen,  von  Herrn  Kenner  eine  solche  zu  erhalten,  die 
doch  nur  Dichtung  und  Wahrheit  in  einem  schwülstigen 
Style  enthalten  würde. 

t 


2.  Eigent  hü  ml  ich  e  Heilkraft  verschiedener  TM  i  - 
neral  wässer;  aus  ärztlichen  Erfahrungen  dargestellt 
von  Joseph  Bitter  v.  Vering,  Dr.  der  Arzneikuude, 
ausübendem  Arzte  in  Wien  u.  s.  w.  Wien,  1833.  8. 
68  S.  ' 

Non  multa,  sed  multum  enthält  vorliegende  Bade¬ 
schrift,  welche  uns  mit  den  Eigenthiimlichkeitcn  mancher 
bisher  noch  wenig  gewürdigten  Trink-  und  Badequellcn 
bekannt  macht,  und  das  Resultat  einer  gediegenen  Erfah¬ 
rung  ausspricht.  So  viel  Badeschriften  wir  auch  schon 
besitzen  mögen,  so  fehlt  es  uns  immer  noch  an  einer  hin¬ 
reichenden  Erfahrung  über  die  Heiltugenden  und  Eigen, 
thümlichkeitcn  der  einzelnen  Heilquellen,  und  wir  w’erden 
solche  nicht  eher  besitzen,  als  bis  die  Badeärzte,  welche 
die  meisten  Kranken  während  einer  Saison  nur  scheu  und 
nachher  nie  mehr  zu  Gesichte  beKommcn,  mehr  gemein¬ 
schaftlich  mit  den  Acrztcn  handeln,  welche  aus  der  Nahe 
und  Ferne  die  Kranken  ihnen  zusenden.  Ein  solcher  Aus¬ 
tausch  der  Beobachtung  und  der  Erfahrung  wird  aber  dann 
erst  zu  einem  wissenschaftlichen  Resultate  führen,  wenn 
die  Badeärzte  aufhören  das  zu  sein,  was  sie  bisher  waren, 
und  es  unter  ihrer  Würde  halten,  in  einem  Geiste  zu 
schreiben  und  zu  arbeiten,  wie  Herr  v.  Fenn  er  in  den 
Beminiscenzen  über  die  Nassauischen  Heilquellen  gethan, 


357 


VII.  Heilquell  en. 

der  Seite  18  daselbst  Klage  führt,  dafs  neben  den  eisen¬ 
haltigen  Mineralwässern  heut  zu  Tage  keine  auflösenden 
Mittel  mehr  verordnet  werden,  was  die  Folge  gehabt, 
dafs  die  au  eisenhaltigen  Brunnen  früher  so  nothwendig 
befundenen  Abtritte  verschwunden  seien! 

Was  der  in  den  Annalen  der  Wissenschaft  rühmlichst 
bekannte  Vering  über  die  eigentümliche  heilkräftige 
Wirkung  der  einzelnen  Mineralquellen  bemerkt,  welche 
erst  in  einer  richtigen  Folge  nacheinander  gebraucht  für 
die  Kranken  erspriefslich  werden,  verdient  bei  den  jünge¬ 
ren  Aerzten  Berücksichtigung  zu  finden ,  welche  überhaupt 
gut  thun  würden,  nach  Beendigung  ihrer  Studien  einen 
Thcil  ih  rer  für  die  Reisen  in  fremden  Ländern  bestimmten 
Zeit  den  Bade-  und  Brunnenorten  des  Vaterlandes  zu  wid¬ 
men,  was  in  subjectiver  nnd  objcctiver  Beziehung  von 
gröfserem  Wertlie  sein  dürfte,  als  die  Anwesenheit  in  den 
italienischen  Caffee’s  u.  s.  w.,  wohin  sie  überhaupt  nicht 
leicht  wirkliche  Kranke  senden  dürften. 

Der  Verf.  kennt  sämmtliche  Quellen  von  denen  er 
hier  handelt,  entweder  aus  Autopsie,  oder  aus  den  Resul- 
taten  eines  wiederholten  Aufenthaltes  seiner  Patienten, 
denen  er  nie  eine  bestimmte  Anzahl  Becher  oder  Bäder 
vorschrieb,  indem  die  zur  Sättigung  des  Organismus  nö- 
th »ge  Zeit  von  der  Individualität  des  Kranken  abhängig 
ist.  Eben  so  fand  er  es  häufig  räthlich,  die  Mineralwässer 
untereinander,  oder  mit  künstlichen  gemischt  trinken  zu 
lassen,  woher  es  kommen  mag,  dafs  die  hier  mitgetheilten 
Erfahrungen  verschieden  von  denen  anderer  Aerzte  sein 
mögen. 

Sch  wefel wässer  beleben  nach  V.,  ohne  Beeinträch¬ 
tigung  der  Ernährung,  die  Verrichtungen  der  Aussonue- 
rungsorgane,  und  bewirken,  unter  Steigerung  des  Blutum- 
tricbes  und  erhöheter  Thäligkeit  der  Leber  und  Pfortader, 
eine  Lösung  der  krankhaften  Erzeugnisse.  Für  Gichtkranke 
passen  sie  nicht  unter  allen  Umständen,  da  sie  bei  ner¬ 
vösem  Gichtleiden  häufig  Metastasen  herbeiführen,  die 


358 


VII.  Heilquellen. 

Gichtanlage  nicht  beseitigen,  und  hei  jüngeren  Kranken 
die  Gicht  unheilbar  machen.  Demzufolge  betrachtet  V. 
die  schwächeren  Schwefelwässer  für  unheilbare  Gichtkranke 
im  vorgerückten  Alter  aU  ein  treffliches  Linderungsmittel, 
besonders  wenn  nebenbei  zur  Winterszeit  gegen  die  krank¬ 
hafte  Beschaffenheit  des  Blutes  gewirkt  werde,  wobei  nicht 
aufser  Acht  zu  lassen  ist,  dafs  nach  einem  mehrjährigen 
Gebrauche  dieser  Thermen  derselbe  nicht  ausgesetzt,  oder 
mit  einer  anderen  vertauscht  werden  darf,  unter  welchen 
Umständen  der  Kranke  leicht  apoplectisch  endigen  kann. 

V.  rühmt  die  Schwefclwässer  besonders  gegen  Scro- 
pheln,  wobei  aber  gleichzeitig  Antiscrophulosa  verordnet 
werden  müssen.  (Das  Ol.  jecinoris  aselli  dürfte  hier  vor 
allem  den  Vorzug  verdienen.  lief.) 

In  Bezug  auf  die  eigenfhiimlichen  Heilkräfte  einiger 
Schwefclwässer  bemerkt  der  Vcrf. ,  dafs  die  Quelle  zu 
Unter- Meidling  bei  Wien  gegen  gichtische  Blasenkrank¬ 
heiten,  Gries  und  Stein,  das  Wasser  zu  Vöslau  gegen 
scrophulösc,  gichtische  Uebel  der  Haut  und  des  Uterus 
sich  bewähre,  dafs  Land  eck  von  scrophulös- gichtischen 
Brustkranken  vertragen  werde,  iodefs  Baden  bei  Wien 
gegen  Krankheiten  der  Haut,  der  Knochen  und  der  Nie¬ 
ren,  gegen  den  wreifsen  Flufs,  Trentsin  in  Ungarn  gegen 
syphilitische  Gicht  und  arthritische  Augenentzündungen, 
Warmbrunn  gegen  veraltete  scrophulöse  und  syphiliti¬ 
sche  Nasengeschwüre,  Aachen  gegen  veraltete  syphiliti¬ 
sche  Krankheiten,  Lähmungen,  Folgen  von'  Metall  Vergif¬ 
tungen,  Piestyau  in  Ungarn  gegen  scrophulös-gichtischc 
Flechten,  Steifigkeit  der  Muskeln,  Harkauy  in  Ungarn 
gegen  Gicht,  complicirt  mit  Unterleibskrankhciten ,  gegen 
Nachübcl  von  Arsenik-  und  Quecksilbervergiftungen,  Me¬ 
li  ad  ia  in  der  Militärgränze  des  Bannats  gegen  gichtische 
und  durch  Wunden  bedingte  Gelcuksteifheit,  gichtische 
Blasenübcl,  scrophulöse  Haut-  und  Knochenkrankheiten, 
Abano  in  der  Lombardei  gegen  Mcrcurialkraukhcit  und 
syphilitische  Gicht,  Wind  dorn,  Ba  reges  gegen  Gicht, 


VII.  Heilquellen.  359 

v 

Scropheln  und  durch  Verwundungen  bedingte  Gclenkstei- 
ligkeit  —  treffliche  Dienste  leisten. 

lief,  hat  die  Erfahrung  nicht,  um  beurtheilen  zu  kön¬ 
nen,  in  wie  weit  die  Aussprüche  des  Verf.  richtig  sind, 
und  glaubt  nur  die  Bemerkung  machen  zu  dürfen,  dafs 
eine  zu  genaue  Specialisirung  der  Wissenschaft  und  Kunst, 
für  jetzt  wenigstens  nicht,  förderlich  sein  könne,  und  zwar 
wegen  Mangel  an  zuverlässigen  Vorarbeiten  für  diesen 
rein  praktischen  Gegenstand. 

Die  Eisen wässer  verbessern  nach  V.,  unter  Beschleu¬ 
nigung  des  Kreislaufes,  die  Beschaffenheit  des  Blutes,  da¬ 
her  sie  als  Nachcur  in  der  Scrophulosis,  gegen  die  durch 
all  gemeine  Körperschwäche  und  mangelhafte  Beschaffenheit 
des  Blutes  bedingten  Ucbel,  bei  sogenannten  Blutern,  bei 
allen  aus  Nervenschwäche  entspringenden  Krankheiten,  bei 
leucophlegmatösen  Individuen  passen.  Pyra  warth  in  Nie¬ 
derösterreich  soll  vorzugsweise  bei  Atonie  der  Geschlechts- 
theile,  Binnewieden  in  österreichisch  Schlesien  bei  Ner¬ 
ven-  und  Verdauungsschwäche,  Taymannsdorf  in  Un¬ 
garn  bei  atonischer  Gicht,  bei  krankhaften  Umbildungen 
der  Unterleibsorgane,  Füred  in  Ungarn  gegen  Bleichsucht, 
Schleimllüsse  und  Nervenleiden,  Franzensbrunn  gegen 
Hypochondrie,  Blutanschoppungen  in  der  Leber  und  Milz, 
als  Nachcur  nach  Karlsbad,  die  Salzquelle  zu  Franzeus- 
brunn  gegen  langwierige  Hals-  und  Brustbeschwerden, 
Blasenschleimflüsse,  die  Gasbäder  daselbst  gegen  atoni- 
sclie  Gicht,  bösartige  Geschwüre,  Unfruchtbarkeit  wegen  auf¬ 
gehobener  Reizempfanglichkeit  der  Geschlechtsthoile,  Ano- 
malieen  der  Menses,  die  Moorbäder  daselbst  gegen  Rha- 
chitis  und  Verhärtungen  drüsiger  Organe,  Neulublau  in 
Ungarn  gegen  Nervenschwäche,  Stockungen  in  den  Unter- 
leibseingeweiden ,  Anomalieen  der  monatlichen  Reinigung, 
Hals-  und  Brustleiden,  Recoaro  in  der  Lombardei  in  al¬ 
len  Krankheiten,  gegen  die  mau  Karlsbad  verordnet,  wenn 
die  letzten  wegen  ihrer  erhitzenden  Wirkung  unpassend 
sind,  Klausen  in  Steiermark  gegen  reine  Schwäche,  Cu- 


360 


VII.  Heilquellen. 

dova  gegen  directc  Schwäche,  Bart  fei d  gegen  die  aus 
dirccter  Schwäche  der  Nerven  entspringenden  Krankhei¬ 
ten,  gegen  wTeifscn  Flufs,  —  mit  besonderem  Erfolge  ge¬ 
braucht  werden.  Die  letzte  Quelle  soll  vollkommen  Pyr¬ 
mont,  und  wahrscheinlich  daher  auch  die  Quellen  von 
Schwalbaeh  ersetzen,  die  wir  zu  unserer  Verwunderung 
hier  nicht  erwähnt  finden,  obwohl  der  Verf.,  der  das  be¬ 
nachbarte  Schlangenbad  besuchte,  sie  gowifs  gekannt  hat. 

Die  Jod  enthaltenden  Wässer  befördern  dicThätlg- 
keit  des  Drüsen-  und  Lymphsystems,  und  vermehren  die 
Ab-  und  Aussonderungen,  erweichen  Lungenknoten  und 
wirken  cigenthiimlich  reizend  auf  die  Genitalieo.  Luhat- 
schowitz  in  Mähren  zeigt  sich  wirksam  gegen  Bauch« 
scropheln,  Ilautausschläge  und  äufsere  Scropheln,  Ilall  in 
Oesterreich  gegen  scrophulösc  Anschwellung  der  Schild¬ 
drüse,  Atonie  der  Gebärmutter,  scrophulösc  Geschwüre, 
Heilbrunn  in  Baicrn  gegen  Gries-  und  Steinbeschwer¬ 
den,  Hautllechten,  scrophulöse  Augenleiden,  Wassersucht. 

Die  Wirkung  der  erdig-alkalischen  Mineral¬ 
wässer  bezeichnet  V.  als  auflösend  auf  Drüsen-  und 
Lymphsystem,  die  Harn-  und  Ilaulabsonderung  verbessernd 
und  belebend,  das  Nervensystem  beruhigend,  wogegen  die 
saliuisch  •  alkalischen  und  muriatisch  -  alkalischen  Mineral¬ 
wässer  einen  flüchtigen  Charakter  haben  und  belebend  aufs 
Nervensystem,  mitReiz  auflösend  auf  das  Drüsen- und  Lymph¬ 
system  wirken.  Ueber  Ems  theilt  der  Verf.  das  Bekannte 
mit,  und  er  hat  gewifs  Recht,  wenn  er  behauptet,  dafe 
sehr  reizbare  und  durch  ein  hohes  Alter  schwächliche 
Kranke  erst  Schlangenbad  besuchen  sollen,  bevor  sie  ihre 
Cur  in  Ems  beginnen.  Andersdorf  in  Mähren  soll  ge¬ 
gen  Schwäche  und  Reizbarkeit  der  Respirationsorganc,  die 
Folge  überstandencr  Entzündungen,  Borszek  in  Sieben¬ 
bürgen  gegen  Schwäche  und  \  erschleimug  der  Harnorganc, 
Schleimhämorrhoiden ,  Schlangenbad  gegen  Baucbscro- 
pheln,  Flechten  und  Hautkrankheiten,  Blasenkrampf,  Döb- 
bel  in  Steiermark  gegen  durch  Scropheln  und  Gicht  be- 


361 


VII.  Heilquellen. 

dingte  Ncrvcuübel,  Töplitz  in  Böhmen  gegen  Ucbel  gich¬ 
tischen  Ursprungs,  Verengerungen  des  Mastdarms,  Bilin 
gegen  llämorrhoidalbeschwerden ,  Gastein  gegen  venöse 
Gicktleideti,  Erschöpfung  der  Nervenkraft,  männliches  Un¬ 
vermögen,  Fac hingen  gegen  Gallensteine,  Harnbesch wer¬ 
den  und  Wassersucht,  Selters  gegen  Lungenschwäche, 
Skleno  in  Un  garn  gegen  scrophulösc  Leiden  des  Uterus, 
der  Lungen  und  Ohren,  sich  heilsam  zeigen. 

Der  Leser,  wie  der  Verf. ,  wird  den  Vorwurf  nicht 
unbillig  finden,  dafs  die  in  dieser  Klasse  zusammengestell¬ 
ten  Wasser  nicht  zusammen  passen,  und  auch  durchaus 
nicht  zusammen  gehören,  was  namentlich  von  dem  che¬ 
misch  indifferenten  Gastein  gilt,  das  nicht  einen  Platz  ne¬ 
ben  Töplitz  erhalten  darf.  Eben  so  müssen  wir  uns  wun¬ 
dern,  in  der  Klasse  der  Glaubersalzwässer  Karlsbad,  Pfef- 
fers  und  Marienbad  nebeneinander  zu  sehen. 

-  i 

Unter  den  Bittersalzwässern  wird  dasPüllnaer 
besonders  richtig  gewürdigt.  Von  den  Kochsalzwäs¬ 
sern  behauptet  der  Verf.,  dafs  sie  eine  eigeuthümliche 
Wirkung  auf  das  Drüsensystem,  auf  die  Schleimhäute  der 
Respirations-  und  Harnwerkzeuge  haben,  und  den  Abgang 
der  Menses  befördernd  wirken.  Unrichtig  ist  es,  dafs  Soo- 
len-  und  Seewasser  sich  nur  zum  Baden  qualificiren, 
indem  in  neuester  Zeit  sie  auch  getrunken  werden,  wie 
namentlich  in  Kreuznach  und  Scheveningen  geschieht.  Un¬ 
erwähnt  hat  der  Verf.  gelassen,  dafs  Soolen-  und  Salzbä¬ 
der  die  beim  Eintritt  der  Menses  häufig  sich  einstellenden 
Krampfbeschwerden  beseitigen,  und  bei  Blutern  die  Prä¬ 
disposition  zu  jenen  tödtlichen  Blutungen  aufheben. 

Wir  wünschen  dieser  kleinen  Schrift  viele  Leser,  die 
gewifs  befriedigt  sie  aus  der  Hand  legen  werden,  indem 
jeder  die  Ueberzeugung  erlangen  wird,  dafs  er  hier  Wahr-  7 
heit,  keine  Phantasiestücke  findet. 

Ueyfe  liier. 


> 


/ 


362 


VII.  Heilquellen. 


3.  Ueber  die  Mineralwasser  in  dem  Königreiche 
Würtemberg  und  in  den  angrenzenden  Gegen¬ 
den;  nebst  Bemerkungen  über  das  Verhältnis  ihrer 
Mischung  und  Temperatur  zu  den  Gcbirgsartcu.  Von 
Moritz  Friedrich  Leipprand.  Tübingen,  IS3I.  8. 
47  S. 

Die  Schrift  bestellt  aus  zwei  Hauptabschnitten;  der 
erste  enthält  eine  Uebersicht  der  Mineralwasser  im  König¬ 
reiche  Wiirtemberg.  Ihre  Eintbeilung  ist  folgende: 

I.  Mineral wasser  mit  schmeckbarem  oder 
riechbarem  mineralischen  Ge h  alte. 

A)  Säuerlinge,  a)  solche,  die  eine  beträchtliche 
Menge  kohlensaures  Eisenoxydul  enthalten;  *)  natronhal¬ 
tige  Säuerlinge:  Autogast,  Petersthal;  ß)  nicht  natronhal¬ 
tige  Säuerlinge:  Griesbath,  Ripoldsau;  y)  bittersalzbaltigc 
Säuerlinge:  Imnau,  Niedernau;  J)  glaubcrsalzig  -  und  bit¬ 
tersalzig- kochsalzige  Eisensäuerlinge:  KannstaU,  Berg  bei 
Kannstatt;  t)  Eisensäuerlinge  mit  Mangel  oder  geringen 
Mengen  von  schmeckbaren  Salzen:  Ueberlingcn,  Hattenho¬ 
fen,  BieriDgcn;  b)  solche,  welche  kein  kohlensaures  Ei¬ 
senoxydul  enthalten,  <*)  kohlensaures  Natron  haltige: 
act)  Drinach,  ßß)  Göppingen;  ß)  Säuerlinge  ohne  kolilen- 
saurcs  Eisen  und  Natrum:  ««)  Obernau,  Börstiugen; 
ßß)  Ditzeubach,  Klein- Engstingen. 

B)  Mineralwasser,  welche  Schwefelwasser¬ 
stoffgas  enthalten,  a)  Natronhaltige  Sehwefclwasser, 
u)  Glaubersalz-  und  Natronhaltige  Sehwefclwasser:  Bill; 
ß )  Natronhaltige  ohne  Glaubersalz:  Reutlingen,  Beohliu- 
gen;  y)  Bittersalzbaltigc:  Sebastianswcilcr,  Ohmcnhauseu: 
J')  Sehwefclwasser  ohne  kohlcnsaures  Natrum  und  ohne 
bemerklichc  Mengen  von  Glaubersalz  und  Bittersalz:  Tü¬ 
bingen,  Rcigheini,  Zaizcnhauscu.  b)  Sehwefclwasser,  die 
ihren  Gehalt  an  Schwefelwasserstoff  durch  deu  Geruch 
verrathen  (schwefcligc  Wasser),  *)  eisenhaltige:  Ncu- 
stütlen,  Bad  bei  Waiblingen,  Schlamm,  Ueilbrouu,  Was- 


VII.  Heilquellen.  363 

i 

seralfingen;  ß)  nichteisenhaltige:  Stuttgart,  Kornwestheim, 
Winterbach. 

C)  Mineralwasser,  welche  kohlensaures  Eisenoxy¬ 
dul  enthalten,  ohne  hervorstechende  andere,  insbesondere 
gasförmige  Bestandteile,  a)  mit  kohlensaurcm  Natrum: 
Drinach,  Ueberlingen;  b)  ohne  kohlensaures  Natrum:  Jor¬ 
dansbad  bei  Biberach. 

D)  Salzwasser,  a)  glaubersalzig- kochsalzige  Mi¬ 
neralwasser:  Mergentheim;  b)  Salzsoolen:  Friedrichshall, 
Ludwigshall,  Rappenau,  Dürrheim,  Wilhelmshall,  Sulz, 
Hall,  Niedernhall  und  Weinsbach,  Bruchsal  und  Upstatt. 

II.  Min  eralwasser  ohne  schmeckbaren  und 
riechbaren  Gehalt: 

A)  Süfse  Wasser  von  höherer  Temperatur, 
a)  warme,  *)  mit  kohlensaurem  Natrum:  Wildbad;  ß)  ohne 
kohlensaures  Natrum:  Baden;  b)  laue  Quellen,  *)  mit 
Natr.  carbon.:  das  Libenzeller  Bad;  ß)  ohne  Natr.  carbon.: 
Huhbad,  Safsbad,  Badenweiler. 

B)  S  üfse  Wasser  von  gewöhnlicher  Tempe¬ 
ratur,  a)  Natrumhaltige:  Krähenbad,  Nieratzer  Bad  bei 
Wangen,  Thierbad  bei  Welzheim,  Tübingen;  b)  ohne 
kohlensaures  Natrum ,  *)  bittersalzhaltige:  Stuttgart,  Theus- 
serbad;  ß )  mit  schwefelsauren  Verbindungen:  Bad  zu  Rie¬ 
tenau,  Kirchbrunnen  zu  Heilbronn  u.  s.  w.;  y)  bittererdige 
und  kalkerdige:  Waldbad,  Gangulfsbad,  Ilgenbad,  Wildbad 
bei  Giengen. 

Der  andere  Abschnitt  betrifft  das  Verhältnifs  der  Mi¬ 
neralwasser  zu  den  Gebirgsarten ,  und  hier  finden  wir  fol¬ 
gende  Aeufserungen:  Die  warmen  und  lauen  Quel¬ 
len  kommen  blofs  in  der  Granitformation  und  der  damit 
eng  verbundenen  Sandsteinformation  des  Schwarzwaldes, 
wo  diese  den  Granit  kaum  bedeckt,  vor;  daher  die  hohe 
Temperatur  der  warmen  Quellen  in  der  Bildungsperiode 
der  Gebirgsmassen  und  in  der  Tiefe  zugleich  ihren  Grund 
zu  haben  scheine.  Die  Sauerwasser  fehlen  der  Kru- 
pcrformation  und  der  Molassc  Oberschwabens,  und  linden 


364 


VIII.  Aerztliche  Mittheilungen. 

sich  in  allen  Kalkformationcn.  In  ihrer  Nachbarschaft  sind 
häufig  Schwefelwasser-  oder  Schwefelkies-,  oder  schwefel- 
saure  Verbindungen.  Die  Sch wcfcl wasscr  finden  sich 
hauptsächlich  in  der  Gryphitenkalkformation ,  Wasser  mit 
kohlcnsaurcm  Eisenoxydul  in  allen  Formationen,  ain 
häufigsten  in  der  Gncus-,  Granit-  und  Sandsteinformation 
des  Schwarzwaldes,  die  Salzwasscr  in  der  Muschelkalk- 
forniation;  Wasscr  mit  Mangel  an  Schwefelsäuren 
und  salzsauren  Verbindungen  in  der  Molassc  und 
im  Grvphitenkalk ;  kohlensaures,  sch  wefclsa ures 
und  salzsaures  Na t rum  enthaltende  Wasscr  in  der 
Gncus-Granitformation  und  im  Gryphitcnkalk;  Wasser 
mit  kohlensaurer  Bittcrerdc  in  der  Muschelkalk- 
lind  Gryphitcnkalk-,  in  der  Krupcrformation  und  in  der 
Molassc;  Gypshaltigc  Wasscr  in  der  Kruper-  und  Mu- 
schelkalkforniation;  die  reinsten,  den  destillirten 
Wassern  analoge  Wasser,  in  der  Sandsteinformation 
des  Schwarzwaldes. 

Aehnliche  Arbeiten  über  andere  Gegenden  und  ihre 
Bäder,  namentlich  Nassau,  den  Preufsischen  Niederrhein, 
Böhmen,  Schlesien  u.  s.  w.,  wären  willkommene  Gaben 
für  Kunst  und  Wissenschaft. 

Ileyf  ehler. 


VIII, 

Mittheilungen  aus  dem  Gebiete  der  ge¬ 
summten  Heilkunde.  Herausgegeben  von  ei¬ 
ner  medicinisch  -  chirurgischen  Gesellschaft  in  Ham¬ 
burg.  Band  II.  Hamburg,  in  Commission  bei  Per¬ 
thes  und  Besser,  i 833.  8.  VI  u.  431  S.  (1  Thlr. 
8  Gr.) 

Von  allgemeinerem  Interesse  als  der  erste  Band  der 
thiitigeu  ärztlichen  Gesellschaft  Hamburgs  ist  dieser  zweite, 


/ 


VW.  Aerztliche  Mittheilnngen.  365 

der  TI.  Versammlung  der  Aerzle  und  Naiurforscher  ge¬ 
widmete,  da  er  eine  Uebersicht  der  epidemischen  Krank¬ 
heiten  Hamburgs  von  den  Jahren  1826  bis  1833  giebt 
Voran  gebt  die  besonders  von  Dr.  Hachmann  herrüh¬ 
rende  Bearbeitung  der  Krankheitsconstitution  und 
Witterung  Hamburgs  vom  Jan.  1829  bis  Dec.  1831. 
Eine  mühsame,  monatliche  Zusammenstellung  aus  den  Be¬ 
richten  der  meisten  Mitglieder,  die,  keines  Auszuges  fä- 
hig,  viele  Thatsachen  über  das  Erscheinen  der  epidemi¬ 
schen  und  endemischen  Krankheiten  enthält.  Ref.  hätte 
gewünscht,  dafs  der  Hr.  Verf.  aus  den  monatlichen  Dar¬ 
stellungen  ein  Bild  der  Constitutio  annua  epidemica  gege¬ 
ben  hätte.  —  Biliöse  Krankheiten  des  Frühlings 
1830,  von  Dr.  Heise.  Mit  Ausnahme  der  Wechselfieber, 
sind  fast  alle  Fieber  Hamburgs  mit  örtlichen  Symptomen 
der  Schleimhäute  verbunden,  entweder  der  Respirations¬ 
organe  oder  des  Darmkanales.  Im  genannten  Frühjahre 
entstanden  weniger  häufig  gastrische,  als  biliöse  Fieber. 
Trägheit,  Zerschlagensein  der  Glieder,  Unlust  zur  Ar¬ 
beit,  Schläfrigkeit,  drückende  Schmerzen  im  Vorderkopfe, 
Schwindel,  Flimmern  vor  den  Augen,  Appetitmangel,  bit¬ 
terer  Geschmack,  weifs  oder  gelb  belegte  Zunge,  träger 
Stuhlgang,  Drücken  in  der  Magengegend,  Empfindlichkeit 
gegen  Druck  auf  die  Lebergegend,  besonders  den  linken 
Lappen,  schmerzhaftes  Ziehen  in  der  rechten  Schulter  und 
häufiger  noch  im  rechten  Beine,  besonders  in  der  Wade, 
sparsamer,  brauner  Urin  u.  s.  w.,  zeigten  die  venöse  Be¬ 
schaffenheit  des  Blutes  an,  welche  sich  durch  vermehrte 
Thätigkeit  in  der  Leber  zu  entscheiden  suchte.  Dies  ge¬ 
schah  denn  durch  Naturhülfe,  indem  sich  nach  8  bis  14tä- 
gigem  Leiden  ein  Brechdurchfall  ausbildete,  oder  durch 
Kunsthülfe,  indem  nach  gelindem  antiphlogistischem  Ver¬ 
fahren  Evacuantia,  besonders  nach  oben,  gegeben  wurden. 
In  vielen  Fällen  aber  trat  die  Naturhülfe  nicht  ein,  und 
es  ging  dann  dieser  Zustand  von  Polycbolie  in  wirkliche 
Febris  biliosa  über,  die  mit  einem  bedeutenden  Frostan- 


366  VIII.  Aerztüche  Mittheilungen. 

falle,  grofscr  Beklemmung  in  den  Präcordico  und  darauf 
folgender  brennender  Hitze  begann.  Die  Augen  glänzten, 
das  Gesiebt  war  rolh,  der  Kopf  schwindlich,  Scblaf  un¬ 
ruhig  mit  Delirien,  Puls  lebhaft,  gefüllt  und  frequent.  Zie¬ 
hende  Schmerzen  in  den  Extremitäten,  besonders  in  den 
Waden,  grofscr  Durst,  trockene  (besonders  in  der  Mitte) 
Zunge,  Gefühl  von  Völle  in  der  Magengegend,  Pulsatio 
epigastrica,  Schmerzen  in  der  Leber,  die  sich  durch  Er¬ 
schütterungen  (Husten,  Niesen  u.  s.  w. )  und  Bewegungen 
des  Körpers  vermehrten,  beschleunigte  Respiration,  kur¬ 
zer,  trockener  Husten,  zuweilen  mit  blutigem  Auswurfe. 
Auch  jetzt  erschien  Brechdurchfall,  doch  ohne  Euphorie. 
Der  Durchfall  hielt  oft  lange  an,  und  mufstc  dann  mit 
Opium,  welches  auch  die  anhaltende  Schlaflosigkeit 
hob,  bekämpft  werden.  Am  besten  bekam  auch  dann 
noch  ein  gelindes  antiphlogistisches  Verfahren  mit  mäfsi- 
gen  Blutentziehungen;  in  der  Reconvalesccnz  Mineralsäu¬ 
ren.  In  wenigen  Fällen  steigerte  sich  die  Fcbris  biliosa 
zur  Hepatitis.  Sehr  richtig  bemerkt  der  Verf.,  dafs  die 
jedesmalige  Beschaffenheit  des  Erdbodens  zur  Erzeugung 
von  epidemischen  Krankheiten  von  weit  gröfscrem  Ein¬ 
flüsse  sei,  als  die  der  Atmosphäre.  Deshalb  giebt  es  auf 
dem  Meere  keine  epidemische  Constitution,  und  der  Auf¬ 
enthalt  auf  demselben  disponirt,  die  Witterung  mag  sein 
wie  sie  will,  durchaus  nicht  zu  Krankheiten.  Feuchtig¬ 
keit  des  Erdbodens,  Ueberschwemmungen ,  wie  sie  in 
Deutschlands  Flufsgebieten  im  Frühjahre  1830  fast  durch¬ 
gängig  statt  fanden,  haben  in  Hamburg,  so  auch  in  ande. 
ren  Orten,  die  galligen  Krankheiten  wahrscheinlich  her¬ 
vorgebracht  Sieben  Krankheitsfälle  bcsehliefsen  den  gut 
geschriebenen  Aufsatz,  der  den  bald  nachher  an  Diabetes 
mellitus  erfolgten  Tod  des  Verf.  bedauern  lälst.  —  Die 
Wcchselficberepidciniecn  der  letzten  Jahre  in 
Hamburg,  nach  Beobachtungen  des  Dr.  P.  Schmidt.  E. 
F.  Ilomann,  Weis  flog  und  eignen  beschrieben  von  Dr. 
Hackmann.  Das  Jahr  1826  bildete  wieder  die  trotz  der 


VIII.  Aerztliche  .Mittheil ungen.  367 

günstigen  Lage  und  der  gewöhnlichen,  zu  Wcchselfiebcrn 
disponirenden  Volksdiät  längere  Zeit  fehlende  Intermittens, 
zu  einer  Epidemie  aus,  die  sich  al)cr  auf  die  tief  gelege¬ 
nen  Sladttheile,  welche  Ueberschwemmungen  ausgesetzt 
gewesen  waren,  beschränkte.  Im  nächsten  Jahre,  wo  die 
günstigen  Bedingungen,  Ueberschwemmungen  und  heifser 
Sommer,  fehlten,  breitete  sich  die  Epidemie  viel  weiter 
aus  und  erstreckte  sich  auch  über  hoch  und  trocken  ge¬ 
legene,  selbst  sandige  Binnenländer  Deutschlands,  zum  Be¬ 
weise,  dafs  die  Ursachen  dieser  Epidemieen  nicht  blols 
localer  oder  nur  tellurischer,  oder  atmosphärischer  Art, 
sondern  von  allgemeinen  cosmischen  Einflüssen  bedingt 
werden.  In  den  Jahren  1828  bis  1831  hatten  die  Epide¬ 
mieen  eben  so  bedeutende  Intensität,  so  dafs  in  den  heifsen 
Sommern  selbst  die  sonst  gewöhnlichen  galligen  Fieber  vor 
ihnen  zurücktraten.  Häufig  gingen  Symptome  einer  Febr. 
nervosa  versalilis  vorher,  und  wurden  durch  den  eigent¬ 
lichen  Wechselfieberanfall  beseitigt.  Ref.  sah  in  den  erst¬ 
genannten  Jahren  öfter  einen  Wechsel  zwischen  beiden 
Krankheitsformen  in  einem  Kranken,  so  dafs  Typhus  ab¬ 
dominalis,  Febris  biliosa,  selbst  Parotidengeschwülste  nach 
dem  Erscheinen  einer  Febr.  intermittens  verschwanden, 
aber  nach  Unterdrücken  oder  freiwilligem  Verschwinden 
dieser  wieder  erschienen  u.  s.  w.,  so  dafs  Ref.  schon  da¬ 
mals  mehrfach  äufserte,  die  nächste  Ursache  der  Febr.  in¬ 
termittens  bestehe  wohl  nicht  in  einem  Nerven-,  sondern 
in  Blutleiden,  wie  bei  den  genannten,  in  übermäfsiger  Ve- 
nosität  begründeten  Krankheiten  —  eine  Ansicht,  deren 
weitere  Entwickelung  hier  zu  viel  Raum  einnehmen  würde. 

Der  Typus  dieser  in  der  Regel  einfach  verlaufenden 
Wechselfieber  war  meistens  tertian,  und  drückte  sich  selbst 
anderen  Krankheiten  auf.  So  hatten  nicht  nur  die  ga¬ 
strisch-nervösen  Fieber,  sondern  auch  die  catarrhalischen 
Beschwerden  der  Luftwege,  die  hcctischen  Fieber,  ja  selbst 
die  Krampfanfälle  hysterischer  Frauen  einen  Tertiantypus. 
Merkwürdig  ist,  dafs  die  neuesten  Wechsclficberepidemieen 


I 


368 


VIII. 


Acrztlichc  Mitthcilangen. 


so  sehr  selten  zur  Bildung  sogenannter  Ficbcrkuchen  Ver¬ 
anlassung  geben,  was  doch  so  oft  in  den  älteren  geschah; 
Bef.  und  mit  ihm  mehre  Beobachter  sahen  sic  nie,  so 
auch  der  Yerf.,  die  aber  doch  in  den  Leichen  solcher  Per¬ 
sonen,  die,  nachdem  sie  längere  Zeit  am  Wecksclficbcr 
gelitten  hatten,  an  anderen  Krankheiten  gestorben  waren, 
die  Milz  gröfser  und  dunkler,  härter  oder  weicher,  als 
gewöhnlich  fanden.  Die  Proguosc  war  gut,  nur  häufig 
Recidivc  und  nicht  immer  au  den  gewöhnlichen  Tagen, 
souderu  häufig  nach  diesen  durch  die  leichtesten  Diätfeh- 
ler.  Zwei  Drittel  der  Kranken  litten  daran.  Die  Behand¬ 
lung  war  einfach,  und  bestand  vorzüglich  in  China  und 
Chinin.  Versucht  wurden  Kali  carbon.  Acid.  muriat., 
Martialia  und  Tiuct.  Fowleri,  aber  bald  wegen  geringer 
Wirksamkeit  verlassen.  Die  Wiederkehr  der  Anfalle  konnte 
durch  kein  Mittel,  sondern  nur  durch  die  strengste  Diät 
verhütet  werden.  — 

Die  Keuchhustenepideinie  in  Hamburg  und 
Altona  während  der  Jahre  1829  und  1830,  aus 
den  Berichten  der  Doct.  II  ach  mann  und  Bell  re  zusam¬ 
mengestellt  von  Dr.  J.  M.  A.  Schüu.  Merkwürdig  ist, 
dafs  die  Epidemie  in  Altona  eineu  gutartigen  Charakter 
hatte,  was  in  Hamburg  nicht  der  Fall  war,  wo  die  häu¬ 
figen  Complicationen  immer  nur  eine  zweifelhafte  Prognose 
gestatteten.  Was  schon  in  anderen  Epidemieen  beobach¬ 
tet  wurde,  dafs  die  Kinder,  welche  später,  oft  ein  Jahr 

nach  überstandener  Kraukheit  von  einem  Catarrhalhusten 

/  % 

befallen  wurden,  mit  dem  Keuchhustenlone  husteten,  faud 
auch  in  dieser  statt.  Die  Krankheit  brauchte  in  der  Re¬ 
gel  zwölf  Wochen  zu  ihrem  gänzlichen  Verlaufe.  Reine, 
trockene  Kälte  der  Atmosphäre  bewirkte  leicht  entzünd¬ 
liche  Complicationen,  besonders  dann,  wenn  der  Husten 
im  Abnehmen  war.  Zum  ersteu  Stadium  der  Krankheit 
gesellte  sich  zuweilen  ein  sehr  heftiges  Gefäfsficber,  dem 
leicht  locale  Entzündungen  folgten.  Im  zweiten  Stadium 
complicirte  sich  das  Uebel  mit  Hirn-  und  Brustentzün- 

dun- 


369 


VIII.  Acrztliche  Mittheil  □ngcn. 

dangen.  Erste  manifcitirten  sich  durch  clonische  Krampfe, 
die  entweder  sogleich  oder  im  zweiten  Anfalle  durch  Apo¬ 
plexia  serosa  tödteten.  Nach  Erkältungen  entstanden  häu¬ 
fige  Brustentzündungen,  die  oft  mit  Lungenlähmung  ende¬ 
ten.  Letzte  erschien  zuweilen  auch  ohne  vorhergehende 
Entzündung  bei  cachectischen  Kindern,  besonders  bei  denen, 
welchen  im  zweiten  Stadium  zu  viel  Blut  entzogen  war. 
Der  Husten  verschwand,  die  Respiration  wurde  stöhnend 
und  sehr  erschwert,  die  Extremitäten  kalt,  der  Puls  klein, 
kaum  fühlbar,  das  Gesicht  collabirte,  das  Sensorium  blieb 
frei.  Herzkrankheiten  wurden  als  Nachkrankheiten  nicht 
bemerkt.  Diese  fanden  sich  in  Altona  gar  nicht  ein,  wäh¬ 
rend  in  Hamburg  Atrophie,  die  in  der  Regel  tödtlich  en¬ 
dete,  in  einzelnen  Fällen  scrophulöse  Ausschläge  mit  Drü¬ 
senanschwellungen  folgten.  Sobald  Scharlach  erschien,  ver¬ 
schwand  der  Keuchhusten.  Hachmann  undBehre  mach¬ 
ten  während  dieser  Epidemie  die  (von  Ref.  nnn  schon  in 
so  manchen  Epidemieen  gemachte)  Erfahrung,  dafs  es  kein 
Wittel  gab,  die  Dauer  bei  den  einzelnen  Individuen  abzu¬ 
kürzen  oder  zu  beschränken,  wohl  aber  einige,  um  die 
stürmischen  Hustenanfälle  zu  mäfsigen.  — 

Die  Pockenepidemie  des  Jahres  1829  in  Ham¬ 
burg.  Nach  den  Beobachtungen  der  Doctoren  Schmidt 

undFallati  beschrieben  von  Dr.  Schön.  In  diesr  nichts 

•  \ 

Eigentümliches  habenden  Epidemie  erkrankten  fast  nur 
Erwachsene,  unter  ihnen  eine  74jährige  Frau.  Die  The¬ 
rapie  erforderte  meist  Antiphlogistica. 

Die  Masernepidemie  des  Jahres  1828  in  Ham¬ 
burg  und  Altona.  Nach  den  Beobachtungen  der  Docto¬ 
ren  Hachmann  und  Behre,  mitgetheilt  von  dem  letzten. 
In  beiden  Städten  verbreiteten  sich  die  Masern  von  Osten 
nach  Westen,  als  gutartige  Epidemie,  welcher  Charakter 
auch  bei  dem  verschiedensten  Temperaturwechscl  sich  er¬ 
hielt,  und  bei  früheren  Epidemieen,  welche  manche  Opfer 
durch  Bronchitis  forderten,  nicht  gefunden  wurde.  Chro¬ 
nische  Hautausschläge  hoben  die  Neigung  zur  Ansteckung 
Band  28.  Heft  3.  24 


370 


VIII.  Acrztliche  Mitthcilungm. 

nicht  auf,  selbst  im  Verlaufe  der  Vaccine  wurden  einige 
Kinder  von  Masern  *  befallen ,  und  beide  Krankheiten  ver¬ 
liefen  ganz  regclmäfsig.  Das  Stadium  catarrhnlc  war  zu¬ 
weilen  8  bis  14  Tage  lang,  und  endete  meistens  mit  ei¬ 
nem  galligen  oder  wässerigen  Erbrechen,  oder  Durchfalle, 
bei  dein  die  ersten  Mascrnlleeke  sichtbar  wurden.  Die  Ab- 

I 

schuppung  war  sehr  gering,  oft  nur  im  Gesichte,  zuwei¬ 
len  aber  auch  gar  nicht  sichtbar.  Das  Leiden  der  Augen 
und  der  Schleimhaut  der  Respiratiousorganc  war  sehr  un¬ 
bedeutend.  — 

Die  Scharlachepidemieen  der  Jahre  1826, 
1830  und  1831  in  Hamburg  und  Altona.  Nach  den 
Beobachtungen  der  Dootoren  Hach  manu,  Heitz,  Stcetz, 
ßchrc,  Hermes,  van  der  S missen  und  eigenen  dar¬ 
gestellt  von  Dr.  P.  Schmidt.  Die  Epidemie  von  1826, 
in  anderen  Gegenden  Deutschlands  so  bösartig,  war  in 
Hamburg  leicht  und  gutartig,  wie  der  Scharlach  daselbst 
fast  immer  ist.  Im  Jahre  1830  erschien  wieder  eine  ziem¬ 
lich  verbreitete  Epidemie,  besonders  in  Altona,  die  im 
folgenden  Jahre  abnahm,  aber  auch  bösartiger  wurde.  Die 
Scharlachröthe  und  Angina  waren  intensiv,  dabei  die  fast 
überall  gefährliche  entzündliche  Affection  der  Nasenschlcim- 
haut  mit  Absonderung  einer  copiösen,  dünnen,  übelrie¬ 
chenden,  scharfeu  Flüssigkeit,  starkes  Thränen  der  Augen, 
Schwere  und  Druck  im  Kopfe  (besonders  in  den  Stirn¬ 
höhlen,  wo  die  dieselben  umkleidende  Haut  nach  dem  Tode 
nicht  selten  entzündet  gefunden  wird  und  Veranlassung 
zum  Fortschreiten  der  Entzündung  auf  die  Hirnhäute  giebt, 
Ref.)  u.  s.  vv.  Dem  Zurücktreten  des  Ausschlages  folgte 
nicht  immer  ein  tödtl icher  Ausgang;  oft  starben  Kranke 
mit  blühendem  Scharlach.  Nicht  selten  fand  sich  eine  ein¬ 
seitige  Parotidengeschwulst ,  die  nicht  zurücktrat  und  sehr 
langsam  sicli  zerth eilte.  Nicht  ungünstig  war  der  Ueber- 
gang  in  Eiterung  (in  den  meisten  Epidcmicen  der  einzige 
günstige  Ausgang,  Ref.).  Der  Tod  in  dieser  Epidemie  er¬ 
folgte  meistens  in  der  Mitte  der  Krankheit,  uud  dann  an 


I 


YflF,  Acrztliche  Mittheilungen.  371 

Apoplexie;  nicht  selten  jedoch  auch  später  an  Hydrops  acu¬ 
tus.  Die  Therapie  erforderte  ziemlich  allgemein  Biutent- 
leerungcn  und  andere  Antiphlogistica;  in  der  nervösen 
form  das  Chlor,  und  bei  nicht  gehöriger  Entscheidung  der 
Krankheit  auf  die  Haut,  Diaphoretica.  Erst  im  Jahre  1831 
zog  sich  die  Altonaer  Epidemie  nach  Hamburg,  nachdem 
sie  1830  nur  sporadisch  auf  dem  Altona  nahen  Hambur¬ 
ger  Berge  vorgekommen  war,  und  blieb  ohne  Beschrän¬ 
kung  während  der  Influenza,  der  Wechselfieber-,  Pocken- 
und  Choleraepidemie  desselben  Jahres.  Auch  hier  war  sie 
nicht  so  gutartig,  als  die  früheren  Hamburger  Epidemieen. 
Merkwürdig  ist,  dafs  während  in  Altona  gleich  im  An¬ 
fänge  der  Epidemie  die  Nasenschleimhaut  so  bedeutend  er¬ 
griffen  wurde,  dieses  in  Hamburg  erst  später  bei  Zunahme 
der  Bösartigkeit,  oft  nur  als  Fortsetzung  der  entzündlichen 
Reizung  des  Rachens  und  der  Tuba  Eustachii  geschah,  und 
dann  weniger  bedenlich  war.  Der  Ausschlag  hatte  in  an¬ 
deren  Fällen  eine  Himbeerröthe,  und  bestand  oft  nur  aus 
hirsekorngrofsen,  nicht  über  der  Haut  erhabenen  Stippchen. 
Folgten,  wie  es  zuweilen  geschah,  unmittelbar  dem  Schar¬ 
lach  die  natürlichen  Blattern,  so  verliefen  sie  tödtjich.  Die 
Ursache  der  Todesfälle  während  der  ersten  Hälfte  des 
Scharlachs  wurde  selten  durch  die  Section  ermittelt;  das 
Ergebnifs  derselben  bei  den  durch  Verschwinden  des  Aus¬ 
schlags  Verstorbenen  bestand  meistens  in  Wasserergiefsun- 
gen.  Die  Prognose  und  Therapie  war  wie  gewöhnlich 
unbestimmt,  und  bei  letzter  nützten  die  besten  Berech¬ 
nungen  und  Erfahrungen  sehr  wenig.  Eine  Reihe  gut 
erzählter  Krankheitsfälle  beschliefst  diesen  interessanten 
Abschnitt. 

Ueber  die  Cholera.  Nach  gemachten  Beobacht ün- 
gen  während  der  ersten  Choleiaepidemie  in  Hamburg  im 
Herbste  1831;  von  Dr.  Siemssen,  dirigirendein  Arzte 
des  Choleraspitales  Eric  ns.  Der  Verf.  behandelte  darin 
150  Kranke.  Die  Vorboten  der  Cholera  fehlten  selten 
ganz,  und  bestanden  in  der  Regel  in  allgemeinem  Unwohl- 

24  * 


i 


372 


VIII.  Aerztliche  Mittheilungen. 

sein  und  Durchfall.  Am  peinigendsten  für  die  Kranken 
war  die  Dyspnoe  und  Krämpfe.  Ein  englischer  Matrose, 
der  die  Cholera  schon  in  Ostindien  gehabt  hatte,  versi¬ 
cherte,  die  Krämpfe  der  Bauch-  und  Wadenmuskeln  seien 
ihm  viel  schmerzhafter  in  Hamburg,  als  in  Ostindien  vor¬ 
gekommen.  Auf  einzelne  Symptome  hatte  wohl  die  herr¬ 
schende  Scharlachepidemie  Einflufs,  da  sich  Bef.  nicht  er¬ 
innert,  von  anginösen  Beschwerden  bei  der  Cholera  an 
anderen  Orlen  gelesen  zu  haben.  Heber  das  Wesen  der 
Cholera  äufsert  sich  der  Verf.  sehr  kurz,  und  verwirft 
selbst  seine  und  anderer  Hypothesen.  Unter  den  Resulta¬ 
ten  der  Leichenöffnungen  ist  dem  Bef.  besonders  die  Beob¬ 
achtung  merkwürdig,  dafs  sich  in  dem  Dünndärme  des 
achtmonatlichen  Fötus  einer  an  der  Cholera  Verstorbenen 
dieselbe  weifse  Masse  befand,  wie  im  Darmkauale  der 
Mutter;  im  Dickdarme  war  Meconium.  Nach  dem  Verf. 
ist  die  Austeckungsfäbigkeit  der  Cholera,  wenn  sie  ja 
existirt,  nicht  so  grofs,  dafs  man  sich  vor  ihr  zu  fürchten 
nöthig  hätte;  überhaupt  sind  die  Bedingungen  der  Verbrei¬ 
tungsweise  der  Cholera  dem  Verf.,  wie  den  meisten  ruhi¬ 
gen  Beobachtern,  unbekannt.  In  den  beiden  ersten  Sta¬ 
dien  der  Krankheit  nutzten  dem  Verf.  besonders  Brech¬ 
mittel  und  Beibungen  der  Extremitäten,  im  dritten  Blut- 
entlccrungen  und  Ableitungen  auf  Haut  und  Darmkanal.  — 
Aphorismen  über  das  Erscheinen  der  epidemi¬ 
schen  Cholera  in  Altona,  von  Dr.  Bchre.  Eine  un¬ 
gewöhnliche  Witterung,  besonders  aber  schwüle  Gewit¬ 
terluft  und  gänzliches  Verschwinden  der  Wechselfieber, 
gingen  dem  Erscheinen  der  Krankheit  vorher.  Diese  war 
aber,  trotz  der  steten  Berührung  mit  Hamburg,  so  wenig 
verbreitet,  dafs  nur  einer  von  1000  Einwohnern  erkrankte. 
Das  Wesen  der  Krankheit  hält  B.  für  einen  congcstiven 
Catarrh  der  Schleimhaut  des  Magens  und  Darmkanals.  Er 
stellte  an  sich  heroische  Proben  (Trinken  von  warmem 
Cholerablute,  Einreibungen  mit  Schweifse,  Nichtbeachten 
der  bei  Sectioncn  verletzten  und  mit  dem  Darmiuhalte  bc 


373 


Vlfl.  Aerztliche  Mitthcilangcn. 

schmutzten  Finger  u.  s.  w.)  an,  und  wurde,  wie  viele  an¬ 
dere  Experimentatoren,  nicht  angesteckt.  Er  hält  deshalb 
(auch  noch  aus  anderen  Gründen,  Kef.)  die  Cholera  für 
nicht-contagiüs,  sondern  für  epidemisch -miasmatisch.  — 
Der  Typhus  carceralis  contagiosus  in  Ham- 
burg,  beobachtet  und  behandelt  im  allgemeinen  Kranken- 
liause  von  Dr.  P.  Schmidt,  zeitigem  Hülfsarzte.  Als  die 
Cholera  die  Stadt  Hamburg  bedrohte,  sperrte  man  die  da¬ 
selbst  befindlichen  Vagabunden  in  ein  grolses  Hanfmaga¬ 
zin,  das,  nur  eilig  und  nothdürftig  eingerichtet,  und  sehr 
zugig,  die  von  Bekleidung  fast  ganz  entblöfsten  Menschen 
nur  schlecht  gegen  die  rauhe  Witterung  des  Spätherbstes 
schützte.  Der  Lebensunterhalt  war  dagegen  sehr  gut  und 
kräftig.  Von  mehren  hundert  Personen  wurden  nur  27 
befallen,  mehr  aber  von  einem  Typhus,  der  sich  bei  Ab¬ 
nahme  der  Choleraepidemie  in  dem  Magazine  entwickelte. 
70  leichte  Fälle  wurden  in  einem  WTerkhause  behandelt, 
und  da  die  schwer  Erkrankten  immer  nach  dem  allgemeinen 
Krankenhause  geschafft  wurden,  so  starb  von  ihnen  keiner. 
Von  den  77  schwerer  erkrankten  Männern  starben  11,  von 
den  28  Weibern  7.  Im  Hospitale  erkrankten  noch  14  Per¬ 
sonen  (unter  ihnen  vier  Wärter  und  eine  Wärterin),  von 
äenen  4  starben.  Der  erste  Zeitraum  des  Fiebers  (bis  zum 
7ten  Tage)  hatte  meist  einen  catarrhalisch- entzündlichen 
Charakter,  der  später  dem  typhösen,  zuweilen  auch  dem 
putriden  wich  (am  7ten  bis  Ilten  Tage).  Am  3ten  oder 
4ten  Tage  erschien  ein  masernähnliches  Exanthem,  das  5 
bis  8  Tage  stand,  und  kleienartig  abschuppte.  In  vielen 
Fällen  waren  neben  diesen  Flecken  auch  Petechien.  Haupt¬ 
sächlich  zeigten  sich  Kopfaffectionen,  die  in  Schwindel, 
Ohrenbrausen,  Delirien  und  Stupor  bestanden.  Die  kriti¬ 
schen  Bewegungen  fanden  sich  in  der  Schleimhaut,  der 
Leber  und  in  den  allgemeinen  Hautbedeckungen.  Nur  sehr 
langsam  verlor  sich  in  der  Reconvalesccnz  die  Demenz, 
und  es  blieb  noch  lange  Stumpfheit  der  äufseren  und  in¬ 
neren  Sinne  nach.  Scctionen  zeigten  Blutreichthum  der 


374 


VIII.  Acrztliche  Mitteilungen. 

Meningen,  zuweilen  selbst  Verklebungen  durch  plastische 
Lymphe  und  Exsudate  in  den  Höhlen.  Die  Contagiosität 
der  Krankheit  war  nicht  zu  verkennen.  Die  Behandlung 
verdient  Nachahmung,  wie  überhaupt  der  ganze  Aufsatz 
Beachtung.  —  Bemerkungen  über  denselben  üe* 
gen  stand,  giebt  Dr.  Fallati,  der  auch  Hülfsarzt  im  all¬ 
gemeinen  Krankenkausc  war.  E9  sind  gröfstentheils  Be¬ 
stätigungen  der  obigen  Mittheilungen.  F.  sah  aber  nie 
Krisen,  sondern  nur  Lysen.  — 

Die  Influenza  in  Hamburg  im  Mai  1833;  von 
Dr.  Hach  mann.  Wie  an  anderen  Orten,  ging  der  In¬ 
fluenza  ein  leidlicher  Gesundheitszustand  vorher;  der  um 
so  mehr  mit  der  nachmaligen  Krankenzahl  (in  Hamburg 
waren  binnen  vier  Wochen  mehr  als  die  Hälfte  der  Ein¬ 
wohner  erkrankt)  contrastirt.  Gegen  Ende  der  Epidemie 
gingen  viele  Catan  halficber  in  entzündliche,  mit  gastrischer 
oder  rheumatischer  Couiplication  über,  und  cs  verlor  sich 
auf  diese  Weise  die  Influenza  und  jede  andere  Krankheit, 
so  dafs  nun  eine  noch  stärkere  Pause  in  ärztlichen  Ge¬ 
schäften,  als  vor  dem  Erscheinen  der  Influenza ,  statt  fand. 
Die  Krankheit  selbst  trat,  wie  überall,  gleichmäfsig  und 
gutartig  auf,  und  war  nur  durch  Complicatjoncn ,  durch 
Erwreckung  schlummernder  Krankheitsheerde,  besonders  in 
den  Lungen,  lebensgefährlich.  Der  Verf.  liefs  bei  wirkli¬ 
chem  Brustleiden,  vorzüglich  aber  bei  Schwangeren,  Blut 
entziehen,  gab  bei  Gastricismus  Brechmittel,  und  bei  zö¬ 
gernder  Beconvalescenz  und  nachblcibendem  Schwächcge- 
fühle,  gelinde,  ausleercnde  Mittel.  Bittere  Mittel  vermehr¬ 
ten  die  Schwäche  (auch  Rcf.  bestätigt  dies). 

