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Full text of "Sämtliche Werke"

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Digitized by the Internet Archive 
in 2009 with funding from 
Ontario Couneil of University Libraries 


http://www.archive.org/details/s2smtlichewerke04raab 





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Dieled Wert wurde gebrudt in der Offigin Ernſt Hedrih Nachf. in eeipiig- 
Einbandzeihnung und Innentitel find entworfen von Bernhard Lorenz. 
Den Einband fertigte H. Fikentſcher im Leipzig. 


Inhalt des vierten Bandes. 


Krähenfelder Gefchichten (1879) 
Zum wilden Mann (18. Juli—29. September 1873) . 
Hörter und Corvey (23. November 1873—15. April er 
Eulenpfingiten (25. April—29. Juni 1874) . 
Frau Salome (6. Juli—1. Oktober 1874) . 
Die Innerite 6. Oktober —20. Dezember 1874) . 
Bom alten Proteug (1. Sanuar—5. Mai 1875) 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie IT. 1d 





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Krähenfelder Geſchichten | 


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er Titel, den diefe Sammlung führt, ift wohl ein wenig 
D zu begründen; glücklicherweiſe ſteht feſt, daß derſelbe eben 
ſo gut iſt als irgend ein anderer. 

Bor einem der Tore der Stadt Braunſchweig liegt eine recht 
ſchöne Gegend, — feit undenflichen Zeiten das Krähenfeld 
genannt. Dort hat der Verfaffer feit dem Jahre 1870 gehauft 
und die nachfolgenden Stüde allgemah zu Papier gebracht. 
Daß er dafelbft auch den „Oräumling“, den „Chriftoph Pechlin“, 
den „Meifter Autor”, den „Horader“, den „Wunnigel” und den 
„Deutfchen Adel” nach und nah vom Gewiſſen losgeworden 
ift, braucht an diefer Stelle nicht weiter in Betracht gesogen 
ju werden. 


Dftober 1878. 





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Zum wilden Mann. 


Erſtes Kapitel, 


Ch machten weit und breit ihre Bemerkungen über das Wetter, 
und e8 war wirklich ein Wetter, über das jedermann feine 
Bemerkungen laut werden laffen durfte, ohne Schaden an feiner 
Reputation zu leiden. Es war ein dem Anfcheine nad) dem Mens 
ſchen außergewöhnlich unfreundlicher Tag gegen das Ende des 
Dftober, der eben in den Abend oder vielmehr die Nacht über; 
ging. Weiter hinauf im Gebirge war ſchon am Morgen ein ge 
waltiger Wolkenbruch niedergegangen, und die Vorberge hatten 
ebenfalls ihr Teil befommen, wenn auch nicht ganz fo arg als 
Bolt, Vieh, Wald, Fels, Berg und Tal weiter oben. Sie waren 
unter den Vorbergen nordwärts vollkommen zufrieden mit dem, 
was fie erhalten hatten, und hätten gern auf alles weitere ver; 
zichtet, allein das Weitere und Übrige fam, und fie hatten eg 
binzunehmen, wie e8 fam. Ihre Anmerkungen durften fie freis 
lich darüber machen; niemand binderte fie. 

Es regnete ftoßweife in die nahende Duntelheit hinein, und 
ftoßmweife durchgellte ein feharfer, beißender Nordwind, ein ges 
borener Isländer oder gar Spitbergener, aus der norddeutfchen 
Tiefebene her die Lüfte, die Schlöte und die Ohren und ärgerte 
fih fehr an dem Gebirge, das er, wie e8 fchien, ganz gegen feine 
Vermutung auf feinem Wege nach Süden gefunden hatte. Er 
war aber mit der Nafe darauf geftoßen oder vielleicht auch darauf 
geftoßen worden und heulte gleich einem böfen Buben, der gleich; 
fall8 mit dem erwähnten Glied auf irgend etwas aufmerffam 
gemacht und hingewiefen wurde. Ohne alle Umfchreibung: 
der Herbftabend fam früh, war dunkel und recht ſtürmiſch; — 


I 


wer noch auf der Landftraße oder auf den durchweichten Wegen 
zwiſchen den naſſen Feldern fich befand, beeilte fich, das Wirts⸗ 
haus oder das Haus zu erreichen; und wir, das heißt der Er; 
zähler und die Freunde, welche er aus dem deutfchen Bund in den 
norddeutfchen und aus diefem in das neue Reich mit fich hinüber; 
genommen hat, — wir beeilen ung ebenfalls, unter das ſchützende 
Dach diefer neuen Gefchichte zu gelangen. 

Der Abend wird gemeiniglich eher Nacht, ale man für mög: 
lich hielt; fo auch diesmal, 

Es ift recht fehr Nacht geworden. Wieder und wieder fegt 
der Regen in Strömen von rechts nach links über die mit kahlen 
Dbftbäumen eingefaßte Straße. Wir halten, Eur; atmend, die 
Hand über die Augen, ung nach einem Lichtfchein in irgendeiner 
Richtung vor ung umfehend. Es müſſen da langgeftredte, in 
ihrer Länge kaum zu berechnende Dörfer vor ung, dem Gebirge 
zu, liegen, und der geringfte Lampenfchimmer ſüdwärts würde 
ung die tröftende Verficherung geben, daß wir ung einem Diefer 
Dörfer näherten. Vergeblich ! 

Dferdehufe, Rädergeroll, Menfchentritte hinter uns? Mer 
weiß? 

Wir eilen weiter, und plöglich haben wir das, was wir ſo 
fehnlich herbeimünfchten, zu unferer Linken dicht am Pfade. Da 
ift das Licht, welches durch eine Menfchenhand angezündet wurde. 
Eine plögliche Wendung des Weges um dunkles Gebüfch bringt 
e8 ung Überrafchend fchnell vor die Augen, und wir fliehen vor 
der Apothefe „zum wilden Mann”, 

Ein zmeiftödiges, dem Anſcheine nach recht folides Haus mit 
einer Vortreppe Tiegt zur Seite der Straße vor ung, ringsum 
taufchende, triefende Bäume — gegenüber zur Rechten der Straße 
ein anderes Haus — weiter hin, durch ſchwächeren Lichterfchein 
fich fennzeichnend, wieder andere Menfchenwohnungen; der Anz 
fang einer dreiviertel Stunde gegen die Berge fich hinziehenden 
Dorfgaffe. Das Dorf befteht übrigens nur aug dieſer einen Gaffe; 


2 


fie genügt aber dem, der fie zu durchwandern hat, volllommen; 
und wer fie durchwanderte, ſteht gewöhnlich am Ausgange 
mehrere Augenblide ftill, fieht fih um und vor allen Dingen 
zurüd und äußert feine Meinung in einer je nach dem Charakter, 
Alter und Gefchlecht verfchiedenen Weife. Da wir den Ausgang 
oder Eingang jedoch eben erft erreichen, find wir noch nicht hierzu 
verpflichtet. Wir fuchen einfach, wie gefagt, vorerft unter Dach 
zu kommen und eilen rafch die ſechs Stufen der Vortreppe hinauf; 
der Erzähler mit aufgefpanntem Schirm von links, der Lefer, 
gleichfalls mit aufgefpanntem Schiem, von rechts. Schon hat der 
Erzähler die Tür haftig geöffnet und zieht fich den atemlofen 
Leſer nach, und ſchon hat der Wind dem Erzähler den Türgriff 
wieder aus der Hand geriffen und hinter ihm und dem Lefer die 
Tür zugefchlagen, daß das ganze Haus widerhallt: wir find darin, 
in dem Haufe fowohl, wie in der Gefhichte vom wilden 
Mann! — — Daß wir ung in einer Apotheke befinden, merken 
wir auf der Stelle auch am Geruche. 

Die erleuchteten zwei Fenfter, welche wir von der durchmweich- 
ten, regen; und ſturmwindgeſchlagenen Landftraße aus erblidten, 
waren die der Offisin, und die Lampe an der Dede darin warf ihr 
Licht durch die breiten Schiebfenfter auch auf die Hausflur. In 
der pharmazeutifchen Werkftätte herrichte außer dem befannten 
Duft die gleichfalls wohlbelannte Ordnung und Neinlichkeit der 
deutfchen Apotheken. Die weißen, mit blauen Buchftaben und 
bin und wieder mit ſchwarzen Totenköpfen und den beiden Arm⸗ 
knochen bezeichneten Büchfen und Gläfer in den: Fächern an den 
Wänden, die blanten Mörfer und grünſchwarzen Steinreibe; 
fhalen, die Wagſchalen und alle übrigen Geräffchaften fahen 
ordentlich angenehm und anlodend aus. Wäre die fchredliche 
Bank, auf welcher die meiften von ung ſchon einmal in fiebernder 
Angft und Beklemmung faßen und warteten, nicht gemwefen, das 
Werkzeug und Geräte der hohen Kunft Hätte jedermann dag höchfte 
Vertrauen einflößen müſſen. 


Aber die böfe Bank! Der abgeriebene fohlimme Stuhl! — 
Wir faßen eben ſchon darauf — vielleicht wohl am hellen, feoft; 
Haren Winternachmittag, oder noch viel fehlimmer in der ftillen, 
warmen, der entfeßlichen, wenngleich noch fo fhönen Sommer; 
nacht; wir trauen den Büchfen und Gläfern, den Slafchen, Wag- 
fchalen und Reibefchalen wenig, wir erinnern ung nur, wie wir 
damals dem ruhigsgemeffenen, geheimnisvollen Wirfen des 
Mannes hinter dem Arbeitstifche wild und dumm zuſahen. 

In der Dffisin befand fich augenblidlich niemand; aber es 
fiel noch ein Lichtfchein aus einem anftoßenden Zimmerchen, 
deffen Tür halb geöffnet fand, Und mit dem Scheine drang ein 
anderer Duft ein, der die apothefarifche Atmoſphäre einer auf- 
fälligen Veränderung und Entmifchung unferwatf; herba nico- 
tiana gehört freilich ebenfalls zu den offisinellen Gewächfen. Wir 
folgen die ſem Geruch und treten in das Nebengemach. 

Das Ding in dem engen Naume ließ fich ganz gemütlich an. 
Aus der einen Ede verfendete ein eiferner Dfen eine behagliche 
Wärme, in der anderen war gegen einen mächtigen gepolfterten 
Lehnftuhl, der leer fand und von dem fpäter noch die Rede fein 
wird, ein runder Tifch gesogen, an welchem auf gleichfalls ges 
polfterten, hochlehnigen Stühlen fich die jedesmaligen Gäfte, mit 
ber Pfeife im Munde und ein offizinelles oder nicht offisinelles 
warmes ober faltes Getränt vor fih, den Aufenthalt ficherlich 
recht bequem und behaglich machen konnten, Gegenwärtig jedoch 
hatte nur der Herr des Haufes, der Befiger der Apotheke „sum 
wilden Mann“, allein auf feinem Stuhle Pofto gefaßt, und ob er 
an biefem ftürmifchen Abend wirklich noch jemand zum Beſuch 
erwartete, und ob wirklich jemand der Erwartung entiprach, 
fönnen wir augenbliclich noch nicht angeben. Wir find mit der 
Schilderung unferer Bühne noch nicht zuftande und fahren 
vorerſt darin fort. 

Das Kabinettchen hinter der Offizin war mit einer gelblich- 
grauen, grauſchwarz geblümten Tapete, foweit fich das über; 


4 


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blicken ließ, ausgeklebt. Auf der Fenſterbank ſtand neben einigen 
Blumentöpfen ein Käfig mit einem ſchlafenden Zeiſig, der jedes; 
mal, wenn ein Baumzweig im Garten, vom Winde gepadt und 
geſchleudert, (chärfer an der Glagfcheibe herkratzte, oder wenn ein 
Regenftoß heftiger an der Scheibe trommelte, fefter und behag⸗ 
licher im Gefühle feiner Sicherheit fich in eine Federkugel zus 
fammensog. 

Eine Eckſchenke mit allerlei Taffen, bunten Töpfen und Glä⸗ 
fern und auf ihr eine ausgeftopfte Wildkage in einem Glaskaſten 
dürften in der Inventaraufnahme nicht zu vergeffen fein. Ein 
vordem recht bBlumiger, aber nunmehr längft verblaßter und abge; 
fretener Teppich bededte den Boden; von der Dede hing eine 
fünftlich geflochtene Graskrone, ein Staub; und Fliegenfänger 
herab; und wenn wir num noch den Bildern an den Wänden einige 
Worte gewidmet haben werden, fo hindert ung weiter nichts, 
fürderzugehen und intereffanter zu werden. 

Die Bilder an den Wänden freilich waren ſchon am fich inter; 


| effant. Ihre Anzahl allein mußte jeden eintretenden Betrachter 


höchlichſt in Erftaunen fegen und für eine geraume Zeit in ein 
mundoffenes Umherſtarren an allen vier Wänden, nach allen vier 
Himmelsgegenden. Hatte er fich von feiner Überrafchung erholt, 


ſo konnte er anfangen zu zählen oder die Zahl wenigftens an; 


nähernd zu fchäßen. Beides aber war ſchwer, denn die Bilder 
und Bildchen unter Glas und Rahmen bededten in faum zu 
berechnender Menge die Wände von oben big unten, das heißt 
fo weit nach unten, als e8 nur irgend möglich war. Alle Arten 
und Formate in Kupferftih, Stahlftich, Lithographie und Holz⸗ 
ſchnitt, alle Gegenſtände und Situationen im Himmel und in der 
Hölle, auf Erden, im Waſſer, im Feuer und in der Luft, ſchwarz 
oder koloriert. 

Viele Rambergſche und Chodowieckiſche Kunſtſchöpfungen, 
unzählige Szenen aus dem Leben Friedrichs des Zweiten und 
Napoleons des Erſten, die drei alliierten Monarchen in drei vers 


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ſchiedenen Auffaffungen auf dem Leipziger Schlachtfelde, die am 
Palmbaum Hängende NRiefenfchlange, an welcher der befannte 
Neger hinaufkflettert, um ihre die Haut abzuziehen, Szenen aus 
dem Corfar, „ein Gedicht von Lord Byron”, Modebilder, ein 
Porträt von Wafhington, ein Porträt der Königin Mathilde von 
Dänemark und des Grafen Struenfee und, verloren unter all der 
bunten, furiofen Nichtsnußigfeit, zwiſchen zwei Straßenfjenen aus 
dem Jahre 1848, ein echter alter Dürerfcher Kupferftih: Melan- 
cholia! 

Mir beendigen die Katalogifierung. Dreißig Jahre hatte 
der während diefer dreißig Jahre feft an feine Offizin gebundene 
Apotheker Philipp Kriftellee gebraucht, um feine Bildergalerie 
sufammenzubringen; e8 war ihm alfo gar nicht zu verdenfen, 
wenn er auf feine Galerie hielt, auf feine Kunftliebhaberei und 
feinen Gefchmad fich etwas zugute tat. Sein Hinterftübchen war 
wohl gegiert, und er hatte außerdem noch einiges andere, worauf 
er fih etwas zugute tun durfte, 

Wenden wir jet unfere Aufmerkfamkeit auf den Mann am 
Tiſche. Er mochte ein Alter zwifchen den fünfziger und fechziger 
Jahren erreicht Haben, war von Leibesbefchaffenheit mehr Hager 
als did, von Farbe mehr gelb und grau als rot und braun und 
von Statur mittlerer Größe. Er trug einen grauen Schlafrod, 
niedergetretene, dunkelrote Pantoffeln und auf dem filbergrauen, 
fchlihten Haar eine dunfelgrüne Hauskappe mit abgegriffener 
Goldftideret, einen Kranz von Eicheln und Eichenblättern darz 
ftellend. Er rauchte aus einer langen Pfeife, auf deren Kopf ein 
Maikäfer gemalt war, und ftüßte nachdenklich die Stien mit der 
Hand, den Blick auf den großen, leeren, bequemen Lehnftuhl ihm 
gegenüber gerichtet. 

Zum erften Male blickte er empor, als die Tür, welche aus 
dem Hinterzimmer nicht in die Offisin, fondern auf die Haus⸗ 
fine führte, leife geöffnet wurde, und ein alter Frauenzimmer; 
fopf fih hineinſchob: 


6 


„ber Bruder, welch ein Wetter!” 

„Breilich ein bewegtes Wetter, liebe Schwefter.“ 

Db die alte Dame die Antwort noch vernommen hatte, 
muß zweifelhaft bleiben, denn fie hatte die Tür eben fo raſch und 
leife, wie fie diefelbe geöffnet hatte, wieder zugezogen. 

„Sin vernehmbar bewegtes Wetter, in der Tat,“ murmelte 
der Apotheter „zum wilden Mann” lächelnd und nach dem be; 
ſtürmten Fenfter horchend. In demfelben Moment lang die 
Glocke der Haustür, und es wurde an das Schiebfenfter der 
Offizin gepocht. Herr Philipp Krifteller erhob fich, ftellte die Pfeife 
an den Stuhl und ging gebückt in feine Werkſtatt. Kopfichüttelnd 
fam er nad) einer viertelftündigen Arbeit im Berufe zurüd; die 
Haustürglode erflang von neuem, und eiligen Laufes entfernte 
fih jemand, durch die Wafferlachen der Landftraße dem Dorfe 
zuplatfchend, ohne im geringften auf feinen Weg Obacht zu haben. 

Kopffehüttelnd nahm der Alte feinen Sit wieder ein, zündete 
feine Pfeife von neuem an und fagte: 

„Eine ungefunde Jahreszeit — ein Apotheterherbft. — Gute 
Kaffe, aber doch ein fchlechtes Geſchäft.“ 

Er feufjte dabei, und das Wort wie der Seufzer zeugten uns 
ftreitig von einem guten Herzen. 

Nun faß er wieder einige Minuten, bis er plößlich zufammen; 
ſchrak: 

„Mein Gott — ja aber — iſt es denn ſo?!“ 

Er erhob ſich von neuem haſtig, ſchritt diesmal eilig in die 
Offizin, ſchloß ein Stehpult am Fenſter auf, nahm ein Buch 
hervor und blätterte darin. Seine Finger zitterten, ſeine Lippen 
zuckten, er ſah ſich mehrere Male wie zweifelnd in dem aromatiſch 
durchdufteten Raum um: es war fein Zweifel, jede Büchſe und 
jedes Glasgefäß, mit oder ohne Totenkopf, befand fich noch auf 
feinem Plage. Der Apothefer Krifteller fchloß das Buch, legte die 
Hand darauf und rief: - 

„Es ift wahrhaftig fo! Es ift richtig; heute ift der Tag ober 


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vielmehr der Abend. Es find dreißig Jahre auf die Stunde — 
ein Jubiläum — und ich hatte das vollftändig, vollftändig ver; 
geffen. Dorothea, Dorothea!” 

„Lieber Bruder?” Hang es draußen fchrill. 

Der Alte fohritt in feiner Aufregung fünf Minuten lang 
auf und ab; dann war feine Geduld zu Ende, Er öffnete die Tür: 

„Dorette, Dorette!” 

„Was gibt es denn, Philipp?” ertönte es aus der Ferne. 
„Ih höre den Wind wohl, aber was fann man dagegen fun, — 
Tür und Fenfter find verwahrt, und das übrige ſteht in Gottes 
Hand,” 

„Ei, ei,“ murmelte Herr Philipp und rief Dann: „ES handelt 
fich nicht um Wind und Wetter. Komm doch einmal einen Augen: 
bli£ herein, Dorothea!“ 

Es dauerte noch verfchiedene Augenblide, ehe das möglich 
war; aber zuletzt gefchah e8 doch. Da war das Altiungfergeficht 
wieder und jeßt die ganze übrige Figur und zwar mit einem über. 
jeden höflichen Zweifel erhabenen Budel zwifchen den Schultern. 

„Wir haben e8 augenblicklich ziemlich eilig in der Küche, lieber 
Philipp. Wünſcheſt du etwas, befter Bruder?“ 

„Mein; aber heute vor dreißig Jahren um diefe Stunde ver; 
kaufte ich in diefem Haufe für den erften Grofchen Wundfpiritus, 
Den Altvater Zimmermann — Gott habe ihn felig! — hatte der 
Saul an die Hüfte gefchlagen. Ich habe es mir notiert vor dreißig 
Fahren, und ich hatte e8 gänzlich vergeffen — dem Lehnftuhle 
dort zum Trotz!“ 

„D bu meine Güte!“ rief das alte Fräulein und verſchwand 
nach) einigem, wie e8 ſchien, ratlofen Zögern, ſchlug dann aber die 
Tür um fo heftiger hinter fich zu. Schon auf dem Hausflur wußte 
Fräulein Dorette Krifteller ganz genau, was fie zu tun habe, und 
man hatte für den ferneren Abend e8 noch um ein Bedeutende 
eiliger in ber Küche der Apotheke „zum wilden Mann”. 


Zweites Kapitel. 


Ir Ba aller geiftigen Aufregung mußte der Apotheker Philipp 
Keifteller einen erflaunten Bli für die Pforte, durch welche 
die Schwefter fo plöglich wieder verfhmwunden war, übrig haben. 
„Here Jeſus!“ fagte er; und dann verfuchte er ed von neuem, 
fich ruhig zu feßen, allein es wollte nicht angehen. Das bedeu; 
tungsoolle Datum brannte wie in feurigen Ziffern und Buch⸗ 
ftaben vor feinen Augen, und fo fchob er denn den Stuhl unter 
den Tifch und fehlurfte, immerfort den Kopf fchüttelnd, in feiner 
Bildergalerie auf und ab; und immer Harer und deutlicher flieg 
die Welt, welche vor dreißig Jahren, vor einem Menfchenalter, 
war, in feiner Seele empor. Sa, von feiner früheften Kindheit an 
lag mit einem Mal alles in den fchärfften Umeiffen vor ihm, 
und nur feine ihm allzu früh geftorbenen Eltern durchzogen 
fchemenhaft die helle Landfchaft. Dagegen ftand der Vormund 
in derber, ungemütlicher Deutlichteit in dem Zauberlicht und in 
der Mitte der Szenerie jener Heinen Provinzialftadt jenfeits des 
Gebirges, dem Thüringerlande zu, mit dem Koffhäufer in der 
Nähe und dem Kidelhahn in der blauen magifchen Ferne. 
„Der allergewöhnlichte Menſch Hat doch immer etwas erlebt, 
wenn er fo ein Menichenalter über ein Menfchenalter hinaus 
zurückdenken kann,“ murmelte der Alte, „Wie lebendig das num 
alles ift, was eben tot und vergeffen in meiner Seele lag. Da 
ift ja der alte Biedermann, der Graumader, mein Lehrherr, mit 
feinem ganzen Haus und Hausweſen. Welch ein fohnurriger, 
verbiffener Patron er war; und dann die Patronin, ich meine 
die Frau Prinzipalin. Herrgott, wie forgft du in deiner Güte 


9 


und Weisheit dafür, daß denen, welchen du einen Kleinen Löffel 
auf den Lebensweg mitgibft, auch der Brei nach dem richfigen 
Maße zugemeflen wird! ft eg mir doch, als verfpürfe ich heute 
noch das Magenknurren aus jener guten, alten Zeit unter dem 
Zwerchfell. Und es war doch eine glüdliche, gefunde Zeit! Und 
gelernt hat man auch das GSeinige bei dem alten Graumwader; 
man muß e8 ihm laffen, er verftand das Gefchäft, die Kunft, und 
er wußte ung darin zurecht zu fchütteln. Alles, was nachher 
fam —” 

Die Glode der Offizin Elingelte von neuem; abermals ging 
der Apotheker in feine Werkftatt zu feiner Arbeit, die diesmal 
etwas länger als vorhin dauerte. Während er feinen Tranf 
mifchte und Eochte, führte er im landläufigen Dialekt eine Unter; 
haltung, die wir dem Lefer nicht vorenthalten wollen, die Mundart 
freilich abgerechnet. 

„Ihr habt Euch bei einem fchlimmen Wetter auf den Weg 
machen müffen, Gevatterin. Es fteht wohl gar nicht gut zu 
Haufe?“ 

„Wie mit dem Wetter Draußen,” fagte das frifche, fehr gefunde 
Bauerweiblein verdroffen. „Man hat feine liebe Not, daß man 
fich darüber felber gern vom Tage fun möchte. Er kann nicht 
leben und will nicht fterben; — ich glaube, er Hält fich eben durch 
das Ürgernis, welches er ung macht; — recht machen kann man 
ihm gar nichts mehr, und von dem Verdruß lebt er fo hin von 
einem Tage zum andern.“ 

„om, hm,” brummte Herr Philipp. 

„a, es ift doch fo, und der Doktor zieht dann das DBefte 
davon. Das Ding hat er geftern abend verfchrieben, und es ift 
ung fehr eilig gemacht; ich meine aber, Ste willen e8 am beften, 
Herr Krifteller, daß fein Tag vergeht, an welchem Sie mich nicht 
auf diefer Bant figen fehen. So dachte ich denn, e8 hat wohl Zeit 
bi8 morgen, und weggemworfenes Geld ift e8 doch.“ 

„Hm, hm,“ brummte Herr Philipp, fügte aber diesmal hinzu: 


Io 


„Doktor⸗ und Upotheterrechnungen zahlt wohl niemand gern; — 
aber wir machen es fo billig als möglich, Gevatterin.“ 

„Wie 08 fich fchickt für eine arme, elende Witfrau,“ ſchluchzte 
die muntere Bäuerin hinter ihren Schürzenzipfeln. 

„Ra, na,” fagte der Apotheker, „um Teufel, noch lebt er ja! 
Witfrau? junge Frau! ei freilich! — und meiner Meinung nach 
wird er e8 noch manches lange, gute Jahr durch machen. Der 
Doktor und ich wollen ſchon das Unftige fun.” 

Die untröftlihe Gattin auf der Bank fließ einen Ton hervor, 
der alles bedeuten konnte: Dankbarkeit, Hoffnung, Freude, 
Schred, Mißmut, Ärger und Hohn. Der Apotheker hatte feine 
Mixtur fertig, reichte fie durch das Fenfter, und die jammer; 
gefchlagene junge Witwe inspe ging ab, und zwar zu feinem innig- 
ften Genügen gerade in ein erhöhtes Aufwüten und Lostofen des 
Herbfifturmes hinein. 

„Die Canaille!“ brummte der Alte, als er in feine Bilder; 
galerie zurückkam und fich unter dem Eindrude der Unterhaltung 
wieder recht feft niederließ, nachdem er mit merflicher Energie 
vorher frifches Holz in den Ofen geworfen hatte. „Dies Frauen, 
zimmer hätte mir beinahe meine füßeften Erinnerungen für jegt 
zunichte gemacht,“ murmelte er. „Eben geriet ich in diefelben 
hinein, als das Weib die Glode 509; aber das ift freilich immer 
mein 208 in der Welt gewefen, und andern wird es wohl nicht 
beffer gehen. Und dann ift ja auch nichts daraus geworden, 
Johanne! Zufammen find wir nicht gelommen. Jeder hat feinen 
eigenen Weg gehen müffen; ich unter fo fonderbaren Umftänden 
in diefen verlorenen Weltwinfel, du, mein armes Kind und Herz, 
in dein Grab. Nunc cinis, ante rosa, einundzwanzig Jahre alt — 
ach, Johanne, liebe, liebe Johanne! — Fa, ja, e8 wäre doch ſchön 
und gut gewefen, wenn wir sufammengeflommen wären und 
ich Dich heute nach einem Menfchenalter hier bei mir hätte als alte, 
gute, Schöne Frau!” 

Es duldete den guten würdigen Herrn an diefem merkwür⸗ 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 2d ir 


digen Abend nimmer lange auf feinem Site. Jetzt holte er ein 
Paket vergilbter Briefe aus dem oben erwähnten Pult und löfte 
den Bindfaden davon ab. 

„Trockene Blumen und Blätter,“ feufjte er. „Alles, was ich 
da in meinen Büchfen und Schachteln habe, grünte und blühfe 
auch einmal wie jedes Wort auf diefem Papier, Apothekerwaren? 
Drogerien? Nein, nein, nein! Jenes iſt £ot und bleibt ſo; aber 
dies hier ift noch lebendig und blüht fort und kennt feine Zeit und 
feinen Jahreswechſel. Es hat feine Wurzeln in meiner Seele 
gefchlagen: wie könnte es da welken und zunichte werden? In 
der Sonne, im fliegenden Woltenfchatten, im Mondfchein, im 
Nebelziehen, im grauen Landregen, im luſtigen Schneegeftöber 
liegt das Tal, liegen die Berge lebendig. Das iſt die alte Stadt — 
ja, da ift fie, wie fie war, als wir jung waren; — jedes Haus ein 
guter Bekannter, Da iſt das Edfenfter, an welchem ich ſtets vor; 
beigehe, wenn der Alte mich auf die Pflanzenjagd ſchickt. Da 
fit das gute Kind mit feinem Nähzeug, und es währt lange, fehr 
lange, ehe fie mich bemerkt, und noch Tänger, ehe ich an die Tat⸗ 
fache glaube, daß fie mir wirklich entgegenſchaut und nachfieht. 
Es ift lange, lange eine Liebe ohne Worte, bis der Himmel ein 
Einfehen hat und ein Negenfchauer zur richtigen Zeit auf einer 
Landpartie ſchickt, nachdem er mir vorher die glückſelige, heil, 
bringende Idee eingegeben hat, beim fchönften Sonnenfchein und 
blaueften Himmel einen Schirm mitzunehmen. So lernten 
wir ung in der Nähe fennen — vom Herzen zum Herzen, von 
Seele zu Seele. Da ging das befte Erdenleben an. — Sie hatte 
wenig und ich gar nichts; aber der liebe Gott hatte ungezählte 
Schätze für ung und gab eine kurze, kurze Zeit alles mit vollen 
Händen. Erft im zweiten Sommer nach unferem geheimen Ver; 
löbnis, nachdem wir ein volles Jahr durch in unferem Glüd und 
unferee Hoffnung Millionäre gemwefen waren, fiel uns ein, 
darüber nachzudenten, was wohl weiter daraus werden möge 
und könne —“ 


12 





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— ———— 








Abermals klang die Glocke und unterbrach den erinnerungs⸗ 
vollen Traum. Es waren aber diesmal keine Kunden, welche 
den Apotheker „um wilden Mann“ ſtörten. Die ſtets recht 
deutliche Stimme der Schweſter Dorette ließ ſich draußen 
vernehmen: 

„Da ſind Sie, meine Herren! Gottlob, daß Sie gekommen 
ſind. Das iſt ſchön, das iſt ſehr freundlich von Ihnen. Ich wußte 
es aber auch, daß ich Sie nicht vergeblich bitten würde. Dem 
Bruder iſt die große Merkwürdigkeit eben erſt eingefallen, und da 
hat es ſich mir ſogleich ſchwer auf das Herz gelegt, und ich habe 
dann den Fritz losgejagt. Ich kenne ihn ja nur zu gut, den Bru⸗ 
der; er würde ſich ohne gute Geſellſchaft eine traurige Nacht zurecht 
gemacht haben, feine melancholiſchen Einbildungen würden ung 
Häglich genug mitgefpielt Haben. Aber nun ift eg gut, denn an 
diefem Abend gehören wir ja doch zufammen, und der Bruder 
wird fich num recht fehr freuen, — fchönften guten Abend, meine 
Herren !” 


13 


Drittes Kapitel. 


F ie beiden Herren, zu denen die Schweſter Dorette der melan⸗ 

choliſchen Einbildungen ihres Bruders wegen fofort 
geſchickt Hatte, nachdem er ihr die Bedeutung des heutigen Abends 
zugerufen, waren der Paftor des Drtes, Herr Schönlanf, und der 
Förfter Ulebeule. Erfterer Fam, dicht in den Mantel gewicelt, mit 
feiner Laterne und feinem Negenfchiem, leßterer, jeglicher Wit; 
terung Troß bietend, in furzer, grünkragiger Flausjade, den 
derben, eifenbefchlagenen Hatenftsd unterm Arme, Beide aber 
fchüttelten fich vor allen Dingen tüchtig auf der Hausflur und 
fagten wie jedermann weit und breit: 

„Brr, welch ein Wetter!” 

Und der Förfter fügte noch hinzu: 

„Das nennt man freilich auch, unterm Wind fich anfchleichen ; 
aber ein Vergnügen war es gerade nicht. Na, Paftore, hier haben 
wir Überwind, und für das Übrige wird Fräulein Dorette zu 
ſorgen wiſſen.“ 

Der Alte im Hinterſtübchen, welcher anfangs etwas betroffen 
gehorcht, hatte ſich ſchnell in die Situation gefunden. EinLächeln 
auf ſeinem gutmütigen Geſichte wurde immer breiter und ſonni⸗ 
ger, und jetzt riß er ſeinerſeits die Tür auf, welche aus ſeinem 
Schlupfwinkel auf die Hausflur führte, und rief in heiterſter 
Laune: 

„Herein, herein, und gelobt ſeien alle melancholiſchen Phanz 
tafien, wenn fie einem fo erwünfchte Gefellfehaft ins Haus führen ! 
Das war ein Gedanke — das war eine Tat, Dorette!  Herein, 
liebe Freunde, — das iſt freilich ein Abend, um eine Nacht daraus 


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— ——— — —. 


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zu machen, und leßteres wollen wir, und zwar, wie es fich gehört! 
Herein, und jeder an feinen Plag, und ein Vivat für die alte 
Apotheke!“ 

„Davon nachher, wenn wir erſt Chineſien auf dem Tiſche 
haben werden,“ ſagte der Förſter, ſeinen Stock in den Winkel 
ſtellend. „Fürs erſte, alter Burſch, ganz fedate unfere beſte Gratu; 
lation zum glorwürdigen Jubiläum. Wenn der Paftor das noch 
einmal und mir Salbung vorträgt, fo babeich auch nichts dagegen ; 
aber wenn wir den Hafenfuß, den Phnfitus hier hätten, fo würde 
der ung allen den Rang ablaufen; ein hirfchgerechterer Jäger 
für einen Glückwunſch und Trinkſpruch foll noch gefunden werden; 
aber er ift über Land geholt.” 

„Und wird zu Haufe meine Benachrichtigung vorfinden,“ fagte 
Fräulein Dorette Krifteller. 

„Schön,“ fprach der Förfter, „unter den Umftänden friegen 
wir ihm ficherlich noch zu Geficht. Übrigens würde er e8 ſchon ganz 
aus Naturanlage gemwittert haben, daß wir ung hier rudelten. 
Bis Mitternacht bleiben wir ja doch wohl vergnügt beifammen?“ 

„Natürlich! Hurra!“ rief der Apotheker, und der Paftor 
brachte nun wirklich in Erwartung Chinefiens, das heißt der 
Punſchbowle, fein, gierlich und ſchicklich ſeine Gratulation gleich; 
falls an. 

Unterdefien hatte fich das ganze Haus mit eigentümlichen, 
anmutigen Düften, die den Apotheferdunft ihrerfeits fieghaft 
befämpften, gefüllt. In des Haufes Küche hatte ein merfwürdig 
lebendiges Treiben begonnen; allerlei Gerät raffelte und klirrte 
fröhlich durcheinander. Punkt neun Uhr fand die erfte dampfende 
Schale auf dem Tiſch, und nicht fie allein, fondern, was dazu 
gehörte, ebenfalls. Für fünf Minuten fand des Apothekers 
Schwefter nun auch Muße, fich zu den Männern zu fegen und die 
erften Belobungen derfelben in Empfang zu nehmen, 

‚Die Belobungen famen zu rechter Zeit; aber dann frat für 
einige Augenblide das Stillfchweigen ein, welches immer ent; 


15 
& 


fteht, wenn ein des Nachdenkens würdiges Getränf auf den Tifch 
gefeßt wird. Daß diefes Stillfehweigen fchnell überwunden wird 
und ein jeder fich merkwürdig raſch mit der Feierlichkeit des Mo; 
mentes abzufinden weiß, ift befannt, 

„Alſo wirklich bereits ein volles Menfchenalter !” rief der 
geiftliche Herr. „Sch hielt e8 im Anfang faft für unmöglich; aber 
nun, da ich im Stillen nachgerechnet habe, finde ich und gebe zu, 
daß e8 fich in der Tat alfo verhält. Ich hatte mich in jenem Jahre 
gerade mit meiner guten Friederike in den Stand der heiligen Ehe 
begeben, und mein ältefter Sohn, der Inſpektor, ift wahrlich 
feitdem bereits achtundzwanzig Jahre alt geworden.” 

„Wahrhaftig, Paftore, und wenn ich daran denke, wie Ihr 
fchlecht bei Leibe hier anfamt, und Euch anfehe, wie Ihr jetzo da 
fit, fo brauche ich gar nicht an den Fingern abzuzählen, um an die 
dreißig Jahre zu glauben. Übrigens empfing ich euch alle hier und 
machte euch die Honneurs des Ortes. Zuerft rücdter Ihr ein, 
Paftore, und heiratetet Eures Vorgängers Tochter; und nachher 
fam ber gleichfalls noch anmwefende Zubilant, um die gefunde 
Gegend mit feinen Pillen und Mirturen noch gefunder zu machen. 
Den Doktor rechne ich gar nicht; denn ein Menfch, der erft ein 
Dusend Jahre unter ung hauſt, ift eben gar nicht zu rechnen.” 

„Der liebe Gott hat Euch wirklich in Eurem Einzuge gefegnet, 
lieber, alter Freund,“ fagte der Paftor zum Hausherren. „Eure 
zwei Vorgänger hatten mit großer Schnelligkeit in diefem Haufe 
Bankerott gemacht; Ihr aber hattet Glück —“ 

„Und Verſtand,“ fiel der Förſter Ulebeule ein, „den richtigen 
Verſtand von der Sache; denn in einer ſo geſunden Gegend, 
wie die hieſige zum Exempel, legt ſich der richtige Apotheker eben 
auf etwas anderes, zum Beiſpiel auf einen neuen Magenbitter, 
wie ber ‚Krifteller‘ einer iſt, auf die Fruchtſäfte im Großen, auf 
den Weinhandel und, nicht zu vergeſſen, auf den Kräuterhandel 
durch ganz Deutſchland ins Unermeßliche. Heute abend iſt denn 
im natürlichen Verlaufe der Dinge der Alte da in feinem Schlaf: . 


16 


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rocke der allereinzige von uns, welcher es zu etwas gebracht hat. 
Der Doktor wird es nie zu etwas bringen.“ 

Der geiſtliche Herr ſeufzte; aber der Apotheker „zum wilden 
Mann”, Herr Philipp Krifteller, feufzte ebenfalls, und als gerade 
jetzt Wind und Sturm flärker und böfer mit Regen und Schloßen 
durchs Land fuhren, fah er wie erſchreckt von dem behaglichen 
Tiſch auf dag gepeitfchte, klirrende Fenfter. Die alte, gute Schwefter 
rückte dichter an ihn heran, indem fie flüfterte: 

„Siebe Herren, man muß niemandem fein Glück vorrüden, 
es nützt nichts und hat ſchon häufig gefchadet; das ift meine 
Meinung. Und ob meines Bruders Glück gerade fo groß ge 
weſen ift, das ſteht wirklich noch dahin. Wir haben unfer Log und 
Leben genommen, wie e8 ung gegeben wurde, das ift aber auch 
alles. Auf das Jubiläum aber trinke ich doch, und jegt will ich 
den Spruch ausbringen und fagen: Es lebe die Apotheke ‚zum 
wilden Mann‘ !“ 

Sie hatte, während fie redete, die Gläfer im Kreife gefüllt, 
und alle fließen an, doch mit Nachdenken und Ernft, wie e8 fich 
gehörte, Here Philipp aber, unruhig auf feinem Stuhle hin; 
und herrückend, fprach leife und mehr zu fich felber als zu den 
andern: 

„Es ift eine Nacht dazu — die rechte Nacht. Es ift mehr 
als ein Menfchenalter hingegangen, feit dag, wag ich mein Haupt; 
glück nennen follte, an mich kam. Hört nur den Sturm da draus; 
fen, wie er fich unbändig hat, ihr folltet kaum glauben, daß fich 
morgen vielleicht fein Lüftchen regen wird, um das legte Blatt 
vom Baume zu nehmen. Man fagt, es verjähre alles; aber es 
ift nicht wahr. Es kommt alles wieder an einen, der Sturmmind 
wie die alte Zeit. Ihr lieben Freunde, wollt ihr mich anhören, 
ſo will ich euch eine Gefchichte erzählen, eine kurioſe, eine recht, 
vecht kurioſe Gefchichte, Sch will euch erzählen, wie ich vor mehr 
als dreißig Jahren der Befiser der Apothete zum wilden Mann‘ 
wurde,” 


17 


Der Paftor fagte gar nichts; aber auch er rüdte näher an 
Heren Philipp heran, berührte ermunternd feinen Ellbogen und 
bot ihm zu noch größerer Ermunterung die blank abgegriffene 
filberne Dofe. 

„Geſchichten Höre ich für mein Leben gern, felbft Jagd 
gefhichten im Notfall!” rief der Förfter eifrig. „Endlich iſt dag 
Wild los! Hin nach der Fahrt —“ 

„Einen YAugenblid!” bat Fräulein Dorette, „jest muß ich 
noch für eine Minute in die Küche, nachher bin ich wieder ganz 
und gar bei dir, Philipp. Die beiden Nachbarn entichuldigen 
wohl.“ { 

Sie entfehuldigten gern und warteten und machten noch 
einige Bemerkungen über die Jahreszeit und die Witterung. 
Nachdem aber die Schwefter zurüdgelommen war, erzählte der 
Bruder wirklich feine Gefchichte — eine kurioſe Gefchichte! 


18 


Viertes Kapitel. 