Im  Anhänge  erhalten  wir  die  Uebersicht  der  Er¬ 
eignisse  der  Hamburger  Entbindungsanstalt  in 
den  Jahren  1829  bis  1832  incl.,  vom  Arzte  derselben,  dein 
Dr.  Homann.  Interessant  ist  eine  Zangengeburt,  wegen 
des  relativ  zu  grofseu  Kindeskopfcs.  «Sic  betraf  eine  Ne¬ 
gerin  von  Guinea,  welche  von  einem  Europäer  gcschwäu- 
gert  worden  war.  Die  Person  war  kleiu,  fleischig,  äufserst 


375 


V  III.  Aerztliche  jNJiltheilungen. 

gesund  und  kräftig,  hatte  diinue,  zarte  Knöchel,  und  sehr 
schön  geformte  Iländc  und  Fiifse;  das  Becken  war  in  al¬ 
len  Dimensionen  etwas  eng.  Da  sie  noch  nicht  lange  Zeit 
in  Europa  war,  so  wurde,  um  eine  ganz  reine  Beobach¬ 
tung  machen  zu  können,  ihrem  Betragen  durchaus  keine 
Vorschriit  gemacht;  allein  obgleich  die  Geburt,  im  Allge¬ 
meinen  genommen,  regelmäfsig  verlief,  so  betrug  sic  sich 
doch  so  ungestüm  und  mufste  so  oft  unter  dem  Bette,  wo¬ 
hin  sie  sich  verkroch,  wieder  hervorgehoit  werden,  dals 
der  erste  Vorsatz  aufgegeben,  und  sie  auf  das  Geburtslager 
unter  Aufsicht  gebracht  werden  mufste.  Das  geborene 
Kind,  ein  grofser,  starker  Knabe,  trug  die  charakteristi¬ 
schen  Configurationen  seiner  Mutter:  die  Farbe  der  Haut 
war  schmutzig -gelbgrau,  an  der  Fufssohle,  der  Handfläche, 
der  inneren  Seite  der  Schenkel  und  der  Achselgrube  mehr 
in  das  Weifse  spielend;  schon  am  dritten  Tage  aber  zeigte 
sich  die  ausgebildete  Farbe  der  Mulatten.  Mutter  und 
Kind  verliefsen  die  Anstalt  gesund.»  —  In  den  genann¬ 
ten  Jahren  wurden  auch  drei  Perforationen  gemacht,  bei 
der  dritten  war  das  Kind  wahrscheinlich  todt,  ob  bei  den 
beiden  ersten,  erfahren  wir  nicht.  —  Ueber  die  Be¬ 
handlung  des  Mittelfleisches  während  der  Ge¬ 
burt,  von  dems.  Verf.  II.  läfst  die  Seitenlage  annebmen, 
das  Mittellleisch  nicht  unterstützen,  aber  auch  die  Wehen 
nicht  verarbeiten,  nicht  drängen  und  pressen,  und  hat  nur 
einmal  bei  einer  Erstgebärenden,  wo  das  Kind  mit  unge- 
sprengten  Häuten  plötzlich  durchging,  einen  1  Zoll  tiefeu 
Mitteifleischrifs  gesehen.  Der  Verf.  will  deshalb,  «dafs,» 
um  die  Dammeinrisse  zu  vermeiden,  «man  die  Hebammen 
anweise,  den  Damm  nicht  mehr  zu  unterstützen,  weil  un¬ 
geschickte  Hände  von  unvollkommenem  Wissen  und  dem 
Willen  zu  helfen  in  Thätigkeit  gesetzt,  gewifs  mehr  zur 
Zerreifsung  des  Mittelfleisches  beitragen,  als  die  Integrität 
desselben  zu  erhalten.»  —  Beiträge  zur  Lehre  von 
der  Wendung  auf  den  Kopf  durch  innere  Hand¬ 
griffe;  von  dems.  Verf.  Diese  Operation  hält  der  Verf. 


376 


IX.  Klinische  Mittbeilongen. 

für  weniger  schmerzhaft,  und  nocl»  dazu  gefahrloser  für 
Kiud  und  Muttor,  als  die  Wendung  auf  die  Fufse,  ver¬ 
steht  sich,  wenn  man  die  von  ihm  gegebenen  An  -  und 
Gegenanzeigen,  und  die  Technik  der  Operation  berück¬ 
sichtigt.  Diese  Abhandlung,  die  von  der  Geschicklichkeit 
und  der  reichen  Erfahrung  des  Vcrf.  in  der  Geburtshülfe 
zeugl ,  beschliefst  eine  scharfe  Rccension  der  Gratulations¬ 
schrift  des  I)r.  Wehn  an  Ritgcn  u.  s.  w.,  welche  das¬ 
selbe  Thema  abhandelt.  • 

Beschreibung  einiger  anatomischen  Präpa¬ 
rate  aus  der  pathologisch -  anatomischen  Samm¬ 
lung  der  Gesellschaft,  von  Dr.  Fallati.  Reichhal¬ 
tig,  aber  keines  Auszuges  fähig.  — -  Ref.  wünscht  der 
achtbaren  Gesellschaft  ein  fröhliches  Gedeihen  und  Mufse 
zur  Herausgabe  ähnlicher  Schriften,  die  mannigfache  Beleh¬ 
rung  verbreiten,  uud  eiueu  tüchtigen  Geist  erkennen  lassen. 

Vehr. 


IX. 

Klinische  Mittheilangen;  von  Dr.  F.  A.  G. 

Bern  dt,  Königl.  Geh.  Med.  Rathe  u.  s.  w.  Heft  I. 

Greifswald  ,  in  der  acad.  Buchhandl.  bei  G.  A.  Koch. 
1833«  8.  VIII  u.  166  S.  (23  Gr.) 

Von  jeher  war  cs  erfreulich,  auch  von  fern  das  prak¬ 
tische  Wirken  der  zur  Fortbildung  der  Wissenschaft  und 
zur  Erziehung  der  Aerzte  angestellten  Lehrer  beobachten 
zu  können,  und  wir  erkennen  es  daher  mit  Dank  an,  dafs 
wir  in  den  neuesten  Zeiten  von  den  meisten  klinischen  In¬ 
stituten  more  veteruin  Nachrichten  bekommen.  Der  Verf. 
vorliegender  Mittheilungen,  seit  1824  Prof,  der  praktischen 
Medicin  auf  der  Universität  Greifswald,  ist  nicht  zum  cr- 
atcumalc  als  Schriftsteller  aufgetreten ,  wir  begegneten  ihm 
schon  oft,  und  verdanken  ihm  manche  Belehrung. 


377 


IX.  Klinische  Mittheil ungen, 

I.  Kurze  Geschichte  der  Errichtung  und  Ver- 
vollk  ommnuDg  der  klinischen  I ns titute  zu  Greifs- 
wald.  Erst  seit  dem  Jahre  1794  bestand  eine  ambula¬ 
torische  Klinik,  doch  fehlte  ein  geordneter  klinischer  Un¬ 
terricht  gänzlich,  und  W.  Sprengel  hatte  das  Verdienst, 
diesen  und  eine  chirurgische  Klinik  im  Jahre  1822  einzu¬ 
führen.  Hierauf  bauete  der  Verf.  fort,  hatte  aber  viele 
Schwierigkeiten  zu  überwinden,  bis  er  die  gewöhnliche 
Zahl  der  in  der  Klinik  behandelten  Kranken  von  30  bis  40, 
auf  400  bis  600  jährlich  bringen  konnte.  Diese  Vergröfse- 
rung  bewirkte,  dafs  eine  medicinisch -chirurgische  Lehran¬ 
stalt  mit  der  medicinischen  Facultät  verbunden  wurde. 

II.  Ueber  die  Aufgaben  des  klinischen  Un¬ 
terrichtes,  die  Erfordernisse,  w eiche  die  Lö¬ 
sung  derselben  noth wendig  macht,  und  über  die 
Art  und  Weise,  nach  welcher  derVerf.  diese  Lö¬ 
sung  zu  erstreben  bemüht  gewesen  ist.  Der  klini- 

* 

sehe  Unterricht  schliefst  nach  dem  Verf.  zwei  Hauptauf¬ 
gaben  ein:  1)  die  Anweisung  zur  Anwendung  heilwis- 
senshaftlicher  Grundsätze  auf  specielle  Krankheitsfälle,  und 
2)  die  Uebung  der  Beobachtungsgabe  der  Schüler,  die  An¬ 
weisung,  wie  aus  einzelnen  Beobachtungen  Erfahrungs- 
facta  gewonnen,  und  aus  diesen  wissenschaftliche  Resultate 
erhoben  werden  können.  Das  ärztliche  Kunstgeschäft  am 
Krankenbette  umfafst  a)  die  Ermittelung  und  Feststellung 
des  gegenwärtigen  und  zukünftigen  Zustandes  der  Krank¬ 
heit  (Krankenexamen,  Erkenntnifs  und  Benennung  der 
Krankheit,  Prognose);  b)  die  Feststellung  des  Heilplanes 
init  der  specitischen  Heilmethode  (Würdigung  der  Natur¬ 
heilkraft,  Feststellung  des  speciellen  Zweckes  der  Heilung, 
die  Bestimmung  der  Objecte,  Verbindung  der  Indicationen 
und  Verordnung  der  Mittel);  c)  die  Fortbchandlung  des 
Kranken;  d)  die  Recouvalescenz,  die  Behandlung  der  Ster¬ 
benden  und  Hinterbliebenen.  — Wir  übergehen  hier  eine 
"■  Beleuchtung  dieses  Schema’s  um  so  eher,  da  wir  Aehn- 
liches  bei  Gelegenheit  einer  Anzeige  der  Methodik  der 


i 


378 


IX.  Klinische  Mittheilungen. 

ärztlichen  Kunstausübung  desselben  Verf.  gegeben  haben, 
und  aucli  der  Vcrf.  sieh  in  späteren  Schriften  weitläufiger 
in  dieser  Iliusicht  ausgesprochen  hat.  Hecht  zvveckmäfsig 
ist  der  Entwurf  über  den  Inhalt  der  Krankengeschichten, 
den  sich  mehre  Schriftsteller,  der  logischen  Ordnung  we¬ 
gen,  zum  Vorbilde  nehmen  könnten.  — 

III.  Gedrängte  Uebersicht  des  nosologischen 
Systemcs.  Der  Verf.  nimmt  dynamische,  Vcgcta- 
tions-  und  organische  Krankheiten  an.  Zu  1)  gehö¬ 
ren  :  Fieber,  Entzündungen,  Nervenkrankheiten,  z.  IE  Hy¬ 
pochondrie,  Hysterie,  die  Algieen,  Krämpfe  und  Lähmun¬ 
gen,  Scheintod,  Toxication.  2)  Cachcxicen,  Dyscrasieen, 
Iufectionen  (Lues),  Aussatzkrankheiten,  Plethora,  Anac- 
mia,  Tabes,  Phthisis,  Gastricismus,  Wurmkrankheiten 
Cholera  sporadica,  Lienteria,  Blutfliisse,  Harnruhr,  Steiu- 
krankheiten,  Schleimflüsse,  Icterus,  Speichelflufs,  Wasser¬ 
sucht,  Windsucht.  3)  Vitia  primae  et  secundae  formatio- 
uis.  Abweichungen  in  der  Zahl  und  Lage  der  Theile,  in 
der  Contiguität  und  dem  Bildungszustande  des  Gewebes. 
Schon  diese  kuze  Uebersicht  wird  genügen,  die  Mängel 
dieser  Krankheitscintheilung,  *n  der  ganz  verschiedene  Zu¬ 
stände  nebeneinander  stehen  und  verwandte  völlig  getrennt 
sind,  zu  zeieen.  — 

IV.  Summarische  Uebersicht  der  in  der  me- 
dic.  Klinik  von  1824  bis  1833  behandelten  (621(i) 
Kranken.  In  diesen  9  Jahren  war  der  sthenisebe  Krank¬ 
heitscharakter,  besonders  in  den  Verdauungsorganen,  vor¬ 
herrschend.  Die  gesundeste  Zeit  war  von  der  Mitte  des 
August  bis  zum  Anfänge  des  November.  Fremde  erliegcu 
an  der  Sceküstc  leicht  vielfachen  catarrhalischcn  Beschwer¬ 
den.  Exanthematische  Krankbeiteu  kamen  nicht  häufig  vor. 
In  neun  Jahren  sah  der  Verf.  nur  zweimal  die  Ruhr.  Ma¬ 
genkrämpfe  sind  sehr  häufig  (Ursache  ist  wohl  Arthritis 
anomala,  da  die  Arthritis  regularis  gar  zu  selten  beobach¬ 
tet  wurde),  aus  ihnen  entwickeln  sich  nicht  selten  Magen- 
verhärtuugeu.  Scrophcln  sind  gutartig,  Khachitis  sehr  sei- 


IX.  Klinische  Mittheilnngen.  379 

tcn,  desgleichen  Pbthisis  pulm.  purulenta,  häufiger  dage¬ 
gen  Phthisis  pituitosa.  — 

V.  Medicinische  Beobachtungen  und  Erfah¬ 
rungen  u.  s.  w.  1)  Behandlung  des  Wechselfie¬ 
bers.  Der  Verf.  behandelte  in  den  9  Jahren  gegen  tau¬ 
send  Wechselfieberkranke,  von  denen  nur  44  an  Quartana 
und  einige  20  an  Fieber  c.  typo  anonialo  litten.  Die  ge¬ 
wöhnlichen  Wechselfieber  weichen  sehr  kleinen  Gaben  der 
China,  wenn  diese  während  des  Paroxysmus,  oder  noch 
besser,  eine  Stunde  vor  demselben  gegeben  werden.  Oft 
ist  schon  eine  Gabe  von  Chinae  pulv.  scr.  j,  oder  Chinin, 
sulphur.  gr.  ij  —  iij  hinreichend,  den  nächsten  Angriff  zu 
verhindern;  am  zweckmäfsigsten  aber  die  Gabe  von  einer 
Drachme  des  Chinapulvers.  Die  Behandlung  mit  gröfseren 
oder  kleineren  Gaben  der  China  macht  keinen  Unterschied 
hinsichtlich  der  Recidive.  Bei  der  Febr.  interm.  quartana 
giebt  der  Verf.  selten  China,  sondern  (nach  Hildanus) 
den  Helleborus  in  starken  Gaben.  Folgende  Formel  war 
ihm  von  dem  günstigsten  Erfolge:  ip  Extr.  helleb.  Am¬ 
mon.  mur.  Ja  dr.  ij.,  Extr.  absinth.  dr.  j.,  Aq.  mentb. 
pip.  unc.  V.  D.  S,  Alle  zwei  Stunden  einen  Efsiöffel  voll. 
Zwölf  Kranke  wurden  damit,  und  nur  der  dreizehnte  nicht 
geheilt,  bei  dem  China  mit  zu  Hülfe  genommen  werden 
mufste.  Bei  einer  Quartana  duplicata  eines  16jährigen 
Kranken,  der  seit  drei  Jahren  an  Wechselfiebern  gelitten 
hatte,  wurde  der  eine  Typus  durch  Helleborus,  der  an¬ 
dere,  hartnäckig  fortdauernde,  durch  China  und  Belladonna 
geheilt.  Bei  Kindern  wurde  die  endermatisehe  Methode 
mehrmals  versucht,  und  in  der  Regel  das  Wechselfiebev 
beseitigt,  aber  auch  in  einzelnen  Fällen  nicht.  Das  übelste 
dabei  ist  die  Reizung  der  Cutis  durch  das  Chinin,  welche 
oft  zu  hartnäckigen  Verschwärungen  Veranlassung  giebt. 
(Ref.  hat  ebenfalls  viele  Versuche  damit  angestellt,  und 
ist  zu  dem  Resultate  gelangt,  dafs  die  endermatisehe  Me¬ 
thode  nur  bei  gänzlich  darniederliegenden  Verdauungskräf- 
ten,  bei  Dysphagiecu  und  bei  Febr.  intermitlens  cum  typo 


380 


IX.  Kl  imsclie  Mlttheilnngen. 


anomalo  scu  erratico  auzu wenden  sei.)  Der  Gebrauch  des 
Ferr.  hydroeyan.  gegen  Wechsclficbcr  nutzte  12 mal  unter 
22  Fällen,  des  Piperins  3mal  unter  8,  das  Salicins  in  5  Fal¬ 
ten  gar  nichts  (übereinstimmend  mit  des  Ref.  Erfahrungen). 
2)  Reobachtungen  über  merkwürdige  metastati¬ 
sche  K  ra  n  k  h  c  >  t  s  p  ro  z  es  sc:  a)  Rrandigc  Zerstörung  des 
liodensackes  nach  Paraphimosis,  darauf  folgende  Entzün¬ 
dung  und  Eiterung  in  den  Bauchdecken,  und  während  der 
Bildung  des  Eitcrungsfiebers  tödtliche  Pneumonie.  Der 
Vcrf.  mciut,  dafs  die  Metastase  durch  Aufsaugung  des  Ei¬ 
ters  entstanden  sei.  Ref.  glaubt,  dafs  tief  liegende,  bedeu¬ 
tende  Abscesse  frühzeitig  genug  geöffnet  werden  müssen, 
um  dieses  zu  verhindern,  b)  Versetzung  einer  rheuma¬ 
tisch-entzündlichen  llalsaffection  auf  das  Herz.  (War  hier 
vielleicht  nur  ein  hysterischer  Anfall,  der  durch  die  kräf¬ 
tige  Arznei,  bestehend  aus  Infus,  rad.  valer.  (ex  unc.  j. 
parat.)  unc.  v. ,  Liq.  ammon.  succ.  dr.  ij,  Gumm.  mimos. 
Tinct.  castor.  sib.  ^  dr.  j.,  Tinct.  opii  simpl.  Camphor. 

scr.  j.,  Sachar.  dr.  iij.  M.  S.,  alle  halbe  Stunden  einen 
Efslöffel  voll,  und  angewandte  Hautreize,  schnell  beseitigt 
wurde?)  —  3)  Heilung  eines  chronischen  Wund¬ 
starrkrampfes.  Die  Krankheit  entstand  ohne  wahr¬ 
nehmbare  Ursache  nach  der  Amputation  des  Oberschen¬ 
kels,  welche  wegen  eines  Osteosarcomes  vorgenommen 
wurde,  mit  den  heftigsten,  den  ganzen  Körper  durch- 
schicfsenden,  vom  Stumpfe  ausgehenden  Schmerzen,  und 
wurde  durch  grofse  Gaben  von  Opium  und  Calomel,  bis 
zur  Salivation,  geheilt.  —  4)  Encephalitis  phreni- 

tica.  Ein  lBjähriger,  gesunder  Schiffsjunge,  erkrankte  am 
15.  Juni  an  Kopfschmerz,  Mattigkeit,  Uebelkeit  und  zwei¬ 
maligem  Erbrechen.  Am  IStcn  hatte  er  Geistesstörung, 
und  am  19tcn  kam  er  in  das  Hospital,  wo  er  ain  folgen¬ 
den  Morgen,  nach  durchtobter  Nacht,  noch  sehr  stark  auf¬ 
geregt  war.  Er  lag  sehr  unruhig  im  Bette,  richtete  sich 
auf,  warf  sich  umher,  und  schwatzte  in  unverständlichen 
Worten.  Zuweilen  zeigte  sich  in  seinen  Gcberdeu  und 


381 


IX.  Klinische  Mittheilnngen. 

Handlungen  etwas  Boshaftes.  Die  Augen  flogen  wild  hin 
und  her,  die  Pupillen  bald  verengert,  bald  erweitert,  die 
Augenlider  weit  geöffnet;  dabei  Zähneknirschen  und  un¬ 
aufhörliches  Spucken.  Das  Gesicht  nicht  bedeutend  gerö- 
tliet,  die  Temperatur  normal,  nur  sehr  wenig  erhöht  am 
Kopfe,  trockene  Tiaut,  zusammengezogener,  unterdrückter, 
nicht  fieberhafter  Puls.  Stuhlgang  und  Urin  wird  unbe- 
wufst  entleert;  die  Zunge  wenig  belegt;  Druck  auf  die 
Magengegend  schien  Schmerzen  zu  verursachen.  Es  wurde 
zuerst  ein  Aderlafs  angestellt,  dann  kalte  Umschläge,  und 
Abends  Blutegel  an  den  Kopf,  früher  Tart.  stib.,  später 
alle  Stunden  Calomel  gr.  j.  Hiernach  etwas  mehr  Ruhe, 
die  sich  aber  später  wieder  verlor.  Dahei  öftere  Verän¬ 
derung  der  Gesichtsfarbe  und  der  Gröfse  der  Pupille.  Spä¬ 
ter  kalte  Uebergiefsungen  im  warmen  Bade,  wonach  wie¬ 
der  etwas  Ruhe,  die  aber  nach  Wiederholung  des  Bades 
nicht  wieder  eintrat.  Man  gab,  da  Spulwürmer  abgegan¬ 
gen  waren,  Anthelminthica;  allein  ohne  Besserung.  Am 
22sten  trat  Collapsus  mit  Erweiterung  der  Pupillen,  am 
23sten  Krämpfe,  und  in  der  Nacht  zum  25sten  der  Tod 
ein.  Die  Oeffnung  des  Kopfes  zeigte  die  Blutgefälse  stark 
mit  Blut  überfüllt;  die  Hirnmasse  von  gewöhnlicher  Con- 
sistenz,  die  Ventrikel  mehre  Unzen  Wasser  enthaltend, 
die  Plexus  choroidei  laterales  blutleer;  dcnFornix  ganz 
weich,  breiig  und  so  aufgelöst,  dafs  er  in  die 
seröse  Flüssigkeit  der  Seitenventrikel  gleich-  ' 
sam  üherflofs.  Der  Plexus  choroid.  medius  stark  ent¬ 
wickelt  und  blutreich.  Am  Tnber  cinereum,  zwischen 
Arachnoidea  und  pia  Mater,  fand  sich  ein  etwa  einen  hal¬ 
ben  Zoll  Durchmesser  enthaltendes  gelatinöses  Exsudat  von 
weifser  Farbe.  Das  Cerebellum  gesund.  Die  Gefäfse  der 
Medulla  oblongata  und  des  oberen  Theiles  der  Medulla  spi- 
nalis  sehr  entwickelt  und  blutreich.  Unterleibs-  und  Brust¬ 
höhle  normal. 


U  e  h  r. 


3S2 


X.  luigc. 

X. 


R  ü  *  g  e . 


Die  Uebcrsetzungslust  der  deutschen  Aerzte  ist  schon 
so  oft  gerügt  worden,  dafs  cs  überflüssig  scheint,  über  die 
Sache  an  sich  noch  ein  Wort  zu  verlieren.  Wenigstens 
zeigt  die  Erfahrung,  dafs  auf  diese  Weise  der  Fluth  von 
Uebcrsetznngen ,  womit  der  deutsche  Büchermarkt  über¬ 
schwemmt  wird,  noch  kein  Einhalt  geschehen  ist.  Viel¬ 
leicht  gelänge  cs  aber,  dem  Unwresen  zu  steuern,  wenn 
man  sich  die  —  freilich  in  jeder  anderen  Hinsicht  schlecht 
lohnende  —  Mühe  gäbe,  die  Uebersetzungen  als  solche 
einer  strengeren  Kritik  zu  unterwerfen,  als  bisher  gesche¬ 
hen  ist,  indem  die  Kecensenten  nur  gar  zu  häufig  über 
den  Inhalt  des  in  fremder  Sprache  erschienenen  Buches 
die  deutsche  Bearbeitung  desselben  vernachlässigen,  oder 
ihr  noch  wohl  gar  am  Schlüsse  der  Rccension  ein  allge¬ 
meines  Lob  ertheilen,  wenn  sie  auch  von  den  gröbsten 
Fehlern  wimmelt,  die  der  Beccnsent,  wenn  sie  nicht  gar 
zu  sehr  den  Sinn  entstellen,  oft  seihst  nicht  gewahret,  weil 
er  zu  selten  Gelegenheit  hat,  die  Uehersetzung  mit  dem 
Originale  zu  vergleichen,  was  doch  billig  hei  der  Reccn- 
sion  der  ersten  geschehen  sollte.  Würde  auf  diese  Weise 
jeder  Fehler  rücksichtslos  aufgedeckt,  und  über  jedes 
schlechte  Machwrerk  die  kritische  Gcifscl  schonungslos  ge¬ 
schwungen,  so  würde  bald  mancher  allczcilfertige  Ucber- 
6etzer  aus  Ehrgeiz  sich  bewogen  fühlen,  seine  flüchtige 
Arbeit  vor  dem  Druck  einer  strengeren  Revision  zu  un¬ 
terwerfen,  oder  auch  —  ohne  sonderlichen  Nachtheil  des 
lesenden  Publikums  —  ungedruckt  der  Vergessenheit  zu 
übergehen.  So  z.  B.  ist  cs  doch  gar  zu  arg,  und  meines 
Wissens  vou  keinem  Reccnscntcn  gerügt,  dafs,  in  der 
deutschen  Ueherßetzung  der  Schrift  von  John  Mason 
Good  <c  über  die  ostindische  Cholera,»»  Tübingen  bei  C. 


383 


X.  Rüge. 

F.  Osiander,  1831,  welcher  ein  «ordentlicher  öffent¬ 
licher  Lehrer  der  Heilku nde  »  seinen  Namen  geliehen 
hat  —  denn  ich  wTill  hoffen,  dafs  er  den  schon  jedem  Ter¬ 
tianer,  geschweige  denn  einem  Manne  in  solchem  Amte, 
unverzeihlichen  Schnitzer  nicht  selbst  gemacht  hat  —  S.  2, 
wo  vom  Dhanwantori,  als  einer  mythologischen  Person  der 
Hindus,  die  Rede  ist,  «welche  mit  dem  Griechen 
Aeskulap  in  Briefwechsel  steht»  (!!!)  —  Wofür 
soll  man  einen  so  groben  Verstofs  gegen  deu  vernünftigen 
Sinn  halten?  Ein  Fehler  aus  Unwissenheit  kann  es  un¬ 
möglich  sein;  denn  angenommen,  der  sich  als  Uebersetzer 
aufwerfende  «ordentliche  öffentliche  Lehrer»  u.s.w. 

i  \ 

oder  was  er  sonst  sein  mag,  wiifste  nicht,  was  jeder  Ge¬ 
bildete,  wenn  er  auch  kein  Englisch  versteht,  errathen 
kann,  dafs  das  Englische  «  corres pon  d  »,  welches  im  Ori¬ 
ginal,  wie  ich  nicht  zweifle,  obgleich  ich  dasselbe  nicht 
gelesen  habe,  gebraucht  ist,  unserem  Deutschen  «ent¬ 
sprechen,  gleich  kommen»  correspondirt,  so  mufste 
es  ihm  doch,  ehe  er  solchen  Unsinn  niederschrieb,  einfal¬ 
len,  dafs  die  Helden  der  Mythe  in  der  Kunst  des  Schrei¬ 
bens  nach  unserer  Art  noch  wohl  nicht  so  bewandert  sein 
mochten,  als  die  Schreibhelden  unseres  Zeitalters!  Man 
kann  also  wohl  nur  annehmen,  dafs  es  in  der  Ueber- 
setzungsfabrik ,  aus  welcher  jenes  Opus  hervorging,  auf 
solche  Kleinigkeiten  nicht  ankommt!  —  - — 

Dies  war  indefs  noch  ein  ganz  amüsanter  Fehler,  wel¬ 
cher  weiter  keinen  Schaden  thut,  sondern  obendrein  zur 
Belustigung  manches  Lesers  gedient  und  diesem  ein  Lächeln 
abgezwungen  haben  mag,  wie  ich  versichern  kann,  dafs 
ich  obiges  Büchelchen  blofs  dieses  Schnitzers  wegen  ge¬ 
kauft  habe.  Anders  verhält  es  sich,  und  ernsthafter  wird 
die  Sache,  wenn  ein  solcher  sich  in  praktische  Dinge  ein¬ 
schleicht.  Soll  doch  vor  einigen  Jahren  eine  hohe  Person 
in  Deutschland  an  einem  Druckfehler  gestorben  sein ,  der 
sich  in  eine  ausländische  Vorschrift  eingeschlichen  hatte, 
nach  welcher  jener  hohen  Person  ein  Narcoticum  verab- 


/ 


384 


X.  Rüge. 

reicht  worden,  und  der  im  Druckfehlerverzcichnifs  über¬ 
sehen  war;  warum  sollte  denn  nicht  auch  einmal  jemand 
an  einem  Uebersctzungsfchler  slcrben  können?  Das  möchte 
wohl  öfter  geschehen,  wenn  die  vielversprechenden,  weit 
herkommenden,  und  eben  deswegen  gewifs  stets  sehr  wirk¬ 
samen  Recepte  immer  so  kräftige  Droguen  enthielten,  als 
jenes  Narcoticnm  war.  Glücklicherweise  ist  das  aber  nicht 
immer  der  Fall,  und  so  kann  der  Leser  denn  auch  bei 
solchen  zuweilen  noch  lächeln,  wie  ich  mich  dessen  nicht 
enthalten  konnte,  als  ich  in  Rust’s  Magazin  für  die  gc- 
sammte  Heilkunde,  Bd.  34.  Heft  2.  S.  314  bis  329  eiueu 
Aufsatz  —  «eine  kritische  Darstellung»  betitelt  — 
las  «über  die  Behandlung  der  Hydrophobie  im 
Allgemeinen  und  die  (auschliefslich  die?  sollte  es  in 
Mexico  nicht  noch  mehre  Mittel  gegen  die  Hundsw'uth  ge¬ 
ben,  als  dies  eine  von  einem  alten  Weibe  empfohlene? 
Wahrscheinlich  eben  so  viele  und  eben  so  untrügliche,  als 
bei  uns!)  Heilmethode  derselben  bei  den  Mcxi- 
canern»  —  welche  letzte  aus  Hardy’s  Travels  in 
the  Intcrior  of  Mexico,  in  1825,  26,  27  and  28,  Lon¬ 
don  1829  —  in  deutscher  Version  ihrem  wesentlichen 
Theile  nach  folgcndermaafsen  wiedergegeben  wird:  «Die 
Person,  welche  von  dieser  Krankheit  befallen  wird,  mufs 
wobl  in  Sicherheit  gebracht  werden,  damit  sie  weder  sich 
selbst,  noch  andern  schaden  könne.»  (Das  lasse  ich  gern 
gelten,  aber  nun  höre  man  weiter:)  «Weiche  danu  eine 
Reinette  (?!)  ungefähr  fünf  Minuten  lang  in  einem  et¬ 
was  über  halb  vollen  Trinkglase  Wassers.  Wenn  dies  ge¬ 
schehen  ist,  so  thuc  so  viel  pulvcrisirte  Sabadille  (Vera¬ 
trum  Sabadilla  Metzii)  dazu,  als  man  zwischen  dem  Dau¬ 
men  und  drei  Fingern  fassen  kann  (5j),  mische  es  gut 
untereinander  und  gieb  es  dem  Patienten  ein,  d.  h.  zwinge 
es  in  einem  freien  Augenblicke  seine  Kehle  hinunter. 
Dann  mufs  der  Kranke  wo  möglich  an  ciu  Feuer  oder  in 
die  Sonne  gebracht,  und  gut  durchwärmt  werden  »  u.s.  w.  — 
„  Sodann  läfst  siebs  der  Verf.  der  «kritischen  Darstel¬ 
lung» 


385 


X.  Rüge. 

lang»  mit  anzuerkennendem  Fleifse  und  Scharfsinn  ange¬ 
legen  sein,  das  Wirksame  dieser  —  es  ist  nicht  zu  läug- 
nen,  etwas  mystischen  —  Methode  herauszuklauben,  und 
erklärt  endlich  das  fünf  Minuten  lange  Einweichen  der  Rei¬ 
nette  für  sehr  wesentlich  (worüber  man  sich  heutiges  Ta¬ 
ges  nicht  wundern  darf,  wenn  man  bedenkt,  mit  wie  viel 
Wenigerem  die  Anhänger  jener  neuen  Lehre  —  ich  weifs 
übrigens  nicht,  ob  auch  der  Verf.  sich  zu  ihr  bekennt  - — 
ungleich  gröfsere  Dinge  ausrirhten),  indem  die  Apfelsäure 
das  Sabadillpulver,  seinem  alkalischen  Hauptbestandtheile 
nach,  leichter  löslich,  und  dadurch  wirksamer  macht.  Um 
über  diesen,  einem  altgläubigen,  dem  das  neue  Licht  noch 
nicht  aufgegangen  ist,  jedoch  schwer  einleuchtenden  Rie- 
senschlufs  nicht  sogleich  das  triviale:  «  Crcdat  Judaeus 
Apella!”  auszurufen,  will  ich  nun  gern  glauben,  dafs 
die  Reinettäpfel  in  des  Herrn  Verfassers  Physikat,  in 
Westpreufsen  nämlich,  eine  gute  Portion  Apfelsäure  ha¬ 
ben,  und  davon  selbst  eine  mehr  als  homöopathische  Dosis 
durch  das  fünf  Minuten  lange  Einweichen  in  Wasser  aus¬ 
lecken  lassen  mögen,  es  auch  dahin  gestellt  sein  lassen, 
ob  die  Chemie  sich  schon  den  Gesetzen  der  neuen  Lehre 
fügt  und  ein  so  unscheinbares  Menstruum  anerkennt,  und 
ob  die  Reinettäpfel  im  warmen  Klima  Mexiko’s,  wenn  es 
deren  überall  dort  giebt,  eine  ähnliche  Portion  leicht  aus¬ 
leckender  Säure  haben,  als  in  Westpreufsen  —  aber  die 
ganze  Mühe  dieser  «kritischen  Darstellung«  hätte 
sich  der  Iir.  Verf.  um  etwas  leichter,  und  «die  Hei¬ 
lungsart  der  Hydrophobie«  bei  den  Mexikanern  den 
Deutschen  etwas,  wenn  auch  noch  nicht  viel,  plausibler 
gemacht,  wenn  er  das  Englische  «Rennet”,  wie  siebs 
gebührt,  mit  «Labmagen”  übersetzt,  und  nicht  die  paar 
n- Striche  mehr  darin,  als  in  dem  Worte  «Ren et,”  «die 
Reinette,”  übersehen  hätte.  So  habe  ich  wenigstens 
dieselbe  Vorschrift  in  einem  englischen,  freilich  nicht -me- 
dicinischen  Journale,  dem  Sun,  wenn  ich  nicht  sehr  irre, 
gefunden.  Es  könnte  abeir  wohl  sein,  dafs  unser  Verfasser 
Band  28.  Heft  3.  25 


386  XL  Medicinische  Bibliographie. 

scr  seine  «kritische  Darstellung“  nach  einer  siche¬ 
reren  (Quelle  bearbeitet  hätte,  in  welchem  Falle  ich  dc- 
precire.  - 

Ich  möchte  wohl  den  Vorschlag  machen,  für  solche 
und  ähnliche  Proben  litterarischer  Seichtheit  in  irgend  ei¬ 
ner  kritischen  Zeitschrift  eine  eigene  Rubrik  zu  eröffnen. 
Sic  würde  sich  mit  eben  so  leichter  Mühe  ausfüllen  las¬ 
sen,  als  sie  gewifs  ihr  Gutes  haben,  und  nebenbei  zur  Er- 
götzlichkcit  der  Leser  dienen  würde. 

li — n. 


XI. 

Medicinische  Bibliographie. 


Dzondi,  C.  II.,  observatioues  ophthalmologicac.  8  maj. 
Halle,  Anton,  br.  10  Gr. 

Kupfcrtafcln,  chirurgische.  Ilerausgeg.  von  R.  Froriep. 
62s  Heft.  gr.4.  Weimar,  Ind.Compt.  br.  12  Gr. 

Stüler,  G.  W. ,  die  Homöopathie  und  die  homöopathische 
Apotheke  in  ihrer  wahren  Bedeutung  dargcstellt.  Mit 
Vorr.  eines  Nicht- Arztes,  gr.8.  Berlin,  Enslinsche  Buclih. 
geh.  ✓  18  Gr. 

Univcrsal-Lexicon  der  praktischen  Medicin  und  Chi¬ 
rurgie,  von  Andral  etc.  Frei  bearb.  Ir  Bd.  6tc  Lief. 
Lex. -8.  Leipzig,  Franke,  br.  n.  8  Gr. 

Golds,  Ludw.,  Repetitorium  der  medicinischcn  und  ope¬ 
rativen  Chirurgie.  8.  Berlin,  Hirschwald.  2  Thlr.  16  Gr. 

Sammlung  auserlesener  Abhandlungen  zum  Gebrauche 
praktischer  Acrzte.  40r  Bd.  4s  Stück.  Neue  Saminl.  etc. 
16r  Bd.  4s  Stück,  gr.8.  Leipzig,  Dyksche  Buchhand¬ 
lung.  18  Gr. 


/ 


XL  Medicinische  Bibliographie.  387 

Copland,  J. ,  cncyclopädisches  Wörterbuch  der  prakti¬ 
schen  Medicio.  Aus  dem  Engl,  mit  Zusätzen  von  M. 
Kalisck.  Ir  ßd.  ls  lieft,  gr.8.  Berlin,  Mittler,  hr.  16  Gr. 

Dieffenback,  J.  F.,  physiologisch -chirurgische  Betrach¬ 
tungen  hei  Cholera  -  Kranken.  Eine  vom  Institut  de 
France  gekrönte  Preisschrift.  Zweite,  verm.  Aufl.  gr.8. 
Güstrow,  Opitz,  geh.  6  Gr. 

Encyklopädie  der  gesammten  medicinischen  und  chi¬ 
rurgischen  Praxis;  von  G.  Fr.  Most.  5s  lieft,  gr.8.  Leip¬ 
zig,  Brockhaus.  br.  n.  20  Gr. 

Funke,  K.  F.  W. ,  die  Noth Wendigkeit  einer  Veterinair- 
organisation  in  dem  Königreiche  Sachsen,  nachdem  Bei¬ 
spiele  des  Auslandes.  8.  Leipzig,  Friese,  br.  6  Gr. 

Homöopathik,  die,  der  gesunden  Vernunft,  so  wie  dem 
Staats-  und  Privatrechte  gegenüber;  in  zwei  Theilen. 
Ir  Theil.  gr.8.  Quedlinburg,  Ilanewald.  18  Gr. 

Jahrbücher  der  homöopathischen  Heil-  und  Lehranstalt 
zu  Leipzig.  Herausgeg.  von  den  Inspectoren  derselben. 
2s  Heft.  gr.8.  Leipzig,  Schumann.  n.  1  Thlr. 

/  I. 

Bei  den  Gebrüdern  Bornträger  in  Königsberg  ist 
so  eben  erschienen,  und  in  allen  Buchhandlungen 

zu  haben : 

Das  Quecksilber,  ein  pharmakologisch -therapeutischer 
Versuch  vom  Prof.  Dr.  L.  W.  Sachs,  gr.  8.  1  Thlr.  22 Gr. 


* 


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I. 

Paracelsus  über  psychische  Krankheiten. 

i 

Durch  H.  D  amerow, 

Doktor  und  Professor  der  Medicin, 


V  on  den  beiden  Schriftstellern  über  Geschichtliches  der 
Lehren  von  den  psychischen  Krankheiten,  hat  der  eine 
nichts  über  Paracelsus,  und  der  andere  wenigstens  nichts 
aus  den  Quellen  selbst  geschöpftes  mitgcthcilt.  Ileinroth 
übergeht  ihn,  indem  er  behauptet,  dafs  Paracelsus  nichts 
für  psychische  Heilkunde  geleistet  habe;  Fried  re  ich 
glaubt  ihm  und  giebt  (wie  ich  in  der  Beurtheilung  seiner 
Litterärgesehichte,  in  den  Jahrbüchern  für  wissenschaft¬ 
liche  Kritik,  April  1831,  No.  70  —  72,  näher  nachgewie¬ 
sen)  nur  Excerpte  aus  Rixner’s  und  Siber’s  Leben  und 
Leb  rmeinungen  des  Paracelsus,  Suizbach  1829,  und  aus 
Sprengel’s  Geschichte,  welcher,  wie  auch  Haller,  je¬ 
nen  Mann  von  seinem  Standpunkte  aus  nicht  richtig  be- 
urtheilen  konnte,  wenn  er  ihn  auch  ernstlich  hätte  stu¬ 
dieren  mögen.  Dem  Loos,  Jahn,  Leupoldt,  Schultz, 
wie  auch  mir,  lag  bei  dem  über  Paracelsus  Geschriebe¬ 
nen  das  specielle  Eingehen  in  seine  Ansichten  von  den 
psychischen  Krankheiten  zu  fern;  und  so  ist  denn  bis  heule 
so  gut  wie  nichts  zur  Oeffccilichkeit  gebracht.  Daher  will 
ich  es  hiermit  thun,  um  den  vielfach  nicht  gekannten  und 
verkannten  deutschen  Protomedieus  auch  in  diesem  diffi- 

Band  28.  Heft  4.  20 

\ 


390 


I.  Paracelsus 


i 


eilen  und  nur  beiläufig  auf  seinen  großen,  vielumfasÄcnden 
Wanderungen  besuchten  Punkte  wieder  zu  begegnen. 

Er  zeigt  sich  auch  hier  im  Wesentlichen  auf  die  näm¬ 
liche  Weise,  wie  ich  ihn  in  meinen  «Elementen  etc.  '»  dar¬ 
gestellt,  In  seinen  Ansichten  über  psychische  Krankheiten 
ist  das  Streben  nicht  zu  verkennen:  iu  die  Tiefe  zu 
dringen,  alle  Erscheinungen  von  innen  heraus, 
wie  aus  einem  Keime  (organisch)  zu  entwickeln, 
den  ganzen  Menschen  als  eine  selbstständige 
Einheit  und  in  Harmonie  mit  dem  All,  als  einer 
selbstständigen  Einheit,  zu  erfassen,  und  zwar, 
da  Begriffe  und  empirische  Kenntnisse  des  Ein¬ 
zelnen  fehlen,  zum  Th  eil  durch  Allegorien,  Sym¬ 
bole,  Magie,  Signaturen  etc.,  kurz  durch  bildliche 
Anschauungen,  deren  unerschöpfliche  Grund- 
quellen  er  fand  iu  der  grofs artigen  Eiuheit  des 
Makrokosmus  und  Mikrokosmus. 

Auch  für  psychische  Krankheiten  gelten  daher  seine 
vier  Säulen  der  Medicin:  Philosophie,  Astronomie,  Alehy* 
mie,  Tugend  (Theosophie);  desgleichen  Sätze,  wie  fol¬ 
gende:  Philosophie,  Astronomie  und  Medicin  siud  nicht 
drei  Künste,  sondern  eine.  Einen  Mann  geben  sie,  nicht 
drei,  darum,  der  in  Einem  steht  allein,  der  ist  leer  und 
närrisch  (I.  371  *);  die  Vergleichung  Macrocosmi  und  Mi- 
crocosmi  inufs  miteinander  übereinander  übereintreffeu;  sol¬ 
ches  aber  zu  offenbaren  erfordert  ein  Buch  dreimal  so  grofs 
als  die  ganze  Bibel  (I.  339.);  der  Arzt,  der  nicht  durch  Phi¬ 
losophie  (Licht  der  Natur,  unsichtige  Natur,  Vernunft)  in 
die  Arznei  geht,  geht  nicht  in  die  rechte  Thür,  sondern 
oben  zum  Dach  hinein,  und  werden  aus  ihnen  Mörder  und 
Diebe  (Ch.  magn.  III.  TI).  Auch  seine  Ideen  über  Ana¬ 
tomie,  welche,  abgesehen  von  der  Polemik  gegen  die  ge¬ 
wöhnliche,  ähnlich  sind  den  unsrigeu  über  ächte  Phy- 


*)  Ich  citire  stets  nach  der  IIus ersehen  Ausgabe: 
Straßburg,  Zelzner,  1616  —  18.  3  Bände,  folio. 


über  psychische  Krankheiten.  391 

siologie  des  Menschen,  gelten  für  psychische  Krankhei¬ 
ten.  Seinen  Bcgriü  von  Anatomie  unterscheidet  er  sehr 
bestimmt  von  der  gewöhnlichen  «localis  Italorum,  id  est 
cadaverum. »  In  jener  soll  ihm  substantia,  materia,  forma 
betrachtet  werden,  deren  jedes  die  beiden  andern  in  sich 
hat;  sie  ist  ihm  «Theoria  medicorum»  (I.  640).  —  In 
der  grofsen  Chirurgie  spricht  er  sich  (III.  259  —  261) 
näher  aus.  Da  heifst’s:  «In  der  todten  Anatomie  werdet 
ihr  weder  Natur  noch  Wesen  erkennen.  Nutzt  inwendig 
gar  nichts.  Essentia,  Eigenschaft,  Wesen  und  Kraft,  so 
ist  das  höchst  der  Anatomie;  ist  abgestorben.  Die  ist  bis¬ 
her  noch  nicht  tractirt  worden;  denn  es  ist  gemeiner 
Brauch,  das  Beste  wegzulassen.  Aber  der  lebendige  Leib 
ist  es,  der  Gesundheit  und  Krankheit  anatomatiziren  läfst, 
nicht  der  todte;  er  fordert  daher  eine  lebendige  Anatomie. 
In  der  todten  Anatomie  spielt  der  Sophist.  Nehmt  euch 
die  lebendige  Anatomie  vor,  und  lafst  von  dem  todten 
Gaukelspiel,  worin  ihr  nur  erkennt,  was  die  Natur  so 
auswendig  begreift.  Skribenten  der  todten  Anatomie 
haben  mit  grofsen  Lügen  und  Unverstand  die  Profefs  der 
IVledicin  gefälscht,  glorierend  der  anatomischen  Bossen  zu 
Ferrar  uud  Paris.  Aber  solch’  Gaukelspiel  brauchen  die 
Walchen ,  die  allemal  zu  äffen  und  zu  betriegen  geneigter 
sind,  und  denen  wir'Teutschen,  als  barbari,  den  Pfennig 
zu  schauen  von  Herzen  gern  geben. »  — 

Wer  vorweg  wähnt,  dafs  des  Paracelsus  Ansichten 
über  den  in  Rede  stehenden  Gegenstand  nur  chemisch 
und  alchymisch  sind,  irrt  doppelt;  einmal  weil  dieses 
Vorurtheii  ein  falsches  ist;  dann  weil  ein  solcher,  mit  sei¬ 
nen  Schriften  nicht  bekannt,  gewöhnlich  mit  Chemie  un¬ 
seren  späteren  Begriff,  und  mit  Alchymie  den  beschränk¬ 
ten  der  Goldmachung  verbindet,  welche  Paracelsus  in 
ihr  nicht  lehrt,  wie  er  ausdrücklich  (I.  220)  bemerkt. 
Allerdings  lehrt  die  Alchymie  auch  nach  ihm  Magualia, 
Arcana,  Mysteria  bereiten,  um  das  höchste,  was  in  der 
Natur  ist,  herauszubriugen ,  da  die  Natur  (I.  219)  nichts 

26  * 


302 


I.  ParacclSns 


an  den  Tag  giebt,  das  vollendet  sei,  sondern  der  Mensch 
erst  vollende,  welche  Vollendung  Alchymie  ist.»  Nennt 
er  nun  ebendaselbst  den  Rebmann,  der  den  Wein  macht, 
den  Weber,  der  das  Tuch  macht,  einen  Alchymislen,  so 
ist  freilich  unter  Alchymie  hier  nur  künstliche  Bereitung 
der  Arzneikräfte  zu  verstehen,  nämlich  seiner  «Arcana,” 
welche,  die  Quintessenz  der  lebendigen  Naturkräftc  ent¬ 
haltend,  auch  den  inneren  Grund  der  Krankheiten  fort  zu¬ 
nehmen  die  Kraft  haben  sollen.  In  diesem  Sinne  sagt  er: 
,<  Arzt  soll  Arcana  brauchen,  sonst  gelit’s  ihm  wie  llund, 
der  ixi  Stuh’  gefistet  hat,  stcckt’s  Rekholdcrholz  an,  Ge¬ 
stank  bleibt  darin,  das  ist  nur  corrigiren,  nit  heilen.» 
«Denn,»  sagt  er  (Cb.  magn.  III.  77.),  «der  ist  heilig, 
desseu  Worte  Kraft  haben,  also  der  Arzt,  dessen  Arznei 
Kraft  hat.»  —  Die  Alchymie  dagegen  im  lebendigen 
Leihe  des  Menschen,  die  organische,  lehrt  ihn  mehr  oder 
minder  den  inoern  Grund  und  Zusammenhang  der  Dinge 
kennen,  ist  als  «Separatio,  Erzeugerin  und  Gebärerin  des 
Anfangs  der  Dinge,  ein  göttlich  Geschehen,»  und  analog 
dem,  was  wir  Eutwickelung,  Metamorphose  nennen. 

Ferner  wird  es  sich  zeigen,  dafs  auch  diejenigen  sehr 
irren,  welche,  gleichfalls  ohne  ernstes  Studium  seiner 
Werke,  meinen,  dafs  -in  seinen  Ansichten  über  psychische 
Krankheiten  sich  nichts  vorfinden  würde  als  abergläubi¬ 
sche  Ideen  der  Zeit  über  Magie,  Alchymie,  Theosophie, 
Besessensein  und  Exorcismus,  angewandt  auf  jene  Krank¬ 
heiten.  Zeigen  sich  auch  Spuren  von  diesen  mystischen 
Tiefen  und  Untiefen,  scheinbaren  uud  wirklichen  Wider¬ 
sprüchen,  so  sind  dieselben  freilich  leicht  zu  bespötteln 
von  jenen,  welche  vergessen,  dafs  sie  zufällig  drei  Jahr¬ 
hunderte  später  leben  uud  urtheilcn,  welche  nicht  beden¬ 
ken,  dafs  nach  drei  Jahrhunderten  unsere  Zeit  in  mancher 
Beziehung  eben  so  abergläubisch,  wie  jene  Paracelsischc 
erscheinen  dürfte,  welche  nicht  wissen,  dafs  er  der  noth- 
wendige  Repräsentant  einer  ganzen  Bildungsstufe  seines 
\  olkes  war,  und  dafs  der  Aberglaube  jener  Zeit  (wie 


393 


über  psychische  Krankheiten. 

Steffens  sehr  treffend  In  seinen  polemischen  Blättern  zur 
Beförderung  der  speculativen  Physik,  erstes  Heft,  1829, 
S.  13  sagt),  ihr  Glaube  war.  Doch  ich  will  nicht  wie¬ 
derholen,  was  ich  zu  des  Pa ra  celsus  Rechtfertigung  und 
zu  seinem  Verständnifs  gesagt  in  meinen  Elementen  etc. 
113  —  125,  und  in  der  Beurtheilung  von  «Schultz  IIo- 
möobiotik  etc.,»  in  den  Jahrb.  für  wissensch.  Krit.  Fehl*. 
1832,  No.  33  —  35;  sondern  dafür  mit  hierher  bezüglichen 
Stellen  von  Gölhe  und  Ilee:el  dies  einleitende  Vorwort 

O 

schliefsen.  Gölhe  nämlich  antwortet  bei  Gelegenheit  von 
Schiller’s  Anfragen,  wegen  theatralischer  Benutzung  und 
Wirkung  der  astrologischen  Ideen  für  den  Wallen  st  ei  n, 
plastisch -schön  und  die  rauhen  Gegensätze  ausgleichend 
so:  «der  astrologische  Aberglaube  beruht  auf  dem  dunkeln 
Gefühl  eines  ungeheuren  Weltganzen.  Die  Erfahrung  spricht, 
dafs  die  nächsten  Gestirne  einen  entschiedenen  Einflufs  auf 
Witterung,  Vegetation  u.  s.  w.  haben;  mau  darf  nur  stu¬ 
fenweise  immer  aufwärts  steigen,  und  es  läfst  sich  nicht 
sagen,  wo  diese  Wirkung  aufhört.  Findet  doch  der  Astro¬ 
nom  überall  Störungen  eines  Gestirnes  durch’s  andere;  ist 
doch  der  Philosoph  geneigt,  ja  genöthigt,  eine  Wirkung 
auf  das  entfernteste  anzunehmen,  so  darf  der  Mensch  im 
Vorgefühl  seiner  selbst  nur  immer  etwas  weiter  schreiten, 
und  diese  Einwirkung  auf’s  Sittliche,  auf  Glück  und  Un¬ 
glück  ausdehnen.  Diesen  und  ähnlichen  Wahn  möchte 
ich  nicht  wTol  Abergtaube  nennen;  er  liegt  unserer  Natur 
so  nahe,  ist  so  leidlich  und  läfslich  als  irgend  ein  Glaube. 
Nicht  allein  in  gewissen  Jahrhunderten,  sondern  auch  in 
gewissen  Epochen  des  Lebens,  ja  bei  gewissen  Naturen, 
tritt  er  öfter,  als  man  glauben  kann,  herein.  G.  8.  Dccbr. 
1798.  ”  Hegel  sagt  in  seinen  Vorlesungen  über  die  Ge¬ 
schichte  der  Philosophie,  welche  jeder  kennen  sollte,  der 
sich  zu  wahrhaft  tiefen  und  ernsten  Gedanken  in  diesem 
Gebiete  erheben  will,  im  ersten  Theile  Seite  59:  «Jede 
(Philosophie)  hat  im  Ganzen  des  Ganges  eine  besondere 
Enlvvickelungsstufe,  und  hat  ihre  bestimmte  Stelle,  auf  der 


304 


I.  P  a  c  a  c  o  1  s  o  s 


sie  ihren  wahrhaften  Werth  und  Bedeutung  hat.  Nach 
dieser  Bestimmung  ist  ihre  Besonderheit  wesentlich  auf- 
i  zufassen  und  nach  dieser  Stelle  «anzuerkennen,  um  ihr  ihr 
Recht  wiederfahren  zu  lassen.  Eben  deswegen  mufs  auch 
nicht  mehr  von  ihr  gefordert  und  erwartet  werden,  als  sie 
leistet.  Es  ist  in  ihr  die  Befriedigung  nicht  zu  suchen, 
die  nur  von  einer  weiter  entwickelten  Erkcnntnifs  ge¬ 
währt  werden  kann.  Jede,  eben  darum,  weil  sic  die  Dar¬ 
stellung  einer  besondern  Entwickelungsstufe  ist,  gehört  ih¬ 
rer  Zeit  an  und  ist  in  ihrer  Beschränktheit  befangen.  Das 
Individuum  ist  Sohn  seines  Volkes;  seiner  Welt;  der  Ein¬ 
zelne  mag  sich  aufspreixen,  wie  er  will,  er  geht  nicht 
über  sie  hinaus.  Denn  er  gehört  dem  einen  allgemeinen 
Geiste  an,  der  seine  Substanz  und  Wesen  ist;  wie  sollte 
er  aus  diesem  herauskommen?  —  Jede  kann  also  nur  Be¬ 
friedigung  für  die  Interessen  gewähren,  die  ihrer  Zeit  au¬ 
gemessen  sind.”  — 

Die  Ansichten  des  Paracelsus  über  Seelcnkrankhei- 
ten  sind  zu  entnehmen:  1)  aus  dem  Buch  von  den 
Krankheiten,  so  der  Vernunft  berauben  (I.  486 
bis  506);  cs  ist  das  siebente  von  den  gröfstentheils  verlo¬ 
ren  gegangenen,  oder  noch  nicht  aufgefundenen  neun  Bü¬ 
chern  von  der  Arznei.  Dieses  Buch  ist  besonders  heraus¬ 
gegeben  von  Ad.  v.  Bodenstein  1567,  welcher,  1528 
geboren,  in  demselben  Alter  wie  Paracelsus  starb,  einer 
der  ersten  Ausbreitcr  seiner  Lehre  in  Basel,  wo  Parac. 
begonnen  hatte,  war,  und  sich  selbst  in  seiner  Grabschrift 
nennt:  Th.  Prc.  ut  primus  sic  fidus  et  Opcre  et  Ore  inter- 
pres;  2)  aus  dem  Troctat  von  der  Taubsucht  (I.  530 
bis  533 )  in  den  eilf  Tractaten  vom  Ursprünge  und  den  Ur¬ 
sachen  von  Krankheiten;  3)  aus  den  Büchern:  de  Luna- 
ticis  und  auch  zum  Theil:  de  generatione  stulto- 
riirn  (II.  161  —  ISO)  in  der  Philosophia  magna;  4)  aus 
einer  I\Icngc  zerstreut  in  seinen  Werken  vorkommeuder 
Stellen. 


395 


über  psychische  Krankheiten. 

Aus  diesen  sämmtlichcn  Materialien  eine  anschauliche 
Zusammen-  und  Darstellung  des  Verständlichsten  und  Ver- 
ständigsten  z?u  gehen,  soll  versucht  werden;  und  es  dürfte 
«ich  aus  derselben  für  den  freien,  nicht  in  sich  und  seiner 
Zeit  egoistisch  fixirten  Leser  und  Forscher  ergeben,  dafs 
Par.  Werke,  wie  überhaupt,  so  auch  in  Bezug  auf  psy¬ 
chische  Krankheiten,  nicht  nur  für  seine,  sondern  auch 
unsere  Zeit  reicher  sind  an  tiefen,  fruchtreichen  Ideen, 
als  manche  selbst  von  denen  unserer  Zeitgenossen,  ohne  ein¬ 
mal  daran  zu  erinnern,  dafs  bei  diesen,  wie  bei  Paracel¬ 
sus,  des  Unbrauchbaren,  Verfehlten  genug  vorkommt,  und 
ohne  zu  fragen  ,  wie  nach  drei  Jahrhunderten  unsere  Lei¬ 
stungen  beurtheilt  werden  mögen. 

In  dem  Buche  «von  den  Krankheiten,  so  der 
Vernunft  berauben,»  spricht  er  in  den  fünf  Kapiteln 
des  ersten  Tractats  von  den  Ursachen,  in  den  fünf  Kapiteln 
des  zweiten  Tractats  von  der  Kur:  1)  der  fallenden  Siech¬ 
tagen,  2)  der  Chorea  St.  Viti,  3)  der  suffocatio  intel- 
lectus,  4)  der  Manie  und  5)  der  rechten  unsinni¬ 
gen  Leute.  Von  diesen  Kapiteln  gehören,  um  uns  nicht 
zu  weit  auszudehnen,  nur  die  zwei  letzten  vor  unser 
Forum,  wenn  gleich  auch  die  übrigen  viel  Interessantes, 
selbst  Tiefes  enthalten,  was  in  Bezug  auf  die  Chorea  las- 
civa  schon  Hecker  in  seiner  «Tanzwuth,»  Seite  17  bis  21, 
mitgetheilt  hat.  —  Im  Allgemeinen  sei  nur  bemerkt,  dafs 
Par.  in  diesem  Buche  auf  dem  medicinischen  Standpunkte 
steht,  dafs  er  diejenigen  Krankheiten  meint,  welche  sym¬ 
pathisch  durch  innere  und  äufsere  natürliche  Ursachen  den 
Menschen  der  Vernunft  berauben,  daher  er  sie  auch  Krank¬ 
heiten  nennt,  welche  die  Vernunft  entziehen;  obgleich  er 
freilich,  wie  man  es  hei  ihm  gewohnt  ist,  nicht  ganz  con- 
sei[uent  diese  ursprüngliche  Ansicht  testhält.  Bemerkens¬ 
werth  ist  es  auch,  dafs  er  sehr  bestimmt  sich  gegen  den 
Aberglauben  seiner  Zeit,  solche  Krankheiten  den  Einflüs- 
sen  des  Teufels  zuzuschreiben,  stemmt.  So  sagt  er  gleich 
im  Anfänge  des  Buchs:  Wir  erkennen  in  den  Krankhei- 


306 


I.  Paracolsns 


tcn,  so  der  Vernunft  berauben  durch  Experienlirung,  dafs 
sie  aus  der  Nalur  entspringen  und  wachsen.  Und  wie¬ 
wohl  die  Götlerisclicn  Verweser  (Geistlichen)  solche  Krank¬ 
heiten  zu  unsern  Zeiten  in  Europa  den  incorporalischen 
Geschöpfen  und  diabolischen  Geistern  zulegen,  so  sind  wir 
dies  zu  glauben  und  zu  halten  noch  nicht  unterrichtet. 
Denn  die  Natur  zeigt  uns  so  viel  an,  dafs  solches  Fiirgc- 
ben  der  irdischen  Götter  (Geistlichen)  ganz  absinnig  ist, 
und  werden  melden,  dafs  solcher  aller  aus  der  Natur  ein 
Anfang  ist.  M  — 

Zunächst  nun  vom  «Ursprung  und  der  Heilung 
der  Mania»  (I.  488  —  491,  und  I.  500  —  501). 

Dem  in  diesen  beiden  Kapiteln  Gesagten,  möge,  was 
sich  sonst  Wichtiges  in  den  Werken  des  Paracelsus  über 
Manie  findet,  angereihet  werden,  um  ein  übersichtliches 
Ganzes  darzustellen.  Gleich  zu  Anfang  nennt  er  die  Manie 
u  eine  Veränderung  der  Vernunft  und  nicht  der  Sinne. 
Manie  kommt  mit  Toben  und  unsinniger  Weise,  nimmer 
kein  Hub’,  viel  Unglücks  machen,  und  wird  dadurch  er¬ 
kannt.  dafs  sie  von  selbst  wieder  nachlüfst  und  anfhört, 
und  wieder  zu  der  Vernunft  kommt. »  Deshalb  rechnet 
er  sie  auch  im  Ruch  « de  Renovationc  et  Restauratione 
morborum  u  zu  den  Krankheiten,  welche  «  in  der  Renova¬ 
tion  und  Restauration  hioweg  gehen,  es  sei  denn  (1.827) 
eine  Krankheit,  die  aus  der  Geburt  ihren  Ursprung  nahm, 
welche  nicht  genommen  wird.  u  Diese  Annahme  des  Pe¬ 
riodischen,  als  eines  pathoguomischen  Symptoms  der  (acu¬ 
ten)  Manie,  verrätb  einen  ausgezeichneten  Blick  in  die 
Natur  derselben.  Ucbrigens  fügt  er  sehr  vor-  und  umsich¬ 
tig  hinzu,  dafs  wenn  gleich  sie  oft  w’iederkebre,  uud  vom 
Mond  und  sonstigen  Accidenten  abhänge,  dies  doch  nicht 
immer  der  Fall  sei.  —  Er  nimmt  zwei  Arten  von  Manie 
an,  eine  die  bei  gesundem  Leibe  entspringt,  und  eine  aus 
andern  Krankheiten.  Seine  Theorie  von  der  Entstehung 
derselben  aus  der  Materie,  welche  er, im  Kapitel  vom  *  Ur¬ 
sprünge  u  giebt,  ist  die,  dafs  ein  Humor  in  das  Haupt  de- 


397 


iibcr  psychische  Krankheiten. 

stillirt,  entweder  unterhalb,  oder  oberhalb  des  Diaphragma, 
nimmt  aber  aufserdem  eine  dritte  Destillation  aus  den  Glie¬ 
dern  an.  Er  sagt  von  der  ersten:  diese  Mania  ist  fast 
thumb  und  unbesinnig,  fallen  gleich  nieder,  mögen  nicht 
essen,  kotzen  viel,  haben  auch  Durchlauf,  und  brumlen 
viel  mit  sich  selbst,  haben  nicht  sonderlich  Acht  auf  die 
Leut’  und  ihre  Wohnung.  Von  der  zweiten  heifst’s: 
dieselbe  ist  fast  grimmig,  mit  vielem  Trucken  um  das  Herz 
und  an  der  Br, ist,  und  mit  viel  Stichen.  Die  dritte, 
aus  den  Gliedern,  macht  fröhlich  und  frisch  und  ganz 
wild,  mit  vielem  Wöthen. 

Da  im  weitern  Verlauf  diese  Formen  nur  nach  seinen 
alchymischen  Principien  explicirt  werden,  so  scheint  cs, 
als  würden  diese  Principien  nur  auf  die  bekannte  Theorie 
der  Alten  von  der  Manie  angewandt.  Dem  ist  aber  doch 
nicht  ganz  so,  obgleich  nicht  geläugnet  werden  soll,  dafs 
er  jene  alten  Elementargeister  in  diesem  Punkte  nicht  völ¬ 
lig  abgeschüttelt  hat.  Am  Schlufs  nämlich  des  Kapitels 
von  dem  Ursprünge  der  Manie  sagt  er,  dafs  es  nach  Obi¬ 
gem  scheine,  als  käme  sie  aus  den  Qualitäten  (der  Alten), 
was  aber  nicht  der  Fall  sei.  Denn  der  Maniacus,  der  da 
brumlet,  ist  nicht  ein  Melancholicus;  der  da  wollt  fechten 
und  schlagen,  kommt  nicht  aus  der  Cholera;  sondern  die 
Verschiedenheit  kommt  daher,  wenn  ein  Melancholicus, 
der  von  seiner  Natur  ein  natürlicher  Melancholicus  ge¬ 
wesen  ist,  Maniacus  wird,  in  welchem  Falle  die  materia 
maniaca  seine  alte  Weise  und  Geberd,  die  er  in  seiner 
Natur  hat,  incendirt  und  anreizt.  Also  auch  die  andern 
thun. 

So  erkennen  wir  in  dem  so  eben  Angeführten  die 
tiefe  Andeutung,  dafs  je  nach  dem  Temperament,  Naturell 
des  Menschen  die  Formen  der  Manie  und  der  psychischen 
Krankheiten  überhaupt  verschiedenartig  auftreten;  und  dafs 
die  Manie  des  Cholerikers  (in  den  Gliedern)  den  Charakter 
jenes  heftigen  Naturells  hat,  desgleichen  die  Manie  der  Me¬ 
lancholiker  (unter  dem  Diaphragma)  und  die  der  Sau- 


/ 


398 


I.  Paracelsus 


guiniker  (über  dem  Diaphragma)  den  des  entsprechenden 
Naturells,  —  eine  Ansicht,  welche  in  der  Natur  und  Er¬ 
fahrung  allerdings  als  richtig  sich  erweiset,  wichtig  für 
rationelle  Bestimmung  der  Formen  und  der  individuellen 
Jleilindicationcn  ist,  und  besser  als  die  Ansicht  derer, 
welche  auf  unnütze  Weise  überall  neue  Species  sehen  uud 
aufstellen. 

Ferner  nennt  er  die  Manie  «  eine  Anzünderin  der  heim¬ 
lichen  Geherden  und  Eigenschaften  der  Menschen. »  Fein 
wie  diese  Bemerkung  ist  auch  der  Zusatz,  dafs  manche 
Manie  nicht  anzeigt  die  Natur  des  Menschen,  sondern  den 
Kampf  seiner  Natur  wider  die  Manie.  Und  allerdings  giebt 
cs  nach  meinen  Beobachtungen  solche  Formen  von  Manie, 
in  denen  die  Natur  sich  gegen  dieselbe  sträubt,  und  hef¬ 
tiger  aus  (Grimm  wider  die  Krankheit,  als  aus  den  in 
der  Krankheit  selber  liegenden  Gründen  tobt  und  wüthet, 
welche  Form  aber  auch  eine  andere  psychische  Einwir¬ 
kung  erheischt.  — 

Die  Kur  betreffend,  so  ist  dieselbe,  gcmäfs  diesen 
Büchern  von  der  Arznei,  nur  «Chirurgisch»  und  «  Phy¬ 
sisch»  (innerlich).  Er  räth  conscquent:  «  Apertive  zu  ma¬ 
chen,»  um  den  Humor  destillatus  herauszulassen,  welches 
Mittel  ja  noch  heute  eines  der  wesentlichsten  der  «  indi- 
rect- psychischen  Methode»  ist.  Er  räth  als  äufsere  Mit¬ 
tel:  selbst  alle  Extremitates  zu  ölTnen  an  Zehen,  Fingern 
und  Haupt,  und  zwar  entweder  durch  blasenziehende  und 
Aczmittel,  oder  durch  Instrumente  (Flietmen).  Im  Allge¬ 
meinen  aber  zieht  er  die  erste  Methode  vor,  und  zwar 
haben  ihm  die  blasenziehenden  Mittel  am  bestcu  gefallen, 
von  welchen,  wie  von  den  Aezmitteln,  er  auch  Formeln 
und  deren  Bereitung  und  Dosen  (I.  500)  angiebt. 

Die  (innerliche  Behandlung  besteht  «in  abführen¬ 
den  ,  coagulircndcn  und  stillenden  Mitteln  aus  der  (Quinta 
Esscntia,»  und  rechnet  er  zu  jenen  besonders  metallische 
Mittel,  als:  quinta  csscutia  Argcnti,  Mcrcurii,  Saturni,  Ferri, 
auch  Ol.  camphorac  und  andere  i  zu  dcu  stillenden  Anli- 


\ 


über  psychische  Krankheiten.  399 

spasmodica,  Sedativa,  Narcotica,  gleichfalls  aus  der  Quint¬ 
essenz.  Mit  den  Simplicibus  crudis,  sagt  er,  wolle  ersieh 
nicht  beladen,  obgleich  andere  von  ihnen  so  viel  erfahren 
haben  wollen.  Diese  milde  Methode  macht  er  auch  an 
andern  Stellen  gelegentlich  lächerlich.  So  sagt  er  (I.  223), 
dafs  —  Phrenesis,  Mania,  Mclancholia,  id  est  Tristitia , 
nicht  mögen  durch  die  Decoquirung  der  Arzneien,  diesen 
Suppenwust,  worin  die  Arcana  ertrinken,  geheilt  werden ; 
und  (I.  257,  in  seiner  dritten  Defension):  Ihr  möget  durch 
Euren  Zucker -Kosat  den  Veitstanz  und  Lunaticos  curiren. 
Freilich  habt  Ihr  es  nicht  gethan,  und  werdet  cs  auch  da¬ 
mit  nicht  tliun.  Mufs  ein  anderes  sein.  Warum  wollt 
Ihr  mir  verargen,  so  ich  das  nehme,  was  ich  nehmen  mufs 
und  soll.  Ich  lafs  es  den  verantworten,  der  es  also  com- 
ponirt  hat  in  der  Schöpfung  Himmels  und  der  Erden. 

Aderlässe  empfiehlt  er  auch  als  etwas  Bekanntes  in 
dem  Kapitel  de  cura  maniae,  doch  redet  er  hier  nicht 
weiter  davon,  weil,  setzt,  er  hinzu,  es  gemein  ist  und  am 
Tage  liegt.  Ausführlicher  läfst  er  sich  aus  J(Paramiron 
I.  31):  Was  hilft  in  Mania,  als  allein,  eine  Ader  aufzu¬ 
schlagen?  Dann  geneset  er.  Das  ist  das  Arcanurn,  nicht 
Camphor,  nicht  Nenufar,  nicht  Salvia  und  Majorana,  nicht 
Clystiere,  nicht  Infrigidantia,  nicht  das  nicht  dies,  son¬ 
dern  Phlebotomia.  —  Vom  Blute  läfst  er  die  Manie  des¬ 
wegen  aber  nicht  entstehen,  und  spricht  ausdrücklich  da¬ 
gegen.  Merkwürdig  ist  eine  andere  Stelle  (I.  713.),  welche 
lautet:  «Wo  Manie  in  einem  Haupte  verborgen  liegt  im 
Paroxysmus,  so  bald  in  dies  Wunden  oder  Aderlafs  ge¬ 
schieht,  so  Ist  das  tödtlich»,  —  eine  Cautele,  woraus  her¬ 
vorzugehen  scheint,  dafs  bei  bevorstehendem  Ausbruch  der 
Manie  er  gegen  die  Phlebotomie  ist.  Diese  Stelle  ist  nicht 
zu  verwechseln  mit  der  in  (  bi r.  magn.  III.  540,  wo  er 
von  den  « apocryphischen  Wunden  der  Manie,”  und  den 
Unterschieden  derselben  einiges  beibringt.  Endlich  rälh 
er  (II.  330),  dafs  der  unsinnige,  tolle  Maniacus  müsse  an 
Ketten  gelegt  werden.  —  Dies  ist  seine  arzneiliche  Kur 


400 


I.  Paracelsus 


der  Manie,  und  cs  bedarf  kaum  der  Bemerkung,  dofs  die¬ 
selbe  noch  beute  bei  Engländern  und  denen,  welche  die 
indirect  psychische  Kur  allein  anwenden,  wesentlich  auf 
die  nämliche  Art,  mit  Ausnahme  der  Ketten,  an  deren 
Stelle  ein  anderer  Zwangsapparat  getreten  ist,  gehand- 
liaht  wird.  — 

Hinsichtlich  der  Wichtigkeit  des  Schlafes  heim  De¬ 
lirium  und  der  Manie  ist  er  mit  den  bekannten  Aph.  Hipp, 
in  |der  2len  Section  völlig  einverstanden.  Er  fügt  hinzu 
(I.  708):  «wo  Schlaf  nichts  vermag  (im  Delirio),  da  ist 
es  chronisch,  ein  Zeichen,  dafs  das  Uebel  fix  ist  im  Hirn, 
bleibend,  unvergeblich.  —  —  Schlaf  ist  eine  Arznei  über 
alle  Gominas  und  Lapides  pretiosos,  deshalb  auch  auf  Som- 
nifera  in  rechter  Essenz  so  viel  zu  geben.  —  Das  Wort 
Manie  kommt  noch  in  anderer  Verbindung  und  Bedeutung 
als  der  gewöhnlichen  vor.  So  hat  er  eine  mania  somnii, 
cordis,  uud  begreift  darunter  (II.  266)  das  Nachtwan¬ 
deln,  wenn  anders  die  Stelle  acht  ist.  Ferner  hat  er  eine 
cbriecata,  inebriecata  mania.  Diejenigen  welche 
daran  leiden  «pochen  (II.  370)  in  der  Schrillt  und  legens 
alles  nach  der  fremden  Weisheit  aus,  und  interprelirens 
widersinnig.”  Die  Stelle  ist  übrigens  leicht  hingeworfen, 
und  nicht  so  klar,  dafs  mit  Gewifsheit  zu  entscheiden,  ob 
er  hier  nur  polemisch  und  ironisch  redet,  oder  ob  er  die 
Form  meint,  welche  wir  Daemonomania,  mania  religiosa 
nennen,  und  von  welcher  Beispiele  genug  aus  der  Zeit 
der  Reformation  bewahrt  sind,  selbst  in  Schriften  der  Aerzte. 
Im  Allgemeinen  versteht  er  unter  Ebriecatum  das,  wenn 
der  Mensch  von  seiner  eigenen  allgemeinen  Weisheit  fällt 
und  in  eine  andere,  fremde  Weisheit  kommt.  Er  nimmt 
nämlich  eine  humana  Sapicntia  und  eine  aliena  Sapientia 
an.  Die  humana  ist  ihm  die,  welche  Gott  dem  Menschen 
giebt,  durch  die  der  Mensch  als  Mensch  leben  und  als 
Mensch  alle  Dinge  erkenneu,  ermessen  und  verstehen  soll. 
Bei  der  aliena  Sapicntia  weicht  der  Mensch  von  der  mensch¬ 
lichen  und  nimmt  eine  andere  an  sich,  uud  nach  dcrsel- 


I 


s 


über  psychische  Krankheiten.  401 

ben  beurtheilt  er  alles,  was  er  sieht  und  hört;  er  fleucht 
hin  und  wieder,  wie  das  Rohr  im  Wasser;  diese  aliena 
ist  ein  Schwindelgeist,  der  da  taubt  (tobt)  und  ertollct 
wider  alle  menschliche  Art.  Das  Wort  « Ebriecatum  ”  ist 
gleichsam  beispielsweise,  wie  er  selbst  sagt,  vom  Rausch 
und  dessen  Folgen  hergenommen;  und  da  es  wirklich 
scheint,  dafs  er  das  Wort  «aliena»  (sapientia)  hier  imSinne 
des  neueren  Französischen  «aliene,”  als  Gattungsbegriir 
für  den  seinem  Selbstbewufstsein  entfremdeten  Geist, 
oder  wenigstens  für  « Narrheit »  überhaupt  im  populären 
und  medicinisehen  Sinne  nimmt,  so  mag  er  auch  wohl  bei 
mania  ebriecata  an  verkehrte  und  zugleich  an  wahnsinnige 
Auslegung  der  Schrift  gedacht  haben.  —  — 

Ehe  wTir  weiter  gehen  zum  fünften  Kapitel  dieses  Bu¬ 
ches  de  morbis  amenlium,  betitelt  «vom  Ursprünge  und 
der  Heilung  der  rechten  unsinnigen  heute,”  wird  hier 
passend  eingeschaltet  das  Kapitel  über 

die  Taub  sucht, 

von  welcher  er  am  ausführlichsten  handelt  I.  530  —  533, 
und  auch  beiläufig  an  anderen  Stellen.  Die  Definition  liegt 
im  Allgemeinen  in  dem  Namen  Taubsucht  für  «  Tobig- 
keit »  «Tobsucht”,  und  erscheint  in  so  fern  nur  dadurch 
von  der  Manie  unterschieden,  dals  die  Tobsucht  nicht  «  pa- 
roxysmirt,  ”  welches  ein  wesentliches  Criterium  seiner  «rei¬ 
nen  ”  (acuten)  Manie  war.  Doch  bezeichnet  er  im  wei¬ 
teren  Verlaufe  dieses  Aufsatzes  mit  dem  Namen  «laub¬ 
sucht”  die  Seelenkrankheiten  («Unsin  nigkeit  ”)  in  genere, 
und  ist  ihm  dann  «Taub”  nicht  gleich  «tobig,”  sondern 
gleich  «taub,”  gleichsam  an  und  für  Vernunft.  In  die¬ 
sem  letzteren  Sinne  nimmt  er  das  Wort  nicht  nur  selbst 
in  diesem  Aufsatze,  sondern  auch  in  dem  Prolog  zu  dem 
Buche:  de  Lunaticis. 

Seine  Definition  von  Taubsucht  ist  nun  zunächst  ' 
folgende:  «So  ein  gesundt  Mann  der  Vernunft,  sie  ver¬ 
liert  und  ihr  entrinnt,  und  gebraucht  sie  nicht  dahin,  da¬ 
hin  er  sie  gebrauchen  soll,  und  darum  sic  ihm  geschaffen 


402 


I.  Paracelsus 


I 


ist,  sondern  unbcsinnt  wuthet  und  tobt  mit  aller  Ungcstii- 
migkeit,  so  ist  er  in  der  Taubsucht.  »  Weiter  sagt  er  ge¬ 
radezu,  dafs  er  hierunter  nicht  die  Besessenen,  Trunkenen, 
Narren,  Tyrannen  meint;  denn  das  seien  nicht  Krank  bei- 
ten,  sondern  andere  Zufälle;  die  rohsucht  sei  aber  rechte 
Krankheit.  —  Demzufolge  ist  sie  ihm  der  höchste  Grad 
der  Manie,  der  chronischen  Tobsucht. 

Diese  Definition  näher  commentirend  durch  eines  sei¬ 
ner  Lieblings- Beispiele ,  aus  der  Natur  genommen,  geht  er 
allmätig  von  der  gegebenen  zur  «  Unsinnigkeil »  überhaupt 
über.  «Wie  eine  Schüssel  voll  Bosen  und  Gilgen,  darun¬ 
ter  eine  Handvoll  Nesseln  liegen,  wegeu  der  Nesseln  nicht 
angerührt  werden,  also  stechen  auch  die  Unkräuter  der 
Vernunft.  Demi  so  Nesseln  wachsen  unter  den  Bosen  (der 
Vernunft),  so  brennt  sie  und  wütbet,  und  solche  Vernunft 
wird  niemands  NiȊ,  und  sticht  und  brennt  einen  jegli 
chen,  der  ihr  hellen  und  sie  suchen  will.»  — 

Aufser  dieser  bildlichen  Ursache  giebt  er  noch  eine 

tiefere,  psyschologische  an,  nach  welcher  er  die  Taubsucht 

% 

aus  der  Ucbcrreizung,  Verblendung,  und  dem  «Ueber- 
b rauch»  der  natürlichen  Kräfte  der  Vernunft  her¬ 
leitet.  Denn,  sagt  er,  ein  jeglich  Ding  hat  sein  Amt  da¬ 
hin  und  nicht  zu  andern.  Dahin  zu  sehen,  wohin  wir 
sollen  uud  müssen,  nicht  dahin,  was  nicht  möglich  ist  zu 
erlangcu.  Wie  ein  Aug  in  der  Sonne,  welche  auch  ein 
Aug  des  Himmels  ist,  erblindet,  so  gerinnt  die  Vernunft 
in  den  Dingen,  welche  sich  wie  die  Sonne  zum  Auge  ver¬ 
halten.  —  Höher  sinnen,  als  die  Vernunft  zu  tragen  ver¬ 
mag,  ist  ein  Nicderwerffcn  desselbigcn  in  seiner  Vernunft. 
Denn  wie  ein  Mensch  mehr  Stärke  hat,  denn  der  andere, 
so  ist  auch  einer  Vernunft  mehr  nützlich  als  der  andern. 
Sein  höchstes  mufs  jeder  erkennen,  damit  ui t  unsere  Ver¬ 
nunft  gegen  die  Vernunft  steht,  wie  unser  Aug  gegen  das 
Aug  des  Himmels. » 

Gleichfalls  aus  der  Kcnntnifs  des  Menschen  und  seines 
Wahnsinnes  geschöpft  ist  die  Bemerkuug,  dafs  Mcuschcu 


\ 


über  psychische  Krankheiten.  403 

i 

wegen  der  engen  Gewissen  zerrüttet  werden,  die  tief  (wie 
sie"s  heifsen)  im  Geist  lehren,  sieh  selbst  in  Zweifel  und 
Sorgen  bringen,  und  so  ihr  Hirn  tobig  und  unsinnig  ma¬ 
chen.  Hei  andern,  meint  t‘r  sehr  klug,  walte  aber  noch 
eine  verborgene  Ursache,  und  hierhin  rechnet  er  als  fei¬ 
ner  Herzenskündiger  « die  Spitzfindigkeit  derer,  welche 
anders  ihre  Weisheit  brauchen,  als  ihnen  angeboren  ist, 
und  mit  Phantasieren  gelockt  werden,  wie  ein  Huud  mit 
einem  Stück  Fleisch.  Fassen  solche  Phantasieen  den  Men¬ 
schen,  so  heifsen  sie  ihm  das  Hirn  und  er  schreit  sein 
Noth  und  sein  Elend,  wie  eine  Geis,  die  dem  Wolf  im 
Maul  sitzt. »  Darum,  setzt  er  hinzu,  bleib  ein  jeglicher 
in  seinem  Beruf;  fremden  Beruf  anzunehmen,  das  geschieht 
dir  aus  den  Geistern,  welche  dich  am  letzten  heifsen,  das 
ist  dich  unsinnig  machen.  Solche  Speculationes  nun  im 
Kopfe  nennt  er  Mirmidones.  Wo  sie  bei  einander  ste¬ 
hen,  da  sind  sie  zwieträchtig,  ein  jeglicher  will  wider 
den  andern  und  wird  daraus  ein  Scharmützel,  gleich  als 
wenn  ein  Haufen  Volks  einander  schlägt. 

Es  ist  augenscheinlich,  dafs  Paracelsus  sich  allmälig 
von  der  ersten  Definition  der  Taubsucht  entfernt,  und  zu 

den  fixen  Ideen,  zum  Wahnwitz,  zur  Unsinnigkeit  im  All- 

0 

gemeinen  fortschreitet,  was  vornehmlich  aus  folgender 
Stelle  (I.  533,  Signa)  hervorgeht:  «Wer  in  seiner  be¬ 
kannten  Weise,  Gewohnheit  und  Brauch  abw^eicht,  so  sag, 
dafs  dieser  zur  Unsinnigkeit  geht.  Sonderlich  so  er  seiner 
selbst  nit  gewaltig  ist,  neidet  und  feindet  die  Leuth, 
schlägt,  kirrt,  tobet  und  mit  allen  Wüthen,  der  ist  auch 
unsinnig:  der  still  ist,  ruhig,  aber  entsetzt  seiner  gewohn¬ 
ten  Vernunft,  der  ist  auch  unsinnig.« 

Aufser  diesen  mitgetheilten  psychisch -intellektuellen 
Ursachen  führt  er  noch  andere  an,  nämlich:  die  Elemente, 
Influenz,  Constellation ,  Conjunction,  kurz  den  Macrocos- 
mus;  ferner  Krankheiten  und  meint,  dafs  in  ihnen  wie  in 
Kräutern  ein  Geist  sei,  welcher,  so  wie  er  in  das  Hirn 
kommt,  dasselbe  zerbricht  und  unsinnig  macht.  Gegen 


404 


I.  P  a  r  a  c  c  1  s  n  s 


die  Ansichten  der  Humoristen  erklärt  er  sich  aucli  hier, 
namentlich  dagegen,  dafs  die  Unsinnigkeit  allein  von  Ge¬ 
schwüren  herrühre.  Er  sagt  vielmehr  weit-  und  um-  \ 
sichtiger,  als  mauchc  Irrenärzte  noch  heut  zu  Tage,  dafs 
das  Geschwür  daraus  wird,  woraus  die  Unsinnigkeit  auch 
wird,  und  dafs,  folgt  die  Unsinnigkeit  auf  das  Geschwür, 
dieses  ein  Vorbote  der  Ursache  der  Unsinigkeit  sei. 

•  Ich  meine,  Ihr  habt  auch  Mirmidones,  redend  wozu  Ihr 
nicht  berufen  seid.  Wie  Ihre  Theorie,  so  auch  Ihre  Kur.” 

Aufscrdem  zieht  er  auch  gegen  diejenigen  her,  welche 
behaupten,  «  sie  haben  den  Teufel  beschworen,  so  cs  doch 
nur  eine  Tobigkeit  gewesen  sei.  So  bestetten  sie  das  Opfer, 
was  mehr  einlrägt,  als  wenn  sie  sagten:  die  Arznei  hat’s 
gethan.  Der  Erfahrne  lehr’  nit  Teufel  beschwören,  son¬ 
dern  dicSccrcta,  Unsinnige  zu  heilen.»  Namentlich  er¬ 
wähnt  er  das  Kloster  Ossien  in  Kärnthen,  auch  andere, 
«wo  sie  ein  Heiligthum  haben,  um  den  Teufel  auszutrei¬ 
ben.  Das  Heiligthum  ist  aber  ein  Arznei.  Sie  helfeu 
mit  den  Crystallen,  und  er  fragt  nun  ironisch:  ob  das  Cry- 
stall  St.  Niklas  oder  St.  Peters  sei.  Fürwahr,  schliefst  er, 
wären  es  Teufel,  sie  flöhen  diese  heiligen  Väter  nicht; 
wäre  ihre  Arznei  vom  Körper  der  Heiligen,  oder  ein  Geist- 
heilthum,  es  schwände  ihnen  in  der  Hand.  Denn  darum 
ist  nicht  Arznei  geben,  dafs  sie  unsre  Sünden  zunichte 
mache,  sondern  allen  Buben  und  Frommen  ist  sie  in  die 
Hand  geben.  Aber  die  Kraft,  welche  sie  vorgeben,  will 
einen  ganzen  Maun  haben.»  —  Uebrigens  giebt  er  sel¬ 
ber  nichts. Besonderes  über  die  Kur  an,  als  dafs  er  Cry- 
stalle,  Cauleria  und  Actualia  nennt,  worüber  er  in  dem 
Abschnitte  von  der  Manie  weitläuftiger  sich  ausgelassen 
hat.  —  In  seinem  « gründlichen  Unterricht  vom  Ader¬ 
lässen  »  empfiehlt  er  (I.  725)  dieses  Mittel,  wenn  von 
dem  Blute  das  Hirn  in  unsinnige  Taubweise  gebracht  wird. 

Er  rälh  das  Schlagen  der  mittleren  Stirnader,  beider  Schlaf- 
adern,  der  Ilauptadcrn  an  den  Füfsen,  und  zwar  am  ge¬ 
eignetsten,  wann  der  Mond  sich  der  Sonne  nahet.  Im 

schlimm- 


405 


über  psychische  Krankheiten. 

schlimmsten  Falle  rätli  er  seihst  die  Ader  durch  glühendes 
Eisen  zu  öffnen,  und  sich  nicht  an  die  Schmerzen  zu  keh¬ 
ren  ,  wohl  aber  sich  zu  beileifsigen  die  Wunde  offen  zu 
erhalten  mit  Salibus  Alcali! 

Praktisch  richtig  stellt  er  eine  schlechte  Prognose  den 
«Fantasten,»  die  Mirmidones  haben,  indem  er  die  Heilung 
derselben  zweifelhaft  nennt,  und  zwar,  weil  sic  gemäfs 
ihrem  fantastischen  Geiste  behandelt  werden  müssen.  «Aber 
wie  mit  Narren  nichts  kann  ausgerichtet  werden  in  der 
Weisheit,  also  mit  den  Geistleuten  (Fantasten),  wird  nichts 
ausgerichtet  zu  der  Gesundheit,  oder  nur  wenig.”  — 

Dies  über  Manie  und  Tobsucht,  welche  Formen  er 
am  ausführlichsten  behandelt  hat,  wenn  gleich  er  beson¬ 
ders  unter  Taubsucht  auch  schon  die  psychischen  Krank¬ 
heiten  als  Gattung  versteht.  Dafs  er  auf  dem  rechten 
Wege  ist,  dafs  er  die  Tiefe  sucht,  ist  nicht  zu  verkennen, 
wie  auch  die  Form  der  Darstellung  beschaffen  sei,  und  obgleich 
er  die  Manie  in  diesen  Büchern  von  der  Arznei  mehr  vom 
rein  medicinischen ,  als  zugleich  psychologischen  Stand¬ 
punkte  betrachtet,  welchen  wir  in  den  folgenden,  nament¬ 
lich  im  Buche  de  Lunaticis,  vorherrschend  linden  werden. 
Frei  von  allem  theosophiseben  Gebräu  ist  er  in  diesen  Ka¬ 
piteln,  und  geifselt  überall  den  natürlichen  und  künstlichen 
Aberglauben  der  Zeit.  So  weit  meine  kritischen  Unter¬ 
suchungen  über  die  Zeitfolge  der  Schriften  des  Paracel¬ 
sus  reichen,  hat  er  vorliegende  Bücher  in  seiner  besten 
Zeit,  in  der  ersten  Hälfte  der  dreifsiger  Jahre  des  sechs¬ 
zehnten  Jahrhunderts  geschrieben. 

In  dem  Buche:  von  den  Krankheiten,  so  der  Vernunft 
berauben,  spricht  er  im  fünften  Kapitel  des  ersten  und 
zweiteu  Traktats  von 

«Ursprung  und  Kur  der  rechten  unsinnigen 
Leute»  (I.  495  —  497 ;  und  I.  504  — •  506). 

Er  läfst  sich  in  demselben  über  Seelenkrankheiten  im 
Allgemeinen  und  über  einzelne  Formen  dersel  en  aus. 
Die  rechten  Unsinnigen  unterscheidet  er  gleich  von  vorn 
Band  28.  Heft  4.  27 


406 


I.  Paracelsus 


herein  von  der  (aculcn)  Manie  dadurch,  dafs  1)ei  ihnen 
keine  rogelmäfsigen  Paroxysmcn  cintrctcn.  Er  sagt  aus¬ 
drücklich,  dafs  er  jetzt  von  denen  rede,  «die  da  alle¬ 
zeit  bei  unsinnigem  und  unvernünftigem  Leben  sind,  und 
nicht  paroxysmiren  eine  Zeit  uni  die  andere,  wenn  gleich 
die  Dauer  nicht  allemal  gleich  ist,  auch  uicht  die  Zd- 

r  ' 

stände  etc.”  Ja  er  hebt  die  «Entziehung”  der  Vernunft 
als  das  mitten  im  Wechsel  der  Formen  dauernde  und  cha¬ 
rakteristische  Zeichen  der  rechten  Unsinnigkeit  hervor, 
und  bemerkt,  dafs  die  «rechten  unsinnigen  Leute”  nicht 
krank  seien.  «Sie  sind  ganz  ohne  andere  Krankheit,  ist 
kein  Schmerz  da,  kein  Weh,  wie  in  morbo  caduco,  Ma¬ 
il  ia,  Chorea  lasciva  (etc.,  sondern  sie  leben  allemal  al¬ 
lein  in  Tobigkcit.  Ja  er  setzt  hinzu,  dafs  wenn  «Wehe¬ 
tage”  sich  mit  der  Unsinnigkeit  verbinden,  so  ist  der  Tod 
nicht  weit,  was  freilich  nicht  richtig  ist,  wenn  er  auch 
als  Grund  angiebt,  « weil  der  Ursprung  der  Krankheit 
dann  so  heftig  sei,  dafs  er  den  Spiritus  vitae  verletzt 
und  vergiftet,  der  dann  den  Tod  cinführt.  ” 

Ueber  diese  Ei  n  fii  h  rn  n g  des  Todes  spricht  er  seine 
Ansicht  im  Paramir.  Lib.  II.  de  originc  morboruin  ex  tri- 
bus  primis  substantiis  in  einem  schönen  Hilde  ans,  wel¬ 
ches  ich  beiläufig  cinzuschalten  mir  erlaube.  Er  sagt  näm¬ 
lich:  «Wo  die  drei  sich  trenuen,  entsteht  Krankheit  und 
Tod.  Es  soll  nichts  Ewiges  bleiben  in  den  Kreaturen  des 
Fleisches.  Wie  ein  Reich  zerbricht,  so  zerbricht  die  Ge¬ 
sundheit.  —  So  nun  der  Tod  sicht  die  Zerstreuungen 
des  Reichs,  so  fällt  er  ein,  wie  ein  Reich,  das  zergehen 
will,  in  fremde  Iland  kommt.  —  Wenn  die  drei  Sub¬ 
stanzen  sich  scheideil  aus  der  Einigkeit,  so  sitzt  der  Tod 
wie  ein  Nachbar  da,  und  fällt  ein,  bis  er  je  einen  Thcil 
nach  dem  andern  überwunden,  bis  niemand  ist  der  ihn 
vertreibt.  Sitzt  cf  nur  etwas  da,  so  ist  die  Arznei  ein 
Beistand  der  Natur,  durch  die  sich  die  Natur  wieder  er¬ 
holt  (I.  41).  Alle  Dinge  worden  von  Gott  auf  einen  Ter¬ 
min  gesetzt.  Dieser  Zeit  Endigung  ist  der  Tod;  er  sitzt 


I 


Uber  psychische  Krankheiten.  407 

t  /• 

neben  uns  und  wartet  auf  unsere  bella  intcstina,  damit  er 
cinbrccben  könne.  —  Er  weifs  nit  die  Stund,  wann  er 
tödten  soll,  aber  ist  gehorsam  seinem  Herrn,  Gott  im  Him¬ 
mel.  Daher  läfst  er  sich  auch  wegtreiben,  geht  auch  wrohl 
öfters  irre  hinzu  und  davon.  »  — 

Solcher  «  Vcsanien  ”  (  Wahnsinn  als  Gattung)  nimmt 
er  nun  in  diesem  Kapitel  von  « den  rechten  unsinnigen 
Leuten»  vier  Arten  an:  1)  Lunatici,  2)  Insani, 
3)  Vcsani,  4)  Melan chol ici. 

Diese  vier  Formunterschiede  macht  er  nun  seinen 
Principien  gemäfs,  sich  durch  das  Wesen,  nicht  durch  die 
Erscheinungen  leiten  zu  lassen,  nach  den  Ursachen  der 
Krankheiten. 

Lunatici  sind  ihm  diejenigen,  welche  ihre  Krank¬ 
heiten  aus  dem  Monde  haben,  und  sich  nach  demselben 
verhalten  und  zeigen. 

Insani  sind  diejenigen,  welche  die  Krankheit  von 
Gehurt  an  aus  dem  Mutierleihe  haben,  und  dieselbe  als 
ein  Erbt  heil  einer  vom  andern  empfangen. 

Vesani  sind  diejenigen,  welche  durch  Speis  und 
Trank  und  Kräuter  von  Vernunft  und  Sinnen  kommen. 

Melancholici  endlich  sind  diejenigen,  welche  von 
der  eigenen  Natur  von  der  Vernunft  kommen,  und  zu  der 
Unwissenheit  sich  verkehren. 

Bei  dieser  Eintheilung  der  Formen  des  Wahnsinns 
drängt  sich  eine  Bemerkung  auf,  welche  Paracelsus  sel¬ 
ber  nicht  angedeutet  hat,  weiche  aber  nichts  desto  weni¬ 
ger  wahr  ist;  —  es  ist  nämlich  die,  dals  diese  Formen  in 
inniger  Beziehung  und  in  nothwendigem  Zusammenhänge 
stehen  mit  seinen  den  concreten  Inhalt  seiner  allgemeinen 
Pathologie  umfassenden  Grundideen  de  Entihus  morborum 
(Paramiron).  Das  Ens  Astrorum  ist  wirksam  iu  den  Lu- 
naticis;  das  Ens  Naturae  in  den  Insanis;  das  Ens  Veneni 
in  den  Vesanis;  das  Ens  Spiritus  in  den  Melancholicis,  und 
das  Ens  Dei  würde  es  sein  in  den  von  Geistern  im  kirch¬ 
lichen  Sinne  Obsessis,  welche  er  in  diesem  Kapitel  nicht 

27  * 


i 


4  OS 


I.  Paracelsus 


läugnct,  Im  übrigen  aber  auf  seine  Abhandlung  de  Vatibus 
et  Spiritibus  verweiset,  und  ausdrücklich  bemerkt,  «« dafe 
diese  vier  Formen  nicht  von  Geistern  und  Teufeln  Beses¬ 
sene  seien,  als  viele  plappern.  Denn  der  Teufel  und 
sein  Gesellschaft  geben  in  kein  nnbesinnten  Körper,  der 
nicht  nach  seiner  Eigenschaft  mit  ganzer  Vernunft  gcrc- 
girt  wird.  Darum  kommt  er  auch  nicht  in  diese  vier  Ge¬ 
schlechter;  sind  vor  ihnen  befreit,  denn  sic  sind  der  Ver¬ 
nunft  nit  gewaltig. »  —  Dieser  Vergleich  der  « Entia 

morborum  ”  mit  den  Formen  der  psychischen  Krankheiten 
ruht  auf  seinen  acht  naturphilosophischen  Ideen  über  Trans- 
plant atio  (Metamorphose),  ist  Zeuge  der  besonnenen 
Consequenz  in  Anwendung  pathologischer  Grundansichten 
auf  die  psychischen  Krankheiten,  zugleich  auch  vou  der 
zu  seiner  Zeit  umsichtigen  Theorie  derselben.  Denn,  wie 
man  auch  über  die  Entia  morborum  urtheilcn  mag,  im 
Allgemeinen  enthalten  sie  eine  grofsartig  concentrirte  An¬ 
schauung  von  dem  Inbegriff  der  krankmachenden  Potenzen, 
welche  für  die  rohe,  stets  zufällige  Einzelheiten  wahr- 
nehmende  Empirie  nur  zahllos  und  zugleich  chaotisch  da 
sind.  Hegel  sagt,  dafs  vor  Allem  die  Anstrengung  zu  be¬ 
wundern  sei,  mit  welcher  Paracelsus  und  andere  dama¬ 
lige  Denker,  in  den  sinnlichen  Dingen,  welche  sic  zur 
Bezeichnung  wählten,  nur  die  allgemeine  Bestimmung  er¬ 
kannten  und  festhieltcn.  Ein  solches  Auffassen  und  Be¬ 
stimmen  war  unendlich  über  das  gedankenlose  Aufsuchen 
und  chaotische  Hercrzählcn  der  Eigenshaften  der  Körper 
erhaben,  worin  die  heutigen,  empirischen  Physiker  ihren 
Ruhm  setzen,  und  es  für  verdienstlicher  halten,  immer  auf 
Erfindung  eines  Besondcrn  auszugehen,  anstatt  dafs  sie  su¬ 
chen  sollten,  das  Besondere  auf  das  Allgemeine  zurückzu¬ 
führen.  (Encycl.  der  phil.  Wissenschaften.  Erste  Auflage. 
(§.  245.)  - 

Nicht  nur  die  .vier  Hauptformcn  der  «Vesanicn»  di- 
stiuguirt  Paracelsus  nach  den  dem  Wesen  aller  Krank¬ 
heiten  analogen  Ursachen,  sondern  er  sucht  auch  weiter 


/ 


I 


über  psychische  Krankheiten.  409 

in  die  Ursachen  der  Ursachen  jener  einzelnen  Formen 
einzudringen. 

Die  Euts teil ung  dcr«Insani»  betreffend,  so  sieht 
er  dieselbe  einmal  im  «Saamen  sammt  der  Operation,» 
und  zweitens  in  der  von  den  Eltern  auf  das  Kind  über¬ 
gehenden  erblichen  Anlage.  Die  Krankheit  ist  also  ent¬ 
weder  angeboren  oder  erblich.  Als  Grund  für  die  Mög¬ 
lichkeit  der  Insania  durch  den  Saamen  führt  er  den  Satz 
an:  «  Wo  keine  Vollkraft  der  Materie,  ist  auch  keine  Voll¬ 
kraft  der  Vernunft. »  Hinsichtlich  der  Erblichkeit  bemerkt 
er  sehr  wohl,  dafs  und  warum  solche  Krankheit  nicht 
immer  erbe,  und  sagt,  «  dafs,  selbst  wo  beide  Eltern  un¬ 
sinnig  sind  uud  doch  ein  sinnigs  geboren  werde,  es  die 
Stärke  der  Natur  sei,  welche  selbst  das  Widerwärtige  und 
Unbequeme  hintan  treibe.»  Weiter  findet  sich  in  dem  Ab¬ 
schnitte  von  dem  «Ursprünge»  nichts  besonderes,  da  er 
auf  seine  Abhandlung  de  generatione  humana  verweiset, 
auf  welche  ich  hier  nicht  weiter  eingehen ,  aber  versichern 
kann,  dafs  seine  Ideen  über  die  Zeugung,  namentlich  in 
unserer  Zeit  werth  sind  gekannt  zu  sein,  dafs  ihre  Nicht- 
Berücksichtigung  in  der  Geschichte  dieser  Lehre  eine  be¬ 
deutende  Lücke  lassen  würde,  und  dafs  gerade  über  die¬ 
sen  Gegenstand  wie  über  Transmutation  und  Transplanta¬ 
tion  (Entwickelung  und  Metamorphose)  eine  Fülle  herr¬ 
licher  Ideen,  freilich  neben  abenteuerlichen  Paradoxien, 
und  in  wunderlicher  Sprache  dargestellt,  überall  in  seinen 
Werken  vergraben  liegen,  welche  Ansichten  gleich  denen 
über  den  Wahnsinn  zu  veröffentlichen  und  ans  Licht  der  Ge¬ 
genwart  zu  bringen,  mir  die  schickliche  Gelegenheit  nicht 
entgehen  soll,  wenn  kein  anderer  diese  verwickelte  Ar¬ 
beit  über  sich  nehmen  möchte. 

Die  Behandlung  der  «Insani»,  namentlich  das 
Heilen,  ist  nach  ihm  nur  dann  möglich,  «wenn  die  Com- 
plexen  und  Ilumores  ganz  umgcwandelt  und  umgekehrt 
werden,  so  dafs  die  neuen  stärker  seien,  als  die  alten. 
Dies  ist  zu  versuchen  durch  couforlativa  und  sedaliva  aus 


9 


V 


410 


I.  Paracelsus 


der  Quintessenz.  Am  wichtigsten  sind  die  Präservative, 
welche  er  freilich  seltsam  genug  aufstellt.  Unter  andern 
sagt  er,  dafs  wenn  der  Coitus  provocirt  wird  sccundum 
mentem  et  volnnlaiem  Insaniac,  d.  h.  durch  geistigen  Ap¬ 
petit  (Phantasie,  psychische  Einwirkung),  so  entsteht  In- 
sania  bei  dem  Kinde,  und  um  die  z u  verhüten,  müfsten 
solche  Eltern  sogleich  in  kalt  Wasser  geworfen  werden  — 
et  cxpellitur  coitus  et  extinguitur.  Würde  dagegen  der 
Coitus  durch  Kunst,  durch  Anreizung,  Mcdicamina  con- 
fortativa,  also  sine  mente  et  voluntate  cxcrcirt,  sö  sei  er 
gut  und  nichts  zu  furchten  für  das  Kind,  weil  die  Natur 
als  solche  in  sich  vollkommen  und  nie  in  Insania  sei.  So 
paradox  und  absurd  dies  Präservativ  im  ersten  Augen¬ 
blicke  erscheinen  mag,  so  blickt  doch,  wie  durch  magi¬ 
sches  Helldunkel,  der  Gedanke  durch,  dafs  nur  von 
Psyche  und  Geist  durch  die  Einbildungskraft  die  Insania 
angezeygt  wird,  nicht  von  dem  Beischlaf  als  einem  rein 
organischen  Akt,  an  welchen  der  Geist  der  Unsinni¬ 
gen  gar  keinen  Thcil  hat. 

Die  Vcsani  erscheinen  nach  Parac.  in  mannigfacher 
Art  und  Form,  und  er  zweifelt  keinen  Augenblick  an  der 
Möglichkeit  solcher  Wirkung  durch  Speise,  Trank  und 
Kräuter  (Philtra),  geschehe  Gleiches  ja  doch  auch  beim 
unvernünftigen  Vieh.  Den  ganzen  Vorgang  nennt  er  «na¬ 
türlich  und  zauberisch,  sagt:  cs  liegt  eine  grofse  Philoso¬ 
phie  und  Contemplation  in  der  Natur  dieses  Gegenstandes; 
doch  wolle  er  von  dem  was  Incantation  dabei  thut  lie¬ 
ber  schweigen  und  verweisen  auf  seine  Schrift  de  Incan- 
tationibus.  —  Durch  die  natürliche  uud  zauberische  Erklä¬ 
rung  drückt  er  eines  Thcilcs  nichts  anderes  aus,  als  dafs 
es  mit  dein  Ursprünge  der  Vesania  auf  natürliche  und  auf 
räthselhafte ,  unerklärliche  Weise  zugehe.  Hegel  sagt  in 
seinen  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der  Religion,  er¬ 
ster  Bd.  S.  231  ff.  (Naturreligion  der  Zauberei):  «Das 
Princip  der  Zauberei  ist,  dafs  zwischen  dem  Mittel  uud 
dem  Erfolg  der  Zu>aimneuhaug  nicht  erkannt  wird.  Zau- 


über  psychische  Krankheiten.  411 

%  .  ■  i  • 

berei  ist  überall,  wo  dieser  Zusammenhang  nur  da  ist, 
ohne  begriffen  zu  sein.  Dies  ist  auch  bei  den  Arzneien 
hundertmal  der  Fall,  und  man  weifs  sich  keinen  andern 
Rath,  als  dafs  man  sich  auf  die  Erfahrung  beruft.  —  Man 
sagt,  es  ist  dieser  Zusammenhang  und  dies  ist  blofs  Er¬ 
fahrung,  die  aber  selbst  unendlich  widersprechend  ist.  Die 
Gränze  des  bekannten  und  unbekannten  Zusammenhanges 
ist  daher  schwer  anzugeben.  —  In  so  fern  hier  eine 
Wirkung  vom  Lebendigen  auf  Lebendiges  und  noch  mehr 
vom  Geistigen  auf  Körperliches  statt  findet,  so  sind  hier 
Zusammenhänge,  die  nicht  geläugnet  werden  können,  und 
die  doch  so  lauge  als  unerforschlich,  als  Zauber  oder  als 
WTunder  auch  erscheinen  können,  als  man  nicht  den  tie¬ 
feren  Begriff  dieses  Verhältnisses  kennt.  Beim  Magnetis¬ 
mus  hört  so  alles  was  man  sonst  vernünftigen  Zusammen¬ 
hang  nennt,  auf,  es  ist  nach  der  sonstigen  Weise  der  Be¬ 
trachtung,  ein  unverständiger  Zusammenhang. »  Anderen 
Theils  aber  zeigt  sich  die  Erklärung  der  Vesania  durch 
Zauberei,  und  zwar  wegen  des  Inhalts  seiner  Fragmente 
de  Incantationibus,  auf  welche  er  verweiset,  als  abergläu¬ 
bisch,  [und  als  ganz  befangen  in  dem  allgemeinen  Nebel 
seiner  Zeit.  Nun  gilt  für  Paracelsus  das,  was  Hegel 
weiter  an  demselben  Orte  sagt:  « Wenn  der  Kreis  der 
Vermittelung  in  der  Zauberei  aufgethan  ist,  so  eröffnet 
sich  das  ungeheure  Thor  des  Aberglaubens,  da  werden  alle 
Einzclnhcitcn  der  Existenz  bedeutsam,  denn  alle  Umstände 
haben  Erfolge,  Zwecke,  jedes  ist  ein  Vermitteltes  und  \er 
mittelndes,  alles  regiert  uud  wird  regiert;  was  der  Mensch 
tliut,  hängt  nach  seinen  Erfolgen  von  Umständen  ab;  was 
er  ist,  seine  Zwecke,  hängen  von  Verhältnissen  ab.  Er 
existirt  in  einer  Aufsenwelt,  einer  Mannigfaltigkeit  von  Zu¬ 
sammenhängen,  und  das  Individuum  ist  nur  eine  Macht, 
in  so  fern  es  eine  Macht  über  die  einzelnen  Mächte  des 
Zusammenhanges  ist.  In  so  fern  dieser  noch  unbestimmt, 
die  bestimmte  Natur  der  Dinge  noch  nicht  erkannt  ist,  so 
schwebt  man  in  absoluter  Zufälligkeit. »  —  Allgemeine 

U  f 


412 


I.  Paracelsus 


Gründe,  nicht  allein  die  « Mania  durch  Zauberei,»  haben 
mich  veranlagt,  die  Gedanken  des  tiefsten  Denkers  unse¬ 
rer  Zeit  (in  welchen  ein  anderer  Geist  wehet,  als  z.  B.  in 
den  magisch  beleuchteten  Blättern  aus  Prcvorst),  über  die¬ 
sen  Gegenstand  herauszuheben.  Sic  sind  wahrhaft  objectiv, 
philosophisch,  eine  Fackel  zur  vernünftigen,  vorurteils¬ 
freien  Beurteilung  des  Paracelsus  in  diesem  Gebiete 
überhaupt,  mit  welchem  Hochmut  und  Faulheit  des  6ub- 
jccliven  Egoismus  des  Verstandes  gleich  fertig  sind,  indem 
sie  sagen:  «das  ist  alles  lauter  Unsinn,"  übrigens  sich 
selbst  und  andern  nicht  weiter  Rede  stehen! 