„Qiebe, gute, treue Freunde und Nachbarn,“ begann der Mann, 

der nach der Meinung des Förfters Ulebeule es zu etwas 
im Leben gebracht, das heißt etwas vor fich gebracht hatte im 
Dorfe, „ich habe, ehe ihr kamet, von der alten Zeit verlodt, 
fchon zweimal meinen Archivkaſten da in der Offizin geöffnet und 
habe den Staub von der Vergangenheit geblafen; jeßt werde ich 
wohl noch ein Dokument daraus hervorholen müſſen. Troß 
aller wunderlichen Geheimniffe liegt mein Geſchick vollftändig 
far auf dem Papiere da; nicht etwa daß ich ein Tagebuch oder 
dergleichen geführt hätte, fondern in wirklichen authentifchen 
Schriftftüden, die ich euch dann auch nachher zu eigener Begut⸗ 
achtung in die Hände geben werde, 

Mein Vater hatte mir einige Taufend Taler hinterlaffen; 
aber mein Vormund, ein gutmütiger, wohlmeinender, doch 
höchſt zerfahrener und leichtfinniger Mann, hatte wenig auf 
diefelben Achtung gegeben. Als ich das Geld gebrauchen fonnte, 
war e8 big auf ein Minimum verfhwunden, und der Vormund 
legte mir fchluchzend das Bekenntnis ab: er wife am allerwenig⸗ 
ften, wo e8 geblieben fei. Übrigens fügte er zu meinem Trofte 
hinzu: mit feinem eigenen Vermögen fei es ihm gerade fo er; 
sangen, Es war ein Ältlicher Herr mit drei unverheirateten 
ältlichen Töchtern, und alle waren meine beften Freunde; — was 
blieb mir alfo übrig, als mit ihnen zu weinen und fo auch meiner; 
feit8 das trockene Faktum in gegenfeitiger Liebe und Zuneigung 
feucht zu erhalten. Die drei guten Mädchen forgten für meine 
Wäſche und fonftige Ausflattung, padten mir meinen Koffer, 


19 


und fo zog ich nach abgetaner Lehrzeit als vorausſichtlich ewiges 
Subjekt ins Laborantentum hinein und trieb mich fünf oder fechg 
Sabre lang fo umher duch Süß und Sauer, von einer Epidemie 
in die andere, von einem nächtlichen Aufgeklingeltwerden zum 
andern, von einer Doftorpfote zur andern, bis ich nach * * * fam, 
wo ich meine Johanne Fennen lernte. Da, Freund Ulebeule, 
habe ich wirklich etwas vor mich gebracht, nämlich die einzigen 
guten, glüdlichen Tage meines Lebens!” 

„Gratuliere auch dazu,“ brummte der Förfter. 

„Ja, in die glüdliche Zeit meines Dafeins war ich hinein, 
geraten, und es flimmte alles zuſammen — ein ganzes Jahr 
lang! 

Sch hatte es in jeder Beziehung gut. Mein damaliger 
Prinzipal war ein drolliger alter Kauz, über den ich etwas mehr 
fagen muß ; denn er verdient das, meinet- wie feinethalben in 
jeder Beziehung, Er war Apotheker mit Liebe; aber mit einem 
gewilfen Wahnfinn ein Enthufiaft für die hohe MWiffenfchaft 
Botanik, und er war in der Tat ein bedeutender Pflanzenkundiger. 
Sp lange es anging, hatte er feine Proviſoren und Gehilfen die 
Dffisin verforgen laffen und war felber in Wald und Feld feinem 
Lieblingsſtudium nachgegangen. Als ich aber in fein Haus ein, 
trat, hatte fich das eben geändert, Er war über ſechzig Jahre alt, 
feine Augen waren allmählich fehwach geworden, fein Rüden 
fteif; und wenn er fich zwifchen Berg und Tal nach einem Ge, 
wächs bückte, fo fam er nur mit Stöhnen und einem verdrieß— 
lichen Griff nach dem Kreuz wieder in die Höhe, Ich kam, und 
er ftellte ein botanifches Eramen mit mir an, das an Schärfe 
nichts zu wünfchen übrig ließ, gottlob aber ziemlich gut ausfiel, 
und von dem all mein fpäteres Wohlfein in feinem Haufe den 
Ausgang nahm, Nach dem Examen überreichte er mir als 
Zeichen feiner Zufriedenheit ein Eremplar von Stoevers Leben 
bes Nitterd Karl von Linne und hielt mir eine Rede über die 
Märtyrer unferer ‚Göttin‘, und empfahl mir vorzüglich zur Nach⸗ 


20 


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ahmung das größte botaniſche Genie des ſechzehnten Jahrhun⸗ 
derts, den Meiſter Charles de lEcluſe, — Carolus Cluſius aus 
Arras in den Niederlanden, der im Dienſte der Wiſſenſchaft im 
vierundzwanzigſten Jahre die Waſſerſucht bekam, im neunund⸗ 
dreißigſten Jahre in Spanien mit dem Pferde ſtürzte und den 
Arm brach und gleich nach der Heilung den rechten Schenkel; — 
der im fünfundfünfzigften Jahre in Wien den linken Fuß brach 
und acht Fahre fpäter fich die rechte Hüfte verrenkte, — der fortan 
an Krüden gehen mußte, einen Bruch und Steinfchmerzen befam 
und doch das wundervolle Buch: Rariorum plantarum historia 
fhrieb und für alle fommende Zeiten wie ein glorreich helles 
Licht aus dem dunklen Jahrhundert, in welchem er lebte 
und wirkte, herüberleuchtete. Darauf ſchickte er mich in re 
herbaria auf die Jagd und blieb felber feufzend zu Haufe, ver; 
forgte die Praris und ducchblätterte feine Kräuterbücher, die 
wirklich merkwürdig in ihrer Art waren und nach feinem Tode 
fiherlich auf den Mift geworfen find. Zu jeder Jahreszeit faft 


hatte ich für ihn das Land abzulaufen, denn er war auch in der 


Kenntnis der Mooſe bedeutend, und in den Monaten, wo die 
übrige Flora in ihrer Pracht fteht, ging ich faft täglich meilenweit 
ind Land oder in die Berge, um irgendeine einzige Pflanze zu 
fuchen, auf deren Befig und Studium er augenblidlich fein Herz 
gewendet hatte. — Das war eine ſchöne Zeit! das waren Tage, 
wie ich fie feit Jahren nicht in fo ununterbrochen glüdlicher Folge 
durchlebt hatte, und da ich, wie gefagt, auch bald den Namen und 
das Bild meiner Braut mit mir auf die Höhen und fonnigen 
Halden und in die fchattigen Täler nehmen konnte, fo ift denn 
weiter nichts mit dem Scheine zu vergleichen, wie er mir Damals 
über der Erde und in der Seele lag. Daß ich Rad durch den 
Sonnenglanz auf den Bergen gefchlagen hätte, will ich aber nicht 
gefagt haben. Im Gegenteil! in die Luft am Leben mifchte fich 
immer ein bänglicher Zug. Kam ich aus meinen Wäldern gurüd 
in die kleine, winflige Stadt, wieder hinein in das Gewirr und 


2I 


zänkiſche Durcheinander felbft diefer wenigen Menfchen, fo wurde 
mir oft fogar ſehr bänglich zumute.“ 

„Das geht allen Leuten fo, die ihr Gefchäft viel im Freien 
aufhält, mir auch!” fagte der Förfter Ulebeule. 

„ber noch lange,“ fuhr der Erzähler, ohne auf die Unter; 
brechung weiter zu achten, fort, „noch lange war und blieb im 
Freien alles für mich Gegenwart, und erft nach und nach wurde 
drinnen im Städtchen alles Zukunft, forgenvolle, angſtvolle, 
nebelige Zukunft: 

Was foll denn eigentlich zulegt aus dir und deinem Mädchen 
werden? 

je Sch habe es fchon gefagt, daß die richtige Schwerblütigkeit 
mich erft im zweiten Jahre meines dortigen Aufenthalts über; 
mannte. Im Anfange blieben die trüben forglihen Gedanfen 
bei jedem Ausmarfche innerhalb der alten Mauern der Stadt 
eingefchloffen zurück; erft nach und nach begleiteten fie mich über 
das Weichbild Hinaus und folgten mir weiter und weiter, bis im 
‚ ‚dritten Frühlinge der dunkle Finger mir überall auf meinen 
Wegen drohte und der Prinzipal die Bemerkung machte, daß ich 
anfange, bedeutend abzumagern, und mich mwohlmeinend und 
beforgt an verfchiedene nerven; und magenftärfende Drogen 
unferer Materiallammer verwies, 

Ach, Fein Arzneiſtoff konnte mir wieder zu vollerer Leibes; 
rundung verhelfen! Zwifchen Hnpochondrie und gutem Lebens; 
mut bins und hergemorfen, ſchweifte ich umher, big ich ben Mann 
fand, der mir half! 

Meine Herren und lieben Freunde, in eben diefem Sommer 
machte ich eine Bekanntſchaft, eine feltfame, geheimnisvolle und, 
wie Johanne fagte, eigentlich unheimliche Bekanntſchaft. Ihr 
habe ich e8 zu danken, daß ich heute der Befiger diefer Apotheke 
zum wilden Mann‘ bin, und fie ift bis heute, — ja bis heute, 
und alfo länger als dreißig Jahre das ungelöfte Nätfel, dag 
Myſterium in meinem Leben geblieben —“ 


22 


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„Erzählen Sie, o erzählen Ste!” rief der Paftor atemlosg, 
den Erzähler in der beften rafcheften Mitteilung feines Berichtes 
aus übergroßer Spannung unterbrechend, und Herr Philipp 
Krifteller benußte die Gelegenheit, um Atem zu fchöpfen, ehe er 
fortfuhr. 

Es ſchien ihm aber wirklich daran gelegen zu fein, das Ge; 
heimnis feines Lebens von der Seele los zu werden, und fo fuhr 
er fort: 

„Ich fand einfach einen Weggenoffen und fogufagen Kollegen 
auf meinen Gängen, einen jungen wohlgefleideten Mann, der fich 
gleichfalls mit der Botanik befchäftigte, nur um ein mweniges 
jünger als ich zu fein fehlen und fich als ein Naturfreund und 
Pflanzenkenner auswies, der felbft meinen Prinzipal im verftänd; 
nisvollen Eindringen in unfere hinreißende Wiffenfchaft übertraf. 
Aus der Gegend war er nicht, feinen Namen haben wir nie recht 
erfahren; wir nannten ihn Herr Auguft und fpäter auch einfach 
Auguſt. Sein Familienname war das aber jedenfalls nicht. 

Der Zufall flieg uns an einem heißen Julinachmittage auf 
einer abgeholzten, glühenden Berglehne unter den manneshohen 
Fingerhutbüfchen zwifchen dem Gewirr der Granitblöde die Köpfe 
sufammen und ließ ung fofort hHöflih das Handwerk grüßen. 
Zuerft begrüßten wir jedoch natürlich Höflich) ung felber und be; 
trachteten einander. Was der Fremde an mir fah, weiß ich nicht; 
mir fteht er heute noch fo Kar und deutlich wie damals vor den 
Augen. Es war ein junger Mann, wie gefagt, ungefähr von 
meinem Alter, hochgewachſen, wohlgebaut, von ſchwarzem Haar 
und mit einem ernfihaften, energifchen Geficht von etwas gelb; 
weißer, jedoch feineswegs krankhafter Farbe. Den Kopf trug 
er ein wenig gefenkt, und feine Stimme war wohllautend, er 
gebrauchte fie aber nur zu felten. Während unferes ganzen Ver, 
kehrs überließ er es mir vollftändig allein, die Unterhaltung zu 
führen; und wie ihr wißt, liebe Nachbarn, bin ich ftets für einen 
lebhaften mündlichen Verkehr gewefen — vielleicht oft nur zu fehr.” 


23 


An diefer Stelle Hatte die Schwefter etwas zu fagen, und etwas 
unmutig rief fie: 

„Beſter Bruder, fie reden im Dorfe doch fehon dumm genug 
von die!” 

Der geiftliche Herr Tächelte; aber der Förfter lachte laut und 
tief: 

„Isa, Fräulein Dorette, für den Anftand ift feine Natur freilich 
nicht eingerichtet, das habe ich zweimal in Erfahrung gebracht 
und werde es mit meiner Einwilligung nicht zum drittenmal 
erleben. Das iſt ſo! er hält jedem Fuchs, der herübermwechfelt, eine 
Standrede, ehe er losbrennt und vorbeipafft. Aber hingegen 
bei einem Treiben wäre er wohl an Drt und Stelle, und eine 
Hafenklapper ift auch ein recht nügliches Ding.” 

„Ih danke Ihnen für Ihre Bemerkung, Wlebeule!” fprach 
das alte Fräulein ſpitz und kurz, und jetzt lächelte Here Philipp 
Krifteller und ließ fich nicht weiter auf feinem Wege aufhalten. 

„Ich gab alfo, wie e8 nicht anders fein konnte, meiner Natur 
nach. Sch erzählte dem neuen Bekannten fo nach und nach von 
allem, was mir an mir, meinem Leben und Zuftänden wichtig 
dünkte. Um alles, von meiner Geburt an, wußte er bald Be; 
fcheid; was ich von ihm dagegen erfuhr, war fo wenig als mög, 
lich, das heißt gar nichts! — Aber ein guter Gefellfchafter war er 
doch, und wurde ein immer befferer, je häufiger wir ung trafen. 
Wir fingen an, die Pläße miteinander zu verabreden, an welchen 
wir ung finden wollten, und er, als der freiere Mann, war ſtets 
am Orte. Manchmal begleitete er mich bis an den Hügelhang, 
an welchem die Stadt liegt; allein fo oft ich ihn auch einlud, nun 
auch mit mir in diefelbe Hinunterzufteigen, fo lehnte er das ſtets 
beftimmt ab, ohne einen Grund für die Weigerung anzugeben. 
Am Waldrande über dem Nordtore nahm er ftets Abſchied, drückte 
mir die Hand und ging zurüd, In der Stadt und Umgegend 
fannte ihn feiner, fo oft und viel ich auch die Leute nach ihm aus⸗ 
fragte. Gefehen hatte ihn wohl mancher, und manchem war er 


24 


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auch, in feinem Wefen und Treiben aufgefallen; doch nähere 
Auskunft über ihn wußte niemand zu geben. In einem Dorfe, 
mitten in den Bergen, hatte er für ein Pferd und einen leichten 
Wagen ein Standquartier, Doch auch da nannte man ihn einfach 
nur Here Yuguft und hielt ihn für einen Studiofen aus der Uni; 
verfitätsftadt in der Ebene, der, ‚wie ſchon viele‘, von dort in die 
Berge fomme, um ‚die Kräuter zu verftudieren‘.“ 

„Scheint mir eine falte Fährte gewefen zu fein,“ meinte der 
Förfter, und der Paftor war derfelben Meinung. 

„Ich gab auch nichts darauf,“ erzählte Herr Philipp weiter, 
„Sondern fette den Verkehr fort, wie er fich eben machte, und nach⸗ 
dem ich mit dem Herrn Auguft ein halbdugend Male zufammen; 
getroffen war, fügte e8 der Zufall, daß er auch meine Braut kennen 
lernte, Die hatte mit ihren Verwandten und Bekannten an einem 
fhönen Sonntage einen Ausflug in den Wald gemacht, und da 
trafen wir, — als Johanne und ich ung von der Iuftigen Gefell; 
fchaft abfeits gefchlagen hatten und allein für ung gingen, auf 
einem überwachfenen Pfade auf meinen geheimnisvollen Freund. 
Wir gingen Arm in Arm, und er ging wieder einfam, und fein 
Geficht war ernfter und trüber denn je. Als er ung erblickte, erhell; 
ten fich feine Mienen zwar, aber nicht auf lange, Er wollte mit 
ung fröhlich und heiter fein; aber es gelang ihm ſchlecht. Er 
fprach ſehr gut und freundlich zu meinem Schaß; doch je länger er 
mit ung ging und je munterer wir auf ihn einplanderten, defto 
ftilfee wurde er. Und als nun gar die übrige Gefellfchaft fingend, 


lachend und jubelnd zu ung ftieß, da war er plöglich wieder ver, 


ſchwunden, und wir fahen ihn an jenem fröhlichen Tage nicht mehr. 
‚Du, Philipp, der hat ein großes Unglüd erfahren oder windet 
fich noch duch ein folches‘, fagte mir Johanne nachher; ‚Philipp, 
der Menfch tut mir unendlich leid; — iſt es dir denn noch nie; 
mals bange und traurig in feiner Nähe zumute geworden?‘ 
Die Weiber haben in der Hinficht einen feinen Blick und 
Sinn, und fie verftehen es, ung Mannsvolf auf manches auf; 


25 


merffam zu machen, was man gefühlt hat, ohne daß es einem 
im Bewußtfein Har geworden ift. Sch ſtutzte, und jeßt zuerſt fiel 
e8 auch mir bei, daß mein ſchweigſamer Freund auch mir ſchon 
einige Male fehr leid getan habe. Bänglich war's mir freilich 
noch nicht in feiner Gefellfchaft zumute geweſen; Doch ſchon auf 
dem Iuftigen Heimmege nach der Stadt war e8 mir ganz Kar, daß 
von nun an auch das Bangen mic) zu Zeiten wohl überfommen 
könne. Bon jenem Tage an achtere ich fchärfer und fchärfer auf 
meinen Freund Auguft, und dann einmal fragte ich ihn mit aller 
Yufbietung meiner Beredfamfeit und Überredungstraft, was ihm 
eigentlich fehle und ob es durchaus nicht möglich fei, daß ich ihm 
helfe? Ich beſchwor ihn inftändigft, doch ein Herz zu fallen und 
alles, was ihn drüde, mir mitzuteilen. Ich fagte ihm, daß ich 
mein Blut und meine Seele dran geben würde, ihm zu helfen, und 
fügte auch fonft noch bei, was man bei einer folchen zum Zittern 
aufgeregten Gelegenheit ernftlih und innig einem geliebten, 
geſchätzten und geachteten Menfchen fagen kann. Natürlich ver; 
fuchte er zu lachen und verficherte mich, er befinde fich förperlich 
wie geiftig volllommen wohl, fein Gewiffen ſei durchaus nicht 
durch irgendeine unausfprechliche Schandtat belaftet; aber für 
fein Temperament könne er freilich nicht, und es fei in der Tat 
ein ziemlich unbehagliches zu nennen und fohon mehreren auf; 
gefallen. Er fagte, er habe ein unglüdlich Blut von feinen Vor⸗ 
fahren geerbt, und wahr ſei, daß er es ſtets Eräftig und aufmerk⸗ 
fam im Zaume halten müffe, wenn nicht jeder Tag, den er lebe, 
zu einem jähzornigen böfen Ende gelangen folle. Er dankte mir 
herzlich für meine Güte, wie er's nannte, und es war mir faft, 
als fähe ich eine Träne in feinen Yugen, allein das mochte doch 
wohl eine Täufchung fein, denn ein folches römiſches Münzen; 
geficht, wie das feinige, war auf dergleichen Weichheiten hin nicht 
in die gehörige Form gegoſſen.“ 

„Was für eine Urt Viſage hatte er, RBB" fragte der 
Förſter Ulebeule. 


26 


„Ein Gefiht wie die Kaifer Nero, Caracalla oder Cali⸗ 
gula auf ihren Dukaten!“ erläuterte der Pfarrherr, und der Apo⸗ 
thefer „sum wilden Mann“ fehüttelte den Kopf, glaubte fich aber 
jeder andern Antwort überhoben und ging in feiner Erzählung 
weiter: 

„Meine Braut hatte ihm fehr gefallen. Er lobte ihr Außeres 
und alles, was fie während des kurzen Zuſammenſeins ge; 
fpeochen hatte, ausnehmend. Er nannte fie ein liebes, braves 
Mädchen — was fie wirklich auch war — und er fprach mit tiefen 
Seufzern den Wunfch aug, eine ihr gleichende Schwefter zu haben, 
Da erfundigte ich mich denn felbftverftändlich noch einmal nad) 
feinen Familienverhältniffen, er aber verficherte mich, daß er 
ganz allein in der Welt ftehe, Vater und Mutter durch den Tod 
verloren und Gefchwifter nie gehabt habe; und wie um das Ge; 
fpräch fehnell gu wenden, fragte er feinerfeits, ob der Tag meiner 
Hochzeit bereits feftgefegt fei. 

Als ich ihm num gefagt hatte, wie es fich damit verhalte, 
feufjte er: ‚DO, könnte ich Ihnen helfen, Philipp, fo würde es 
heute noch gefchehen!‘ — — Wie er mir half, und weshalb der 
Ehrenfeflel da feit dreißig Jahren leer fieht und auf ihn — 
das will ich euch jetzt ſagen.“ 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie IL. 3d 27 


Fünftes Kapitel. 


ie Heine Gefellfchaft in dem Bilderreichen Hinterftübchen der 
Apotheke „zum wilden Mann” war dicht am Tifche zur 
fammengerüdt. Sie wußten, daß der alte Freund nicht übel zu 
erzählen verftehe, doch fo wie heute, hatte er feine Gabe noch nicht 
gezeigt. Dem Förfter Ulebeule war die Pfeife ausgegangen, 
Schwefter Dorette hielt die Hand des Bruders feft in der ihrigen 
und der Paſtor loci klopfte leife mit der Dofe auf dem Tifche und 
fagte: | 

„Alſo endlich ! — Kein Menfch follte es doch für möglich halten, 
daß einen folch braves Möbel, wie ein mweichgepolfterter Lehn⸗ 
ftuhl, dreißig Jahre lang auf die Folter fpannen könne. Lieber 
Keifteller, diefer Seffel da hat mich in der Tat dreißig Jahre lang 
auf die Folter gefpannt!” 

Sie lachten doch Frog ihrer Erregung, und ber Herr Philipp 
lachte mit und erzählte dann weiter. 

„Der Sommer ging, der Herbft kam. Es wurde September 
und e8 wurde Dftober, und die Pracht und Fülle der Natur ging 
für diefes Jahr auf die Neige. Mein Prinzipal, der zur Zeit der 
Yquinoktialftürme ſtets anfing, an Geſichtsſchmerzen zu leiden, 
war gezwungen, mich nun fefter an die Offizin zu binden, Es 
ging wohl ein Monat hin, ehe er mich wieder in die Weite ſchickte; 
— am 15. Oktober aber jagte er mich drei Meilen weit nach jener 
berühmten Felsgruppe, die ihr alle unter dem Namen der Blut⸗ 
ſtuhl kennt, einer Moosart wegen, die um biefe Zeit dort blühte 
und zwar nur bort allein, 


28 


Ich war damals auf dem Blutſtuhle, doch nachher nicht 
wieder. Ich habe eine Furcht vor dem wilden Drte behalten, 
trotzdem daß damals mir das gegeben wurde, welches dieſes 
Haus in meinen DBefig brachte und mir das Leben, wie ich es 
geführt habe, möglich machte. Das Nätfel liegt noch ungelöft da. 
Wenn ihr, meine Freunde, nachher euren Scharffinn daran prüfen 
wollt, fo foll e8 mir lieb fein. Ich habe e8 aufgegeben, nachdem 
ich ein Menfchenalter darüber habe nachgrübeln müffen, und jegt 
wird es ja auch wohl gleichgültig fein, ob einer hier im Kreife 
noch zuleßt das rechte Wort findet. Jenen Tag aber, diefen mir 
bedeutungsoollen ı5. Dftober, werde ich euch nun mit allen 
feinen Umftänden fo genau als möglich fehildern, und ihe müßt 
e8 euch ſchon gefallen laſſen.“ 

„Kein Hafe macht neugieriger feinen Kegel als ich!” rief der 
Förſter. 

„Lieber Gott, welch ein Abend!“ ſagte der geiſtliche Herr. 
„Hören Sie nur dieſen Sturm! O erzählen — erzählen Sie!“ 

In der Tat ein ſtürmiſcher Abend! Je weiter die Nacht vor⸗ 
ſchritt, deſto wilder tobte es von Norden her gegen das Gebirge 
heran, und die Apotheke „um wilden Mann“ bekam ihr volles 
Teil. 

„Solch ein Wetter war es an jenem Tage nicht,” ſagte Herr 
Philipp in feinem gewohnten Tone, ruhig und gelaffen, wie 
jemand, der eben ein Menfchenalter Zeit hatte, ein Erlebnis zu 
überdenken. Er wurde aber auch noch einmal unterbrochen, 
denn e8 fam ein Kunde und holte für einen Grofchen Bitterfalz 
und fegte eine Viertelftunde lang dem Verkäufer auseinander, 
wozu; — was beides auch Zeit hatte bis morgen, wie Wlebeule 
mürriſch bemerkte. Die Schwefter jedoch benutzte die Paufe, 
die hinefifche Schale auf dem Tifche von neuem zu füllen, und 
endlich erfuhren die Freunde doch, was der Apotheker Krifteller an 
jenem 15. DOftober erlebte. 

„Am neun Uhr morgens zog ich mit meinem Auftrage, das 


3* 29 


Frühſtück in der Tafche, die Botanifierbüchfe auf dem Rüden, 
vom Haufe, das beiläufig das Zeichen ‚Zum König David‘ führte, 
ab; bei ftillee Luft und dichtem Nebel und diesmal im höchften 
Grade geknickt und gebrochen. Ich hatte Grund dazu, melanz 
choliſch auch in die ſchönſte Witterung hineinzufehen! Am Abend 
vorher hatte Johannas Onkel mich bitten laffen, ihn doch einmal 
auf ein Viertelftündchen zur beſuchen, und ich hatte ihn beſucht, 
und er hafte mich zwei Stunden lang unterhalten. Zwei Stunden 
lang hatte er mir eindringlich zugeredet, endlich doch ein Einſehen 
zu haben und mir meine Lebensausfichten einmal recht Kar zu 
‚ machen und feine Nichte — nicht unglüdlich! Kurz gefagt, er 
hatte mich aufgefordert, meiner Braut ihr Wort zurückzugeben, 
und dafür feiner — des Onkels — ewigen Freundfchaft und Zus 
neigung gewiß zu werden. Und der Mann hatte in allem, was 
er fagte, recht gehabt, und er hatte nicht nur verftändig, fondern 
auch gutmütig gefprochen. Ohne die geringfte Leidenfchaft und 
Zornmütigteit hatte er mir feine und der Welt Meinung vor; 
getragen: er hatte nichts gegen mich einzuwenden — ich war ihm 
fogar fehr lieb und wert, — und doch! Ich war eben nach Haufe 
gegangen oder vielmehr getaumelt und hatte die Nacht über auf 
dem Stuhle vor meinem Bette geſeſſen und die Stirn mif beiden 
Händen gehalten — durch diefes verftändige Zureden unfähig zu 
allem und jedem Überlegen und vernünftigen Überdenfen: daß 
Johanne, meine arme, liebe Johanne, diefe felbige Nacht durchs 
weint habe, wußte ich dazu. Betäubt verftand ich den Prinzipal, 
der ebenfalls an Schlaflofigkeit litt, faum, als er fehon um fünf 
Uhr mit dem Nachtlichte in der Hand an meine Tür fam, um 
mir feinen neuen Hergenswunfch mitzuteilen und mir feinen Auf⸗ 
trag für den Tag zu geben. Verdrießlich ging er, nachdem ich ihn 
endlich begriffen hatte, feinen verbundenen Kopf fehüttelnd, 
und ich hörte ihn noch auf der Schwelle deutlich genug murren: 

‚Huch der wird mir wieder mal unter den Händen zum 
Narren !‘ 


30 


‚Schreiben Sie dem Mädchen einen braven, ehrlichen, 
freundlichen Brief, in welchem Sie das Nötige mit etwas Poefie 
meinetwegen fagen. Ich will ihn abgeben und das Meinige, 
ohne Poefie natürlich, beimerfen — und dann laffen Sie dem 
Sammer und meinetwegen auch fich felber in Ihrem Elend alle 
Zeit — es wird ſchon alles recht werden,‘ hatte mir der Onkel 
vorigen Abend zum Befchluffe feiner fehönen Rede geraten — 
und dabei follte man denn nicht zum Narren werden !! — Das 
blühende Moos drei Meilen ab vom ‚König David‘, dem Haufe 
des Heren Onkels und meiner Braut, war unter diefen Umftäns 
den in Wahrheit der einzige Teoft, der mir in der Welt wuchs. 
Ein Tag wurde wenigftens durch den Weg und das Auffuchen 
für mich und mein armes Kind gewonnen, und wie fich der Menfch 
in feinen Nöten an den einen Tag, die eine Stunde, die 
eine Minute Hammert, wer hätte das nicht ſchon in irgendeiner 
Weiſe erfahren? 

Sch fchlich felbftverftändlich unter Johannes Fenfter vorbei. 
Mein Mädchen erblickte ich nicht; aber den Onkel fah ich, Er ſtand 
mit der Pfeife hinter den Scheiben und fehien nach dem Thermo; 
meter zu fehen; feine eigene Temperatur hatte fich feit geftern 
abend nicht verändert, denn er zog höflichſt die Nachtmüge ab und 
erhob dabei den Zeigefinger. Der Geftus konnte nichts anderes 
bedeuten als: Vergeſſen Sie nicht, mein Befter, was ich Ihnen 
geſagt habe; ich beftehe darauf und weiß, was ung allen gut ift; 
— ich bin ein alter erfahrener Kerl und kenne die Welt ein wenig 
genauer als ihr guten, jungen, leichtfinnigen, unerfahrenen Leute ! 
— Auch ich geüßte fo Höflich und ſubmiß, wieich noch nie einen 
Menſchen gegrüßt hatte, und fchleppte mich fenfjend matt weiter 
duch den grauen Dunft des Herbfimorgens, 

‚D wie voll Dornen ift diefe Werkeltagswelt‘, läßt der 
englifche Poet Shafefpeare eine feiner erdichteten Perfonen in 
einem feiner Stüde fagen. Ich habe diefen Poeten immer gern 
gelefen und befige eine Überfegung von ihm und habe mir vieles 


31 


darin unterftrichen. Das Wort von den Dornen und der Alltags; 
welt fiel mir diesmal auf die Seele, und ich wiederholte es mir 
fortjund fort big auf die Berge hinauf. Freilich mar mir jego 
die Welt nach allen vier Himmelsgegenden durch das dichtefte 
Dornengeftrüpp verwachfen, und daß e8 eine erbärmliche und in 
ihrer Gemöhnlichfeit tränenreiche Werkeltagswelt war, das 
fonnten mir der Boden unter den Füßen und das Luftgewölbe 
über mir bezeugen, 

Der Nebel blieb wohl hinter mir in den Tälern zurüd; aber 
in meiner Bruft nahm ich die Trübe auf die fonnigften Gipfel 
mit empor, Ich fohritt vafch zu und tauchte mehrmals das 
Tafchentuch in einen kalten Waldbach, um es mir dann auf bie 
heiße übernächtige Stien und die fiebernden Schläfen gu drüden. 
Um fah ich mich nicht, und es ift ein Irrtum oder gar eine Lüge, 
wenn man behaupten will, daß einem unglüdlichen oder von 
Not und Sorge bedrängten Menfchen eine ſchöne Gegend und 
herrliche erhabene Ausficht zum Heil und zur Genefung gereiche, 
Es iſt einfach nicht wahr! 

Im Gegenteil, nichts ift ſchlimmer für einen Kummervollen, 
Schmerzbeladenen als eine weite fonnenklare, in allen füßen 
Farben der Erde leuchtende Fernficht, Hoch von einer Bergipige 
aus, Es ift arg und eigentlich furchtbar, aber es ift fo: den Sturm, 
den Regen läßt man fich in der böfen Stimmung gefallen; aber 
die Schönhett der Natur nimmt man als einen Hohn, als eine 
Beleidigung und fängt an, alle fieben Schöpfungstage zu 
haſſen.“ 

Der Paſtor ſchüttelte hier bedenklich den Kopf; Fräulein 
Dorette Kriſteller nickte zwar, aber ſah doch auch ziemlich bedenk⸗ 
lich und trübe drein; der Förſter Ulebeule jedoch klopfte mit der 
Pfeife auf den Tiſch und rief: 

„Wahrhaftig, es iſt etwas dran! Es iſt bei mehrerem Nach⸗ 
benten fogar ziemlich viel dran. Jeder Kümmerer — will ſagen 
jedes durch einen alten Schuß oder durch Krankheit ſieche Stück 


32 


TERN TTE EN 
% 





Hochwild will auch von der Pracht der Schöpfung, an der es in 
gefunden Tagen fein Wohlfein und feine Freude hat, nichts mehr 
wiffen. Und wer viel Umgang mit ben Tieren gehabt hat, der 
weiß, wie wenig der Unterſchied zwifchen ihnen und dem Menfchen 
zu bedeuten hat in allen Dingen, die mit Erde, Waffer, Licht und 
Luft zufammenhängen. Ihr waret damals ein richtiger Küm⸗ 
merer, SKrifteller. Der Ontel hatte Euch nicht übel angefchoflen, 
und manch) einen in Eurer Lage hat das Schickſal bald darauf als 
tot verbellt.“ | 

„Dun laffet ung weiter hören!” rief der geiftliche Here, und 
fie hörten weiter. 

„Was mir felten in der mir fo befannten Gegend pafliert 
war, hatte ich heute zu erleben; ich verlor mehrmals meinen Weg 
und fand ihn ſtets nur mit Mühe wieder. Die Lebensverwirrung 
und ſchlimme Ratloſigkeit war außer mir wie in mir; aber mein 
Pfad ging doch immer aufwärts, und einen Kompaß führte ich am 
Uhrgehäufe glüdlicherweife auch mit mir. So wand ich mich durch 
den Buchenwald und dann hinein in die Tannenwälder, an fteilen 
Lehnen, von denen die wunderlichen Granitblöcke der Urgeit in 
wahrhaft gefpenftifchen Formationen herabgerollt waren, ſchräg 
in die Höhe. Dann ging es über kahle, gleichfalls mit wilden, 
phantaftifch übereinander geftürztem Felsgetrümmer bededte 
Hochebenen — aus dem Nebel in das Sonnenlicht. Die Sonne 
ſchien um Mittag herbfthell, und ich holte Atem, auf meinen Weg ' 
und die durchwanderten Täler zurüdblidend. In den Tälern hielt 
fi der Nebel den ganzen Tag über, und als ich nach einer Ruhe⸗ 
ftunde weiterging, fchlich er mir leiſe wieder nach und holte mich 
am Nachmittag, als ich den berühmten Plas, zu dem mein Prinz 
zipal mich diesmal hingeſendet hatte, zu Gefichte befam, richtig 
wieder ein; aber freilich nicht mehr als der dichte Qualm der Tiefe, 
fondern als ein leichter, alles in ein Zaubertuch einmwidelnder 
Dunft. Bei einer Wendung des Weges lag die unbeichreibfich 
grotesk zerflüftete Steinmaffe — der Blutſtuhl, vor mir da. 


33 


Yus dem Tannendidicht vortretend, erblidte ich feine höchfte 
Platte fechzig bis achtzig Fuß über mir; und langfam und ermüdet 
ftieg ich num noch über den mit kurzem Gras bewachfenen Boden, 
um im Schuße der unterften Blöcke Kräfte zu Sammeln für dag 
Suchen und Finden meiner feltenen Lichen⸗Art. 


Ihr, Ulebeule, kennt den Blutſtuhl. Es ift ein Labyrinth von 
Steinklögen, das einen ziemlich bedeutenden Raum auf der Berg⸗ 
ebene einnimmt. Viele der Gruppen führen wunderliche ſagen⸗ 
hafte Namen, die höchfte ift auf ausgewaſchenen Treppenftufen 
zu erklimmen, und von ihr hat das ganze Geblöd feinen Namen, 
und in ältefter heidnifcher Urzeit unferes Volkes hat e8 denfelben 
als Dpferftelle vielleicht mit vollem Recht geführt. 


‘ch verzehrte vor allen Dingen froß meiner trüben Seelen; 
flimmung den mitgebrachten Proviant nicht ohne Appetit; dann 
begab ich mich an die Löfung meiner Aufgabe, die gar nicht fo 
leicht war. Das winzige, friechende Ding, das mein Alter in 
einem frifchen Eremplare zu befigen wünfchte, wuchs keineswegs 
in jeder Spalte des Blutftuhles. Und mit den Erlebniffen des 
legten Abends, den Bildern der fchlaflofen Nacht und dem Onkel 
mit der Zipfelmüge am Morgen vor den fchwimmenden Augen 
ließ fich auch ſchlecht fuchen. 

Sp kroch und Hetterte ich zwifchen dem Geftein umher: eine 
Flechte fand ich nicht; aber ich fand etwas anderes, nämlich ein 
Bermögen !” 

„Ah!“ fagte die Zuhörerfchaft in dem Hinterſtübchen der 
Apotheke „sum wilden Mann“, 

„Mühfelig in meiner vergeblihen Bemühung hatte ich mich 
fo ziemlich bis an die Baſis der oberwähnten abgeplatteten Gipfelz 
felömafle, der eigentlichen Opferklippe, emporgearbeitet, als 
plöglich ein Menfch, wie e8 ſchien im haftigen Aufklimmen von der 
entgegengefesten Seite her auf der Platte erfchien und einen Schrei 
ausſtieß, der mich erſchreckt zurückfahren ließ. Die Geftalt, vom 


34 


Dunfte wie alles umher leicht verfchletert, warf die Arme empor, 
griff mit beiden Händen in die Haare und fiel mit einem neuen 
Aufſchrei erft in die Kniee und dann ganz zu Boden. Sch ftand und 
hielt mich zitternd an dem nächften Granitblode, und e8 dauerte 
einige Zeit, ehe ich mich fo weit gefaßt hatte, um mir die Frage 
vorzulegen: Was ift das? 

‘a, was war das? was konnte das fein? Ein Betruntener? 
Ein Wahnfinniger? Ein Epileptifer? Ein lebensmüder Unglüd; 
licher, der fich diefen Ort ausgefucht hatte, um gerade jetzt dafelbft 
zu Ende zu fommen mit fih? Alle diefe Vorftellungen ſchoſſen 
mir nun blisfchnell nacheinander durchs Gehirn; aber von der 
Höhe der DOpferklippe kam feine Antwort auf meine Frage. 

Und es ift deine Pflicht nachzufehen, was und wer es ift! 
rief eg in mir. Mit zufammengefniffenen Lippen, feft aufeinander 
gefeßten Zähnen faßte ich Mut, padte meinen Wanderftod fefter, 
um im Notfall auch auf einen Angriff gerüfter zu fein, und flieg 
langſam und vorfichtig die Steinftufen hinauf, die auf die heilige 
DOpferftelle unferer Vorfahren führten. Schen und behutfam hob 
ich das Kinn auf die Platte; da lag er! — Langausgeftredt, bes 
wegungslos, das Geficht auf den Stein gedrüdt, lag der Uns 
glückliche da, und raſch fprang ich meinerfeits nun hinauf, frat 
zu ihm, faßte ihn an der Schulter, ſprach ihm zu, und nach einer 
Weile erhob er auch das Geficht und ftierte mich an. 

Jetzt fchrie ich faft, wie er vorher. Es war mein Kamerad, 
mein geheimmisvoller Freund, mein botanifcher Wiſſenſchafts⸗ 
genoffe, und zwar mit Zügen fo verftört, jo von Schmerz, Angſt 
und Zorn verwüſtet, daß ich es euch wahrlich nicht, wie e8 war, 
fohildern kann, 

Langſam, wirklich wie aus einem epilepfifchen Zuftande fich 
erhebend, fand er auf, fah mich blind und meinungslos an, big 
ihm nach und nach das Bewußtfein von Ort, Zeit und Zuftand 
zurückkam. 

‚Philipp!‘ ſagte er tonlos. 


35 


O Yuguft!‘ rief ich. 

‚Seid Ihr es, der mich hier gefunden hat?‘ 

‚D und Ihr — was habt Ihr? was ift Euch gefchehen? 
Sch möchte Euch fo gern helfen.‘ 

‚Und könnt e8 ganz und gar nicht. Es wäre beffer, Ihr 
ginget und Tießet mich hier, wie Ihr mich fandet. Ich bin für keines 
Menſchen Geſellſchaft mehr tauglich.‘ 

Er ſprach dieſes alles ſo vernünftig, ſo geſetzt und ruhig, 
daß ſeine Verſtörung mir dadurch nur noch herzzerreißender in 
die Seele drang. Ich wollte ſeine Hand faſſen, doch er zog ſie 
ſchnell und wie ergrimmt zurück und ſchrie: 

Nein, nein! das iſt zu Ende, Herr — Herr Kriſteller. Ich 
habe heute mit dieſer Hand mein Schickſal beſiegelt und werde ſie 
niemandem mehr als Zeichen der Freundſchaft, der Zuneigung, 
der Liebe geben. Haltet mich nicht für einen Narren — o ich wollte, 
ich wäre es; aber ich bin es nicht! Seit drei Tagen wäre es mir 
eine Wohltat, wenn die letzte Faſer, die den Geiſt noch an eure 
Welt — eure Alltagswelt bindet, abriſſe, und wenn man mich 
fände, wie man ſonſt wohl ſchon arme irre, verlorene Menſchen in 
der Wildnis gefunden hat. Kein anderes Geſicht wäre mir heute 
ſo lieb geweſen als das deinige, Philipp; aber meine Hand gebe 
ich dir doch nicht. Sieh da rund herum, ſieh, wie die Städte und 
Dörfer ausgeſtreut ſind; — ſieh, alle dieſe hunderttauſend Men⸗ 
ſchenwohnungen ſind mir von jetzt an verſchloſſen: ich habe keinen 
Verkehr mit euch mehr, ich bin allein; es gibt keinen anderen 
Menſchen mehr auf Erden, der fo allein iſt wie ich!‘ 

„Aber ich bin da! mich hat das Schiefal gerade zu diefer 
Stunde zu dir geführt, um bei dir zu bleiben! Meine Braut, 
mein Mädchen habe ich verloren, oder fie foll mir doc genommen 
werden. Mir ja auch verfchließt fich die Welt. Laß ung einander 
zum Nat und Troſt fein!‘ 

Nun war e8, als ringe er in der Tiefe feiner Seele mit einem 


36 


gewaltig ftarfen Gegner, und dann war es, als ob er dem Feinde 
obgefiegt habe, und dann war e8, als ftehe er triumphierend mit 
dem Fuße auf der Bruft des Niedergemorfenen, Er knirſchte mit 
den Zähnen und rieb fich die rechte Hand, als fei fie feucht und 


er müſſe fie trocknen. Zuletzt fah er mich fcharf und kalt an und 
ſagte leife: 


‚Lieber Herr, Sie können mir doch von feinem Nusen fein. 
Ich bitte Sie, fich feine Mühe zu geben. Sehen Sie, Krifteller, 
ich Habe nie in meinem Leben anders gefprochen, als meine 
Meinung war. Auch ift heute Methode in meinem Wahnfinn 
gewefen; ich habe mich nicht ohne eine gewiffe Abfichtlichkeit auf 
diefem kalten und harten Steine niedergeworfen. Mein Herzblut 
iſt durch diefe Rinne niedergelaufen, wie einft das Blut der fräns 
fifchen Gefangenen aus dem Heerbann des Kaifers Karl durch 
diefelbe niederriefelte. Übrigens bin ich allein und will allein fein. 
Gehen Sie, befter Herr, ich verftehe Ihre Gefühle, Ihre gute Ge; 
finnung gegen mich vollkommen, und wir wollen auch ficherlich 
einander treu im Gedächtnis behalten, — leben Sie wohl, Philipp 
Keifteller.‘ 

Das war fühl und abftoßend genug, aber ich war auch 
Pſycholog genug, um zu willen, aus welchem ganz anders bes 
wegten Grunde diefer Ton heraufquoll. E8 ging nicht an, den 
Unglüdlichen vor das Gericht der Eigenliebe zu ziehen und mit 
einem: So empfehle ich mich denn Höflichft — umzudrehen und 
geärgert nach Haufe zu laufen. 