Manche  dieser  Vesani,  sagt  Paracelsus  weiter,  in- 
\  cliniren  in  der  IJnsinnigkeit  zur  Liebe,  andere  zum  Kriege, 
andere  zum  Steigen,  Klettern  und  Laufen  und  so  fort  auf 
zahllose  Weise.  —  Die  etwanige  Heilung  ist  in  ärztlicher 
Hinsicht  gleich  der  der  Iusania,  wenn  auch  ohne  Hoffnung 
des  Erfolges.  Uebrigens  rätli  er  gemäfs  den  Ursachcu  zu 
verfahren.  «  Purgantia  helfen  nichts,  da  die  Krankheit  in 
Spiritu  vitae  liegt,  welchen  keine  Purganz  austreibt. »  — 

Die  Mclancholici  betreffend,  so  ist  das  an  dieser 
Stelle  über  dieselben  Gesagte  kaum  der  Rede  wertli,  wie 
er  überhaupt  die  Melancholie  wegen  der  Humoralidecn, 
welche  ihn  wohl  beschleichen,  und  wegen  seiner  schein¬ 
bar  unsichcrn  Theorie  über  dieselbe,  nirgend  nur  etwas 
ausführlich  darstellt,  sondern  nur  gelegentlich  hie  und  da 
ihrer  auf  von  einander  abweichende  Art  gedenkt.  Oben 
(Seite  407)  nimmt  er  sie  für  I  nsinnigkeit  aus  der  eigenen 
Natur.  Hier  (I.  497)  nimmt  er  eine  vierfache  aus  den 
vier  Complexen  (Mel.,  Chol.,  Sang.,  Phlegm.)  durch  Trei- 
bung  des  Spiritus  ins  Hirn  entstandene  an,  und  übcrläfst 
das  Weitere  denen,  die  de  Complexibus  schreiben.  So 
deutet  er  hier  vielleicht  eine  vierfache  Form  von  Melan¬ 
cholie  an,  w  ie  früher  eine  vierfache  Form  von  Manie,  nur 
verschieden  nach  dem  Temperament  und  Naturell  dessen, 
welcher  von  ihr  befallen  wird.  Doch  unterscheidet  er  sie 
hier  nicht  auf  die  Art,  wie  wir  sic  von  den  andern  For- 


413 


✓  • 

über  psychische  Krankheiten. 

men  der  Seelenkrankheiten  unterscheiden,  sondern  sie  ist 
ihm  mehr  «  Unsinnigkcit »  überhaupt.  Dies  wird  noch  ein¬ 
leuchtender,  wenn  er  bei  der  Kur  der  Melancholie  eine 
traurige  Melancholie,  welche  durch  «lachende  Arzneien,» 
eine  lachende,  die  durch  «traurige  Arznei»  gesund  wird, 
annimmt.  Zu  jenen  Mitteln  rechnet  er,  nicht  ohn  e  prakti¬ 
schen  Blick  in  die  psychische  Pharmakologie,  «Conforta- 
tiva,»  zu  diesen  die  «Opiate.»  —  An  einer  andern 
Stelle  (1.269.  Labyrinth,  medicor.)  heifst  es  gelegentlich: 
«Nit,  dafs  man  sagen  soll,  cujus  Humoris?  Melancholici : 
So  doch  Melancholia  nichts  ist,  daun  eine  tolle,  unsinnige, 
phantastica  Krankheit,»  und  versteht  darunter  das,  was 
er  im  Abschnitte  von  der  Taubsucht  «Mirmidones»  nannte, 
analog  unsern  «fixen  Ideen.»  Die  klarste,  der  gewöhn¬ 
lichen  entsprechende  Definition  giebt  er  (I.  1016.  de  Co- 
rallis),  wo  er  sie  eine  Krankheit  nennt,  die  in  einen  Men¬ 
schen  fällt,  dafs  er  mit  Gewalt  traurig  wird,  schwermü- 
thig,  langweilig,  verdrossen,  unmuthig  und  fällt  in  selt¬ 
same  Gedanken  und  Speculationes,  in  Traurigkeit  und  Wei¬ 
nen.  Der  Zusatz,  dafs  sie  durch  die  rothe  Coralle  fort- 
gehe,  und  durch  die  blaue  sich  mehre,  ist  eine  Grille  der 
Zeit,  und  beruht  auf  der  Empirie  ihrer  naturphilosophi¬ 
schen  Richtung,  nämlich  auf  der  Signatur  der  Dinge,  und 
gehört  am  Ende  in  eine  Categorie  mit  der  Beobachtung 
von  Rush  und  Esquirol,  dafs  die  Färber  in  Indigo 
schwermüthig,  und  nach  andern,  die  in  Scharlach,  zorn- 
müthig  werden  sollen. 

Die  Lunatici  betreffend,  so  ist  das  über  den  Ur¬ 
sprung  und  die  Kur  derselben  in  den  Kapiteln  «  vom  Ur¬ 
sprünge  und  Heilung  der  rechten  unsinnigen  Leute  »  vor¬ 
kommende,  hierhin  verlegt,  um  sich  an  die  Darstellung 
des'  Buchs  «de  Lunaticis »  in  dem  philosophischen  Theile 
seiner  Werke  unmittelbar  zu  reihen.  \ 

Den  Ursprung  der  Luualicorum  leitet  Par.  vom  Monde 
ab,  und  theilt  diese  Meinung  noch  selbst  mit  Irrenärzten 
der  Gegenwart,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dafs  seine 


i 


I 


414 


I.  I’aracolsus 


9 


Theorie  den  herrschenden  astrologischen  Ansichten,  welche 
das  Weltall  als  einen  Organismus  betrachteten,  dessen 
Glieder  mit  den  ihnen  entsprechenden  des  menschlichen 
Organismus  in  unmittelbar  spiritualiscbcm  Conncx  standen, 
entnommen  ist;  dagegen  die  neueren  Verthcidigcr  gar  keine 
Theorie  haben,  und  sich  auf  ihre  Erfahrung  berufen,  welche 
jedoch  andere  auch  aus  Erfahrung  nicht  als  wahr  gelten 
lassen  könuen.  Die  Gestirne,  namentlich  der  Mond,  wir¬ 
ken  nach  Paracelsus  gleich  dem  Magnet,  ohne  Sitt¬ 
lichkeit  und  Empfindlichkeit  auf  den  Menschen  und  auf 
seine  Vernunft.  —  In  dem  Monde  ist  eine  virtus  attra- 
ctiva,  die  Vernunft  aus  dem  Haupte  zu  ziehen,  und  zwar 
dadurch,  dafs  er  dasselbe  humoris  und  virtutis  cerebri 
beraubt,  wie  die  Sonne  die  Feuchtigkeit  aus  dem  Erdreich 
zieht.  Durch  diese  Attraction  werden  viele  Menschen  ih¬ 
rer  Sinne  beraubt.  Im  \  oll  -  lind  Neumond  ist  diese  Ein- 

« 

Wirkung  auf  das  Ilirn,  den  mikrokosmischen  Mond,  ain 
stärksten.  Die  Kur  ist  zunächst  prophylac tisch.  Die 
Kraft  des  Mondes  wird  abgehalten  durch  Arznei,. wie  die 
Kraft  des  Magnets  dadurch,  dafs  das  Eisen  mit  Ol.  Mcr- 
curii  überzogen  wird.  Die  grofsle  specifische  Kraft  gegen 
alle  sieben  Planeten  hat  die  (Quinta  Esscntia  Auri,  wegen 
der  grofsen  Kraft,  welche  sie  dem  Ilerzeu  giebt.  So 
spricht  er  de  Luuaticis  in  diesem  letzten  Kapitel  des  »Bu¬ 
ches  von  den  Krankheiten,  so  der  Vernunft  berauben;» 
anders  dagegen  in 

dem  Buche  de  Lunaticis,  (im  Anfänge  der  Philo- 
sophia  magna)  (II.  164  —  173). 
ie  wir  gescheu,  dals  Parac.  Gattung  und  Artcu  der 
psychischen  Krankheiten  nicht  durchweg  strenge  sondert, 
vielmehr  den  richtigen  BegriiT  der  Art  auch  statt  des  Gat¬ 
tungsbegriffes  gebraucht;  so  macht  er  es  auch  mit  den  Eu- 
naticis.  Im  vorigen  Abschnitte  bezeichnet  er  damit  nur 
diejenigen,  welche  durch  den  Mond  der  Vernunft  beraubt 
werden;  in  diesem  dagegen,  welcher  ziemlich  um  dieselbe 
Acit  geschrieben  sein  dürfte,  begreift  er  unter  derselben 


I 


über  psychische  Krankheiten.  415 

* 

Bezeichnung  die  Unsinnigkeit  in  genere.  Unter  diesem 
Nomen,  sagt  er,  werden  alle  Maniae  und  Yesaniae  ver¬ 
standen,  und  zwar  nicht,  weil  Luna  es  allein  thnt,  son¬ 
dern  weil  ich  dahei  bleiben  will,  als  einem  gemeinen  und 
verständigen  Namen.  —  Der  innere  Grund  zu  dieser  Bezeich¬ 
nung  liegt  aber  nach  ihm  darin,  dafs  in  den  Gestirnen 
(nach  Plato)  thierische  Art  und  Vernunft  ist,  dafs  die 
thierische  Vernunft  im  Menschen  und  in  den  Gestirnen, 
daher  auch  in  der  Unsinnigkeit,  in  Wechselwirkung,  in 
Concordanz  gleich  Mann  und  Frau  in  der  Ehe  steht,  weil 
in  der  Unsinnigkeit  die  thierische,  nicht  menschliche 
Vernunft  im  Menschen  regiert.  —  Darum,  fährt  er  fort, 
der  Nam’  Lunaticus  mit  Recht  steht,  weil  selbiger  bewei¬ 
set,  dafs  vom  Himmelslauf,  von  oben  herab  Viehstern  iu 
Viehstern  kommt.  Also  hat  der  Himmel  seine  Gemein¬ 
schaft  zum  Menschen,  so  weit  sein  Viehisches  das  Viehi¬ 
sche  im  Menschen,  was  dem  Menschen  verboten  ist,  an- 
tritft.  »  —  Wie  hier,  so  sehen  wir  noch  heute  die  Eng¬ 
länder  das  Wort  « Lunatic »  als  Gattungsbezeichnung  des 
Wahnsinns  gebrauchen,  und  es  dürfte  diese  Bezeichnung  des 
Paracelsus  durch  die  Rosenkreuzer  und  besonders  durch 
Fludd  in  England  heimisch  geworden  sein. 

Aus  den  angezogenen  Gründen  für  die  Wahl  des  Wor¬ 
tes  «Lunaticus»  geht  schon  hervor,  dafs  Parac.  hier  mehr 
auf  dem  philosophisch -theosophischen  Standpunkte  steht, 
von  welchem  aus  auch  das  Ganze  tief  und  ernst  aufgefafst 
ist.  Das  Buch  de  Lunaticis  ist  daher  ein  Versuch:  aus 
dem  Begriffe  und  Wesen  des  Menschen  die  Mög¬ 
lichkeit,  Wirklichkeit  und  das  Wesen  der  psy¬ 
chischen  Krankheiten  zu  entwickeln,  —  ein  Ver¬ 
such,  welcher  nicht  nur  zu  seiner,  sondern  auch  zu  un¬ 
serer  Zeit  Achtung  verdient,  weil  selbst  nicht  Wenige 
von  denjenigen,  welche  im  Wahne  stehen,  den  Wahn¬ 
sinn  ergründet  zu  haben,  an  solchen  Versuch  für  unsere 
Zeit  nie  gedacht,  geschweige  ihn  ausgeführt  haben. 

Der  hauptsächlichste  Iuhalt  dieses  Buches,  so  weit  er 

i 


t 


416 


I.  Paracelsus 


den  vorliegenden  Gegenstand  betrifft,  wäre  nun,  nach  des 
Parac.  eigenen,  nur  etwas  fafslichcr  und  geordneter  dar- 
gestclltcn  Worten,  doch  ohne  etwas  Fremdartiges,  ihm 
nicht  Angchörigcs,  zu  subsumiren,  (eine  Arbeit,  welche 
dem  Historiker,  und  namentlich  dem  Kenner  des  Para¬ 
celsus  nicht  gar  leicht  erscheinen  dürfte),  etwa  fol- 

«  Es  gieht  einen  zwiefachen,  angebornen  Geist  im  Men¬ 
schen,  den  thicrischen  und  den  göttlichen,  durch 
welchen  der  Mensch  ein  Mensch  wird  und  eine  vernünf¬ 
tige  Creatur,  und  ohne  welchen  er  nur  einen  thicrischen 
Geist  hat,  also  gleich  einem  Thier  ist.  —  Der  aus  der 
thicrischen  Natur  des  Menschen  seiende  Geist  ist  ent¬ 
standen  aus  dem  Limbus,  welcher  nichts  anderes  ist,  als 
das  sterblich  Ding  am  Menschen,  was  da  faulet  und  ab¬ 
stirbt,  und  jmit  dem  die  thierischc  Art  auch  abstirbt  und 
fault.®  Dieser  thierischc  Geist  ist  gleich  dem,  was  wir 
thierischc  Seele  (anima)  nennen.  «  Der  aus  der  mensch¬ 
lichen  Natur  des  Menschen  seiende  Geist  wird  aus  dem 
Fiat,  das  ist  der  Mensch;”  er  ist  das  was  wir  Geist,  In¬ 
telligenz,  Vernunft  nennen.  —  « Diese  beiden  Geister 

nun  sind  zwei  widerwärtige;  jedoch  mufs  einer  dem  an¬ 
dern  weichen.  Nun  soll  aber  der  Mensch  kein  Thier  sein, 
sondern  ein  Mensch :  soll  er  nun  ein  Mensch  sein,  so  mufs 
er  aus  dem  Geist  des  Lehens  des  Menschen  leben  und  hin¬ 
weg  tliun  den  thierischen  Geist;  —  der  Mensch  empfängt 
und  erbt  das  Thicrische,  und  mufs  es  in  sich  tragen,  weil 
er  ein  Mensch  ist.  In  ihm  sind  alle  Arten  und  Eiccn- 
schäften  des  Thiercs;  was  im  Tliicrc  in  specie,  das  ist  im 
Menschen  in  genere;  in  ihm  ist  thicrische  Art  des  \VoIfes, 
Fuchses,  der  Sau,  Elster,  er  wird  daher  auch  so  genannt. 
Den  Hunden  soll  nach  Christus  nicht  das  Heiligthum,  deu 
Säuen  nicht  die  Perlen  hingeworfen  werden;  er  meint  da¬ 
mit  Menschen  mit  thicrischer  Vernunft,  nicht  Thierc  in 
Form  und  Gestalt.  Wie  das  Thicrische,  so  ist  auch  das 
W eltall  überhaupt  iu  ihm,  da  die  Himmel  auch  nur  lliic- 


417 


über  psychische  Krankheiten. 

/ 

rische  Art  und  Eigenschaft  in  sich  haben,  und  nichts 
menschlich -geistiges  in  ihnen  ist.  (Platonische  Idee.) 
Und  darum  ist  der  Mensch,  in  so  fern  er  ein  sterbliches 
Wesen  ist,  den  thierischen  Gestirnen  unterworfen  und  mit 
ihnen  befreundet.  Seinem  W'esen  nach  ist  er  aber  frei, 
ohn’  die  all’,  und  von  niemand  angenaturt,  als  allein 
von  Gott.  —  Ist  er  aber  edler,  wie  kann  er  dem  nie- 
dern  unterworfen  sein?  —  Dadurch,  dafs  er  sich  dem 
Thierischen  unterwirft,  was  ihm  verboten  ist  zu  sein,  oder 
zu  gebrauchen.  Das  Firmament  gewaltiget  im  Menschen, 
wie  die  Sinne  auf  das  Aug1,  welches  geblendet  wird, 
wenn  es  nicht  geschützt  (überdeckt)  wird  durch  die  Su- 
pcrcilia  und  Palpebrae  der  Vernunft.  Dann  macht  das  Fir¬ 
mament  freudig,  hitzig,  schärft  den  thierischen  Verstand, 
d.  h.  er  mufs  liegen  in  Toben  und  Affecten  und  nun  sind 
die  Glocken  gossen  zur  Unsinnigkeit;- ihr  ist  Platz  ge¬ 
geben  und  sie  kann  den  Anfang  nehmen.  Bald  folgt, 
dafs  derselbe  sich  selbst  nicht  kennt,  nicht  weifs  was  er 
ist  und  so  wird  er  zerrüttet  und  unsinnig,  er  mufs  stu¬ 
dieren  und  fantasieren  was  ihm  die  thierische  Vernunft 
giebt  und  verleihet.  Solche  Menschen  ertoben  in  sich 
selbst,  glauben  sich  und  beharren  darauf.  — 

Seinen  rechten  Grund  der  Vernunft,  Weisheit,  Fiirsfrch- 
tigkeit  hat  der  Mensch  aus  Adam,  nicht  aus  dem  Vieh.  W7as 
der  Geist  lehrt  und  thut,  das  ist  aus  Gott,  dem  soll  der  Leib 
und  seine  Form  und  Art  uuterthänig  und  gehorsam  sein.  — 
Selbigen  Geist  bricht  nichts,  ihn  beleidigt  nichts.  Der 
thierische  Geist  aber  der  sorgt,  darum  zerrüttet  er  sich, 
wird  taub,  unsinnig,  schellig,  tölpig  —  zu  einem  War- 
zeichen,  dafs  wir  auf  dieser  Vernunft  WTisheit,  List  und 
Ränken  nicht  bauen,  sie  nicht  brauchen  sollen.  Der 
Mensch  soll  ein  Mensch  bleiben  und  dann  geschieht  ihm 
nichts  Uebles.  Daher  sage  ich  allegorisch,  dafs,  so  ein 
Mensch  taub,  unsinnig  wird,  er  im  thierischen  Geist  er¬ 
trinkt,  wie  beim  Rausch  durch  den  Wein.  Das  Thier  im 
Menschen  ist  das  Subjectuin,  welches  unsinnig  wird  und 


I 


418  !•  Paracelsus 

zerrüttet  nnd  zerbrochen,  und  nit  der  Mensch.  (Uebri- 
geus)  ist  und  bleibt  cs  eine  grofse  Sache,  dnfs  der  Mensch 
kann  seiner  Sinne  beraubt  vrerden,’der  doch  ist  die  edelste 
Kreatur,  und  dafs  der  welcher  aus  Gott  ist,  soll  beraubt 
werden  seiner  Vernunft  und  göttlichen  Geschichte  und 
Lehre  und  Furcht!  Doch  bezwecket  Gott  hiebei,  dafs  wir 
betrachten:  was  wir  sind,  und  desto  fester,  ämsiger  und 
strenger  in  Gott  sehen  und  uns  zu  dem  lautern,  unbe¬ 
fleckten  Menschen  halten.  Denn  der  rechte  Mensch  ist 
aller  Dinge  erledigt,  ihm  schadet  nichts,  weder  von  oben 
noch  von  unten.  Denn  wie  wohl  die  Natur  grols  und 
mächtig  ist,  so  greift  sic  doch  allein  die  ihrigen  an,  und 
die  nicht  ihr  sind,  die  greift  sie  nicht  an.  Wandelt  der 
Mensch  also  gleich  dem  Vieh,  so  geht  cs  ihm  so,  wie  ihn 
die  Sterne  führen  und  der  kälberische  Verstand, «  d.  b.  der 
sterbliche,  unvernünftige  Theil  der  Seele,  die  sinnlichen 
Triebe,  Begierden,  Affekte  u.  s.  w.  — 

Nach  dieser  Zusammenstellung  der  Ideen  des  Parac. 
über  die  Entwickelung  zum  und  über  die  Genesis  und  Aus¬ 
bildung  von  Wahnsinn  (  Unsinnigkcit) ,  wollen  wir  das  nä¬ 
her  auf  die  Lunatici  sich  beziehende  folgen  lassen. 

Von  den  Lunaticis  wie  von  den  Narren,  welche  nicht 
Klinke  sind  sondern  Thoren,  giebt  es  viele  Arten  und 
Weisen,  Geschlechter  und  Formen.  Die  Narren  nämlich 
haben  den  thierischen  Geist  angeboren,  sind  aus  Schwach¬ 
heit  mifsrathen;  sie  gehören  zu  dem  «vernünftigen«  thic- 
rischen  Vieh,  die  Lunatici  zu  dem  unsinnigen  thierischen 
Geist,  und  verhalten  sich  beide  zu  einander,  wie  Hund 
und  wüthender  Ilund.  Nicht  in  der  menschlichen  Ver¬ 
nunft,  sondern  in  der  thierischen  ist  Erkcnntnifs  des  Lu- 
naticus  Morbus  zu  suchen.  Die  lies  durch  Leser:  denn  es 
ist  ein  Grofses  den  tauben  Wüthcrich  zu  verstehen,  er  ist 
nicht  minder,  denn  ein  wüthender  Hund.«  — 

Die  Cur  des  Morbus  Lunaticus  ist  in  diesem  Traktat 
gemäfs  der  Pathogeuie  und  Actiologie  gehalten.  Nach  ei¬ 
nem  kurzen,  zeitgemäfsen  astrologischen  Vorworte  geht  er 


I 


419 


über  psychische  Krankheiten. 

zu  den  Präservativen  der  Krankheit,  welche  stets  vor¬ 
angehen  sollten,  wie  er  sagt.  Die  einfache  Regel ,  welche 
uns  gleich  in  medias  res  führt,  ist  die,  dafs  der  thierische 
Verstand  gebrochen  werde.  «  Führ  ihn  also  ab  von  sei¬ 
nem  thierischen  Verstand,  erklär  ihn  ihm,  unterricht  ihn. 
Nimmt  er  cs  an,  ist’s  gut:  wo  nicht,  sag’s  dem  Nächsten: 
Lafs  ihn  beichten:  Sag’s  der  Kirche.  Will’s  nit  helfen, 
thu’  ihm  wie  den  Ethnischen,  wirf  ihn  in  die  äufserste 
Finsternils,  damit  er  durch  die  Kraft  seiner  Viehgeister 
nicht  die  ganze  Stadt,  sein  Haus,  sein  Land  mit  verführ. 
Denn  was  anders  kann  solche  Dinge  ausreutten,  wenn  ge¬ 
treue  Wörter  nicht  helfen  wollen,  als  die  Obrigkeit?  — 
Hiermit  ist  nichts  anderes  gesagt,  als  die  Zügellosen  einsper¬ 
ren,  und  sichern  zu  lassen.  Besser  ist  es,  fährt  er  fort, 
der  Unsinnigkeit  vorzubeugen,  als  dafs  der  thierische  Ver¬ 
stand  ertobt,  und  am  letzten  Ende  sich  darin  verhärtet 
und  beharrt. 

Sind  aber  die  Präservative  uiclit  gebraucht  worden, 
und  es  dahin  gekommen,  dafs  die  Menschen  ertobt  sind, 
verwildert  und  sich  selbst  nimmermehr  kennen,  so  ver¬ 
mag  ich  (Parac. )  fürwahr  keinen  andern  Rath  zu  geben, 
als  auf  zwei  Wegen: 

Der  eine  ist  der,  dafs  wenn  sie  neben  dem  unsin¬ 
nigen  Wege  noch  einen  vernünftigen  haben,  diesen 
fürzunehmen,  und  ihm  vorzuhalten,  mit  dieser  seiner  übrig 
bleibenden  Vernunft  ihm  das  Hirn  zu  spalten,  und  ihm 
das  seiner  Unsinnigkeit  Gemafse  zu  sagen.  Weiter  räth 
er  das  zu  thun,  was  er  in  den  Präservativen  angegeben, 
und  fügt  hinzu:  denn  solcher  versteht  wohl,  dafs 
er  Unrecht  thut,  aber  er  ist  so  unsinnig,  dafs  er 
nicht  folgen  kann.  Dieses  Präservativ  und  die  Kur 
räth  er  so  früh  als  möglich  anzufangen ,  weil  « sie  dann 
noch  zart  sind,  wie  ein  Mark  und  leichter  zu  bewegen 
und  zu  bekehren.  Später  erhärten  sie  mehr  und  mehr, 
und  ist  hart  zu  heben.  » 

i 

Diese  Methode  lehrt  also:  In  den  Fällen,  wo  der 


420 


I.  Paracelsus 


Wahnsinnige  in  mitten  seines  Wahnsinnes  noch  verständi¬ 
ges  Bewufstscin ,  gesunde  geistige  Kräfte  hat,  sich  an  diese 
zu  halten  und  an  sic  die  psychisch -intellektuelle  Heilme¬ 
thode  anzuknüpfen;  —  in  der  That  eines  der  allcrwescnt 
liebsten  Principien  einer  acht  rationellen  Psychiatrie,  weil 
dadurch  bezweckt  wird:  nicht  von  aufsen  hinein,  gleich¬ 
sam  durch  Juxtapposition  an  den  Kranken,  sondern  von 
innen  heraus,  gleichsam  durch  Intussusccption,  in  der  er¬ 
krankten  Seele  durch  das  in  ihr  seiende  Gesunde  die  aegri- 
tudo  und  den  morbus  zu  überwinden.  Dadurch  wird  auf 
rein  Sokratischem  Wege  die  Heilkraft  der  Seele  selbst  in 
und  für  sich  geweckt  und  unterstützt,  und  vermag  durch 
Hülfe  der  Psychiatrie,  wesentlich  durch  eigene  Kraft,  ihre 
Seclenkrankheit  zu  heben.  Der  psychische  Arzt  ist  dann 
im  Sokratischcn  Sinne  nur  der  Geburtshelfer  der  psychi¬ 
schen  Gesundheit.  x 

Der  zweite  Weg  ist,  dafs  wenn  sie  nichts  Ver¬ 
nünftiges  neben  dem  Unsinnigen  mehr  haben,  wenn  die 
Vernunft  nicht  ncbenlüuft,  und  von  Conzcienz  nichts  ge¬ 
spürt  wird,  sondern  sic  ganz  toll,  unsinuig,  wild,  vie¬ 
hisch  immerfort  sind,  und  mau  Nolli  hat  sie  anzubindcu, 
damit  sie  sich  und  andern  Seel  und  Leib  nicht  verletzen,  — 
dann  die  Arznei  zu  gebrauchen,  welche  Christus  von  den 
Besessenen  lehrt,  d.  h.  Fasten  nnd  Beten,  and  Anwendung 
des  Gebotes:  Liebe  deinen  Nächsten  als  dich  selbst!  In 
dem  Elende,  da  du  dann  bist,  wollen  w’ir  dich  und  uns 
behüten  und  bewahren,  dein  Joch  und  Biird  auf  uusern 

Kücken  nehmen  und  Gott  uusern  Erlöser  anbeten  dich 

% 

davon  zu  entbinden. »  Wahrlich  Grundsätze  für  Heilung 
und  Pilege  der  heilbaren  und  unheilbaren  Gemüthskrau- 
ken,  welche  Jedem,  der  von  Paracelsus  nur  als  von 
einem  «rohen,  liederlichen,  gemeinen  Vagabondeo »  nach 
Sprengel  reden  gehört  hat,  wegen  des  Edlen,  Hülfrci- 
chcn  und  Guten,  also  acht  Humanen,  wras  darin  in  der 
Sprache  seiner  Zeit  ausgedrückt  ist,  sehr  überraschen  dürf¬ 
ten!  In  dem  Grade  Unsinnige  hält  er  «für  nicht  weit  von 

den 


I 


über  psychische  Krankheiten.  421 

den  Besessenen  und  Behafteten  entfernt.  Darum  ist  auch 
keine  Arznei  zu  finden,  als  die  von  den  Besessenen  ge¬ 
sagt  ist.»  Die  Mittel  nun,  die  letzten  in  verzweifelten 
Fällen,  giebt  er  näher  an  in  dem  unvollständigen  Traktat 
de  daemoniacis  et  ohsessis.  Sie  reduciren  sich  dort 
(II.  264)  1)  auf  Austreibung  durch  den  Willen  und  die 
Gewalt  Christi,  2)  auf  Beten,  aber  nit  blofs  Maulklauffen, 
und  3)  auf  Fasten.  — 

Der  gleich  auf  den  Traktat  de  Lunaticis  folgende*.  De 
generatione  Stultorum  (II.  174  —  180), 
interessirt  im  Ganzen  weniger  den  Irrenarzt  und  die  Irren* 
heilkunde,  da  hier  nicht  von  der  Mania,  sondern  von  der 
Narrheit  und  Thorbeit  (Stultitia)  die  Rede  ist,  d.  h.  «von 
denen,  die  nicht  krank  sind,  und  die  kein  Gestirn  und 
Kräuter  haben ,  damit  sie  möchten  witzig  werden. » 

Aber  auch  dieser  Aufsatz  liefert  den  Beweis,  wieseln* 
es  ihm  um  die  Klarheit  der  Unterschiede  von  Thoren 
und  Wahnsinnigen,  worauf  in  medicinischer  und  gericht¬ 
licher  Hinsicht  so  gar  viel  ankommt,  zu  thun  ist,  welche 
Unterschiede  er  hier  noch  bestimmter  darlegt,  als  in  dem 
Traktat  de  Lunaticis.  —  Den  Unterschied  des  Stulti, 
Lunatici  und  des  Weisen  gieht  er  so  an,  dafs  «die  Nar¬ 
ren  eines  milden  Gestirnes  sind,  aus  Schwachheit  mifs- 
rathen:  so  die  Unsinnigen  aus  zu  viel  der  viehischen  Ver¬ 
nunft  geboren  sind  (vergl.  oben  Seite  418).  Beide  unter¬ 
scheiden  sich  von  dem  Weisen  dadurch,  «dafs  die  Wei¬ 
sen  den  viehischen  Leib  nit  lassen  herrschen,  und  bei  ih¬ 
nen  daher  der  Himmel  nichts  auszurichteu  vermag,  wel¬ 
cher  auch  im  viehischen  Wesen  liegt.  Bei  den  W7eisen 
bleibt  der  Mensch  ein  Mensch  und  braucht  das  Viehische 
an  sich,  wie  ein  Instrument.  Der  Leib  ist  dem  innern 
Menschen  bei  Weisen  gehorsam  und  bricht  ihm  den  Him¬ 
mel;  dagegen  des  Narren  Wissen  und  Können  seihst  sein 
Instrument  verdirbt.» 

Wer  verkennt  hier  und  in  vielen  anderen  Stellen  in 

,  i 

Paracelsus  den  Er wecker  und  Restaurator  der  Ideen, 
Band  28.’  Heft  4.  28 


422  I.  Paracclsns 

i  i 

welche  «furch  Stahl,  vermittelt  «furch  J.  B.  v.  Hei¬ 
mo  nt,  'zur  höchsten  Spitze  der  Vollendung  getrieben  sind, 
von  welcher  höchsten  Spitze  aus  das  tiefer  unten  liegende 
und  auch  Realität  und  Existenz  habende,  und  keine  .Ily- 
pothese  ”  seiende,  rein  Materielle  kaum  bemerkt,  also  auch 
nifcht  genug  geachtet  werden  konnte!?  — 

llerausgehobcn  zti  werden  verdient  ferner  die  Bemer¬ 
kung,  dafs  die  Narren  «wohl  ein  Mifsgewächs,  Ueberge- 
wäehs,  als  Kröpfe  und  derlei  am  Leibe  tragen,  und  wie 
wohl  dasselbe  nicht  proprium  Stultorum,  sondern  auch 
anderer,  so  triiB  es  doch  diese  am  meisten.”  Die  Ur¬ 
sache  liegt  nach  ihm,  sehr  umsichtig,  darin,  dafs  nicht 
allein  die  ^rnunft,  sondern  auch  der  Leih  verschnitzelt 
wird.  <^ie,  namentlich  die  Kröpfe,  kommen  aus  den  er- 
zischcu  und  mineralischen  Wassern,  die  Kröpfe  aus  eige¬ 
ner  Art  gebären,  auch  am  häufigsten  io  solchen  Gegenden 
sind.”  Gegeu  solche  Kröpfe  räth  er  auch  anderswo  (Ch. 
mg.  III.  587  und  588)  aufser  cauteria  actualia  und  corro- 
siva,  als  die  besten  mcdicinischen  Mittel:  cx  salc  medi- 
camina,  quia  cx  mincralibus  est  gcncratio.  Aliud  inedi* 
cameu,  fährt  er  fort,  vidi  in  Frawcn  zimmern,  dafs  sic 
propriam  urinam  trinken  in  atirora  et  magnas  strumas 
depulcruut,  honum  haustuin  biberunt,  et  praestat  urina 
Sale  (588).  Er  sagt  auch  an  dieser  Stelle,  dafs  Strumosi 
rari  sapientes  sind,  auch  gewöhnlich  taub. 

Die  Stelle  ist  wichtig,  weil  ohne  Zweifel  der  Cre- 
tinis'mus,  der  augehoren- endemische  Blödsi nn  gemeint 
ist,  über  welchen  nirgend  in  den  Paracelsischen  Schriften 
eigeuds  die  Rede  ist.  Keinesweges  darf  aber  diese  Stelle 
zu  der  Meinuog  veranlassen,  als  wenn  er  unter  «Stulti» 
nur  Blödsinnige  verstände,  also  von  diesen  allein  hier  han¬ 
delte.  Der  ganze  Inhalt  des  Traktats  beweiset,  dafs  er 
im  Allgemeinen  nur  Thoren,  Narren,  Gecken  im  Sinne 
hat.  So  heifst  cs  an  einer  Stelle:  «Es  ist  auch  Weisheit 
in  den  Narren,  scheint  aber  wie  ein  Light  durch  ein  Horn, 
oder  einen  Nebel,  dimkel  und  trüb.  Solch  Licht  scheint 


423 


iil)er  psychische  Krankheiten. 

durch  den  Narrenkopf  der  Narren  und  ist  für  den  weisen 
Mann  nicht  zu  verachten;  und  obwohl  der  viehische  Leih 
in  ihnen  ein  Narr  ist,  so  ist  doch  sein  Seel,  sein  Geist 
kein  Narr;  denn  das  Ewige  ist  ohne  alle  Narrerei  und 
Thorheit  ;  es  hat  hei  ihnen  nur  nit  können  herauskommen 
und  den  Leuten  angenem  sein.  —  Einem  Fürsten  steht 
es  daher  wohl  an,  seine  Hof-Narren  nicht  vexiren,  sie 
in  ihren  Bossen,  wie  sie  die  Natur  ihnen  giebt,  gewäh¬ 
ren  zu  lassen,  und  alle  Dinge  aufzumerken  und  wohl  zu 
ermessen.  Vor  Gott,  der  sie  werden  liefs,  sind  sie  nit 
verachtet. » 

Interessant  ist  dieser  Traktat  auch  besonders  für  Psy¬ 
chologen  dadurch,  dafs  er  eine  Art  von  Genesis  der  Noth- 
wendigkeit  und  Geschichte  der  Narren  enthält.  Dahin 
gehört  z.  B.  der  «Schlufsakt  des  Narrenlebens. »  Er  sagt  : 
«Greift  den  Narren  der  Tod  an,  so  fällt  das  Narrenwerk 
weg,  und  ist  ganz  demüthig  und  still,  und  trauert  und 

erkennt  den  Abschied  aus  dieser  Welt.  Der  Tod  ist  mehr 

. 

als  der  Himmel,  darum  weicht  dann  vom  Menschen  alle 
Influenz,  alle  Impression,  alle  Constellation.  Nun  ist  der 
Tod  allein  Herr,  er  erschrecket  alle  Gestirn  im  Menschen 
und  alle  Glieder  und  was  an  ihm  ist.  Nun  steht  die  vie¬ 
hische  Vernunft  still,  und  gilt  nichts  mehr,  und  nichts  ist 
da,  als  der  pur  lautre  Mensch  in  seiner  Contemplation. 
So  steht  es  mit  den  Narren  auch;  der  Tod  treibt  von  ih¬ 
nen  die  Narrerei,  Fantasei,  und  der  Mensch  in  ihnen 
der  erkennt  sich  selbst.  Der  Tod  scheidet  den  viehischen 
und  den  menschlichen  Verstand.  Und  obschon  die  Na¬ 
tur  gefehlt  hat,  so  ist  doch  an  Seel  und  Geist  nichts 
gefehlt  worden.  Und  in  gleicher  Weise,  als  einer  der 
krumm  und  lahm  geboren  ist,  ohne  Füfse,  dafs  er  mufs 

auf  dem  Arfs  rutschen,  und  unser  einer  wohl  laufen  mag: 

% 

so  die  zwei  Zusammenkommen  in  jener  Welt  —  welcher 
wird  lahm  sein?  —  Keiner!  Also  auch:  Welcher  wird 
ein  Narr  sein?  Keiner!»  — 

Mit  diesem  natürlichen  Ende  aller  erschaffenen  Dinge 

28  * 


424  I.  Paracelsus 

wollen  wir  auch  die  Darstellung  der  Pa racclsi sehen  Leh¬ 
ren  von  den  psychischen  Krankheiten  und  der  ihnen  ver¬ 
wandten  und  nahe  stehenden  Zustände  würdig  schliefsen, 
da  er  das  « grofse  Mysterium »  als  den  Beginn  ihrer 
Geistesfreiheit  erkennt,  und  somit  Natur  und  Geist,  das 
Sterbliche  und  Unsterbliche  am  Schlufs  dieser  Tragödie 
des  menschlichen  Lebens  scheidet  und  dadurch  zugleich 
versöhnet. 


Durch  diese  der  Quelle  durchaus  enl nommene,  nur 
geordneter  zusammengcstelltc,  und  das  was  für  jetzt  als 
Bodensatz  erscheint  zurücklassende,  Darstellung  glaube  ich 
nun  meinen  alten  Paracelsus  auch  spcciell  hinsichtlich 
seiner  Lehrmeinungen  und  Leistungen  über  psychische 
Krankheiten  gerechtfertigt  zu  haben,  wie  auch  selber 
gerechtfertigt  zu  sein  durch  Zeitigung  und  Mittheilung  die¬ 
ses  Produkts  oder  richtiger  Edukts. 

Der  Rechtfertigung  und  Vertheidigung  bedurfte 
Paracelsus  von  wegen  der  Hypothese,  dafs  er  nichts, 
oder  nur  Unbedeutendes  in  der  psychischen  Medicin  ge¬ 
leistet  habe;  —  ich  sage  Hypothese,  weil  solcher  Be¬ 
hauptung  der  reale  Grund,  die  Empirie  und  Erfahrung  des 
Historikers:  Selbststudium  der  Quellen,  fehlte.  Und 
in  der  That  ist  cs  ein  seltsames  Omen,  ein  sonderbares 
Zusammentreffen,  dafs  gerade  der  Mann  dies  Auto  da  Fe 
zufällig  über  ihn  hat  ergehen  lassen,  welcher  den  Para- 
celsischcn,  namentlich  den  in  dem  Traktat  de  Lunaticis 
und  de  gcncrationc  stultorum  ausgesprochenen,  mehrfach 
höchst  ähnliche,  ja  gleiche  theoretische  Grundansichten, 
in  seinen  «  Seelenstörungcn  »>  und  besonders  in  seinen  spä¬ 
teren  zahlreichen,  auf  dem  Titel  auch  nebenbei  «als  Bei¬ 
träge  zur  Seelcnhcilkundc  ”  bczeichncten ,  an  salbungsvol¬ 
ler  christlicher  Ethik  für  die  Irrenheilkunde,  welche  ein 
Theil  der  Heilkunde  ist,  überreichen,  und  freilich  schon 
einzig  dadurch  ausgezeichneten,  aber  zu  der  erwarteten 
allgemeinen  Anerkcnntnil’s  Seitens  der  praktischen  Irren- 


I 


über  psychische  Krankheiten.  425 

ärzte  nicht  berechtigten  Werken,  auf  so  geistreiche,  äm- 
sige  und  aufrichtige  Weise  niedergelegt  hat.  —  Para¬ 
celsus  bedurfte  dieser  Rechtfertigung  um  so  mehr,  als 
unser  erster  litterarisch  -  historischer  Sammler  für  Psychia¬ 
trie,  dessen  mühseliger  Flcifs  wegen  des  bequem  aus  sei- 

i 

nen  unentbehrlichen  Büchern  zu  ziehenden  grofseu  Nutzens 
die  aufrichtigste  Anerkennung  verdicut,  durch  das  Wagnifs, 
seinem  in  dieser  Partie  der  Geschichte  «  sorglos  über  die 
Flüche  hin»  eilenden  Vorgänger,  aufs  Wort  zu  glauben, 
sehr  schadet:  einmal,  weil  alle,  die  nicht  mit  eigenen  Au¬ 
gen  die  Quelle  anseheu,  und  das  sind  gar  viele,  als  wahr 
nachbeten,  was  ihnen  der  Verfasser  der  Litterärgeschiehte 
vorsagt,  wodurch  es  möglich  wird,  dafs  ein  Irrthum  so 
lange  für  Wahrheit  gilt,  bis  die  vermeinte  Wahrheit  als 
Irrthum  aufgezeigt  wird,  was  z.  B.  beim  Paracelsus 
überhaupt  von  Haller  bis  zu  unserer  Zeit  gedauert  hat; 
dann,  weil  die  Wenigen,  welche  zur  Quelle  gehen,  dem 
LJrtheile  und  den  Excerpten  jenes  gelehrten  Litterators 
vielfach  nur  ein  unsicheres  Vertrauen  schenken  dürften, 
wodurch  leider  ein  grofser  Theil  des  Wertkes  solcher  noth- 
wendigen  Bücher  verloren  gehen  mufs. 

Die  Rechtfertigung  für  meine  Arbeit  gründet  sich  we¬ 
niger  auf  das  blofse  Bekanutmachen  der  unbekannten  und 
verkannten  Ansichten  des  in  der  Medicin  Epoche  machen- 
üen  Arztes  über  psychische  Krankheiten,  als  auf  das  was 
und  wie  er  über  dieselben  sich  auslälst.  In  quantita¬ 
tiver  Hinsicht  nimmt  er  es  mit  den  systematischen  Schrift¬ 
stellern  über  die  Medicin  überhaupt,  welche  nur  nebenbei 
jener  Krankheitsklasse  gedenken  können,  vollständig  auf; 
der  qualitative  Werth  seiner  Leistungen  liegt  in  dieser 
Arbeit,  und  ist  das  Urtheil  den  sachverständigen  Aerzten 
und  Historikern  ankcimzustellen. 

Nur  sei  cs  mir  erlaubt,  amSchlufs  noch  einmal  daran 
zu  erinnern:  s 

1)  dafs  er  recht  interessante,  selbst  lehrreiche  dia¬ 
gnostische,  pathologische  und  therapeutische  Einzelnhei- 


426  I.  Paracelsus 

tcn  über  die  Scclenkrankhciteu  und  einzelne  Formen  der¬ 
selben  giebt; 

2)  dafs  er  die  Einlheilungs- Momente  aus  den  Ur¬ 
sachen  hernimmt; 

3)  dafs  er  die  Ursachen  der  Ursachen  weiter  und 
weiter  verfolgt; 

4)  dafs  er  den  einen,  allen  Formen  und  Arten  von 
Scclenkrankhciten,  so  wie  verwandten,  analogen,  ähnli¬ 
chen  Zuständen,  gemeinsamen  Grund  und  Begriff,  mit  Be¬ 
rücksichtigung  der  gegenseitigen  Unterschiede,  zu  erfor¬ 
schen  und  ins  Klare  zu  bringen  strebt; 

5)  dafs  er  hier,  wie  überall,  nach  der  im  Vorworte 
gegebenen  Weise  in  das  Wesen  der  Erscheinungen  zu  drin¬ 
gen  sich  anstrengt; 

6)  d^fs  er  zugleich  bei  seinen  Untersuchungen  über 
Ursprung  und  Kur  der  Seelenkrankheitcn ,  die  ganze  Na¬ 
tur  und  den  ganzen  Menschen,  also,  seiner  grofsartigen 
Anschauung  gcmäl's,  Makrokosmus  und  Mikrokosmus  zu 
Hülfe  nimmt. 

Da&  und  wie  er  dies  Alles  that,  dadurch  offenbarte 
■er  sich  auch  in  diesem  Gebiete,  für  seine  Zeit,  trotz  ihrer 
und  seiner  grillenhaften ,  paradoxen  Naturansichten,  welche 
durch  seinen  schöpferischen  Geist  noch  fruchtreicher  wur¬ 
den,  als  der,  die  einseitige,  entartete,  todte  Elemcntar- 
lehrc  und  den  Aberglauben  der  Kirche  und  der  Massen 
mit  allen  Waffen  Bekämpfende  und  eine  höhere,  lebendi¬ 
gere  Richtung  ins  geschichtliche  Dasein  Rufende.  Für  un¬ 
sere  Zeit  ist  die  Erweckung  und  Darstellung  seines  den 
Menschen  und  die  Natur  seines  Wahnsinnes  treffendcu 
WTurfes  zeitgemäß  für  diejenigen,  welche  die  Zeichen  der 
Zeit  sich  und  andern  und  der  Zeit  selber  verständlich  und 
gegenständlich  zu  machen  streben.  Und  wenn  gleich  He¬ 
gel  unbedingt  Recht  hat,  v’cun  er  (Vorlesungen  über  die 
Geschichte  der  Philosophie,  (1.60)  sagt:  «Eine  frühere 
Stufe  wieder  erwecken,  hicfsc,  den  gebildeteren,  tiefer  in 
sich  gegangenen  Geist  auf  ciue  frühere  Stufe  zuruck briugeo 


t 


/ 


über  psychische  Krankheiten.  427 

# 

wollen.  Das  Iäfst  er  sich  aber  nicht  gefallen;  das  würde 
ein  Unmögliches,  ein  eben  so  Thörichtes  sein,  als  wenn 
der  Mann  sich  Mühe  geben  wollte,  sich  auf  den  Stand¬ 
punkt  des  Jünglings  zu  versetzen,  der  Jüngling  wieder 
Knabe  oder  Kind  zu  sein,  —  wenu  auch  der  Mann,  Jüngling 
und  Kind  ein  und  dasselbe  Individuum  ist;  »  obgleich  er 
eben  so  sehr  Recht  hat,  wenn  er  (61)  sagt:  «Ein  sol¬ 
ches  Aufwärmen  ist  daher  nur  als  der  Durchgangspunkt 
des  Sicheinlernens  in  bedingende,  vorausgehende  Formen, 
als  ein  nachgeholtes  Durchwandern  durch  nothweudige 
Bildungsstufen  anzusehen;  wie  solches  in  einer  fernen 
Zeit  Nachmachen  und  Wiederholen  solcher  dem  Geiste 
fremd  gewordenen  Principien,  in  der  Geschichte  als  eine 
vorübergehende  Erscheinung  anftritt.  /  Dergleichen  sind  nur 
Uebersetzungen,  keine  Originale;  und  der  Geist  befriedigt 
sich  nur  in  der  Erkenntnifs  seiner  eigenen  Ursprünglich¬ 
keit»,  —  so  kann  doch  der  allgemeine  Sinn  und  Geist  sei¬ 
nes  (Parac.)  Wollens  und  Schaffens  in  der  Mediciu  und  in 
den  psychischen  Krankheiten  vor  drei  Jahrhunderten,  jetzt 
nach  drei  Jahrhunderten  noch  in  der  Art  und  in  dem 
Grade  anregend  und  beziehungsreich  sein,  wie  es  die 
Aehnlichkeiten  und  Verschiedenheiten  der  Zeiten,  und  ihrer 
welthistorischen,  anthropologischen  und  medicinischen  Bil¬ 
dungsstufen  und  Bedürfnisse  zulassen;  was  freilich  so  leicht 
hinzuschreiben,  als  es  grofs  und  schwer  zu  erkennen  ist.  — - 


4*28 


I 

II.  Decoctum  Zittmanni. 


ii. 

Praktische  Bemerkungen  und  Beobachtungen 

über 

die  Anwendung  des  Decoctum  Zitlmanni. 

Von 

D  r.  B  e  h  r  e 

in  Altona. 


Zweite  Abtheilung. 

Yorgclcsen  in  der  raedicinisch -chirurgischen  Gesellschaft  zu  Ham¬ 
burg  d.  6.  April  1832. 


Ucberzeugt,  dafs  nur  wiederholte  Erfahrungen  in  un¬ 
serer  empirischen  Kunst  über  den  Werth  oder  Unwerth 
einer  besonderen  Kurmethode  entscheiden  können,  nament¬ 
lich  daun,  wenn  diese  Erfahrungen  bei  versbhiedenartigen 
Individuen  und  unter  verschiedenartigen  Umständen  uud 
Modificationen  der  zu  beseitigenden  Krankheit  ohne  Vor- 
urtbeil  gemacht  werden:  glaubo  ich  mit  einigem  Beeilte 
meine  neuen  Beobachtungen  über  die  Wirksamkeit  des 
Zittmann sehen  Dccocts  bei  veralteter  Syphilis,  so  wie 
auch  bei  anderen  dyscralischen  Krankheiten  mittheileu  zu 
dürfen,  ohne  gerade  Gefahr  zu  laufen,  durch  eine,  frei¬ 
lich  etwas  variirte  Wiederholuug  des  früheren  Tliema’s  die 
Geduld  meiner  Leser  zu  sehr  zu  ermüden.  —  Es  sei  mir 
gestattet,  in  dieser  zweiten  Abtheilung  mit  einem  Falle 
den  Anfang  zu  machen,  wo  das  genannte,  sonst  wirklich 
so  bewährte  TVI i t tel ,  mich  im  Stiche  liefs,  da  man  gerade 
aus  den  mifslungcnen  Versuchen  oft  am  meisten  lernt.  — 
Meiner  Eitelkeit  bitte  ich  es  zu  gute  zu  halten,  wenn  ich 
alsdann  noch  vier  Fälle  folgeu  lasse,  in  welchen  das  Mittel 
wahrlich  Ungewöhnliches  leistete.  — 


i 


II.  Decoctum  Zittmanni. 


429 


Zehnter  Fall. 

Herr  Chirurgus  H.,  ein  junger  Mann  von  26  Jahren,  in 
seiner  Kindheit  an  wiederkehrenden  scrophulösen  Affectionen 
leidend,  späterhin  aber  gesund  und  kräftig,  verletzte  sich 
im  Anfänge  des  Jahres  1831  beim  Verbinden  der  Geschwüre 
einer  an  Herpes  syphiliticus  leidenden  Frau  am  Zeigefinger 
der  rechten  Hand,  ohne  indessen  diese  Verletzung,  welche 
in  wenigen  Tagen  heilte,  weiter  zu  beachten.  —  Vier¬ 
zehn  Tage  später  bildete  sich  an  der  Narbeustelle  ein  har¬ 
tes  Knötchen,  welches  bald  gröl’ser  wurde,  sich  mit  Eiter 
anfüllte,  platzte,  heftige  Schmerzen  verursachte  und  dem¬ 
nächst  in  oberflächliche  Ulceration  überging.  —  Ein  ein¬ 
facher  Verband  mit  rother  Präcipitatsalbe  brachte  indessen 
jenes  Hautgeschwür  nach  acht  Tagen  zur  Heilung.  —  Der 
junge  Mann  befand  sich  mehre  Wochen  nachher  vollkom¬ 
men  wohl.  —  Nun  aber,  gegen  Ostern  1831,  wurde  er 
von  öfterem  Gliederreifsen  heimgesucht,  die  Sedes  wurden 
träge,  er  fühlte  sich  abgeschlagen  und  unlustig.  Bald  trat 
nun  ein  warzenartiger  Ausschlag  im  Gesichte,  namentlich 
an  der  Stirn  und  Nase  und  an  der  Oberlippe  ein,  der, 
ohne  gerade  zu  schmerzen ,  doch  ein  unangenehmes  Span¬ 
nen  erregte,  und  durch  seine  Kupferfarbe,  so  wie  durch 
die  veranlafste  Entstellung  des  Gesichtes,  dem  Kranken 
sehr  beschwerlich  war.  —  Abführmittel,  die  in  Anwen¬ 
dung  gezogen  wurden,  fruchteten  nichts;  vielmehr  bildete 
sich  ein  ähnlicher  Kupferausschlag  mit  warzenförmigen  Er¬ 
habenheiten  an  den  Armen  und  Schenkeln  aus,  und  die 
beiden  gröfsten,  an  der  Stirne  befindlichen  Stellen ,  sowie 
die  eine  Stelle  am  rechten  Nasenflügel,  gingen  in  Ulcera¬ 
tion  über,  mit  welcher  heftige  Schmerzen  in  deu  Geschwü¬ 
ren  selbst,  besonders  aber  sehr  lästige  Stirnschmerzen  ein¬ 
traten.  Der  Kranke,  der  bis  dahin  an  sich  selbst  herum¬ 
gepfuscht  hatte,  zog  nun  einen  Arzt  zu  Ratlie.  —  Die¬ 
ser  wufste  nicht  so  recht,  worau  er  eigentlich  sei,  und 
wirklich  war  die  Beurtheilung  dieses  Falles  auch  nicht  so 


430 


II.  I)  ccoctum  Ziitinnnni. 


leicht.  —  Dafs  eine  syphilitische  Infcction  die  Ursache 
der  genannten  krankhaften  Erscheinungen  sei,  schien  dem 
behandelnden  Arzte  höchst  wahrscheinlich,  und  dieser  An¬ 
sicht  gemäfs  wurde  auch  der  Kurplan  eingerichtet.  — 
Zuerst  bekam  der  Kranke  Calomel  nebst  Ilolztränken  bis 
zur  eintretenden  Salivation,  darauf  einige  Wochen  später 
Sublimat  nach  der  Dzondischen  Angabe,  alsdann  ein  dein 
Zitt mannschcn  ähnlich  bereitetes  Dccoct,  örtlich  ver¬ 
schiedenartige  Salben  und  Wässer,  sümnvtlick  mit  Mercu- 
rialpräparateu  bereitet.  —  Die  Hauptsache  aber  ward 
bei  dieser  Behandlung  vernachlässigt,  nämlich  die  gehörige 
Diät  und  das  nothwendige  strenge  Regimen.  Der  Kranke 
hielt'sich  während  dieser  ganzen  Zeit  nicht  nur  nicht  zu 
Hause,  sondern  setzte  sich  auch  mancherlei  Erkältungen 
aus,  beging  grobe  Diätfehler,  mit  einem  Worte  —  er 
lebte  in  diätetischer  Hinsicht  noch  weniger  regelmäßig, 
als  er  cs  früher  gethan  hatte.  —  Die  angewandten  Mit¬ 
tel  fruchteten  nichts  —  wohl  trat  ab  und  zu  eine  mo¬ 
mentane,  scheinbare  Besserung  ein,  die  aber  bald  einer  be¬ 
deutenderen  Verschlimmerung  der  örtlichen  Symptome  Platz 
machte.  So  zog  sich  das  Uebel  bis  zum  ersten  Octobcr 
1831  hin,  zu  welcher  Zeit  mein  Rath  nachgesucht  ward.  — 
Ich  fand  die  Geschwüre  an  der  Stirne  mit  barten, 
ausgefressenen  Rändern,  speckigem  Grunde,  starker  Bor¬ 
kenbildung  und  heftig  schmerzend,  eben  so  die  an  dem 
rechten  Nasenflügel,  der  Oberlippe  und  dem  Kinne.  Mehre 
Geschwüre  von  gleichem  Ansehen  hatten  sich  au  den  Ar¬ 
men,  auf  dem  Rücken' und  an  den  Oberschenkeln  gebil¬ 
det;  in  der  Mitte  des  Penis  befand  sich  in  der  Oberhaut 
'  des  Gliedes  ein  einem  Furunkel  ähnliches  Geschwür,  wel¬ 
ches  sich  indessen  von  den  übrigen  durch  seiu  Ansehn  we¬ 
sentlich  unterschied.  Das  Allgemeinbefinden  war  schlecht, 
der  Kranke  gemülhlich  sehr  affleirt,  die  Verdauung  ge¬ 
stört,  der  Appetit  lag  darnieder.  —  Nachts  wenig  Schlaf, 
wegen  ziehender  Schmerzen  im  ganzen  Körper,  und  we¬ 
gen  der  großen  Agitation  des  Gcmüths.  — 


II.  Decoctum  Zittmanm. 


431 


Dafs  hier  eine  syphilitische  Infection  dem  Uebel  zum 
Grunde  lag,  war  mir  nacli  genau  angestelltem  Kranken- 
examen  höchst  wahrscheinlich;  dafs  jedoch  das  ursprüng¬ 
liche  Uebel  zugleich  durch  den  unregelmäfsigen  Mercurial- 
gebrauch  sehr  verändert  sei,  daran  zweifelte  ich  um  so 
weniger,  als  der  ganze  Habitus  des  Kranken,  der  gleich¬ 
sam  scorbutischc  Zustand  des  Zahnfleisches,  mir  auf  eine 
gleichzeitige  Mcrcurialkrankheit  nur  zu  deutlich  hinzudeu¬ 
ten  schienen.  —  Etwas  Bestimmtes  mufste  gescheiten, 
und  daher  entschlofs  ich  mich  zur  Anwendung  des  Zitt- 
mannschen  Decocts,  der  ich  mehre  Tage  eine  leicht  näh¬ 
rende  Kost  mit  Hinweglassung  aller  übrigen  Mittel  vor¬ 
ausgehen  liefs.  —  Die  Geschwüre  wurden  blofs  mit  ei¬ 
nem  Fliederaufgusse  verbunden.  — 

i  Am  3ten  October  begann  die  Kur,  welche  ganz  nach 
der  früher  angegebenen  INorm  geregelt  ward,  nur  mit  dem 
Unterschiede,  dafs  ich  das  Quantum  des  Folia  sennae  um 
eine  Unze  vermehrte.  —  Dennoch  waren  die  Stuhlaus¬ 
leerungen  anfangs  nur  sparsam,  nur  zwei  bis  drei  in  24 
Stunden,  der  Schweifs  aber  desto  reichlicher,  die  Urinse- 
cretion  ebenfalls  sparsam.  —  Schon  am  6ten  October  trat 
eine  starke  Affection  des  Zahnfleisches  mit  Geschvimrbil- 
dung  an  den  Lippen,  und  Anschwellung  der  Zunge  ein, 
die  sich  indessen  nach  dem  zweiten  Laxans  und  beim 
Gebrauche  eines  leichten  Salbei -Infusums  bald  minderte. 
Merkwürdig  war  es,  wie  nun  die  Geschwüre  und  die  war¬ 
zenartigen  Excrescenzcn  sich  in  ihrem  ganzen  Aussehen 

rasch  besserten,  reiner  wurden  und  zum  T heil  vernarbten. 

' 

Während  der  letzten  Hälfte  des  ersten  Cyklus  der  Kur 
vermehrten  sich  die  Stuhlausleerungen,  so  dafs  täglich  5 
bis  6  Sedes  statt  hatten;  dennoch  war  die  Perspirations- 
rnenge  im  Bette  reichlich,  selbst  die  Urinsecretion  ward 
reichlicher.  —  Allein  es  stellte  sich  nun  förmliche  Sali- 
vation  ein,  welche  eine  Zwischenpause  von  acht  Tagen 
nöthig  machte,  während  welcher  ich  aufser  einer  blandeu 
Diät  nur  Abends  Electuarium  lenilivum  zur  Beförderung 


432 


II.  I)  ecoctam  Zittmnnni. 


des  Stuhlganges  nehmen  liefs,  mit  den  örtlichen  Mitteln 
aber  fortfuhr.  —  Die  Geschwüre  an  der  Stirne  waren 
in  der  besten  Heilung  begriffen,  das  an  der  Ala  narium 
bereits  vernarbt,  die  der  Arme  und  Schenkel  vernarbt, 
von  dem  am  Penis  befindlichen  furunkclartigen  Geschwür 
war  kaum  noch  eine  Spur  vorhanden,  — 

Erst  am  28.  October  begann  der  zweite  Cyclus 
der  Kur,  nachdem  die  Salivation  fast  ganz  cessirl  batte 
und  die  ursprünglichen  Geschwüre  sieb  in  der  besten  Hei¬ 
lung  befanden,  grofsentbeils  schon  vernarbt  waren.  —  Das 
Decoct  wurde  wieder  auf  dieselbe  Weise  angewandt,  nur 
liefs  ich  der  Nachmittagsportion  noch  eine  Unze  Infus,  sen- 
nae  compositum  hinzusetzen,  um  die  Einwirkung  auf  den 
Stuhl  zu  befördern.  —  Während  dieses  zweiten  Cyclus 
wurden  die  Slublausleerungen  reichlicher,  als  Maximum 
kann  ich  8,  als  Minimum  4  während  24  Stunden  ange¬ 
ben.  —  Die  Hautausdünstung  am  Morgen  im  Bette  war 
geringer,  der  Urinabgang  aber  ziemlich  bedeutend,  stets 
mit  einem  leichten  Sediment.  Salivation  trat  durchaus 
nicht  wieder  ein.  Die  Geschwüre  waren  sämmtlich  ge¬ 
heilt,  bis  auf  das  in  der  Mitte  der  Stirne;  die  der  Ala 
narium  und  der  Oberlippe  waren  noch  mit  dünnen  Kru¬ 
sten,  die  unter  sich  aber  durchaus  kein  Eiter  enthielten, 
bedeckt.  —  Am  2.  November  ward  die  Kur  durch  ein 
Laxans  beendigt.  —  Nachträglich  gab  ich  noch  ein  De¬ 
coctum  lignorum  zum  täglichen  Getränk,  nebst  karger, 
blander  Diät,  und  liefs  zugleich  die  vernarbten  Geschwüre 
(das  an  der  Stirne  war  auch  8  Tage  später  gut  vernarbt) 
mit  dem  Residuum  des  Decoct.  lignorum  waschen.  Da 
öfter  die  Oeffnung  träge  war,  so  wurde  zuweilen  der  Ge¬ 
brauch  des  Electuar.  lenitiv.  am  Abende  nüthig.  —  In 
dieser  Zeit  nun  war  cs,  dafs  der  Genesende,  durch  einen 
sehr  reichlichen  Appetit  verführt,  6ich  mehrfache  Diätfeh- 
Icr  zu  Schulden  kommen  liefs,  selbst  bei  dem  sehr  rau¬ 
hen  Wetter  sich  wiederholten  Erkältungen  aussetzte,  in¬ 
dem  er  gegeu  meinen  Befehl  das  Zimmer  verliefe.  —  Die 


II.  D  ecoctnm  Zittmanni. 


433 


Folgen  dieser  Unbesonnenheit  blieben  nicht  lange  aus.  — 
Die  Geschwüre,  bis  dabin  geschlossen  und  glatt  vernarbt, 
wurden  wieder  gereizt,  sie  öffneten  sich  wieder,  und  be¬ 
sonders  ward  die  Nase  durch  warzenförmige,  in  Ulcera- 
tion  rasch  übergebende  Excrcscenzcn  verunstaltet,  so  dafs 
ich  am  15.  November  von  neuem  das  Decoct.  Zittmanni 
in  Anwendung  ziehen  mufste.  Die  örtlichen  Mittel  wur¬ 
den  eben  so,  wie  früher,  fortgesetzt;  die  Diät  und  das 
ganze  Regimen  sehr  strenge  beobachtet,  so,  dafs  der  Kranke 
nun  sich  stets  zu  Bette  halten  mufste.  —  Obgleich  die 
Stuhlausleerungen  reichlich,  die  Urinsecretion  gehörig,  die 
Ilautausdünstung  sehr  stark,  besonders  am  Morgen  war, 
so  leistete  das  Decoct.  Zittmanni  doch  gar  nichts.  Die 
Geschwüre  nahmen  an  Umfang  und  Tiefe  zu,  an  Armen 
und  Schenkeln  brachen  die  alten  Narben  wieder  auf,  be¬ 
sonders  aber  verbreitete  und  vergröfserte  sich  das  Geschwür 
an  der  rechten  Ala  nasi  und  zerstörte  selbst  einen  Tbeil 
des  Knorpels.  —  Die  Schmerzen  in  den  ulcerirten  Stel¬ 
len  waren  heftig.  Am  24.  November  ward  dieser  dritte 
Cyclus  durch  ein  Laxans  beendigt.  —  Die  örtliche  Be¬ 
handlung  blieb  dieselbe,  nur  mit  der  Ausnahme,  dafs  ich 
täglich  einmal  mit  einer  leichten  Auflösung  des  Lap.  inf. 
die  Geschwüre  betupfte.  —  Innerlich  reichte  ich  ein 
Chinadecoct  mit  Schwefelsäure  neben  blander,  leicht  näh¬ 
render  Diät. 

Obgleich  die  Kräfte  des  Kranken  sich  hoben,  sein 
Körpervolumen  sich  wieder  vermehrte,  die  Oeffnung  regel- 
mäfsig  erfolgte,  der  Schlaf  ziemlich  gut  war,  so  vergröfser- 
ten  dennoch  die  Geschwüre  sich  langsamen  Schrittes,  und 

i 

nahmen  nun  mehr  das  ausgefressene  Ansehen  scrophulöser 
Geschwüre  an.  —  Bemerken  mufs  ich  indessen  dafs  das 
Zimmer,  in  welchem  der  Kranke  sich  aufhielt,  höchst 
kalt  gelegen  und  einer  perpeluellen  Zugluft  ausgesetzt  war; 
bemerken  mufs  ich  zugleich,  dafs  der  Kranke  öfters  Diät- 
fehler  beging,  so  oft  und  viel  ich  ihn  auch  warnte.  So 
zog  sich  das  Uebel  mit  langsamem  Fortschreiten  durch  den 


434 


II.  Dccoctnm  Zittraanni. 


Dcrember  hin;  das  Exlractum  ronii  maculati,  welches  icli 
in  Pillenform  und  in  steigender  Dosis  anwandte,  schien 
eine  Zeitlang  einen  günstigen  Einfluis  auf  die  Geschwüre 
auszuüben,  jedoch  bald  verschlimmerten  sich  dieselben  wie¬ 
der,  so  dafs  Ende  Dccember  die  linke  Ala  narium  fast 
ganz  zerstört  war.  —  Die  örtliche  Anwendung  einer  So* 
lution  des  Nairum  chloricum  fruchtete  auch  nichts,  die 
Warzenbildung  an  der  Nase,  an  der  Oberlippe  und  au  der 
Stirne  nahm  zu.  —  Der  Kranke  war  in  Verzweiflung.  — 
Ich  beschlofs,  die  Inunctiomkur  nunmehr  anzuwenden,  und 
schlug  dies  dein  Kranken  vor.  —  In  seiner  Behausung 
aber  war  die  Ausführung  dieses  Vorhabens  ganz  unmög¬ 
lich,  und  da  es  mir  durch  die  gütige  Vermittelung  des 
Herrn  Dr.  Frickc  möglich  war,  dem  Kranken  die  Auf¬ 
nahme  in  das  Hamburger  allgemeine  Krankenhaus  zu  ver¬ 
schaffen,  so  übergab  ich  ihn  am  16.  Januar  1S3‘2  der  Be¬ 
handlung  des  Hrn.  Dr.  Fr  icke,  der  mit  der  gröfsten  Sorg¬ 
falt  sich  des  der  Verzweiflung  nahen  Kranken  annahm.  — 
Unter  der  sehr  sorgfältigen  Behandlung  des  Hrn.  Dr.  Fr. 
gelang  die  Heilung  des  Kranken  vollkommen  nach  regel- 
mäfsig  angewandter  Inu  net  ionskur.  —  Am  5ten 
April  ist  der  Genesene  aus  dem  Hamburger  Krankenhause 
entlassen  und  nach  Altona  zuruckgekehrt.  —  Er  befin¬ 
det  sich  jetzt  sehr  wohl,  sämmliiehe  Geschwüre  sind  aufs 
beste  vernarbt,  indessen  haben  die  Narben  noch  stets  ein 
etwas  kupferiges  Aussehen ;  die  Verdauung  ist  vollkommen 
regulirt,  der  A'ppetit  sehr  stark.  —  Die  gröfste  Vor¬ 
sicht  hinsichtlich  der  Diät  wurde  noch  fortwährend  beob¬ 
achtet.1  —  August  1S33:  Der  Genesene  befindet  sich 
dauernd  wohl. 

Worin  es  lag,'  dafs  in  diesem  Falle  das  Zittmann- 
sche  Dccoct  seinen  so  bewährten  Ruhm  nicht  behauptete, 
weifs  ich,  aufrichtig  gestanden,  nicht  mit  Bestimmtheit  zu 
sagen.  Man  hätte  glauben  sollen,  dafs  dieser  mit  scrophu- 
löscr  Dyscrasie  complicirtc  Fall,  der  mehr  in  der  Haut 


II.  D  ccoctum  Zittmanni. 


435 


wurzelte,  gerade  zur  Anwendung  dieses  Mittels  recht  ge¬ 
eignet  gewesen  wäre,  besonders  da  vorher  schon  viel ,  und 
unregelmüfsig,  Mercur  gebraucht  war.  Dennoch  war  dem 
nicht  so.  —  Das  Zittmannsche  Decoct  leistete  hier 
allerdings  im  Anfänge  etwas,  viel  vielleicht,  da  sämmt- 
liche  Geschwüre  vernarbten  und  der  Kranke  sich  übrigens 
sehr  wohl  befand;  —  alleiu  diese  Genesung  war  nur  von 
kurzer  Dauer.  Sei  es,  dafs  die  Diätfehler  jenes  Rccidiv 
zuwege  brachten,  sei  cs  dafs  eine  sehr  heftige,  mit  Be¬ 
stimmtheit  nachzuweisende  Erkältung  Veranlassung  der  spä¬ 
ter  eintretenden  Verschlimmerung  war;  so  bleibt  es  doch 
factisch,  dafs  die  dritte  Anwendung  des  Decocts  eigentlich 
ganz  nutzlos  blieb,  obgleich  dieselbe  mit  der  gröfsten 
Strenge  durchgeführt  ward.  —  Ueberfütterung  mit  Mercur, 
woran  man  wohl  nach  dem  Verausgegan^enen  hätte  den¬ 
ken  können,  kann  auch  nicht  statt  gehabt  haben,  sonst 
wäre  ja  wohl  die  Inunctionskur ,  während  welcher  der 
Kranke  auf  eine  enorme  Weise  saiivirte,  und  die  heftigste 
Mercurialgeschwulst  der  Zunge  und  des  Gaumens  hatte, 
die  man  nur  bei  einem  Inunctionspatienten  sehen  kann, 
ebenfalls  fruchtlos  gewesen.  —  Und  doch  hat  gerade 
diese  den  Kranken  hergestellt.  —  Wollte  ich  in  mei- 
*  nem  Raisonnement  weiter  gehen,  so  würde  ich  nur  zu 
leicht  mich  in  das  vage  Gebiet  der  Conjecturcn  verlie¬ 
ren.  —  Genug  —  der  Kranke  ist  jetzt  (und  hoffentlich 
nicht  blofs  temporär)  geheilt.  —  Vielleicht  hat  mein  Re- 
censcnt  mir  richtigere  Ansichten  über  diesen  Krankheits¬ 
fall  mitzutheilen,  als  die  von  mir  vorgetragenen.  Mit 
vielem  Danke  würde  ich  hier  jede  Belehrung  entgegen¬ 
nehmen. 

Elfter  Fall. 

Herr  Capitain  S.,  46  Jahre  alt,  sehr  cholerischen  Tem¬ 
peraments,  früher  ein  sehr  kräftiger  Mann,  der  auf  seinen 
weiten  Reisen  nach  Ost-  und  Westindien,  so  wie  wäh¬ 
rend  eines  längeren  Aufenthaltes  in  Nord- Amerika  sich 


436 


II.  Decoctum  Zittmanni. 


allen  möglichen  nachtheiligen  Einflüssen  des  Klima’s  und 
der  Lebensweise  ausgesetzt  hatte,  ward  im  Jahre  1827 
genöthigt,  in  Laguagra  seinen  temporären  Aufenthalt  zu 
nehmen.  —  In  manche  politische  Angelegenheiten  durch 
seine  Verbindungen  mit  dem  Präsidenten  Bolivar  hincin- 
gezogen,  fehlte  es  nicht  an  Gemiithsbewegungen  mancher¬ 
lei  Art,  die  dem  sehr  reizbaren,  alles  mit  der  gröfsten 
Heftigkeit  erfassenden  Manne  wiederholte  Unpäßlichkeiten 
zuzogen,  Welche  sämmtlich  von  den  gastrischen  Organen, 
besonders  von  der  Leber,  ausgingen.  —  Nachdem  seine 
Familie  ihm  nachgereist  war,  häuften  sich  die  Sorgen; 
jene  Beschwerden  traten  stärker  und  häufiger  ein,  ein  hef¬ 
tiger  Rheumatismus,  veraulafst  zuerst  durch  eine  während 
der  Regenzeit  schleunig  unternommene  sehr  angreifende 
Reise,  gesellte  sich  hinzu,  und  das  Befinden  des  Kranken 
verschlimmerte  sicli  mehr  und  mehr.  Im  Anfänge  des 
Jahres  1831  war  cs,  als  derselbe,  nach  vorausgegangenem, 
sehr  heftigen  Kopfschmerz,  gegen  welchen  starke  Ader¬ 
lässe  und  grofse  Dosen  von  Caloincl  angewandt  wurden, 
zu  beiden  Seiten  der  Stirne,  etwa  einen  Zoll  oberhalb  der 
Glabella,  eine  schmerzhafte  Anschwellung  bemerkte.  Zu¬ 
gleich  bildeten  sich  Anschwellungen  in  der  Mitte  der  Ti¬ 
bia  beider  Unterschenkel  und  an  dem  oberen  Ende  der 
Ulna  des  linken  Armes,  und  gleichzeitig  trat  eine  förm¬ 
liche  Contractur  der  Finger  und  Handgelenke,  so  wie  der 
Füfse  und  Zehen  ein.  —  Die  Verdauung  war  sehr  ge¬ 
stört,  der  Kranke  magerte  ab,  hatte  wenig  Appetit,  und 
war  sehr  niedergeschlagen;  der  Schlaf  ward  durch  die  an¬ 
haltenden,  besonders  Nachts  vermehrten  Schmerzen  sehr 
gestört.  —  Sein  Wunsch  war  nun,  nach  Europa  zurück¬ 
zukehren,  und  nachdem  er  mit  grofser  Mühe  seine  dorti¬ 
gen  Verbindungen  gelöst  hatte,  rcalisirtc  er  denselben,  und 
kam  nach  einer  sehr  glücklichen  Fahrt  im  Julius  1831  in 
Altona  an.  Es  war  am  26.  Julius,  als  ich  den  Kranken 
zum  erstcnmalc  sah.  —  Ich  kann  nicht  läugnen,  dafs  der 
Anblick  des  Mannes  einen  ganz  cigcnthüiniichcu  Eindruck 

auf 


II.  D  ccoctnm  Zittmanni. 


437 


auf  mich  machte.  —  Ein  sehr  ausdrucksvolles  Gesicht, 
mit  sehr  markirten  Zügen,  die  Farbe  ^bcr  erdfahl,  dabei 
schwarze  Augen,  die,  namentlich  beim  lebhaften  Reden, 
ungewöhnlich  glänzten,  gleichsam  brannten;  kohlschwarze 
Augenwimpern  und  Augenbraunen  neben  grauweißem,  nur 
mit  einzelnen  schwarzen  Haaren  untermischtem  Haupthaar 
und  Backenbart.  —  Die  Stirne  bis  fast  zum  Hinterhaupte 
kahl,  und  auf  den  Stirnbeinen  zu  jeder  Seite  eine  Promi¬ 
nenz  von  der  Gröfse  eines  Gänseeies  auf  der  rechten,  von 

_  i  '  / 

der  eines  Taubeneies  auf  der  linken  befindlich,  wodurch 
der  ganze  Schädel  wirklich  etwas  Hörnerartiges  erhielt, 
und  das  sonst  sehr  interessante  Gesicht  auf  unangenehme 
Weise  entstellt  ward.  —  Bei  genauerer  Untersuchung 
fand  ich  auf  dem  rechterseits  befindlichen  Tumor  eine 
kleine,  abgestorbenes  Zellgewebe  mit  übelriechendem  Eiter 
Vermischt  enthaltende  Oelfnung,  den  linkerseits  deutlich 
fluctuirend.  —  Zugleich  bemerkte  ich  deutlich,  dafs 
diese  Anschwellungen  offenbar  von  der  Knochenhaut  aus¬ 
gingen.  An  dem  vorderen  Theile  der  Tibia  beider  Unter¬ 
schenkel  waren  ebenfalls  Auftreibungen  der  Knochenhaut 
zugegen,  nicht  minder  am  Oberarme  linkerseits  und  in  der 
Mitte  des  Radius  rechterseits.  Heftige  Knochenschmer¬ 
zen  raubten  Nachts  allen  Schlaf.  Die  Verdauung  war  träge, 
der  Kranke  fühlte  sich  sehr  ermattet  und  febricitirte  ei¬ 
gentlich  fortwährend.  —  Er  erzählte  mir  auf  mein  Be¬ 
fragen,  dafs  er  früherhin  allerdings  wiederholt  an  Trippern 
gelitten,  nie  aber  von  einem  Geschwür  an  den  Genitalien 
heimgesucht  worden  sei.  Jene  Tripper  hätten  sehr  lange 
angehalten,  wären  aber  später,  ohne  örtliche  Folgen  zu 
hinterlassen,  allmählig  verschwunden.  *— •  Zu  Erkältungen 
aber  sei  er  seit  langer  Zeit  sehr  geneigt  gewesen,  habe 
wiederholt  das  Klima -Fieber  überstanden,  und  habe  in  der 
wärmeren  Zone  häufig  an  Verdauungsbeschwerden  gelit¬ 
ten.  —  Die  Diagnose  war  hier  wahrlich  nicht  leicht. 
Nachdem  ich  den  Kranken  mehre  Tage  hindurch  beobach¬ 
tet,  die  zweite  Kopfgeschwmlst  durch  einen  ergiebigen 
Band  28*  Heft  4.  29 


U.  Decoctum  Zittmanni. 


438 

Schnitt  gcölliict,  und  \  icl  abgestofsencs  übelriechendes  Zell¬ 
gewebe  aus  derselben  entleert  hatte,  wobei  ich  örtlich 
nur  das  Ungucut  saturninuin  zum  \  erbandc  anwandtc,  be- 
schlofs  ich  vorläufig  von  einem  Aufgüsse  der  Sarsaparilla 
mit  Zusatz  von  etwas  Fol.  scnnac  Gebrauch  zu  machen. 
Als  Palliativa  wurden  Abends  kleine  Dosen  Dovcrschcn  Pul¬ 
vers  zur  Linderung  der  nächtlichen  Knochcnschmerzen  ge¬ 
reicht.  —  Mit  diesen  Ali t tcln  fuhr  ich  einige  Wochen 
fort,  örtlich  t ha t  ich  so  wenig  als  möglich,  beobachtete 
aber  den  Kranken,  dessen  Diät  natürlich  sehr  genau  regu- 
lirt  war,  sorgfältig.  Schon  während  dieser  Zeit  ward  das 
Ansehen  des  Kranken  besser,  die  Ausleerungen  reichli¬ 
cher,  die  nächtlichen  Schmerzen  geringer.  —  Ich  ge¬ 
wann  am  Ende  die  Ueberzeugung,  cs  hier  weniger  mit 
einer  syphilitischen,  als  vielmehr  mit  einer  arth ri tischen 
Affection  zu  tliun  zu  haben,  die  durch  ein  chronisches  Le- 
berleidcu  vielleicht  hervorgebracht,  wenigstens  aber  un¬ 
terhalten  und  vermehrt  sei.  —  Eine  Umstimmung  des 
ganzen  Organismus  schien  mir  zur  Heilung  der  Dyscrasie 
durchaus  erforderlich,  und  ich  wählte  in  diesem  Falle  das 
Zittmannsche  Dccoct  um  so  lieber  zu  diesem  Zwecke,  da 
ich  cs  erstlich  mit  einem  Knochenleiden  zu  thuu  hatte, 
zweitens  aber  auch  nicht  so  ganz  sicher  war,  ob  doch 
nicht  irgend  eine  veraltete  syphilitische  Affection  mit  im 
Spiele  sei.  —  Bemerken  mufs  ich  noch,  dals  das  Stirn¬ 
bein,  nach  genauer  Untersuchung  mit  der  Sonde,  an  den 
beiden  Stellen  der  gröfscren  Anschwellungen  sich  ober¬ 
flächlich  cariös  fand.  — 

Die  Kur  begann  am  11.  August  mit  einem  Laxans  aus 
Kali  tartar.  und  Jalappe.  Am  folgenden  Tage  ward  das 
Zittmannsche  Dccoct  getrunken,  und  überhaupt  der  ganze 
Cyclus  der  Kur  auf  die  oben  angegebene  Weise  durchge¬ 
führt.  Die  Diät  ward  sehr  strenge  befolgt.  Die  ulcerir- 
ten  Steilen  am  Stirnbein  verband  ich  blol’s  mit  einfacher, 
in  warmes  Wasser  getauchter  Charpie.  —  Während  des 
ersten  Cyclus  der  Kur  war  die  Ilautausdüustung  am 


If.  D  ecoctnm  Zittmanni. 


439 


Morgen  beim  Genüsse  des  warmen  Decocts  sehr  reichlich, 
der  Urinabgang  sparsam,  die  Stuhlausleerungen  Nachmit¬ 
tags  reichlich;  das  Minimum  derselben  war  3,  das  Maxi¬ 
mum  12.  —  Vorboten  des  Speichelflusses  stellten 

sich  am  achten  Tage  der  Kur  ein,  verloren  sich  aber  bald 
heim  örtlichen  Gebrauche  eines  Infus,  salviae,  und  erschie¬ 
nen  nachher  auch  nicht  wieder.  —  Merkwürdig  war  es 
mir,  wie  während  der  letzten  Tage  dieses  ersten  Cyclus 
die  nächtlichen  Knochenschmerzen  bereits  fast  ganz  ver¬ 
schwunden,  die  Tophi  an  den  Extremitäten  kleiner  und 
scheinbar  weicher  geworden  waren,  und  die  cariösen  Ge¬ 
schwüre  am  Stirnbein  ein  viel  gesunderes  Ansehen  ange¬ 
nommen  batten,  nachdem  sich  viel  abgestorbenes  Zellge¬ 
webe  abgestofsen  hatte.  Der  hier  secernirte  Eiter  hatte 
jetzt  schon  einen  durchaus  blanden  Geruch.  —  Die  Haut 
des  Kranken  hatte  jenen  graugelblichen  Teint  fast  ganz  ver>- 
loren.  Der  Appetit  stellte  sich  in  hohem  Grade  ein»,  so 
dafs  es  aller  Philosophie  bedurfte,  den  Kranken  bei  der 
schmalen  Diät  zu  halten.  —  Nach  beendigtem  ersten 
Cyclus  interponirte  ich  acht  volle  Tage,  während  welcher 
der  Kranke  ein  Sarsaparilladecoct  trank,  und  von  dünner 
Kalbfleischsuppe  lebte.  —  Im  Oertlichen  ward  nichts 
geändert. 

Am  6.  September  begann  der  zweite  Cyclus  der  Kur. 
Diesmal  war  die  Hautausdünstung  viel  geringer,  die  Urin- 
seerction  bei  weitem  reichlicher,  besonders  aber  die  Stuhl- 
ausleerungen,  deren  Minimum  5,  das  Maximum  aber  16 
innerhalb  24  Stunden  war,  so  dafs  ich  einmal,  des  hefti¬ 
gen  damit  verbundenen  Tcnesmus  wegen,  eine  Dosis  Pul¬ 
vis  Doveri  zu  geben  genöthigt  war.  — -  Mit  einem  Laxans 
aus  Kali  tartar.  und  Jalappe  ward  die  Kur  beendigt;  na¬ 
türlich  nachher  noch  stets  eine  blande  Diät  beobachtet, 
so  dafs  der  Kranke  nur  sehr  langsam  zu  einer  reichlicbe- 
, ren  Diät  überging.  —  Er  war  höchst  abgemagert,  sehr 
matt,  fühlte  sich  übrigens  aber  wohler,  als  seit  vielen 
Jahren.  Die  Gesichtsfarbe  war  wieder  frisch,  die  Zunge 

29  * 


I 


440  IT.  Decoctum  Zlttmanni. 

rein,  jede  Spur  von  Leberlcidcn  verschwunden.  - —  Die 
Sedes  waren  jetzt,  ohne  befördernde  Mittel,  sehr  gere¬ 
gelt.  Fast  alle  Tophi  waren  resorhirt,  einen  einzigen  am 
rechten  Schienbein  ausgenommen,  der,  wenngleich  ver¬ 
kleinert,  dennoch  hei  der  Berührung  sich  erkennen  liefs, 
und  leicht  schmerzte.  Von  den  nächtlichen  Knochcnschmer- 
zen,  besonders  von  den  im  Stirnbein  und  Ilinterkopfe 
haftenden,  war  gar  keine  Rede  mehr.  Die  Oeffnung  de9 
mittleren  cariösen  Geschwüres  hatte  sich  bei  dem  einfa¬ 
chen  Verbände,  nachdem  ein  dünnes  Blättchen  des  Kuo- 
chens  abgestofsen  war,  von  selbst  geschlossen,  jene  horn- 
artigen  Erhöhungen  zu  beiden  Seilen  der  Stirne  waren 
verschwunden,  die  noch  bestehenden  Wunden  eiterten 
mäfsig ,  sonderten  aber  einen  durchaus  blanden,  nicht  übel¬ 
riechenden  Eiter  ab.  Die  Sonde  entdeckte  hier  fortwäh¬ 
rend  Rauhheit  der  oberen  Lamelle  des  Stirnbeins.  —  Ich 
befeuchtete  die  zum  Verbände  angewandte  Charpic  mit 
Liquamen  Myrrhae,  und  liefs  noch  mehre  Monate  hin¬ 
durch  ein  Decoctum  China«  mit  Acid.  phosphor.  dilutum 
gebrauchen,  neben  einer  blanden,  aber  mäfsigen  Diät.  — 
So  verging  der  gröfste  Theil  des  Winters  wah¬ 

rend  welchen  der  Kranke  bei  mäfsiger  Bewegung  in  freier 
Luft  sich  verhältnifsmäfsig  wrnhl  befand,  an  Kräften  zu¬ 
nahm,  und  hauptsächlich  nur  noch  über  eine  zurückge¬ 
bliebene  Steifigkeit  der  Hände,  Finger,  der  Fiifse  und  Ze¬ 
hen  zu  klagen  hatte.  —  Er  gewann  wieder  Embonpoint, 
und  hat  jetzt  ein  sehr  stattliches  Aussehen.  Die  beiden 
Oeifnungcn  der  früheren  Geschwüre  am  Stirnbein  sind 
noch  uicht  ganz  geschlossen,  aber  sehr  verkleinert,  ab  und 
zu  stofsen  sich  kleine  Parthiccn  der  oberen  cariösen  Lamel¬ 
len  des  Stirnbeines  ab,  darunter  aber  befinden  sich  ge¬ 
sunde  Granulationen,  und  von  Woche  zu  Woche  verklei¬ 
nern  sich  diese  restircudcn  Geschwüre  mehr  und  mehr. 
Sic  schmerzen  durchaus  gar  nicht.  —  Ich  lasse  den  Ge¬ 
nesenden  jetzt  von  Schwefelbädern  Gebrauch  machen,  um 
die  noch  übrig  gebliebenen  Reste  der  arthritischcn  Cou- 


/ 

m  9  i 

1 f.  Decoctum  Zittmanni.  441 

tracluren  der  Hände  und  Füfse  zu  tilgen,  daneben  wird 
das  aus  Thierknochen  bereitete  Oel  (Oleum  animale  co- 
ctum)  Morgens  und  Abends  in  die  ungelenkigen  Parthiecn 
eingerieben.  —  Innerlich  wird  nichts  gereicht;  alle  vier 
W  ocheu  etwa  ein  salinisches  Laxans.  Fortwährend  aber 
wird  eine  blande  Diät  und  gehöriges  Regimen  im  weite¬ 
sten  Sinne  des  Wortes  beobachtet.  Tägliche  Bewegung  in 
freier  Luft,  wenn  es  irgend  die  Witterung  erlaubt.  — 
Ich  hoffe,  in  wenigen  Monaten  die  noch  restirenden  Ge¬ 
sell  würsölfnungen  geschlossen  und  den  Kranken  ganz  her¬ 
gestellt  zu  sehen,  uud  werde  dann  das  etwa  Nachträgliche 
dieses  mir  sehr  interessanten  Falles  initzutkeilcn  nicht  ver¬ 
säumen.  — 

Jetzt,  im  August  1833,  ist  der  Kranke  dieses  Falles 
vollkommen  hergestellt.  Nachdem  sich  mehre  kleine  Kno¬ 
chenstückchen  von  der  oberen  Tafel  des  Stirnbeins  nach 
und  nach  abgestofsen  haben,  sind  die  beiden  Geschwür- 
öilnungen  geschlossen,  die  Steifigkeit  der  Hände  und  Füfse 
ist  fast  vollkommen  beseitigt,  die  Verdauung  vortrefflich, 
mit  einem  Worte,  der  Genesene  so  wohl,  wie  er  seit 
vielen  Jahren  nicht  gewesen. 

Zwölfter  Fall. 

Herr  J.,  Ilandlungsreisender,  32  Jahre  alt,  sanguinisch- 
cholerischen  Temperaments,  kam  am  10.  October  1831  in 
die  Behandlung  meines  Collegen,  des  Hrn.  Dr.  S trübe  in 
Altona.  Der  Kranke  hatte  seit  seiner  Mannbarkeit  der 
Venus  und  dem  Bachus  stark  geopfert.  Siebenmal  war 
er  vom  Tripper  heimgesucht  worden,  und  zweimal  von 
syphilitischen  Geschwüren  an  der  Eichel  und  der  Vorhaut. 
Behandelt  war  er  während  dieser  Affection  von  verschie¬ 
denen  Aerzten  Kopenhagens,  Stockholms  und  Hamburgs; 
hatte  sich  jedoch,  seinem  eigenen  Geständnisse  zufolge, 
nie  sonderlich  genau  au  die  diätetischen  Vorschriften  sei¬ 
ner  Aerzte  gekehrt.  — 


442 


IF.  Decoctum  Zittmanni. 


Im  August  1831  zog  J.  sich  in  Hamburg  eine  Gonor- 
rhoca  zu,  welche  er  sich  durch  einen  Apothekergehülfen 
sehr  rasch  (innerhalb  9  Tagen)  curiren  liejs.  Wodurch? 
bleibt  unbekannt.  —  Nach  einigen  Wochen  aber  stellte 
sich  von  neuern,  ohne  neue  Ansteckung,  ein  Ausfluß»  aus 
der  Harnröhre  mit  sehr  lästigem  Jucken  an  der  sehr  engen 
Vorhaut  ein.  Von  einem  zu  Rathe  gezogenen  Arzte  Ko¬ 
penhagens  wurden  innerlich  Cubeben,  örtlich  Waschungen 
der  Vorhaut  mit  Aqua  nigra,  nachher  Calomelpulver  ver¬ 
ordnet,  dabei  Diät,  welche  von  dem  Kranken  aber  nicht 
gehalten  ward.  —  Bei  der  Zurückkuuft  des  Kranken 
nach  Hamburg  fand  Hr.  Dr.  S  trübe  an  der  inneren  Fläche 
des  sehr  gcröthelen  Praeputii ,  in  der  Nähe  des  Frenulums, 
ein  linsengrofses,  speckiges  Geschwür  mit  harten  Rändern; 
dabei  Spannung  in  beiden  Leistengegenden,  indessen  kei¬ 
nen  Außflufs  aus  der  Harnröhre.  —  Spuren  von  Saliva- 

% 

tion  waren  nicht  zugegen,  im  Schlunde  nichts  Krankhaftes 
au  entdecken. 

Der  Gebrauch  des  Calomel  ward  vorläufig  ausgesetzt, 
dem  Kranken  eine  strenge  Diät,  die  bis  dahin  während 
der  Reise  sehr  vernachlässigt  war,  empfohlen,  der  örtliche 
Gebrauch  der  Aqua  nigra  aber  fortgesetzt.  —  Dies  war 
am  10  October. 

Am  18.  October  sah  der  behandelnde  Art  den  Kran¬ 
ken  wieder.  Das  Geschwür  am  Praeputio  hatte  sich  ver¬ 
kleinert,  die  Inguinaldrüscn  waren  jedoch  mehr  geschwol¬ 
len,  ohne  sonderlich  schmerzhaft  zu  sein.  —  Seit  vier 
Tagen  waren  Ilalsschmerzcn  eingetreten  ,  die,  bei  genauer 
Untersuchung,  von  mehren  speckigen  Geschwüren,  welche 
an  der  Uvula,  so  wie  am  Arcus  palati  mollis  ihren  Sitz 
hatten,  herrührten.  —  Der  Kranke  hatte  während  der 
letzten  Woche  unmäfsig  Wein,  auch  Branntwein  getrun¬ 
ken.  — -  Es  wurde  nun  Sublimat  nach  Dzondi’s  Me¬ 
thode  neben  einem  Dccoct.  Spcc.  lignor.  mit  Zusatz  von 
Radix  cbinac  angewandt,  dabei  karge  Kost,  und  örtlich 
zum  Gurgeln  und  Ausspülen  des  Mundes  lauer  Thoc  cm- 


If.  Decoctum  Zittmanni. 


443 


pfohlcn.  Die  Verhältnisse  des  Kranken  gestatteten  indes¬ 
sen  weder  Hausliiiten,  noch  regelmäfsige  Beobach lung  der 
diätetischen  Vorschriften.  Dennoch  waren  nach  viertägi¬ 
ger  Anwendung  des  Sublimats  die  Halsschmerzen  ver¬ 
schwunden,  die  Geschwüre  im  Rachen  reiner  geworden, 
das  ersle  ursprüngliche  Geschwür  am  Praeputio  vernarbt. 
Aut  die  noch  angescliwollcnen  Inguinaldrüsen  ward  ein 
Ammoniacpflaster  gelegt,  übrigens  die  Kur  fortgesetzt. 
Am  neunten  Tage  derselben  stellten  sich  die  Vorboten  des 
Speichelflusses  ein,  weshalb  acht  Tage  hindurch  der  Su¬ 
blimat  ausgesetzt  wurde.  —  Mit  dem  Decoctum  lignorum 
fuhr  der  Kranke  indessen  fort,  und  erhielt  ein  Abführmit¬ 
tel  aus  Jalappe  und  Gummi  guttae.  —  Nach  erneuertem 
achttägigen  Gebrauche  des  Sublimats,  und  dem  örtlichen 
Gebrauche  eines  Decoct.  ulmi  als  Mundwasser,  waren  auch 
die  Geschwüre  des  Rachens  gut  vernarbt  und  jeder  ]lals- 
schmerz  verschwunden.  Es  ward  nun  der  Sublimat  in  ab¬ 
nehmender  Dosis  noch  drei  Tage  hindurch  fortgesetzt,  dar¬ 
auf  ein  Decoctum  chinae  mit  Calmus  gegeben,  und  nach 
acht  Tagen  der  Kranke  mit  den  besten  Warnungen,  be¬ 
sonders  hinsichtlich  der  Diät,  aus  der  Kur  entlassen.  — 
Sechs  Wochen  später  suchte  Herr  J.  die  Hülfe  seines 
Arztes  von  neuem  nach,  über  einen  lästigen  Catarrh  kla¬ 
gend.  —  Kaum  genesen,  hatte  Herr  J.  unmäfsig  getrun¬ 
ken,  stark  geraucht,  einmal  auch  den  Coitus  mit  einer 
Gassendirne  vollzogen.  —  Der  Grnnd  des  angeblichen 
Catarrhs  waren  neue  Rachengeschwüre,  die  sich  besonders 
an  der  rechten  Seite  des  Arcus  palatinus  hinab  verbreite¬ 
ten  ,  und  wobei  der  ganze  Rachen  stark  gereizt  und  ge- 
röthet  erschien.  —  Die  Inguinaldrüscn  .waren  nicht  mehr 
geschwollen,  am  Penis  kein  neues  Geschwür  entstanden, 
das  alte  dauernd  vernarbt.  Die  Snblimatkur  wurde  nun 
von  neuem  begonnen,  strenge  Diät  angeordnet,  die  aber 
nicht  gehalten  wurde.  Eben  so  wenig  war  der  Kranke 
zu  Hause  zu  hallen.  —  Dennoch  ging  difc  Heilung  der 
Ilalsgeschw'üre ,  freilich  langsam,  von  statten,  und  zwar  so, 


444 


If.  Decoctum  Zittmanni. 


dafs  erst  nach  sechs  Wochen  der  Kranke  aus  der  Kur  ent¬ 
lassen  werden  konnte.  Allein  schon  vier  Wochen 

später  meldete  er  sich  von  neuem  hei  seinem  Arzte,  über 
6chr  heftige  Ilalsschmcrzeii,  namentlich  an  der  rechten 
Seite,  und  gleichzeitiges  unerträgliches  Ohrcnreifsen,  so 
wie  über  ein  höchst  lästiges  Gefühl  von  Trockenheit  des 
Hachens  klagend.  —  Es  fand  sich  an  der  rechten  Seite, 
dicht  neben  der  Mündung  der  Eustachischen  Röhre,  ein 
kleines  speckiges  Geschwür,  der  ganze  Rachen  aber  war 
sehr  gerüthet,  ohne  eigentlich  ulcerirt  zu  sein. 

Um  diese  Zeit  war  cs,  als  mein  Freund  Hr.  Dr.  S trübe 
in  Altona,  dem  ich  auch  die  genaue  Mittheilung  dieser 
Krankengeschichte  verdanke,  mir  den  Kranken  vorstcllte, 
uin  meine  Meinung  über  die  Natur  und  über  die  zweck- 
mäfsigstc  Behandlung  des  Uchels  zu  hören.  —  Ich  war 
nach  genauerer  Untersuchung  und  genauem  Krankenexamen 
überzeugt,  es  hier  mit  einer  nie  vollkommen  gehobenen 
veralteten  syphilitischen  Affection  zu  tbun  zu  haben,  zu¬ 
gleich  aber  auch  mit  einer  Mercurialkrankheit,  hervorge¬ 
bracht  durch  den  unregelmüfsigcn  Gebrauch  des  Mercurs 
von  Seiteu  des  Kranken,  und  Vernachlässigung  des  bei 
diesem  Gebrauche  so  noMiwendigeu  Regimen«.  Nur  eine 
euergische  Kur  konnte  liier  radicale  Hülfe  bringen.  Ich 
schlug  deshalb  das  Decoctum  Zittmanni  vor,  zu  dessen 
genauem  Gebrauche  der  Kranke  sich  auch  verstand.  — 
Vorher  erhielt  derselbe  4  läge  hindurch  ein  Sarsaparillcn- 
decoct  mit  Acid.  nitr.  di  lut. ,  neben  strenger  Diät. 

Am  4.  Januar  1832  begann  nun  die  Kur,  bei  welcher 
natürlich  aufs  strengste  das  Zimmer  gehütet  ward,  und 
zwar  so,  dafs  der  Krauke  \ormittags  das  Bette  nicht  ver¬ 
lassen  durfte.  —  Die  Kur  selbst  ward  genau  nach  der 
früher  schon  gegebenen  Beschreibung  geregelt.  —  Nach 
vier  Tagen  waren  die  Ilalsschmerzcn  der  rechten  Seite 
verschwunden,  das  Geschwür  hatte  ein  reines ‘Ansehn  ge¬ 
wannen.  Oerllich  ward.nnn  blofs  lauwarmer  Thce  ange¬ 
wandt.  —  Am  Tage  des  zweiten  Laxans  bekam  der 


\ 


II.  Decoctum  Zittmanni.  445 

Kranke  Schmerzen  an  der  linken  Seite  des  Rachens,  und 
bei  genauer  Untersuchung  fand  sich  hier  das  früher  ver¬ 
narbte  Geschwür  am  Arcus  palati  wieder  geöffnet,  ohne 
jedoch  einen  speckartigen  Grund  zu  zeigen.  Es  blieb  fünf 
Tage  hindurch  geöffnet,  vernarbte  dann  aber  rasch  zugleich 
mit  dem  Geschwüre  der  rechten  Seite,  so  dafs  am  fünf¬ 
zehnten  Tage  der  Kur  alles  aufs  schönste  vernarbt,  und 
jeder  Schmerz,  so  wie  jede  entzündliche  Spannung  des 
Rachens  verschwunden  war.  Oertlich  wurde  nun  Roth- 
wein  und  laues  Wasser  zum  Ausspülen  des  Mundes  und 
zum  Gurgeln  angewandt.  Nachdem  der  erste  Cyclus  der 
Kur  vollendet,  ward  ein  freier  Tag  interponirt,  dann  aber 
sogleich  zum  zweiten  Cyclus  geschritten,  um  mit  Sicher¬ 
heit  jede  syphilitische,  so  wie  jede  Mercurial-Dyscrasie 
zu  tilgen.  —  Die  gröfste  Anzahl  der  Stuhlausleerun¬ 
gen  in  24  Stunden  betrug  9,  die  geringste  3,  die  mitt¬ 
lere,  mit  Einschlufs  der  einzelnen  Laxirtage,  betrug  4.  — 

Salivation  trat  während  der  Kur  nicht  ein,  doch  fand 

•  .  .  .  .  '  m 
sich  ein  ziemlich  starker  Mercurialgeruch  am  18ten  Tage 

derselben  ein,  welcher  etwa  drei  Tage  hindurch  anhielt, 
und  dann  von  selbst  verschwand.  Die  Transpiration  war 
nur  in  der  ersten  Ilälfte  der  Kur  beträchtlich,  besonders 
Morgens,  während  der  zweiten  Hälfte  dagegen  kaum  zu 
bemerken.  Die  Urinsecretion  war  sehr  reichlich,  be¬ 
sonders  während  des  zweiten  Cyclus.  — 

Nach  beendigter  Kur  mul'ste  der  Genesende  noch  fünf 
Tage  lang  das  Zimmer  hüten,  und  durfte  nur  sehr  allinäh- 
lig  zu  einer  kräftigeren  Diät  übergehen.  Zur  Nachkur  er¬ 
hielt  er  ein  Decoctum  chinae  mit  Elixir.  acid.  Ilalleri.  — 
Herr  J.  hat  jetzt  (März  1832)  ein  gesundes  Ansehen  wie¬ 
der  erhallen,  fühlt  sich  kräftiger  und  wohler,  als  seit  lan¬ 
ger  Zeit,  und  steht  seinem  Geschäfte  mit  neuer  Thätigkeit 

wieder  vor.  — - 

/ 


V  • 


446 


II.  Decoctum  Zittmnnni. 


Drei zcli nt  er  Fall. 

Herr  II.,  Vorsteher  einer  chemischen  Febrile,  25  Jahre 
alt,  mager  und  zur  Melancholie  sehr  geneigt,  früher  Ona¬ 
nist,  zog  sich  im  November  1831,  nach  dem  Coitus  mit 
einem  öffentlichen  Mädchen,  ein  syphilitisches  Geschwür 
an  der  inneren  Fläche  der  sehr  engen  Vorhaut  zu,  wel¬ 
ches  mehre  Wochen  hindurch  mit  Snlinis,  "Später  mit  Mer- 
curialien  behandelt  ward,  ohne  jedoch  zur  Heilung  zu  ge¬ 
langen.  Im  Gegenthcil  vergröfserle  cs  sich  trotz  Calomcl 
und  Sublimat,  trotz  aller  angewandten  Salben  und  Wäs¬ 
ser  mehr  und  mehr,  die  Ränder  des  Geschwürs  wurden 
hart,  kuorpelartig,  cs  ward  trichterförmig  \ erlieft,  blutete 
leicht,  schmerzte  heftig,  die  Vorhaut  schwoll  ödematös  an, 
an  der  Corona  glap.dis  entstanden  (wahrscheinlich  durch 
die  mitgetheilte  Absonderung  des  syphilitischen  Eiters)  vier 
neue  kleinere  Geschwüre,  und  es  war  zu  befürchten,  dafs 
jenes  erste,  so  sehr  in  die  Tiefe  dringende  Geschwür,  wel¬ 
ches  alle  Charaktere  eines  sogenannten  Ilnntcrschcn 
Chankcrs  zeigte,  eine  bedeutende  Zerstörung  hervorbrin¬ 
gen  werde.  —  Bis  dahin  hatte  der  Kranke  das  Haus 
nicht  gehütet,  im  Gegenthcil  sich  häufig  dem  Zugwinde 
und  der  kalten  Winterluft  ausgesetzt.  Diät  war  einiger- 
mnafsen  gehalten  worden.  —  Der  Bachen  war  bis  jetzt 
frei,  leichte  Rauhheit  indessen  zugegen,  und  etwas  Mereu- 
rialgeruch.  Die  Stuhlauslccrung  war  sehr  erschwert  und 
sparsam.  —  Ende  December  sah  ich  den  Kranken,  auf 
den  Wunsch  seines  Hausarztes,  meines  Freundes  des  Ilrn. 
Dr.  Schubart  in  Altona,  und  stimmte  sogleich  für  die 
Anwendung  des  Decoctum  Zittmnnni,  mit  dem  nach  der 
bekannten  Vorschrift  am  28.  December  der  Anläng  ge¬ 
macht  wurde.  —  Das  sehr  gereizte,  bedeutend  in  die 
Tiefe  gehende  Geschwür  ward  blofs  mit  Charpic,  die  in 
ein  Decoctum  herb,  conii  getaucht  war,  bedeckt,  alle  übri¬ 
gen  örtlichen  Mittel  hinweggclassen.  —  Während  der  er¬ 
sten  Hälfte  der  Kur  erfolgten  täglich  gewöhnlich  vier  S  tu  hl- 


II.  Decoctum  Zittmanni. 


447 


\ 


\ 


a  11  s I o er u n ge n ,  die  Transpiration  war  Morgens  beim 
Genüsse  des  warmen  Dccocts  sehr  reichlich,  Nachmittags 
ward  reichlich  Urin  gelassen,  welcher  anfangs  stets  ein 
Sediment  zeigte.  —  Ein  leichter  Mercurialgeruch  trat 
schon  am  fünften  Tage  ein,  mit  Schmerzen  im  Zahnfleisch, 
verschwand  aber,  nachdem  der  Mund  häufig  mit  Milch 
und  Wasser  gespült  worden  war,  in  einigen  Tagen.  Schon 
vor  Beendigung  des  ersten  Cyclus  war  das  grofse  Geschwür 
rein  geworden,  die  ödematöse  Anschwellung  der  Vorhaut 
war  verschwunden,  so  wie  die  Schmerzen;  die  harten  Rän¬ 
der  des  Geschwürs  waren  erweicht,  die  kleineren  Ge¬ 
schwüre  bereits  in  der  Heilung  begriffen.  — -  Der  Appe¬ 
tit  stellte  sich  in  starkem  Grade  ein,  jedoch  wurde  stets 
die  nothwendige  strenge  Diät  beobachtet.  —  Nachdem 
ein  freier  Tag  interponirt  war,  an  welchem  der  Kranke 
drei  Suppen  erhalten  hatte,  begann  am  9ten  Januar  1832 
der  zweite  Cyclus  der  Kur,  welcher  eben  so,  wie  der 
erste,  durchgeführt  ward;  nur  mit  dem  Unterschiede,  dafs, 
wegen  zu  sparsamer  Stuhlausleerung,  der  Nachmittagspor¬ 
tion  des  Dccocts  zwei  Unzen  Infus,  sennae  hinzugefügt 
wurden,  wodurch  nun  täglich  4  bis  6  Stuhlgänge  eiutra- 
ten.  — -  Die  Transpiration  minderte  sich,  der  Urinabgang 
aber  war,  besonders  Nachmittags  und  Abends,  sehr  reich¬ 
lich.  Ungemein  rasch  schritt  nun  das  grofse  Geschwür  in 
der  Heilung  vorwärts;  die  kleineren  waren  bereits  ver¬ 
narbt.  -—  Am  Uten  Januar  war  jenes  beinahe  vernarbt, 
nur  in  der  Mitte  war  eine  kleine,  der  Caro  luxurians 
ähnliche  Stelle,  der  Grund  ganz  ausgefüllt.  — -  Ein  leich¬ 
tes  Betupfen  mit  Lapis  infernalis  beförderte  die  vollkom¬ 
mene  Vernarbung,  welche  nach  zwei  Tagen  aufs  schönste 
zu  Stande  gekommen  war.  Am  18.  Januar  beschlofs  ein 
Laxans  die  Kur.  — ■  Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs  der 
Genesene  nur  sehr  langsam  zu  seiner  gewohnten  Diät  wie¬ 
der  überging;  zur  Nachkur  erhielt  er  ein  Decoctum  chinae 
mit  Acid.  phosph.  dilut.  uud  Extract.  cort.  aurantior.  — 
Die  Waschungen  mit  dem  Decoct.  conii  wurden  noch  eine 


i 


448 


II.  Decoctum  Zittmanni. 


Zeitlang  fortgesetzt.  —  Der  KranKc  nahm  an  Kräften 
und  an  Fleisch  zu,  befand  sich  besonders  wohl,  und  ist 
bis  jetzt  (August  1833)  vou  jeder  krankhaften  Aflectiou 
frei  geblieben. 

Vierzehnter  Fall. 

Auch  diesen  in  mancher  Hinsicht  interessanten,  und 
sehr  für  die  grofse  Wirksamkeit  des  Decoctum  Zittmanni 
sprechenden  Fall,  verdanke  ich  der  gütigen  Mittheilung 
meines  Freundes,  des  Herrn  Dr.  St  ruhe  in  Altona. 

Maria  L.  hatte  in  einem  Alter  von  11  Jahren  gegen 
das  Ende  eines  fünfmonatlichen  Aufenthaltes  auf  dem  Lande, 
angeblich  durch  das  Zusammenschlafen  mit  einem  erwach¬ 
senen  Mädchen,  mehre  Geschwüre  an  den  Gcschlcchtsthei- 
len  erhalten,  welche  binnen  einigen  Wochen  sich  über 
die  unteren  Extremitäten,  den  After,  und  nach  oben  bis  an 
den  Nabel  erstreckten,  reichlich  scharfe  Jauche  absondernd. 

Ein  zu  Käthe  gezogener  Arzt  verordnete  kalte  Halb- 
bäder,  deren  vierwöchentliche  Anwendung  das  Verschwin¬ 
den  der  Geschwüre  zur  Folge  hatte.  Bald  darauf  bildeten 
sich  indefs  Kacbengeschwüre  aus,  denen  eine  Entzündung 
des  linken  Auges  und  ein  copiöser  Jaucheausflufs  der  Nase 
schnell  folgten.  Gegen  diese  Beschwerden  wurde  drei 
Jahre  lang  nur  topische  Anwendung  des  Chainillcnaufgus- 
fces,  Veränderung  der  Diät  nicht  verordnet. 

Die  starke  Zunahme  des  Uebcls,  welches  bereits  die 
äufscren  Parthieeu  der  Nase  ergriff,  so  wie  der  Tod  des 
früheren  Arztes,  bestimmten  die  Adlern,  uns  die  Behand¬ 
lung  der  Kranken  zu  übertragen. 

Am  17tcn  November  1831  bot  der  Zustand  der  jclz( 
14jä  hrigen  L.  folgendes  dar:  Aufscr  dem  entschieden  scro- 
phulösen  Habitus,  hatte  die  Kranke  ciue  sehr  bedeutende 
Abmagerung  nebst  caehectischcr  Gesichtsfarbe,  und  einen 
Ausdruck  tiefen  Leidens  in  den  Zügen  des  Gesiebtes.  Die 
frühere  chronische  Augenentzündung  war  verschwunden, 
die  Kacheugcschw  üre  hatleu  die  äufscren  Kennzeichen  sy- 


II.  Decoctum  Zittmanni. 


i 


449 

* 

philitischcr  Geschwüre;  Jaucheausflufs  hatte  sowohl  aus 
den  vorderen,  als  hinteren  Oeflhungen  der  Nasenhöhle 
statt.  Die  Menge  des  Ausflusses  war  ziemlich  beträcht¬ 
lich,  und  nicht  selten  mit  Blutungen  verbunden;  letzte 
waren  übelriechend,  jauchenartig,  grüngelb  gefärbt.  Der 
Durchgang  der  Luft  durch  die  Nasenhöhle  war  gän  dich 
gehindert.  Die  aufsere  Form  der  Nase  zeigte  sich  ge¬ 
schwollen,  besonders  die  linke  Hälfte  derselben,  wo  der 
Nasenflügel  gröfstentheils  zerstört  war.  Die  untersuchende 
Sonde  entdeckte  in  der  Gavitas  nasi  mehre  entblöfste  Kno- 
chenstcllen,  so  wie  eine  allgemein  verbreitete  Wucherung 
der  Nasenschleimhaut,  die  indefs  nicht  der  polypösen  an- 
gehörte.  Von  dem  cartilaginösen  Theile  der  Nasenschei- 
dewrand  hatten  sich  an  mehren  Stellen  kleine  Stücke  ex- 
foliirt,  wodurch  an  einem  Punkte  eine  vollständige  Durch¬ 
löcherung  erzeugt  worden  war. 

Die  sorgfältigste  Diät,  so  wie  die  kräftigsten  umstim- 
menden  Mittel,  durch  anhaltende  Derivantien  und  topische 
Anwendung  eines  Cicuta- Aufgusses  mit  Chlor-Natron  un¬ 
terstützt,  brachten  während  fünfmonatlicher  Behandlung 
keine  Besserung,  höchstens  einen  Stillstand  des  Uebels  her¬ 
vor.  Wir  beschlossen  demnach,  als  letztes  Mittel  das  De¬ 
coctum  Zittmanni  in  Gebrauch  zu  ziehen.  Nachdem  vier¬ 
zehn  Tage  lang  jeder  Arzneigebrauch  ausgesetzt  worden, 
begannen  wir  die  Kur  auf  die  gewöhnliche  Weise  mit 
einem  Abführpulver.  Die  Kranke  blieb  während  der  gan¬ 
zen  Kur  im  Bette,  und  trank  Morgens  eine  halbe  Flasche 
starken,  Nachmittags  eine  halbe  Flasche  schwachen  De- 
cocts,  zugleich  streng  die  vorgeschriebene  Diät  beobach¬ 
tend.  In  die  Nase  liefsen  wir  nur  kaltes  Wasser  von  Zeit 
zu  Zeit  einziehen.  Auf  die  angeführte  Weise  verbrauchte 
die  Kranke,  ohne  Unterbrechung,  in  einem  Zeiträume  von 
22  Tagen  8  Flaschen  des  starken,  und  eben  so  viel  des 
schwachen  Zittmannschen  Decocts,  nebst  3  Abführpulvern. 