‚Es ift ja möglich, daß wir heute für immer Abfchied von; 
einander nehmen müflen,‘ fagte ich; ‚aber weshalb follen wir es 
denn in dieſer Art tun?‘ 

Da brachen dem anderen die Tränen aus den Yugen. 

‚Nein, nein,‘ fchluchzte er, ‚du haft recht, es ift doch nicht die 
rechte Art!‘ 

Er warf mir die Arme um den Hals und füßte mich und fchien 
mich num nicht von fich laffen zu können. 


37 


‚Lebe denn wohl, du Guter, — denke nur an mein Elend 
und nichts anderes an mir! Sieh mir nicht nach; du follft noch 
einmal von mir hören, Philipp! Lebe wohl, lebe wohl!‘ 

Sp hielten wir uns lange, und dann ſchieden wir in der Tat 
voneinander. Sch habe ihn nicht wieder gefehen; aber gehört habe 
ich freilich noch einmal von ihm; — er hat mir einen Brief ges 
ſchrieben; und ich bin feit dreißig Jahren der Befiger der Apotheke 
‚zum wilden Mann‘ !“ 


38 





—“ 





Sechſtes Kapitel. 


a Paſtor und der Förfter hatten fich auf ihren Stühlen 
zurüdgelehnt und blidten nach der Dede. Die Schwefter 
hatte die Hände im Schoße zufammengelegt und fah auf den 
Bruder; man hörte den Sturmwind einmal wieder recht deutlich, 
und nachdem man lange genug gefchwiegen hatte, fprach der 
Förfter, wie e8 fehlen, um etwas zu fagen: 

„Es wird jeßo auch um den Blutſtuhl tüchtig pfeifen und 
faufen.” Sonderbarerweife fügte er dann hinzu: 

„Einunddreißig Jahre find eine lange Zeit!” 

„Freilich!“ fagte der geiftliche Herr, wendete fich dann an den 
nachdenklihen Hausherren und fragte: 

„Und Sie haben gar feine Ahnung, was er feines Zeichens 
war, und wie er eigentlich hieß?“ 

„Entfchuldigen Sie, meine Herren,“ erwiderte Here Philipp 
Kriftellee und ging zum leßtenmal in diefer Nacht, um feinen 
Archivſchrank in feiner Offizin zu öffnen. Mit einem einzelnen 
Briefe in einer weiten, fonft leeren Hülfe fam er zurüd, reichte 
das mit mehreren Poftftempeln und fünf abgebrödelten Siegeln 
bedeckte Kuvert dem Förfter Mebeule und den Brief dem Paftor 
Schönlant, fegte fih langfam, legte die Hand über die Augen, 
brachte feine Pfeife von neuem in Brand und wartete ruhig die 
Wirkung der Papiere auf die Hausfreunde ab. 

„Inhalt — neuntaufend — fünfhundert Taler in Staats; 
papieren!” murmelte der Förfter. „Frei! — Herrn Philipp 
Kriſteller! —“ 

„Sehr wunderbar!“ rief der Pfarrer ſeinerſeits, das Begleit⸗ 


39 


fchreiben überfliegend. „In der Tat ein feltfamer Brief! Eine 
rätfelhafte, mufteriöfe Sendung!” 

„zum Henker, fo lefen Sie doch laut!” rief der Förfter, und 
der Paftor las laut: 

„Sin Mann, der den Willen hat, fein Leben von vorn anzu⸗ 
fangen, entledigt fich bier feiner ſchwerſten und verdrießlichften 
Laft und fchidt dem Freunde das einliegende Geld. Es ver; 
fchwindet einer und hinterläßt feine Spur; es iff unnötig und 
vergeblich, ihm nachzuforfchen und nachzurufen. D Philipp und 
Johanne, nehmt, was ihn nur niederziehen würde In die Tiefe. 
Gründet ein Haus, das feftfteht und glüdliche, fröhliche Kinder 
in feinen Mauern aufwachfen fieht. Lebt wohl, ihr guten Freunde 
— lebt wohl! — Philipp Krifteller, e8 grüßt dich — auf dem Wege 
zurüd zu den Menfchen, 

der Narr vom Blutſtuhl. 


Hamburg, am 30. Dftober 183—” 


Der Paſtor legte den Brief ſtumm auf den Tifch, Ulebeule 
ſchlug auf den Tifch, daß fämtliches Gerät emporhüpfte und die 
Glaͤſer ſcharf und bedrohlich zuſammenklirrten: 

„Donnerhallo! Na, das muß ich ſagen! na, da bitte ich zu 
grüßen!“ 

„Und Ihr habt, ſelbſt mit dieſem Schreiben in der Hand, 
damals nicht gemeint, dieſes alles zu träumen, alter Freund?“ 
fragte der Paſtor. 

„Zagelang, wochenlang bin ich wie ein Träumender umher⸗ 
gegangen, nicht nur mit dem Briefe, fondern auch mit dem Gelde 
in der Hand. Und e8 waren die nüchternften Staatspaptere und 
Landesfchuldverfhreibungen von verfchiedener Herren Ländern! 
Sie verwandelten fich nicht fiber Nacht in gelbe Klettenblätter, — 
fie gingen mir nicht vor der Nafe in gefpenftifchem Dampfe auf; 
— fie waren echt und hatten Ihren Kurs, und die Bankiers waren 
gern erbötig, mir fie umzutaufchen oder umzuwechſeln! Sch aber 


40 








trug fie nebft dem Briefe zu meiner Braut und fragte die, wie 
ich mich gegen dieſes alles zu verhalten Habe — den guten Ontel 
ging ich fürs erfte noch nicht um feinen guten Nat an. 

Auch Zohanne hatte natürlich zuerft eine Art von Schreden 
zu überwinden; dann aber fagte fie mir verftändig und ruhig 
ihre Meinung, und ich bin derfelben gefolgt. 

‚Dein Freund hat mir leid getan und ein Bangen erregt 
duch fein Wefen; aber nie ein Grauen, als ob er ein fchlechter, 
ein böfer Menfch fei. Sch habe ein großes Mitleiden mit ihm 
gehabt und Hätte ihm gern helfen mögen in feinem Unglüd. Aber 
fieh, Philipp, er hat mir auch immer den Eindruck gemacht, als 
ob er ftets genau überlege und wiſſe, was er fage und tue. Er 
hat in feiner Melancholie einen Eugen Haren Kopf; und was 
ung jet fo wunderlich fcheint und aller Welt als eine Verrüdtheit 
vorkommen würde, das hat er auch bedacht und fich zurecht gelegt, 
und er wird ficher das Befte für fich gefunden haben. Sch glaube, 
du darfft das Geld nehmen und es verfuchen, dein Glüd darauf 
zu bauen. Wir wollen es verwalten wie ein Darlehn, Philipp; 
wir wollen dem Geber täglich feinen Stuhl an unferen Tifch 
fegen, wir wollen ſtets den beften Platz für ihn frei halten; wir 
wollen ihn von einem Tage zum anderen erwarten, und — dem 
Onkel wollen wir von einer Erbfchaft fprechen, und du kannſt dag 
nur gleich tun; ich nehme die Verantwortung für die Heine Not⸗ 
füge gern auf mein Gemiffen.‘ 

Seht, Nachbarn, das ift denn der Grund, weshalb der Seſſel 
da ftets Teer fteht, weshalb immer ein Pla an meinem Tifche 
offen gehalten worden ift, diefe ganzen legten einunddreißig Jahre 
duch; der Freund ift aber bis heute nicht zurückgekehrt! Mein 
geben von meiner Ankunft unter euch kennt ihr; — ihr wißt, 
wie ich diefe bereits zweimal in Gant geratene Offizin übernahm, 
und wie es mir in fehwerer Arbeit, glückte, den Plag zu behaupten, 
der meinen Vorgängern fo gefährlich geworden war! Ihr wißt 
aber auch —“ 


4 


„Welch einen großen Schmerz du zu erdulden hatteſt, Bru⸗ 
der?” rief die alte Schwefter leidenschaftlich erregt. „Nein, nein, 
fie haben wohl davon gehört; aber das rechte Willen haben fie 
doch nicht davon.” 

„Es war fehr traurig, Fräulein Keifteller,“ fprach der Paſtor, 
und Wlebeule feufzte fehwer und murmelte: 

„a, ja; aber Ihr feid nicht der erfte, Philipp, dem folcherart 
das Glas vor dem Munde weggefchlagen wird.” 

„Das Haus ftand; aber die Braut, die junge Frau follte nicht 

einziehen. Sie ftarb an dem Tage, auf welchen die Hochzeit feft; 
gefegt war, und an ihrer Stelle habe ich meinem armen Bruder 
feine Wirtfchaft geführt, diefe dreißig Jahre hindurch, diefeg 
Menfchenalter, von welchem an diefem ftürmifchen Abend fo viel 
die Rede geweſen ift.” 
„Mund wir haben unfere Tage in der Stille doch gut verlebt,” 
fagte der Apotheker „sum wilden Mann“ wehmütig lächelnd, 
„Bir find in Frieden grau geworden, und der Sturm, der vor 
dem Fenfter vorbeibrauft, fümmert ung wenig mehr. Der freie 
Stuhl ift leer geblieben, und der, für welchen der Sit aufbewahrt - 
wurde, hat feine Ruhe wohl auch gefunden, an einem anderen 
Drte weit in der Fremde; hoffentlich nachdem er fich, wie er in 
feinem wilden Briefe da fagt, zu den Menfchen zurüdgefunden 
hatte. Wir aber, die wir hier miteinander alt geworden find, wir 
wollen in Treue und guter Gefinnung auch fernerhin beieinander 
bleiben und fein Ärgernis an einander über die nächte Be; 
gegnung hinaus weiter fragen.“ 

„Das wollen wir!” fprachen beide Männer wie aus einem 
Munde, 

„Gewiß, gewiß,” fagte das Fräulein, 


42 





Siebentes Kapitel. 


N Regen hatte augenbliclich aufgehört; aber der Wind war 
dafür um ein ziemliches heftiger geworden. Nach dem, 
was da erzählt worden war, ließ fich ein gleichgültiges Geſpräch 
nicht leicht anknüpfen, und doch fühlte jeder das Bedürfnis da; 
zu im hohen Grade. 

Als Wlebeule fich endlich zufammennahm und Häglich fagte: 

„Es ift doch ein tüchtiger Wind!” machte Fräulein Krifteller 
freilich die dazu gehörende Bemerkung: 

„Ach ja, und die armen Leute, die jeßt auf dem Waſſer find!” 
aber das Gefpräch war damit doch wieder zu Ende und fiel Häglich 
zu Boden. Herr Philipp hatte feinen ſchickſalvollen Brief wieder 
in das gelbgewordene Kunert gefchoben und trat eben mit dem; 
felben in die Tür feiner Offizin, als er ftehen blieb und rief: 

„Da tft der Doktor!” 

„Der Doktor!“ riefen aufatmend und mit glatt ausein; 
ander fich legenden Mienen alle ihm nach. „Der Doktor! richtig, 
er wird es fein.“ 

Er war 28. Man vernahm draußen vor den Fenftern der 
Offizin, nicht des Hinterftübchens, Nädergefnarr, das Stampfen 
eines Gaules, Peitfchengefnall und dazwiſchen eine laute joviale 
Stimme: 

„Hola, heda! Giftbude! Lichter an die Fenfter! Biſt du da, 
Friedrich, fo reif das Scheunentor auf und leuchte, daß wir die 
Karrete und ung aus der Sündflut und dem fonftigen Orkane in 
Sicherung bringen !” 

Das alte Fräulein Tief fchnell hinaus und dem gern gefehenen 

W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 4d 43 


dritten Hausfreunde entgegen. Behaglicher lehnten fich der 
Förfter und der geiftlihe Herr auf ihren Stühlen zurüd, Der 
Apotheker ftand lächelnd mit feinem vergilbten Briefe in der 
Hand da und horchte mit den andern. Schon hörte man jetzo 
auf der Hausflur des Doktors Iuftige Stimme, dazmifchen die 
Stimme Dorotheas, und dann fprah noch jemand darein, 
gleichfalls Fräftigsheiter. 

„Se kommt nicht allein. Er bringt ung einen Gaft oder fich 
einen Patienten mit,“ fprach dee Apotheker „zum wilden Mann“, 
und fofort zeigte es fich, daß das erftere der Fall war. Weit flog 
die Tür, die von der Hausflur in das bilderreiche Hinterftübchen 
führte, auf, und mit dem Landphyſikus Dr. Eberhard Hanff trat 
der Gaft ein, höflich auf der Schwelle um den Vortritt fich mit 
Fräulein Dorothea befomplimentierend. 

„Keine Umftände, Here Oberft,” rief der Doktor, den ältlichen, 
breitfchulterigen, ftattlichen alten Heren mit dem ſchneeweißen 
Haar, den ſchwarzen feharfen Augen im munteren tiefgebräunten 
Gefichte weiter vorfchiebend. Und ohne alle weiteren Umſtände 
ftellte er vor: 

„Colonel Dom Agoſtin Agoniſta — im Dienfte Seiner 
Majeftät des Kaiſers von Brafilien, — von mir aufgegriffen auf 
dem Wege zum wilden — ach, Herrje, Punſch!? — o Dberft, 
habe ich es nicht gefagt? Fräulein Dorette, Ste wiſſen meine 
Gefühle und Gemütsſtimmungen doch immer auf drei Meilen 
Weges hinaus zu ahnen; — Punſch!! Die Herren werden fich 
dem Heren DOberft am beften felber bekannt machen. Ach, Fräu⸗ 
fein Dorette, je bösartiger die Witterung, defto inniger die 
Ahnung Fhrerfeits; — erlauben Ste mir, daß ich Ihnen die 
Hand küſſe.“ 

„Laffen Ste das dumme Zeug nur und hängen Sie Iteber 
Ihren Mantel an den Haken,” fprach die Schwefter des Apo⸗ 
thelers, „ber Herr Oberſt Ift ung fehr willlommen, und wir bitten 


höflichft, Play zu nehmen.“ 
44 





— — 


Der Landphyſikus pflegte die Leute, die er dann und wann auf 
feinen Berufswegen „als Gäfte aufgriff“ und in irgendein be; 
liebiges Haus mit fich nahm, ſtets in einer ähnlichen Weife vor; 
zuftellen und fie dadurch gewöhnlich in nicht geringe Verlegenheit 
zu bringen. Der brafiltanifche Oberft jedoch ließ fich nicht fo leicht 
in Verlegenheit ſetzen. Er wendete fein munteres, vernarbtes 
altes Soldatengeficht heiter und hell im Keinen Kreife umher 
und fagte mit dem leiſeſten Anhauch eines fremdartigen Als 
zentes: 

„Meinerfeits nenne ich dieſes einen raſchen Überfall, meine 
Dame und meine Herren, und bitte fehr um Entfhuldigung 
wegen diefes nächtlichen Eindringens. Der Herr Doktor fand 
mich freilich in einer Höchft erbärmlichen Schenke am Wege duch 
den Sturm und die Nacht feftgehalten hinter dem Tifche und hat 
in der Tat in der freundlichften Weiſe den barmherzigen Samariter 
gefpielt. Er nahm mich in feinen Wagen auf und bot mir ein 
befferes Nachtquartier in dieſer Ortſchaft an. Ich folgte ihm gern, 
und dann hielt er vor diefem Haufe an, — um einen ‚Krifteller‘ 
zu nehmen, wie er fagte, — auf einen Moment, wie er fagte, und 
ich fam mit ihm herein, um auch einen ‚Krifteller‘ zu mir zu 
nehmen, und mein Name tft wirklich Agonifta, und ich bin Oberft 
in brafilianifchen Dienſten.“ 

„Mein Name ift Krifteller; aber der Doktor, mein lieber 
Freund, nennt einen Likör ſo, deffen Erfindung mir gelungen ift, 
Herr Dberft,” fagte der Apotheker. „Übrigens ift ung allen hier 
Ihr Eintritt in unferen Kleinen Kreis eine Ehre und ein großes 
Vergnügen.” 

Der Paftor und der Förfter fprachen nun gleichfalls ihre Be; 
friedigung über die zeitgemäße Ankunft des intereffanten Frem; 
den aus. Man fchüttelte fich die Hände und ſchob von neuem die 
Stühle an den Tiſch. 

„O — Fräulein Dorette, ich habe Ihnen wie gewöhnlich 
mein Kompliment zu machen!” rief der Landphyſikus Dr. Eber; 


& 45 


hard Hanff, in Efftafe nach einem langen Zuge die Nafe aus dem 
Dampfe des Getränkes des Abends in die Höhe hebend. „Finden 
Sie jet nicht auch, Colonel, daß wir hier beffer aufgehoben find 
als dort in der Kneipe ‚zum Krug ohne Dedel‘ oder wie die 
Räuberhöhle fonft heißt? he, und wie wehrte und fperete man 
fih gegen das beffere Verftändnig eines landkundigen Mannes!” 

„Es ift gewiß befler hier,” fagte der Soldat mit einer Ver; 
beugung gegen die Schwefter des Hausherrn. „Man wehrt fi 
oft gegen fein Glück, Senhora — man follte e8 nicht tun.“ 

Die übrigen gaben dem Oberſt natürlich recht, und dann 
redete man ebenfo felbftverftändlich von neuem eine geraume 
Zeit über das Wetter; doch dann auch über die Wege, über die 
Wegſchenke, in welcher der Doktor den Fremden gefunden hatte, 
über die Gegend im allgemeinen und befondern, über dag frühe 
Abziehen der Zugvögel in diefem Jahre, über diefes und jenes: 
nur der Apotheker „zum wilden Mann“ nahm an diefer Unter; 
haltung wenig Anteil, 

Er, Philipp Krifteller, faß feinem brafilianifchen Gafte gegen 
über. Den alten Brief hatte er nicht wieder in fein Pult ver; 
fchloffen, fondern, durch die plößliche Ankunft des Doktors und 
des Fremden daran gehindert, ihn wieder mit fich gebracht und 
auf dem Tifche von neuem vor fich niedergelegt. Er ftüßte jeßt 
den Ellenbogen darauf und lächelte in das Gefpräch der übrigen 
hinein, doch wie abmwefend und den eigenen Gedantengefpinften 
nachgehend. Daß ber fo plöglich und unvermutet in feinem ftillen 
Hausweſen erfehienene ausländifche Herr feine innere Erregung 
vermehrte, konnte man nicht fagen, doch richtete er, der Hausherr, 
dann und wann verftohlen forfchend den Blick auf den Gaſt; und 
die Antworten, die er fodann auf an ihn gerichtete Fragen gab, 
waren noch um ein weniges zerſtreuter. 

Der Arzt erkundigte fich zuerft fchershaft nach dem Grunde, 
und Ulebeule antwortete für den Apotheker. 

„Laßt ihn, Medikus, hat fich der Bär erniedrigt, fo wird er 


46 








fich wohl bald um fo mehr erheben ; denn wozu hat er feine Hinter; 
pranten fonften? fragt man in Poladien. Wäret ihr eine Viertel; 
ſtunde früher gefommen, fo hättet ihr ung alle insgeſamt in 
einer noch viel furioferen Stimmung angetroffen. Wie die Hafen 
ihre Herenfteige durchs Korn, fo haben wir ung an diefem Abend 
unfere Wege durch die angenehme Unterhaltung gebiffen. O, wir 
haben feltfame Hiftorien vernommen !” 

„Ulebeule!“ rief der Apotheker; doch der Förfter war in feinem 
Eifer nicht imftande, auf den Ruf zu hören. 

„Ih lage Ihnen, Doktor, e8 ift ein Sammer und Schade, 
daß Fräulein Dorettes Punſch Sie und den Heren Oberft nicht 
ein wenig früher angeludert hat. Wie Federwild find die merk, 
würdigften Gefchichten um ung her aufgeftoben. Wir wiffen jetzt, 


weshalb fich dreißig Jahre lang feiner von ung in diefen Lehnſtuhl 


da hat feßen dürfen; — wir wiffen, in welcher Weife unfer Freund 
Philipp bei ung anfam, — wir haben viel gehört von Liebe und 
Tod, von wilden Männern und alten Geldbriefen, wie nicht jeder; 
‚mann folhe von der Poft zugeſchickt kriegt. Waren Sie jemals 
in Ihrem Leben auf dem Blutſtuhle, Doktor?“ 

„Ulebeule?!“ rief jeßt auch der geiftliche Herr, und diesmal 
hörte der Förfter. 

„Nun, nun, — ja, ja, Ihr habt recht!” brummte der redfelige 
MWeidmann kleinlaut. Nehmt's nicht übel, SKrifteller, da Ihr 
felber fo vertraulich waret —“. 

Herr Philipp füllte freundlich Dem biederen Hausfreunde das 
Glas und reichte ihm die Hand; doch nun fagte der Doftor Hanff: 

„za den kurioſen Gefchichten find wir, die wir unfererfeits 
dergleichen vielleicht auch dann und wann erlebten, diesmal zu 
fpät gekommen. Aber eine Frage erlaube ich mir doch: habt 
ihr diefen guten Trunk hier jener Hiftorien wegen efwa zuſammen⸗ 
gebraut?“ 

Der braſilianiſche Oberſt Dom Agoſtin Agoniſta, der die 
ganze Zeit hindurch mit nachdenklichen Augen auf den leerſtehen⸗ 


47 


den Ehrenfefiel gefchaut hatte, fah jett feharf auf und hell und 
heiter im Kreiſe umher, zulegt am fchärfften auf den Heren des 
Haufes, Währenddeflen antwortete der Paftor dem Phyſikus und 
den forichenden Bliden des Colonels zugleich mit: 

„Sie find zu einem ebenfo freudigen wie ernffhaften Gedächt; 
nisfefte gerade noch zur rechten Zeit gefommen, lieber Doktor. 
Unfer Freund FKrifteller fist heute gerade dreißig Jahre hier in 
diefem Haufe ‚sum wilden Mann‘, Here Oberſt. Er tft ung und 
allen Bewohnern der Gegend weit und breit ein lieber, treuer 
Freund und Helfer ein ganzes Menfchenalter durch geweſen; den 
Punſch hat uns Fräulein Dorothea improstfiert, und Ihre 
Einladung würden Sie zu Haufe vorgefunden haben, lieber 
Doktor,” 

„Den Ummeg habe ich mir demnach gefpart,” Tachte der 
Landphyſikus. „Mein Here Vater verwunderte fich gleich über 
meine verftändige Nafe, als die Widelfrau mich Ihm auf die 
Yrme legte.” 

Noch eine Bemerkung über feinen Hausfhlüffel anfügend, 
fah der Humporift des Ortes von einem zum andern, aber man 
lächelte diesmal nur, man lachte nicht mit oder hielt fich gar. vor 
Lachen am Tifche, Am vergnägteften fah noch der Oberft aus, 
und diefer erhob nunmehr auch fein dampfendes Glas und 
ſprach: 

„So erlaube ich mir denn, als ein wie vom Himmel in dieſe 
Behaglichkeit hineingefallener Fremdling gleichfalls auf dieſen 
ſchönen und wichtigen Gedenktag und Abend zu trinken. Dreißig 
Jahre ſind eine lange Zeit; manches wird darin anders — Ge⸗ 
ſichter und Meinungen. Und meine gnädige Dame und meine 
guten Herren, auch ich kann heute ebenfalls ein mir ſehr merk⸗ 
mwürdiges und folgenreiches Gedächtnigfeft feiern; — auch mir 
find heute gerade dreißig Jahre vergangen, feit ich zum erftenmale 
im Feuer ftand und zwar an Bord der chilenifchen Fregatte ‚Juan 
Fernandez‘ gegen ben ‚Diablo Blanco‘, den weißen Teufel, ein 


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Schiff der Republik Haiti, um am folgenden Morgen mit einem 
Holzſplitter in der Hüfte und einem Beilhieb über die Schulter 
im Raum des Niggerpiraten aus der Bewußtloſigkeit aufzu⸗ 
wachen!“ 

„Wozu man freilich heute noch gratulieren kann,“ brummte 
der Doktor, während die anderen auf andere Weife ihr Interefie 
und Mitgefühl Eundgaben. 

„Wozu ich mir ganz gewiß heute noch Glück zu wünfchen habe,“ 
fagte der tapfere alte Krieger, „denn in diefem gottverdammten 
Schiffsraume, dem fehmwärzeften, ftinfendften Loche, das je auf 
dem Waffer ſchwamm, lernte ich einen Arzt fennen, der eine Kur 
an mir verrichtete, wie fie feinem europäiſchen Mediziner geluns 
gen wäre —“ 

„Das wäre der Teufel!“ rief der europäifche Phyſikus. 

„Der war e8 fogufagen auch,“ fprach gelafien der brafilianifche 
Dberft, „und er Hopfte mich auf die Schulter und fagte: ‚Senhor, 
eine Zeitlang hat jedermann auf Erden das Recht, den Narren 
zu fpielen, nur darf er das Spiel nicht über die gebührliche Zeit 
fortfegen, er macht fich fonft lächerlich; Ihr gefallt mir, Senhor, 
und ich meine e8 gut mit Euch, — diesmal kommt Ihr noch mit 
dem Leben davon; erinnert Euch meiner und ruft mich, wenn Ihr 
mich braucht; ich fiehe immer an Eurem linfen Ellbogen.‘ — 
Meine Herrichaften, dag Ding verhielt fich wirklich fo, und ich 
habe den Schwarzen jedesmal, wenn ich ihn nötig hatte, gerufen, 
und mich ſtets wohl dabei gefunden. Vorher war’8 mir herzlich 
fchlecht in der Welt ergangen, und ich hatte mich recht übel darin 
befunden.“ 

Der geiftliche Herr rüdte ein wenig ab von dem fonderbaren 
Gafte, Fräulein Dorothea Keiftelleer murmelte: 

„Ei, et! hm, hm;“ — der Apotheker fagte noch immer nichts; 
aber Ulebeule rief entzüdt: 

„Das ift ja aber heute wie ein Abend aus dem Taufendund; 
einenachtbuche! Wir find drin im Erzählen, und wenns nach 


49 


mir geht, bleiben wir bis zum Morgen dabei. Lieber Herr Oberft, 
unfer alter Philipp da hatte vom Anfange an auch nicht die Ab⸗ 
ficht, ung alles das, was er ung berichtet hat, zu beichten; er 
geriet nur fo ganz allgemach auf die Fährte, und wir haben ihn 
nur duch gute Ermunterung darauf gehalten. Herr Oberft, 
nehmen Sie fich gütigft ein Erempel und erzählen Sie weiter 
von den Mohren. Der Abend ift ganz darnach; — was meinen 
Sie, Paſtore?“ 

Der Paftor war wieder zugerüct und bot dem fremden Kriegs; 
mann die Dofe, 

Dom Agoftin Agonifta lächelte gutmütig und fagte vergnügt: 

„Ich weiß nicht, was für wilde Hiſtorien unfer freundlicher 
Herr Hospes von fih erzählt hat; mein Leben ift ficherlich ing 
Wilde gefchoffen und hat Früchte gebracht, die auf jedem Marfte 
Verwunderung erregen müſſen. Zuerft wucherte das Gewächs 
phantaftifch ins Kraut, und mehr als ein Botanifus wartete mit 
Spannung auf die überirdifchen Blüten und Früchte. Jawohl! 
Der große Hurrifane kam, der Wind und Sturm über Land und- 
See, — die Blätter wurden mweggefegt, die Blüten, oder was fo 
ausfah, dito. Endlich fand fich fo ungefähr drei bis vier Fuß 
unter der Erde etwas, was mit der Kartoffel einige Ähnlichkeit 
hatte — allerlei Knollen duch Fafern aneinanderhängend — 
ungenießbar, zäh, ein abgefchmadtes Produkt der alten Mutter 
Erde. Dazu hat man e8 denn gebracht, meine Herrfchaften, und 
ber einzige Troft ift nur, daß eben nicht ein jeder nach feiner Wahl 
ein Pomeranzen⸗ oder Palmenbaum werden kann. Je früher 
aber der Menfch herausfindet, in welche Klaffe er nach Linne oder 
Buffon gehört, defto beffer ift eg für ihn und defto ſchneller kommt 
er zur Ruhe und zur Zufriedenheit mit feinen Zuftänden. So; 
lange er’8 noch nicht heraus hat, ſpuckt er Gift und Galle in 
ben fchönften Sonnenfchein hinein und macht Brüderfchaft mit 
dem Schneegeftöber und Winterwinde, Ich halte das auch für 
eine Philofophie, Herr Krifteller,” 


50 


„Das ift e8 auch, Herr Oberſt,“ fagte Here Philipp. „Solange 
aber der Menfch jung ift, findet er die große Wahrheit felten. 
Ja, viele — die meiften finden fie nie und glauben an ihre Palm⸗ 
baumberechtigung bis zum Ende,” 

„Und das ift ein Glück,“ rief der wetterfefte, philofophifche 
Kriegsmann, „denn ohne diefe glüdliche Jllufion würde die ganze 
Menfchheit doch nichts weiter fein als ein fich elend am Boden 
hinmwindendes Gefchling und Geftrüpp. Übrigens find die Katz 
toffeln und die Trüffeln gar nicht zu verachten.“ 

„Uber mit dem Mohrenfchiff und dem ſchwarzen Satan, der 
den verehrten Heren Oberft fo zutraulich auf die Schulter Elopfte, 
bat diefes alles doch eigentlich nicht das geringfte zu ſchaffen — 
nicht wahr?“ fragte Ulebeule. 

„Bravo, Förfter!“ rief der Doktor. „Ihr feid und bleibt ein 
hiefchgerechter Weidmann. Tago! Tago! Ihr laßt Euch wahrlich 
nicht von der Fährte abbringen. Geben Sie fich nur drein, Oberſt, 
und erzählen Sie ung von dem Mohrenfchiffe und Ihren fonftigen 
ſpaßhaften und ernfihaften Erlebniffen. Die Nacht ift ſchwarz 
genug dazu, und wir find ganz Ohr.“ 

Nun fohien der richtige Ton für die folgende Unterhaltung 
gefunden zu fein; aber in demfelben Moment jagte der Colonel 
Agoniſta alle, nur den Hausherren nicht, in hellfter Überrafehung, 
ja im jähen Schreden von den Stühlen empor. 

Er hatte fein Glas erhoben und fagte jeßt langfam und ruhig: 

„Laſſen Sie uns anftoßen auf das Wohl aller wetterfeften 
Herzen, gleichviel ob fie ihre Schlachten innerhalb ihrer vier 
Wände durchfechten oder duch Blut und Feuer über den halben 
Erdball herumgemworfen werden. Kennft du mich nicht mehr, 
Philipp? Kennſt dur mich wirklich nicht mehr, Philipp Keifteller? !” 

Der Apotheker „zum wilden Mann“ hatte den Geldbrief, der 
big jet unter feinem Ellenbogen gelegen hatte, gefaßt und in der 
zitternden Hand zufammengefnittert. Seit fünf Minuten ſchon 


51 


wußte er, wer fein Gaft war, und der Oberft Dom Agoſtin Ago⸗ 
nifta hatte das auch gewußt. Nun aber griff die Schwefter zu und 
flüßte den Bruder; der Oberft faßte ihn von der anderen Seite, 
und fo erhob er fich jetzo mühſam wie die übrigen, legte beide 
Arme dem Gafte um die Schultern, legte ihm das Geſicht an die 
Bruſt und ſtöhnte: 

„Nach einem Menſchenalter alſo!“ 

Der Doktor, der Paſtor und der Förſter verwunderten ſich, 
ein jeder auf ſeine Manier, und es währte eine ziemliche Weile, ehe 
jedermann wieder Platz genommen hatte. 

Endlich ſaßen ſie wieder; der Oberſt aber nicht auf dem ihm 
ſo lange Zeit aufbewahrten weichen Ehrenplatz. Dom Agoſtin 
hatte, nachdem er die Ehre zuletzt faſt grob zurückgewieſen hatte, 
mit zierlicher, Drängender Höflichkeit Fräulein Dorette Krifteller 
in den Lehnftuhl niedergefeßt, und diefe behielt denn auch den 
Pag, nachdem fie ihren Proteft eingelegt hatte. 

„Gegen die Gewalt kann ich nicht an, Herr DOberft, aber be; 
haglich fige ich hier wahrhaftig nicht, und in die Wirtfchaft muß 
ich auch jeden Yugenblid hinaus,“ 

"Das war richtig. Die chinefifche Bowle mußte noch zweimal 
im Verlaufe der Nacht gefüllt und das Gaftzimmer ebenfalls 
doch auch für den geheimnisvollen, abenteuerlichen Freund herz 
gerichtet werden. Dazwifchen erzählte der alte Soldat, ohne fich 
im geringften zu fperren, dem „Wilden Mann“ feine Gefchichte, 
Was darin zutage kam, hätte jeden Tifch voll Philifter (unter 
anderen Umftänden) bewogen, erft von dem munteren Erzähler 
leife abzurüden, dann nach und nach mit den Gläfern und Pfeifen 
fih nach einem andern Plage umzufehen und dann — bis zum 
Nachhauſegehen — von dem neuen Stuhl aus verftohlen, Furcht; 
fam und verblüfft über die Schultern nach dem unheimlichen 
fidelen alten ſüdamerikaniſchen Burfchen hinzuſtieren. 


52 


— — — 





ce 
* 


Achtes Kapitel. 


a fahle Gezweig kratzte nicht mehr fo ärgerlich wie vorher 
an den Fenfterfcheiben des Hinterftübchens in der Apothefe 
„zum wilden Mann“. Der Förfter Webeule hatte den Kopf in 
die Nacht hinausgeſteckt, ihn zurücdgesogen und ben im Zimmer 
Anwefenden die tröftlihe Verſicherung gegeben: 

„Es klärt fich richtig auf. Man fieht die Sterne durchs Ges 
wölk. Der Wind hat ordentlich über unferen Köpfen und Schorns 
fteinen aufgeräumt. Ich kenne das und wette, daß wir morgen 
einen ganz klaren Tag haben werden.“ 

Dies fiel in die Paufe nach dem wundervollen Ereignis 
und MWiederzufammenfinden in der Apotheke „zum wilden 
Mann.“ 

Philipp Keifteller Hatte big jegt die Hand feines Wohltäters 
noch nicht Iosgelaffen. Die beiden alten Freunde faßen nebens 
einander, und der Oberſt hielt fpielend in der Linken den Brief, 
den er vor einunddreißig Jahren in der Lebensvergweiflung ges 
fohrieben und mit 9500 Talern in Staatspapieren für den botanis 
ſchen Studiengenoffen befchwert hatte, Jetzt zum erftenmal entzog 
er die rechte Hand dem Freunde vom Blutſtuhle, warf das letzte 
Endchen feiner Zigarre hinter fich und zog eine kurze Pfeife heraus, 
die er aus einem fehr erotifch, fehr indianifch ausfehenden Tabaks⸗ 
beutel füllte und plötzlich — ehe er durch einen haſtigen Griff 
und Ruf des Apothefers daran gehindert wurde, in Brand feßte, 
Ehe er dran gehindert werden konnte, hatte Dom Agoftin Agonifta 
ein bedeutendes Stüd von feinem verjährten, wildsphantaftifchen 


53 


Schreiben abgeriffen, e8 regelrecht zu einem Fidibus zuſammen⸗ 
gedreht und denfelben zu dem Zwecke verwendet, zu welchem man 
eben einen Fidibus gebraucht. In demfelben Moment fing er 
gelaflen und gemütlich an, feine Gefchichte zu erzählen, und fie 
ging gut an, nämlich mit den Worten: 

„Richt wahr, Doktor, wer noch feinen Menfchen umge; 
bracht hat, der wird ſich nur ſchwer in die Gefühle eines, der's 
bereits fertig brachte, hineinfinden. Erſchrecken Sie nur nicht zu 
arg, meine Herrſchaften; ich Habe mich allmählich hineingefunden; 
— es lernt fich alles in der Welt und wird zur Gewohnheit, dag 
Hängen und Erfehießen wie — das Köpfen. Ich ſtamme aus 
einem der anrüchigſten Gefchlechter Deutſchlands und hatte drei 
Tage vor dem Zufammentreffen mit meinem Freund Philipp 
Krifteller auf dem Blutſtuhle getan, was ich mußte. Um e8 kurz 
zu fagen, fo hatte ich, unter Billigung und Beiftand von Staat 
und Kirche, einem nichtsnutzigen Mitbruder im Wirrwarr diefer 
Welt auf offenem Felde und vor zehntaufend Zufchauern den 
Kopf abgeichlagen. Erſchrecken Sie nicht, beftes Fräulein — 
auch das ift eine verjährte Gefchichte.” 

Sa, was half e8 zu fagen: Erfchreden Sie nicht! —? fie 
fuhren doch alle zufammen, felbft Herr Philipp Keifteller, 

„Das Amt, das meine Vorfahren feit mehr als zweihundert 
Jahren in ununterbrochener Gefchlechtsfolge verwaltet hatten — 
rühmlich verwaltet hatten, war eines Tages auf mich übergeganz 
gen, und ich habe e8 ausgeübt — einmal! — wie gefagt, drei 
Tage vor jenem Anfall vom Veitstang, in welchem der da mich 
auf dem Blutftuhl fand. Sieh, Philipp, Das war es! und 
deine Johanne hatte wohl recht, wenn fie fehon lange vor jenem 
legten Zufammentreffen dich auf mancherlei an mir aufmerkffam 
machte, was ihr nicht gefiel. Ach Gott, ich wollte, ich könnte es 
dem armen guten Kinde heute abend auch jagen, wie gut fie mir 
ftet8 gefiel. Sie ift alfo tot — ein Menfchenalter tot? ach Philipp, 
Philipp, du haft es kaum wiffen fünnen, wie viel Sonnenfchein 


54 





von ihr ausging, wo fie ging und fland, und wie ſchwarz und 
fcheußlich mir die Welt in dem ſchönen Lichte vorfam. Auch ver; 
jährt! da wir noch am Leben find und es ung wohl geht, fo wollen 
wir von ung reden. — Ich war wunderlich erzogen worden. Mein 
Großvater Auguft Gottfried Mördling hatte das ſchlimme Erb; 
amt noch im reichlichften Maße und als finfterer Enthufiaft bes 
Heidet; mein Vater hatte dagegen das Glüd gehabt, daß in feine 
ganze, freilich nicht fehr lange Lebenszeit nicht ein einziges Mal 
die unangenehme Notwendigkeit fiel, die Kammer im Oberftod 
des Haufes aufzufchließen und mit dem Auge und dem Finger 
an der Schärfe des breiten Schwertes mit der Jahreszahl 1650 
hinauf und hinunter zu fahren. Von meiner Mutter weiß ich 
wenig zu fagen. Sie war eine fränfliche, verdeoffene Frau, und 
ich habe nur eine Haupterinnerung von ihr, nämlich daß fie eine 
ausgebreitete Geflügelzucht trieb und das Schlachten der Hühner, 
Puter, Enten, Tauben und Gänfe ftets felber beforgte und zwar 
mit großer Kunftfertigfeit und einer gewiſſen wilden Energie. 
Mein Vater, ein fanfter, gebildeter Mann, der Schiller verehrte, 
Goethe verftand, für Uhland ſchwärmte und mich erzog, ging bei 
folchen Erekutionen ftets mit rafchen Schritten vom Hofe oder 
aus der Küche weg, indem er murmelte: D du grundgütiger 
Himmel! — Mein Vater, Merander Franz Mördling, war auch 
gereift, ſowohl als Kunfts wie als Naturliebhaber, er war in 
Frankreich, England und Holland geweſen, fprach recht gut 
englifch und franzöſiſch und erzog mich nur zu gut. Er machte 
auch mich zu einem gebildeten Menfchen, der über Sonnen; und 
Mond⸗Auf⸗ und Untergänge zu reden wußte, und vor allen 
Dingen ein Herbarium anzulegen verftand. Als die echten, 
richtigen Autodidaften machten wir ung beide unfere Welt zurecht, 
— eine Welt, aus der feiner von ung beiden berufsmäßig heraus; 
gerufen werden durfte, ohne halb verrückt zu werden und ganz 
zugrunde zu gehen. Unfer Erbhof lag natürlich außerhalb der 
Stadt, verſteckt im Grün, von uralten Linden überfchattet, durch 


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hohe Mauern und ein gewaltiges Tor geſchützt — ein Haus aus 
dem Ende des fechzehnten Jahrhunderts, warm im Winter, kühl 
im Sommer — ein Generalfuperintendent hätte drin wohnen 
und feine Predigten abfaflen können, Der Schall und Speftafel 
der Leute draußen drang faum zu ung; und wenn mein Papa mir 
unfere eigentlichen Zuftände keineswegs vorenthielt, fo machte die 
Kenntnis davon durchaus Keinen niederdrüdenden Eindrud auf 
mich. Es lag für den Knaben fogar ein Reis darin — man war 
allein, aber man war auch etwag, wag die anderen nicht waren; — 
liebes Fräulein, man faß wie ein geheimnisvoller Affe auf der 
Mauer und grinfte die Jungen drüben jenfeits des Grabeng, 
die nicht zu geinfen wagten, fogufagen unheimlich⸗vornehm an. 
Sie glauben e8 mir nicht, Fräulein Dorette, aber es verhielt fich 
doch ſo. Da mein Vater in feiner Abgefchiedenheit erträglich 
behaglich und zufrieden feine Tage verbrachte, fo hatte ich um 
fo weniger Grund, mich über mein Schiefal zu beklagen. Wir 
hatten duch Sommer und Winter unfere Heinen Freuden, — 
und Matthias Claudius würde fich ficherlich wohl in unferen 
Befhäftigungen und träumeriſchen Grübeleien und Lieb⸗ 
habereien gefühlt haben. Sa, e8 fällt mir erft jegt bei: vom alten 
MWandsbeder Boten hatte mein Alter das meifte in feiner Natur; 
— er konnte es ficherlich nicht ahnen, welch ein Meifter Urian in 
feinem Söhnchen ftedte. — Aber endlich kam ein Winter, in dem 
mein Vater bei hohem Schnee und hartgefrorenem Boden mit 
Tode abging; und ich ein mündiger, erwachfener Menfch, der 
allem, was außerhalb unferer Hofmauer lag und vorging, gänzs 
lich unmündig gegenüberftand, ihn fterben fah.“ 

An diefer Stelle fand der Erzähler, der Oberſt Dom Agoftin 
Agoniſta auf und ging zum Fenfter, um nach dem Wetter zu 
ſehen. 