Während  der  ersten  Tage  bekam  die  Kranke  sehr 
reichliche,  übelriechende  Schweifse,  denen  ein  heftiger 


II.  Decoctum  Ziltmnnni. 


450 

Kopfschmerz  vorherging.  Die  Stuhlauslecrungen  betrugen 
in  dieser  Zeit  3  bis  4  täglich,  stiegen  aber  gegen  das  Ende 
der  Kur  auf  10  bis  12  binnen  24  Stunden,  indem  zugleich 
die  Schwcifse  fast  gänzlich  aufhörtcu.  Der  in  reichlicher 
Menge  gelassene  trübe  Harn  setzte  nach  dem  Erkalten  eine 
Materie  ab,  welche  ihrer  Beschaffenheit  nach  dem  puri¬ 
formen  Exsudate  der  Schleimhäute  sehr  nahe  zu  stehen 
schien.  Das  am  vierten  Tage  der  Kur  eintretende  heftige 
Erbrechen  wurde  durch  Einreihen  des  Lin.  vol.  camph.  in 
die  Magengegend  sehr  bald  beseitigt.  Am  Ilten  Kurtage 
stellten  sich  Vorboten  der  Salivation  ein,  verschwanden 
indefs  am  loten  Tage  nach  vorhergegangenen ,  sehr  übel¬ 
riechenden  Darmauslecrungcn.  Während  der  ersten  Hälfte 
der  Kur  zeigte  sich  keine  wesentliche  Veränderung  des 
Krankheitszustandes,  nur  empfand  Patientin  von  Zeit  zu 
Zeit  ein  heftiges  Jucken  in  der  ganzen  inneren  Nasenhöhle, 
welches  nach  einigen  Tagen  anhaltend  wurde.  Gleichzei¬ 
tig  minderte  sich  der  Nascnflufs,  indem  er  zugleich  eine 
dein  gelblichen  Nasenschleime  ähnliche  Beschaffenheit  an¬ 
nahm.  Nach  beendeter  Kur  gingen  wir  zu  einer  nähren¬ 
den,  reizlosen  Diät  über,  bei  welcher  nach  3  bis  4  Wo¬ 
chen  der  freiwillige  Ausflnfs  der  Nase  verschwand. 

Jetzt,  6  Monate  nach  beendigter  Kur,  hat  die  L.  eine 
blühende  Gesichtsfarbe,  der  Körper,  bedeutend  entwickelt, 
ist  kräftig  und  gesund,  durch  gut  vernarbte  Granulationen 
sind  die  früher  entblöfsten  Knochenstellen  und  die  OetT- 
nung  in  dem  cartilaginösen  Theilc  des  septi  nasi  bedeckt; 
der  Durchgang  der  Luft  durch  die  Nasenhöhle  ist  gänzlich 
frei;  auch  die  äufsere  Form  ist  vollkommen  rcstituirt,  und 
nur  am  linken  Nasenflügel  deutet  noch  eine  kleine  Narbe 
auf  die  frühere  Destruction. 


Zuletzt  mufs  ich,  meinem  Vorsätze  getreu,  noch  kürz¬ 
lich  zweier  Fälle  erwähnen,  in  denen  ich  neuerdings  das 
Decoctum  Zittmauni  zum  Thcil  ganz  ohne,  zum 
Iheil  nur  mit  sehr  zweifelhaftem  Erfolge  an- 


II.  Decoctum  Zittmanni. 


451 


wandte.  Beide  Fälle  betreffen  indessen  nicht  syphilitische 
Affectionen,  da  in  dem  einen  ein  schon  seit  vier  Jahren 
bestellender  Herpes  exedens  scrophnlosus  nasi  et  labii  su- 
pe  rioris,  in  dem  anderen  eine  durch  scrophulöses  Leiden 
bedingt  erscheinende,  dem  Fungösen  sich  nähernde  Poly¬ 
penbildung  in  der  rechten  Nasenhöhle  den  Gegenstand  der 
ärztlichen  Behandlung  ausmachtc.  —  In  beiden  Fällen 
schritt  ich  zur  Anwendung  des  genannten  Mittels  nur  mit 
geringer  Hoffnung  des  Erfolgs,  und  nur  die  Ueberzeugung, 
dal’s  dasselbe  auf  keinen  Fall  den  Kranken  einen  Nachtheil 
bringen  könnte,  bestimmte  mich,  wenigstens  den  Versuch 

zu  machen.  »  ,  i 

*  *  i 

Fünfzehnter  Fall. 

Fräulein  de  J.  aus  Hamburg,  einige  30  Jahre  alt, 
in  ihrer  Kindheit  häufig  von  scrophulösen  Drüsenabscessen, 
deren  hiuterlassene  Narben  noch  sichtbar  sind,  heimge¬ 
sucht,  wünschte  am  7ten  April  1831  meinen  Rath  wegen 
einer  last  schmerzlosen,  bereits  seit  zwei  Jahren  bestehen¬ 
den  xlnschwellung  der  rechten  Nasenseite,  welche  zugleich 
mit  einer  bald  vermehrten,  bald  etwas  verminderten  Un- 
durchgängigkcit  dieser  NasenöfTnung  für  die  äufsere  Luft 
verbunden  war.  Eine  genaue  Untersuchung  der  leidenden 
Parthie  zeigte  äufserlich  eine  Auftreibung  der  Naserikuo- 
chen,  selbst  ganz  bis  zum  Thränenbein  hinauf,  zugleich 
eine  leichte  Anschwellung  in  der  Gegend  des  Saccus  la- 
crymalis,  verbunden  mit  leichtem  Thränen  des  rechten 
Au  ges.  Bei  der  neuen,  im  hellesten  Lichte  vorgenomme- 
neu  Untersuchung,  entdeckte  ich  eine  fleischige,  blafsröth- 
licli  aussehende,  dem  Gefühl  mittelst  der  Sonde  sich  ziem¬ 
lich  fest  darstellende  Masse,  welche  frei  herabhing,  und 
deren  Wurzel  etwa  einen  Zoll  hoch  an  der  inneren  Wan¬ 
dung  der  Nasenölfnung,  mithin  an  der  Nasenscheidewand, 

»  N 

von  der  untersuchenden  Sonde  umschrieben  werden  konnte. 
Beim  starken  Schneuzen  trat  diese  Afterproduction,  welche 

ich  für  einen  Fleischpolypcn  zu  halten  geneigt  war,  nicht 

\ 


452 


II.  Decoctum  Zittmanni. 


weiter  hervor.  Zugleich  fand  eine  mäfsige  Absonderung 
eines  scharfen,  dünnen,  etwas  flau-süfslich ,  gleichsam  saa- 
menartig  riechenden  Schleimes  aus  der  rechten  NasenötT- 
nung  statt.  —  I)ic  Kranke,  übrigens  wohl  und  regel- 
mäfsig  menstruirt,  datirt  die  Entstehung  dieses  l  ebcls  von 
einer  Zeit  her,  zu  welcher  sic  (im  Frühjahre  1829)  sehr 
häufig  und  reichlich  an  Nasenbluten  litt,  und  endlich  mit¬ 
telst  des  Gebrauches  eines  starken,  sehr  adstringirenden 
Schnupfwassers  diese  fast  zur  Gewohnheit  gewordene  lilnt- 
absonderung  in  wenigen  Tagen  so  gänzlich  unterdrückte, 
dafs  sie  seit  jener  Zeit  nie  wiedergekehrt  ist.  Der  Habi¬ 
tus  scrophulosus  der  Kranken  ist  nicht  zu  verkennen.  — 
Ich  verordnete  zuerst  vier  Blutegel  in  die  rechte  Na- 
scnöflnung,  riet h  diese  örtliche  Blutcntzichung  alle  vier¬ 
zehn  Tage  zu  wiederholen,  äufserlich  Morgens  und  Abends 
Unguent.  neap.  in  die  geschwollene  Parlhic  und  in  die 
Stirngegend  einzureiben,  und  öfters  am  Tage  kaltes  Was¬ 
ser  aufzusebnauben.  —  Daneben  innerlich  eine  leicht  auf 
den  Darmkanal  wirkende  Mixtum  resolvens.  Der  vier- 
wöchentliche  Gebrauch  dieser  Mittel  hatte  wenig  Verän¬ 
derung  hervorgebracht,  indessen  war  jene  geringe  Schmerz¬ 
haftigkeit  der  geschwollenen  Parthie  ganz  gewichen.  Nun 
ging  ich  zum  örtlichen  Gebrauche  der  Tinctura  opii  cro- 
cata  über,  dessen  anhaltende  Fortsetzung  eine  stärkere, 
citerartige  Secretion  aus  der  Nase,  und  eine  geringe  Ver¬ 
minderung  des  Polypen  zur  Folge  hatte.  —  Das  Thräncn 
des  rechten  Auges  hatte  nach  einem  halben  Jahre  gauz 
aufgehört,  es  war  öfters  freiwillig  Nasenbluten  eingetre¬ 
ten,  und  der  Durchzug  der  Luft  durch  die  betheiligte  Na- 
senscite  ziemlich  wiederhergestellt.  Ich  verband  nun  die 
Tinctura  opii  crocati  mit  Liquamen  myrrhae,  und  liefs  die 
Nase  öfters  mit  einer  schwachen  Auflösung  des  Natrum 
chloricum  ausspülen.  —  Im  Frühjahre  1832  war  die  An¬ 
schwellung  des  Nasenknochens,  welche  ich  als  ein  für  sich 
bestehendes,  durch  scrophulösc  Dyscrasic  vcranlafstcs  Lei¬ 
den  ansehen  mul'stc,  da  der  Polyp  keinesweges  von  dem 

Um* 


i 


II.  Decoctum  Zitimanni. 


453 


Umfange  war,  dafs  jene  durch  letzte  hätte  veraulafst  wer¬ 
den  können,  wesentlich  gemindert ,  der  Schmerz  ganz  ge¬ 
hoben,  der  Polyp  aber  noch  in  statu  quo.  —  Längere 
Zeit  wurden  Plummersche  Pulver  mit  Coniumextract,  nach¬ 
her  das  Püllnaer  Bitterwasser  neben  einer  streng  geregel¬ 
ten  Diät  in  Gebrauch  gezogen ;  die  örtlichen  Mittel  fort¬ 
gesetzt.  Der  Polyp  blieb  unverändert,  ich  beschlols  nun, 
denselben  mittelst  der  Zange  zu  entfernen,  und  unternahm 
die  Operation  am  16.  Mai  1832.  —  Es  gelang  mir  auch, 
den  mit  einer  ziemlich  breiten  Basis  am  hinteren  oberen 
Tiieile  der  Scheidewand  aufsitzenden,  ziemlich  festen  Po¬ 
lypen  von  der  Gröfse  des  Nagelgliedes  des  kleinen  Fingers, 
gehörig  zu  fassen,  und  durch  langsame  Drehungen  zu  ent¬ 
fernen.  Die  Operation  war  sehr  schmerzhaft,  und  eine 
sehr  heftige  Blutung,  die  ich  durch  Aq.  Thedenii  und  durch 
Tamponade  stillen  mufste,  nöthigte  mich,  die  genauere  Un¬ 
tersuchung  der  freieren  Nasenhöhle  zu  verschieben.  Indes¬ 
sen  war  der  Durchzug  der  Luft  nach  der  Operation  kei- 
nesweges  ganz  frei,  und  der  in  die  nunmehr  weite  Nasen- 
öffnung  eingeführte  kleine  Finger  fühlte  deutlich,  beson¬ 
ders  nach  hinten  und  oben,  namentlich  an  der  oberen  Mu¬ 
schel,  eine  mit  breiter  Basis  aufsitzende,  den  ganzen  hin¬ 
teren  Raum  einnehmende  und  auch  zur  äufseren  Nasen¬ 
haut  sich  erstreckende,  schwammartig  anzufühlende  Ex 
crescenz  der  Nasenschleimhaut.  —  Ein  späterer  Versuch, 
diese  theilweise  mit  der  Polypenzange  zu  entfernen,  mifs- 
gliickte,  da  die  einzeln  gefafsten  Parthieen  sogleich  abris* 
sen ,  wie  es  auch  bei  der  breiten  Basis  nicht  anders  mög¬ 
lich  wark  —  Es  wurden  nun  mehre  Wochen  lang  mit  rei¬ 
zenden  Salben,  adstringirenden  Wässern,  später  mit  bal¬ 
samischen  Mitteln  bestrichene  Plumaceaux  in  die  Nase  ein¬ 
geführt,  und  dadurch  eine  reichliche  Eiterabsonderung, 
durch  welche  ich  die  Excrescenz  zu  schmelzen  hoffte,  her¬ 
vorgebracht.  —  Die  Nase  ward  allerdings  freier,  allein 
die  Afterproduction  wollte  nicht  gänzlich  weichen.  —  Ich 
machte  nun  ein  Vierteljahr  hiudurch  von  einem  Schnupf- 
B and  28*  lieft  4,  30 


II.  Dccoctnm  Zittmanni. 


454 

pulvcr  aus  Ualomel  und  Zucker  ää,  abwechselnd  mit  der 
Tim  t.  »j>ii  croeata,  Gebrauch.  Zuletzt  entstand  eine  Ein¬ 
wirkung  auf  das  Zahnfleisch  und  ein  leichter  Speichelflufs, 
und  nöthigte  zum  Aussetzen  des  Calomels.  —  Nachher, 
im  Anfänge  des  Jahres  1833,  wandte  icli  anhaltend  eine 
concentrirte  Auflösung,  zuerst  des  Lap.  infernalis,  nach¬ 
her  des,  organische  Gebilde  tiefer  zerstörenden  Lapis  enu- 
sticus  an,  und  verminderte  dadurch  die  Aftcrproduction 
wesentlich,  ohne  sie  jedoch  ganz  zu  heben.  —  Unter 
diesen  Umständen,  die  sowohl  die  Geduld  der  Kranken, 
als  ancb  die  des  Arztes  sehr  auf  die  Probe  stellten,  be« 
schlofs  ich,  das  Zittmannsche  Decoct  anzuwenden,  um 
durch  die  dadurch  bewirkte  Umstimmung  des  ganzen  Or¬ 
ganismus  vielleicht  eine  Rückbildung  der  Alterproductiou 
zu  erreichen,  oder  wenigstens  der  erfolgreicheren  Anwen¬ 
dung  der  örtlichen  Mittel  den  Weg  zu  bahnen.  — 

Am  25.  Mai  1833  begann  die  Kranke  die  Kur  ganz 
nach  der  Vorschrift.  —  Das  Maximum  der  Stuhlauslee¬ 
rungen  war  6.  das  Minimum  2  innerhalb  24  Stunden. 
Der  Schweifs  war  sehr  reichlich  Morgens  nach  dem  star¬ 
ken  Decoct,  so  auch  die  Urinahsonderung  Nachmittags  nach 
dem  schwachen.  —  Gegen  das  Ende  der  Kur  trat  eine 
Affcction  des  Zahnfleisches  mit  leichtem  Speichelflufs  ein, 
der  aber  nach  dein  viertägigen  reichlichen  Gebrauche  des 
Püllnaer  Bitterwassers  wieder  verschwand.  —  Oertlich 
wurde  hlofs  kaltes  Wasser  zum  öfteren  Ausspulen  der  Nase 
angewandt.  —  Zur  Nachkur  ward  acht  Tage  hindurch 
ein  Chinadecoct  mit  Phosphorsäurc  gereicht.  —  Ende 
Junius  befand  die  Kranke  sich  sehr  wohl,  die  Knochen¬ 
auftreibung  der  rechten  Nasenseite  ist  sehr  gemindert,  und 
vermindert  sich  wöchentlich  noch  mehr,  allein  die  schwam¬ 
migen  Excreseenzen  der  Schleimhaut  sind,  wenn  auch  wie¬ 
der  etwas  gemindert,  doch  noch  keinesweges  gehoben,  so 
dafs  ich  während  des  Julius  von  Neuem  von  der  Anwen¬ 
dung  des  Lapis  cansticus  Gebrauch  gemacht  habe.  Jetzt, 
August  1833,  wende  ich  ein  Unguentum  e  Kali  hydrojodi- 


IL  Decoctum  Zittmanni. 


455 


nico  täglich  an,  und  cs  scheint  mir,  als  wenn  der  nun¬ 
mehr  14 tägige  Gebrauch  dieses  Mittels  wirklich  eine  we¬ 
sentliche  Verminderung  der  Degeneration  der  Schleimhaut 
bewirkt,  jedoch  zweifle  ich  nach  so  vielen  mifslungenen 
Versuchen,  dafs  diese  Besserung  von  Dauer  sein  werde.  — 
Wäre  es  hier  nicht  am  richtigsten,  die  ganze  rechte 
Nasenseite  zu  spalten,  und  alsdann  ein  gehörig  geformtes 
Glüheisen  (natürlich  mit  Vorsicht)  auf  die  ganze  degene- 
rirte  Parthie  einwirken  zu  lassen  (??).  — 

Sechzehnter  Fall. 

Ferdinand  S.,  8  Jahre  alt,  in  sehr  ärmlichen  Ver¬ 
hältnissen  lebend,  kam  am  3.  Mai  1831  in  meine  Behand¬ 
lung.  Da  der  Kranke  bereits  seit  einem  Jahre  an  dem  un¬ 
ten  näher  zu  beschreibenden  Uebel  litt,  und  von  mehren 
Aerzten  schon  behandelt  w7ar,  konnte  ich  über  die  erste 
Entstehung  seiner  Krankheit  keine  genaue  Auskunft  er¬ 
halten;  nur  so  viel  erfuhr  ich,  dafs  dieselbe  zuerst  als  Bor- 
kenausschlag  an  beiden  Nasenflügeln  aufgetreten  sei,  und 
sich  hernach  auch  über  die  Oberlippe  verbreitet  habe.  — 
Ich  fand  den  ganzen  unteren  Theil  der  Nase  mit  stark  ei¬ 
ternden,  bräunliche  Borken  absetzenden  Geschwüren  be¬ 
deckt,  welche  ganz  das  ungleiche,  granulöse,  zerrissene 
Ansehen  der  scrophulösen  Geschwüre  hatten,  sich  in  das 
Innere  der  Nasenhöhle  fortsetzten,  und  sich  auch  über  die 
ganze  Oberlippe  bis  zum  rothen  Lippenrande  verbreiteten. 
Beide  Nasenflügel  waren  bereits  fast  ganz  zerstört,  wie 
auch  die  Nasenspitze;  das  Septum  selbst  wrar  auch  mit  Ge¬ 
schwüren  besetzt,  die  Knochen  aber  nicht  ergriffen. 
Dabei  ein  deutlich  ausgesprochener,  scrophulöser  Habitus, 
eine  Ophthalmia  scrophulosa  des  rechten  Auges  mit  Ge¬ 
schwürbildung  auf  der  Hornhaut,  geschwollene  Cervical-, 
Subniaxillar-  und  Sublingualdrüsen,  und  endlich  ein  hau 
figer,  kurzer  Husten  mit  sparsamem  Auswurfe  eines  weifsen 
Schaumes,  der  bei  der  Kurzathrnigkcit  des  Kranken  be¬ 
ginnende  Tuberkelbildung  in  den  Lungen  befürchten  liefs. 

30  * 


456 


II.  Decoctnm  Zittinnnni. 


Irli  diagnosticirfe  »In»  Ucbcl  als  Herpes  exedens  scroplm- 
losus,  und  mufste  die  Prognose  natürlich  schlecht  stellen. 
Zuerst  wurden  Blutegel  wiederholt  in  den  Umkreis  der 
Geschwüre  und  in  die  Temporalgegend  des  leidenden  Au¬ 
ges  angewandt,  die  Ophthalmie  durch  zweckmäfsige  Mittel 
ziemlich  rasch  gehoben,  dann  ein  lange  unterhaltenes  Vc- 
8icans  in  den  Nacken  gelegt,  welches  späterhin  häutig  wie¬ 
derholt  wurde,  und  innerlich  eine  Nitruincmulsion  rum 
.  lauroccrasi,  so  wie  örtlich  Einreibung  des  Lin.  volat. 
camph.  in  die  Brust  zur  Bekämpfung  der  Lungenaffection 
angewandt.  Dabei  blande  Diät,  vorzugsweise  Milchspei¬ 
sen.  Die  Geschwüre  liefs  icli  vorläufig  nur  mit  Ceratum 
saturni,  dem  etwas  Extr.  opii  aquos.  beigemischt  war,  be¬ 
decken,  um  den  gereizten,  schmerzhaften  Zustand  dersel¬ 
ben  etwas  zu  mäßigen.  Bei  dieser  Monate  lang  fortgesetz¬ 
ten  Behandlung  besserte  sich  das  Allgemeinbefinden  des 
Knaben  bedeutend,  die  Geschwüre  griffen  nicht  weiter 
um  sich,  wurden  reiner,  schmerzten  wenig,  die  Eiterung 
verbesserte  sich.  —  Bemerken  mufs  ich  noch,  dal's  ich 
ein  einfaches  Infusum  theiforme  florum  sambuci  zum  öfte¬ 
ren  Ausspülen  der  Nase  und  zum  vorsichtigen  Betupfen  der 
Geschwüre  und  Krusten  anwenden  liefs. 

Nach  Verlauf  eines  halben  Jahres  schritt  ich  zur  An¬ 
wendung  des  ('osmisch-IIcllmundschen  Mittels.  Dasselbe 
wirkte  sehr  stark  ein,  und  wirklich  erschien  uach  vier¬ 
maliger,  in  vierwöchentlichen  Zwischenräumen  (während 
welcher  das  Ilellmundschc  Unguentum  narcotico-balsami- 
cum  zum  Verbände  angewandt  wurde)  gemachter  Appli¬ 
cation  der  Arscniksalbe  die  ganze  Geschwürsfläche  wesent¬ 
lich  gebessert.  Sic  war  ebener,  das  Eiter  von  blander 
Beschaffenheit,  geringe  Krustenbildung,  und  beim  Fortge¬ 
brauche  der  balsamischen  Salbe  beginnende  Narbenbildung 
von  der  Seite  der  ulccrirten  Oberlippe  her.  —  Die  Brust 
des  Kranken  war  nunmehr  fast  ganz  frei,  die  Verdauung 
regelmäßig,  der  Körper  hatte  an  Volumen  zugeuommen, 
das  Aussehen  war  frischer.  Innerlich  liefs  ich  nun,  im 


II.  I)  ecoctuin  Zittmanni. 


457 


Friihjah  rc  und  Sommer  1832,  anfangs  Eichelkaffee,  später¬ 
hin  Eselsmilch  trinken,  fuhr  aber  mit  den  örtlichen  Mit¬ 
teln  constant  fort,  und  hatte  die  Freude,  im  September 
vorigen  Jahres  die  Geschwürsfläche  der  Oberlippe  ganz  ver¬ 
narbt,  die  der  Nase  aber  wesentlich  verkleinert  zu  sehen. 
Im  Innern  der  Nase  aber,  bis  zur  Spina  narium  anterior, 
dauerte  der  Ulcerationsprozefs,  doch  auch  in  geringem 
Grade,  noch  fort.  Trotz  der  langen  Dauer  war  das  Sep¬ 
tum  narium  noch  nicht  perforirt,  und  im  ganzen  Laufe  der 
Krankheit  habe  ich  bei  der  sorgfältigsten  Untersuchung  kei¬ 
nen  der  Nasenknochen  entblöfst  gefunden-,  wohl  zum  Be¬ 
weise,  dafs  hier  von  einer  etwa  ererbten  Syphilis  nicht 
füglich  die  Bede  seiu  konnte.  —  Jene  Besserung  aber 
war  leider  nur  von  kurzer  Dauer.  Während  des  Winters 
1832  und  33  setzte  der  Knabe  sich  wiederholt  Erkältun¬ 
gen  aus,  beobachtete  ein  sehr  schlechtes  Regimen,  und 
überlud  sich  namentlich  in  der  Weihnachtszeit  den  Magen 
mit  schwerverdaulichen  Mehlspeisen  und  Kuchen,  wodurch 
eine  nicht  unbedeutende  gastrische  Affection  veranlafst  ward, 
welche  durch  leichte  Abführmittel,  denen  Salmiak  folgte, 
bekämpft  wurden.  —  Zugleich  aber  entstanden  neue  Ge¬ 
schwüre  auf  der  Oberlippe,  welche  rasch  von  der  Spina 
narium  aus  um  sich  griffen,  und  bald  wieder  die  ganze 
Oberlippe  occupirten;  auch  an  der  Nase  breiteten  sich  die 
Geschwüre  nach  oben  weiter  aus  und  zerstörten  die  rechte 
Ala  narium  gänzlich.  —  Das  Ilellmundsche  Mittel,  wie¬ 
derholt  von  Neuem  in  Gebrauch  gezogen,  fruchtete  wenig 
oder  nichts,  eben  so  wenig  ein  Decoct.  herb,  solani  nigri 
mit  Sublimat,  und  mehre  andere  topische  Mittel,  unter 
denen  ich  nur  vorzugsweise  das  Unguent.  album  Londinense 
allein,  oder  mit  Extr.  conii,  die  Tinctura  opii  crocata,  das 
Unguent.  praecipit.  rubr.,  eine  Solution  des  Höllensteins, 
die  reine  Aq.  saturuina,  später  mit  einem  Zusatz  des  Extr. 
opii  aquos.  etc.  nenne.  luuerlick  wandte  ich  als  Nachkur 
jener  gastrischen  Affection  ein  Infus,  ebinae  reg.  cum  sale 
ammoniaco  längere  Zeit  an,  später  den  Sublimat  in  Aq. 


i 


4r,s 


II.  Decoctum  Zittmanni. 


cinnamom.  aufgelöst  in  steigender  Dosis,  dann  das  Extractum 

Conii  ebenfalls  in  steigender  Gabe - alles  umsonst.  — 

Wenngleich  das  Allgemeinbefinden  sich  im  Frühjahre  1S33 
wieder  sehr  gebessert  hatte,  so  schritt  die  Ulceration,  wenn 
auch  nur  langsamen  Schrittes,  dennoch  unaufhaltsam  vor¬ 
wärts.  —  Ich  entschloss  mich  uun,  wenngleich  ohne  son¬ 
derliche  Hoffnung  eines  günstigen  Erfolges,  zur  Anwen¬ 
dung  des  Decoctum  Zittmanni,  womit  der  Kranke  am 
25.  April  den  Anfang  machte.  Ich  wich  nur  in  sofern  von 
der  Vorschrift  ab,  dafs  ich  die  jedesmalige  Portion,  des 
jugendlichen  Alters  des  Knaben  wegen,  auf  die  Hälfte  re- 
ducirte,  so  dafs  Vormittags  nur  eine  halbe  Tasse  starken, 
Nachmittags  nur  eine  halbe  Tasse  schwachen  Decocts  ge¬ 
nossen  wurde.  Dio  vorgeschriebene  Diät,  ebenfalls  auf 
die  Hälfte  reducirt,  wurde  sehr  strenge  beobachtet,  der 
Kranke  beständig  im  Bette  gehalten.  Während  der  elf 
Tage  der  ersten  Kur  war  das  Maximum  der  jedesmal  sehr 
reichlichen  Stuhlausleerungen  4,  das  Minimum  1;  der 
Schweifs  war  sehr  reichlich  während  des  ganzen  Tages, 
die  Urinabsonderung  bedeutend  vermehrt,  am  zehnten  Tage 
Vorboten  der  Salivation,  die  nach  dem  letzten  Laxans  bald 
wieder  verschwanden.  Oertlich  liefs  ich  die  Geschwüre 
nur  mit  iu  Infus,  flor.  sambuci  getauchter  Charpie  verbin¬ 
den.  Wirklich  verbesserte  sich  das  Aussehen  derselben 
wesentlich,  und  es  trat  selbst  an  den  Geschwürsrändern  der 
Oberlippe  beginnende  Vernarbung  ein;  alle  Schmerzen  hör¬ 
ten  auf,  und  aus  der  freieren  Nase  wurden  grofse  Borken 
zur  bedeutenden  Erleichterung  des  Kranken  ausgestofseo.  — 
Nach  einer  12 tägigen  Zwischenpause ,  während  welcher 
eine  sehr  strenge  Milchdiät  geführt  ward,  begann  der  zweite 
Cyclus  des  Deeocts  ganz  eben  so,  wie  oben  beschrieben, 
so  dafs  am  Ende  desselben  doch  die  vorschriftsmäfsigcn 
8  Flaschen  des  stark«»,  und  8  Fl.  des  schwachen  Decocts 
verbraucht  waren.  Die  Wirkungen  desselben  waren  fast 
eben  so,  wie  das  erstemal,  das  Maximum  der  Stuhlaus- 
leerungcQ  5,  das  Miuimuiu  1;  reichlicher  Schweifs,  reich- 


II.  Decoctum  Zittrnanni. 


459 


lieber  Urin,  kein  Speichelilufs.  —  Am  17.  Junius  been¬ 
digte  ein  Laxans  die  ganze  Kur.  —  Allerdings  hatte  sich 
das  Aussehen  der  Geschwüre,  so  wie  auch  ihre  x4usdeh- 
nung,  wieder  gebessert,  doch  verhältnifsmäfsig  nicht  uin 
so  viel,  als  beim  ersten  Cyclus.  Ich  hoffte  indessen  uoch 
etwas  von  der  Nachwirkung,  fuhr  mit  den  örtlichen  Mit¬ 
teln  fort,  und  ging  nun  sehr  vorsichtig  und  langsam  zu 
einer  blanden,  leicht  nährenden  Diät  über.  Die  Verdauung 
des  Kranken  war  vortrefflich,  sein  Aussehen,  die  Entstel¬ 
lung  durch  die  Ulceration  abgerechnet,  gut.  - —  Nach  we¬ 
nigen  Wochen  aber  stand  der  begonnene  Vernarbungspro- 
zel's  still,  und  bald  wurden  die  bereits  geheilten  Parthieen 
von  neuem  von  der  Ulceration  ergriffen,  die  sich  endlich 
ganz  zu  deu  Mundwinkeln  hin  ausbreitjete.  —  Ich  er¬ 
fuhr,  dafs  der  Knahe  wiederholt  in  der  Diät  und  dem  gan¬ 
zen  Regimen  gesündigt  bähe,  auch  sah  ich,  dafs  er  mit 
dem  Verbinden  sehr  nachlässig  war,  und  die  Geschwüre 
nie  gehörig  rein  hielt.  Unter  diesen  Umständen  blieb  mir 
nichts  anderes  übrig,  als  den  Kranken  der  genauen  Auf¬ 
sicht  einer  öffentlichen  Krankenanstalt  zu  übergeben,  und 
die  gütige,  menschenfreundliche  Vermittelung  meines  sehr 
verehrten  Freundes,  des  Hrn.  Dr.  Fr  icke,  machte  es  mir 
möglich,  die  Aufnahme  des  unglücklichen  Knaben  in  das 
so  trefflich  eingerichtete  Hamburger  allgemeine  Kranken¬ 
haus  zu  bewirken,  wo  derselbe  sich  nunmehr  unter  der 
ärztlichen  Leitung  des  Ilrn.  Dr.  Fr  icke  befindet.  — 
Ueber  eine  bestimmte  Besserung  läfst,  ^sich  bis  jetzt  uoch 
nichts  Gewisses  sagen;  ich  werde  indessen  jedenfalls  spä¬ 
ter,  bei  einer  anderen  Gelegenheit,  den  Ausgang  dieses 
wohl  nicht  uninteressanten  Falles  mitzutheilen  nicht  er¬ 
mangeln. 

Schliefslich  sei  es  mir  nur  noch  erlaubt,  einige  Ideen 
auszusprecheu  über  die  Frage,  wo  und  in  welchen  Fäl¬ 
len  von  Syphilis  und  von  anderen  dyscratischen 
Krankheiteu  das  Zittmanuschc  Decoct  Vorzugs- 


I 


II.  Decoctum  Zittmanni. 


4G0 

weise  seine  Anwendung  Finden  mochte,  wobei  ich 
zugleich  den  Wunsch  und  die  Bitte  n ich t  unterdrücken 
kann,  dafs  diejenigen  meiner  Herren  Collcgeu,  welche  von 
diesem  Mittel  Gebrauch  zu  machen  Gelegenheit  hatten, 
die  dahin  gehörigen  Fälle  der  öffentlichen  Mittheilung  nicht 
vorenthalten  wollen.  —  Vielleicht  gelangen  wir  auf  diese 
Weise  dahin,  vereint  mit  den  treiflichcn  Beobachtungen 
von  Chclius  und  anderer  neuerer  Aerzte,  diesem  Mittel 
in  der  Therapie  der  syphilitischen  Krankheiten  seinen  be¬ 
stimmten,  gesicherten  Platz  an  weisen  zu  können,  ohne  in 
die  Einseitigkeit  zu  verfallen,  dasselbe  in  allen  Fällen  von 
veralteter  Syphilis  anzupreisen.  — 

Meiner  Erfahrung  nach  findet  das  Decoctum  Zittmanni 
da  überall  seinen  Platz,  wo  hei  wiederholter  syphiliti¬ 
scher  Infcction  bereits  reichlich  und  unregelmäfsig  (d.  li. 
vorzugsweise  —  ohne  gehörige  Diät  und  ohne  Haus- 
hüten)  Mercur  gebraucht  worden,  das  Ucbel  aber  stets, 
wie  wir  cs  so  oft  sehen,  nachdem  es  eine  Zeitlang  ge¬ 
schlummert,  mit  neuen  Kräften  wieder  ausgebrochen  ist; 
bald  hier,  bah?  dort  seinen  Reflex  nehmend.  —  In  den 
Fällen,  wo  bei  veralteter  Syphilis  das  Dermatischc  System 
vorherrschend  afficirt  ist,  wo  das  Uebel  sich  unter  der 
Form  eines  Ilerpes  syphiliticus  manifcstirt,  wo  zugleich 
die  Verdauung*organc,  namentlich  die  Leber,  mitleiden, 
möchte  das  Decoct  besonders  angezeigt  sein;  denn,  weit 
entfernt,  die  Verdauungswerkzeuge  anhaltend  in  ihren  Fun¬ 
ctionen  zu  stören,  regulirt  dasselbe  vielmehr  in  seinen  Nach¬ 
wirkungen  die  früher  oft  sehr  unregeluiafsigc  Verdauung, 
und  stellt  den  Tonus  dieser  Organe  wieder  her.  —  Wer¬ 
fen  wir  nun  dio  Frage  auf:  „  was  wir  eigentlich  durch 
die  Auwendmig  dieses  Mittels  bezwecken  wollen?»,  so 
möchte  die  Antwort  wohl  die  sein:  «eine  Umstimmung 
des  ganzen  Organismus  auf  irgend  einem  natürlichen  Wege  ” 
(sei  cs  nun  durch  vermehrte  Ilautnbsonderung,  sei  es  durch 
vermehrte  Stuhlauslcerung  und  Urinsecretion ,  sei  es  [was 
freilich  seltener  der  Fall  ist  |  durch  vermehrte  Speichelab- 


i 


I 


II.  Decoctum  Zittmanni.  461 

sonderung),  und  somit  Wiederherstellung  des  früher  ge¬ 
störten  Gleichgewichtes  und  Rückbildung  der  krankhaften 
Productionen.  Wie  bei  einem  jeden  Mittel,  so  finden  auch 
bei  diesem  manche  die  Individualität  des  Krankeu  betref¬ 
fende  Modificationcn  statt,  ohne  dafs  jedoch  in  der  Haupt¬ 
sache  der  Kur  deswegen  etwas  geändert  werden  müfste. 
Der  ursprünglich  vorgeschriebene  Zusatz  der  Folia  sennae 
scheint  mir  zu  stark  zu  sein,  wenigstens  babe  ich  in  den 
ersten  Fällen,  wo  ich  diese  grofse  Dosis  nehmen  liefs, 
stets  eine  zu  starke  Einwirkung  auf  den  Stuhl  beobachtet, 
so  stark,  dafs  öfters  16  bis  18  Stuhlausleerungen  mit  dem 
heftigsten  Stuhlzwange  erfolgten,  und  dafs  zuletzt  unter 
den  heftigsten  Schmerzen  reines  Blut  entleert  wurde.  Ich 
ziehe  daher  jetzt  vor,  die  Senna  nur  in  kleiner  Quantität 
dem  Decocte  zusetzen  zu  lassen,  da  sie,  bei  sensibeln  Ver¬ 
dauungswegen,  in  der  grofsen  Dosis  erfahrungsmäfsig  nicht 
ertragen  wird.  Sind  mir  die  Stuhlausleerungen  nicht  hin¬ 
reichend,  so  helfe  ich,  wie  oben  bemerkt,  durch  einen 
Zusatz  des  Infusum  sennae  zur  Nachmittagsportion  densel¬ 
ben  nach.  —  Weder  der  eintretende  Mercurialgeruch 
(welcher  oft  sehr  früh  sich  einstellt),  noch  eine  Saliva- 
tion  mit  leichten  Ulcerationen  des  Zahnfleisches  halten 
mich  von  der  Fortsetzung  der  Kur  ab;  nur  interponire 
ich  dann  gern  mehre  freie  Tage,  ehe  ich  den  zweiten  Cy- 
clus  beginne.  —  Gerade  die  Fortsetzung  der  Kur,  be¬ 
sonders  wenn  alsdann  die  Stuhlausleerungen,  wie  es  fast 
immer  in  der  zweiten  Hälfte  geschieht,  reichlicher  eintre- 
ten,  mindern  und  heben  jene  örtlichen  Beschwerden. 

Von  der  Nachkur  habe  ich  schon  früher,  so  wie 
bei  Gelegenheit  der  einzelnen  Fälle,  weitläufiger  gespro¬ 
chen.  Ich  halte  die  genaueste  Beobachtung  derselben  für 
höchst  wichtig,  uud  glaube,  dafs  gerade  durch  eine  sehr 
genau  geregelte  Nachkur  der  vollkommene  Erfolg  der  gan¬ 
zen  Kur  wesentlich  gesichert  werde.  — 


462 


III.  Sterblichkeitsvcrlialtnissc 


Die  Sterblichkeitsverhältnisse  von  St.  Peters¬ 
burg  im  Jahre  1833. 

(  Vergl.  unsere  Aufsätze  in  diesen  Annalen  von  1832  und  1833.  ) 


Obgleich  in  dem  genannten  Jahre  durchaus  keine  Krank¬ 
heit  in  8t.  Petersburg  eine  bedeutende  Verbreitung  erlangt 
hat,  und  die  Hospitäler  nur  im  Anfänge  desselben  bedeu¬ 
tend  augefüllt  waren,  so  ist  doch  die  Todtcnzahl  vor  dem 
Cholerajahre  1831,  nämlich  10000  bis  11000,  auch  dies¬ 
mal  bedeutend  wieder  überstiegen  worden.  Dabei  hat  die 
Zahl  der  Einwohner  abgenomuien;  sie  war  im  Jahre  1832: 
44.0368,  während  sic  iui  Jahre  1833:  445135  betrug.  Diese, 
wenn  auch  geringe  Verminderung  der  Volkszahl,  die  wir 
auch  im  vorigeu  Jahre  bemerkten,  beruht  auf  dem  anhal¬ 
tenden  Ueberschusse  der  Todten  über  die  Neugeborenen, 
während  der  Zuwachs  von  aufsen  her  nicht  beträchtlich 
war.  —  Die  Todtcnzahl  im  Jahre  1833  betrug:  mänul. 
10836,  weibl.  6240.  (Das  so  grofse  Uebcrgc wicht  männ¬ 
licher  Todten  hängt  davon  ab,  dafs  die  Einwohner  aus 
201200  männl.  und  153845  weibl.  bestehen,  und  also  jetzt, 
wie  früher,  ein  grofses  Ucbcrgcwieht  der  männlichen  über 
die  weiblichen  Einwohner  in  St.  Petersburg  ist.)  Von 
sämmtlichen  Lebenden  starb  also  etwas  mehr  als  von 
den  männlichen  etwas  unter  y~,  von  deu  weiblichen 
über  Nehmen  wir  noch  hinzu  148  an  verschiedenen 
Unglücksfällen  umgekommene  Personen,  36  Selbstmörder 
und  1  im  Duell  gebliebenen,  welche  überall  in  die  allge¬ 
meine  TodtenlLsIc  aufgenommen  werden,  so  ergiebt  sich 
die  Gcsauuntzahl  der  Todten  auf:  17270,  also  1  Todter 
auf  25]  Lebende,  ein  für  unsere  Zeiten  äufserst  ungünsti¬ 
ges  Verhältnis.  Wir  hatten  früher  bemerkt,  dal’s  1820 


von  St.  Petersburg.  463 

nicht  voll  -jL,  1830  nur  etwas  über  der  Einwohner 
starb.  Wir  fühlen  uns  ganz,  aufser  Stande,  die  Gründe 
des  ungünstigen  Verhältnisses  von  1833  anzugeben.  Aller¬ 
dings  traf  man  oft  auf  üble  Nervenfieber;  der  Scharlach 
wurde  nicht  selten  tödtlich;  allein  cs  war  doch  keine  be¬ 
deutende  Verbreitung  weder  dieser,  noch  anderer  Uebel 
vorhanden;  es  läfst  sich  also  gar  kein  anderer  Erklärungs¬ 
grund  angehen,  als  dafs  im  Allgemeinen  die  Krankheiten 
eine  gröfsere  Bösartigkeit  gehabt,  und  daher  verhültnifs- 
mäfsig  oft  den  Tod  zur  Folge  gehabt  haben.  Bestimmtere 
Angaben  können  wir  nicht  machen,  weil  die  officielle 
Angabe  der  Todten  nicht  mit  einer  Liste  der  Krankheiten, 
woran  sie  gestorben,  verbunden  ist.  —  Die  Zahl  der  Ge¬ 
burten  betrug:  männl.  4775,  weibl.  4536,  überhaupt  9311, 
also  bedeutend  weniger,,  als  die  der  Todten.  Nur  7  Kin¬ 
der  werden  als  todtgeboren  angegeben.  —  Die  nicht -rus¬ 
sischen  Gemeinden,  sonst,  und  zumal  zur  Zeit  der  asia¬ 
tischen  Cholera,  sich  eines  günstigeren  Verhältnisses  er¬ 
freuend,  als  die  Gesammtmenge,  haben  im  Jahre  1833 
eine  fast  so  grofse  Sterblichkeit,  wie  im  Jahre  1831.  Aus 
Unkenntnifs  der  Gesammtzahl  der  hierher  gehörigen  Ein¬ 
wohner,  welche  übrigens  in  dem  ,  letzten  Jahre  durch 
Ueberschufs  der  Ankömmlinge  über  die  Abgehenden  um 
etwa  1300  zugenommen,  können  wir  das  Verkältuifs  der 
Lebenden  zu  den  Todten  nicht  angehen;  dafs  die  letz¬ 
ten:  2107,  jedoch  denen  des  Cholerajahres  (2258)  nahe 
stehen,  und  die  von  1832  (1553)  weit  übersteigen,  ist 
unleugbar.  Auch  übertrilft  jene  Zahl  weit  die  Zahl  der 
Geburten:  1396,  jedoch  nicht  in  so  ungünstiger  Weise, 
wie  bei  der  Gesammtzahl;  denn  bei  der  letzten  kommen 
auf  9  Geborene  fast  17  Gestorbene,  während  bei  den  Nicht¬ 
russen  auf  2  Geburten  etwa  3  Todesfälle  kommen.  — 
Auch  in  diesem  Jahre  zeigt  sich  das  Uebergewicht  der 
Sterblichkeit  auf  Seiten  der  am  mindesten  wohlhabenden 
nicht-russischen  Gemeinden;  namentlich  hat  die  schwedi¬ 
sche:  geh.  26,  gest.  184,  die  finnläudische :  geh.  160, 


464 


IV.  Gcbnrtshiilfc. 


"rst.  494,  <lic  esthländische:  geb.  37,  gest.  92.  l)ic  ka¬ 
tholische  hat  ein  Verhällnifs,  welches  etwa  der  Gesammt- 
heit  der  nicht -russischen  Gemeinden  entspricht,  nämlich: 
geh.  229,  gest.  356.  Die  wohlhabenden  Gemeinden  haben 
nnr  ein  geringes  Uebcrgewicht  der  Todten  über  die  heben¬ 
den,  z.  B.  die  englische:  geh.  42,  gest.  48,  die  Annengc- 
meinde:  geh.  237,  gest.  263,  u.  s.  w.  —  Diese  Betrach¬ 
tung  bringt  uns  also  zu  dem  Schlüsse,  dafs  auch  im  Jahre 
1833  die  Nichtrusscn  ein  günstigeres  Stcrblichkeitsvcrhült- 
nils  haben  würden,  als  die  Gesainmtmassc,  wenn  nicht 
die  genannten  armen  Gemeinden,  die  grofsentheils  noch 
kümmerlicher  leben,  als  der  gemeine  Russe,  und  vielleicht 
noch  seltener,  als  derselbe,  ärztliche  Hülfe  suchen,  eine 
verhältnifsmäfsig  so  ungeheure  Todtenzajil  gehabt  hätten. 
Immer  bleibt  also  der  Satz  unumstöfslich ,  dafs  unter  übri¬ 
gens  gleichen  Umständen  Wohlhabenheit  und  Bildung  bei 
günstiger,  wie  bei  ungünstiger  Gesundheits-Constitution, 
wesentlich  zur  Verminderung  der  Sterblichkeit  beitragen. 

L  ichtenst  äd(. 


Lehrbuch  der  Geburtshiilfe  fürH  ebammen; 
von  F.  K.  Nägele,  ordcntl.  üffentl.  Professor  der 
Medicin  und  Geburtshülfe  an  der  Universität  zu 
Heidelberg  u.  s.  w.  Zweite,  vermehrte  und  verbes¬ 
serte  Auflage.  Heidelberg,  bei  J.  C.  B.  Mohr. 
1833.  8.  XVI  u.  406  S.  (2  Thlr.) 

Gcwifs  ist  die  Aufgabe  schwierig,  für  rohe  und  un¬ 
gebildete  Individuen  ein  wissenschaftliches  Lehr-  oder  Hand¬ 
buch  zu  schreiben,  welches  ihnen  für  einen  kurzen  und 
ungenügenden  Unterricht  als  Anhaltpunkt,  und  für  das 
praktische  Leben  als  Ralhgcbcr  dienen  soll.  Bei  ciucr 


IV.  Geburtsliiilfe. 


465 


solchen  Schrift  sind  Verständlichkeit  und  Präeision  Haupt¬ 
erfordernisse;  aber  wie  kann  man  diesen  gelingen,  wenn 
man  einen  Blick  auf  die  geringe  intellectuelle  Entwicke¬ 
lung  der  Personen  wirft,  für  welche  das  Buch  eine  Richt¬ 
schnur  abgeben  soll?  In  der  That,  ich  bedaure  alle  Heb¬ 
ammenlehrer  und  alle  Chirurgenschulen -Docenten  ob  des 
sterilen  Bodens,  der  durch  sie  urbar  gemacht  werden  soll. 
Die  Vorbildung,  mit  welcher  jene  Subjecte  zur  Schule 
kommen,  erregt  ein  Grauen,  sobald  man  daran  denkt,  dais 
solchen  das  Leben  einer  Mutter  und  ihres  Kindes  in  die 
Hände  gegeben  wird!  Leider  können  wir  die  Hebammen 
nicht  ganz  entbehren,  aber  eben  deshalb  mufs  unser  Stre¬ 
ben  auch  dahin  gerichtet  sein,  sie  möglichst  unschädlich 
zu  dressiren;  daher  beschränke  man  den  Unterricht  auf 
Touchirübungcn  und  präge  ihnen  ein,  dafs  ihre  Hauptauf¬ 
gabe  sei,  nicht  selbstthätig  zu  sein. 

Die  Abfassung  eines  Hebammenlehrbuchs  pafst  daher 
weder  für  junge,  noch  für  gewisse  gelehrte  Aerzte,  wTelche 
in  ihren  Schriften  wie  mit  der  Beute  anderer  beladene 
Kameele  erscheinen,  woraus  sie  kümmerlich  eine  littera- 
rische  Mosaik  zusammenstoppeln.  Wer  ein  Handbuch  für 
Hebammen  schreiben  will,  mufs  praktisch  den  Hebammen¬ 
unterricht  geleitet  haben,  die  Anschauungsweise  dieser 
Schülerinnen  kennen,  und  dabei  selbst  ein  denkender  Ge¬ 
burtshelfer  sein. 

Unter  den  denkenden  Lehrern  der  Entbindungskunde 
in  Deutschland  nimmt  Nägele  unbestritten  den  ersten 
Platz  ein,  er  war  daher  vor  allen  berufen,  die  Aufgabe 
auf  eine  würdige  Weise  zu  lösen,  woran  schon  so  man¬ 
cher  Professor  und  so  manches  Collegium  scheiterte. 

Das  vorliegende  Buch  zeichnet  sich  nicht  allein  durch 
Klarheit  und  Präcision,  sondern  auch  durch  eine  seltene 
Vollständigkeit  aus,  welche  indessen  dem  Verf.  nicht  zum 
Vorwurfe  gemacht  werden  darf,  da  es  ja  jedem  Hebam- 
mcnlehrer  frei  steht,  beim  Unterricht  zu  übergehen,  was  er 
für  seine  böotischen  Schülerinnen  für  ungeeignet  erachtet. 


466 


IV.  Gcbortshulfc. 


Hof.  findet  das  Ganze  so  wohlgeordnet ,  den  Stoff  so 
angemessen  verarbeitet,  dafs  er  nir.ht  ansteht,  das  Buch 
auch  als  Leitfaden  für  die  Ausbildung  unserer  Geburtshel¬ 
fer  für  geeignet  zu  erklären,  wobei  cs  sich  freilich  von 
selbst  versteht,  dafs  Zusätze  uud  Erläuterungen  nicht  ent¬ 
behrt  werden  können. 

Ohne  dem  Vcrf.  schrittweise  zu  folgen,  wollen  wir 
doch  den  Geist  andeuten,  der  wie  der  rothe  Faden  durch 
das  Buch  sich  windet:  Die  Hebamme  verhalte  sich 
möglichst  passiv;  w  o  ein  passives  Verhalten 
nicht  genügt,  rufe  sie  einen  II e b a r z t  zu  Hülfe. 

Der  Verf.  zeigt  sich  geneigt  den  allgemeinen  Bädern, 
der  Fortsetzung  der  gewohnten  Lebensweise,  der  Erhal¬ 
tung  der  Lctbesöffnung  durch  Klysticre,  statt  durch  Laxan- 
zen,  in  der  Schwangerschaft,  verwirft  mit  Recht  die  un¬ 
zähligen  Kindeslagen,  wde  sie  seit  Beaudeloque  zum 
gröfsten  Nachtheile  für  Wissenschaft  und  Kunst  in  unsern 
Lehrbüchern  angenommen  worden,  reducirt  die  Schädel-, 
Gesichts-,  Steifs-  und  Fufslageu  auf  zwei  Haupt  lagen, 
welche  freilich  bei  weitem  am  häufigsten  Vorkommen, 
aber  doch  eben  so  viele  Kopf-  und  Gesichtslagcn  nicht 
ganz  ausschliefsen ,  stellt  eine  richtigere  Diagnose  die¬ 
ser  Lagen  auf,  welche  unsere  Lehrer  der  Geburtshülfe 
wohl  berücksichtigen  wollen.  Gebärstühle  werden  mit 
Recht  geächtet;  Klystiere  beim  Beginnen  der  Geburt,  eine 
fortgesetzte  horizontale  Lage,  schon  vor  erfolgtem  Wasser- 
sprung  empfohlen.  Jede  Wöchnerin  soll  mindestens  neun 
Tage  das  Bette  und  vier  Wochen  die  Wohnung  hüten, 
und  nicht  den  ersten  Gang  in  die  ungesunde,  kalte  und 
feuchte  Kirche  thun,  nicht  über  48  Stunden  ohne  Leibes¬ 
öffnung  bleiben  (schon  zu  lange!  Ref. ),  jede  Neuentbun¬ 
dene  schon  nach  2  bis  3  Stunden  ihr  Kind  an  die  Brust 
legen,  dies  möglichst  oft  wiederholen  und  erst  nach  6  bis 
8  Wochen  eine  gewisse  Ordnung  darin  einführen.  Das 
Kind  werde  lose  gewickelt,  flcifsig,  und  so  oft  es  sich 
beschmutzt,  gereinigt,  täglich  gebadet.  Eine  Amme  soll 


/ 


IV.  Gebnrtslnilfe.  467 

nicht  acht  Wochen  früher  niedergekommen  sein,  als  die 
Mutter,  deren  Kind  sie  stillt,  zur  Auffütterung  sich  am 
besten  die  Kuhmilch  eignen,  anfangs  mit  einem  Zusatze 
von  zwei  Driüheilen  Wassers,  zuletzt  ohne  diesen.  Sehr 
genügend  und  belehrend  ist  der  Abschnitt  über  die  Wen¬ 
dung  auf  die  Füfse,  welche  bekanntlich  überall  in  Erman¬ 
gelung  eines  Geburtshelfers  den  Hebammen  erlaubt  ist. 
Nach  der  Ilerableitung  der  Füfse  soll  die  Entwickelung 
des  übrigen  Körpers  wo  möglich  der  Natur  überlassen 
bleiben  (wenigstens  mufs  man  zur  Entwickelung  des  Ko¬ 
pfes  Wehen  benutzen,  Ref. ). 

Die  fehlerhaften  Geburten  hat  der  Verf.„  so  weit  es 

0 

die  Stellung  einer  Hebamme  fordert,  erwähnt,  bei  man¬ 
chen  länger  verweilend.  Namentlich  gilt  dies  von  der  Lö¬ 
sung  der  Placenta,  welche  er  nie  den  Hebammen  gestat¬ 
tet;  von  den  eigenthümlichen  Convulsionen  der  Gebären-- 
den,  worüber  jeder  Leser  hier  viel  Belehrendes  finden 
wird.  Ob  diese  aber  stets  auf  Andrang  des  Blutes  zum 
Gehirne  beruhen,  und  durch  ein  Aderlafs  und  ableitende 
Mittel  beseitigt  werden,  läfst  Ref.  dahin  gestellt  sein. 
Nicht  minder  belehrend  ist  der  Abschnitt  über  die  Metror- 
rhagieen  während  und  nach  der  Geburt.  Ob  das  frühzei¬ 
tige  Anlegen  des  Kindes  au  die  Brust  das  Milchfieber  im¬ 
mer  verhindert,  bezweifele  ich,  aber  überzeugt  habe 
ich  mich,  dafs  es  dann  weniger  heftig  zu  sein  pflegt;  da¬ 
her  auch  ich  das  Ausziehen  der  Brust  durch  ein  fremdes 
Kind  anzurathen  pflege,  wenn  das  eigene  sich  anfänglich 
zum  Saugen  träge  zeigt.  Dem  Tampouiren  bei  Metrorrha- 
gieen  e  placenta  praevia,  legt  Näg.  nur  einen  bedingten 
Werth  bei,  und  bezeichnet  (wie  auch  Ref.)  das  Adhäri- 
ren  der  Placenta  am  Muttermunde  als  einen  höchst  kriti¬ 
schen  Zustand. 

Wir  schliefsen  hiermit  unsere  Anzeige  über  ein  Lehr¬ 
buch,  das  nicht  allein  irn  Grofsherzogthum  Baden,  sondern 
auch  in  anderen  deutschen  Staaten  eine  gerechte  Anerken¬ 
nung  gefunden  hat,  indem  es  dem  Ilebammenunterrichte 


468 


V.  Exstirpation  der  Zunge. 

Kinn  Grunde  gelegt  ward.  Eine  allgemeine  Einführung  in 
alle  Staaten  verdient  es  um  so  mehr,  wenn  man  berück¬ 
sichtigt,  wie  wenig  brauchbar  die  bisher  dazu  benutzten 
in  der  That  sind. 

//  c  y f< elder . 


V. 


De  exstirpatione  linguae.  Commcntatio  Chi¬ 
rurgien.  Scripsit  Dr.  Michael  Jäger,  Med.  et 
Chir.  Professor  P.  O.  etc.  Erlangae  sumtibus  Ca- 
rol.  Heyderi.  1832.  4.  18  S.  (6  Gr.) 

Scirrhus  und  Krebs,  angeborene  Angiectasie,  Medul- 
larschwamm  und  Hypertrophie  der  Zunge,  werden  vom 
Verf.  als  die  indicirendcn  Momente  der  Abkürzung  der 
Zunge  bezeichnet.  Die  vier  ersten  will  ich  unbedingt  da¬ 
für  gelten  lassen,  nicht  so  die  Hypertrophie  der  Zunge, 
welche  einen  bedeutenden  Grad  erreicht  haben  mufs,  wenu 
man  zum  Messer  seine  Zutlucht  nehmen  soll.  Noch  vor 
kurzer  Zeit  widerrieth  ich  die  Abkürzung  der  Zunge  einer 
Dame,  bei  welcher  dieses  Organ  in  einem  Zustande  von 
Hypertrophie,  übrigens  vollkommen  normal  beschaffen  war. 
Die  Operation  ist  um  so  weniger  angezeigt,  wenn  keine 
abgeschliffenen,  scharfen  Zähne  die  hypertrophisch  beschaf¬ 
fene  Zunge  berühren,  und  auch  in  diesem  Falle  ist  es  bes¬ 
ser,  die  Zähne  zu  entfernen,  als  die  Zunge  zu  verkürzen. 

Der  Verf.  will  keine  Contraindication  für  die  Exstir¬ 
pation  der  Zunge  gelten  lassen,  doch  scheint  er  nicht  zu 
berücksichtigen,  dafs  das  Uebel  zurückkommt,  sobald  mehr 
als  die  Hälfte  der  Zunge  vom  Krebse  zerstört  war.  - — 
Die  Blutung  nach  der  Operation  ist  nicht  besonders  zu 
fürchten,  indem  sic  oft  schon  bei  der  Berührung  eines 
Stückes  Eises  aufhört.  Die  Sprache  und  das  Schluekeu 
sind  nur  unmittelbar  nach  der  Operation  erschwert,  und 

dio 


489 


V.  Exstirpation  der  Zunge. 

die  secundäre  Entzündung  ist  eigentlich  nur  dann  zu  fürch¬ 
ten,  wenn  das  entartete  Zungenstück  nicht  mit  dem  Mes¬ 
ser,  sondern  durch  die  Unterbindung  beseitigt  wird. 

Der  Verf.  hat  einen  grofsen  Apparatus  instrumento- 
rum  für  diese  Operation  nöthig.  lief,  bediente  sich  zur 
Fixirung  der  Zunge  aufserhalb  des  Mundes  seines  mit  einem 
einfachen  Taschentuche  bedeckten  Daumens  und  Zeigefin¬ 
gers,  den  blofsen  Fingern  entgleitet  sie. 

Die  Excision  der  Zunge  zieht  J.  mit  vollem  Rechte 
der  Abbindung  des  entarteten  Stückes  unbedingt  vor,  und 
beschreibt  nun  die  Ausschneidung  der  Zungenspitze,  die 
Ausschneidung  eines  Seitentheiles  der  Zunge,  oder  der 
ganzen  Zunge.  Für  die  letzte  Operation  erachtet  er  die 
Spaltung  der  linken  Wange,  oder  auch  selbst  beider  Wan¬ 
gen  für  nöthig,  und  zwar,  um  die  Zunge  auf  diese 
Weise  bequemer  her  vor  ziehen,  fester  halten, 
die  Wund  fläche  sorgfältiger  untersuchen  und 

die  Art.  ranina  leichter  unterbinden  zu  kön 

\ 

nen.  Ref. ,  der  diese  Operation  zweimal  zu  machen  Ge¬ 
legenheit  hatte,  vollbrachte  die  Excision  ohne  Wangen¬ 
spaltung,  und  glaubt,  dafs  nur  in  dem  Falle  die  linke 
Wange  zu  durchschneiden  sei,  wo  es  sich  darum  han« 
delt,  den  Schnitt  bis  zur  Epiglottis  zu  führen.  Mit  der 
Coop ersehen  Scheere  wird  die  Operation  besser  und  be¬ 
quemer  gemacht,  als  mit  dem  Messer,  auch  kann  man  mit 
Hülfe  der  ersten  leichter  die  verdächtigen  Stellen  aus  der 
Wundfläche  noch  nachträglich  entfernen,  daher  unter¬ 
schreibt  Ref.  sehr  gern  die  in  dieser  Beziehung  gemachten 
Aussprüche  des  Verf.,  gleich  diesem  die  Wundfläche  mit 
einem  weifsglühenden  Eisen  betupfend.  Die  Blutung  aus 
den  durchschnittenen  Gefäfsen  soll  man  durch  kaltes  Was¬ 
ser,  zusammenziehende  Wasser  oder  die  Unterbindung  be¬ 
seitigen,  die  Wundränder  bei  einer  partiellen  /\  förmigen 
Excision  durch  die  blutige  Nath  vereinigen.  Der  Verf. 
theilt  eine  interessante  Operation  mit,  die  unter  ungünsti¬ 
gen  Verhältnissen  unternommen,  von  einem  günstigen  Er- 
Baml  28.  lieft  4.  31 


470 


VF.  Behandlung  der  Irren. 

folge  gekrönt  wurde.  Zuletzt  handelt  J.  noch  von  der 
Exstirpation  mit  Hiille  der  Ligatur,  und  schliefst  mit  einer 
vollständigen  Angabe  der  Litteratur. 

Heyfelder. 


VI. 

Considerations  sur  le  tra  item  ent  des  Alie- 
n  es,  par  Henri  A.  M.  J.  L ü  w  e  n  hay n ,  üoeteur 
en  medecine  et  Chirurgie,  membre  de  plusieurs 
societes  litteraires  etc.  Premiere  partic.  St.  Pe- 
tersbourg,  1833-  8.  X  et  144  pp. 

Oder: 

Bechere  h  es  theoretiques  et  pratiques  sur 
Pe  ta b  1  iss  e me  n  t  des  A  1  i  e  n  e  s ,  par  Henri  L  o- 
wenbayn  etc.  Avec  une  planche  et  un  plan  li- 
tbograpbiees. 

Aus  dem  doppelten  Titel  des  Buches  geht  hervor, 
dafs  es  einerseits  der  erste  Theil  eines  Werkes  ist.  wei¬ 
chem  nach  den  in  der  Vorrede  und  in  den  letzten  Kapi¬ 
teln  (S.  122.  136.  114.)  gcgebeucn  Andeutungen,  noch 
zwei,  die  Pathologie  und  Therapie  der  Seeleukraukheiten 
umfassende,  folgen  sollen;  andererseits,  dafs  es  zugleich 
eine  selbstständig  in  sich  geschlossene  Abhandlung  über 
Einrichtung  von  Irrenansalten  bildet. 

Unter  den  Gründen,  diesen  Gegenstand  ausführlicher 
darzustellen,  hebt  der  Verf.  mit  Hecht  besonders  den  her¬ 
vor,  dafs  die  Irrenanstalt  «  un  vcritable  instrument  de  gue- 
rison,  un  des  remedes  les  plus  efficaces  de  la  Psychiatrie, 
la  premierc  condition  de  la  eure»  (S.  VI.  VII.)  sei. 

Die  Arbeit  ist  die  Frucht  der  auf  Reisen  durch  Deutsch¬ 
land,  Holland,  1  rankreich,  Ertgland  gemachten  Bekannt- 


471 


VI.  Behandlung  der  Irren. 

Schaft  mit  Irrenanstalten,  Irrenärzten  (III.  IV. )  und  dereu 
Werken.  Wenn  gleich  wir  in  Deutschland  durch  No¬ 
stitz  und  Jäuckendorf,  Roller  und  Andere,  Vollstän¬ 
digeres  über  Irrenanstalten  haben,  wenn  gleich  eigene, 
vom  Verf.  selbst  herrührende  Ideen  in  den  Hintergrund  * 
treten  und  seine  Kritik  des  Einzelnen  nicht  immer  die 
beste  und  umsichtigste  ist,  so  enthält  das  Buch  doch  selbst 
für  diejenigen,  welche  mit  diesen  Gegenständen  durch  Se¬ 
hen  und  Studium  vertraut  sind,  eine  recht  brauchbare  Zu¬ 
sammenstellung  von  bekannten,  weniger  bekannten  und 
neuen  Einzeluheiten,  und  gehören  hieher  namentlich  Reise¬ 
notizen  und  vor  allem  der  nach  Esquirol  mitgetheilte 
Entwurf  zur  Construction  einer  grofsen  Irrenanstalt'  Das 
Werk  ist  also  immer  für  uns  eine  willkommene  Erschei¬ 
nung.  Viel  gröfseren  Werth  hat  es  für  Rufsland.  Denn 
da  dies  grofse  Reich  seine  Bildung  aus  dem  Westen  holt, 
um  sie  bei  sich  und  im  weiteren  Osten,  seiner  welthisto¬ 
rischen  Bedeutung  Dach,  auszubreiten  und  einheimisch  zu 
machen,  so  wird  ihm  durch  vorliegende  Abhandlung  hin¬ 
sichtlich  der  Irrenanstalten  von  dem  neuesten  und  besten 
Material  zugeführt.  W7enn  also  dies  Buch  Veranlassung 
wrerden  sollte,  dafs  z.  B.  bei  Moskau  eine  nach  dem  im 
dritten  Kapitel  dargelegten  Plane  construirte  und  einge¬ 
richtete  Irrenanstalt  ins  Leben  treten  könnte,  so  hätte  der 
Verf.  seine  Zwecke  wohl  über  alles  Erwarten  günstig  er¬ 
zielt,  und  den  reichlichsten  Lohn  für  die  Arbeit  dahin.  — 
Einigermaafsen  unangenehm  berührt  es,  wenn  man 
alte  Irrthiimer  und  Gebrechen  in  Irrenanstalten,  welche 
allgemein  als  solche  anerkannt  und  abgesprochen  sind,  ei¬ 
ner  abermaligen  unnöthig  tadelnden  und  für  jetzt  vielfach 
ungei  echten  Kritik  unterworfen  sieht.  Doch  scheint  es 
dem  Verf.  selber  mit  solchen  in  der  Vorrede  und  an  meh¬ 
ren  Stellen  des  Buches  allgemein  hingestellten  Aeufscrun- 
gen  nicht  rechter  Ernst  zu  sein,  da  er  an  anderen  Stellen 
die  TreiFlichkeit  vieler  Irrenanstalten  anerkennt.  —  In 
jenen,  nicht  selten  bei  jungen,  sich  erst  in  das  Fach  hin- 

31  * 


472 


VI.  ßchnn dlnng  der  Irren. 

cinarbeitenden  Autoren,  vorkommenden  Fehler  ist  der  Verf. 
z.  B.  verfallen,  wenn  er  klagt,  dafs  die  Irren  zu  einem 
beklagenswert hen  Zustande  verdammt  sind,  dafs  die  Be¬ 
hörden  wenig  Interesse  für  die  Sache  zeigen,  dafs  die  Ir¬ 
ren  als  einfache  Gefangene  angesehen  werden,  und  dafs 
mit  wenig  Ausnahmen  sie  nicht  für  Kranke  genommen 
werden  (V.  VI.).  Mag  dies  Urthcil  zum  Theil  für  Rufg- 
land,  was  übrigens  der  Verf.  nicht  näher  angedeutet  hat, 
gellen,  so  ist  doch  in  Petersburg  und  Moskau,  nach 
den  neuesten  öffentlichen  Berichten  zu  urtheilen,  ein  gu¬ 
ter,  wenn  auch  quantitativ  und  qualitativ  nicht  genügen¬ 
der  Anfang  gemacht;  —  mag  jenes  ürtheil  auch  für  Hol¬ 
land  und  Belgien  (16.  52.  53.)  gelten,  wie  Guislain, 
nicht  «Guiselin»,  selbst  im  Anfänge  des  12ten  Buches 
seines  Werkes  eingestellt,  zugleich  aber  auch  wesentliche 
Verbesserungsmittel  angiebt,  so  bleibt  doch  die  Irrcnkolo- 
nie  in  dem  Hecken  Gheel  ein  in  ihrer  Art  einziges, 
merkwürdiges,  unter  Bedingungen,  namentlich  für  halbge- 
heiltc  und  ruhige  Seelcnkranke  niederer  Stände,  nachah- 
mungswei thes  Institut,  welches  Guislain  «  une  des  mer- 
veilles  de  nötre  pays »  nennt,  und  wohin  Esquirol  ei- 
gends  mit  oisin  im  August  1818  eine  Boise  unternahm, 
und  daiüber  den  8.  Januar  1822  in  der  Acadcmie  der  Mc- 
dicin  ein  Memoire  las,  welches,  beiläufig  gesagt,  bei  wei¬ 
tem  das  Beste  und  Ausführlichste  über  diese  Kolonie  ent¬ 
hält,  und  woraus  ein  vollständiger  Auszug  gegeben  ist  in 
dem  Magazin  von  Gerson  und  Julius,  Band  4.  1822. 
S.  166  —  175,  und  desgleichen  in  v.  Froricp’s  Noti¬ 
zen,  No.  48.  Aug.  1822.  S.  55  -  60.  —  Gedachtes  Ur- 
theil  jedoch  erscheint  übertrieben  und  strenge,  wenn  es 
in  dem  Grade  und  Maafse  auf  England,  Frankreich  und 
Deutschland  ausgedehnt  werden  sollte.  Allerdings  bleibt 
noch  gar  vieles  zu  thun  übrig;  allein  was  mit  grofsen  Ko¬ 
sten,  Opfern  und  Mühen  Seitens  der  Staaten  und  Behör¬ 
den  für  diesen  wichtigen  Zweig  der  Medicinalangclegen- 
beiten  geschehen  ist,  ist  ein  Grofses;  und  der  für  jetzt  gd- 


473 


VI.  Behandlung  der  Irren. 

cignctere  Weg,  etwas  Gröfscres  zu  erreichen,  ist  der  der 
Aufmunterung  durch  Anerkennung  des  TretFlichen,  und 
der  Erweckung  zur  Nacheiferung  dort,  wo  die  alten  mor¬ 
schen  Einrichtungen  noch  bestehen.  — ■  In  diesem  Sinne 
kann  Bayern,  dessen  Irrenanstalten  der  Verf.  an  mehre¬ 
ren  Stellen  (16.  52.  53.)  als  unter  aller  Kritik  seiende, 
bezeichnet,  und  welches  in  der  That  für  Kunst  und  Er¬ 
haltung  von  Kunstwerken  die  allerüberraschendsten,  und 
für  Erhaltung  und  Wiederherstellung  des  edelsten  und 
höchsten  Kunstwerkes  der  ganzen  Welt,  der  menschlichen, 
lebendigen  Psyche,  bisher  sehr  dürftige  Mittel  entwickelt, 
ein  Beispiel  nehmen  an  dem,  was  auf  dem  Sonnenstein 
und  in  Colditz  für  Sachsen,  in  Heidelberg  für  Baden,  in 
Hildesheim  für  Hannover,  in  Sachsenberg  für  Mecklenburg, 
in  Siegburg,  Marsberg,  Leubus  u.  's.  w.  für  Preufsen,  und 
was  ganz  neuerlichst  in  Winnenthal  für  Würtemberg  (nach 
der  höchst  ausgezeichnet  gefafsten  Publication  im  dortigen 
Regierungsblatte,  No.  51.  9.  Decbr.  1833,  zu  urtheileu) 
geleistet  ist.  — 

Den  Inhalt  des  Buches  näher  betreffend,  so  ist  in  den 
sieben  Kapiteln  desselben  die  Rede  von  der  Nothwendig- 
keit,  den  Bedingungen,  dem  neuen  Plane,  dem  Personal 
und  der  Direction,  den  Kosten  der  Einrichtung  und  Un¬ 
terhaltung,  den  Beschränkungs-  und  Bändigungs- Mitteln, 
und  endlich  von  der  moralischen  Behandlung  und  dem  in¬ 
neren  Leben  eines  Hospitals  für  Alienirte. 

Die  Mittheilungen  über  benannte  Gegenstände  sind  den 
Ansichten,  welchen  Esquirol  in  Wrort,  Schrift  und  That 
stets  treu  geblieben  ist,  durchaus  im  Wesentlichen  nach¬ 
gebildet;  und  würde  diese  Ueberzeugung  sich  gleichsehr 
dann  aufdrängen,  wenn  die  Abhandlung  ihm,  den  der  Verf. 
,<le  plus  habile  medecin,  que  la  Psychiatrique  ait  jamais 
possede  (17),  uu  grand  homme  (22),  un  genie,  le  flam- 
beau  de  la  Psychiatrie »  (27)  uennt,  auch  nicht  aus  Re¬ 
spekt  und  Dankbarkeit  dedicirt  wäre.  — 

Nach  einem  etwas  rhetorisch  gehaltenen  Eingänge  und 


474 


VI.  Bel  landlnng  der  Irren, 

einer  lockeren  Charakteristik  über  Wahnsinnige,  führt  der 
Vcrf.  im  ersten  Kapitel  aufscr  andern  gewöhnlichen  Grün¬ 
den  für  die  Notwendigkeit  der  Irrenanstalten  näher  die 
Bohrung  auf,  und  geht  dann  im  zweiten  Kapitel  über  zu 
einer  numerischen  Aufzählung  der  Erfordernisse  zu  einer 
Irrenanstalt,  deren  Motivirung  dann  im  weiteren  Verlaufe 
folgt,  mit  Benutzung  dcsfallsigcr  von  Irrenärzten  und  in 
Irrenanstalten  gewonnenen  Belehrungen;  und  sind  nament¬ 
lich  Ilayner  und  Colditz  (weiche  zusammen  die 
beste  Irren  -  Pf  1  eg  eanstalt,  welche  Bef.  gesehen,  bilden), 
Pienitz  und  Sonnenstein,  Jacobi  und  Siegburg  in 
Deutschland  dankbar  genannt,  ohne  jedoch  auch  in  diesen 
Notizen  sonderlich  viel  Neues  zu  geben.  —  Hichcr  ge¬ 
hört  aber  z.  B.  die  Nachricht,  dafs  Corcelles,  Arzt  an 
einer  der  besten  englischen  Irrenanstalten,  an  der  zu  Wake- 
field  nämlich,  darüber  klagt,  dafs  daselbst,  wo  am  zweck¬ 
mäßigsten  und  kostspieligsten  für  Luft,  Heizung  und  Rei¬ 
nigung  gesorgt  ist,  dennoch  schlechte  Luft  herrscht.  Klagt 
der  Verf.,  dafs  man  auch  in  Sieg  bürg,  trotz  der  aller¬ 
sorgfältigsten  Reinlichkeit,  in  manchen  Sectionen  fortwäh¬ 
rend  eine  sehr  verdorbene  Luft  athme,  so  gilt  dies  doch 
nur  für  die  Abtheilatig  im  sogenannten  Ilinterbau,  die 
während  eines  mehrwöchentlichen,  dem  Ref.  in  steter  dank¬ 
barer  Erinnerung  bleibenden  Aufenthaltes  in  Siegburg  im 
Jahre  1830  mit  W  üthenden,  Lärmenden,  Schmutzigen  über¬ 
füllt  war,  welchem  damalig  unvermeidlichen  Ucbelstandc 
hoffentlich  gegenwärtig,  so  weit  die  freilich  ungünstige 
Localität  C6  zuläfst,  durch  Aufbau  eines  neuen  Stockwer¬ 
kes  und  durcl)  Fortschaffung  des  in  der  männlichen  Ab¬ 
teilung  des  Hinterbaues  befindlichen  »«Pissoir»  großen¬ 
teils  abgeholfen  sein  dürfte.  — 

Den  Kern  des  ganzen  Buches  bildet  das  dritte  Kapi¬ 
tel,  welches  einen  neuen  Plan  zu  einem  Irrenhause,  nebst 
dazu  gehöriger  Abbildung  giebt,  und  durch  welches  das 
zweite  Kapitel  erst  recht  cigeutlich  verständlich  wird. 
Dieser  neue  Plan  ist  eine  Idee  von  Esquirol,  im  Klei- 


475 


VI.  Behandlung  der  Irren. 

ne»  schon  in  seiner  Privatanstalt  zu  Ivry  zum  Theil  aus¬ 
geführt.  Esquirol  nämlich  hat  dem  Verf.  den  Plan  von 
Ivry  und  den  des  grofsartigen  Projectes  mit  den  Worten 
gegeben:  «Prcnez,  je  les  ai  refuses  ä  tout  le  monde,  mais 
vous,  -vous  savez  obtenir,  ce  que  vous  desirez. »  Der 
kleine  Plan  von  Ivry  ist  übrigens  durch  die  wissenschaft¬ 
liche  Gastfreundschaft  Esquirol’s  schon  anderweitig  be¬ 
kannt,  und  weifs  Ref.  aus  der  sichersten  Quelle,  dafs  der 
Mittheilung  desselben  sich  der  Prof.  Dr.  Man  dt  und  der 
Dr.  Rust  jun.  während  ihres  Aufenthaltes  in  Paris  im 
Jahre  1832  zu  erfreuen  hatten.  Für  die  Bekanntmachung 
des  grofsen  Planes  ist  dem  Dr.  Löwenhayn  nur  Dank 
zu  sagen,  wenn  gleich  derselbe  in  Esquirol’s  und  Des¬ 
portes1  Schriften  angedcutet,  in  den  Werken  von  v.  No¬ 
stitz  und  Roller  benutzt,  und  in  der  neuen  Irrenanstalt 
zu  Rouen  durch  Foville,  einen  Schüler  Esquirol’s, 
theilweise  ausgeführt  ist. 

Die  Anlage  ist  auf  450  bis  500  Irre  berechnet,  und 
besteht  aus  einer  Reihe  zwar  getrennter,  aber  durch  eine 
Säulenhalle  verbundener,  für  die  einzelnen  Abtheilungen 
bestimmter,  Quarrees  von  einstöckigen  Gebäuden,  in  de¬ 
ren  Mitte  sich  ein  mehrstöckiges  für  Oekonomie,  Admini¬ 
stration,  Beamtenwohnungen,  Reconvalescenten  u.  s.  w.  be¬ 
stimmtes  Hauptgebäude  erhebt. 

Wenn  gleich  diese  Idee  grofsartige  Vortheile  gewährt, 
wegen  der  einstöckigen  Gebäude,  wegen  der  wirklichen 
totalen  Trennung,  nicht  nur  der  Geschlechter,  sondern 
auch  der  einzelnen  Abtheilungen,  nach  Wohnungen,  Ho¬ 
fen,  Gärten  u.  s.  w.,  so  stellen  sich  andererseits  der  Aus¬ 
führung  so  groLe  Bedenken  entgegen,  dafs  Esquirol  sel¬ 
ber  diesen  Plan  als  einen  ideellen,  d.  h.  nicht  durchweg 
zu  realisirenden  auzusehen  scheint.  Zu  denselben  gehören: 
die  doppelt  zu  grofse  Anzahl  der  Aufzunehmenden,  das 
70  b  is  80  Morgen  haltende  Stück  Land,  die  enorme  Grund¬ 
fläche  der  Gebäude,  die  ungeheuren  Kosten,  namentlich 
von  Fundament,  Bedachung  uud  von  der  offenen,  alle 


47« 


VI.  Behandlung  der  Irren. 

Ouarrec’s  verbindenden  Säulenhalle.  Unvermeidliche  Nach- 

V 

t heile  in  financicller,  administrativer  und  technischer  Hin¬ 
sicht  entstehen  dadurch,  dafs  aufscr  der  II a u p t ccntralisa- 
tioi»,  noch  Ncbencentralisationcn  in  den  einzelnen  ge¬ 
trennten  Abtlieilungen,  und  dadurch  aufserordentliche  Ver¬ 
mehrung  des  ßeamtcnpersonals  nothwendig  werden.  Solche 
Anstalt  erfordert  aufser  dem  Direclor  vier  Aerztc  und 
vier  Chirurgen,  welche  im  Hause  wohnen  und  aus  den 
Fonds  der  Anstalt  bezahlt  werden;  ferner,  aufscr  dem  Ge¬ 
neral- Inspektor,  einen  Inspektor  und  eine  Inspektrice  für 
jede  der  vielen,  circa  12  Abtlieilungen;  —  und  nun  er¬ 
wäge  man  noch  die  Menge  von  Wärtern  (auf  8  bis  9 
Kranke  einen)  und  Dienern  für  Haus  und  Ilof,  Acker  und 
Vieh,  ferner  für  die  projectirten  Fabriken,  Handwerks¬ 
stätten,  für  die  Milcherei  u.  s.  w.! 

Wenn  irgend  ein  Reich,  so  vermag  freilich  dasjenige, 
welches  seiner  kolossalen  Gröfsc  analoge  Gebäude  aufzu- 
fuhren  gewohnt  ist,  solche  kolossale  Irrenanstalt  zu  rea- 
lisiren.  Petersburg  oder  Moskau  möchte  wohl  am  meisten 
hoffen  lassen;  und  wünscht  Ref. ,  dafs  der  Dr.  Löwen¬ 
hayn  das  Gouvernement,  oder  den  das  Glänzende,  Grofs- 
artige  liebenden  reichen  Moskowitischen  Adel  für  diesen 
Plan  gewinnen  möge. 

Die  geringe  Aussicht  zur  baldigen  Realisirung  dieses 
Planes  kann  allein  schon  für  jetzt  von  der  Beurlhcilung 
der  Detaillirung  desselben  abhalten.  Die  nähere  «  Expli¬ 
cation  u  (33  —  73),  so  wie  das  vierte  Kapitel  ( personcl 
et  direction),  enthalten  freilich  tüchtige,  fremde  und  eigene 
Bemerkungen ,  aber  auch  irrige;  und  wird  der  Verf.  die 
vermifste  Vollständigkeit  gewifs  erst  bei  näher  liegender 
Möglichkeit  der  Realisirung  zu  ergänzen  sich  bemühen. 

Nicht  einverstanden  kann  Ref.  mit  der  Ansicht  sein, 
dafs  d  ie  Anstalt  für  Heilbare  und  Unheilbare  bestimmt  sein 
solle,  wenn  gleich  diese  \erbindung  in  der  projectirten 
nicht  so  viel  schaden  würde;  ebeu  so  wenig  mit  den  ohue 
Ausnahme  und  Beschränkung  angenommenen  Sätzen:  dafs 


477 


VI.  Behandlung  der  Irren. 

alle  Reconvalesccutcn  von  den  übrigen  Irren  getrennt  sein 
müfsten,  und  dafs  die  Geschlechter 'nie  Zusammenkommen 
dürften,  —  da  im  Gegentheil  die  Erfahrung  zeigt,  dafs 
Reconvalescenten  sehr  gut  unter  ruhigen  Irren  genesen, 
und  die  Genesung  daselbst  mit  ein  Beweis  der  dauern¬ 
den  Heilung  sein  kann,  und  da  die  Geschlechter,  beson¬ 
ders  aus  den  höheren  Ständen,  freilich  unter  Aufsicht,  mit 
Vortheil  von  Zeit  zu  Zeit  zusammengebracht  werden,  was 
z.  B.  bei  Esquirol,  Pienitz  und  Gör  gen  bei  Tische, 
auf  Promenaden  und  in  den  Abendversammlungen  seit  Jah¬ 
ren  geschieht,  wovon  Ref.  Gelegenheit  gehabt  hat  sich 
zu  überzeugen. 

Ein  schöner,  an  Hoffnung  reicher,  aber  an  Wirklich¬ 
keit  armer  Traum  über  die  Beschaffenheit  der  Wärter 

»  A 

ist  es,  wenn  der  Verf.  aufser  andern  Pflichten  derselben 
die  der  « raisonnements  moraux  et  spirituels  ”  aufführt. 
Dergleichen  direkt  moralische  Einwirkungen  vorschrifts- 
mälsig  auf  die  Wärter  auszudehnen,  hält  Ref.  für  so  ver¬ 
werflich,  dafs  er  lieber  den  Wärter  fortjagte,  als  dafs  er 
dergleichen  von  ihm  duldete.  Man  mufs  sich  ein  eigenes 
Geschäft  aus  der  Beobachtung  dieser  Leute  gemacht  ha¬ 
ben,  um  aus  Erfahrung  zu  wissen,  worin,  mit  seltenen 
Ausnahmen,  diese  moralischen  und  spirituellen  Raisonne- 
meuts  derselben  bestehen:  in  dummen,  rohen  Aeufserun- 
gen,  im  Schimpfen,  Schelten  und  anderen  Gemeinheiten, 
womit  sie  am  häufigsten  Kranke  aus  höheren  Ständen  re- 
galiren,  um  den  schnöden  Kitzel  der  Schadenfreude  zu  ge- 
niefsen,  ihr  Müthchen  in  der  Art  und  in  dem  Grade  an 
Herren  und  Damen,  denen  sie  im  gewöhnlichen  Leben  pa- 
riren  müssen,  mal  kühlen  zu  können.  Nur  da,  wo  mu¬ 
sterhafte,  unausgesetzte  disciplinarische  Beaufsichtigung 
der  Wärter  keine  Lüge  ist,  ist  dergleichen  empörender 
Skandal  zu  vermeiden! 

Der  Verf.,  welcher  wünscht,  dafs  man  seinen  Rcise- 
bemerkungen  Vertrauen  schenke,  hätte  solche  wie  z.  B. 
die  ist,  dafs  «Ideler  (43)  das  llolzsägeu  als  das  non  plus 


478 


\  I.  Behandlung  der  Irren. 

ultra  der  specifischcu  Mittel  gegen  psychische  Krankheitcu 
betrachtet,  ”  —  nicht  drucken  lassen  sollen..  Dieses  arge 
Mifsverstanduifs  möchte  wohl  nur  dadurch  zu  erklären 
sein,  dafs  Idelcr  jene  unter  Horn  schon  gebräuchliche 
Arbeit,  hei  den  durch  die  bisherige  Localitüt  höchst  be¬ 
schränkten  Beschäfligungsmitteln,  die  beste  und  unentbehr¬ 
lichste  genannt  haben  kann,  und  zwar  mit  Hecht.  Hei 
uns  schadet  diese  Bemerkung  nicht;  aber  das  Buch  ist  Fran¬ 
zösisch  geschrieben,  ist  Ksquirol  dedicirt.  Wer  steht 
nun  dafür,  dafs  die  Franzosen,  die  das  Lächerliche  so  sehr 
anzieht,  sicli  nächstens  über  dies  in  der  Berliner  Charite  ge¬ 
bräuchliche  Specificum  lustig  machen,  indem  sie  die  An¬ 
gabe  für  baore  Münze  nehmen.  In  der  Thal  können  solche 
unbewährte  Bemerkungen  von  Heisenden,  wie  sie  seit  ei¬ 
niger  Zeit  leider  häufiger  Vorkommen,  die  Irrenärzte  ver¬ 
anlassen,  nicht  nur  sehr  zurückhaltend  mit  ihren  Mittei¬ 
lungen  zu  sein,  sondern  auch  jedes  Wort  auf  die  Gold¬ 
wage  zu  legeu,  als  wenn  sic  das  der  Oeffentlichkeit  über¬ 
gäben,  was  sic  doch  eigentlich  nur  der  Discretion  und  der 
sachverständigen  Auffassung  gebildeter  Fachgeuossen  münd¬ 
lich  anverlrauj.cn. 

Die  Beschaffung  der  Kosten  der  Einrichtung  und  Er¬ 
haltung  betreffend,  wovon  im  fünften  Kapitel  die  Hede, 
so  ist  dieselbe  nur  vorläufig  und  selbst  ins  Ungewisse  hin 
projeetirt,  und  kaun  also,  besonders  bei  fehlender  näherer 
Kcnntnifs  von  der  Art  der  Administration  dieses  Thciles 
des  Gemeinwesens  in  Hufsland,  keiner  weiteren  Beurtei¬ 
lung  unterliegen.  — 

ln  wie  fern  die,  Seite  113  gestellte  Meinung,  dafs  iu 
Hufsland  eben  so  viel  Wahnsinnige  als  in  Norwegen,  näm¬ 
lich  1  :  551,  wenn  diese  Zählung  richtig,  Vorkommen  möch¬ 
ten,  begründet  sei,  ist  von  der  Zukunft,  in  welcher  die 
Möglichkeit  einer  ächten,  treuen  Irren -Statistik  verhüllt 
liegt,  zu  entscheiden;  und  werde  nur  hinzugefiigt,  dafs 
z.  B.  nach  den  neuesten  Berichten  von  He  hm  nun  über 
die  im  Hospital  Aller -Leidenden  zu  St.  Petersburg  bebau- 


VI.  Behandlung  der  Irren.  479 

delten  Seelenkrankcn  (s.  Dorpater  Jahrbücher  für  Litera¬ 
tur,  Statistik  und  Kunst,  besonders  Kufslands,  lsteu  Ban¬ 
des  2tes  lieft  1833,  S.  183  —  188)  das  Verhältnifs  der  Ir¬ 
ren  zu  den  Einwohnern  für  die  Hauptstadt  von  1:3000 
angenommen  wird. 

Im  sechsten  Kapitel  giebt  der  Verfasser  eine  kurze, 
gut -praktische  Zusammenstellung  bekannter  Straf-  und 
Zwangsmittel,  nebst  den  Indicationen  ihrer  Anwendung. 
Es  herrscht  in  derselben  eine  verständige,  allmälige  Stei¬ 
gerung;  und  die  stete  Vergegenwärtigung  des  Faktums, 
dafs  Irre  nicht  Züchtlinge  sind,  verhütet  jene  einseitige, 
nicht  zu  individualisiren  verstehende  Methode,  welche,  in¬ 
dem  sie  zur  Erreichung  ihrer  Zwecke  gleich  von  vorn 
herein  mechanische  Hülfsmittel  nöthig  hat,  die  im 
Menschen  selber  schlummernden  Mittel  brach  liegen  läfst, 
und  die  Psychagogik  der  Mechanik  opfert,  Furcht,  Malice, 
Trotz,  Verstellung,  Lüge  weckt,  und  den  mechanisch  an¬ 
geordneten  mechanischen  Strafmitteln  am  Ende  das  wesent¬ 
lichste,  das  moralische  Agens  raubt,  und  somit  nur  jenen  tod- 
ten,  den  Menschen  zur  Maschine  herabwürdigenden  Gehor¬ 
sam  erreicht,  welcher  der  Begleiter  von  harter  Machthabe¬ 
rei  zu  sein  pflegt  ,  ohne  dafs  der  Arzt  die  Kranken  oft 
genug  weder  wesentlich  innerlich  zu  ändern,  noch  wahr¬ 
haftig,  so  wie  sie  sind,  kennen  zu  lernen  vermöchte.  — 
Wie  ausgezeichnet  Esquirol  im  psychischen  savoir  faire 
ist,  und  w'as  er  ohne  mechanische  Hülfe  bei  den  Franzo¬ 
sen  ausrichtet,  kann  freilich  nur  der  wissen,  welcher  ihn 
selber  wirken  gesehen  hat.  Seine  Macht  liegt  darin,  dafs 
er  mit  entschiedenem  zur  Kunstfertigkeit  ausgebildetem 
Talent  jeden  Seelenkrankcn  nur  seiner  Individualität  ge- 
mäfs,  also  jeden  auf  besondere  Weise  leitet,  und  die  am 
meisten  zugänglichen  Kräfte  des  Gemüths  mit  Hülfe  jenes 
leichten  französischen  Gemisches  von  Geist,  Herz  und  Witz 
zur  Erweckung  des  alienirten  Selbstbewufstseins  anregt. 

Im  siebenten  Kapitel  endlich  deutet  der  Verf.  einige 
« notions  prcliminaires ”  über  moralische  Behandlung  au, 


480 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

welche  er  nebst  der  Pathologie  in  dcu  beiden  folgenden 
Theilen  au führlich  der  Oeffentlichkeit  zu  übergeben  denkt. 
Frcundlrchst  möchte  ihm  zu  ratheu  sciu,  noch  ferner  Jahre¬ 
lang  —  «  diesem  Studium  jeden  Augenblick,  über  den  er 
disponiren  kann,  zu  widmen»  (III.),  bevor  er  sieb  an  die 
Herausgabe  der  folgenden  Bände  heranwagte.  Denn  da  er 
in  diesem  letzten  Kapitel,  so  wie  in  der  Vorrede,  sagt, 
dafs  die  Seelcnkrankheitcn  materiell  in  Hirn  uud  Nerven 
idiopathisch  oder  sympathisch  belcgenc  Uebel,  also  nur 
Symptome  von  Körperkrankheiten  seien,  so  würde  er,  die 
Sache  nicht  von  einem  anderen  Gesichtspunkte  aufgefafst, 
nichts  Neues  sagen;  sondern  einen  Weg  gehen,  den  die¬ 
jenigen,  welche  ihn  gemacht  haben,  wohl  kaum  zum  zwei- 
tenmalc  auf  die  nämliche  Art  machen  würden,  wenn  sie 
ihr  subjectives  Wissen  als  ein  objectives  aufzufassen  die 
Kraft  haben,  und  welchen  die  Psychiatric  in  ihrem  Fort¬ 
schreiten  iin  Grunde  genommen  eigentlich  schon  gröfisten- 
theils  hinter  sich  hat. 

II.  Damerow. 


VII. 

L'er  englische  Schweifs.  Ein  ärztlicher  Beitrag 
zur  Geschichte  des  fünfzehnten  und  sechzehnten 
Jahrhunderts  von  Dr.  J.  F.  C.  Ilecker.  Berlin, 
Verlag  von  Theod.  Christ.  Friedr.  Enslin.  1834.  8- 
XII  u.  240  S.  (1  Tklr.  12  Gr.) 

Es  ist  hergebracht  und  wir  sind  cs  gewohnt,  in  dem 
Thcile  des  Wissen»,  den  wir  als  Geschichte  bezeichnen, 
den  Menschen  zu  betrachten  im  Conflictc  mit  Menschen, 
in  welchem  Verhältnisse  vor  Allem  sich  offenbart,  wTas  er 
vermag  an  Kraft  uud  Grüfsc  und  Hoheit.  Aber  cs  scheiut, 
als  hätte  man  ob  solcher  Betrachtung  versäumt,  oder  ver¬ 
nachlässigt  wenigstens,  die  Geschichte  unseres  Geschlechtes 


481 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

der  Geschichte  des  Weltalls  gegenüberzustellen,  eine  For¬ 
schung,  deren  Ergebnisse  freilich  minder  unserer  Eitelkeit 
schmeicheln,  da  der  Herr  der  Natur  weniger  handelnd, 
als  leidend  auf  der  Biihne  erscheint.  Zu  gern  möchten 
wir,  was  durch  Menschen  geschehen,  als  jederzeit  durch 
eigene  Willenskraft  vollbracht  darstcllen  und  vergessen 
oder  läugnen  sogar  der  Urkräfte  und  Elemente  Gewalt 
über  unser  Geschlecht,  die  immer  zwar  dem  sorgfältig 
Beobachtenden  sich  kund  giebt ,  doch  selten  nur  für  Alle 
erkennbar  und  wahrnehmbar  wird. 

Die  Krankheiten,  die  früher  uns  fremd,  oder  nur  Ein¬ 
zelne  ergreifend,  plötzlich,  wie  durch  einen  Zauber  her¬ 
vorgerufen,  mit  Macht  auftreten,  Schrecken  über  die  Völ¬ 
ker  verbreiten  und  Tausende  hinwegraffen,  aber  mahnen 
auf  fürchterliche  Weise  die  Menschen  alle  an  ihre  Abhän¬ 
gigkeit  vom  Universum. 

In  doppelter  Weise  pflegt  dieser  Volkskrankheiten 
Verbreitung  statt  zu  haben:  entweder  eine  Epidemie 
stürmt  zu  allen  Völkern  und  durch  alle  Länder  fort  und 
ergreift,  weder  Herkunft  noch  Sitte  der  Menschen  achtend, 
Alle,  wo  sie  auch  wohnen  mögen,  mit  ähnlichen  Sympto¬ 
men,  die  kaum  mehr,  als  nur  dem  Grade  nach  von  ein¬ 
ander  ab  weichen.  Oder  2)  es  treten  in  den  verschiedenen 
Ländern  gleichzeitig  verschiedene  Krankheiten  auf,  die  in 
der  Wahl  der  zu  befallenden  Individuen  weniger  durch 
augenblicklichen  Aufenthalt  derselben,  als  durch  deren  an¬ 
gestammten  Charakter,  deren  Nationalität,  geleitet  werden. 
Mehr  oder  minder  deutlich  zeigen  sich  in  beiden  Fällen 
gleichzeitig,  oder  kurz  zuvor  Umgestaltungen  in  der  um¬ 
gebenden  Natur,  die  der  forschende  Beobachter  mit  den  un¬ 
gewohnten  Erkrankungen  in  bestimmte  Verbindung  setzen 
mufs,  sei  es  dals  er  beide  als  Wirkungen  eines  dritten 
unbekannten  Agens  betrachtet,  oder  dafs  er  dieser  Krank¬ 
heiten  Ursache  in  jenen  Naturereignissen  sucht. 

Verweilen  wir  bei  diesem  letzten  Umstande!  Wir 
hören  bei  fast  allen  Epidemieen  von  merkwürdigen  side- 


487 


VH.  Der  englische  Schweifs. 

rischen  Erscheinungen ,  von  Umwälzungen  im  Inneren  der 
Erde,  von  Vulkanen,  die  sich  gebildet,  oder  plötzlich  er- 
üfiiiet,  von  Veränderungen  in  dem  Stande  der  Meeresfläche, 
von  Unterschieden  inClima  und  Temperatur,  von  Nebeln  wel¬ 
che  geherrscht,  von  auffallenden  Umänderungen  in  der  Vegeta¬ 
tion  der  Gewächse,  von  Einwanderungen  oder  Durchzögen 
sonst  fremder  Thicre:  Ereignisse,  die  oft  alle  dem  Erscheinen 
einer  Volkskrankheit  eben  vorangingen,  und  die  auf  gewaltige 
Umgestaltungen  in  der  Natur  schlicfsen  lassen.  Letzteren  aber 
hat  der  Mensch  sich  zu  accommodiren :  es  mtifs  Einklang  und 
Harmonie  zwischen  ihm  und  dem,  was  er  seine  Aulsen- 
wclt  zu  nennen  beliebt,  hergestcllt  werden.  Ursprüngliche 
und  fortdauernde  Harmonie  zwischen  seinem  Geschlecht, 
in  körperlichem  und  geistigem  Verhalten  ,  und  dem  Aenfse- 
ren,  würde  vollkommene  physische  und  psychische  Ge¬ 
sundheit  gesetzt  haben:  das  ewige  Anpassen  der  selbst  sich 
melamorphosirenden  Menschen  an  die  Aufsenwelt  mit  ih¬ 
ren  steten  Metamorphosen  machte  die  Gesundheit  relativ; 
Widerstreben  gegen  die  Erfüllung  der  Forderungen  der 
Aufsenwelt,  oder  Schaffen  einer  neuen  Aufsenwelt  im  ei¬ 
genen  Innern  —  denn  auch  Geist  und  Körper  können  sich 
gegenseitig  Fremdes  und  Aeufßercs  werden  —  erzeugten 
die  Krankheit,  d.  i.  einen  Zustand,  dessen  Ziel  jedesmal 
Ausgleichung  bestehender  Disharmonie  ist,  mag  dieselbe 
erreicht  werden  oder  nicht. 

An  passen  also  soll  sich  die  Menschheit  an  die  Ver¬ 
änderungen,  die  —  wodurch  hervorgerufen?  wird  uns  viel¬ 
leicht  ewiges  Räthsel  bleiben  —  in  der  ganzen  Natur 
plötzlich  sich  ereignen.  Metamorphosen  in  dem  Wechsel- 
verhältnisse  der  organischen  Thätigkeiten  aller  Menschen 
werden  von  aufsen  her  mächtig  gefordert.  Eine  grofsc 
neue  Acclimatisation  des  Menschengeschlechtes  geht  vor 
sich.  Ein  stetes  gleiches  Product  niufs  zwar  in  jedem  In¬ 
dividuum,  wie  sonst,  sich  ergeben;  doch  geht  eine  Ver¬ 
änderung  vor  in  dein  Antheile,  den  jeder  seiner  einzelnen 
Producenteu  zu  entrichten  hat:  die  Antagonisten  im  Kör- 


483 


VII.  .Der  englische  Schweifs. 

per  gelangen  zu  gröfserer  Tätigkeit,  und  ein  Theil  ist 
häufig  des  anderen  Function  zu  übernehmen  genöthigt.  — , 
So  ist  also  hier,  wie  bei  jeder  organischen  Entwickelung, 
wo  ein  Gleiches  statt  findet,:  — -  Organe  schwinden,  es 
bilden  sich  neue;  Organe  treten  zurück,  andere  überneh¬ 
men  ihre  Function;  das  System  accommodirt  sich  dem  Or¬ 
gan  etc.  —  besondere  Anlage  zur  Krankheit  gegeben. 
Dafs  also  bei  solcher  allgemeinen  Acclimatisation  Wirklich 
Krankheiten  häufiger  als  sonst  auftreten  müssen,  liegt  klar 
zu  Tage:  der  geringste  Verstols  gegen  die  Forderungen  der 
Natur  ruft  sie  hervor. 

Warum  aber  ergreift  einmal  ein  gleiches  Uebel  un¬ 
ter  allen  Völkern  jeden,  welcher  nur  erkrankt;  warum 
herrscht  ein  andermal,  je  nach  Art,  Sitte,  Wohnort  in 
einem  Lande  diese,  in  dem  anderen  gleichzeitig  jene 
Krankheit?  Sind  die  Umgestaltungen,  welche  in  der  Na¬ 
tur  plötzlich  vor  sich  gegangen,  das  einemal  allen  Men¬ 
schen,  ohne  Rücksicht  auf  die  durch  frühere  Verhältnisse 
bedingten  Modifikationen  ihres  Seins,  so  gleich  fremd,  dafs 
bei  statt  habender  innerer  Umänderung  in  Allen  nur  eine 
Weise  der  Erkrankung  fast  auf  Einwirkung  jeglicher  Po¬ 
tenz  folgen  kann?  Oder  haben  schon  frühere  langsam, 
doch  allgemein  vorgeschrittene  Umgestaltungen  im  Aeufseren 
eine  bestimmte,  überall  gleichmäfsige  Umänderung  der 
Constitution  aller  Menschen  geweckt,  die  jetzt  nur  poten- 
zirt  wird  und  überall  eine  gleiche  Entscheidung  nach 
jeder  schädlichen  Einwirkung  fordert?  hier  giebt  es  des 
Dunkeln  und  Räthselhaften  Vieles! 

Näher  schon  liegt  uns  eine  Erklärung  der  Erscheinung, 
dafs  nach  statt  gehabten  weit  verbreiteten,  einflufsreichen 
Naturerscheinungen  in  dem  einen  Lande,  unter  dem  einen 
Volke  di  eseKrankheitauflritt,  während  an  d  ers  wo  gleich- 
zeitig  eine  andere  Art  des  Erkrankens  wahrnehmbar  ist. 
Immer  eine  Differenz  in  den  üulscren  Umgestaltungen  je  nach 
den  Ländern  anzunehmen,  würde  falsch  sein,  wenigstens 
die  Erscheinung  nicht  erklären,  dafs  ein  Fremdling,  der 


484 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

in  einem  Lande  seit  längerer  Zeit  sich  aufhält,  häufig  nicht 
von  dem  Ucbcl,  das  seine  Umgebungen  befällt,  sondern 
von  der  Krankheit,  die  gleichzeitig  unter  seiner  Nation 
herrscht,  ergriffen  wird.  Hier  ist  cs,  wo  alles  das,  des¬ 
sen  Inbegrilf  wTir  mit  dem  Namen:  Nationalität,  National- 
charaktcr,  zu  bezeichnen  pflegen,  seinen  mächtigen  Einflufs 
offenbart.  Es  ist  die  ganze  äufsere  und  innere  Vergangen¬ 
heit  einer  Nation,  die  allen  Gliedern  derselben  einen  ähn¬ 
lichen,  wenn  auch  nicht  gleichen  Charakter  aufgcdrückt: 
Abstammung  von  diesem  oder  jenem  Urstammc ,  wie  ihn 
seine  Umgebung  gemodelt  —  denn  die  Physiognomie  des 
Menschen  steht  in  Harmonie  mit  der  scinos  Landes:  des¬ 
sen  Boden  und  Erzeugnissen,  dessen  Pflanzen  und  Thie- 
ren  —  Mischung  des  Urstammes  mit  fremden  Stämmen, 
Wanderungen  des  Volkes,  traurige  oder  glänzende  Schick¬ 
sale  desselben,  Auffinden  festen  Wohnsitzes:  dessen  Clima, 
Lage,  Boden,  Produkte,  dessen  düsterer  oder  heiterer  Cha¬ 
rakter,  den  Berge,  Wilder,  Flüsse,  Seen,  Meer  ihm  ver¬ 
leihen.  Es  richten  sich  darnach  nicht  die  mehr  geistigen 
Energieen  allein,  als  da  sind:  Ernst  oder  Leichtsinn, 
Schwermuth  oder  Heiterkeit,  Ausdauer  oder  Wankelmuth, 
Fleifs  oder  Trägheit,  Tapferkeit  oder  Feigheit;  es  sind 
nicht  Religion,  Sprache,  Regierungsform  und  Sitte  allein, 
die  durch  diese  Einflüsse  sich  gestalten:  auch  dem  Körper 
verleihen  sie  Bildung  und  Ausdruck,  dem  Treiben  und  Ver¬ 
hältnisse  seiner  Systeme  und  Organe  Richtung  und  Maafs. 
Fordert  daher  dieselbe  neue  Naturrevolution,  dafs  die  Men¬ 
schen  ihr  sich  anpassen,  fordert  sie  überall  eine  Acclima- 
tisation,  eine  Umänderung  der  Verhältnisse,  in  denen  des 
Körpers  einzelne  Systeme  zu  einander  stehen:  60  ist  es 
natürlich,  dafs  die  Art  dieser  Umgestaltung  nach  der  Art 
des  Seins  sich  richtet,  dafs  hier  z.  B.,  um  nur  kurz 
eines  anzuführen,  das  äufsere  Hautsystem,  welches  bis¬ 
her  zurücksland,  mehr  Thäligkeit  entfalte,  während  dort 
die  inneren  Häute  mehr  angeregt  werden ;  daher 
denn  auch  die  verschiedenen  Arten  des  Erkrankens, 

wel- 


VII.  Der  englische  Schweifs.  485 

welches  bei  der  vorhandenen  Anlage  leichter  als  je  erregt 

Wird. 

Nach  diesen  Andeutungen  wird  cs  klar  sein,  welche 
Anforderungen  an  den  Darsteller  solcher  Volkskrankheiten 
zu  machen  sind:  er  hat  den  Conflict  des  Menschen  mit  dtr 
Natur  zu  schildern,  und  uns  hei  unvollkommener  Ausglei¬ 
chung  desselben  die  Genesis  bestimmter  Volkskrankheiten 
als  nothvv endig  zu  demonstriren.  Diese  Aufgabe  hat 
der  Verf.  in  seinem  vorliegenden  Werke,  das  mit  dem 
Zustande  und  den  Krankheiten  der  Völker  zu  Ende  des 
loten  und  zu  Anfang  des  löten  Jahrhunderts  uns  bekannt 

macht»,  zu  lösen  gesuchte 

— - 

Zu  Ende  des  15ten  Jahrhunderts  wurden  die  Völker 
Von  mörderischen  Seuchen  vielfach  heimgesucht.  Schon 
1477  brach  die  Drüsenpest  in  Italien  aus,  und  wüthete 
ohne  Unterlafs  bis  1485}  nicht  ohne  gröfsere  Naturerschei¬ 
nungen,  wohin  namentlich  mächtige  Ileuschreckenschwärme 
in  den  Jahren  1478  und  1482  gehören,  und  auffallende 
Zwischenkrankhc-iten,  wie  ein  über  das  ganze  Land  ver¬ 
breiteter  entzündlicher  Seitenstich  im  Jahre  1482.  In  der 
Schweiz  und  im  südlichen  Deutschland  stellten  sich  in 
Folge  von  Theurung  und  Ilungersnoth  1480  und  81  ver¬ 
heerende  Volkskrankheiten  ein,  während  in  Westphalen, 
Hessen  und  Friesland  Faulfieber  mit  heftiger  Ilirnwuth 
herrschten.  Man  erinnerte  sich  nie  in  diesem  Lande  so 
viele  Irrlichter,  wie  in  diesen  Jahren  gesehen  zu  haben, 
und  auch  hier  erlag  das  Volk  dem  Kornrnangel,  so  dafs 
man  genöthigt  war,  Vorräthe  fernher  herbeizuschaffen* 
Frankreich  wurde  nach  zweijährigem  Mifswachs  der  Schau¬ 
platz  einer  verderblichen  Seuche:  eines  hitzigen  Fiebers, 
mit  heftigem  Kopfschmerz  und  Wuthanfällen»  Im  Jahre 
1485  strömte  in  ganz  Europa  reichlicher  Regen  vom  Him¬ 
mel  herab,  und  Ueberschwemmungen  waren  häufig.  Fünf 
überaus  nasse  Jahre  waren  schon  vorausgegangen ;  1485 
war  das  sechste;  der  letzte  heifse  und  sehr  trockene  Som- 
Band  28.  Heft  4.  32 


48H 


VII.  I)or  engl  ische  Schweifs. 

iw*r  war  der  von  1179  gewesen.  Von  1  ISO  werden  grofse 
Uebersch wemmungen  der  Tiber,  de«  Po,  der  Donau,  des 
Rheins  und  der  meisten  übrigen  grofsen  Flüsse  berichtet 
mit  ihren  gewöhnlichen  Folgen:  Luflvcrderbnifs,  Klend 
und  Krankheiten.  Die  gröfile  Ueberschwemmung,  der  man 
sich  in  England  erinnerte,  war  die  der  Severn  im  Orto¬ 
ber  des  Jahres  14h3  (das  grotse  Wasser  des  Herzogs  von 
Buckingham),  die  10  Tage  dauerte. 