„Es iſt das einzige, was einem bei außergewöhnlich unruhigen 
Gemütsbewegungen hilft,“ ſagte er zurückkommend und feinen 
Stuhl wieder einnehmend. „Übrigens hat der Herr Förſter recht; 


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e8 wird Har, und wir werben morgen wohl einen ſchönen Tag 
haben. Wo war ich doch ſtehen geblieben? Ya fo, beim Tode mei; 

nes Vaters und dem, was damit zufammenhing. Ich muß 
die Herren und das Fräulein alfo noch eine Weile inkommo⸗ 
dieren.” 

Sie hatten ihm alle, bis auf den Apotheker, ſtarr und mit 
immer noch hoch emporgegogenen Augenbrauen auf den Rüden 
I gefehen, den er ihnen zudrehte, ald er aus dem Fenfter guckte. 
1 Als er ſich ummendete, wandte ein jeder, nur der Apotheker 

nicht, die Augen wo anders hin und tat fo unbefangen als 
möglich. 
„Das nennft du ung infommodieren, Auguft?“ fragte Philipp 
Krifteller vorwurfsvoll zärtlich. 
| „Yugufin — Agoſtin — Agoſtin Agoniſta, wenn es dir 
einerlei ift, alter Burſch,“ lachte der brafilianifche Dberft und — 
| erzählte weiter: 

„Wir waren allein im Haufe, mein Vater, ich und eine 
alte Here von Magd, die ung beide ſeit meiner Mutter Tode 
| in der raffinierteften Knechtſchaft hielt. Mein Vater hatte ſchon 

längere Seit gefräntelt, fich felber bedoftert und war nun mit feiner 
Kunft zu Ende. Lieber Doktor, der ftädtifche Arzt, den wir zum 
Schluß herbeiriefen, konnte auch weiter nichts tun, als bie 
1 Ychfeln zuden, — und, Freund Philipp, in der Nacht vor feinem 
| Abſcheiden überlieferte mein Vater mir die Schlüffel zu dem 
I. Archive unferes Haufes! Drei Tage nach feinem Begräbnis 
| öffnete ich den ſchwarzen Eichenfchrant, in welchem die feit faft 
zweihundert Jahren recht ordentlich geführte Chronik unferer 
Familie aufbewahrt wurde, und trat damit in die Krifis ein, 
während welcher mein alter Philipp da und feine fo junge und 
fchöne Johanne meine Bekanntfchaft machten und fo viele Gründe 
hatten, fich über mich zu verwundern. Ich fand in dem Schrante 
ein von meinen Vorvätern zufammengefchriebenes didleibiges 
Manuffript in ſchwarzem Lederband mit Meffingeden und Hafpen. 


57 


Sie hatten regelrecht Buch geführt, und e8 war ein recht nettes 
Hauptbuch draus geworden mit allen Zahlen und fonftigen Ber 
legen! Und ich las und rechnete e8 nach bis auf meinen Heren 
Großpapa hinunter — ich lag e8 vom Anfang bis zum Ende, 
Wort für Wort, Datum für Datum, Zahl für Zahl; und als 
ich in der dritten Nacht gegen zwei Uhr morgens von der greus 
lichen Leftüre aufftehen wollte, da konnte ich nicht. Ich faß feft 
im Stuhl, gerädert vonunten auf, und draußen war eg grimmig 
kalt — der Hofhund heulte und weinte vor Froft, und ich fühlte 
den Froſt gleichfalls bis in die Knochen, und dazu, halb wahn⸗ 
finnig, mein Leben, Fühlen, Denken, Meinen abgebrochen, wie 
wenn ein Stod übers Knie abgebrochen worden wäre. Meine 
grimmige Here von Haushälterin hatte mich am Dfen aufzu⸗ 
tauen wie ein fleifgefrorenes Handtuch, und es währte länger 
als eine Woche, ehe fich die allernotwendigſte animalifche Wärme 
wieder in mir bemerfbar machte, Sch lag länger als eine Woche 
im Bett und Elapperte geiftig und körperlich mit den Zähnen; 
dann aber lief ich hinaus und lief mich warm durch das winterz 
liche Land — blieb vierzehn Tage für diesmal vom Haufe weg 
und ſuchte mir zu der Wärme auch den Schlaf zu erlaufen, erlief 
mir jedoch nur die feheußlichften aller Träume. Es ift ein Wun⸗ 
der, daß feiner e8 mir heute anfieht, was für ein Narr ich Damals 
war! Nach meiner Rückkehr faß ich bis zum Frühjahr als ein 
Idiot am Herde, und ohne den Frühling wäre ich ficherlich als ein 
Idiot im Landesirrenhaufe elend und erbärmlich verfommen; 
und eigentlich, lieber Philipp, habe ich über jene Periode meines 
Dafeing nichts mehr zu fagen. Ich fuhr in meinem Einfpänner 
über die Grenze, mietete in einem Dorfe eurer Provinz ein Abs 
fteigequartier und ging dann in die Berge: — da trafen wir ung, 
und du hielteft mich für einen übergefchnappten Privatgelehrten, 
dem feine Freunde feiner Gefundheit wegen geraten hatten, fich 
ein wenig auf die Botanik zu legen.“ 
„sh habe meinen Freunden bereits vorhin mitgeteilt, mit 


58 


welchem Reſpekt mich deine Wiffenfchaft erfüllte,“ rief der Apo— 
thefer „sum wilden Mann“, und fie nidten rund um den Tifch 
und fprachen: 

„Sa, ja! o freilich!” 

Der Dberft Dom Agoftin Agonifta aber fah felbft in diefer 
Nacht zum erftenmale fehr ernft, ja faft böfe und finfter drein 
und fagte: 

„Ih würde dir im Laufe der Zeit meine Umftände wohl 
Harer erfchloffen haben, Philipp, ich würde dir alles von mir 
und meinem Leben erzählt haben; aber dein Liebeswefen hat 
mich dran gehindert und mir den Mund zugehalten. Lieber 
unge, wenn mir etwas die Welt noch mehr verleidete, fo war 
das beine Braut. Bei Gott, ich Habe euch oft gehaßt wegen eurer 
Seligkeit, — o Philipp Krifteller, in mehr als einer Stunde hätte 
ich euch mit Vergnügen eine Fallgrube für eure Zärtlichkeit 
graben können. Wäre das Eiferfucht geweſen, fo wär's fchlimm 
genug geweſen; aber e8 war noch fehlimmer, e8 war Neid, der 
nichtswürdige zähntniefhende Neid. Ach, Freund, Freund, 
damals hatte ich wahrhaftig nicht die Abficht, dir im Leben auf die 
Beine und, fo weit ich e8 konnte, zu einer Frau zu helfen! Mußte 
da erft das Argſte kommen, um mir den Sinn vollftändig zu 
wenden, und das Argſte kam; — gottlob, fage ich heute! — Von 
einer meiner vorgeblichen botanifchen Rafereien ins Wilde zurück⸗ 
fehrend, fand ich einen Brief zu Haufe, ein Schreiben mit dem 
Siegel der Oberftaatsanwaltfchaft drauf. Ich wurde durch diefeg 
Reſkript umgehend nach der nächften Kreisftadt beordert, und wag, 
die hohe Behörde da von mir verlangte und zu verlangen bes 
rechtigt war, das können die Herren und die gütige Senhora fich 
fiher felber vorftellen; ich habe gewiß nicht nötig, mit dem Finger 
die Richtung anzudeuten. Man legte mir ein vom Landesheren 
bereits unterzeichnetes Todesurteil vor, und ich hatte noch drei‘ 
Wochen Zeit, mich und meinen Patienten auf die mir obliegende. 
Dperation vorzubereiten. Während diefer drei Wochen faheft du 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie IL. 5d 


59 


mich nicht, Philipp Keifteller; aber du fandeft mich drei Tage 
nach vollbrachtem Amtsgeſchäft auf der Opferklippe. Sa, ja, 
meine Herren, nad) getaner Arbeit ift gut ruhen, und auch das war 
ein Erholungsausflug! — Sch hatte meine Sache gut gemacht und 
war gelobt worden, von den Behörden, den Zeitungen und dem 
zufchauenden Pöbel; aber ich trug ſchwer an der Ehre, Buchz 
ſtäblich, — ich trug meinen fill und um einen Kopf kürzer ge; 
machten Patienten, minus diefen Kopf, auf dem Rüden, und ich 
hatte ihn eben auf den Blutſtuhl hinaufgefchleppt, als mein 
Freund Philipp die Klippe von der anderen Seite her erfletierte, 
Seht, e8 ift immer von den Gefühlen des armen Sünders auf 
dem Hochgerichte die Nede; aber diesmal waren auch die des 
Scharfrichters bemerkenswert; — reden wir nicht davon: ich 
trug, wie gefagt, Den Rumpf des armen Teufels von dem Gerüfte 
hinunter; er hing mir auf dem Rüden, die Hände fehleiften auf 
dem Boden nach, und ich hielt auf jeder Schulter einen Fuß im 
blauen wollenen Strumpfe gepadt! So hab’ ich ihn auf den Blut⸗ 
ſtuhl Hinaufgefchleift; und als du mich fandeft, Philipp Keifteller, 
auf dem Felfen liegend, das Geficht zu Boden gedrüdt, da faß 
der Halunfe auf mir, kopflos — hatte mir eine Kralle in dag 
Nadenhaar gewühlt und fang fein diabolifches Triumphlied über 
mich — ein Bauchredner fondergleichen; aber höchſt widerlich, 
felbft heute abend noch, nach einunddreißig Jahren ruhigeren 

Nachdentens und fühlerer Überlegung!“ 





4 en ae re 


Neuntes Kapitel. 


er Dberft ſchwieg und fuhr fich mit dem Tafchentuche über 
die Stirn. Man räufperte fih rund um den Tiſch; der 
Förfter und der Paftor hüllten ihre Verlegenheit in die dichteften 
Tabatswolten, der Landphyſikus fchien die feinige in fich ertränken 
zu wollen, und alle drei — fonft gar nicht übele Leute — fahen in 
diefem Momente merkwürdig ftupide aus. Fräulein Dorette 
Kriftellee im Ehrenftuhle hatte fich fomweit als möglich aus dem 
Lichtfchein in die Dämmerung zurüdgesogen; man hörte fie leife 
ächzen und feufzen, ja es fehlen fogar, als ob fie ſtoßweiſe in ihr 
Tafchentuch hineinſchluchze. Eine ſolche Gefchichte erzählte man 
trotz allem nicht ungeftraft, — felbft im Kreife feiner allerbeften 
Freunde nicht. 

Dem alten Soldaten entging der gemachte Eindrud Feines; 
wegs, aber nachdem er feinerfeits die widerliche Erinnerung mit 
einer Hands und Armbewegung fogufagen vom Tifche gemifcht 
hatte, ftüßte er beide Ellenbogen auf die Platte und fchaute 
munterer denn je um ſich. Er hatte, wie fich gleich auswies, noch 
ertraordinärere Dinge in feinem fpäteren Leben durchgemacht, 
er hatte nicht wie die anderen fill im Winkel gefeffen, er hatte 
ſich allerlei um die Nafe wehen laſſen, was die meiften Leute für 
Sturm genommen haben würden, er aber nur noch für Wind 
hielt, Er war nicht umfonft kaiſerlich brafilianifcher Gendarmerie; 
oberft geworden. 

„Lieber, guter Auguft — Yuguftin,“ flüfterte der Apotheker, 
„du bift als ein eigentumslofer Bettler in deiner Verwirrung 


B: 61 


in die Welt hinausgelaufen ; — du haft mir dag Erbe deiner Väter 
übermwiefen —“ 

„Ss tft es! Niemals hat ein Menfch mit gleich leerer Tafche 
dem alten Europa den Rüden gewendet!” 

„D meine Sohanne — meine liebe, arme Johanne!“ feufste 
der Apotheker Teile; aber da fat der Abenteurer und Soldat 
einen fehr feinfühligen Griff in die Ideenfolge feines Jugend; 
befannten. 

„Rein, nein, Philipp, bei allen Mächten, nein! es ift nicht fo! 
Das ift nicht der Gefchäftsgang zwiſchen Himmel und Erde! 
Du würdeft fie doch verloren haben — 9, um meine Hinterlaffen- 
fchaft hat fie dir das Schieffal nicht fterben laffen! Was hatte ihr 
Dafein und Geſchick mit dem zur Schaffen, was alles an den Talern 
hing, die ich damals auf der Flucht von mir warf und dir an den 
Hals, weil du mir zufällig zunächft ſtandeſt. Das Kind ift nicht 
daran geftorben, Philipp! Ihr hättet ein fehönes Leben auf die 
Erbſchaft meiner Vorväter gebaut, wenn die Schöne, die Gute 
die nicht doch hätte flerben müffen; und dann — — wer hier 
unter ung hat wohl ein befferes Los gezogen als fie?” 

Die Frage erforderte eine Antwort, und jeder gab fie auf feine 
Weiſe, doch laut bejahete oder verneinte niemand. Der Apos 
thefer „zum wilden Mann” drüdte zum hundertſten Male dem 
Oberſten Agoniſta Die Hand, unddiefer fchüttelte fie Ihm wiederum 
herzhaft und rief: 

„Bas kann e8 alles helfen — jeder erlebt fein Leben, und wer 
noch mit dem nötigen Humor davon zu erzählen weiß, der ziert 
jegliche Tafeleunde, und felbft die Weiſeſten, Ehrwürdigſten und 
Ehrbarften können ihn ruhig ausreden laſſen. Jetzo will ich 
einmal eine weife Bemerkung machen, nämlich, daß der größte 
Verdruß der Menfchen im einzelnen daraus entfpringt, weil fie 
die Welt im ganzen für zu fill halten, Meine Herefchaften, die 
Melt ift nicht fi, und man muß den Wirewarr nur recht fennen 
lernen, um das, was einem vom erften Seufjer big zum legten 


62 


u nn Sr — = z — 


paſſiert, nach dem richtigen Maße zu ſchätzen. Hol der Teufel die 
Narren, denen ihre vier Wände auf den Kopf zu fallen ſcheinen: 
ſteigt aufs Dach jedesmal, wenn's euch zu angſt wird und über; 
zeugt euch, daß das Firmament fürs erfte noch nicht die Abficht 
bat, zufammenzubrechen! Alfo, ich ſtand ohne einen Heller in 
der Tafıhe auf dem Kat zu Neu⸗Orleans, fo ungefähr in der 
Stimmung eines Menfchen, der aus einem ſchweren Naufch ers 
wacht, übernächtig fich die Stien reibt und doch den fühlen Mor; 
genwind mit Wohlbehagen auf feinen Schläfen fühlt. Was aus 
mir werden mochte, war mir ganz gleichgültig. Ich war zu allem 


bereit, zum Leben wie zum Sterben, und verkaufte, da ich Hunger 


hatte, um wenigftens das allernächfte Behagen noch einmal feft- 
zuhalten, mein Halstuch und mein Tafchentuch an einen wandern, 
den Trödler. Traftierte darauf meinen erften guten Bekannten 
auf amertfanifhem Boden, den einarmigen Mulatten Yaron 
Toothache, und zwar in einem Lofale, in dem Volk zufammenfaß, 
von welchem man hier am Tifche faum einen Begriff haben kann. 
Hier lernte ich einen Haufen Gefindel von vorbenanntem Fre; 
gatsfchiff der Republik Chile, dem braven ‚Juan Fernander‘, 
fennen, und wir gefielen ung gegenfeitig. Wie die Bekanntſchaft 
endlich im Schiffsraume des ‚weißen Satans‘ auslief, habe ich 
euch bereits mitgeteilt.“ 

Sie waren ihm während der legten Minuten alle auf den 
Leib gerückt. Sie ſchienen nach feinen legten Äußerungen ihre 
geheime Scheu und Abneigung gegen ihn gänzlich überwunden 
zu haben! Sie waren ihm fo dicht an die Ellenbogen gerüdt, daß 
ihm die Luft auszugehen fehlen. Blafend machte er eine Arm⸗ 
bewegung, um fie wieder ein wenig von fich zurückzudrängen, und 
wir — wie machen e8 vollftändig umgefehrt als die aufs Außerfte 
gefpannten Laufcher in der Hinterftube der Apothete „zum wilden 
Mann”: wir rüden ab vom faiferlich brafilianifchen Gendarmerie; 
oberft Dom Agoſtin Agoniſta. 

Was diefer wunderliche Erzähler jegt zu erzählen hatte, war 


63 


freilich bunt genug und voll Feuerwerk und Gepraffel zu Waffer 
und zu Lande; allein das alles war doch ſchon von anderen hun⸗ 
derttaufendmal erlebt und mündlich oder fehriftlich, ja fogar 
dann und warn Durch den Druck mitgeteilt worden. Wir laffen 
ihn, den Oberſt Agonifta fo ungefähr um ein Uhr morgens noch 
einmal mit der flachen Hand über den Tifch ftreichen und feine 
jegige Lebens; und Weltanſchauungsweiſe in ein kurzes Wort 
sufammenfaffen. 

„Mio im zweiten Jahre meiner Abfahrt von Hamburg fand 
ich als Gefreiter in dem Peloton, das als Erekutionsfommando 
in den Feftungsgraben befehligt worden war. Der Leutnant hob 
den Degen, und — wir gaben Feuer: ich ohne Umftände wie die 
anderen. Bon dem Augenblide an war ich von meiner euro; 
päifchen Lebensbürde vollftändig frei. Jch machte mir aus dem 
Tage, der geftern war, und dem, der vielleicht morgen fein konnte, 
nicht das Geringfte mehr; — juchhe, wie der Dichter ftellte ich 
meine Sache auf nichts! Sp bin ich immer bei mir, und zwar 
bei mir allein geweſen: auf dem Marfche, wie in der Wachtftube, 
am Feuer in der Indianerhütte wie in den Salons der Präfiz 
dialftädte. Ja, meine Herrfchaften, habe ich da drüben manchen 
Präfidenten in mancher Republik kommen und gehen fehen, habe 
felber geholfen, den Exzellenzen Stühle zugurüden oder fie ihnen 
unterm Sitze wegzuziehen, wie's fich gerade ſchickte. Venezuela 
machte mich zum Luogotenente, Paraguay zum Major; aber 
Seine Majeftät Dom Pedro von Brafilien war am gnädigſten 
gegen mich, und fo fand ich denn auch am meiften Gefallen an 
ihm. Wir beide haben jet manch Tiebes Jahr das vielfarbige 
Gefindel in Rio Janeiro zur Ordnung und Tugend angehalten: 
er durch regelrecht richtige Fonftitutionelle Güte, ich durch flache 
Säbelhiebe und im Notfall durch einen kurzen Galopp, drei 
Schwadronen hintereinander, rund über das Pad weg. Meine 
Herren und Sie, liebes Fräulein, Sie werden ficherlich noch einmal 
erfchreden und mich von ber Seite anfehen; aber es ift nicht 


64 


zz 


anders, und bei der Wahrheit foll der Menfch bleiben: wenn ich 
das Köpfen aufgegeben habe, fo habe ich mich defto energifcher 
auf das Hängen gelegt und gefunden, daß e8 eine viel reinlichere 
Arbeit ift und feinen Zweck ebenfo gut erfüllt. Was aber das 
Gehängtwerden anbetrifft, fo habe ich felber die Schlinge mehr 
als einmal um den Hals gefühlt, gottlob ihn aber ſtets noch glück⸗ 
lich herausgezogen. Ei ja, ich komme jeßt ganz gut mit jeder; 
mann aus — bin hoffähig und reite bei feierlichen Aufzügen am 
Kutſchenſchlage Ihrer Faiferlihen Majeftäten. Komme ich nad 
Rio heim, fo werde ich mich verheiraten; denn für ein ferneres 
jiunggefellenhaftes Umherſchweifen wird’8 allmählich ein wenig 
fpät. Doch davon morgen, und num vor allen Dingen das legte 
Glas von diefem höchſt vortrefflichen Getränk und dazu ein Nat, 
Wunfh und Trinkſpruch: Verehrte Freunde, da wir einmal da 
find, fo leben wir, wie e8 eben gehen will; und da das, was ung 
endlich aus dem Dafein hinausfchiebt, immer am Werk ift, ſo 
fchieben wir ohne Skrupel gleichfalls; — vor allen Dingen aber 
lebe er Hoch — mein Freund,.mein lieber, alter, guter Freund 
Philipp Keiftellee und mit ihm wachſe, blühe und gedeihe fort 
und fort feine Apothefe ‚zum wilden Mann !‘” 

Das riefen fie alle nach und Hangen die Gläfer aneinander, 
und dabei erhoben fie fih und fanden verwirrt, ſchwankend ob 
all des Abenteuerlichen, das der Abend enthüllt und gebracht 
hatte. Wie die Gäfte. Abfchied von dem Hausherren, feiner 
Schmefter und dem Oberſt Agoftin Agoniſta nahmen, mußten 
fie felbft nachher kaum anzugeben. 

Der Oberſt aber fagte: 

„Philipp, einen Schlafrod und ein Paar Pantoffeln bitte ich 
mir aus, Ich will e8 doch wenigftens einmal noch behaglich im 
deutfchen Vaterlande haben.“ 

Die beiden Freunde vom Blutftuhl umarmten fich noch ein; 
mal; wir aber begleiten den Förfter Ulebeule und den Paftor 
ein Endchen auf ihrem Wege nach ihren Wohnungen. 


65 


Zehntes Kapitel, 


F aß fie, der Förſter, der Paſtor und der Landphyſikus Dr. 
Hanff, ihren freundlichen Wirten gute Nacht oder vielmehr 
guten Morgen gefagt hatten, ftand feft. 

Der Apotheker hatte fie mit dem Lichte an die Tür begleitet, 
und fie fanden auf der Landftraße, wo der Doftor feinen Einz 
fpänner bereits mwartend fand, Sie vernahmen noch, wie der 
Hausherr drinnen den Schlüffel im Schloß umdrehte, und 
niemand hinderte fie jeßt mehr, ihren Stimmungen, Gefühlen 
und Anfichten die Türen weit aufzumerfen. 

Der erfte, der das Wort ergriff, war natürlich der Doktor, 
und er rief von feinem MWagentritt aus: 

„Nicht wahr, da hab’ ich euch wieder mal einen tollen Ge; 
fellen ins Dorf gefchleift? He, ihr hattet wohl kaum eine Ahnung 
davon, daß e8 dergleichen auf Erden geben könne, — was? Mir 
gefällt der Kerl ausnehmend wohl, und ich freue mich unbändig 
auf eine fernere und genanere Bekanntſchaft, — zu Worte wird 
er einen im Laufe der Zeit ja auch wohl einmal kommen laſſen. 
Wir laden ihn natürlich rund herum der Neihe nach zum Effen 
ein,“ 

„Natürlich, und er foll fih dann auch über ung wundern,” 
rief Wlebenle, und der Doktor fuhr ab auf der Landftraße zur 
Nechten; er hatte ein gut Stüd Weges zu fahren, ehe er feine Bes 
bafung erreichte, 

Die beiden anderen mwendeten fich links, und der geiftliche 
Herr trug vorfichtig feine Tafchenlaterne voran. Wo ihre Wege 


66 


aber ſchieden, ftanden fie noch einmal fill und fahen nach der 
Apotheke „sum wilden Mann“ zurück. Das Haus lag dunfel da 
unter dem wieder dunkel und fchnell ziehenden Gewölk. Obgleich 
der Wind fih ein wenig gelegt hatte und die Sterne fichtbar 
waren, trieb fich noch genug beörohliches Gedünft am Himmels; 
gewölbe um, und die Pappeln in der Nähe der Apotheke ſchwankten 
wie betrunkene Gefpenfter. 
„Mir wird jenes Haus dort nie wieder fo ausfehen, wie ich 
.. 08 bis zum heutigen Abend gekannt habe,“ fagte der Paftor. 
„Was fagen Sie, lieber Freund?“ 
„Das weiß der Teufel!” 
Der geiftliche Herr zog ein wenig die Achfeln zufammen. 
| „Sie follten diefes böfe Wort vorfichtiger gebrauchen, Beſter,“ 
2 meinte er, „Freilich, freilich, nach dem, was wir eben vernommen 
IR haben — wer kann da fagen — wer da feine Hand im Spiele ge; 
18 habt hat? Ich Iobe mir Zuftände, die auf befferen Grund und 
Boden gebaut find ald — — furz, was halten Sie vom heutigen 
| Abend an von den Umſtänden unferes Freundes Krifteller?“ 
j „Der Alte ift mir lieber denn je geworden !” rief der Förfter 
voll Enthuflasmus. „Das nenn’ ich einen braven Mann und 
einen guten Menfchen! Wenn einer e8 verdiente, diefem famofen 
Scharfrichter und brafiltanifchen Generalfeldmarfchall zur rich 
tigen Stunde auf feinem Wege zu begegnen, fo war's unfer 
Philipp. Die Welt oder nur ein Stüd davon würde er freilich 
nicht erobert haben, aber was man ihm gibt, das nimmt er mit 
Beicheidenheit und Dankbarkeit, und für unfere Gegend ift er 
' doch wirklich diefe dreißig Jahre durch ein Segen geweſen.“ 
| „Mund der andere — diefer andere — diefer Dom — Dom — 
Agoniſta?!“ 

„Hören Sie, Paſtore, den muß man ſich erſt bei Tage beſehen, 
ehe man ein Urteil über ihn abgeben kann; bei Lampenlicht geht 
nichts in der ganzen weiten Welt über ihn! das iſt ein Pracht⸗ 
kerl; — wahrhaftig, ſolch ein Geſell aus Schmiedeeiſen und Eichen; 


67 








holz rückt einem nicht alle Tage an den Ellenbogen. Was wollen 
Sie — ich glaube, ich glaube, mich hat lange nichts fo fehr ge; 
ärgert, als daß er mir nicht auf der Stelle angetragen hat, Brü⸗ 
derfchaft mit ihm zu machen.” 

„Da bin ich denn doch in der Tat ein wenig weichlicher als Sie, 
lieber Wlebeule,” fagte der Paſtor mit einem leifen Schauder. 
„Mir ift diefer plöglich wie aus dem Boden aufgeftiegene Menfch 
entfeglih! Die Kaltblütigkeit, mit welcher er aus nichts in feinem 
Leben ein Hehl machte, griff mir an alle Nerven. Wenn ich zu . 
viel Punsch getrunken haben follte, fo bin ich nicht fchuld daran, 
fondern diefer — diefer — diefer ungewöhnliche Erzähler, Wehren 
Sie fich einmal gegen ein fortwährend Einſchänken, wenn es Sie 
fortwährend heiß und kalt überläuft! Hatten Sie wirklich vorher 
eine Ahnung davon, daß e8 folche Lebenswege und Fata in un: 
feres Herrgotts Welt geben könne?” 

„In Büchern habe ich Schnurrioſeres gelefen; aber hier hatten 
wir freilich einmal das Wirklihe und Wahrhaffige in natura. 
Heiß und kalt hat mich feine Hiſtorie nicht gemacht, aber die Pfeife 
ift mir ziemlich oft darüber ausgegangen. Käme einem jeden 
Abend ein folcher Kerl über den Hals, fo würde einem das 
Schmaucen auf die allernatürlichfte Art abgewöhnt. Außer; 
dem daß ich einen brafilianifchen Oberften noch niemals mit 
eigenen Augen gefehen hatte, erzählte diefer Dberft mehr als 
brafilianifch gut, und noch dazu ganz und gar nicht aus dem 
Sägerskateinifchen. Das muß ich fennen und hätte es ihm beim 
erften Flunkerwort abgefpürt und e8 ihm merken laffen, nämlich 
moralifh mit dem Hirfhfänger übers Gefäß: Hoho, das iſt für 
den gnädigften Fürften und Heren! Hoho, das ift für die Ritter 
und Knecht’! Dies ift das edle Jägerrecht !” 

„Mlebeule?!” rief der Paftor klagend-⸗vorwurfsvoll. 

„Sa, ja, es ift wahr, ’8 ift ſpät und es zieht bier arg,“ rief 
der Förfter, „aber die Mohrenfchiffgefehichte allein hätte doch 
auf jedem Drgelbilde abgemalt werden können; — bei allem in 


68 





Grün, man fomme ſich ganz abgeſchmackt und verrucht verledert 
und in feinem Loche verfumpft vor, wenn man e8 fich überlegt, 
was man feinerfeits hier am Drte vor fich brachte an Erfahrung, 
während ber fein Gemwölle um fo viele Nefter herum ablegte.“ 

„Ich danke dem Himmel dafür, daß er mich hier im Frieden 
grau werden ließ. Meine Natur hätte nicht für ein folches Dafein 
gepaßt.“ 

„Das brauchen Sie mir nicht fehriftlich zu geben,“ lachte der 
Förfter; „aber hat ung nicht gerade diefes furiofe, ins Kraut 
gefchoffene Menfchentind bewiefen, daß niemand weiß, was in 
ihm ftedt und was er unter Umftänden aus fich herausziehen 
kann? D je, wie oft hab’ ich in meinen jungen Jahren aus Angit 
oder Verdruß in die weite Welt hinauslaufen wollen! Nach 
einem folchen Erzählungsabend begreift man weniger als je, 
weshalb man e8 damals nicht ausführte und feinen Schulmeiftern, 
Eltern und fonftigen VBorgefegten durch die Lappen ging.“ 

„Wir werden alle unfere Wege richtig geführt und find in 
guten Händen,“ fprach der geiftliche Hirte und trat leider gerade 
in diefem ganz unpaffenden Moment in eine etwas tiefere Pfüße, 
in der er ohne Gnade hätte umkommen müflen, wenn fein 
handfefter Begleiter nicht noch gerade zu rechter Zeit zugegriffen 
hätte. 

„Bitte ein andermal um denfelben Dienft,“ fprach Ulebeule 
gravitätifch; fonft aber brachte diefer Zufall ihr jegiges Gefpräch 
über das Haus Krifteller und den Faiferlich brafilianifchen 
Gendarmerieoberfien Dom Agoſtin Agonifta zu einem Abs 
ſchluß. 

Einiges wurde jedoch noch geſprochen, ehe der Paſtor gerade; 
aus feiner Pfarre zumanderte und der Förfter fich links in den 
dunkeln Hohlweg fchlug, der zu feiner Förfterei führte. 

„Wir fehen ung doch morgen? Diefes alles kann doch gewiß 
nicht paffiert fein, ohne daß man ein weniges mehr davon fieht 
und hört und fich darüber ausſpricht!“ 


69 


„Man fühlt freilich das Bedürfnis,” meinte der Paftor, „und 
ich meine, wir treffen wohl irgendwo zuſammen. Man ift es auch 
unferm guten Apotheker fohuldig, daß man fich nach feinem Be; 
finden erfundige.“ 

„Mnd dem Oberſt nicht weniger.” 

„Gewiß, gewiß. Nun, wir werden ja fehen. Und nun gute 
Nacht, oder vielmehr guten Morgen, mein teurer Freund, Wir 
find felten fo lange beieinander geblieben als am heutigen 
Abend,” 

„Und immer war’8 noch zu früh zum Aufbruch, und ich wäre 
fofort bereit, diefen wilden Indianer mit der erftien Dämmerung 
taufchlägig zu fpüren. Aber der Kerl fehnarcht — ich bin feft über, 
zeugt, er liegt im Bau und ſchnarcht wie fein zweiter Menfch mit 
gutem Gewiffen auf zwanzig Meilen in die Runde. Sapperlot, 
fo wie ich mich aufs Ohr gelegt habe, fange ich an, vom Blut⸗ 
ſtuhl und diefem brafilianifchen Landdragoner;General zu träu⸗ 
men, und — morgen — morgen — mache ich — Doch Brüder, 
fchaft mit ihm!“ 

So fprach alfo die Welt! — Wenn eine Million Zuhörer in 
dem bildervollen Hinterftübchen der Apotheke „zummilden Mann“ 
dem alten Philipp Krifteller und dem DOberften Agoſtin Agonifta 
zugehört haben würde, fo würde diefe Million denfender und 
redender Wefen kaum ein mehreres und anderes als der Paftor 
Schönlank und der Förfter Ulebeule bemerkt haben. Der Seelen; 
austaufch in diefen Wendungen genügte übrigens auch voll 
fommen: wenden wir ung zu dem greifen Gefshwifterpaar in der 
Apothefe „zum wilden Mann” und zu feinem eigentümlichen 
Gafte zurüd, 


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Elftes Kapitel. 


der und Schwefter faßen allein im jeßt recht froftig werden; 
den Hinterftübchen, im erfaltenden Qualm von fpirituöfen 
Getränk und Tabafsdampf. Der Gaft war zu Bett gegangen. 
Der Hausherr hatte den Freund mit dem Lichte in das be; 
hagliche Gemach die Treppe hinaufbegleitet und noch einmal 
all fein überquellendes Gefühl in Wort und Empfindungslaut 
zufammenzufaffen gefucht. Der Oberſt hatte ihn freundlich zu 
beruhigen geftrebt und dann, noch in Gegenwart feines guten 
Philipps, fehr gegähnt und den Nod ausgezogen. Liebevoll aber 
hatte er ihn doch noch einmal von dem erften Treppenabfaß 
zurüdgerufen und, ihm die Hand auf die Schulter legend, gefagt: 
„Philipp, alter Kerl, lieber Junge, e8 ift mir in der Tat ein 
herzliches Genügen, unter deinem Dache zu ruhen. Wahrhaftig, 
in mancher unbehaglichen, unbequemen Stunde zu Lande und 
zu Waffer Habe ich mir da, d. h. unter diefem Dache, oft das 
vorzüglichfte Quartier zurecht gemacht, und jet hab’ ich die Wirk, 
lichkeit, und fie ift wunderbar wohltuend!” 
An diefen erfreulichen Ausbruch feiner Gefühle hatte er denn 
freilich recht praftifch die Frage nach dem Stiefelfnecht gefnüpft. 
Während der Bruder dem Gafte zu feinem Schlafjimmer 
leuchtete, war Fräulein Dorette in der Bildergalerie ſitzen geblie; 
ben, doch hatte fie den Ehrenfeffel aufgegeben und fich auf ihrem 
gewohnten Stuhle niedergelegt. Da faß fie, beide Ellenbogen 
auf den Tisch ſtützend und flarr ducch den Qualm, den die Herren 


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hinterlaſſen hatten, und über die leere Punſchſchale und die gleich- 
falls leeren Gläfer weg auf die buntbehängte Wand gegenüber 
fehend. Da faß fie und horchte auf die Schritte über ihrem Kopfe 
und dann auf die Schritte des zurückkehrenden Bruders auf der 
Treppe. 


„Welch ein Erlebnis!” murmelte fie. „Wie fallt dag jegt in 
unfere Tage? — So fpät im Leben! — Und was werden Die 
Folgen fein? — 9, o, 9!“ 

Nun aber trat der Bruder wieder ein und zur Schmweiter 
heran. Nun legte er feinerfeits ihr die Hand auf die Schulter: 

„Weißt du dich auch noch nicht in dem Glüd, das ung diefer 
Abend gebracht hat, zurechtzufinden? O Dorette, liebe Dorefte, 
wie ſchön hat fich nun alles ineinander gefunden und gefchloflen, 
— und gerade an diefem Tage, an diefem Abend. Wer glaubt 
da an Zufall? Wer hat jemals deutlicher als wir die Hand 
der Borfehung, die alles gut macht, in feinem Lebenslofe er; 
blickt?” 

„O!“ föhnte die Schwefter, „Ach, Bruder, Bruder, was 
wird nun aus unferm Leben werden? — D, wenn er doch nur 
früher gefommen wäre! Aber fo fpät am Abend — fo ſpät am 
Abend — was follen wir anfangen?” 

: Herr Philipp Keifteller hatte fich auf feinem Stuhl nieder, 
gelaffen und Blidte die Schwefter groß und verwundert an. 
„Bas — wie meinft du das, Dorothea?“ 


„Jetzt frage mich nur nicht weiter,” fagte das alte Fräulein 
(harf, „Es wird fich ja alles finden — morgen, übermorgen! Ja 
morgen iſt ja auch ein Tag! — Aber man kann e8 ja nicht laſſen. 
— Befter Bruder, wenn er nun bliebe? wenn er fich bei ung 
nieberlaffen wollte? Man muß fich ja da alle möglichen Fragen 
ftellen.” 

„Wenn er bliebe? wenn er fich bei ung niederlaffen wollte? 
Aber das wäre ja herrlich!” rief der Apotheker, entzückt fich die 


72 








Hände reibend. „Wie weich und angenehm wollten wir ihm fein 
Leben machen!” 

Verwundert fah er hin, als das Fräulein zweifelnd und 
melancholifch den Kopf fchüttelte, 

„Du glaubft nicht, daß wir dag vermöchten, Dorothea?“ 

„Nein,“ erwiderte. dag Fräulein kurz und fprach unter einem 
fchweren Seufzer mehr zu fich ald dem Bruder: 

„And dann der andere Fall, — wenn er morgen wieder abz 
reifen will, und dazu —“ 

Sie brach ab und vollendete den Sat auch nicht, als der 
Bruder gefpannt eifrig fragte: 

„Mund dazu? — was meinft du? was willft du fagen?” 

„Wir müſſen e8 eben abwarten,“ fprach Fräulein Doro; 
thea Kriſteller aufftehend. „Etwas anderes läßt fich in diefer 
Nacht doch nicht bereden; und jetzt wollen auch wir zu Bett 
gehen und verfuchen zu fchlafen.” 

Nach diefem faßen fie doch noch, aber ſtumm, eine gute halbe 
Stunde beieinander. Als fie zu Bette gegangen waren, fehlief: 
weder Bruder noch Schwefter einen ruhigen Schlaf. 

Den ruhigften Schlaf von allen, deren Bekanntichaft wir 
diesmal machten, fehlief der brafilianifche Oberft Dom Agoftin 
Agoniſta. 

Der lag friedlich auf dem Rücken und lächelte im Schlummer 
und ſogar beim Schnarchen. Man vernahm ihn ſo ziemlich durch 
das ganze Haus, und wenn er träumte, ſo träumte er, ganz 
gegen alle ſoldatiſche Sitte und Gewohnheit, weit in den jungen 
Tag hinein. 

Dieſer junge Tag kam friſch, reingewaſchen, glänzend und 
ſonnig — ein klarſter, kalter Oktobertag. Die Berge in ihrem 
braunen Herbſtgewande hoben ſich ſcharf von dem hellblauen 
Himmelsgewölbe ab; die leeren Felder der Ebene lagen bis in 
die weiteſte Ferne klar da; und die Dörfer, die einzelnen Gehöfte, 
Anbauerhäuſer und Hütten erſchienen dem Auge ſcharf um; 


sogen, als ob fie dem Spiegel einer Camera obscura entnommen 
worden und in die Morgenlandfehaft hinein aufgeftellt feien. 

In diefer fonnigklaren Herbfimorgenlandfchaft erfchten aber 
die Apotheke „zum wilden Mann“ vor allem übrigen wie hübſch 
aufs und abgeputzt. Die Firma über der Tür glänzte in ihrer 
Soldfchrift weit hin, die Landſtraße nach rechts und links entz 
lang. Und alles, was fonft zu dem Haufe gehörte: Garten; 
gegitter, Stallungen und Mauern, befand fih im ordentlichften 
Zuftande. Man fah, daß um jegliches Zubehör diefes Heim; 
weſens ein forglicher Geift walte, der feine Freude und fein Ge; 
nügen dran habe und fein Möglichftes von Tag zu Tage tue, alles 
im Hof, Haus und Garten im guten Stande zu erhalten. Bis 
auf die vom Sturme der Nacht gerzauften Sonnenblumen, die 
noch in ihren welken Neften über den Gartenzaun hingen, war 
alles rings um die Apotheke „zum wilden Mann“ im vollften 
Sinne des fehönen Wortes — präfentabel. 

Und Bruder und Schwefter warteten mit dem Kaffee auf 
den Gaft. Eben hatte er herunter fagen laffen: augenblicklich 
tafiere er fich und werde in zehn Minuten erfcheinen. 

Die Dünfte der Nacht waren verfcheucht, das Hinterftübchen 
gekehrt und mit weißem Sande beftreut. Die Hauskatze pußte fich 
unter dem Tifche, und der Zeifig zwitſcherte lebendig in feinem 
Bauer; — 28 war ein Vergnügen, Herrn und Fräulein Krifteller 
an ihrem Kaffeetifche figen zu fehen, und — eingeladen zu werden, 
gleichfalls daran Platz zu nehmen, 

Der Dberft ließ nur wenig über die angegebenen zehn Minus; 
ten auf fih warten. Schon vernahm man feinen martialifch 
ſchweren Schritt auf der Treppe; — der Apotheker Philipp Krifteller 
riß die Tür feines Lieblingsgemaches auf. 

„Schönen guten Morgen!” rief der DOberft Dom Agoſtin 
Agoniſta auf der Schwelle, und Wirte und Gaft faßten fich rafch 
zum erftenmal bei hellem Tageslicht ins Auge: am fchärfften 
ſah das Fräulein zu ; etwas weniger ſcharf fah fich der brafilianifche 


74 





Kriegsmann feine Leute an; — der Apotheker „zum milden 
Mann“ fah gar nichts, fein Gaft und Freund ſchwamm ihm vor 
den Yugen — mwenigftens die erften Minuten durch. 

„Recht alt geworden,” meinte der Dberft bei fih, und er 
hatte recht. 

„Unter andern Verhältniffen würde ich gar nichts gegen ihn 
haben,” fagte das Fräulein in der Tiefe der Seele, „ein anſtän⸗ 
diger, behäbiger Herr!” 

Der Apotheker Philipp Keifteller fagte gar nichts; er ſchüttelte 
von neuem dem alten wiedergefundenen Freunde — dem Wohl; 
täter und Gafte die Hand und drüdte ihn diesmal trotz alles 
Widerſtrebens auf den Ehrenplag nieder. Erft als der Oberſt 
faß, fagte Herr Philipp etwas, und zwar nicht bei fich und in der 
Tiefe feiner Seele, fondern er rief es fröhlich und laut: 

„Auguſt, ich freue mich unendlich, — du bift merkwürdig jung 
geblieben !” 

„Bei allen Göttern zu Waller und zu Lande, ich hoffe dag,“ 
lachte der Dberft Dom Agoftin, und es war eine Wahrheit: troß 
feiner fohneeweißen Haare und feiner wohlgesählten Jahre war 
er fehr jung geblieben; aber das jüngfte an ihm war doch feine 
Stimme. 

Diefe allein fchon konnte als eine Merfwürdigkeit gelten. 
Mit einem behaglichen Widerhall erfüllte fie das Haug, ging 
einem voll und rund durch die Ohren ing Herz und paßte fich 
gemütlich, ja fozufagen, teöftlichsfröhlih allem und jeglichen 
an, was die Stunde im Guten und im Böfen bringen mochte. 
Mer fie von fern vernahm und vorzüglich in Verbindung mit 
dem herzlichen Lachen ihres Befigers, der fagte fich unbedingt: 

„Da freut fih ein braver Gefell feines Daſeins.“ 

Der Oberſt fohüttelte nun noch einmal dem Fräulein die Hand 
und fprach zum Apotheker: 

„Ich babe euch heute morgen das Recht gegeben, mich für 
einen Langfchläfer zu halten, aber ihr werdet wahrfcheinlich mor; 


W. Raabe, Sämtliche Werte. Serie II. 6d 7 5 


gen früh fchon eines Befferen belehtt werden. Gewöhnlich pflege 
ich drei Stunden vor Sonnenaufgang auf dem Marſche zu fein. 
Man lernt das, auch ohne Anlagen dazu zu haben, unterm Aqua⸗ 
for; und wenn ihr eines Morgens das Neft ganz leer finden 
folftet, fo braucht ihre euch auch nicht allzu fehr zu wundern.” 

„O, Freund,” rief der Apotheker, „wir werden dich zu halten 
wiffen! wir werden dich ficherlich fürs erfte nicht loslaffen! Du 
bift unfer! Dir darfft nicht gehen, wie du gefommen bift — du 
würdeft für lange Zeit alle unfere Freude, unfer Behagen mit 
dir wegführen !” 

„Hm,“ fagte der Dberft, und dann frühftücten fie gemächlich, 
und der alte Soldat mit befonders ausgegeichnetem Appetit. Er 
zeigte auch beneidenswert wohl konfernierte Zähne und wußte fie 
frefflich zu gebrauchen. 

Nach vollendetem Frühftüd lehnte er ſich behaglich ſeufzend 
zurück und feßte feine Pfeife in Brand. Dorekte ging ihren Haus; 
gefchäften nach, und die beiden Herren waren allein. Sie plauder; 
ten jet — fie fonnten jet plaudern — der Ernft in ihren gegen 
feitigen Verknüpfungen war wenigftens für den Moment über; 
wunden; fie hatten die nötige Ruhe zum harmloſen Schwagen 
gefunden, und fie ſchwatzten miteinander — zwei gemütliche 
ältliche Herren, deren einer etwas mehr von der Welt gefehen und 
fich bedeutend beffer erhalten hatte, als e8 dem anderen vergönnt 
gewefen war. 

Der Brafilianer freute fich über die deutfchen Stubenfliegen, 
welche ihm um die, Nafe fummten; e8 war ihm auch durchaus 
nicht zu verdenken; aber die Tatfache verdient, in einem eigenen 
Kapitel behandelt zu werben. 


76 


— 


Zwölftes Kapitel. 


„Sehr glücklichen Leute wißt es gar nicht, um wie vieles unſer⸗ 
einer euch zu beneiden hat,” fprach der Oberft. „Da fitt ihr in 
eurer täglichen Behaglichkeit, und wenn ihr euch nicht dann und 
wann wirklich über die Fliege an der Wand zu ärgern hättet, fo 
ginge es euch eigentlich zu gut. Nun gud einer, wie niedlich fich 
das Ding da auf der Zuderdofe die Nafe wiſcht und die Flügel 
putzt! Sollte man es nun für möglich halten, daß der Gut; 
mütigfte von euch hier zu Lande vor Wut außer fich gerät, wenn 
das ihm während des Mittagsfchlafes über die Stirn fpaziert? 
Sp ein Bivouac am Rio Grande ohne Moskitonetz, das würde 
etwas für euch fein, um euch Geduld in Anfechtungen zu lehren.” 

Der Apotheker lächelte und fagte: 

„Anfere Anfechtungen haben wir auch wohl ohne dag, lieber ° 
Auguſt.“ 

„Lieber Agoſtin! wenn ich dich bitten darf,“ rief der Gaſt. 
„Du haſt keine Ahnung davon, wie verhaßt mir dieſer frühere 
Auguſt iſt. Wenn jemand ſeinen alten Adam ſo vollſtändig wie 
ich im Graben ablegt, dann hält er auch etwas auf ſeinen neuen 
Rock. Mein jetziger paßt mir wie angegoſſen, bemerke ich dir 
abermals; — Dom Agoſtin Agoniſta, Gendarmerie⸗Oberſt in 
kaiſerlich braſilianiſchen Dienſten — alles in Ordnung, Patent 
wie Paß —“ 

„Ereifere dich doch nicht, Lieber,“ ſagte der alte Philipp be; 
gütigend. 

„Sch ereifere mich nicht, ich ärgere mich nur!” rief der 
Oberſt. 


* 77 


„Und zwar wie ein echter Deutfcher über die Fliege an der 
Wand, befter Auguſtin,“ meinte der Apothefer „zum wilden 
Mann“; und dann gingen fie zu etwas anderm über, das heißt, 
der Oberſt fing an, fich fehr genau nach den Umftänden und Lebens; 
läufen der Herren, deren Bekanntſchaft er am geftrigen Abend 
gemacht hatte, zu erkundigen. Dann erzählte er feinerfeits ges 
nauer, auf welche Weife er mit dem Doktor Hanff auf dem Wege 
sufammengeraten fei, und dadurch kam er darauf, wie ihn Doc 
nicht allein der Zufall in diefe Gegend geführt habe, fondern 
wie er in der Tat mit der Abficht gekommen fei, fih nach dem 
alten botanifhen Wald; und Zugendgenoffen, nach dem freuen 
Freunde vom Blutftuhl umzuſchauen. 

„Ich hatte feine Ahnung, wo du geblieben warft, und ob du 
überhaupt noch am Leben feift, Filippo!” rief der Brafilianer. 
„ber ich hatte mir vorgenommen, dich tot oder lebendig zu 
finden, und e8 ift mir gelungen. Eine Maronjagd war e8 durchaus 
nicht, Alter. Ich habe es wohl gelernt, Spuren von Wild und 
Menfch im Urwalde, wie zwifchen den Aderfeldern und in dem 
verworrenften Straßenneß über und unter der Erde zum Zwecke 
zu verfolgen. Dich, oder deinen Namen, oder vielmehr einen 
Schnaps oder Likör deines Namens fpürte ich in den Zeitungen 
aus; — dem ‚Krifteller‘ ging ich nach, und da bin ich denn, und 
du wirft e8 mir gewiß nicht verdenken, wenn ich im Laufe des 
Morgens das Getränf an der Duelle zu erproben wünſche. Es 
war feineswegs notwendig, daß euer Doktor mich auf den 
‚Krifteller‘ aufmerkſam machte.” 

Der alte Philipp hatte fih während diefer Auseinanderfegung 
fortwährend vergnüglichft die Hände gerieben, jeßt fprang er auf, 
flopfte den Freund auf die Schulter und rief: 

„fo mein ‚Kreifteller‘ hat dich auf meine Spur gebracht! 
D, lieber Yuguft—in, ich glaube da wirklich eine wohltätige Er; 
findung gemacht zu haben; ich werde fogleih —“ 
„Nachher,“ fprach der Oberft Agoniſta. „Steh, wie herrlich die 


78 





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Sonne feheint, wie blau der Himmel ift! Philipp, jet zeigft du 
mir vor allen Dingen dein Heimmefen im einzelnen: Herd und 
Hof — ach, wie ſchade, daß du mir nicht auch Weib und Kinder 
und Enkel zeigen kannſt! — und Garten, die Offisin, das Labora⸗ 
torium, die Materiallammer, Küche und Keller, Stall und Vieh; 
ftand — alles intereffiert mich!“ 

Da der Hausherr jett wieder neben feinem Gafte faß, fo 
Elopfte er ihn nun auf das Knie: 

„O Anguftin, wie freundlich ift das von dir! Welch’ eine 
Freude macht du mir da. Sollen wir gleich gehen?” 

„Gewiß,“ fprach der Oberſt Dom Agoſtin Agonifta, fprang 
auf, drückte den Tabak in der Pfeife feft und nahm den Arm des 
Freundes, 

Beide Herren fraten ihre Gänge an, durch Haus und Hof, 
durch Garten und Ställe, und e8 war zugleich eine Merkwürdig— 
feit und ein Vergnügen, wie verftändig und fachfundig der Kriegs; 
mann über alles zu reden wußte, und — wie genau er fich jegliches 
Ding anfah. 

Der entzüdte Hausherr ſprach ihm mehrfach feine Ver; 
wunderung darob aus; aber Dom Agoftin lachte und meinte: 

„Treibe du dich einmal wie ich ein Menfchenalter da drüben 
um unter dem Volk und den Völferfchaften, die Affen und fonfti; 
gen Beftien eingefchloffen. Das heißt natürlich als ein von Haus 
und Anlage aus überlegender und praftifcher Mann, und dann 
fieh zu, ob du nicht gleichfalls die Ordnungen der alten Heimat 
die im Gedächtnis wachrufen und täglich gern mit neuen Er; 
fahrungen vermehren wirft. Wenn mich mein Schidfal zu einem 
Abenteurer gemacht hat, Philipp, fo bin ich doch ein ganz folider 
geworden. Daß ich mich demnächft verheiraten werde, glaube ich 
euch bereits geftern abend mitgeteilt zu haben.” 

„Wenn e8 wirklich dein Ernft war, Auguftin —“ 

„Mein bitterer Ernft. Ihr fchient es alle für einen Scherz 


79 


zu nehmen; ich habe das wohl gemerkt. Eigentlich hätte ich dag 
übel aufnehmen follen und begreife jet auch nicht, weshalb ich 
nicht fofort um weitere Aufklärung über euer Lächeln bat; — 
diefer Doktor — Doktor Hanff fehlen mir fogar die Schultern 
in die Höhe zu ziehen. Nun, ſchieben wir dag alles auf den treff⸗ 
lichen Punfch deiner Schwefter; — ich aber wiederhole e8 dir, ich 
bin bis über die Ohren verliebt und trage das Bild meiner Ge; 
liebten in einem Medaillon unter der Wefte auf dem Bufen. Du 
follft das Porträt fehen, und deine Schwefter ſoll's nachher auch 
fehen, und dann will ich eure Meinung ruhig anhören. Es if 
ein Prachtweib und nicht ohne Vermögen; Senhora Julia Fuenta⸗ 
lacunas, — nicht wahr, ein recht wohlklingender Name? Sie fam 
jung als Zulchen Brandes von Stettin nach Rio und heiratete 
den Senhor Fuentalacunas vom Zollamte. Weißt du, Tieber 
Freund, der Rock des Kaifers ift zwar eine recht Fleidfame und 
honorable Tracht; aber wenn man fo die erfte Jugend hinter fich 
hat, fängt man an, auf die Ehre zu pfeifen und das Behagen 
dem Herrendienfte vorzuziehen. Ich werde eine Hazienda kaufen 
und hoffe als ein begüterter Familienvater meine Tage in Ruhe 
im Kreife der Meinigen zu befchließen. Ihr — du und Fräulein 
Dorette — gehört natürlich zu der Familie, und wir werden ein 
vortreffliches Leben miteinander führen.” 

„Wie?“ — — fragte der Apotheker „zum wilden Mann”, 
Herr Philipp Krifteller, und fah feinen Gaft mit den größeften 
Yugen an. 

„Wie ich es fage,” fprach der Faiferlich brafilianifche Gendar; 
merie⸗Oberſt, den erftaunten Blick feines alten Freundes nicht 
im mindeften beachtend, fondern, mitten im Hofraume ftehend, 
rings umher an den umgebenden Gebäuden emporfchauend. 
Es schien ihm wiederum in der Tat bitterer Ernft um das zu fein, 
was er fagte, 

„Ich hoffe, deine Schwefter ohne Mühe zu überreden,” fügte 
er wie beiläufig an. 


80 








Der Apotheker lachte, der Dberft aber lachte ganz und gar 
nicht mit, fondern umging die zwei Milchfühe im Stalle mit 
kritiſchem Blicke, Hopfte fie auf die Weichen und bemerfte: 

„Bor einigen Jahren war ich in Fran Bentos und ſah mir 
das dortige Fleifchertrakt-Inftitut an. Großartig! — Sie treiben 
euch vor den Augen einen Ochfen in die Netorte und liefern ihn 
euch nach zehn Minuten in eine Büchfe konzentriert, die ihr in die 
Hofentafche ſteckkt — wäre das Weltmeer nicht da, dem ihr euer 
Erftaunen zurufen könnt, ihr wüßtet nirgends damit hin, Philipp. 
Und vor vierzehn Tagen war ich bei Liebig in München — ans 


nähernd derfelbe Geruch und Duft wie bei die, nur noch ein biß- 


chen metallifcher; — Krifteller, da können wir einander gleichfallg 
gebrauchen — ich liefere dir das Vieh, und du lieferft mir den 
Extrakt; — Philipp, ich gebe dir mein Ehrenwort darauf, in drei 
Fahren machen wir den Herren zu Fray Bentos eine Konkurrenz, 
die fie zu Tränen rühren ſoll.“ 

„O Yuguftin, welch einen prächtigen Humor haft du aus 
deinem neuen Vaterlande mit herübergebracht!” rief der Apo; 
thefer ; „aber —“ 

„Humor?“ fragte der Oberſt fehr ernfthaft und feste faft 
ſchreiend hinzu: „Zahlen! Zahlen! Die eingehendften, unum⸗ 
ftößlichften Berechnungen: Hier! — da!" — 

Er hatte bereits feine Brieftafche hervorgegogen und las im 
Fluge dem Freunde einige in der Tat fehr eingehend auf die 
Sleifchertraft- Fabrikation Bezug habende Zahlenreihen her. 
Herr Philipp Kriſteller rieb fich in immer größerer Erftarrung die 
Stirn: 

„Die Schwefter — die Schwefter follte das hören,“ murmelte 
er, und jeßt lächelte auch der GendarmeriesOberft endlich wieder 
einmal und meinte: 

„Ih werde natürlich fchon beim Mittagseffen deine gute 
Schwefter mit unferen Plänen befannt machen und fie für die; 
felben zu gewinnen fuchen. Ich bin überzeugt, fie wird fich nicht 


81 


fo fteifsverwundert wie du hinftellen und nur meinen Humor 
toben.” . 

„D du großer Gott!” feufzte Herr Philipp. 

Die Ziege, welche neben den zwei Kühen im Stall unter der 
befonderen Obhut Fräulein Dorette Kriftellers ein wohlbehag: 
liches Dafein lebte, überging der Oberft ohne weitere Bemerkung; 
Dagegen fprach er im Hühnerhofe Eopffchüttelnd: 

„Diefes Vieh hier erinnert mich ſtets merkwürdig lebhaft 
an meine felige Mutter.” 

Er hatte die Brieftafel in der Hand behalten und machte von 
Zeit zu Zeit einige Notizen. Faftzwei Stunden brachten die beiden 
Herren auf ihrer Inſpektionsreiſe zu, und als fie ing Haug zurück⸗ 
fehrten, fanden fie den Landphyſikus in der Offizin auf fie 
wartend und ein Gläschen vom berühmten SKriftellerfchen Magen; 
liför vor ihm auf dem Tifche. 

Mit gewohnter Jovialität begrüßte der Doktor die eintreten, 
ben beiden Herren. Man fchüttelte fich bieder die Hände im Kreiſe 
und erfundigte fich gegenfeitig auf das herzlichfte nach der Nacht; 
ruhe und dem fonftigen Befinden. 

„Bas für einen Wochentag fehreiben wir denn heute eigentz 
lich?” fragte der Dberft, feine Brieftafche immer noch in der 
Hand fragend, 

„Das wird Ihnen der Barbier, welcher da eben hintennt, 
am beften fagen können,” lachte der Doktor Hanff, „der Pflug 
geht den Bauern über die Wochenftoppeln; es ift Sonnabend —“ 

„Mad morgen befuche ich zum erften Male feit einem Menſchen⸗ 
alter den deutfchen Gottesdienft wieder!” rief der DOberft Dom 
Agoftin Agonifta entzückt. „Übermorgen reife ich ab.” 

„Auguſt? — Auguftin?” rief erfchroden Herr Philipp 
Keifteller, 

„Here Dberft?” ſprach erftaunt Fräulein Dorette Keifteller, 

Uber der Landphyſikus, fein Glas energifch zurückſchiebend, 
tief: 


82 


„Unter allen Umftänden unmöglich, Colonel; der Förfter 
Wlebeule begegnete mir, er ift mit einer Einladung zum Mittags; 
effen auf den Montag unterwegs; für den Dienstag erbitte ich 
mir die Ehre; am Mittwoch kommt die Reihe an den Paftor; am 
Donnerstag — doch da wollen wir den übrigen Herren nicht 
vorgreifen; jedenfalls laffen wir Sie unter feinen Umftänden ſo 
raſch fort, Oberfl. Wer einen feltenen Vogel wie Sie in den 
Händen hat, der hält ihn, folange e8 möglich, feſt. Geben Sie 
mir noch einen ‚Krifteller‘, lieber Krifteller, und nehmen Sie auch 
einen, liebfter Oberſt; Sie foheinen noch gar feine rechte Ahnung 
davon zu haben, welche guten und angenehmen Dinge die hiefige 
Panetenftelle produziert.“ 








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Dreizehntes Kapitel. 


D“ Förfter, welcher in diefem Augenblick in die Tür rat, 
 vernahm, was befprochen wurde, und redete fofort mit den 
übrigen heftig und dringend auf den alten, tapferen, füdamert; 
fanifchen Krieger ein. Diefer aber wehrte fih ftumm nur durch 
Geften, zu gleicher Zeit das ihm kredenzte Spisglas mit dem 
Kriſtellerſchen Magenbitter gegen das Licht haltend und durch— 
äugelnd. 

Jetzt ſetzte er den Becher an die Lippen — ſchlürfte — hielt 
ein — probierte noch einmal mit tieferer Andacht — goß den Reſt 
mit einer gewiſſen wilden Inbrunſt die Kehle hinunter — reichte 
ſofort das Glas zu neuer Füllung aus der dickbäuchigen grünen 
Flaſche hin und rief: 

„Bei meiner Seele, das iſt ja wirklich endlich — endlich einmal 
ein Getränk!“ 

„Nicht wahr?“ fragten der Förſter und der Doktor ernſthaft, 
während der Apotheker „zum wilden Mann” verſchämt⸗glücklich 
der Schwefter über die Schulter lächelte, 

„Bet den Göttern, das i ft ein Getränk, Philipp! Und du 
bift wahrhaftig davon der Erfinder ? Und du haft das Rezept 
dazu unter Schloß und Riegel? — Und du fißeft hier noch immer 
in diefem verlorenen Winkel und drehft dem Doftor da feine 
Pillen und rührft ihm feine Mirturen zufammen? — Fräulein 
Krifteller, ich erbitte mir fogleich nach Tifch ein Privatgefpräch! 
Meine Herren, dies ändert die Sachlage vielleicht; lieber Forſt— 
meifter, im Laufe des Nachmittags werde ich mir erlauben, 


84 





Ahnen Nachricht zu geben, ob ich Ihre Einladung annehmen 
kann oder nicht.” 

„Bravo!“ riefen der Landphyſikus und der Förfter; der Apo⸗ 
thefer fagte: 

„Du bleibft alfo ohne Bedingung, Lieber; und es war auch 
durchaus nicht notwendig, ung einen folchen Schreden in die 
Glieder zu jagen. Es war nicht freundfchaftlih und brüderlich, 
Auguſtin.“ 

„Ih bitte noch um einen ‚Krifteller‘,“ erwiderte der Oberſt. 
„Philipp, auf dein Wohl! ch verfichere dich, ich habe dich lieb 
gehabt; aber jetzt tritt der Nefpeft zur Liebe; — meine Herren, 
Sie haben diefe dreißig Jahre durch einen großen Mann in Ihrer 
Mitte gehabt, ohne e8 zu wiffen. Philipp, dein Schnaps iff 
wunderbar, was aber meine Abreife betrifft, fo ift unfereiner 
ftet8 mit Gewehr über auf dem Marfche, und man muß eben ein 
Weib nehmen und ein bürgerlich Gefchäft treiben, um das Still; 
figen zu erlernen. Bei den hohen Göttern, diefeg hier ift vielleicht 
noch rentabler als Fray Bentos! Keifteller, wir werden drüben 
den feurigen fiebenten Himmel durch deinen Deftillierfolben auf 
die Erde herunterholen. Fräulein Dorette, wir werden die Sonne 
und den Blitz auf Slafchen ziehen und unfere Preife darnach 
fiellen. Keifteller und Agonifta — Sao Paradifs, — Provinz 
Minas Geraes, Kaiferreich Brafilien! Mit diefem Getränt unter 
dem Arm kommen wir durch bei allen Nationen rund um den 
Erdball. Wir kommen durch, Senhora, und wie gefagt, nach 
Tiſch erbitte ich mir ein behagliches Mauderviertelftündchen im 
Hinterftübchen, Senhora Dorothea,” 

Sie lachten alle, nur das Fräulein nicht. Was das Lachen 
des erfindungsreichen Hausheren anbetraf, fo machte dag einen 
unbedingt ratlofen und hülflofen Eindrud. Ein Menfch aber, 
der ein Leben hinter fich hatte, wie der Oberft Agonifta, durfte in 
der Tat die Erde mit anderen Augen fehen und mit anderen 
Händen greifen als die Hausgenoffenfchaft und die Hausfreunde 


85 


der Apotheke „zum wilden Mann“, und konnte auch, ohne dafür 
zur Nechenfchaft gezogen zu werden, von den anderen ganz naiv 
verlangen, Daß man fich auf feinen Standpunkt ftelle. Der Oberft 
Dom Agoſtin Agonifta konnte wirklich feinen feften unerſchütter⸗ 
lichen Entfchluß darlegen, noch einmal, und zwar nach einem 
Menfchenalter, das Glück und Schiefal feines Freundes Philipp 
Kriftellee auf die andere Seite zu drehen, und zwar ohne auf 
irgendwelche Einwürfe und Gegenvorftellungen zu hören. 

Da fich jeßt die Hausflur mit allerlei Kunden füllte, fo beglei; 
tete der tapfere alte Soldat allein den Förfter und den Doktor auf 
ihrem Wege ins Dorf zurüd, Er ging zwifchen ihnen, jeden 
unterm Arme haltend, und wer den dreien begegnete, ftehen 
blieb und ihnen nachfah, der mußte es sugeben, daß jeder von 
den dreien in feiner Urt „gut” war. Dazır aber hielt fich das 
Gefpräh der Herren am alten Philipp und feinem ‚Krifteller‘; 
und felbft auf dieſem kurzen Wege erhielt der brafilianifche Gen; 
darmens Dberft noch einige recht nüsliche Notizen über die Apo— 
thefe „sum wilden Mann” und kam, heiter pfeifend und die reine, 
frifche Herbftluft wohlig einfchlürfend zurück — gerade recht zum 
Mittagsefien. 

Man fpeifte; man hielt Siefta, — der Oberft die feinige dies; 
mal in feinem Ehrenfeffel im bilderbunten Hinterftübchen. 

Punkt drei Uhr trat er erfrifcht wiederum in die Offigin, um 
noch einen ‚Krifteller‘ zu nehmen. Dann wußte er den Weg in 
die Küche ſchon ganz genau und brauchte feinen Führer auf 
demfelben. 

„Fräulein Dorette,” fagte er, „jet wäre der günftige Augen 
biit vorhanden. Soeben habe ich den guten Philipp auf feine 
Materiallammer geleitet, und wir beide, liebes Fräulein, haben 
hier unten das Reich allein. Kinder, Kinder, ich freue mich finds 
lich, fo familtenfreundlich mit euch zufammen zu fein! Und wir 
bleiben eine Familie — nicht wahr, wir bleiben eine Familie? 
— Es ift zu prächtig! Da draußen der deutfche Herbfthimmel, 


86 





hier innen die deutfche Dfenwärme und — das liebe Brafilien 


wie da8 Land der VBerheißung in der Ferne! Senhora, ich erlaube 
mir, Ihnen meinen Arm anzubieten.“ 

Er führte richtig die alte, ängftlich über die Schulter zurück— 
blidende Dame in ihre eigene Stube, des Haufes Ehrengemach, 
und verblieb mit ihr eine gute halbe Stunde drinnen und zwar 
in deinglichften Verhandlungen; während der Bruder, um feiner 
Erregungen wenigſtens etwas Meifter zu bleiben, in feiner 
Materiallammer fämtliche Kräuterfäde auf und abtürmte und 
famtlihe Schubladen aufzog und zufchob. 

Eine halbe Stunde kann felbft dem phlegmatifchften Men; 
ſchen unter Umftänden fehr lang erfcheinen; das ift eine befannte 
Wahrheit, muß hier jedoch deffenungeachtet wiederholt werden. 
Dem Apotheker „zum wilden Mann“ erſchien der kurze Zeitraum 
fehr lang, Fräulein Dorette hingegen ging er ungemein raſch 
vorüber. 

Schon öffnete der Oberft ihr Höflichft die Tür ihrer Pusftube 
und — ließ fie heraus, Er blieb drin! — Sie hielt fih am Tür; 
pfoften wie von einem Schwindel befallen ; — fie hatte dem braven 
Kriegsmann einen Knix machen wollen, allein e8 war ihe nicht 
möglich gewefen. Während fie aber draußen an der Wand lehnte 
und wie aus plößlich erblindeten Augen um fich zu fehen firebte, 
war der Oberſt drinnen leiſe pfeifend zum Fenfter gegangen und 
hatte es geöffnet und fichTdrein gelegt. 

Da lag er, fehwer auf den Ellenbogen, ftieß einen ſchweren 
Seufzer aus und blickte die Landftraße entlang, zur Rechten und 
zur Linken hin. 

Das Fräulein draußen legte jet beide Hände an die Schläs 


fen und ftieß gleichfalls einen Seufjer aus und flöhnte dazu: 


„Großer Gott, ganz wie ich e8 mir gedacht hatte! o du lieber 
Gott, mein armer, armer Bruder!” 

Von feinem Fenfter aus rief der Oberft einen vorbeilaufenden 
Dorfinaben an: 


87 


„Heda, min Jung, fennft du den Heren Förfter Ulebeule 
und weißt du, wo er wohnt?” 

„Ra?!“ fragte der Bengel an der Hauswand empor, entrüfter 
ob der Naivetät der Frage. 

„Gut, mein Sohn. Ich warte hier mit fünf Grofchen in der 
Hand auf dich, Lauf einmal zum Heren Förfter und beftell einen 
fhönen Gruß von dem fremden Herrn in der Apotheke, und es 
würde dem Heren Apotheker und dem fremden Herrn ein Vers 
gnügen fein, am Montag bei dem Herrn Förfter zu effen.” 

Der Knabe vom Gebirge rannte und fah im Nennen ver; 
fchiedene Male zurüd, ob der weißköpfige Here mit dem braunen 
Gefichte im Fenfter auch wirklich Wort halte und mit dem gebote⸗ 
nen Honorar präfent bleibe. Drunten im Hinterftübchen, im 
Ehrenfeffel des brafilianifchen Oberſten, ſaß Fräulein Dorette 
Krifteller, ftügte die Ellenbogen auf den Tifch und das Geficht 
auf die Hände und Achzte Teife: 

„Mein Bruder, mein armer Bruder!” 


8 








Vierzehntes Kapitel. 


m anderen Tage war Sonntag, ein deutfcher Dorf-Sonntag. 
Die Glocke läutete zur Kirche, und der Paſtor Schönlanf 
hatte feine Predigt fertig und bereit. Mit dem Gefangbuch feines 
Freundes Philipp unter dem Arme und würdig die Schwefter 
des Freundes führend, ging auch der brafilianifche Oberft Dom 
Agoſtin Agonifta in die Kirche, und zwar in Uniform, Er hatte 
feinen Mantelfad und Heinen Neifefoffer vollftändig ausgepadt 
und fein Außeres fefttäglich gefehmüdt. Er trug feine fämtlichen 
Drden und fah nicht nur martialifch, fondern wirklich prächtig 
und vornehm aus und ftörte die Andacht des Dorfes durch feine 
Erfcheinung vollftändig. Er fang auch mit. Der Paftor in der 
Safriftei vernahm ihn über die Orgel, den Kantor und die Ge; 
meinde weg; — ein fo fonorer Baß hatte lange nicht die Wöl— 
bung des Heinen Gotteshaufes erfchüttert. Nach der Kirche hatte 
der fremdländifche Krieger, wiederum Fräulein Dorette Krifteller 
am Arme führend, fogufagen die Parade der ganzen Gemeinde 
abzunehmen. Sie bildete Spalter auf feinem Wege, und gut; 
mütig lächelnd und fort und fort an die Müse faſſend, fehritt der 
Dberft zwifchen der Hede anflaunender Bauerngefichter durch. 
Das Dorf fprach heute nur von ihm; Fräulein Dorothea kam 
aber fehr unwohl aus der Kirche nach Haufe und fühlte fich ge; 
zwungen, fich zu Bette zu legen und den Neft des Tages darin zu 
bleiben. 


89 


Am folgenden Tage ging der Dberft mit feinem Freunde 
Philipp zum Förfter Ulebeule auf einen Wildfehweinfopf. Fräu⸗ 
lein Dorette feßte fich vor die Rechenbücher des Haufes. Die Herren 
in der Förfterei waren fehr heiter bei Tifche; der Oberſt erzählte 
wieder von der Herrlichkeit feiner neuen Heimat und brachte die 
Leute aus dem ftillen Erdenwintel faft außer fih durch feine Bes 
vedfamfeit und die Farbenpracht feiner Schilderungen. Diesmal 
forderte er den Doktor auf, mit Hinüberzugehen und ein Millionär 
und £aiferlicher geheimer Hofmedikus zu werden, und fehon bei 
der vierten Flafche hatte der Landphyſikus es dem Oberſt feft 
verfpeochen und durch Handfchlag fein Wort befiegelt. 

„Mit Ihnen, Tieber Paftor, wiffen wir weniger da drüben 
anzufangen,” rief Dom Ygoftin, „aber wir holen Sie vielleicht 
doch noch nach, wenn wir ung unfere eigenen Hauskapellen er⸗ 
richtet haben.“ 

Da hatte der geiftliche Here gelächelt, aber etwas Fläglich 
gefagt: 

„Wir find doch wohl zu einer folchen Emigration ein wenig zu 
alt, Here Oberſt. Auch würden Sie vorher vor allen Dingen mit 
meiner guten Frau reden müſſen, teurer Herr.“ | 

„Weshalb follte ich das nicht, wenn fonft die Bedingungen 
vorhanden find?” fragte der Brafilianer. 

Sie waren ungemein vergnügt bei dem Förfter Ulebeule, und 
erft bei weit vorgefchrittener Dämmerung famen Philipp und 
Yuguft Arm in Arm und Schulter an Schulter, angeregt und 
höchſt lebhaft heim zur Apotheke, 

„Bon dem ‚Krifteller‘ erbitte ich mir ein Flacon auf den 
Nachttifch, lieber alter Junge,” fprach der Oberſt. „Er entzückt 
mich immer von neuem, auch nach dem Diner. Pereat Fray 
Bentos, — dies hier nenne ich in Wahrheit eine konzentrierte 
Bouillon! Der Teufel hole alles Nindvieh in den Pampas; — 
da wir diefen Feuertrank bier am Orte ſchon fo kochen, wie wird 
er erft da drüben im Fenerlande ausfallen, Fi—Ip—po !“ 


90 





„De—I—tat!” erwiderte Here Philipp Keifteller, wor⸗ 
auf die beiden Freunde einander dreimal recht herzhaft abfüßten. 

Sie faßen übrigens an diefem Abend allein im Hinter- 
ftübchen, der Oberſt und der Apotheker „zum wilden Mann“. 
Fräulein Dorette ließ fih durch das Hausmädchen entfchuldigen 
und herunterfagen: fie habe arges Kopfweh. 

Die beiden Herren ließen fofort hinauffagen: das tue ihnen 
fehr leid und fie wünfchten von Herzen eine baldige Beſſerung; — 
nachher faßen fie noch big gegen Mitternacht in der Bildergalerie 
zuſammen und redeten, eingehüllt in Tabafsdampf, von ihrer 
Jugendzeit. 

Als die Uhr Zwölf ſchlug, ſtand der Oberſt auf und ſagte 
herzlich: 

„Du weißt doch nicht ganz, wie gut es mir hier zumute iſt, 
Philipp. Wir wollen uns aber auch von nun an nicht wieder 
voneinander trennen, Alter! Wir wollen von jetzt an ein 
Schickſal und ein Glück haben, nicht wahr? Nicht wahr, nicht wahr, 
es bleibt dabei, Philipp?“ 

„Es bleibt dabei,“ ſtammelte Herr Philipp Kriſteller, und 
dann ging der Oberſt zu Bett. Er kannte jetzt den Weg zu ſeinem 
Schlafgemache bereits und brauchte kein Geleit mehr. Das 
„Flacon“ mit dem ‚Kreifteller‘ nahm er unter dem Arme mit 
wie am Sonntag das Gefangbuch feines Freundes. Aber vorher 
hatte er noch den Freund in den Ehrenfeflel niedergedrüdt; und 
in dem Ehrenfeffel faß Herr Philipp noch eine Weile in der 
ftillen Nacht und fuchte zu überlegen, ehe auch er zur Ruhe ging. 

Die Nacht war ftill, das Haus war fill. Eben fchlug e8 ein 
Uhr, als oben eine Tür knarrte und ein langfamer leifer Schritt 
die Treppe herabkam. Aus dem Überlegenwollen des Hausherrn 
im Ehrenftuhl des Oberften war ein ziemlich fefter Schlummer 
geworden. Aus diefem Schlummer wiederum auffahrend, 
horchte Here Philipp: da war der gefpenftifche Schritt an der 
Pforte des Hinterftübcheng: 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 7a 91 


„Wer tft da?” rief der Apotheker auftaumelnd und mit 
beiden Händen fchwerfällig fich auf die Lehnen des Armſeſſels 
ſtützend. 

„Ich bin es, Bruder,“ ſagte Fräulein Dorette Kriſteller, 
im langen weißen Nachtrock wie eine moraliſche Lady Macbeth 
hereinſchwankend. „Ich bin es, Philipp; ich habe keine Ruhe 
mehr im Bette, keine Ruhe im ganzen Hauſe. Ich glaubte, hier 
noch einen warmen Ofen zu finden; aber nun iſt es mir lieb, daß 
auch du noch wach biſt, lieber Bruder; — o Bruder, Bruder 
Philipp, es iſt wirklich und wahrhaftig ſein Ernſt!“ 

„Sein Ernſt? Weſſen Ernſt?“ 

„Sein bitterer Ernſt! O, ich habe es mir gleich ſo gedacht, 
als er dich zuerſt ſo gemütlich auf die Schulter klopfte und ihr 
alle über ſeine wilden Pläne lachtet. Er meint es ja vielleicht auch 
gut mit uns; aber elend macht er uns doch. Philipp, er braucht 
Geld! er braucht fein Geld, und er iſt gekommen, es zu holen!“ 

Der Apotheker „zum wilden Mann” fah das froftlofe alte 
Jüngferchen plöglich mit den glänzendften, verftändnisinnigften 
Yugen an. 

„Se braucht fein Geld, und er ift gefommen, es zu holen? 
Aber Dorette, das wäre ja wundervoll!” 

„Wundervoll?! —“ 

Herr Philipp Kriſteller knöpfte mit zitternder Hand, der 
kühlen Nacht zum Trotze, vor innerſter Aufregung die Weſte auf: 

„Dorette, wenn du recht hätteſt! — herrlich, herrlich wäre es! 
Aber — wenn das ſo wäre, ſo würde er es mir doch wohl zuerſt 
geſagt haben?!“ 

„Hat er das denn nicht? und zwar auf jede nur mögliche 
Weiſe — fein und grob!“ 

Der Apotheker antwortete nichts hierauf. Er ging raſch in 
dem engen Raume ſeiner Bildergalerie auf und ab und rieb ſich 
nach ſeiner Art die Hände und murmelte vor ſich hin: 

„Der Gute — der Wackere — mein Gott, welch eine glück— 


92 








felige Nacht! — Und ich habe ihn ganz und gar nicht verftanden ! 
O dieſe Weiber, diefe Hugen Weiber! Dorefte, wenn du recht 
hätteft!” 

„Sch habe recht!” ächzte jet das alte Fräulein faft böfe. „So 
feße dich doch und nimm Vernunft an. Was foll denn aus ung 
werden, Bruder? Dir bift Diefe dreißig Jahre lang deinen Lieb; 
habereien und dem Gefchäfte nachgegangen; aber ich habe die 
Bücher geführt und weiß, wie wir ftehen. D, e8 reicht noch; aber 
e8 reicht auch nur gerade hin, — und, Philipp, ich bin feft über; 
zeugt, er holt nicht nur das Kapital, fondern er kann auch die 
Zinfen gebrauchen, die Zinfen feit dreißig Jahren!” 

„Das vergebe ich ihm fo leicht nicht, daß er nicht fofort feinen 
Wunſch mir Har und deutlich ausgefprochen hat,“ murmelte Herr 
Philipp, der durchaus nicht imftande war, fich zu fegen, fondern 
der fort und fort auf und ab lief und das Wort der. Schweiter 
ganz und gar überhörte. „D Auguſt, Auguſt, alfo endlich ift 
auch für mich die Stunde da, dir auf deinem Wege zum Glüde 
behülflich fein zu können!“ 

Bon der ganzen Fülle diefer Vorftellung überwältigt, ftand 
er jetzt fill, und was er feit nicht zu berechnender Zeit nicht getan 
hatte, das tat er jeßt: er gab der Schwefter einen Kuß — einen 
langen, herzlichen Kuß, und dann — nahm er fein Licht und ging 
feinerfeits in feine Kammer. Er hatte das Bedürfnis, allein zu 
fein und fich in der Stille und Dunkelheit der Nacht den frohen 
nahen Morgen und feine erfte Begrüßung mit dem Freunde, dem 
Dberfien Dom Ygoftin Agoniſta, auszumalen. 

Fräulein Dorette ftand im Scheine ihres Nachtlichtes mit 
fchlaff niederhängenden Armen und vor dem Leibe gefalteten 
Händen, blickte hinter ihm her und ſtöhnte: 

„Alſo da find wir denn! — 9 diefe Mannsleute! Was foll 
aus ung werden? lieber Herrgott, was foll aus-ung werden? — 
Zu den Pottekudern, feinen neuen Landsleufen, gehe ich für mein 
Teil nicht mit! Er wäre freilich imftande, ung in aller Güte und 


7* 


93 


Zureden mit Haus und Hof mit fich zu fchleppen und ung mitten 
in der Urwildnis hinzufegen und eine Schnapsfabrif auf meines 
armen Bruders Namen und Likör zu gründen. Aber er foll mir 
fommen, der Kehlabfchneider, der Scharfrichter, der Menſchen⸗ 
fchinder, der Henkersknecht. Für alle Freibilletts in der Welt geh’ 
ich mit ihm-nicht nach feinem Amerika; am Spieße brät er ung 
doch, wenn er ung drüben hat, und wenn er auch noch fo ſchlau 
hier am Drte den Gemütlichen, den Vergnügten und den biederen 
treuherzigen Krieger fpielt.” 