«  Die  damaligen  Engländer  waren  w’edcr  an  Reinlich* 
keit,  noch  in  ihren  Bedürfnissen  an  Mäfsigkeit  und  behag- 
liehe  Verfeinerung  gewöhnt.  Der  thieriscjic  Genufs  des 
Vielcssens  wurde  von  Vornehmen  und  Geringen  hochge- 
halten,  den  Weinkrügen  wurde  über  die  Gebühr  zuge* 
sprochen,  und  die  Landessiltc  billigte  bei  Gelagen  und 
Gostmählern  ein  so  verderbliches  Uebermaafs.  In  Folge 
des  grauenvollen  Krieges  der  rotheu  und  weifsen  Rose, 
war  die  ohnehin  düstere  Stimmung  der  Engländer  gewach¬ 
sen,  und  allgemeine  Unterdrückung  hatte  sich  der  Gemü- 

ther  bemeistert. ”  —  ßo  bedurfte  cs  bei  vorhandener  äufsc- 

•  * 

rer  Ursache  und  innerer  Anlage  nur  noch  eines  kleineu 
Anstolses,  um  einen  gewaltigen  Sturm  in  dem  geheimnifs- 
vollen  Getriebe  des  menschlichen  Körpers  anzuregen.  Die¬ 
sen  Anstofs  gab  die  Landung  des  Grafen  von  ltichinoud 
in  IM i Iford  Ilaven.  Sein  Heer  bestand  nicht  aus  Schaaren 
wackerer  Krieger,  beseelt  von  Eifer,  das  entehrte  Vater¬ 
land  zu  rächen,  oder  einer  guten  Sache  zu  dienen;  es  wa¬ 
ren  nur  umherschweifende  Söldlinge,  verderbliche  Lands¬ 
knechte,  wie  man  sie  in  Deutschland  nannte,  die  sich  bei 
Havre  unter  seinen  Fahnen  sammelten,  Freischützen,  die 
noch  von  Ludwig  XI.  errichtet,  in  der  Normandie  ohne 
Scheu  brandschatzten,  und  die  Karl  VIII.  dem  Hülfe  su¬ 
chenden  Fremden  mit  Freuden  überliefs,  um  seine  fried¬ 
lichen  Landschaften  von  einer  so  argen  Plage  zu  befreien. 
Vielleicht  war  dieses  Kriegsheer  nicht  schlimmer,  als  alle 
andere  dieser  Zeit,  aber  gewifs  voll  hinreichend  verderb¬ 
ter  Säfte,  um  während  einer  siebentägigen  Seefahrt,  iu 


487 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

unreinen  Schiffen  eng  zusammengeschichtet,  die  Keime  ei¬ 
ner  bösen  Krankheit  auszubriiten ,  welche  bald  darauf  an 
den  Ufern  der  Severn  wie  im  Lager  zu  Liehfield  zum 
Ausbruch  kommen  sollte.  Liehfield  liegt  niedrig,  und  hier 
gerade  verweilte  das  Ilcer  in  einem  feuchten  Lager,  bis 
es  nach  dem  nahen  Schlacht fclde  hei  Bösworth  aufbrach. 
Hier  erkämpfte  Richmond  mit  kaum  5000  Mann  den 
Sieg  über  Richard.  Schon  vor  dieser  Schlacht  hatte 
eich  eine  mörderische  Seuche  gezeigt,  welche  die  Reihen 
der  Streiter  lichtete,  und,  als  folgte  sie  dem  Kriegeszuge, 
innerhalb  weuiger  Wochen  von  Wales  bis  in  die  Haupt¬ 
stadt  vordrang.  «  Es  war  ein  überaus  hitziges  Fieber,  das 
nach  kurzem  Froste  die  Kräfte  wie  mit  einem  Schlage 
vernichtete,  und  während  schmerzhafter  Magendruck,  Kopf¬ 
weh  und  schlafsüchtige  Betäubung  hinzutraten,  den  Kör¬ 
per  in  übeiriechenden  Schweifs  auflöste.  Dies  alles  ge¬ 
schah  innerhalb  weniger  Stunden,  und  niemals  blieb  die 
Entscheidung  über  Tag  und  Nacht  aus. M  Unaufhaltsam 
verbreitete  sich  die  Krankheit  von  Osten  nach  Westen 
über  das  ganze  Land.  In  London  soll  sic  erst  am  21.  Sep¬ 
tember  ausgebrochen  sein,  doch  haben  die  Geschichtschrei¬ 
ber  mit  diesem  Tage  wohl  nur  den  Anfang  ihres  heftigen 
Wüthens  bezeichnet,  das  bis  zu  Ende  des  folgenden  Mo¬ 
nats,  im  Ganzen  also  fünf  Wochen  fortdauerte.  Während 
dieser  kurzen  Zeit  erlag  eine  übergrofse  Volkszahl  der 
neuen  Seuche.  Gerade  die  kräftigen  Männer  wurden  von 
derselben  am  heftigsten  ergriffen,  während  Kinder,  Wei¬ 
ber  und  Greise  fast  ganz  verschont  blieben.  Das  einma¬ 
lige  Ueberstehen  der  Schweifssucht  gab  keine  Sicherheit; 
denn  viele  Genesene  erkrankten  mit  gleicher  Heftigkeit 
noch  das  zweite-  und  drittemal.  So  verbreitete  sich  die 
Seuche  bis  zu  Ende  des  Jahres  über  ganz  England,  und 
hausele  aller  Orten  mit  gleicher  Heftigkeit,  wie  in  der 
Hauptsladt.  Grofs  war  der  .Schrecken,  als  sie  in  Oxford 
.  ausbrach,  Lehrer  und  Schüler  flohen  alsbald  nach  allen 
Seiten,  doch  ereilte  der  Tod  viele  von  ihnen,  und  sechs 

32  * 


I 


48S 


Vif.  Der  englische  Schweifs. 


Wochen  laug  blich  die  berühmte  Hochschule  verödet.  In 
Croyland  zeigte  sicii  die  Seuche  ein  Vierteljahr  später. 
Von  allen  übrigen  Orten  sind  keine  bestimmten  Angaben 
auf  uns  gekommen,  doch  ist  aus  den  Zeichen  allgemeiner 
Angst  und  Notli  zu  entnehmen,  dafs  der  Mcnschcnvcrlust 
sehr  bedeutend  gewesen.  —  Die  Krankheit  war  ein  hitzi¬ 
ges  Flufelicber  mit  grofsen  Nervenleiden. »» 

«  Der  strömende  .Schweifs  mit  allen  seinen  Merkmalen 
schadhafter  Beimischung  war  das  Ergebnifs  einer  von  Sei¬ 
ten  der  Lungen  angeregten,  an  und  für  sich  kritischen  Be¬ 
wegung.  Schädliche,  sogar  übelriechende  Nebel  drangen 

•  • 

in  das  Innere  der  Werkzeuge  des  Athmens,  und  wie  hier¬ 
durch  das  Blut  in  seiner  Mischung  und  in  seinem  Le¬ 
ben  in  Anspruch  genommen  und  eine  nur  durch  starkes 
Schwitzen  auszugleichende  Verderbnifs  in  ihm  angeregt 
wurde:  so  konnte  ein  unmittelbarer  Eingriff  in  die  weit¬ 
ausgedehnte  Verrichtung  des  achten  Nerven  nicht  fehlen, 
welche  bei  Vielen  selbst  in  das  Rückenmark  ausstrahltc 
und  heftige  Zuckungen  hcrbciführtc.  ” 

Die  Krankheit  ist  höchstwahrscheinlich  zuerst  in  dem 
Lager  Heinrichs  VII.  ausgebrochen ,  und  verbreitete  sich 
von  Westen  nach  Osten,  und  wieder  von  Osten  nach 
Westen.  Bei  der  ganz  gleichmäfsigen  Einwirkung  der  vor¬ 
bereitenden  Ursachen,  bei  welchen  die  Krankheit  ohne 
Zweifel  in  ganz  England  zu  gleicher  Zeit  hätte  ausbrechcu 
müssen,  wenn  der  Zustand  der  Luft  ihre  einzige  Veran¬ 
lassung  gewesen  wäre,  läfst  sich  mithin  eine  bestimmte 
Ursache  ihres  Vorrückens  über  Städte  und  Dörfer  vermu- 
then.  Diese  entwickelte  sich  allem  Anscheine  nach  in  dem 

mit  üblem  Gerüche  überladenen  Dunstkreise  der  Kranken, 

#  •  #  ♦  7 
so  wie  in  den  Zelten  und  \Nohnungen,  in  denen  die  Sol¬ 
daten  Hei  u  rieh  s  VII.  nach  Entbehrungen  uud  harter  Ar¬ 
beit  in  Sturm  und  Regen  eng  zusammengedrängt  hauseten. 
«  Gewifs  hatten  die  Zeitgenossen  Recht,  wenn  sie  den  Ge¬ 
danken  an  Ansteckung  im  Sinne  der  ihnen  wohlbekanutcn 
Fest  uicht  aufkommen  iiefsen.  Denn  allzuhäutig  kamen 


489 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

unter  den  Vornehmen  Erkrankungen  vor,  welche  aus  Ver¬ 
pestung  durch  Kranke  nicht  zu  erklären  waren,  und  of¬ 
fenbar  ohne  die  gewöhnlichen  Veranlassungen  entstanden. 
In  diesen  Fällen  gab  die  Todesfurcht,  die  der  Krankheit 
überall  hin  vorauseilte  und  die  Brustnerven  in  krampfhaf¬ 
ten  Aufruhr  brachte,  den  Anstofs  zu  dem  durch  Luftbe¬ 
schaffenheit  und  Wohlleben  längst  vorbereiteten  Uebel.  ” 
Plötzlich,  am  1.  Januar  1486,  wo  ein  heftiger  Sturm  wü- 
thete,  hörte  die  Krankheit  auf.  Was  hatten  die  Aerzte 
zur  Bekämpfung  der  Krankheit  gethan?  Sie  safsen  und 
schwitzten  über  dem  Studium  alter  Sprachen,  und  suchten 
Belehrung  über  ein  neues  Uebel  in  Büchern,  die  vor  mehr 
als  1000  Jahren  das  Licht  der  Welt  erblickt  hatten.  — 
Was  indefs  die  gelehrten  Herren  nicht  ergründen  konn¬ 
ten,  trotz  ihres  Studiums  aller  vergangenen  und  ihrer  Phan- 
tasieen  über  alle  künftigen  Krankheiten,  fand  der  gesunde 
Menschenverstand  heraus:  «keine  gewaltsame  Arzneieu, 
wohl  aber  mäfsige  Erwärmung  anzuwenden;  keine  Nah¬ 
rung,  und  nur  wenig  mildes  Getränk  zu  geniefsen,  und 
in  ruhiger  Lage  24  Stunden  geduldig  auszuharren,  bis  zur 
Entscheidung  des  gefahrvollen  Uebels. »  Bald  ging  die 
Kunde  durch  das  ganze  Land,  dies  Verfahren  sei  zuver¬ 
lässig,  und  so  wurden  denn  bis  gegen  Neujahr  1486  noch 
Viele  dem  Verderben  entrissen.  — 

Ehe  der  Verf.  an  die  Schilderung  der  zweiten  Schweifs- 

t 

fieberepidemie  geht,  die  im  Jahre  1506  England  heim¬ 
suchte,  wirft  er  einen  Blick  auf  den  Zustand  der  Welt 
zu  Anfänge  des  löten  Jahrhunderts,  das  unerwartete  Ent¬ 
deckungen,  einflufsreiehe  Erfindungen  und  der  Geister  ge¬ 
waltiges,  doch  fruchtbares  Ringen,  schroff  von  den  frühe¬ 
ren  scheidet.  Grofse  Krankheiten  hatten  unterdefs  Europa 
heimgesucht  —  die  Luslseuchc  hatte  die  Völker  mit  Ent¬ 
setzen  erfüllt,  die  Pest  war  mehrmals  wieder  aufgetreten. 
Unvermuthet  erhob,  im  Sommer  1506,  der  alte  Feind  der 
Engländer,  das  Schweifsfieber,  wieder  sein  Haupt.  «Der 
Wiederausbruch  der  Seuche  verband  sich  diesmal  mit  kei- 


400 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

ncr  erheblichen  Brgcbenhcit,  und  so  haben  die  Zeitgenos¬ 
sen  nicht  einmal  den  Monat  angegeben,  in  welchem  sic 
zu  wutheu  angefangen.  Gegen  den  Herbst  war  sic  schon 
wieder  verschwunden.  «  Die  Krankheit  brach  in  London 
ans  —  ob  sic  westwärts  vorgedrungen  sei,  darüber  haben 
die  Zcitgeuossen ,  bald  überzeugt  von  der  Geringfügigkeit 
der  Seuche,  keine  Berichte  aufgezeichnet ;  wie  weit  und 
wohin  sie  sieh  aber  auch  verbreitet  haben  mag,  über  Eng« 
lands  Granzen  ging  sic  nicht  hinaus,  und  nirgends  veran- 
lafste  sie  eine  bedeutende  Sterblichkeit.  Unerheblich  wie 
diese  Seuche  war,  so  begleiteten  sie  auch  keine  auffal¬ 
lende  Erscheinungen  in  England.  Mehr  Berücksichtigung 
verdient  die  trübe  und  unbehagliche  Stimmung  des  Volkes 
Hnter  der  Regierung  des  habsüchtigen  Heinrichs  VH. 
Während  diese  Krankheit  aut  England  beschränkt  blieb, 
zeigten  sich  im  übrigeu  Europa  einige  Krankheiten,  ver¬ 
schieden  nach  dem  Charakter  der  Länder  und  Völker,  die 
sie  beimsuchten.  In  Italien  herrschte  eine  Fleckfieberepi¬ 
demie;  im  Octobcr  1505  brach  in  Lissabon  eine  sehr  mör¬ 
derische  Krankheit  aus.  Von  welcher  Art  sic  gewesen, 
ob  ein  Heckfieber  oder  eine  Drüsenpest,  und  in  welchem 
Zusammenhänge  sie  mit  einer  kurze  Zeit  vorausgegange¬ 
nen  Seuche  iu  Spanien  gestanden,  möchte  schwerlich  noch 
z»  ermitteln  sein.  Mit  alJcu  diesen  Erscheinungen  bilden 
die  Seuchen  in  Deutschland  und  Frankreich  zu  Anfang  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  ein  anschauliches  Ganze  voll  in¬ 
nerer  Verbindung.  \  o,n  verschiedener  Heftigkeit  und  Aus¬ 
dehnung  währten  sic  ohne  Nachlafs  fünf  volle  Jahre.  Das 
Jahrhundert  hatte  sich  durch  einen  grofsen  Comcten  an¬ 
gekündigt,  bald  darauf  bemerkte  man  eiu  grofses  Viehster¬ 
ben,  ein  bedeutender  Raupen  fr  als  entlaubte  1502  im  nörd¬ 
lichen  Deutschland  Gärten  und  Wälder,  kleine  crvptoga- 
mische  Gewächse  (Rlutflecken)  wucherten  im  Wasser  und 
an  allerlei  feuchten  Gegenständen.  «Nach  allen  diesen 
Thatsachen  wird  die  Vermutbung  wahrscheinlich,  dafs  die 
Schweifssucht,  welche  England  im  Jahre  1506  hciinsuchtc, 


491 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

wenn  auch  in  diesem  Lande  selbst  von  keinen  erhebli¬ 
chen  Vorgängen  begleitet,  mit  der  krankhaften  Regung  des 
Menschen-  und  Thierlebens  im  südlichen  und  in  Mittel¬ 
europa  nicht  aufser  Verbindung  stand,  und  vielleicht  als 
die  letzte  shwache  Nachwirkung  geheimnifsvolier  Triebfe¬ 
dern  im  Reiche  der  Organischen  angesehen  werden  kann. ” 

Weniger  bedeutend,  als  bei  diesen  ersten  Epidemieen, 
scheinen  die  Veränderungen  in  der  Natur  gewesen  zu  sein, 
die  dem  dritten  Erkranken,  das  1517  erfolgte,  voraus¬ 
gingen.  Dagegen  scheint  die  eigentümliche  Lebens¬ 
stimmung  der  damaligen  Engländer,  erzeugt  durch  Völ¬ 
lerei,  Unmäfsigkeit  und  Unreinlichkeit,  sehr  in  Betracht 
zu  kommen,  wobei  auch  der  damaligen  Sitte  des  unmäfsi- 
gen  Warmhaltens  und  einer  dadurch  hervorgebrachten  Nei¬ 
gung  zu  Krankheiten,  welche  durch  die  Haut  sich  ent¬ 
scheiden,  gedacht  werden  mufs.  Die  SchweilaKicht  brach 
im  Juli  zu  London  aus,  und  war  für  diesmal  so  gewaltig 
und  von  so  raschem  Verlaufe,  dafs  sie,  durch  keine  Vor¬ 
boten  verkündet,  die  Kranken  schon  in  zwei  oder  drei 
Stunden  wegraffte,  und  von  diesen  der  erste  Fieberfrost 
für  die  Ankündigung  des  sicheren  Todes  gehalten  wurde. 
Volle  sechs  Monate  währte  die  Krankheit:  schon  ungefähr 
sechs  Wochen  nach  ihrem  Ausbruche  erreichte  sie  ihre 
gröfste  Höhe,  und  verbreitete  sich  von  London  aus  wahr¬ 
scheinlich  über  ganz  England.  In  Oxford  und  Cambridge 
wüthete  sie  nicht  weniger,  als  in  der  Hauptstadt,  die  mei¬ 
sten  dortigen'  Einwohner  wurden  innerhalb  einiger  Tage 
bettlägerig,  und  die  aufblühenden  Wissenschaften  erlitten 
empfindliche  Verluste  durch  den  Tod  vieler  würdigen  und 
ausgezeichneten  Gelehrten.  Schottland,  Irland  und  alle 
anderen  überseeischen  Länder  blieben  noch  für  diesmal  ver¬ 
schont;  nur  das  nahe  Calais  wurde  von  der  Seuche  er¬ 
reicht,  doch  kann  man  nach  späteren  Beobachtungen  mit 
Sicherheit  annehmen,  dafs  nur  die  dortigen  Engländer, 
nicht  aber  die  französischen  Einwohner  daran  erkrankten, 
wie  cs  denn  auch  ausgemacht  ist,  dafs  auch  das  übrige 


492  VH.  Der  englische  Schweifs. 

Frankreich  sich  frei  von  der  Krankheit  erhielt.  —  Wer¬ 
fen  wir  einen  Iilick  auf  den  Gesundheitszustand  der  übri¬ 
gen  Welt,  so  finden  wir  im  Jahre  1517  Deutschland  von 
der  Hauptkrankheit,  einem  typhöson  Fieber,  Holland  und 
die  Schweiz  von  einer  Diphtberitis,  Amerika  aufs  schreck¬ 
lichste  von  Pocken  und  Masern  heimgesucht.  So  erschien 
auch  der  englische  Schweifs  von  1517  nicht  allein,  son¬ 
dern  umgehen  von  einer  ganzen  Gruppe  von  Volkskrank- 
Leifcn,  die  durch  allgemeine  krankmachende  Eiullüscc  von 
unerkanntem  Wesen  hervorgerufen  wurden. 

Mehr  aber  als  je  erschienen  im  Jahre  1528  gewaltige 
Naturereignisse  als  Verkündiger  schrecklicher,  allgemein 
verbreiteter  Krankheiten,  die  wiederum  in  der  Menschen 
Plane  und  Anstrengungen  zerstörend  und  verderblich  ein- 
griilcn  — -  u  Ereignisse,  die  in  überraschender  Entwickelung 
zeigen,  dafe  das  Geschick  der  Völker  von  den  Gesetzen 
des  physischen  Lehens  zu  Zeiten  nooh  weit  mehr  geleitet 
wird,  als  von  dem  Willen  der  Mächtigen  dieser  Erde  und 
allen  Regungen  menschlicher  Thatkraft,  die  den  entfessel¬ 
ten  Naturkräften  ohnmächtig  widerstreben.1*  «Die  Zeit- 
bucher  aller  europäischen  Völker  sind  voll  von  denkwür¬ 
digen  Angaben  über  die  Störungen  der  Natur  in  den  Jah¬ 
ren  1527  und  28.  Den  ganzen  Winter  hindurch  über¬ 
schwemmten  Regengüsse  das  Land,  die  Flüsse  traten  aus 
ihien  Ulcrn,  und  so  wurde  die  Wintersaat  durch  Fäulnifs 
vernichtet.  Dann  blieb  es  trocken  bis  zum  April;  kaum 
aber  halte  man  die  Sommersaat  dem  Boden  anvertraut,  so 
regnete  es  wieder  volle  8  Wochen  Tag  und  Nacht,  so 
dal’s  auch  nun  die  letzte  Hoffnung  auf  eine  Ernte  vernich¬ 
tet  wurde,  und  die  dorchnäfste  Erde  in  dicken  Nebeln 
den  wohlbekannten  Dämon  der  Schweifssucht  ausbrütete. 11 
In  Oberitalien  traten  schon  im  Jahre  1527  so  bedeutende 
Uebersch wemmungen  aller  Flufsgcbiete  ein,  dafs  die  Astro¬ 
logen  eine  neue  Süudfluth  verkündeten-  Sie  wiederholten 
sich  in  gleicher  Ausdehnung  und  Verderblichkeit  im  fol¬ 
genden  Jäkie,  so  dafs  nicht  ohne  Grund  auf  ciuc  Ucbcr- 


493 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

häufung  der  höchsten  Gebirge  Europa’s  mit  Schnee  geschlos¬ 
sen  werden  kann.  1529  den  3.  Juli  folgte  ein  gewaltiges 
Erdbeben  in  Oberitalicn,  und  bald  darauf  ein  sogenannter 
Blutregen  in  Cremona.  1530  im  October  trat  die  Tiber 
so  hoch  über  ihre  Ufer,  dafs  in  Rom  und  der  Umgegend 
an  12000  Menschen  ertranken.  Einen  Monat  später  durch¬ 
brach  die  See  in  den  Niederlanden  die  Deiche,  und  Hol¬ 
land,  Seeland  und  Brabant  litten  sehr  bedeutend  durch  das 
Ueberfluthen  des  Wassers,  das  zwei  Jahre  darauf  sich  wie¬ 
derholte.  Die  Kälte  des  Frühjahres  und  die  Nässe  des 
Sommers  von  1528  verdarben  in  Frankreich  die  Saaten, 
und  so  brach  über  das  ganze  Land  eine  Hungersnoth  her¬ 
ein,  durch  ihre  Dauer  wohl  noch  empfindlicher,  als  die 
Zeiten  des  Mangels  unter  Ludwig  NI.  Denn  der  Mifs^ 
wachs  wiederholte  sich  5  Jahre  hindurch,  während  weh 
eher  keine  Ordnung  der  Jahreszeiten  mehr  zu  bestehen 
schien.  Eine  feuchte  Sommerwärme  herrschte  im  Herbst 
und  Winter;  nur  dann  und  wann  kam  ein  eintägiger  Frost 
zu  Stande;  die  Sommer  dagegen  waren  trübe,  feucht  und 
unfreundlich.  —  In  der  Mark  Brandenburg  zeigten  sich 
1528,  bei  anhaltendem  Südostwinde  und  grofser  Trocken¬ 
heit,  Heuschreckenschwärme.  Feuermeteore  und  Cometen 
erschienen  in  ungewöhnlicher  Zahl.  Der  Winter  von  1529 
war  äufserst  milde:  das  ganze  Frühjahr,  den  ganzen  Sorm 
mer  über  blieb  jedocli  die  Nässe  vorherrschend.  Anhal¬ 
tende  Regengüsse  überschwemmten  die  Felder,  die  Flüsse 
traten  aus  ihren  Ufern,  das  Gedeihen  der  Früchte  wurde 
durchweg  vereitelt,  und  allenthalben  brach  Elend  und  Hun¬ 
ger  herein.  Tm  Ganzen  brach  die  Sonne  nur  wenig  durch 
die  dichten,  grauen  Wolken:  der  Spätsommer  und  der 
ganze  Herbst,  mit  Ausnahme  einer  Reihe  heifser  Tage  vom 
24.  August  an,  blieben  trübe  und  nafskalt;  man  glaubte 
britische  Nebelluft  zu  athmen.  Der  Genufs  der  Fische 
schadete1  dein  Volke.  In  der  Umgegend  von  Frerburg  im 
Breisgau  fand  man  hier  und  da  todte  Vögel  unter  den  Bäu¬ 
men  mit  erbsengrofson  Eiterbeulen  unter  den  Flügeln,  den 


494 


VH.  .Der  englische  Schweifs. 

Spuren  einer  unter  ihnen  verbreiteten  Krankheit,  welche 
wahrscheinlich  noch  in  viel  gröfserer  Ausdehnung,  als  in 
den  südlichen  Kheinlandcn  vorkam.  Von  llungcrsnoth  wur¬ 
den  besonders  Schwaben,  Lothringen,  Elsafs  und  die  übri¬ 
gen  südlichen  Uhcinlande  heimgesucht,  so  dafs  hier  das 
Elend  dieselbe  furchtbare  Höhe  erreichte,  wie  in  Frank¬ 
reich.  Im  nördlichen  Deutschland  war  der  Zustand  i in 
Ganzen  erträglicher.  Doch  wurde,  abgesehen  von  den 
zahllosen  Uebcln,  welche  die  Theurung  an  sich  schon  her¬ 
vorruft,  sogar  der  Selbstmord  häutiger.  Auffallend  war 
eine  Art  von  ohnmachtähnlicher  Ermattung,  die  sich  im 
Juni  und  Juli,  gerade  bis  zu  der  Zeit,  wo  die  Schweifs¬ 
sucht  ausbrach,  besonders  in  Pommern,  zu  grofscr  Ver¬ 
wunderung  des  Volkes  sich  zeigte.  Mitten  in  der  Arbeit, 
und  ohne  alle  begreifliche  Ursachen,  wurden  die  Leute  an 
Händen  und  Füfsen  lahm,  so  dafs  sie  sich  nicht  helfen 
konnten,  wenn  sie  auch  gleich  hätten  sterben  sollen.  Er¬ 
scheinungen  dieser  Art,  welche  hier  offenbar  von  atmo¬ 
sphärischem  Einflüsse  abhingen,  sind  nur  die  äufsersten  Stei¬ 
gerungen  einer  allgemein  krankhaften  Abstumpfung  des  Le« 
beosgefühls.  M 

Bringen  wir  gleichzeitig  den  psychischeo  Zustand  der 
Völker  in  Anschlag,  erzeugt  durch  die  Kriege  des  erobe¬ 
rungssüchtigen  Franz  I.  von  Frankreich,  mit  dem  Un¬ 
glück,  das  sie  über  Tausende  brachten,  durch  die  Grofs- 
tliat  Luthcr’s  mit  der  gewaltigen  Aufregung  die  sie  io 
Deutschland,  England  und  dem  Norden  hervorrief  —  so 
kann  cs  uns  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  gewaltige  Krank¬ 
heiten  durch  den  Kampf  der  Natur,  der  Geister  und  der 
Leiber  geweckt  wurde.  In  Italien  herrschte  1528  ein  bös¬ 
artiges  Flcckfleber;  dieses  vernichtete,  vielleicht  im  Ver¬ 
eine  mit  anderen  Seuchen,  das  französische  Heer  vor  Nea¬ 
pel;  in  Frankreich  wüthete  in  demselben  Jahre  dicTroussc- 
galant:  ein  sehr  hitziges  Fieber,  das  die  Befallenen  in  ganz 
kurzer  Zeit,  selbst  innerhalb  weniger  Stunden  tödtetc, 
oder  kamen  sic  mit  dem  Leben  davon,  sic  der  Haare  und 


I 


VII.  Der  englische  Schweifs.  495 

Nägel  beraubte,  und  bei  fortdauerndem  Widerwillen  gegen 
alle  Fleiscbnahrung,  langdauernde  Schwäche  und  Folge¬ 
krankheiten  zurückliefs,  welche  die  Genesung  der  ohne¬ 
hin  schon  zerrütteten  Kranken  gefährdeten.  In  England 
brach  in  den  letzten  Tagen  des  Mai  1528  das  Schweifs- 

i 

lieber  aus,  mitten  in  dem  volkreichsten  Theile  der  Haupt- 
6tadt,  verbreitete  sich  rasch  über  das  ganze  Königreich, 
und  wurde  14  Monate  später  für  alle  Völker  des  nördli¬ 
chen  Europa  ein  Schreckbild  des  Entsetzens,  wie  kaum 
je  eine  andere  Volkskrankheit.  Es  zeigte  sich  sogleich  in 
derselben  Tödtlichkeit,  wie  elf  Jahre  früher,  kündigte  sich 
durch  keine  Vorboten  an,  und  zwischen  Wohlsein  und 
Tod  lag  nur  eine  kurze  Frist  von  5  oder  6  Stunden.  — 
Ohne  Zweifel  hat  die  Kankheit  bis  in  den  lauen  Winter 
in  geringerer  Stärke  unter  dem  Volke  fortgedauert.  Dafs 
6ie  noch  während  des  Sommers  1529  in  England  vorhan¬ 
den  gewesen  sei,  darüber  sind  keine,  auch  nicht  ein¬ 
mal  ungenaue  Angaben  vorhanden.  Als  Volkskrankheit  be¬ 
stand  sie  gewifs  nicht  mehr,  doch  ist  bei  Erwägung  der 

* 

Luftbeschaffenheit  in  diesem  Jahre  nicht  in  Abrede  zu  stel¬ 
len,  dafs  noch  vereinzelte  Erkrankungen  am  Schweifsfieber 
vorgekommen  sein  mögen,  denn  Seuchen,  wie  diese,  blei¬ 
ben  bei  der  Fortdauer  ihrer  ursprünglichen  Ursachen 
nicht  ohne  Nachzügler.  Westwärts  nach  Irland  drang  das 
Schweifsfieber  nicht  vor,  und  eben  so  wenig  überschritt 
es  die  schottische  Gränze.  —  Während  also  in  England 
die  Seuche  erloschen  war,  brach  sie  am  25.  Juli  1529 
zuerst  in  Hamburg  aus.  Sie  soll  sich  aber  nicht  eher  in 
der  Stadt  gezeigt  haben,  als  bis  ein  Schiffer  gerade  um 
die  angegebene  Zeit  aus  England  zurückkehrte,  und  mit 
ihm  am  Bord  viele  junge  Leute,  von  denen  in  zwei  Ta¬ 
gen  wohl  12  an  dieser  Krankheit  starben.  Diese  Verstor¬ 
benen  waren  nach  einer  anderen  Nachricht  nicht  in  Eng¬ 
land,  sondern  unterweges  auf  dem  hohen  Meere  erkrankt, 
und  die  Seuche  brach  aus,  nachdem  die  noch  übrige  Mann¬ 
schaft  gelandet  war.  Nachdem  so  das  Schweifsfieber  unter 


496 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

der  Gesellschaft  des  Schiffers  selbstständig  und  ohne  eng¬ 
lische  Mittheilung  ausgebrochen  war,  mag  dieser  Leute 
Verkehr  mit  Menschen  in  den  unreinen  und  engen  Gassen 
Hamburgs  einen  Anstofs  zum  Ausbruch  der  Schweifsfichcr- 
seuche  gegeben  haben,  in  sofern  sie  den  vorhandenen  Zun¬ 
der  noch  entzündbarer  machten,  oder  den  ersten  Funken 
hincinwarfen.  Fast  um  dieselbe  Zeit,  wie  in  Hamburg, 
zeigte  sich  das  Schweifsficber  in  Lübeck,  dann  plötzlich 
in  Zwickau  —  später  im  September  in  Stettin,  Danzig 

und  anderen  preufsischen  Städten,  in  Augsburg,  in  Köln, 

% 

in  Strafsburg,  in  Frankfurt  am  Main,  in  Marburg,  Göttin¬ 
gen  und  Hannover.  Nicht  reisende  Kaufleute  haben  die 
Krankheit  verschleppt;  sie  war  flüchtiger,  als  die  damali¬ 
gen  Fracht-  und  Heisewagen  auf  ungebahnten,  grundlosen 
Landstrafsen,  denn  es  konnte  so  bald  kein  Gerücht  vou  der 
Krankheit  wo  hin  kommen,  so  kam  sie  selber  mit.  Zwi¬ 
schen  der  angedeuteten  Grünzc  blieben  wahrscheinlich  nur 
einzelne  Städte  und  Dörfer  von  der  Schweifsfleberseuchc 
verschont,  und  es  möchten  vielleicht  nur  wenige  Jahrbü¬ 
cher  dieses  an  grofsen  Ereignissen  so  fruchtbaren  Zeitalters 
aufzufinden  sein,  in  denen  der  gewaltigen  Geifsel  des  Jah¬ 
res  1529  nicht  auf  irgend  eine  ausdrucksvolle  Weise  Er¬ 
wähnung  geschähe.  —  In  jedem  einzelnen  Orte  aber 
währte  das  Schweifsficber  nur  5,  6  bis  höchstens  10  Tage.  — 
Erst  vier  Wochen  später  als  Deutschland,  wurden  die  Nie¬ 
derlande  von  der  Seuche  heimgesucht.  In  Amsterdam  er¬ 
schien  sie  erst  am  29.  September,  während  die  Stadt  in 
einen  dichten  Nebel  eingehüllt  war,  und  ganz  gleichzei¬ 
tig,  vielleicht -noch  einen  Tag  früher,  in  Antwerpen.  In 
deu  letzten  Tagen  des  Monats  September  und  den  ersten 
des  October  war  das  Schweifsfieber  über  das  ganze  Gebiet 
der  Niederlande,  mit  Einschlufs  von  Belgien,  verbreitet. 
Auf  die  letzten  Tage  des  September  fällt  auch  der  Aus¬ 
bruch  der  Kraukhcit  in  Dänemark  und  in  der  scandinavi- 
s chen  Halbinsel.  Dafs  die  Schweifssucht  auch  Litthaucn, 
Polen,  Liefland,  vielleicht  auch  cidcn  Thcil  von  Kufsland 


i 


497 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

durchzogen  habe,  wissen  wir  nur  im  Allgemeinen.  Nir¬ 
gends  aber  findet  sich  eine  sichere  Spur,  dafs  sie  noch  im 
Dccember  1529  oder  im  Januar  des  folgenden  Jahres  ir¬ 
gendwo  vorgekommen  sei.  Sie  verschwand  überall  nach 
vierteljähriger  Dauer  im  Ganzen,  ohne  irgend  ein  Merkmal 
ihres  Daseins  in  der  Entwickelung  anderer  Krankheiten 
zurückzulassen. 

Noch  einmal  sollte  aber  das  Schweifsfieber  England 
heimsuchen.  In  Shrewsbury,  der  Hauptstadt  von  Shrop- 
shire,  erhoben  sich  während  des  Frühjahres  dicke,  undurch¬ 
dringliche  Nebel  von  den  Ufern  der  Severn.  Nicht  lange 
darauf  brach  am  15.  April  das  Schweifsfieber  wieder  aus. 
Das  Erkranken  war  in  Shrewsbury  und  den  benachbarten 
Orten  so  beispiellos  allgemein,  dafs  jedermann  glauben 
mufste,  die  Luft  wäre  vergiftet:  jede  einzelne  Wohnung 
wrurde  ein  Krankenhaus,  und  nur  die  Kinder  und  Alten, 
die  zur  Pflege  der  ihrigen  nichts  beitragen  konnten,  blie¬ 
ben  verschont.  Ueberall  herrschte  Trostlosigkeit  und  Ver¬ 
zweiflung.  Innerhalb  weniger  Tage  starben  in  Shrcvtfsbury 
960  Einwohner,  gröfstentheils  kräftige  Männer  und  Haus¬ 
väter.  Die  Schw’eifsfieberseuche  verbreitete  sich  alsbald 
über  ganz  England  bis  an  die  schottische  Gränze  und  seine 
eigenen  Meeresgränzen.  Von  den  Ufern  der  Severn  schien 
eine  wahre  Vergiftung  über  ganz  England  auszugehen.  Die 
Krankheit  dauerte  im  Ganzen  fast  ein  halbes  Jahr,  näm¬ 
lich  vom  15.  April  bis  zum  letzten  September:  sie  ging 
nur  allmälich  von  Ort  zu  Ort,  und  wir  bemerken  hier 
nicht  die  Blitzesschnelle  in  ihrer  Verbreitung,  die  im  Herbst 
1529  in  Deutschland  so  grofse  Verwunderung  erregt  hatte. 
Um  den  kurzen  Weg  von  Shrewsbury  nach  London  zu¬ 
rückzulegen,  bedurfte  das  Schweifsfieber  ein  ganzes  Vier¬ 
teljahr.  Denn  es  brach  hier  erst  am  9.  Juli  aus,  und  er¬ 
reichte  schon  in  einigen  Tagen  seine  grüfste  Höhe.  Doch 
war  die  Sterblichkeit  bei  weitem  geringer,  als  in  Shrcwrs- 
bury,  denn  es  starben  in  der  ganzen  ersten  Woche  nur 
600  Einwohner.  Der  Menschenverlust  im  ganzen  Reiche 


498  VII.  Der  englische  Schweifs, 

war  sehr  bedeutend,  so  daß  ein  Geschichtschreiber  sogar 
von  Entvölkerung  spricht;  auch  blieb  kein  Stand  verschont, 
sondern  mit  gleicher  Wuth  forderte  die  Schweifssucht  ihre 
Opfer  in  den  unreinen  Hütten  der  Armen,  wie  in  den  Pa¬ 
lästen  der  Grafen  und  Herren. 

Man  machte  in  diesem  Jahre  die  höchst  auffallende 
Bemerkung,  dafs  die  Schweifssücht  die  Ausländer  in  Eng¬ 
land  durchaus  verschonte,  den  Engländern  dagegen  ins  Aus¬ 
land  folgte,  so  dafs  diese  in  den  Niederlanden  und  Frank¬ 
reich,  ja  selbst  in  Spanien  von  der  Seuche  in  nicht  unbe¬ 
trächtlicher  Anzahl  weggerafft  wurden,  ohne  diese  irgend¬ 
wo  den  Eingeborenen  mitzutbeilen.  Nicht  einmal  in  dem 
nahen  Calais  erkrankten  die  französischen  Einwohner,  und 
da  nun  weder  die  Schotten,  noch  die  Irländer  von  dem 
Schweifsfieber  heimgesucht  wurden,  so  können  wir  die 
Annahme  irgend  einer  Eigenthiimlichkeit  in  dem  ganzen 
Sein  der  Engländer,  welche  sic  ausschließlich  für  diese 
Krankheit  empfänglich  machte,  nicht  von  der  Hand  wei¬ 
sen.  '  Man  mufs  etwas  in  der  englischen  Luft  annehmen, 
das  den  Engländern  die  rheumatische  Spannung  mit t heilte, 
oder  Thrcn  mit  unverarbeiteten  Säften  überladenen  Körper 
so  durchdrang,  dafs  ihre  Lebensstimmung  bis  zur  sogenann¬ 
ten  Opportunität  der  Schweifssucht  verändert  wurde.  Bei 
einem  solchen  Zustande  bedarf  cs  allerdings  nicht  der  ge¬ 
wohnten  und  mehr  eigentümlichen  Anlässe,  um  den  letz¬ 
ten  Schritt  zu  der  lange  verbreiteten  Krankheit  zu  bewir¬ 
ken,  sondern  es  reichen  die  ganz  allgemeinen  Ursachen  des 
Erkrankens  hin,  um  den  letzten  Anstofs  zu  geben,  wenn 
dies  auch  unter  einem  ganz  anderen  Himmel  sein  sollte, 
wie  jetzt  bei  den  Engländern  unter  dem  spanischen. 

Der  Winter  von  1550  und  51  war  in  England  trocken 
und  warm,  das  Frühjahr  trocken  und  kalt,  Sommer  und 
Herbst  waren  heifs  und  feucht.  Das  ganze  Jahr  zeigte 
manches  Außerordentliche,  ohne  jedoch  in  das  Pflanzen- 
und  Thierleben  so  mächtig  uud  in  einem  so  großen  Kreise 
ciuzugrcifcu ,  wie  die  Zeit  der  vierten  Schvveißficberseuehc. 


499 


VII.  Der  englische  Schweifs. 

Es  wird  hier  und  da  sogar  als  ein  Fruchtbares  gerühmt. 
Dennoch  fehlt  es  nicht  an  Erzählungen  vonStürmen,  Ueber- 
schwemtnungen,  Regengüssen,  Lufterscheinungen  und  selbst 
Erdbeben  —  Thatsachen,  welche  hinreichen,  um  eine  Ueber- 
ladung  des  Luftmeeres  mit  Wasser,  und  eine  gewifs  nicht 
unbedeutende  Störung  der  elektrischen  Verhältnisse  ganz 
deutlich  zu  erkennen.  —  In  allen  Ländern  hatte  sich  die 
Jahre  zuvor  eine  typhöse  Constitution  ausgebildet,  die  sich 
bei  den  geringsten  Anlässen  durch  bösartige  Krankheiten 
zu  erkennen  gab:  Ruhr,  Pest,  Fleckfieber,  Trousse- galant 
u.  s.  w.  Im  Jahre  1551  endlich  herrschte  in  Schwaben 
eine  pestartige  Krankheit,  die  den  Herzog  Christoph 
von  Würtemberg  bestimmte,  sich  von  Stuttgard  zurück¬ 
zuziehen.  Sie  war  nicht  eben  verbreitet,  und  blieb,  wie 
es  scheint,  in  den  andern  deutsche«  Landen  unbekannt. 
Auch  in  Spanien  zeigte  sich  die  Pest,  und  bringt  man  die 
Influenz  desselben  Jahres,  so  wie  die  grofsen  Erkrankun¬ 
gen  an  bösartigen  Fiebern  in  Deutschland  und  der  Schweiz 
in  Anschlag,  die  noch  von  den  folgenden  beiden  Jahren 
berichtet  werden,  so  ergiebt  sich  wiederum  ganz  deutlich, 
dafs  die  fünfte  Schweifsfieberseuche  umgeben  von  einer 
Gruppe  verschiedenartiger  Volkskrankheiten  erschien,  wel¬ 
che  als  Wirkungen  allgemeiner  Einflüsse  betrachtet  wer¬ 
den  können.  — 

Vergegenwärtigen  wir  uns  noch  einmal  das  Bild  der 
äufserst  hitzig,  meist  in  24  Stunden  verlaufenden  Krank¬ 
heit,  deren  Verbreitung  und  Zusammenhang  mit  anderen 
Naturerscheinungen  wir  eben  kennen  gelernt  haben,  nach 
der  ausführlichen  Darstellung  des  Verf.  bei  Schilderung  des 
vierten  Erkrankens.  Bei  den  Meisten  trat  die  Krankheit 
ohne  Vorboten ,  mit  kurzem  Schüttelfröste  und  Zittern  ein. 

Nacken,  Schultern,  Schenkel  oder  Arme  wurden  von  zie- 

* 

hendeu  Schmerzen  befallen.  In  ganz  bösartigen  Fällen  stell¬ 
ten  sich  selbst  Zuckungen  der  Glieder  ein.  Einige  fühl¬ 
ten  auch  ein  warmes,  über  die  Glieder  sich  verbreitendes 
Auwehen,  wonach  sogleich  ohne  alle  sichtbare  Ursache 


500 


VII*  Der  englische  Schweifs. 

der  Schweife  hervorbrach,  bei  anhaltender,  sieb  steigern* 
der  Hitze  der  inneren  Theile,  die  sieb  nach  aufeen  ver- 
breitete.  Viele  Kranke  empfanden  sogleich  zu  Anfang  ein 
unangenehmes  Kricbcln  oder  Ameisenlaufen  in  den  Händen 
und  Füfeen,  das  sieb  sogar  zu  stechenden  Schmerzen  und 
einem  äufserst  schmerzhaften  Gefühl  unter  den  Nägeln  stei¬ 
gerte,  zuweilen  auch  mit  rheumatischen  Krämpfen  und  mit 
einer  solchen  Ermattung  des  Oberkörpers  verbunden  war, 
dafs  die  Befallenen  durchaus  nicht  im  Stande  waren,  die 
Arme  zu  beben.  Einigen  sah  man  während  dieser  Zufälle 
die  Ilände  und  Füfse,  den  Weibern  auch  wohl  die  Weh 
dien  anschwellen.  Die  Kranken  litten  bei  sehr  beschleu¬ 
nigtem  und  gereiztem  Puls  an  grofeem  Durst,  und  warfen 
sich  äufserst  unruhig  umher;  unter  dumpfem  Kopfwell,  das 
Alle  empfanden,  verfielen  Viele  in  schwatzhafte  Irrcredcn 
oder  rasende  Fieberwuth,  wonach  denn  die  furchtbare 
Schlafsucht  hcreinbrach,  die  so  häufig  den  Tod  durch 
Schlagflufs  lierbciführte.  — -  Von  tödtlicher  Angst  wur¬ 
den  die  Kranken  gepeinigt,  so  lange  sie  ihrer  Sinne  mäch¬ 
tig  blieben;  sic  athmeten  mit  grofser  Beschwerde,  die 
Stimme  war  kläglich  und  seufzend,  das  Ilerz  zitterte  und 
klopfte  fortwährend  unter  dem  drückenden  Gefühle  inuc- 
reo  Brennens;  Zuckungen,  Ekel  undErbrecben  traten  nicht 
eben  selten  ein.  Der  Schweifs  selbst,  der  bald  zu  An¬ 
fänge  der  Krankheit  leicht  und  reichlich,  bald,  besonders 
bei  Phlegmatischen,  sehr  schwer  hervorbrach,  war  dick 
und  von  verschiedener  Farbe,  bei  allen  aber  von  sehr 
übclem  Geruch,  der  bei  etwaniger  Unterdrückung,  nach 
erfolgtem  Wiederausbrucli,  noch  viel  durchdringender  wurde. 
Mildere  Formen  der  Krankheit  wurden  ohne  alle  Gefahr 
binnen  15  Stunden  bei  mäfsfger  Hitze  durch  ciuen  ganz 
sanften  Schweifs  entschieden.  E^  zeigte  sich  sogar  eine 
Form  der  Krankheit,  der  gerade  der  wesentlichste  Zufall, 
der  schmelzende  Schweifs  abging.  —  Auffallend  ist  cs, 
dafs  während  dieser  stürmischen  Krankheit  wieder  die 
Thätigkcit  der  Nieren,  noch  die  Sluhlauslccrung  ganz  un¬ 
ter* 


501 


Vif.  Der  englische  Schweifs. 

\  * 

terbrochen  wurden.  Zuweilen  bemerkte  man  selbst  in  den 

i 

leichteren  Fällen,  dafs  die  Kranken  gleichzeitig  mit  dem 
Ausbruche  des  Schweifses  Harn  in  grofser  Menge  liefsen. 
Wichtig  ist  die  Bemerkung  eines  achtbaren  holländischen 
Arztes,  Tyengius,  dafs  nach  überstandenem  Scliweifse  an 
den  Gliedmaafsen  kleine,  nicht  zusammenfliefsende  und  die 
Haut  sehr  uneben  machende  Bläschen  erschienen  wären, 
die  nach  Staphorst  in  Hamburg  noch  bei  Leichen  gese¬ 
hen  sein  sollen.  Wahrscheinlich  waren  es  Frieselbläs- 
chen.  —  Die  Erschöpfung  der  Lebenskräfte  durch  den 
englischen  Schweifs  war  grofs,  woher  denn  auch  schnelle 
Genesung  wohl  nur  nach  der  mildesten  Form  beobachtet 
wurde;  diejenigen  aber,  denen  er  heftiger  zugesetzt  hatte, 
mindestens  noch  acht  Tage  lang  sehr  hinfällig  und  kraftlos 
blieben.  Unterdrückung  des  Schweifses  hatte  meistens  den 
Tod  unausbleiblich  zur  Folge.  Rückfälle  waren  häufig, 
wurden  nicht  selten  zwei-  oder  viermal  beobachtet,  ja 
sollen  sogar  zwölfmal  vorgekommen  sein,  worauf  oft  Was¬ 
sersucht  folgte.  Zu  frühe  Einwirkung  der  Luft  auf  die 
Genesenden  erregte  leicht  Durchfälle. 

Für  die  rheumatische  Natur  der  gewaltigen  Krankheit 
spricht  theils  die  Art  der  Einflüsse,  die  sie  ins  Leben  rie¬ 
fen,  theils  sind  die  Beweise  für  diese  Ansicht  aus  dem  Ver¬ 
laufe  derselben  selbst  zu  entnehmen.  Unter  letzten  werden 
vorzugsweise  vom  Verf.  hervorgehoben:  die  grofse  Empfind¬ 
lichkeit  der  Kranken  gegen  jeden  Wechsel  der  Temperatur; 
die  Neigung  des  rheumatischen  Zustandes,  sich  durch  sehr 
ergiebige,  saure  und  übelriechende  Scliweifse  zu  entschei¬ 
den,  die  hier  aufs  höchste  gesteigert  hervortrat;  die  eigen¬ 
tümlich  umgeänderte  Grundmischung  des  organischen 
Stoffes  in  den  rheumatischen  Krankheiten,  in  Folge 
welcher  flüchtige  Säure  im  Schweifse,  wie  im  Harne, 
und  thierische  Aussonderungen  von  besonderem  Gerüche 
vorwalten;  die  ziehenden  Schmerzen  in  den  Gliedern; 
die  Neigung  der  Flüsse,  bei  ungünstigem  Verlaufe  in 
eigentümliche  Wassersucht  überzugehen  —  lauter  Er* 
Band  28.  Heft  4.  33 


:V)2  \  II.  L>cr  englische  Schweifs. 

% 

schcinungcn,  die  das  englische  Schweifsfieber  in  reichem 
Maafse  darbot. 

Wir  würden,  wollten  wir  alle  bedeutenden  Bereiche¬ 
rungen  unseres  Wissens  hervorheben,  die  die^c  Schrift  uns 
dargeboten,  die  Grunze  einer  Anzeige  weit  überschrei¬ 
ten,  —  es  sind:  wichtige  Thatsachen  für  die  Geschichte  der 
Krankheiten,  deren  dem  englischen  Schweifse  gleichzeiti¬ 
ges  Auftreten  oben  angegeben,  Darstellung  der  Influenzen 
als  erste  Offenbarungen  oder  Nachklänge  weitverbreiteter 
Volkskrankbeitcn,  Schilderung  der  Acrzle  und  ihres  Trei¬ 
bens  in  jenen  Zeiten,  dann  die  interessanten  Zugaben  der 
Schrift,  die  dem  englischen  Schweifs  verwandten  Krank¬ 
heiten:  die  Herzkrankheit  der  Alten,  den  Picardsehen 
Schweifs  und  das  Röttinger  Schweifsfieber  betreffend. 

Nur  auf  Eines,  das  auf  die  Ansteckung  Bezug  hat,  er¬ 
lauben  wir  uns  noch  kurz  aufmerksam  zu  machen.  Der 
Verfasser  unterscheidet  bleibende,  Jahrhunderte  hindurch 
unveränderliche  und  zeitliche,  vergängliche  ansteckende 
Krankheiten.  «  Die  Austcckungsstoffc  jener  können  füglich 
die  vollkommenen  oder  unwandelbaren,  im  Gegensätze  der 
unvollkommenen  oder  wandelbaren  von  diesen  genanut  wer¬ 
den.  Jene  sind,  einmal  gebildet,  entweder  in  einzelnen 
Kranken,  oder  in  todten  Körpern  (fomites)  immer  vor¬ 
handen,  und  werden  durch  ihnen  günstige  Ursachen  all¬ 
gemeiner  Erkrankung  (epidemische  Constitution)  nur  in 
ihrer  Wirksamkeit  gesteigert,  wobei  zu  bemerken,  dafs 
sic  uuter  allen  Verhältnissen  immer  dieselben  unveränder¬ 
lichen  Kraukheiten  erregen,  und  einzelne  Abzweigungen 
oder  Entartungen  und  Milderungen  abgerechnet,  ihr  eigent¬ 
liches  Wesen  nie  verlieren.  Beispiele  sind  die  Pocken, 
die  Pest,  die  Masern,  und  wenn  hier  auch  von  lieberiosen 
Krankheiten  die  Rede  sein  kann,  der  Aussatz,  die  Krätze 
und  die  Lustseuche.  *  Ref.  mag  cs  nicht  bergen,  wie  er 
hier  des  Hrn.  Yerf.  Ansichten  nicht  theilt,  sondern  geneigt 
ist,  auch  für  die  unveränderlichen  ansteckenden  (fieberhaf¬ 
ten)  Kraukhcitcu  ciuo  Gcucratio  acquivoca  in  Anspruch  zu 


503 


VIII.  Medicinische  Bibliographie. 

nehmen.  Zunächst  ist  durch  unsere  Ueberzeugung  von 
ihrer  ansteckenden  Natur  die  Möglichkeit  ihrer  Entstehung 
durch  Urzeugung  gewifs  nicht  ausgeschlossen.  Und  dann  — 
wie  wollen  wir  uns  das  Verhältnis  der  epidemischen  Con¬ 
stitution  zur  Ansteckung  denken?  Wie  uns  z.  B.  den  von 
Alex.  v.  II  um  hol  dt  mitgetheilten  interessanten  Umstand, 
dais  die  Pocken  im  südlichen  Amerika  in  bestimmten  Zeit¬ 
abschnitten  fast  regelmälsig  wiederzukehren  pflegen,  erklä¬ 
ren?  Warum  soll  hei  einer  allgemein  verbreiteten  Krank¬ 
heitsanlage,  bei  einem  allgemein  gewordenen  Bedürfnils, 
könnte  man’s  vielleicht  nennen,  zur  Ueberstehung  einer 
Krankheit,  diese  mit  ihrem  Ausbruche  zögern,  bis  der  Zu¬ 
fall  eine  Menge  Menschen  mit  einem  oder  einigen  Indivi¬ 
duen  in  Berührung  bringt,  in  denen  dieselbe  durch  Saa- 
men  aufgesprofst  ist,  der  von  dem  ersten  Krankheitsexem¬ 
plar,  welches  existirte,  abstammt?  Der  Verf.  verzeihe  un¬ 
ser  Bedenken. 

Die  äufsere  Ausstattung  des  Werkes  läfst  auch  die 
gröfsten  Ansprüche  nicht  unbefriedigt. 

Stannius. 


VIII. 

Medicinische  Bibliographie. 


Braun,  J.,  die  Medicin  unserer  Tage  in  ihrer  Vervoll¬ 
kommnung  durch  das  homöopathische  Heilsystem,  gr,  8. 
Leipzig,  Baumgärtner,  br.  1  Thlr.  12  Gr. 

Caspari,  homöopathisches  Dispensatorium  für  Aerzte  und 
Apotheker.  Ilerausgeg.  von  F.  Hartmann.  gr.8.  Leipzig, 
Baumgärtner,  br,  12  Gr. 

Dupuytren,  klinisch -chirurgische  Vorträge.  Für  Deutsch¬ 
land  bearb.  von  E.  Beeil  und  Rud.  Leouhardi.  Ir  Band. 
Mit  4Kupf.  gr.8.  Leipzig,  Baumgärtner,  br.  2 Thlr.  12 Gr. 


504  VIII.  Mcdiclnische  Bibliographie. 

Zeitschrift  für  die  gesammte  Thierheilkunde  und  Vieh¬ 
zucht.  Ilcrausgcg.  von  E.  L.  W.  Nebel  und  K.  \V.  Vix. 
Ir  Bd.  4  Hefte,  gr.8.  Giefsen,  Kicker.  hr.  u.  2  Th  Ir. 

Abbildung  und  Beschreibung  aller  in  der  Pharmacop. 
horuss.  aufgeföhrten  Gewächse,  von  Guimpel.  Text  von 
F.  L.  v.  Schlechtcndal.  llr  Bd.  17s  lieft,  gr.4.  Berlin, 
Oehmigkc.  br.  n.  12  Gr. 

Repertorium,  allgemeines,  der  gesammten  deutscheu 
tuedic.  chirurg.  Journalistik.  Ilerausg.  von  C.  F.  Klei¬ 
nert.  YHIr  Jahrg.  1834.  12  Hefte,  gr.8.  Leipzig,  Koll- 
mann.  hr.  7  Thlr. 

Sachs,  L.  W.,  und  Fr.  Ph.  Dulk,  Handwörterbuch  der 
praktischen  Arzneimittellehre.  2r  Thcil.  2te  Ahthcilung. 
gr.8.  Königsberg,  Bornträger.  3  Thlr.  20  Gr. 

Schiirmaycr,  J.  II.,  Anweisung  znr  sichern  Heilung  der 
KnochenbrQchc  des  Ober-  und  Unterschenkels,  durch 
eine  einfache  und  wohlfeile  Maschine.  Mit  einer  Stein¬ 
drucktafel.  gr.8.  Freiburg,  Gebr. Groos.  br.  6  Gr. 

Wrelcn,  die  homöopathischen  Arzneien  in  Ilauptsympto- 

mengruppen.  gr.8.  Leipzig,  Köhler,  br.  1  Thlr.  12  Gr. 

• 

Chemnitz,  Wangeroge  und  das  Seebad.  Neue  Auflage. 
gr.8.  Bremen,  Kaiser,  br.  n.  12  Gr. 

Clarion,  J.  I).  M.,  pathologisch -therapeutisches  Manual, 
oder  vollständiger  Inbegriff  der  praktischen  Medicin  nach 
physiologischen  Grundsätzen.  Nach  dem  Franz,  mit  den 
nölhigen  Abänder,  und  Zus.  vers.  von  C.  J.  A.  Venus. 
gr.8.  Ilmenau,  Voigt.  2  Thlr. 

Encyklopädie  der  gesammten  medicinischen  und  chi¬ 
rurgischen  Praxis;  von  G.  F.  Most.  6s  Heft.  Malacosis 
bis  Polypus.  gr.8.  Leipzig,  Brockhaus.  br.  n.  20  Gr. 

Repertorium,  allgemeines,  der  medic.  chir.  Journalistik 
des  Auslandes.  Ilerausg.  von  Fr.  J.  Behrcnd.  5r  Jahrg. 
1834.  12  Hefte,  gr.8.  Berlin,  Hirschwald.  br.  n.  6  Thlr. 


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