Der Dberft Dom Agoftin Agonifta wurde durch das, was im 
unteren Teile des Haufes „sum wilden Manne” vorging, wicht 
in feinem Schlummer geftört. Er fchlief abermals weit in den 
hellen Sonnenfchein des Dienstags hinein, und die Flafche mit 
dem ‚Krifteller‘ fand auf feinem Nachttifche, und auch das 
Spitzglas, das dazu gehörte, hatte der alte Soldat handgerecht 
zugerüdt. Aber auf dem Stuhle am Bette faß um halb neun 
Uhr, feit einer Viertelſtunde zärtlich Taufchend, Herr Philipp 
Krifteller, da8 Erwachen des Gaftes, Freundes und Wohltäters 
erwartend. 

„Sobald der Gute erwacht, wollen wir überlegen, in welcher 
Weiſe e8 am angenehmften und vorteilhafteften für ihn ein; 
zurichten ift,” hatte der Apotheker, auf den Zehen in die Kammer 
fchleichend, geflüftert; und er hatte eine gute Stunde zu warten, 
ehe der Brafilier die Augen öffnete, fich entfeßlich redite, gewaltig 
gähnte und dann, fich überrafcht aufrichtend, rief: 

„Diablo! bift du denn dag, Filippo? Ei, fchönften guten Mor; 
gen! aber diefes ift einmal freundlich von die!” 

„Guten Morgen, Auguſt. Du erlaubft mir wohl, daß ich dich 
diesmal wieder Auguft nennen darf; denn ich fiße hier und warte 
auf dein Erwachen, um dich recht tüchtig abzukanzeln.“ 

„Abzukanzeln? weshalb? miefo? warum? wofür?” 

„Weil du meiner guten Schwefter mehr Zutrauen bewiefen 
haft ale mir, Auguſt.“ 


94 








„a — — — ſo!“ fprach der brafilianifhe Gendarmerie, 


Oberſt ungemein gedehnt und legte fich wieder hin — nämlich mit 


dem Hinterkopfe in feine Kopfkiffen. Nach einer Pauſe erft fügte 
er etwas gedrückt hinzu: 

„And nicht wahr, du gibft mir recht? Dein Entfchluß ift ger 
faßt; — wir gehen zufammen über das Weltmeer, um goldene 
Berge für uns und unfere Nachkommen aufzufchütten?!“ 

Herr Philipp fchüttelte melancholifch den Kopf. 

„Meine Schwefter Dorothea und ich Doch wohl nicht, aber — 
mit dir iſt e8 freilich etwas anderes. Nein, mein teurer Auguft, du 
wirft wieder allein gehen müſſen.“ 

„Aber das macht mir wirklich einen Strich durch alle meine 
Berechnungen,” brummte der Kriegsmann verdrießlich. 

„Du nimmft unfere beften Wünfche mit hinüber; wir werden 
in Gedanken ftetS bei dir fein.“ 

„Dante!“ fagte der Oberſt womöglich noch verftimmter. 

„Ich habe den Tifch vor deinem Stuhle bereits zurecht ge; 
rüdt, mein guter Auguſt. Meine Hausbücher liegen zu deiner 
Einficht bereit; du wirft mit meiner Schwefter zufrieden fein, 
denn fie hat die Bilanz gezogen. Ich hoffe, du wirft finden, daß 
wir — meine Schwefter und ih — unfer — mein — dein Ver; 
mögen nach beftem Wiffen verwaltet haben.“ 

„sh komme im Augenblid hinunter, lieber Alter!“ rief der 
Dberft, allen Mißmut fofort abfehüttelnd und mit hellem Lächeln 
das rechte Bein bligartig unter dem Dedbette vorfchnellend und 
mit dem Fuße nach des Apothekers RefervesEhren;Pantoffeln 
auf dem Boden angelnd. „Im Moment — in zehn Minuten bin 
ich deunten bei dir. Philipp, du bift ein Prachtmenfh! und du 
wirft fehen, daß ich die Welt kenne und auch für dich das Nutz⸗ 
beingendfte zu ergreifen verſtehe.“ 

„Wie warten mit dem Kaffee auf dich, lieber Auguft!“ 

„Mein fchönftes Kompliment im voraus an deine Schwefter! 
Im Augenblick bin ich bei euch. Nicht wahr, Philipp, dein Rezept 


95 


für den ‚Keifteller‘ gibft du mir mit hinüber, — nicht wahr, 
Alter?“ \ 

Der Erfinder des ‚Krifteller‘ verſprach's, und nach einer 
Biertelftunde faß der Oberſt Dom Agoftin Agoniſta richtig bei 
dem Gefchmwifterpaar im Hinterftübchen und zwar, ohne alles 
vorherige Sträuben, im Ehrenfeflel und vor den Haus; und 
Rechnungsbüchern der Apotheke „sum wilden Mann”; — Fräu⸗ 
lein Dorette Krifteller hatte ihn dazu von Zeit zu Zeit zu fragen, ob 
ihm noch eine Taffe Kaffee gefällig fei. 


96 





Fünfzehntes Kapitel. 


inen Mann wie den Oberſt ftelle man einmal unter den 
Scheffel, wenn er in einer Gegend gleich der von ung ge; 
fchilderten anfommt, d. h. aus den Wolken fällt. Auf Meilen 
in der Runde gingen bald die fabelhafteften Gerüchte über ihn um. 
Ein wieder wie vor dreißig Jahren mit ein wenig Bangen gemifchter 
Reſpekt begleitete ihn im jeglihem Blide, der ihm nachgefendet 
wurde, Hang in jedem höflichen Wort, das man an ihn richtete; 
nur tat er niemandem mehr leid dazu. Der bald fo bekannte 
Fremdling entfprach in jeder Beziehung den Vorftellungen, die 
fih die Landfchaft von einem „Wundertier” machte, und. die 
Sovialität in feinem Wefen und Auftreten nahm der vertraulichen 
Scheu, die er den Leuten einflößte, nichts von ihrer Wirkſamkeit. 
Er aber fühlte fich wohl unter dem Volke der Gegend, genoß die 
Gemütsbewegungen, die er unter ihm heroorbrachte und — aß 
fih harmlos herum. 

Nämlich e8 hatte fich herausgeftellt, daß für die erften Wochen 
an ein Verlaffen der Gegend, an eine Abreife aus der Apotheke 
„zum wilden Mann“ noch nicht zu denken fei. 

Der Oberſt blieb, und fie Inden ihn alle zu Tiſch. Nach den 
Honoratioren des Dorfes famen die Gutsbefiser und reichen 
Domänenpächter der Umgegend an die Neihe: der Oberſt Dom 
Agoſtin Agonifta fühlte fich immer behaglicher in feinem bes 
haglichen Duartier in der Apothefe „zum wilden Mann“, 

Wenn er aber viel abwefend von der Apotheke war, fo blieb 
der alte Philipp Krifteller defto fedater in feinen vier Pfählen, 


97 


ſchrieb viel, befam viele Briefe von Bankiers und fonfligen Hanz 
delsleuten und trieb felber allerlei Handel, Er fing an, in Länz 
dereien zu fpefulieren und zwar in feinen eigenen. 

Und während der Oberſt nicht das Geringfte von feiner ſtatt⸗ 
lichen Rundung einbüßte, wurde Fräulein Dorette Krifteller, die 
doch wenig einzubüßen hatte, von Tag zu Tage magerer, und 
auch der Apotheker fiel ab, foniel das noch möglich war. Das 
Gefchwifterpaar wurde immer gelber und gelber; was den Dom 
Agoftin anbetraf, fo fingen die Leute an, ihm zu fagen: 

„Herr Dberft, die Luft Hier fcheint Ihnen gottlob recht gut zu 
befommen.” 

Sie befam ihm wirklich, die Luft der Gegend, und das Ger 
rücht von dem, was er vor einunddreißig Jahren an dem Befiger 
der Apotheke „zum wilden Mann“ getan hatte, fehwebte auch in 
der Luft über ihm und um fein weißes, munteres Haupt und 
verkflärte ihn rofig. Die Frauen nannten ihn einen prächtigen 
alten Heren, und die Männer nannten ihn einen Prachtferl und 
fügten hinzu: „Unter Umftänden fänden wir auch mit Verz 
gnügen einen ähnlichen Burfchen im Bufch und Walde und fuchten 
feine intimfte Bekanntfchaft zu machen. Selbſt auf die Botanik 
könnte man in einem folchen Falle fich mit Pläſier legen.“ 

Auch der Oberft befam im Verlaufe der nächften Woche Briefe. 
Es langte ein Paket von Rio Janeiro an, eine Menge Dokumente 
enthaltend. Diefes Paket fendete Senhor Joaquimo Pamparente, 
fein Rechtsbeiftand, und Dom Agonifta fand fich bewogen, den 
Anhalt eingehend mit feinem Freunde Philipp Krifteller zu ber 
fprechen. Er, der Oberft, fchrieb an Senhora Julia Fuentalacunas 
einen zärtlichen Brief, der aber doch zugleich auch ein Gefchäftsbrief 
war; — leider reichte die Zeit zu einer Antwort der Dame nun 
nicht mehr. 

„Tut nichts,“ fprach der zärtliche Krieger, „es wird fich jeßt 
alles aufs befte und angenehmfte arrangieren, wenn ich erft felbft 
wieder drüben bin,” 


98 








Am meiften verkehrte Dom Agoſtin in diefen ernften Ge; 
fhäftstagen mit dem heitern Doftor und Landphnfitus Hauff. 
Beide vergnügte Gefellen hatten Brüderfchaft miteinander ge; 
trunken, und der Oberſt Agonifta fuhr dann und wann des 
Spaßes wegen mit auf die Landpraxis. Jegliches Wetter war 
dabei dem tapferen alten Soldaten recht, und der Doktor, der 
doch auch das Seinige vertragen konnte, hatte auch hier feinen 
Begleiter als ein Mirakel zu beftaunen. 

„Dei den Göttern beider Halbfugeln, du wenigftens gehft 
mit mir hinüber,“ rief der Oberft, gegen Ende Novembers auf 
einer diefer Fahrten den erften Schnee des Jahres vom Fenfter 
eines Dorfwirtshauſes weit im offenen Lande beobachtend. „Sch 
babe dir bereits hHundertmal das brillantefte Lebensglüd garanz 
tiert und ich verbürge mich auch jeßt wieder dafür. Sieh dir diefes 
Wetter an; — ift das ein Klima für verftändige, anftändige und zu 
allem übrigen mit Vernunft und Weib und Kind begabte Men; 
fchen? ft das eine Gegend, um fiebzig Jahre drin alt zu werden?“ 

„Meine Frau — meine Jungen,” murmelte der Doktor. 

„Werden fich fehr wohl dort afklimatifieren; ich rede dir ja 
eben gerade vom Klima! Ein Jahr läßt du fie hier zurüd, um 
dich drüben behaglich einzurichten. Im nächften Herbft führe ich 
meine Frau nach Paris in die Honigwochen, und du begleiteft 
mich, das heißt dur fehlägft deinen Winkel hierher und Holft dein 
Hausweſen nad. He — was fagft du? Zum Teufel, fieh auf 
den Kirchhof dort im Negen und Schneegeftöber und fage 
mir, ob e8 ein Vergnügen und eine Ehre fein wird, dort einft eine 
Sandfteinplatte zu haben mit der Infchrift: ‚Hier liegt der Doktor 
Eiſenbart?!“ 

„zum Henker, Bruder,“ ächzte der Landphyſikus, „weißt du, 
was ich wollte?“ 

„Ran?“ 

„Ich wollte, du wäreft geblieben, wo du dich fo wohl fühlteft. 
Mein gefunder nächtlicher Schlaf ift Hin, feit du im Lande biſt, 


99 


und wie mir, fo geht e8 der Mehrzahl meiner Bekannten. Du 
haft, fogufagen, der ganzen Gegend die Phantafie verborben. 
Sch kenne auf drei Meilen in der Runde niemanden, der noch 
ruhig auf feinem Stuhle figen kann. Da ift nicht einer, der nicht 
bin und her rüdt und überlegt und berechnet, was alles er big 
dato im Leben verſäumt habe.” 

„Das mag für die übrigen gelten, aber in deinem Alter hat 
man noch nicht das geringfte verfäumt, — da brauchſt du nur 
mich anzufehen. Übrigens erlaube mir doch ein Wort: i ch über; 
rede niemanden! Diablo, wie Fame ich dazu, mit diefem meinem 
weißen Haar noch einmal von neuem anzufangen, die Dummz 
heiten meiner Jugend zu wiederholen, um mir eine frifche Laft 
Gewiffensbiffe aufzuladen? In drei Wochen reife ich jeßt beftimmt; 
— beftimmt, das fage ih dir! Bis dahin Hab’ ich mein altes 
Vaterland und fein Verhältnis zu mir wieder in Drdnung ge; 
bracht und mache mich auf den Weg und aufs große Wafler, 
auch für die alten Freunde in der Apotheke die Fortuna, die 
fpanifche Silberflotte mit zu entern. D, die follen bequem hier 
figen bleiben unter ihrem Zeichen zum „wilden Mann“, — ic 
werde für fie handeln, und die nächfte Poft, die ihr von mir erhal; 
ten werdet, wird das Weitere melden.” 

„Sr reift in drei Wochen I” feufste der Doktor, haftig fein Glas 
hinuntergießend. 


100 





Sechzehntes Kapitel. 


t hatte, wie man zu fagen pflegt, immer auf dem Sprunge 

geftanden, der Faiferlich Brafilianifche Oberft Dom Agoftin 
Ygonifta, aber diesmal reifte er wirklich, und zwar auf die Stunde 
zum angegebenen Zeitpunft, nämlich am Mittage des 23. Des 
zembers. Man hatte ihn natürlich dringend von allen Seiten 
aufgefordert, wenigftiens das MWeihnachtsfeft über noch zu 
bleiben, doch alles Bitten und Zureden war vergeblich ge; 
blieben. 

„Quält mich nicht länger,” hatte er gefagt, „ich kenne meine 
Natur und weiß, was ihr gutift. Diefe liebe Feier im gemütvollen 
Baterlande, diefes holde Feft im finnigen, gefühlvollen Deutfch; 
land würde mich zu weich flimmen, und es ift unbedingt not; 
wendig, daß ich mich, einige Zeit noch, ein wenig härtlich halte. 
Sch bin das nicht nur mir, fondern auch meinen guten braven 
Freunden in der Apotheke fchuldig. Meine Verpflichtungen 
erfordern e8, was mein Herz auch dagegen zu fagen haben mag.“ 

Damit verfhwand er, verfhwand fpurlog, als jedermann 
bereit ftand, ihm noch einmal die Hand zu drüden und fich ihm 
zu empfehlen. Der Abfchied war fo eigentümlich wie alles andere, 
was die Ankunft und den Aufenthalt des Mannes am Drte 
begleitet hatte. Sie famen alle zu fpät dazu: Here Philipp aus 
feinem Laboratorium, Fräulein Dorette aus der Küche, der Dof; 
tor Hanff von feinem nächftliegenden Patienten. 

Der Oberſt hatte den Wagen an die Hintertür beftellt, war 


IoI 


einfach eingeftiegen und abgefahren; fein Gepäd hatte er voraus; 
gefchict, und die Gegend — fah ihm nad). 

Die aus der Apotheke fagten nichts, fondern feufsten, der 
Doktor fchlug fich vor die Stirn und rief ein wenig ärgerlich und 
enttäufcht: 

„Ich hätte ihm Hoch gern noch ein Wort über meine Projekte 
gefagt! Man bringt einem doch nicht fo um nichts und gar nichts 
die Gedanken in Unordnung und das Blut in Wallung; — Don; 
nermwetter, dieſes Brafilien !“ 

Die übrigen Freunde und Bekannten famen nah und nad 
verwundert und erftaunt an das Fenfter der Offizin. 

„Sr wollte vielleicht alles unnötige Auffehen vermeiden,“ 
fagte Fräulein Dorette Krifteller kurz und tonlos. Ihr Bruder 
war felbft für den Paftor und für den Förfter nicht zu fprechen. 
Der Apotheker „zum wilden Mann“ fühlte fih duch die Trennung 
von feinem Jugendfreunde fehr angegriffen und wünfchte einige 
Tage ganz fich felber überlaffen zur bleiben. Die guten Bekannten 
begriffen das wohl und ließen das Gefchwifterpaar in der Tat 
über. das Feft allein. 

UÜber das Feft allein! — — — — — — — — — — — 

Da ſitzen wir wieder unter den Bildern des Hinterſtübchens 
der Apotheke „zum wilden Mann”, und es iſt der Abend des 
vierundzwanzigſten Dezembers. Ein frübes Talglicht in einem 
fchlechten Meffingleuchter, den Fräulein Dorette mit fih ing 
Zimmer brachte, brennt auf dem Tifche. Der alte Herr faß im 
Duntel, bis die alte Schwefter diefes Licht brachte; — im trüben 
Scheine desſelben fitst er in dem Ehrenfeffel, und die alte Schwefter 
bat fich ihm gegenüber niedergelaffen. Sie fehen beide abge— 
mattetzforgenvoll aus; fie feiern beide eine betrübte Weihnacht. 

Nach einem langen Schweigen fagte Fräulein Dorette: 

„Plagmann aus Borgfelde will die Kühe gleich nach dem 
Befte abholen,“ 

Sie fagte das mit einem tiefen Seufjer; denn Bleß und 


102 








Muhtz waren ihre Herzensfreude und ihr Stolz, und fie mußte 
fih von beiden rennen. | 

Ihr Bruder nidte bloß und fprach nach einer Paufe feiner, 
ſeits: 

„Sch meine, fo ungefähr am fünfzehnten Januar würde die 
befte Zeit für die Auktion fein.“ 

Und die Schwefter nidte auch und ftöhnte: 

„Sa, ja, mir iſt's recht! mir ift alles recht! o Gott!“ | 

Nun verfuchte der alte Herr, um doch etwas für das Feft zu 
tun, wieder einmal heiter und ruhig auszufehen und rief: 

„Courage, Alte! Wer wird fo den Kopf hängen laffen? Du 
ſollſt jest einmal zu deinem Erſtaunen gewahr werden, mit 
wienielerlei unnüsem Gerümpel wir ung allgemach auf unferm 
Lebenswege bepadefelt hatten. Daß wir die Landwirtihaft — 
die Sorge und den Verdruß um Wiefe und Feld los werden, ift 
im Grunde auch nicht fo übel und jedenfalls nicht das Schlimmfte, 
Dffen geftanden, meine. Knochen Teifteten zuletst doch nicht mehr 
dag, was fie früher mit Luft taten.“ 

Der Troft war wohlgemeint, aber er half wenig. Plöglich 
brach die Schwefter in ein helles, krampfhaftes Schluchzen aus: 

„O geundgütiger Heiland, e8 wäre mir ja alles, alles recht, 
es fommt nur fo fehr fpät! Bruder, e8 kommt zu fpät, dieſes 
Elend! — Wäre diefer — Mann um zwanzig Jahre früher 
gekommen, fo würde ich ja mit Freuden mit deinem Kopffiffen 
meine Bettdede hingegeben haben; aber wahrhaftig, jett ift es 
für ung zu fpät im Leben geworden! Die Hypothek, die auf dem 
Haufe liegt, liegt auch auf mir wie ein Berg! Und dazu feinen — 
feinen Menfchen, dem man feinen Kummer Hagen kann, klagen 
darf — ja Hagen darf!“ | 

„Mein,“ rief Here Philipp SKrifteller, allen Nachdruck feiner 
Seele in das Wort werfend, „nein, was wir hier fragen, das 
fragen wir für ung allein! Fremde Nafen dürfen wir gewiß nicht 
in unfer jegiges Dafein hineinriechen laffen, Dorothea! Es wäre 


103 


nicht zu rechtfertigen gegen den Freund — meinen Freund — 
meinen Freund vom Blutſtuhle! Ach, falle nur Mut, liebe 
Dorette, und mache mir vor allen Dingen feine folche vergweifz 
lungsvollen Mienen, du follft fehen, wir behalten den Kopf doch 
noch oben und führen auch unter den jegigen Verhältniffen ein 
gutes und flilles Leben weiter, Was würde meine Johanne fagen, 
wenn fie bis heute mein Los mit mir geteilt hätte? Sieh, die 
Leute können wir denken und reden laſſen, was fie wollen.” 

„Und ich fehe fie fchon vor mir, wie fie die Köpfe zufammen; 
fteden; der Paftor und der Ulebeule, die Herren vom Geftüt, der 
Amtsrichter und der Doktor. Sie werden fih ſchöne Hiſtorien 
sufammenphantafieren und ung in einem bunten Lichte an die 
Wand hinmalen!“ 

„Laß fie! möge e8 nur dem alten tollen Freunde mit feinem 
jungen Glüd gut gehen! Ich fage dir, liebe Schwefter, ſchon die 
Gewißheit, daß niemand es fo herzlich mit ung meint als er, 
wäre mir ein Teoft, wenn es mir vielleicht auch noch fo kläglich 
zumute wäre. Seht glaubt er, mit vollen Segeln feinem und 
unferem Glüde entgegenzufchwimmen; fieh, Alte, und fein Geld 
hat doch wenisftens zum zweitenmal einem Menfchen für eine 
Stunde Behagen gegeben, was man wahrhaftig nicht von jedem 
Gelde fagen kann, und wenn es auch wie hier zwölftanfend Taler 
wären.” 

Die Schwefter erwiderte nichts hierauf, fondern zuckte nur die 
Achſeln, welches ihr dann wieder Gewiffensbiffe machte. Sie 
ftand auf, ging zum Fenfter und fah in den nächtlich winterlichen, 
gleichfalls fchwer mit Hnpothefen belafteten Garten hinaus und 
wendete fich nach drei Minuten erft ins Zimmer zurück: 

„Es fchneit tüchtig, Bruder. Weißt du wohl noch, Philipp, 
welch ein Vergnügen und welche geheime Behaglichkeit wir gerade 
an diefem Tage am Schnee hatten?“ 

„Ei gewiß,” rief der Bruder, „wie wären wir fonft wohl dies 
Menfchenalter durch fo gut miteinander ausgefommen? Dorette, 


104 











heute find wir doch die richtigen Narren gewefen, daß wir ung 
zum erftenmal nicht einen Tannenbaum mit Lichtern beftedt haben. 
Allem zum Troß hätten wir das tun follen! Nun dasnächfte Mal! 
— im nädften Jahre —“ 

„Wenn dein Freund vom Blutftuhle das Schiff mit den 
Fäffern voll Gold und Edelfteinen gefchict hat, als Abzahlung — 
wenigftens für das Rezept zum ‚Krifteller‘ ! O, und dafür dreißig 
Jahre lang.da feinen Lehnſtuhl frei gehalten zu haben!“ 

Das war echt weiblich und alfo nichts dagegen zu machen: 
der alte Herr Philipp hielt fih am fein eigen männlich und freu 
Gemüt, ließ fih das Wort nicht vor dem Munde abfchneiden, 
fondern fchloß feinen Satz: 

„Wollen wir das diesmal Verfäumte defto herzlicher und 
herzhafter nachholen.” Der weiblichen Einfchaltung wegen 
fügte ee jedoch im ftillen noch hinzu: „Wie e8 auch fommen 
mag.” 

Was die Freunde der Umgegend anbetraf, fo verwunderten 
fie fich in der Tat fehr, als im Laufe des Winters und Frühjahrs 
in der Apotheke „zum wilden Mann“ fich vieles fehr veränderte; 
— als die Möbeln aus den Gemächern abhanden kamen, das 
Vieh aus den Ställen verfhwand, als der Blumengarten fich 
in einen Gemüfeplaß verwandelte, dag zierliche Dienftmädchen 
eine andere gute Herrfchaft fuchte, dem Knechte gekündigt wurde 
und e8 im Kreisblatte zu lefen ftand, daß der Apotheker Herr 
Philipp Krifteller fo und fo viel Morgen Wiefen und Aderfeld an 
die und die Bauern der Gemeinde und Feldmark verkauft habe. 
Als aber die Auktion in der Apotheke felbft wirklich abgehalten 
wurde, boten fie fopfichüttelnd mit; und auf diefer Auktion erftand 
der Förfter des Apotheters Bildergalerie, der Doktor die hinefifche 
Punſchſchale und der Paftor den Ehrenſeſſel des Oberften in 
brafilianifhen Dienften Dom Agoſtin Agoniſta. 

Ein kahleres Haus gab e8 nachher nicht im Orte. Nur der 
Inhalt der Büchfen und Gläfer in der Offisin blieb verfchont; 


105 


die Freunde und Bekannten aber überlegten und mutmaßten nach 
allen Richtungen hin und famen zuletzt ſämtlich auf die nicht ganz 
unwahrfcheinlihe Vermutung, daß ihre Freund, Herr Philipp 
Keifteller, in fchlechten Papieren ganz heimlich fpefuliert und fich 
verfpefuliert habe. 

Natürlich rieten fie ihm dringend, fich doch umgehend an 
feinen Freund, den brafilianifchen Oberften, zu wenden, und be; 
griffen nicht, aus welchem Grunde er das fo ſehr hartnädig ab; 
lehnte, 


106 








Hoörter und Corvey. 
Erftes Kapitel. 


ie haben unferen Lefern immer gern die Tageszeit geboten, 
aber fo ſchwer wie diesmal ift ung das noch nie gemacht 
worden. In der Stadt Hörter waren die Turmuhren fämtlicher 
Kirchen in Ungrönung. St. Peter und St. Kilian zeigten falich, 
St. Nikolaus fchlug falfch und bei den Brüdern fand das Werf 
ganz fill; nur auf Stift Corvey, eine Viertelftunde abwärts am 
Fluß, befand e8 fich noch in gegiemlicher Ordnung und hatte fich 
auch eine Hand gefunden, die e8 darin erhielt und e8 zur rechten 
Zeit aufzog. Es fohlug vier Uhr am Nachmittage auf dem Turme 
der Abtei. 

Sp viel für die Tageszeit. Was die Zeit fonft anbetraf, fo 
ſchrieb man den 1. Degember im Jahre 1673: am 23. November 
1873 beginnen wir unfere Erzählung; e8 find alfo gerade unge; 
fähr zweihundert Sabre feit jenem Winterfage vergangen. 
Maurer, Zimmerleute, Tifchler, Schloffer, Glafer und, vor allen 
Dingen, Uhrmacher find am Werke gewefen, haben die Mauern 
wieder aufgebaut, die Pfoften zurecht gerüdt, die Türen einge; 
hängt, neue Fenfter vorgefchoben und dafür geforgt, daß auch die 
Zurmuhren wieder die richtige Zeit anzeigen. E8 hatte viele Arbeit 
und große Geduld gekoſtet; — wehe dem, welcher von neuem 
frevelhaft die Hand bietet, die Wände abermals einzuftoßen, die 
Dächer abermals abzudeden und die Türen und Fenfterfcheiben 
von neuem zu zertrümmern. Der Gegenwart fei bemerkt, daß 


W. Raabe, Sämtliche Werte. Serie II. 8d 107 


das Wiederaufbauen, das Auf; und Einrichten zu allem übrigen 
ſtets auch viel Geld koſtet. 

Es war ein winterlicher, feuchtkalter Tag. Schweres Regen⸗ 
und Schneegewölk wälzte fich über den Golling. Die geſchwollene, 
ftet8 haſtige und übereilige Wefer rollte ihre erbfengelben Fluten 
in anfcheinend völlig breiartigen Wirbeln aus den Bergen zwi⸗ 
fchen Fürftenberg und Godelheim und Meigadefien her, quirlte 
duch das Fahle Weidengebüfch und das welfe Röhricht der Ufer 
und ärgerte fich heftig über jeden Widerftand, der ihr auf ihrem 
Wege aufftieß. 

Solch einen Widerftand fand fie unter den Mauern der Stadt 
Hörter; denn da fraf fie nicht nur auf die Eisbrecher, fondern auch 
auf die Pfeilertrümmer des uralten VBölferübergangs: die Brüde 
felber fand fie wieder einmal, wie fo häufig, nicht. Grimmig 
ſchäumte und kochte fie empor an den bis auf den Wafferfpiegel 
abgebrochenen Pfeilern und Stüßen; aber e8 war auch etwas 
wie ein Triumphjubel in ihrem Naufchen: 

„Hoho, Menfchenwerk! Menfchennarretei! Hohn, drüber weg 
und weiter, dem Weltmeer zu, und mitgenommen, was zu 
greifen ift! Das alte Spiel durch die Sahrtaufende — Triumph!” 

Die gelben Wellen der Wefer mochten wohl höhniſch braufen. 
Sie hatten die Brüden des Drufus und des Tiberiug, des Königs 
Chlotar und des großen Karl auf ihrem Naden gefragen an diefer 
Stelle; — jedes Jahrhundert faft hatte ein Halb Dutzend Male 
für Krieg und Frieden hier eine neue Brüde gebaut; — Triumph! 
wo trieben heute die Balken und Bohlen der legten, die vor drei 
Jahren neu gefchlagen wurde, und die vorgeftern Monfleur de 
Fougeraig, der franzöfifche Kommandant von Hörter, vor dem 
Abmarfche, feinem Feldmarfchall — de Turenne nach, 
hatte umſtürzen laſſen? 

Vorgeſtern war Monſieur de Fougerais dem Marſchall nach 
gen Weſel zu abmarſchiert. Ihre Hochfürſtlichen Gnaden Chri—⸗ 
ſtoph Bernhard von Galen, Biſchof zu Münſter, Adminiſtrator 


108 





zu Corvey, Burggraf zu Stromberg und Herr zu Borbelohe, 
hatten Kaiſer und Reich, fowie der Republik Holland ihren franzö⸗ 
fifchen Trumpf ausgefpielt: der Franzmann hatte e8 fich bequem 
gemacht, wie der Deutfche e8 gewollt hatte; und, wie gefagt, die 
Uhrwerke auf den Türmen vom Rhein bis zur Wefer waren darob 
wieder einmal in Unordnung geraten und zeigten die unrichtige 
Stunde oder fanden ganz ftill. Was die mweftfälifchen Gloden 
anbetraf, fo waren deren eine ziemliche Menge von dem hohen 
Bundesgenoffen des biedern Neichsftandes mitgenommen wor⸗ 
den, um in franzöfifche Gefhüsläufe für die Reunionskriege, 
den Überfall von Straßburg und den fpanifchen Erbfolgefrieg 
umgegoffen zu werden. 

Weiteres zu feiner Zeit. Vom Stift her wiſſen wir, was die 
Glocke gefchlagen hat; Chriftoph Bernhard hat dafür geforgt. 
Es iſt vier Uhr nachmittags, und wir fiehen im Brudfelde am 
rechten Ufer des Fluffes, der zertrümmerten Brüde gegenüber 
und warten auf die Fähre, die man nach dem Abzuge der wüften 
gerufensungerufenen Gäfte und Bundesgenoffen aus dem Weften 
eingerichtet hat. 

Wir warten auf einige Leute, die da fommen werden, um fich 
nach Huxar überfegen zu laffen, und fie kommen auch, einer nach 
dem andern. 

Der erfte ift ein Mönch aus der Abtei, der unter dem dunfel; 
ziehenden Gewölk von dem Landwehrturm unter dem Walde, 
dem Solling, auf dem Feldwege her der Wefer zufchreitet. Es 
ift der Bruder Henricus, vordem in der Weltlichfeit ein Herr 
von Herftelle; fein Prior, Nikolaus, vordem im Säkulum ein 
Herr von Zigewis, hat ihn vor acht Tagen mit einem Briefe an 
den herzoglich braunfchweigifchen Vogt auf dem fürftlihen Amts; 
hauſe zu Widenfen abgefendet, und er hat den Brief hingetragen 
und kann fonderbare Sachen erzählen. 

An Stelle des Vogtes hat er auf dem Amtshauſe Seine 
Fürftlichen Gnaden den Herzog Rudolf Auguft felber vorgefun, 


8* 


109 


den und zwar in befter Laune, den Vorgängen und dem franzöſi⸗ 
fhen Trubel am linken Weferufer zum Trotz. Der Herzog hatte. 
den mwohlpetfchierten Brief des Herrn Priors von Corvey er; 
brochen, und es ift ein anderes Schreiben — franzöfifch abgefaßt 
und adreffiert — herausgefallen, welches die Fürftlichen Gnaden 
zuerft gelefen haben, zu einem Drittel mit Stirnrungeln und für 
den Neft mit einem Lachen und Spott. 

„Ihr tragt gewichtige Sachen im Lande Germanien um, ohne 
e8 zu willen, Bruder,” hat der Herzog gefagt. „Sintemalen wir 
nunmehro im Jahre einundfiebenzig mit Gottes Hülfe und 
unferer Vettern Liebden Beiftand und freundlicher Handreichung 
unfere nunmehro zuletzt getreue Landesftadt Braunfchweig mit 
MWaffengewalt und gutem Wort ung zu Willen und Gehorſam 
gebracht haben, fo danken wir dem Heren Bifchof von Münfter, 
fowie den Herren Prioren, Kanzlern und Räten von Corvey, 
wie imgleichen dem Heren Marfchall von Turenne für freundliches 
Erbieten und gedenken fernerhin, wie e8 ung zukommt, unferer 
Pflicht und fürftlichen Eidleiftung gegen Kaifer und Reich. Wünz 
ſchen dagegen dem Heren Marfchall eine glüdliche Neife gen 
Weſel und Haben Euch, ehrwürdiger Bruder, augenbliclich nichts 
mitzuteilen, als daß Ihr, ſo lange e8 Euch belieben mag, unfer 
lieber Gaft fein mögt; wie wir e8 gleichfalls in Ener Belieben 
feßen werden, Euch in der Gegend umzufehen. Da uns das 
Stift und das königliche Hauptquartier zu Hörter aber in Eurer 
Perfon einen Mann geſchickt haben, der nicht immer die Kutte 
trug, fondern vordem auch den Harnifch und den Kürafferhelm, 
fo verlaffen wir ung darauf, daß Ihr ung zu Haufe in re militari 
loben und den Herren zu Hurar und —— nach beſter Kenntnis⸗ 
nahme empfehlen werdet.“ 

Da num der Bruder Henricus außer feinem Schreiben willig 
auch den mündlichen Auftrag mitgenommen hatte, fich in der 
Gegend rechts von der Wefer umzufehen, fo machte er Gebrauch 
von der Einladung des Herzogs. Er fah fih um, und jest kam 


110 





er zurück, nachdem er fich umgefehen hatte. Sehen wir ung ihn 
jest vor allen Dingen felber ein wenig genauer an. 

Da fland er, auf feinen Wanderftod geftüßt, im Brudfelde an 
dem mürriſchen Strome und wartete geduldig, bis e8 dem Fähr⸗ 
mann drüben am Brudtor zu Hörter gefiel, ihn herüber zu holen. 
Und er fah troß feinem geiftlichen Gewande wahrlich aus wie ein 
Mann, der wohl befähigt war, feinen Vorgefesten über die milis 
tärifchen Zurüftungen und Vorkehrungen Seiner Herzoglichen 
Gnaden zu Widenfen Bericht abzuftatten, und zwar einen ſach⸗ 
und fachgemäßen. Der Bruder Henricus von Herftelle trug fein 
Benediftinergewand würdig und ftattlich genug, doch mußte es auch 
dem gänzlich Unbefangenen gar nicht unglaubwürdig erfcheinen, 
daß von diefer breiten Bruft und diefen derben Schultern feiner 
Zeit der eiferne Panzer ohne alle Befchwerden getragen worden 
fei. Daß die runzlige, aber immer noch kräftige Fauft vor Zeiten 
etwas anderes umfchloffen habe als den harmlofen Stab von 

Weißdorn, konnte dann einem irgend aufmerkfamen Betrachter 
auch weiter nicht zweifelhaft bleiben. Der Bruder Henricug frug 
dem winterlichen Tage ins Geficht die Kapuze zurüdgefchlagen 
und bot die Tonfur dem Wind, den vereinzelten Schneefloden 
und den fcharfen Schauern feinen Regens frei hin. Ein Kranz 
grauer, ein wenig borfliger Haare umgab den runden wohl 
geformten Schädel, und eine Narbe auf der Stirn fprach von 
anderem und wilderem Zufammentreffen als mit den Brüdern 
und Vätern in Gott und Jeſu Chrift bei der Hora und Mette. 
Der Junker Heinrich von Herftelle war jet ein alter Mann, doch 
jung und feifch auf den Beinen. Sein Räufpern felbft und fein 
Niefen Hang fräftig und mannhaft, und man fonnte es dem 
Bater Adelhardus, dem Stiftskellner, vordem ein Herr von Bruch, 
gar nicht verdenfen, wenn er die Freundfchaft und gute Kamerad⸗ 
fchaft gerade diefes ehrwürdigen Bruders jeglicher andern inner; 
halb der Mauern der Abtei vorzog. 

„Wo die Brüde geblieben ift, kann ich mir ſchon deuten,“ 


III 


fagte der Bruder Henricus Eopffchüttelnd. „Ein Ärgernis ift es 
aber doch!” fügte er hinzu, die Hand über die Augen legend und 
nach der Fähre ausſchauend. Er hatte noch zu warten, denn der 
Fährmann drüben zu Hörter beeilte fich des einzelnen Fahrgaftes 
wegen nicht. Faul hingeftredt lag er neben der Wölbung des 
Brüdentors auf feiner Bank und wartete auch; nämlich auf die 
Anfammlung mehrerer Leute drüben am braunfchweigifchen 
Ufer. 

Endlich fam der zweite Fahrgaſt. Diesmal ein altes Weibchen, 
das auf dem Schifferpfade von Lüchtringen her heranhumpelte, 
feuchend unter einem fehweren Bündel; — ein altes Sudenweib, 
unter dem Namen Kröppel⸗Leah dem Pöbel zu Hurar wohlbe⸗ 
kannt, doch hochangeſehen bei ihren Glaubensgensffen; — weg: 
matt, zeitmatt, kriegszerzauſt und Eriegerifch, ja Friegerifch unter 
ihrem Paden trotz ihrem Alter und ihrer Müdigkeit anzufchauen. 

Mit tiefen Kniren und fohüchternen Verbeugungen näherte 
fih die Greifin dem greifen Benediktinermönd, der aber neigte 
das Haupt, winkte mit der Hand und fagte: 

„Der Gott Abrahams knöpfe dem Schlingel da drüben die 
Dhren auf. Tretet heran, Frau: werft Ener Bündel ab und 
feßet Euch. Um ung beide rührt fich der Tüderliche Burſch fürs 
erfte noch nicht.“ 

„sh danfe Euch, guter ehrwürdiger Herr,” erwiderte die 
Greifin. „Alte Knochen, müde Füße, ſchweres Herz, — ich kann 
wohl in Geduldigkeit warten.“ 

„Ich auch I” fprach der Mönch, und dann, mit einem Blid auf 
die durch die Wirbel des Fluffes vorragenden Trümmer ber 
Brüdenpfeiler, fragte er: „Wiſſet Ihr, Mutter, vielleicht genauer, 
was das num wieder zu fagen hat? Wenn man fich auch das 
Seinige zurechtlegt, fo hört man doch gern eines andern Bericht. 
Als ich abging von Corvey, ſchritt ich noch frodenen Fußes über 
die Weſer.“ 

Die Greifin fohüttelte den Kopf: 


112 





„Ich kann e8 nicht fagen, ehrwürdiger Herr. Anno Siebenzig 
am fiebenzehnten Januar hat es der Fluß felber getan. Vordem 
Anno Sechsundvierzig tat e8 der Herr Feldgeugmeifter von 
Wrangel; vordem taten es Here Kafpar Pflugk und die Herren 
Liguiften, — vordem Herr Chriftian von Braunfchweig, den fie 
den tollen Herzog nannten. Dazwifchen dann wieder immer der 
Strom felber. Sa, wer hat's heute getan?” 

Der Bruder Henricus lächelte ein wenig. 

„Bas hr mir da eben ableiert, Frau, kann ich in feiner Rich⸗ 
tigkeit für mehr als einen Arthieb in persona bezeugen. Wo 
fommt Ihr denn her, Frau?” 

„Bon Gronau, im Fürftentum Hildesheim. Da ift meiner 
Schwefter Sohn geftorben. Er war der legte Mann in meinem 
Haufe, Ich hab’ ihn fterben fehen und mir die Erbichaft geholt 
nad Hörter.” 

„om!“ murmelte der Bruder Henricus und ſah auf das 
Bündel, auf dem die Alte zuſammengekauert hodte, und von dem 
fie aus fchen und furchtfam zu ihm feitwärts aufblidte, 


113 


Zweites Kapitel. 


Un einen Mönch und ein altes Weib tu ich keinen Zug am 
Seil,” brummte Hans Vogedes, der Fährmann, und räkelte 
ſich auf ſeiner Bank von der linken auf die rechte Seite; und die 
Bürgerwacht unter dem Torbogen lachte in choro und ſtimmte 
ihm ganz und gar bei. 

Es war eine wunderliche Wachtmannſchaft, in deren Zuſam⸗ 
menſetzung ſich die ganze Verwirrung des Gemeinweſens aus⸗ 
ſprach. Zwei Münſtriſch⸗Corveyſche Infanteriſten ſchulterten da 
ihre Musketen; ein Schuſter, ein Zimmermann und zwei Schnei—⸗ 
der aus dem überwiegenden lutheriſchen Teile der Stadtbevöl—⸗ 
ferung vom Rat aufgeboten, hatten fich fonderlich gewappnet mit 
Helm und Harnifch aus der Liguiftens und Schwedenzeit und 
lehnten martialifch an ihren Spießen und Stangen. Den Ober; 
fommandanten des Ganzen aber, Korporal Barthold Polhenne, 
hatte die fatholifche Bürgerfchaft aus ihrer Mitte unter Beiftand 
des Stiftes und der Mingritenbrüder in der Stadt geftellt: die 
Drdnung, die er hielt, und die Autorität, deren er fich rühmen 
durfte, waren benn auch danach. 

Niedergetreten vom ſchweren Stiefelabfaß des Heren von 
Turenne, mit Kontributionen bis zum legten ausgefogen vom 
Heren von Fougerais; von der wälfchen Befakung in den Häufern 
und auf den Gaffen bis zum Außerften in alles Elend und alle 


114 





— — 


Wut hineingequält — widerſpenſtige Untertanen Seiner biſchöf⸗ 
lichen Gnaden von Münfter, hungrige Bürger der guten „Muni; 
sipalftadt Höxar“, — kurz, armes, notdürftiges, geplagtes, 
verwirrtes, deutſches Volksweſen, wie e8 aus dem Trümmerfchutt 
des Neligionskrieges aufwuchs, gleich den Wurzelfproffen um 
einen gefällten Baum — e8 fah eben böfe aus in Hörter nach 
dem Abmarſch der hohen franzöfifchen Alliierten ! 

Drüben am rechten Ufer der Wefer ſtand der Mönch be; 
wegungslos auf feinen Stod gelehnt, und Kröppel⸗Leah faß auf 
dem Bündel mit dem Nachlaß des Schwefterfohnes. Sie wars 
teten ruhig ab, daß das Schiefal ihnen den dritten Mann fende, 
um den Hans Vogedes vielleicht wohl fahren mochte; und diefer 
dritte Mann erfchien jet wirklich, Er fam durch das niedere 
Feld und die Allerwiefe vom Dorfe Boffzen her, — auch ein 
alter Menfch, hochgewachſen, Dürr, im ſchwarzen Nod und Unter; 
gewand, weitbeinig und energifchzeilig — Ehen Helmrich Voll; 
bort, der Pfarrherr der Iutherifchen Kilianikicche zu Hörter. Es 
fchien ihm gut zu dünten, bald nach Haufe zu fommen, denn die 
Witterung wurde nicht freundlicher, und die Dämmerung nahm 
immer mehr zu. Ob der Paftor auch noch andere Gründe für 
feine Haft hatte, werden wir ja wohl erfahren; fürs erfte, als 
er die flattliche Geftalt des Benediktiners an der Fährftelle zu 
Geficht bekam, mäßigte er feinen Schritt; jedoch nur für die 
fürzefte Weile, denn fofort trat er um fo kräftiger auf und heran 
und grüßte kurz und ſchweigend. 

Höflich erwiderte der Bruder Henricus den Gruß; die Juden 
frau erhob fih mühfam von ihrem Sitze und knixte. Es war eine 
feltfame Gruppe, die unter dem ftürmifchen, dunklen Himmel, vor 
den gelben geollenden, wild hinftürgenden Waflern auf das 
Hörterfche Fährfchiff zu warten hatte; der Mönch von Corvey 
aber war der erfte, dem das Schweigen peinlich wurde, und der 
alfo auch zuerft den Mund auftat. Wahrhaftig, es ift zweihundert 
Jahre her, aber auch der Bruder Heinrich von Herftelle begann 


115 


mit einer Bemerkung über das Wetter, und fie hatte diefelbe 
Wirfung wie heutzutage. 

„Es ift freilich ein rauher Tag,” erwiderte Ehren Helmrich 
Bollbort, der Pfarrherr zu Sankt Kilian, nach der Stadt hinüber 
und auf die zertrümmerte Brüde fehend. „Ein Tag oder Abend, 
wie er wohl für Ort und Zeit paßt.“ 

„Sie haben das richtige Wort gefprochen, Herr Paftor,“ 
fagte der Mönch. „Obgleich ich vom Haufe abmwefend war, ſo 
nehm’ ich gern jede Anmerkung, die hier und heufe tempora et 
mores in ein Gleichnis bringt, vollgeltend hin.” 

Die jüdifche Greifin, die fich wieder auf ihe Bündel nieder; 
gefauert hatte, bededte das Geficht mit der rechten Hand und 
feufzte ſchwer und nidte verſtohlen gleichfalls. 

„Sie befanden fich nicht beim franzöfifchen Abmarſch im 
Stift, mein Pater?” fragte der Pfarrherr. 

„Ich trug einen Brief zum Herrn Herzog Rudolfus Yuguftug, 
— nämlich ich traf ihn mit Heeresmacht zu Widenfen, auf feinem 
Amtshaufe, — ich traf ihn mit Heeresmacht dort im Walde, im 
Solling.” 

„Ei!“ murmelte der Prediger von Sankt Kilian, hoch auf, 
horchend. „Die Herren zu Corvey waren fich deffen vermutend? 
Hat der welfhe Holofer —“ 

Er brach ab und ſchloß — feinerfeits mit einem ſchweren 
Geufjer: „Es ift gleich; wir bleiben, wie wir find, in der Not, 
Der Wille des Herren gefchehe, jett und immerdar.“ 

„Amen!“ fagte der Bruder Henricus. 

Das Fährſchiff ließ noch immer auf fich warten; aber das 
Gefpräh auf dem rechten Weferufer war in Gang gefommen, 
Der Mönch fragte höflich und der Intherifche geiftliche Hirt ant; 
wortete ebenso höflich, wenngleich viel finfterer oder, fogufagen, 
verdroffener, Sie erfuhren beide mancherlei voneinander, was 
ihnen wiſſenswert fein mußte. Was den Bruder Henricus im 
befonderen anbetraf, fo erfuhr der nunmehr ganz genau, in 


116 





welcher Weife diesmal die Hörterfche Brüde ſtromab geſchwommen 
fei und wie drüben, wieder einmal, das Haus wandlos und dachz 
108 ftehe, jedem Regen⸗ und Sturmftoß preisgegeben. Die jüdiſche 
Greifin murmelte eintönig ihre Gebete vor fich hin, der ſchmutzige 
Fluß raufchte mürrifh, und am Brudtor von Huxar rüftete 
Hans Vogedes fich endlich zur Fahrt. Die fonderbare Wacht; 
sefellfchaft unter dem Tor hatte fich um einen fonderbaren Mens 
fchen vermehrt, und diefer war’8 auch, der den faulen Schiffer an 
fein Amt trieb. 

Er war die Straße herabgefommen, die Hände in den Tafchen, 
den Hut fchief auf den verwilderten Lockenkopf gedrüdt, in abge; 
tragenes gelehrtes Schwarz gefleidet, eine kurze, geftopfte, doch 
nicht brennende Tonpfeife im Munde, fein einziges Eigentum 
in diefer luſtigen Welt, Quinti Horatii Flacci poemata in einem 
abgegriffenen Schweinslederbande im Sad und — feine eigene 
Verfion des römifchen Poeten zwifchen den Zähnen: 


„Nun berrfchet mit Ioderen Flammen im Herzen 
Die Thrakerin Chloe zu Lachen und Scherzen, 
Nun fingt fie, nun ſchlägt fie die Laute mir fein; 
Zu doppeln ihr Leben fe’ meines ich ein.“ 


Da wir mehr mit dem jungen Mann zu tun haben werden, 
fo wollen wir fofort fagen, wie er hieß, wer er war, und wie es mit 
ihm ſtand. 

Mit Namen hieß er Lambertus Tewes, er war der Schweſter⸗ 
fohn Ehren Helmrich Vollborts,.des Predigers zu Sanft Kilian, 
und feines Zeichens war er leider ein vor acht Tagen von der 
berühmten Univerfität, der Julia Karolina zu Helmftedt, rele; 
gierfer Studiofug der Jurisprudenz. Sein Alter belief fih auf 
neunzehn Jahre und vielleicht ein halbes drüber; fonften war 
er heute mwahrfcheinlich der einzige Menſch vergnügten, wohl; 
wollenden und unbeforgten Gemütes in der Stadt Hörter an der 


117 


Weſer, und der fich auch dergeftalt natürlich gab. Zu der ſchmau⸗ 
chenden Wachtmannſchaft trat er heran, um fih Feuer auf feinen 
Tabak geben zu laſſen; zu verfäumen hatte er fonft nichts und 
fah e8 gern, wenn man ihm irgendwo, wie zum Erempel hier, 
augenblidlih Plaß auf der Bank machte. 

„Rück zu, Schulfamerad, wenn du nichts Beſſeres vorhaſt,“ 
tief einer von der Iutherifchen Wacht, der mit dem Studenten 
vordem dem Hörterfehen Scholarchen durch die Hände gelaufen 
war, „MWillft du aber über die Wefer, fo wird dich Hans Vogedes 
fogleich mitnehmen, und fogar umfonft, das heißt, für ein Stüd 
Latein aus deinem Tröfter, während er das Schiff löſt. Nicht 
wahr, der Handel gilt?” 

„Nicht wahr? Ei fo!“ lachte der verwilderte Helmftedter 
Burſch. „Dir fielft der alten Mutter Philofophia freilich eher aus 
der vielgeflidten Schürze, als fie dich in den römifchen und 
griechifchen Topf fchütteln fonnte! Nun, du hätteſt den Hörteranis 
fchen gelehrten Sauerfohl auch nicht fetter gemacht.” 

„Meifter Polhenne, er fängt an, die Gemütlichkeit zu ftören, 
fowie er fommt. Man kennt deine Redensarten, du Träbern⸗ 
freffer.” 

„Ruhe auf der Wacht. Masgifter Lambert, haltet den Mund; 
und Ihr, Schufter Kappes, das Maul! Sonften aber ſtimme ich 
auch für ein Stück aus dem alten Heiden,“ brummte der Kor; 
poral Polhenne. 

„Gefällt Euch der alte Heide fo gut, Korporal?“ 

„Hier am Det ift niemand, der e8 da Euch gleicht tut. Das 
Latein fommt immer mehr ab in der Welt. Jeſus, wenn ich an 
meine Jugendzeit denke, und wie fie da es ung von den Kanzeln 
an die Köpfe warfen!” 

„O nata mecum consule Manlio,“ fummte der Student, 
aber brach fogleich ab, um feine Perlen nicht vor die Säue zu 
werfen, klopfte den Korporal auf die Schulter und rief: „Laſſet 
nur das Latein, Polhenne — 


118 





Corvinus vermahnt ung 
Bedachtvoll und Hug, 

Das Faß aufzumwinden, 

Zu heben den Krug. 

Wie Sokrates redet, 

Doch trinkt auch wie er! 
So klingt fhon beim Alten, 
Beim Cats die Lehr’. 


Sagt, Zungen, was gibt e8 denn zu frinfen am Ufer des gelben 
Tibers — will fagen, der gelben Wefer? Was hat euch der falfche 
Punier, der grimmige Unhold Hannibal für euren und meinen 
Durft übrig gelaffen?” 

„Wenn Ihr den Fougerais meint, Magifter — da! da läuft 
es!“ fchrie wie ein Mann wütend die Wacht am Brudtor zu 
Hurar, auf den Weſerſtrom deutend. 

„Diefes Faß wird Euch fo leicht nicht auslaufen, Herr Doktor I” 
brummte einer der Münfterfchen Musfetierer über die Schulter; 
der Student aber fehüttelte fich: 

„Brr! — er ift zuletzt abmarfchiert, feinem Meifter Turennius 
nach; — ultimo scabies, die Kräße auf den Letzten. Bei den un; 
fterblichen Göttern, ihr Herren, da mag felbft dem Gutherzigften 
der Germanen fein fimmerifcher Tag allzu grau werden, um den 
Horaz zu zitieren. Gebt mir Feuer auf meine Pfeife.“ 

Das gefhah, und in dem nämlichen Augenblid fam von 
drüben her über den Fluß ein heiferer Ruf, und ein fohwarzer 
Mann winkte durch die Abenddämmerung mit feinem weißen 
Sacktuch. Herr Lambert Tewes, der fich zweier Augen von Fals 
fenart rühmte, fagte: 

„Ich hab’ ihn zu Haufe gefucht, um noch einmal kläglich vor 
ihm zu tun. Doch chäre tante, ehe fie mir die Haustür vor der 
Nafe zufchlug und verriegelte, fat mir fund, der Herr Oheim 
fei nicht zu Haufe, fei über die Wefer zum Herren Amtsbruder in 


119 


Boffzen. Ecce vir excellentissimus — avunculus divinus ac. 
singularis, — und fiehe ein Mönch und ein alt Weib in den 
Handel! Hinüber, Fährmann, und holt mir den Herrn Oheim, 
ich Brauche ihn notwendiger, als ihr euch vorftellen möget, ihr 
Herren und guten Freunde,” 

„Ich hab’ e8 dir ſchon lange gejagt, Daß du dich endlich auf; 
macheft, Hang,“ fiel einer der Spießträger bei. „ES ift unfer 
Herr Paftore, der zuletzt ungeduldig geworden iſt.“ 

Das wirkte. Der Fährmann fand auf, redte fich, gähnte, 
ftieg in fein Schiff und griff nach dem Seil, Seinen Plas auf 
der Bank nahm, wie gefagt, der Student ein. 

Schwer arbeitete fih der Schiffer mit feinem Kahn, gegen die 
mächtig drängenden, winterlich gefchwollenen Fluten an, hinüber 
zum anderen Ufer. Die Wacht fah ihm mit behaglichsträger 
Anteilnehmung nach, und Herr Lambert Tewes, den Rauch aus 
feiner kurzen Tonpfeife blafend, fummte: 


„Mit Gleichmut nimm, was frommt, was dreuf, 
Die Welt fleußt gleich dem Strome her, 
Der fanft in feinem Bette heuf’ 

Abgleitet zum Etruskermeer; 

Doch morgen in Empörung fchwillt, 

Aus feinen Ufern überquillt, 

Gefteine fehiebt, 

Den Wald zerftiebt, 

Die Herde ſchluckt in feinen Bauch, 

Den Hirten und die Hütte auch; 

Wenn Jupiter der Menfchheit grollt 

Und ſchwarz Gewölk vom Pol her rollt.“ 


120 





a Be TEE —— 


Drittes Kapitel. 


HD" Student hatte fich eben in folcher Weife die Ode feines 
römifchen Poeten an den Gönner Mäcenas mundgerecht 
gemacht, als das Fährfchiff das jenfeitige Ufer der Wefer erreichte. 
Mit einer höflichen Müsabnehmung und mit einem Kratzfuß Iud 
Hans Vogedes den Iutherifchen Geiftlihen ein, einzuſteigen. 
Den Mönch von Corvey, den Bruder Henricus, grüßte er auch, 
doch um ein bedeutendes formlofer. Was die alte Jüdin anbes 
traf, fo machte er ſelbſtverſtändlich Miene, vom Lande wieder 
abzuftoßen, ohne fie mit nach Hörter hinüberzunehmen. 

Der Mönch aber hatte ihr für ihr Geld zu ihrem Nechte vers 
holfen, zu einem Sitze im Kahn, und auch der Prediger von 
Sankt Kilian war zugerüdt, um ihrem Bündel Plag zu machen. 

Nun ſchwamm die Fähre von neuem der Stadt zu. Die beiden 
geiftlichen Herren faßen fill, die Jüdin zuſammengeduckt gleichfalls: 
der rohe Fährmann murrte bei feiner freilich nicht leichten Arbeit 
immerfort leife Schimpfworte vor fich hin und warf von Zeit zu 
Zeit einen verftohlenen Blid auf den Sad, der die Erbfchaft der 
Kröppel⸗Leah enthielt. In der Mitte des Stromes fragte der Mönch: 

„Wie geht e8 Euch da — zu Haufe, Schiffsmann, feit das 
fremde Bolt Abſchied genommen hat?“ 

„Der Teufel hat fein Hauptquartier da behalten, Pater,” 
lautete die Antwort. „In Corvey war groß Zubilieren — fie 
werden auch Euch das Effen warm geftellt haben. Hörar hungert 
und faut Wut; Ihr werdet dort wenige Hauswände finden, durch 
die der Wind nicht pfeift. Sacre, wie die franzöfifchen Hunde 
fagten, ich pfeife auch darauf, ich Hab’ wenigftens nicht Weib 
und Kind zu verforgen. Um ein wenig beffer Handgeld wär’ ich 
auch mit dem Fougerais abgesogen.“ 


I2I 


Der Bruder Henricus ſeufzte: auch der Paftor Helmrich 
Bollbort feufzte und fchlug mit der Fauft auf den Rand des 
ſchwerfaͤlligen Fahrzeuges. 

Der Paſtor ſagte dann: 

„Der Mann ſpricht Ihnen die Wahrheit, Herr Pater, wie ich 
ſchon vorhin ſie ſagte. Es ſieht übel aus in der armen Stadt; der 
Herr bewahre uns vor weiterem Schaden.“ 

Der wilde Fluß wand ſich unter dem Kahn gleich einem böſen 
Tier. 

„Die Welt iſt gleich dem Strom,“ fuhr der Paſtor fort, „ſie 
gehet bedeckt mit Trümmern; aber der Herr wandelt dennoch auf 
den Waſſern. Er wird’8 wohl zwingen.“ 

„Amen!“ erwiderte der Bruder Henricug, und dann wurde 
nichts weiter gefprochen, bis der Kahn unter der Hörterfchen 
ruinierten Stadtmauer ans Ufer ftieß. In demfelben Augenblick 
ſchon fprang der Student von feiner Bank am Brucktor auf und 
an den Rand der Fähre, zog den Hut zierlich, bot dem Pfarrheren 
von Sankt Kilian die Hand zum Ausfteigen und fprach: 

„Ehrwürden Herr Ontel, ich hab’ mir vorhin wieder einmal 
die Ehre gegeben, Ihnen in Ihrer Behaufung aufwarten zu 
wollen. Die Frau Tante hat mich hierher gemwiefen ab ostio ad 
Ostiam, von der Tür — die fie mir leider vor der Nafe verfchloß 
— nach Dftia, will fagen an den Hafen. Ich mache mein Kompli; 
ment, Herr Oheim.“ 

„And ich habe Euch nichts weiter zu fagen, Herr! Was ftellt 
Ahr Euch immer von neuem mir in den Weg?” 

„Heraus, Alte! marfch, — ber den Fährlohn und fort mit 
dir, du Here!” fehrie der Fährmann die Jüdin an. 

„Bott Abrahams, gleich, lieber Mann!” rief die Greifin. 
„O, Erbarmen, werdet nicht böfe — da, da!” 

Sie reichte mit zitternder Hand die fchlechten Pfennige hin 
und ftolperte und fiel, als fie mit ihrem Bündel über den Bord des 
Kahnes ftieg. Die von der Wacht lachten alle über das alte Weib, 


122 





Bon dem Mönch nahm der Schiffer feinen Lohn, ohne weiter 
etwas zu bemerken; aber die beiden Münfterfehen Kriegslente 
und der Bürgerforporal Polhenne hielten die Hüte in der Hand. 
Mit einem fummen Gruße für alle und mit einem Kopfneigen 
für feine Glaubensgenoffen fchritt der Bruder Henricus durch 
das Brucktor, den übrigen voran, 

Die Kröppel⸗Leah trieb einer der wachhaltenden Schneider 
fpaßhafterweife mit dem Spießende zum eiligeren Forthumpeln 
an, Ihr fah der Fährmann am nachdenklichften jeßo nach und 
nahm einen und den andern Kumpan aus dem Volk, das fich 
fonft noch an der Fährftelle angefammelt hatte, zu einem Ge; 
flüfter beifeite. 

Der Student Meifter Lambert Tewes hatte nach der kurzen 
und derben Abweifung feines ehrwürdigen Verwandten den Hut 
wieder aufgefeßt; aber als ein braver Burſch, der mit den 
Philiftern umzugehen weiß, ließ er fo leicht nicht locker. Wenn er 
vorhin vom Etruskermeer gefungen hatte, fo begab er fich jeßt 
auf ein ander Gewäſſer, griff rückwärts nach dem Horaz in feiner 
Tafche, um fich zu vergemiffern, daß diefer Troftbringer noch 
vorhanden fei, und fummte, was voreinft dem Aelius Lamia vor⸗ 
gepfiffen worden war, dem unwirfchen Onfel Helmrich von Sanft 
Kilian hin: 

Musis amicus, tristitiam et metus 
Tradam protervis in mare Creticum 
Portare ventis — 


er fang es aber deutſch in abfonderliher Umfchreibung: 


„Der Wind pfeift hin zur Kreterfluf, 
Verdruß und Wut 

Und Grämlichkeit 

Fährt mit ihm weit! 

Dem Mufenfohn kommt's närrifch vor, 
Kratzt fih der Philofoph am Ohr; 


W. Raabe, Sämtliche Werke, II, 
aabe mtliche Werke. Gerie 94 123 


e8 würde mir das Herz abdrüden, Ehrwürden Herr Oheim, wann 
ich als Eurer Frauen Schwefterfohn Euch fo leichthin, ohne noch⸗ 
mals Eure Kniee umfaßt zu haben, Eures Weges in Übelgewogen; 
heit gehen ließe. Es ift wohl wahr, fie haben mir Consilium 
abeundi gegeben, aber —“ 

„Und ich und meine Hausfrau haben desgleichen getan!” 
tief der Paſtor zornig. „Herr, haltet mich nicht länger auf; ich 
und mein Haus haben nichts mehr mit Euch zu ſchaffen.“ 

Der Prediger ging fohneller zu; aber der Neffe hielt fich hart⸗ 
nädig an feiner Seite. 

„Bei den Penaten Eures Herdes, Herr Oheim —“ 

Er fam mit feiner Rede wiederum nicht zu Ende. Plötzlich 
ftand der alte, firenge Here fill und rief: 

„Bas wollt Ihr eigentlich noch, Monfieur, nachdem ich Euch 
meine Meinung fo deutlich gefagt habe? Iſt das eine Zeit für 
Narrenteiding? Sehet Euch um, ift das ein Schaufpiel dem Auge, 
um dabei den Horatius abzuleiern? Sehet mir in das Her; — 
in dem Haufe Gottes haben die Fremden ihre Noffe geftallt; in 
meiner Kirchen haben fie ihre Bacchanalia gehalten! D rufet nur 
Evoö, Evo&, und lobet den Bachus und die Venus, die —; 
greifet Euch doch in das eigene Herz; ift denn das Volk der 
Teutfchen, das arme elende Volt — hauslos und dachlos hier 
und an fo mancher anderen Statt — in der Luft und Begierde, 
des römifchen Poeten geile Neime an fein ſchmerzend Ohr Klingen 
zu hören?! Sehet um Euch, Menfch, und gehet und laffet mich 
meines Weges gehen; was hülfe e8 Euch, daß Ihr mit mir 
fämet? Auch bei mir würdet Ihr eine verwüſtete Heimftätte und 
einen falten Herd finden.” 

Der geiftliche Herr hatte eine Handbewegung um fich her ge; 
macht, und was biefe harte, magere, knochige Hand andeutete, 
das fah freilich troftlog genug aus, 

Sturm auf Sturm war feit dem Jahre 1618 über das 
Hörterfhe Weichbild hingefahren. Kein Chronift hat noch ges 


124 





zählt, wie oft diefer Drt, die Fährftelle und Brüde am großen 
Bölterübergang zwifchen Oft und Weften dem Schwert und der 
Brandfadel anheimgefallen war. Aber die Ruinen, die wüften 
Stellen, die Armlichkeit der wenigen wieder aufgerichteten Men; 
fhenwohnungen und diefe in ihrer allerneueften Verwüſtung 
zeugten davon. Gleich einem verwefenden Körper lag die Stadt 
Huxar in dem grauen Abendlicht des Dezembers da, und bie 
alten ſchwarzen Kirchen ragten wie das Knochengeräft aus dem 
gerfallenen Fleifche der Stadt. Und die Gaffe war voll des zer 
ftampften Stroh, des Schutts, der Alche und Trümmer und 
ſtank auch fonft dem Heer des allerchriftlichften Königs übel nach; 
der Student hielt fich die Nafe zu, [hob den Hut von einem Ohr 
zum anderen und nidte: 

„Bel den Göttern, es ift ein Elend!” 

Das war e8; aber das Lafter faß eben doch zu tief im Blut. 
Herr Lambert zitierte wieder; wenngleich mit kläglichſter Miene: 


„Wem Hagt das Volk des Reiches Fall, 
Men ruft es an mit Seufzerfchwall? 
Men ſchickt ung Zeus ald Rächer ber, 
Wem legt er in die Hand die Wehr? 
Dein Licht verhüllt, ſchwing nieder dich, 
Augur Apoll errette mid, — 


ad Augustum Caesarem ift die Ode überfchrieben, Herr Oheim.“ 

„Den Heren follt Ihe anrufen; fein Name ift Zebasth! 
Emanuel ift fein heiliger Name!” fprach der Pfarrherr, die 
drohende Hand erhebend und weiterfchreitend. Jetzt ließ der 
Student und Neffe ihn ziehen und fand ftill und fah ihm nach 
und dann noch einmal fich um in Hörter, 


* 125 


Viertes Kapitel. 


N Vetternfchaft und zärtlihe Verwandtfchaft hätten wir 
demnach alfo vergeblich begrüßet !” fagte der in die Wild⸗ 
nis ausgetriebene Bürger und ungeratene Sohn der erlauchten 
und erleuchteten Mutter Julia Karolina, „Sie haben mir immer 
meinen Weichmut vorgeworfen; aber hier habe ich es wahrlich 
nicht an Hartnädigkeit fehlen laſſen. Da hab’ ich doch getan 
und verfucht, was meine feligen Eltern nur verlangen fonnten. 
Ein anderer wär’ längft grob geworden und häfte der lieben 
Frau Tante und dem Herrn Onkel den Stuhl vor die Tür ges 
fchoben; nur fol ein gutherziger Gefell wie ich läßt fich dreimal 
aus ihr herauswerfen, ohne auf die ihm von früher Jugend an 
eingebläute Pietas den Teufel herabzubeſchwören. Alle Höllen; 
geifter, erlöfet mich von dem weichen Gemüte!“ 

Er fragte fich bedenklich am Krauskopf, obgleich er vor zehn 
Minuten noch jeden Weltweifen, der dergleichen tun würde, arg 
in gebundener Rede geläftert hatte. Dann griff er von neuem 
hinterwärts in den Sad, traf aber auch diesmal auf wenig 
mehr drin als auf den Günftling des Mäcenag, den Liebhaber 
Glycerens, den Freund des Varus, — auf den alten fonnigen 
Schäfer, den Flaccus. So ftand er in der beginnenden deutſchen 
Winternacht, als plöglich der weiße Benediktinermönch, der Bruzs 
ber Henricus, abermals an ihm vorbeiging. Der Frater hatte 
noch einen Befuch bei dem Mingritenprediger, den der Fürft 


126 








bifchof Bernhard von Galen der Fatholifchen Kirche in Hörter 
als Hirten vorgefegt, abgeftattet, hatte ihm jedoch nicht zu Haufe 
angetroffen und war, vom Küfter zu Sankt Peter befchieden, 
ihm nach dem Haufe des Bürgermeifters Thönis Merz nachge 
gangen. Er hatte feinen Minoriten richtig gefunden und fein 
Wort mit ihm ausgetaufcht, und nun war er auf dem Wege zum 
Corveytor. 

„Salve Domine!“ ſagte der Student recht freundlich; und 
der Mönch ſchreckte auf, wie es ſchien, aus recht unbehaglichem 
Gedankenſpiel. Er grüßte aber auch freundlich mit einer Ver; 
neigung und wollte damit ruhig an dem jungen Gelehrten vor; 
über; aber fo glatt ging diefes doch nicht. Herr Lambert Tewes 
ging fofort mit ihm und führte die Unterhaltung weiter, 

„Sie gehen nach Haufe, ehrwürdiger Herr Pater?” 

„Sch gehe nach einer langen, mühſamen Wanderung durch 
die arge Welt heim in meine Zelle.” 

„And Sie wiffen.alfo wohl gar nicht, wie gut Sie es haben, 
mein Pater?“ 

TDrotz feiner Verfiimmung mußte der Alte doch lächeln, und 
feinen Schritt mäßigend, fragte er: 

„Sie gehen bei diefem üblen Wetter noch nicht heim, gelehrter 
Herr Studiofug?” 

„Wie gerne!“ ſeufzte der Student; „aber haben Sie auch ein, 
mal, Here Pater, einen Onkel und eine Tante gehabt? O heiliger 
Kilianus, in welche Hände ift dein Haus übergegangen! Ich 
hatte fo ficher da auf eine Abendmahlgeit und einen Strohfad 


unter dem Schuße deines Martergeugs gezählt! Ehrwürdiger 


Herr, ſehet hier; als fie mich von Helmftedt wegtrieben, ließ ich 
ihnen meine Schulden und nahm ihnen diefen Götterfohn in 
Schweinsleder aus ihrer Bibliothefa mit. Den werde ich nun 
bei diefer Tieblichen Witterung die Nacht über in einer diefer 
Hörterifchen Ruinen an einem eingefallenen Herde als Kopf; 
fiffen nehmen müfjen. Was meinen Sie aber, mein Pater, wenn 


227 


Sie ihn mir abhandelten um ein Billiges? Wenn Phöbus nicht 
längft diefem niederträchtigen Erdenwinkel den Rüden gewendet 
hätte, würde ich das Volum Ihnen gern zur genauen Befichtt; 
gung ad oculos rüden. Es ift eine freffliche Edition — Amstelo- 
dami, ex officina Henrici et Theodori Boom — mit einem 
Frontiſpizium vom berühmten Maler und Kupferftecher Romyn 
de Hooghe; he?!“ 

„Ich war ein Neitersmann in meiner Sungheit und habe 
ſchon und leider als Junker Heinrich von Herftelle meines Infor; 
mators Latein an den Büfchen hängen lafien,” erwiderte der 
Mönch. „Sch dankte Euch herzlich, mein lieber junger Freund, 
und befehle Euch dem Schuße des Allerhöchſten. Sonften haben 
wir auch zu Corvey eine mächtige, fürtreffliche Bücherei, und fie 
würden mich weiblich auslachen, wenn ich von der Neife derglei; 
chen ihnen mitbrächte und zutrüge.“ 

„Eulen nad Athen,” murmelte der Student. „Sch will's 
aus Höflichkeit glauben; alſo — vergnügliche gute Nacht, mein 
Pater,” 

Der Mönch verneigte fich abermals und ging; der Helm; 
ftedtfche Studiofus blieb und rief, al8 der Bruder Henricus 
ihm aus Gehörmweite entfernt zu fein fehlen: 

„Mio wiederum abgeblist! Da lohnte es fih in Wahrheit, 
feinen Musquedonner oder feine Schnapphahnflinte zu laden! 
Pulver und Bleil Palsambleul mille millions tonnerres! fein 
Fluch in teutfcher Zunge kann da ausreichen, um einem Menſchen⸗ 
find Luft zu machen. Da nimmt der Pfaff meinen warmen Sit 
am Eorvenfhen Stiftsfüchenfener in feiner Kutte mit hin; aber 
— daß ift die Zeit, fo ift die Zeit! fo find fie alle — gleichviel ob 
fatholifch oder Intherifch aufgewichft! o du Heiliger Simfon von 
der Kollegienkirche! o ihr Fleifchtöpfe der alma mater Julia! o du 
lange Burfhenbant im Dudfteinfellee! — Und fol einem 
Böotier hab’ ich meinen Lauriger für ein Nachteffen angeboten?! 
Schäme dich, Lambertug, und geh in dich, Bei den Unfterblichen, 


128 





e8 bleibt alfo bei einem Nachtquartier in den Ruderibus des Heren 
Feldzeugmeifters von Wrangel. Gefegnet fei fein Angedenken! 
gefegnet fei fein Durchmarfch nach dem Allgäu zum Bregenzer 
Sturm! Gefegnet feien feine Kartaunen und Bombarden von 
Anno Sehsundvierzig! Da Friegte man doch wahrlich Luft, 
felbft den Tilly und den Generalfeldmarfchall von Gleen und das 
Jahr Bierunddreißig mit feinem ‚Salzfotter Quartier!‘ hoch⸗ 
leben zu laffen. Was finge nun heute unfereiner an ohne bie 
Ruinen vom Hörterfchen Blutbad?!” 

Ei ja, aber wer hatte fonft in diefer Nacht ein ruhig, warmes 
Duartier, ein ficheres und behagliches Kopfkiffen und Deckbett in 
Hurar an der Wefer? Eigentlich niemand. Es kam feiner zu 
einem gefunden Schlaf, außer den gefunden Kindern. Es war 
eben in der Woche nach der Sündflut, und wie die übriggebliebene 
Familie Noah fehr bald in Gezänk und Hohn gegeneinander 
ihrem Unbehagen in der verwäüfteten Welt Raum gab, ſo lag die 
Hörterfche Bürgerfchaft jest ſchon im Hader untereinander und 
fih im Haar. 

Sie hatten fich — beide, Katholiken wie Lutheraner, — manches 
von der fremdländifchen Befagung gefallen laffen müflen, von 
dem Heren von Turenne und dem Herren von Fougerais. Nun 
waren die Franzofen abgezogen, aber das Gift in den Herzen 
und Köpfen war geblieben. Ein jeglicher fuchte nach jemand, 
an dem er feine Galle, geftraft oder ungeftraft — freilih am 
liebften in leterer Weife — 108 werden fonnte, und beim rechten 
Lichte befehen, war niemand vorhanden, der fich hätte anmaßen 
dürfen, den Wächter über die kochenden Leidenfchaften zu fpielen 
und den Dedel überzuftülpen. Sie waren alle Partei! Und der, 
welcher die ſtärkſte Hand hätte haben können, nämlich Herr 
Chriſtoph Bernhard, der Biſchof zu Münfter, führte Krieg mit 
den Herren Generalftaaten, pfiff auf das Deutfche Neich, verfah 
fich nichts Gutes von dem Herzog Rudolfus Auguftus auf dem 
Amthauſe Widenfen und wußte zu allem übrigen, daß feine 


129 


„gute Munizipalftadt“, nämlich die Stadt Hörter, der Mehrzahl 
ihrer Eingefeffenen nach, gleichfalls nach Widenfen ausfchaute, 
jedoch aus einem ganz anderen Grunde als er, der Bifchof. 

„Laufe fchnell mal einer nach dem Bürgermeifter !” heißt eg 
fonft wohl in einem gutgeordneten Gemeinmwefen; aber auch das 
war leider Gottes hier und diesmal von wenig Nutzen. Auch der 
Bürgermeifter von Härter, Here Thönis Merz, war Partei. 
Man hatte von Ffatholifcher Seite, um ihn und feine „arme gufe 
Stadt” unter die Botmäßigfeit des Stiftes und des Heren Fürft; 
biſchofs zu bringen, ihm und ihr mit Schilanen und fogar auch 
Handgreiflichkeiten arg zugefeßt. Seine Berichte und Klagefchrifz 
ten an den Schußgheren zu Widenfen fohrien lauf genug darob. 

Wie lange war e8 her zum Erempel, daß man ihn, den hoch⸗ 
edlen Bürgermeifter, famt feinem ehrbaren Rat auf die Sper⸗ 
Iingsjagd gefchiet hatte? War dag feine Schifane, daß man von 
Corvey ang der guten und glorreichen Stadt Huxar wie der ges 
ringſten Bauernfchaft der Umgegend auferlegte, ihr Duantum 
Sperlingstöpfe im Stiftshofe abzuliefern, vorzuzählen und aufz 
zufchütten?! 

Per vulnera Christi hatte die Stadf zum Herzog Rudolfus 
Auguſtus um Hülfe gefehrien, und der Bruder Henricus konnte 
darüber ausfagen, wie die hergoglichen Gnaden über den Fall 
dachten. 

Ja, ja, wie fich der Bifchof und der Herzog über die Wefer mit 
Briefen und von braunfchweigifcher Seite vor kurzem auch mit 
einigen Kompagnien Fußvolks und ftattlichen Neiterzügen unter 
die Nafe rückten und jahrelang hin⸗ und hergogen, das fteht auf 
manchem Blatte zu Iefen, das gelb. und muffig aus jener Zeit 
zu ung herabgekommen ift. 

„Die gute, uralte Stadt Hörar, welche umb ihrer Gerecht; 
famen und ihrer heiligen Religion halber Leib, Gut und Blut. 
verloren, wird nunmehr ald das geringfte Dorf gehalten, Ihre 
Schlüffel find ihre benommen, in ihrem guten Rechte fich felber 


130 





einen Scharfrichter zu halten, ift fie turbiret. Selbft das Juden; 
geleit, fo die Stadt doch vor und nach Anno 1624 gehabt, ift ihr 
auch wieder weggenommen, daß anitzo ein Hauffen Juden alle 
in bürgerlichen Häufern allda wohnen, ihren Wucher treiben 
und dennoch der Stadt nichts geben!” 


So ſchrie die lutheriſche Bürgerſchaft. 

„Wir werden Euch lehren, ſo anzäpfliche Worte ohngeſcheut 
auszuſprengen!“ grollte der katholiſche Teil der Bevölkerung; 
und von Corvey aus ließen ſich die biſchöflichen Gnaden ver— 
nehmen: 

„Mit ſonderbarer Milde und Clementz haben wir bis dato 
Euch ungerathene, widerſpänſtige Leute zu Huxar traktiret. 
Unſer landesfürſtliches Recht haben wir gewahret: wie reimet 
ſich dann, was Ihr zur Bemantelung des Braunſchweigiſchen 
feindlichen Einfalls hervorbringet?“ 

„Sind nicht ſchon Bürgermeiſtern Johann Wildenhorern des⸗ 
wegen, daß er vor 16 Jahren bey weyland Herrn Abts Arnolden 
Zeiten in damaligen ſeinem Bürgermeiſter⸗Ampte für der Stadt 
Jura geſtrebet, allererſt vor drei Jahren, wie itztermeldeten Herrn 
Abts Fürſtliche Gnaden ſchon todt geweſen, Früchte weggenom⸗ 
men?“ klang's vom Rathauſe. 

„Und wer war Schuld daran,“ klang's zurück, „daß unſerm 
Fürſtlich Münſteriſchen Hauptmann Meyer, welcher mit zwanzig 
Mann bei Euch lag, das Trommelſpiel, womit derſelbe durch 
feinen Tambour die gewöhnliche Neveli, Scharwacht und Zapfen; 
ftreich ſchlagen laflen, gewaltthätig weggenommen und zu der 
Braunfchweigifchen Munition unterm Rathhaus Hingebracht 
wurde?” 

„Seid Ihr nicht in diefer anhängigen Sache gleichſam Judex, 
pars et advocatus?“ ſchrie die Stadt. 

„Mit nichten! Von Gottes Gnaden find Wir, Chriftoph 
Bernhard, Bifchof zu Münfter, Adminiftrator zu Corvey, Eueres 


131 


heillofen, rebellifchen Municipit eingefeßter und gefalbter Landes; 
here!” fchallte es zurück. 

„Hm, Euer Liebden,” kam's vom jenfeitigen Ufer der Wefer 
fehriftlich herüber, „ohne Euer Liebden in Ihrer unftreitigen 
Gerechtfame und Landes,Fürftliher Hoheit zu nahe zu freten, 
fo haben wir doch als Erb⸗Schutz⸗Herr wegen unferes Fürftlichen 
Hauſes Intereffe dahin zu fehen, daß die arme Stadt in ſolchem 
defperaten Zuftande nicht gleichfam vor unfern Augen zu Grunde 
gehen muge.“ Signatum: „Rudolff Auguſtus.“ „Un den 
Heren Bifchoffen von Münſter.“ 

In der gehörigen Zeit nach diefem freundnachbarlichen Schrei⸗ 
ben war — eben der Herr von Turenne in Hörter eingerüdt. 
Eine verftändlichere Antwort auf den herzoglichen Brief hatte 
Herr Ehriftoph Bernhard von Galen nicht zu geben gewußt, 
daß aber der gute Nachbar auf dem Amtshauſe Widenfen fie 
fofort verftanden hatte, wird uns deutlich werden, wenn der 
alte Reiter Heinrich von Herftelle zu Corvey Kunde davon gibt, 
was er im Solling fah. 

Was die Fudenfchaft anbetraf, über deren in Wegfall ge; 
fommenes „Geleitsrecht” die Bürgerfchaft von Hörter gleichfalls 
fo fehr erboft war, fo hielt fie fich verftändigermeife fo ftill als 
möglich, ohne daß e8 ihr viel half. — — 

Und nun hatte der Herr von Fougerais am Tage vor der 
Heimkehr des Bruders Henricus, nah Wefel abmarfchierend, 
die gute Stadt des Fürftbifchofs von Münfter verlaffen und — 
nicht ohne feine Gründe, vorher die Brüde, die auf das rechte 
Weſerufer überführte, abgebrochen. Chriftoph Bernhard mit 
feiner Macht ftand weit in der Ferne gegen Holland: für eine 
Zeit waren Hörter und Corvey fich felber anheimgegeben, und 
wild und wüft wie in den Häufern und Gaſſen fah es in den Ges 
mütern aus, 

Der Helmftedter konſiliierte Studente, der, feinem Worte 
wenigftens nach, eben im Begriff war, ein Nachtquartier in 


132 





irgendeiner Ruine früheren Wohlftandes zu fuchen, konnte da 
vielleicht unter Umftänden den ruhigften und behaglichften Pla 
in ganz Hurar finden. Es war jett ganz Nacht und viel zu dunfel, 
um den Horatius hervorzuholen und, mit dem Zeigefinger zwi⸗ 
fchen die Blätter greifend, fich ein Vaticinium aus ihm heraus, 
zulangen, wie man früher desgleichen fih aus dem Virgilius 
holte. Here Lambert ging deshalb einfach wie jedes andere Mens 
fchentind, wie das Schickſal ihn führte; und bis jegt hatte dass 
felbe ihn, wo nicht immer behaglich, fo doch ſtets recht vergnüglich 
durch die arge Welt geleitet. 


133 


Fünftes Kapitel. 


We ſind alleſamt in dieſer argen Welt gleich Kindern, denen 
das Schreiben gelehrt und vom Meiſter die Hand geführt 
wird. Nun gingen wir nur allzu gern ſofort dem Bruder Hen⸗ 
ricus nach; allein fchon hat man ung auf die Schulter geflopft 
und nach einer anderen Nichtung hingedeutet. 

Wie die beiden anderen, die mit ihr den wilden Strom über; 
fhifft hatten, war die Kröppelsfeah nach Haufe gegangen. Und 
wenn der Pfarrherr von St. Kilian hinter der vor dem Neffen 
verriegelten Tür fein Weib am warmen Dfen, wenn der Mönch 
von Eorven feine Zelle fand, fo fand die Greifin ihre Heimat in 
Drdnung — wie die Zeitläufte e8 erlaubten. Fünfzig Mann von 
einem pifardifchen Musketierregimente hatten in ihrem Haufe 
gelegen und e8 fich darin während ihrer Abweſenheit behaglich 
gemacht! Die Haustür war halb aus den Angeln geriffen, der 
größte Teil der Fenfterfeheiben auch hier zertrümmert, Samt; 
liches Gerät war in Stüde zerfchlagen worden. Die Wände waren 
vom Rauch geſchwärzt und fonft befudelt und mit Namen und 
wüſten Zeichnungen verfaut: die fremden Gäfte hatten nicht alle 
fchreiben können, aber fie hatten ſämtlich zu zeichnen verftanden — 
und wie! 

Die fünfzig franzöfifchen Kriegsmänner haften das Juden; 
haus für ſich allein gehabt; aber noch am Tage ihres Abzuges 
mit dem Heren von Fongerais oder vielmehr am Abende diefeg 
Tages hatte fich jemand eingefunden, der eine Weile ſtarr mit 
gefalteten Händen und unterdrüdtem Schluchzen ob der Wüſtenei 


134 





daftand, big er in ein lautes Weinen ausbrach; und diefer Jemand 
war ein Heines Mädchen von vierzehn Jahren, der Greifin legte 
Entelin, gewefen. Wo das Kind fih während der leiten wilden 
Wochen verborgen gehalten hatte, war dem Stift und der Stadt 
gleichgültig; wenn auch ung nicht. Jet war e8 wieder da und 
weinte auf den Trümmern des Haufes feiner Großmutter gerade 
fo laut und bitterlich wie weiland der Prophet Jeremias auf den 
Trümmern der großen Stadt Jeruſalem. 

Doc) das Kind hatte fich gefaßt. Es war eben auch ein Spröß; 
ling jenes tapferften aller Völker, das fih auf jedem Brandſchutt 
feines Glüdes ſchier noch hartnädiger ald das deutſche Volt 
mit feinen Wurzelfafern wieder anzuheften wußte. Vor allen 
Dingen hatte das Kind aus dem Haufe der Glaubensgenoffen, 
in welchem es von der Barmherzigkeit aufgenommen worden 
war, ein Lämpchen geholt und mit diefem in der Hand feine 
fehwere Arbeit angefangen. Das Heine Judenmädchen hatte das 
Haus gereinigt! 

Mit feinem Lämpchen in der armen, winzigen, zitternden 
Hand fuchte es das verwüftete Haus ab vom Keller bis zum 
Boden, und häufig ftöhnte es und rief den Gott feines Volfes 
an, wenn e8 wieder ein fchlau und ficher angelegtes Verfied von 
der in diefen Angelegenheiten noch fchlaueren, auch auf dergleichen 
ausftudierten Soldatesfa des Heren Marfchalls von Turenne 
aufgefunden und ausgeftöbert fand, Und das Kind war ganz 
allein in feiner Not gewefen. Niemand hatte fich darum gefüm; 
mert in Hörter, wenn der Schimmer der Heinen Lampe bald hier, 
bald dort an einer der leeren, ſchwarzen Fenfteröffnungen vor; 
überfiimmerte, Der Volks⸗ und Glaubensgensffe Meifter 
Samuel hatte die Lampe hergeliehen; fein Weib Siphra hatte 
einen Handkorb mit ‚einem ſchwarzen Brot, einem ſchlechten 
Meffer ohne Griff, einen irdenen Krug und einen mit Draht um; 
flochtenen Kochtopf dazugetan: 

„Wie würden dir die Tafchen mit Gold und Silber füllen 


135 


und dir eine Herde von Zidlein und Bödlein ooraufgehen und 
dir einen Wagen voll Mehl und Honig und Öl und Gewürz nach; 
fahren lafien, wenn wir's fünnten; aber wir fönnen’s nicht, 
Simeath!” hatte man in Meifter Samuel Haufe gefagt. 

„Da haft du noch einen Beſen; es ift wohl der fehlechtefte, 
aber wir brauchen alle übrigen felber,” Hatte die Frau Siphra 
hinzugefügt, und fo war das Kind mit herzlihem Danf und über; 
frrömenden Danfestränen gegangen und hatte e8 dem König 
Louis, dem Bifchof von Münfter, dem Herrn von Turenne, dem 
Heren von Fougerais, dem Stift und der Stadt zum Troß 
möglich gemacht, fich einzurichten, bis die Großmutter heim; 
kehrte. 

Nach dem Hofe zu gelegen, befand ſich im oberen Stockwerke 
des Hauſes ein enges, dunkles Gemach, in welchem monsieur le 
Sergeant mit feiner Zuhälterin, einer dicken Champenoiſe aus 
Troyes, fein Quartier aufgefehlagen gehabt hatte und dag dem; 
nach nicht ganz fo ruiniert worden war als die übrigen Räume, 
In diefer Kammer ftand noch das Bett aufrecht, ſowie auch ein 
Tiſch, dem nicht mehr als ein Bein abgefchlagen worden war. 
Zwei oder drei noch fißgerechte Schemel waren auch dem ſcherz⸗ 
haften Mutwillen des abziehenden Heeres entgangen. Schlimm 
genug fah e8 freilich auch hier auf dem Eftrich, in den Winkeln 
und an den Wänden aus, und das Bettzeug warf Simeath fofort 
mit Schaudern in den Hof hinunter, Jedoch da war der Beſen 
und die fleißige, harte, Eleine Hand! Um Mitternacht war das 
Stübchen gekehrt, der Tisch feftgeftellt und vom nächften ver; 
laffenen Kavalleriepoften in der Gaffe ein zurücdgelaflenes Bund 
Stroh in die Bettftelle der Mamzelle Genevion heraufgefchleppt: 
eine Viertelftunde nach Mitternacht lag Simeath in diefem Stroh 
und fchlief der Heimkunft der Großmutter entgegen. 

Mie das Kind erwachte — vielleicht aus einem glücklichen 
Traume! — wie e8 aufrecht faß und fich verftört zum Bewußtfein 
fommend, in der Scheußlichkeit rings umher umfah; wie e8 den 


136 








Tag bis zur abermaligen Dämmerung des Abends hinbrachte, 
wollen wir auch nicht befchreiben. Wir fahen die Großmutter mit 
ihrem Bündel, von dem Spott und den böfen Bliden der Wacht; 
mannfhaft an der Weferfähre verfolgt, hHumpelnd ihren Weg 
nach ihrer Behanfung zu nehmen. Wir malen ung in der Phan⸗ 
tafie aus, wie fie vor dem Haufe fand und nach den gerbrochenen 
Scheiben hinaufftarete, wie fie dann über die zertrümmerte 
Schwelle durch die türlofe Pforte trat, und wie ihre Enkelin auf; 
fhreiend und mit ausgebreiteten Armen ihr entgegenlief und 
umherdeutete: 

„Sieh! ſieh! — Alles hin! nichts heil; — alles voll Ekel 
und Graus; — alles wüſte, alles von den ſchlechten, wilden 
Menſchen zugrunde gerichtet!“ 

Nachher hat die Greiſin das Haupt geſenkt und einen Spruch 
in der Sprache ihrer Väter geſagt. Nachher hat das Heine Mäd; 
chen die alte Mutter die Treppe hinaufgeleitet und fie in das 
gereinigte Stübchen geführt. Nachher ift e8 wieder ganz Nacht 
geworden; die Fleine Lampe aus dem Haufe des Meifterd Samuel 
und der guten Frau Siphra brennt auf dem Tifche, der von 
Simeath fo fünftlich zum Stehen gebracht wurde. Großmutter 
und Enkelin ſitzen an diefem Tifch einander gegenüber, Das 
Bündel mit der Erbfehaft aus Gronau im Fürftentum Hildes; 
heim liegt unter dem Tifche. 

„Mein gut Kind, wie oft hat der Feind oder dag böfe Volk in 
der Stadt diefes Haus umgeftürzt, feit ich Atem ziehe? Wer fo 
weit herkommt aus der Zeit wie ich; wer den tollen Chriftian und 
den Tilly, den Heren von Gleen, die Herzogin von Heffen, den 
Seldmarfchall Holgappel, den Wrangel und fo viele Hleinere wilde 
Heeresführer vorüberreiten oder über fich wegtreten ließ, der 
macht fich wenig mehr aus dem Herren von Turenne und dem 
Heren von Fougerais! Ich fehe nur wieder, was ich ſchon ein 
Dutzend Male fah. Es ift eine Zeit, in welcher der Menfch das 
Schlimmfte als das Gewöhnlichfte hinnimmt. Weine nicht, mein 


137 


liebes Herzchen, du bift jung und magſt noch in eine reinlichere, 
beſſere Zeit hineinleben !“ 

So hatte die Kröppel⸗Leah getröftet, und währenddeſſen hatte 
der Paftor zu St. Kilian in der befannten Weife feinem Neffen 
eine recht gute Nacht gewünfcht; währenddeſſen hafte der Student 
feinen Tröfter im Jammer, den Horatius, dem Bruder Henricus 
zum Kauf oder für ein Abendeffen und Nachtquartier hingehalten; 
währenddeſſen — war von der Erbſchaft der alten Jüdin an 
einem Drte, den wir jeßt erſt betreten, die Rede, 

Am Corveytor in einer Schenke, die im Schild als Zeichen 
einen Mann führte, welcher in einem Ölfeffel tanzte, in der Kneipe 
„sum heiligen Vitus“ wurde von dem Bündel der Kröppel⸗Leah 
gefprochen. 

Der Student, Here Lambert Tewes, war dreimal in das 
gerbrochene Mauerwerk früheren ftädtifchen Wohlbehagens 
hineingefappt und hatte fih nach den Ruderibus der Herdftellen 
hingetaftet: 

„Brr,“ hatte er jedesmal geächzt, und zum vierten Male 
wiederholte er den Verfuch, fich ein Nachtlager unter den Ruinen 
des Dreißigjährigen Krieges in Hörter zu fuchen, nicht. 

„Basolamano, messieurs, meine hochgünftigen Herren!“ 
fagte er höflich beim Eintritt in die Kneipe zu Sankt Veit am 
Corveytor; ein heller Jubel und lautfiimmiges Halloh begrüßten 
ihn dagegen. 

Dis auf den Stadtkorporal Polhenne waren fie allefantt 
wieder vorhanden und noch einige ihres Gelichters dazu, Eine 
faubere Gefellfchaft, meiftenteils auch bereits halb angetrunken 
und zu jeglichem Schabernad und Unfug bereit! Da war auch 
ber Schulfamerad Wigand Säuberlich, mit dem die Hörteriani; 
(hen Scholarchen ihren gelehrten Kohl nicht hatten ſchmalzen 
fönnen; und diefer, nämlich der Säuberlich, war's auch hier, der 
den Studenten zuerft wieder am Knopfe faßte, ihm mit einem 
ſchäumenden Bierfeug unter den Bart trat und ſchrie: 


138 








„Da haben wir ihm! Kerl, wo haft du geftedt? Seit einer 


Stunde fehnen wir ung nach dir wie eine alte Jungfer nach dem 


Hochzeiter. Juchhe, jett ift der Ofen geheigt und der Braten fertig! 


Tragt auf, gute Gefellen; Meffer und Gabel heraus! Du gehft 


Doch mit ung, Lambert?” 
„Wohin, Signor Strillone?” 
„Keine fremden Zungen jeßo, Alter! Wir verbitten ung das, 
Du gehft mit ung, wohin wir dich führen werden.” 
„Schlecht Wetter draußen —“ 
„Uber gut genug, um eine luftige Nacht daraus zu machen in 


‚Hörter! Sämtliche gegenwärtige, ehrbare und fröhliche Kum; 


panei, Mann für Mann, geht mit.“ 

„ber zuerft will ich doch wiſſen, was es gibt, Gevattern“. 

„Hunger und Wut, Herr Doktor!” ſchrie's aus dem Haufen. 
„les, was die Franzoſen ung gelaffen haben.“ 

„Und einen elenden Durft dazu!“ 

„sa faufen könnt Ihr, aber e8 ift das legte vom Faß, und 
fein allerletes gibt e8 offenkundig in Hörter! Gerade deshalb 
wollen wir die Kellerfchlüffel holen, Die Lutherifchen fallen auf die 
Katholifen und umgekehrt. Daß wir deinem Onfel auch in der 
Vergadderung einen Befuch machen, wirft du ficherlich nicht übel; 
nehmen, Lambert,” 

„Scabies capiat — der Teufel Hole meinen Herren Onfel!” 
rief der Student; Doch jegt nahm ihn Hans Vogedes am Arm 
und flüfterte ihm zu, um, wie er meinte, fein leßtes Schwanfen 
und Überlegen triumphvoll zu befiegen: 

„Und nachher oder darzwiſchen fallen wir auch den Juden auf 
die Köpfe! Was? He? Was ſagt Ihr?“ 

Der Student ſah den Verführer einen langen Augenblick an, 
und dann ſagte er: 

„Ihr ſeid eben aus Merxhauſen, Fährmann!“ Als worauf 


beinahe ſchon jetzt der allgemeine Judenprügel hier in der Kneipe 


zum heiligen Veit losgegangen wäre. Um aber die Erwiderung 


W. Raabe, Sämtliche Werte. Serie IL. 104 
139 


des ‚Studenten und die Erbofung des Biedermannes Hans 
Vogedes vollfommen zu würdigen, bedarf e8 einer kurzen Er; 
läauferung des Wortes. 

Als nämlich der böſe Feind, der Verfucher, unfern Herrn 
Jeſus Chriftus auf die Zinne des Tempels führte, fprach er zu 
ihm — nach einer Tradition, die fich an der Wefer erhalten hat —: 
„Wenn du niederfällft und mich anbeteft, foll dir diefes alles 
gehören, bis — bis auf Merrhaufen und Sievershaufen dort im 
Solling; — die beiden Dörfer behalte ich mir vor.” 

„Aus Sievershaufen bift du nicht, Tewes,“ brüllte Hang der 
Schiffer mit erhobener Fauft, „aber deiner Ehrbarfeit wegen 
haben fie dich auch in Helmftedt nicht mit Fußtritten aus dem 
Tor gejagt. Du aufgeblafener Windfad, du Holzbock, willft 
bier und in jegiger Stunde einem braven Kerl aufmuden? Wahre 
deinen lateinifchen Schädel, du Bettelftudent !” 

Bon oben bis unten befrachtete Meifter Lambert fich den 
wütenden Strolh von neuem; dann frat er gleichmütig einen 
Schritt weiter an den Tifch, ergriff den erften beften Krug, hob 
ihn an den Mund, ließ den Inhalt bedächtig die Gurgel hernieders 
laufen, feufzte, ftieß das leere Gefäß mit einem Krach auf die 
Platte nieder und deflamierte mit vollem Pathos: 


„Wie Lamm und Wolf befehden fich 
Bon Anfang an, fo hafi’ ich dich. 
Denkt du an den Ibererſtrick 

Und an die Striemen im Genid, 
em am Bein der Schellenring, 
Monfieur, war ein befchwerlih Ding! 


Iſt das der Weg, auf dem du mich mit dir nehmen willft, o 
Menas?“ 

„Kreuz und alle Donner!” ſchrie der Fährmann, mit dem 
Schaume vor dem Mund auf den Studenten losftürgend; aber 
Wigand Säuberlich warf fich ihm vor und fing feinen Arm auf: 


140 








„Halt, Halt! Es ſteht im Buche!“ 

„Steht das fo im Buche? Steht das fo in feinem Buche?” 
fchrie die übrige Kompagneia. „Heraus damit, er ſoll's beweifen, 
der Lambert, daß das fo über den Hans gedrudt iſt!“ 

„Es fteht in meinem Buch, ihre Herren!” lachte der Helm; 
ftedter, „haltet ihn mir nur noch einen kurzen Yugenblid vom 
Leibe; ich trete den Beweis der Wahrheit an, und nachher gebt 
jedem ein Rapier; — auf die Fauft laß ich mich nicht ein mit ihm!” 

Er hatte feinen Horatius hervorgezogen und las und jeßo 
mit dem allerhöchften Pathos: 


„Lupis et agnis quanta sortito obtigit, 
Tecum mihi discordia est, 

Ibericis peruste funibus latus 

Et crura dura compede!“ 


„Saderment !” ftöhnte die ganze hochlöbliche Gefellfchaft und 
fraßte fich hinter den Ohren. „Gib dich zufrieden, Hans Vogedes, 
dagegen kommſt du nicht auf! Das ift die Zunge, in der fie Urtel 
und Recht fprechen. Das verfluchte wälſche Galgenlateinifch 
könnte einem den ganzen Spaß von vornherein verleiden. Man 
fieht dabei ordentlich den grünen Tisch mit feinem Behängfel von 
Graubärten und geifernden Rat⸗, Richters und Advokaten⸗ 
Schnauzen vor fih! Na, wer geht nun noch mit ins Pläfier?” 

Sie gingen dem „Galgenlateinifch” zum Troße alle bis auf 
den Studenten; diefer aber hielt noch eine kleine Rede. 

„Bin ich deshalb der erlauchten Mutter Julia, der göttlichen 
Karoline ducchgebrannt, um einem armen Judenweib und feinem 
Paden fehiele Blicke nachzumwerfen?! Apage, apage — weiche 
von mir, das heißt, ihr Herren, was kümmert's mich! Macht, 
was ihr wollt; aber mich laßt damit ungefchoren. Ich werde das 
Haus hier hüten und die Bank für euch warm halten.” 

Es ging noch ein Murren durch den fohlimmen Kreis, doch 
Lambert ließ fich das wenig anfechten. Er rüdte behaglih am 


10* 141 


obern Teil des Tifches neben dem Dfen in die Reihe der noch 
Sißenden, indem er das eine Bein über die Bank ſchwang. 

„Bruderherz, bedenke dich noch einmal,“ fprach ihm Wigand 
Säuberlich zu. 

„Bruderherz, dag tu’ ich auch; aber fieh mal, Hergbruder, wer 
follte denn die Hiſtorie eurer glorreichen Heldentaten auf die 
Nachwelt bringen, wenn einer eurer Knüppel mir im Durchein; 
ander das Hirn ausſchlüge?“ 

„Alſo ohne dich! Marfch, ihre Brüder! En avant, wie der 
Here Kommandante, der Hund, der Fougerais, zum Abfchied 
ſchrie. Es ift eben eine Zeit, in der jeder feinen eigenen Willen 
haben muß. Unſere Väter haben e8 ung nicht anders gelehrt!” 

„Bei den unfterblichen Göttern, fo iſt's!“ fohrie der Student, 
als aber die Rotte hinausgeftürmt war, fprang er von der Banf 
auf und auf den Tiſch und jauchzte: 

„Hörter und Corvey!“ 

Sp rufen fie dort auf der Kegelbahn, wenn alle Neune fallen, 


142 





Sechftes Kapitel. 


„De? wird eine fchöne Katzbalgerei werden! Na, Wirt, bift 
du für Stift oder Stadt?“ 

„le beide follen verreden! Komm aber erft herunter vom 
Tiſch und vertritt mir das Gefchirr nicht, 's ift das letzte, was mir 
die Welfchen heil gelaffen haben.“ 

„Da gilt's freilich Vorficht für den Neft, Alter,” ſprach der 
Student und fam dem mürrifchen Worte des Wirteg zum heiligen 
Vitus nach. Er flieg herunter von der Tafel, redte und dehnte 
fich behaglich, ſtreckte ſich ſodann lang auf der langen Banf aus, 
zog die qualmende Lampe näher zu fich heran und fchob feinen 
Lauriger jetzt als Ruhekiffen unter den Kopf. Dann fehlug er die 
Hände gleichfalls unter dem Hinterfopfe zufammen und ſah fo 
halb fchläftig und ganz gleichgültig dem leife vor ſich hinbrummen⸗ 
den Hospes zu, der die Gläfer und Krüge abräumte und von 
Zeit zu Zeit an das niedere Fenfter oder vor die Tür feiner 
Spelunfe feat, um in die Nacht hinaus; und feinen liebens⸗ 
werten Stammgäften nachzuhorchen. Aus der Tiefe des Haufes 
ertönte gedämpft das Krächzen eines Säuglings, dazwiſchen die 
fingende Stimme der Wirtin zum heiligen Veit. Auch den Wind 
vernahm man und von Zeit zu Zeit das Niederraufchen eines 
Regenſchauers. Bei allem diefen Getön entfchlummerte nach 
den geiftigen und körperlichen Strapagen des Tages Herr 
Lambert Tewes fanft und fehlief eine halbe Stunde beffer als 
vielleicht fonft irgendein Menſch in Hörter. 


143 


Nach einer halben Stunde aber fuhr er wieder in die Höhe 
und ftarrfe verbieftert um fich und nicht ohne Grund. 


Die Sturmgloden waren noch nicht ruiniert in Hörter: man 
läutete Sturm auf St. Kilian und man läutete Sturm auf 
St. Niklas! 


„Was will ung diefer Tummel doch? 
Schlagt in den Erdball mir fein Loch! 


Hallo, da find fie aneinander! Juchhe, Hörter und Corvey! 
Hörter und Corvey!“ ſchrie der Student jubelnd, und wir — 
halten ung beide Ohren zu und gehen nunmehr den Weg, den 
vorhin der gute Mönch, Bruder Heinrich von Herftelle, nach 
Haufe gegangen war. 

Heute führt eine ſchöne Kaftanienallee von der Stadt nad) 
der Abtei, und wir wiffen von mehr als einem wolfenlofen 
Sommertage her ihren Schatten zu würdigen. Damals zog fich 
der Pfad, vom Kriege kahl gefreffen, die Wefer entlang, nur daß 
bier und da ein dickköpfiger Weidenſtrunk gefpenftifch aus. dem 
niedern Ufergebüfch aufragte. Die Nacht und das Winterwetter 
hatten den Weg für fich; der Bruder Henricus zog die Kapuze 
über den Schädel und fah nicht nach rechts und links; er ftolperte 
felbft für feine Geduld auf dem durch Noffeshuf und Näderfpur 
aufgewühlten und durchfurchten Boden allzu häufig. 

„Dem Heren fei Lob!” ächzte er, als er endlich vor dem Tor 
von Corvey fand und nach der Glode des Pförtners taftete; 
allein feine Geduld follte nunmehr noch -auf die höchfte Probe 
geftellt werden. Er hätte ebenfogut vor das fchlafende Schloß 
ber Prinzeß Dornröschen fommen fünnen. 

Er Täutete, und er läutete vergeblich. 

Sie ſchliefen alle, vom Herrn Prior, Niklas von Zitzewitz, an 
bis zum Bruder Pförtner. Kein Lichtfteahl fiel aus irgendeinem 
Benfter; — wenn Vater Adelhardus, der Kellermeifter, noch Licht 


144 





hatte, fo half das Bruder Henricus fürs erfte nichts, denn das 
Gemach des Pater Kellners war gen Often, dem Fluffe zu gelegen, 
und der müde Wanderer fam von Weften vor dem Tor an. 

„DW ihe Heiligen, was hat der Böfe ihnen in den Schlaf; 
trunk gemifcht? !” ftöhnte der Bruder Henricus nach zehn Minuten 
unabläffigen Pochens, Rufens und Schellens. Nun hing er fich 
noch einmal an die Glode, und nimmer hatte er diefelbe im 
Kirchentueme fo brünftig zur Hora oder Mette gezogen. 

„Endlich !” rief er grimmig, als fich dann das Fenfter neben 
der Pforte auftat und der Pförtner die Frage fat, wer da Einlaß 
begehre? 

Das wurde gefagt und der Bruder Henricus eingelaflen. 
In früheren Jahren würde er jeßo den Torhüter an der Gurgel 
genommen haben; als alter Mann und demütiger, fanfter Dis; 
zipul des heiligen Benediktus aber begnügte er fich mit der un, 
wirfchen Frage: 

„Nun fagt nur, was ift denn eigentlich hier vorgegangen, daß 
gu diefer frühen Abendzeit das ganze Stift daliegt wie ein 
Hampfterneft im Januar?“ 

„Wohlleben und Yubilation, ehrwürdiger Herr,“ erwiderte 
der fchlafteunfene, kaum auf den Füßen fich haltende und zwiſchen 
jeglichen zwei Worten gähnende Pförtner. „Dffenes Haus — 
feit Eurer Abfahrt — wochenlang — die franzöfifche Generalität 
bei Tag und Nacht! — D, wir haben ung als freundliche Wirte 
erwiefen, mein Frater — wie e8 ung zufam, mein Frater; — 
und die franzöfifchen Herren waren auch fehr zufrieden mit ung, 
Mir haben ein gutes Gedüfte von ung mit ihnen in die Ferne 
entlaffen.” 

„Ss, fo, hm, hm,” brummte der Bruder Heinrich von Herftelle, 
„amd derweilen mußte unfereiner im unwegfamen Golling um; 
hervagieren und mit des verdrießlichen Braunfchweigers Falter 


. Küche und ladem Kofent vorlieb nehmen! Ei, ei, und ich bringe 


doch auch Borfchaft vom Gange — wichtige Nachrichten! Iſt 
145 


denn niemand von den Vätern noch wach, daß er fie mir abnehme 
und mich der Refponfabilität erledige?” 


„Keiner! Wir find alle zu Bett in der großen Müdigkeit; — 
wenn — nicht vielleicht der ehrwürdige Vater Adelhard —“ 

„Aha!“ brummte der Bruder Henricus. „Saget nichts weiter, 
mein lieber Sohn, Ich danke Euch, daß Ihr mir das Tor geöffnet 
habt; num leget Euch wieder, und Sankt Benediftug verforge Euch 
mit einem heilfamen und frommen Traum.“ 

„Such desgleichen, mein Frater,“ erwiderte der Bruder Pfört; 
ner und zog fich zurück in feine Zelle; der Bruder Henricug fand 
feinen Weg ſchon allein. 

Er tappte die Gänge und Zellen entlang, und hinter mancher 
eichenen Tür hervor vernahm er das ſonore Schnarchen der Brü⸗ 
der und Väter im Herrn. 

„Wie die Engel fchlafen fie,” brummte der Bruder Henricug, 
fügte aber fonderbarermweife an: „Na, na!“ 

So fam er vor der Pforte des Stiftstellners Adelhardus von 
Bruch an und klopfte. 

„Domi!‘ flang e8 im tiefen Baß — domi, dag heißt „Bin zu 
Haufe! Bin drin!“ 

„Gott fei Dank,“ murmelte Bruder Heinrich und frat ein mit 
dem durch die Ordensregel des heiligen Benedikts vorgeſchriebe⸗ 
nen Gruße. Wer aber nicht die Refponfen darauf fang, das war 
der Vater Adelhardus, Der war wirklich deinnen; er faß breit 
im bequemen Stuhle vor dem Eichentifch, und wenn das, was 
da vor ihm ftand, die legten Überbleibfel vom franzöfifchen Fefte 
waren, fo war’8 freilich Hoch hergegangen zu Corvey, aber auch 
noch mancherlei übrig geblieben. 

Eine Schüffel mit einem zur Hälfte leider vertilgten gefochten 
Schinken! Eine Schüffel mit dem Gerippe eines Truthahnes! 
Ein Brot wie ein halbes Wagenrad und eine Reihe von Erd; 
frügen und Glasflaſchen nebft einem Humpen, der an und für 


146 





fih, das heißt durch feine äußere Erſcheinung, ſchon das Auge 
erfreute, was auch der Inhalt fein mochte! 

„Non confido oculis meis, ich fraue meinen Augen nicht!“ 
tief der Vater Adelhardus, ein wenig lallend. „Bift du eg, mein 
Sohn Heinrich?“ 

„sch bin es, und was ich fehe, gefällt mir wohl,“ erwiderte 
der brave, alte NReiterdmann und guteBruder von Corvey, Heinz 
rich von Herftelle, 

„Cor meum prae gaudio exultat, das Herz hüpfet mir vor 
Freude. Soll ich aufftehen, mein Sohn, dir entgegenzueilen? 
Desiste, ftehe ab davon — fee dich lieber felber, denn ich weiß, 
daß man dich auf einen mühfeligen Gang hinausgefendet hat ad 
paganos, gu den Heiden — in die Wüften, per deserta ac solitu- 
dines. Ich habe dich fehr vermiſſet, mein Sohn, in dem Drangfal 
der letzten Zeiten.” 

Der Bruder Henricug ftellte feinen Stab im Winkel ab und 
fam und fah hin über den Tifch, und froh, gutmütig und heimifch- 
behaglich Tächelnd auf den Kellner im Weinberge des Herren. 

„Ich bin gewandert und habe gefehen. Sch bin zurüdges 
fommen mit Nachricht aus der Wüſte und dem wilden Wald. 
Wollen Sie den Herrn Priorem weden, mein Pater, daß ich be; 
richte, was ich fah und erkundete?“ 

„Non sum hebes nec stupidus, da müßte ich ein Efel oder ein 
Schafstopf fein. Setze dich, mein lieber Sohn, und erzähle fürs 
erfte mir, was du faheft — für die andern hat's Zeit bis morgen.” 

„Der Herr Prior hat mir aber bei feiner Seele anbefohlen, 
nach meiner Rückkehr fogleich vor ihm zu erfcheinen, fei eg bei 
Tage, ſei's bei Nacht.“ 

„Halt!“ vief der Vater Adelhard, beide weiche und breite 
Hände auf die Lehnen feines Seffels ſtützend und fich alfo mühe, 
fam erhebend: „Er erboßet ung auch, fo oft er kann; ärgern wir 
ihn desgleichen! Komm mit mir, mein Sohn Heinrich; ich wecke 
ihn dir,” 


147 


Sie wedten ihn wirklich, den Prior von Corvey, Herrn Niko; 
laus von Zißewis, und er nahm ihren Eifer auf, wie es fich 
gebührte. 

Der Kellermeifter ging zu ihm hinein, nachdem er dem Bruder 
Henricus heimtüdifchsfchalfhaft den Ellenbogen in die Geite 
geftoßen hatte. Der Bruder Henricus wartete vor der Tür; aber 
er hatte gar nicht lange zu warten. 

„Seine Hochwürden laffen dich grüßen, mein Sohn, und geben 
die ihren Segen —“ 

„And?“ 

„Er hätte mir beinahe das erfte, was ihm unter feiner Bett⸗ 
ftatt zuhanden fam, an den Kopf geworfen. Morgen bei guter 
Zeit will er mit die reden und dich anhören, mein Sohn. Wün⸗ 
fcheft du num vielleicht, daß wir auch zum Bruder von dem Felde, 
dem Vater Florentius, dem Herren Subprior, uns verfügen?” 

„Ih denke, wir laffen e8 hiermit bewenden,” meinte der 
Bruder Henricus ein wenig Häglich und verdrofien. 

„Dder zum Vater Metternich, unferm guten Probft Ferdir 
nandus?“ 

Der Bruder Henricus ſchüttelte nur den Kopf. 

„Dann komme du wieder mit mir. Ich bin der einzige im 
Stift, der dir noch ein Nachteſſen und einen Trunk verſchafft!“ 

Der Vater Adelhardus legte traulich ſeinen Arm in den ſeines 
greiſen Sohnes: „Ich ſagte es dir ja; die Mühe hätten wir 
uns erſparen können,” ſagte er, als fie wieder in feinem Ger 
mache vor dem Schinken und dem Truthahn faßen, und der 
Bruder Henricus den vorbemeldeten Humpen nach einem langen, 
langen Zuge, — wiederum feufjend, aber diesmal ganz behaglich 
— feinem — beften Freunde im Stift Corvey zum erften Mal 
zurückſchob, nämlich zu neuer Füllung aus einem der ungeheuer, 
lichen grauen Steinfrüge mit dem in Blau gemalten Wappen 
ber Abtei. 


148 





Siebentes Kapitel. 


De in Corvey die Mauern noch heil und die Türen nicht aus⸗ 
gehoben oder eingeſchlagen waren, wiſſen wir jetzt; in der 
Beziehung hatte das Stift es beſſer als die Stadt; ſonſt aber 
ließen die Zuſtände nach dem Abzug der hohen Bundesgenoſſen 
auch bei den guten Benediktinern Vieles zu wünſchen übrig. 

Der Pater Adelhardus gab nunmehr dem Bruder Henricus 
ausführlichen Bericht darüber. 

„Ich rate dir, mein Sohn,“ fprach er, „halte dich an die 
Knochen; ich habe einen harten Kampf gefochten, ehe ich fie hier 
im Klofett in Sicherheit hatte, O gula, gula hominum! Ad, 
über der Menfchen Freßgierigfeit! es war nicht einer, nicht ein 
einziger unter der Brüderfchaft, der mir die ſchmalen Biſſen 
gönnte, Aber fie follen es verfpüren beim nächften Bräu; 
Cellarius sum, ich bin der Kellermeifter! Halte du dich an mich 
und nimm vorlieb mit dem Schinfenbein; an den Puterhahn hab’ 
ich mich gehalten; doch nur weil feine Befigergreifung mir die 
größeften Angſte und Nöte verurfacht hat. Wahrlich, fie bliefen 
alle felber die Kämme auf und waren hinter mir drein mit 
kalekutiſchem Gefoller, sed palmam reportavi, ich habe obge⸗ 
fieget I” 

„Ss ſchlimm fteht e8 hier bei Euch, Vater Adelhard?” 

„Woui, mon fils. Ehe fie ung nicht neues Schlachtvieh aus 
den obern Dörfern zufreiben, ift freilich Hunger der befte Koch 
zu Corvey. An den Geflügelhof mag ich gar nicht gedenfen. 
Halte dich an den Schinken, Sohn Heinrich: Buchweizen heißt 
e8 morgen, und Buchweisen wird e8 auch übermorgen heißen. 


149 


Buchweizen, Buchmweizen, eine gefunde Zufoft; aber ich liebe dich, 
Henrice, und bin nicht wie die anderen: ich gönne dir den 
Schinken und fehe zur Seite, während du fpeifeft.“ 

Er fah wirklich weg, wenngleich tief feufzend. 

Und eg blieb freilich von dem Schinken wenig für den andern 
Tag übrig. Seit langer Zeit hatte fein Corveyſcher Mönch fich 
mit fo gutem Nechte zu feiner „Palme“ eine Märtyrerfrone ver, 
dient, wie der Vater Adelhard von Bruch an diefem Abend, 

Jetzo aber fchlug der mächtige Knochen wie Holz auf den 
Teller; der Bruder Henricus war gefäftigt, und der Humpen 
nahm feinen Weg zwifchen den beiden braven alten. Gefellen 
wieder auf. 

„Du hätteft doch zu Haufe fein follen,” fprach der Cellarius. 
„Wie es bei ung herging, als der Herr von Turenne fein Haupt; 
quartier in Hörter nahm, weißt du noch; aber wie freundlich noch 
zu guter Let der Kommandante, den Turennius ung zurüdließ, 
der Herr von Fougerais, war, das ift die num leider entgangen. 
Hoch ging’s her, bei Tage und bei Nacht. Sie konnten nicht von 
ung laffen, und e8 wäre auch Dumm von ihnen gemwefen, denn wir 
trugen ihnen auf, daß die Tifche Inadten — o, du häfteft die 
Brüder fehen follen. Das ging fo hin — unfer griechifchgelehrter 
Vater Agapetus hat e8 uns aus dem Homero verdeutfchet — 
weißt du, Sohn Heinrich, wie, wie — im Schloffe des Königs 
Odixus; und das Stift war die Königin Penelope, und die Franz 
männer waren die ambitores, die proci, die Freier! Ebibe! frinf 
aus, mein Sohn; deposuimus eos vino, wir haben fie häufig 
genug zu Boden getrunken; aber fie ftanden immer am andern 
Morgen wieder auf. Seine fürftlihen Gnaden von Münſter, 
unfer Here Adminiſtrator, können e8 uns nimmer vergeffen, 
was wir alles angeftellt haben, um hochdero Verbündeten den 
Aufenthalt bei ung kommode zu machen; ob fie ung freilich die 
Auslagen wieder erfegen werden, das ftehet wohl dahin. Man 
bat fo glorreiche Alliterte eben nicht um ein Stüd Haferbrot und 


150 





einen Trunk aus der Schelpe, was fonft ein gar fühles und ge; 
fundes Waffer fein ſoll!“ 

„Das meinte der Braunfchweiger hohngrienig auch,” fagte 
der Bruder Henricus, 

„Davon nachher. Jetzt laß dir weiter erzählen. Siehe — da . 
liegt der Schinfen — knochen! Wir hatten fie zu Hunderten in 
der Rauchfammer, einen bei dem andern; vordem ein Anblid 
des Ergößeng, nunc lugubris et tristis memoria! Weg find fie! 
Ja ja, mein Sohn, via ad coelum nonnisi lacrymis struitur — 
der Weg zum Himmel gehet durch ein Tränental. Wir hatten fie, 
Gallos, meine ich, auf. dem Tiſche und bei Tiſche. Weg find fie, 
galli et Galli. Die einen in den Mägen der andern; und wie e8 
den Hennen zu Hörter ergangen ift, das werden die nächften 
neun Monden ausweifen, Da waren fie fich alle gleich, die aus 
dem Languedoc und die aus der Bretagne, die aus der Nor; 
mandie und die aus der Pikardie, und ihr Haupthahn war nicht 
beffer als fein Volk. Diabolus accipiat animam ejus, der Böfe 
nehme ihn beim Kragen auf feinem Wege nach Weſel. Na, 
mein Sohn, du ritteft mit dem Tilly in deiner Jugend, du weißt 
Beſcheid —“ 

„Sprechen Sie jetzo das Gratias, mein Pater,“ ſeufzte der 
Bruder Henricus. „Grade weil ich mit dem Tilly ritt, will dag 
mir in diefem Momento nicht anftehen. Nachher wollen wir ung 
fchlafen legen.“ 

Das wollen wir mit nichten,“ rief der Pater Adelhardus. 
„Omnia tempestive, alles zu feiner Zeit. Habe ich mich deiner; 
halben fo heifer gefprochen, fo berichte mir num auch, was du ung 
Gutes mitbringft vom Herzog Rudolfus Auguſtus.“ 

„Das mögt Zhr nun nehmen, wie Ihr wollt,“ flüfterte der 
Bruder Henricus, „Er hatte den Wald, den Solling, gewaltig 
verrammelt, Er ftand mit Gefchüß, Neitern und Fußvolf vom 
Idth her bis an den Fluß. Bis hieher und nicht weiter! ſprach 
er, nachdem er mir feine Rüftung hatte vorweiſen laſſen. Es 


151 


wäre felbft für den Turennius ein harter Marfch durch den wilden 
Forft und die Meferberge geweſen.“ 

„Deshalb blieb er auch confortabiliter bei ung und zeigte den 
Huxarienses, den Hörternfchen, und ung feine und unferes 
+ Heren Bifchofen und Adminiſtratoren Macht und Gewalt!“ 

„Nachher fand ich heute die Weſerbruck abgebrochen.” 

Der Cellarius von Corvey neigte bedächtig das Haupt: 

„Es hat alles feine Gründe in diefer Welt. Diesmal find 
wir in Holland in Not, fonften wäre e8 ung noch länger ganz 
wohl gu Corvey geweſen; — nicht wahr, messieurss? — Uns? 
uns! lieber alter Sohn Heinrich, wir leben in einer bittern, 
verworrenen Zeit. Haben wir die Pifenierer und Musketierer des 
Braunfchweigers hier gehabt, fo könnten wir wohl auch noch 
einmal feine Artolleria über den Fluß rüden fehen. Der Herr 
von Fougerais war ein kluger Mann und marfchierte mit dem 
Bart auf der Schulter ab. Sohn Heinrich, weißt du, was mir 
ein Himmelsteoft ift in diefen fehlimmen Tagen?” 

„Run, mein Pater?” 

„Daß ich nur Kellermeifter zu Corvey bin und nicht Herr 
Chriftoph Bernhard von Galen, Bifchof zu Münfter; und daß 
nach unferes guten Abts Arnolden feligem Abfcheiden Er Admini⸗ 
ſtrator vom Stift und von hochberühmter Abtei geworden ift, 
und ich nicht Abt. Jetzo können wir zu Bette gehen, mein 
Sohn!” 

Das konnten fie freilich; fie famen nur fürs erfte noch nicht 
dazu, Sie hörten die nämlichen Gloden, von denen der Helm; 
ftedter Student, Herr Lambert Tewes, in der Schenke zum heilis 
gen Veit erweckt wurde aus feinem Schlummer. 

„St. Bitus, was ift dieſes?“ rief der Bruder Henricus, die 
Hand hinter Ohr legend. 

„Hörſt du etwas, Henrice?” 

„Es Hingt wie Sturm.” 

„Ss fummt e8 mir ſchon tagelang im Kopfe; — ich meine, 


152 





e8 liegt in der Eorvenfchen Luft. Collusio Diaboli, Täufcherei und 
Blendwerk des Teufels! Wir wollen fehlafen gehen.” 

„Nein, nein, dag ift feine Gaufelei der Luftgeifter. Sie läuten 
Sturm zu Hörter!” rief der Bruder Henricus. Er war zu dem 
hohen Fenfter mit den kleinen runden Sintigeiben getreten und 
hatte einen Flügel geöffnet. 

„Hören Sie, mein Vater?“ 

„Sohn Heinrich, du haft wieder einmal recht. Hilf mir auf; 
9, über die Heringskfrämer, fie werden wohl auch einen Brand zu 
löfchen haben! Sehen wir, ob der Himmel im Weſten rot 
wird,“ 

Auf den Bruder Henricus geftüßt, wadelte der brave Vater 
Adelhardus durch den langen Korridor in den weftlichen Flügel 
des Gebäudes, und beide Alte fahen neugierig nach der Stadt 
hin. Das Himmelsgewölbe war und blieb aber dort dunfel; 
und e8 war gleich fchwarze Nacht im Morgen und im Abend. 

„Dann ift e8 etwas anderes; und nun werden der Herr 
Prior, famt Subprior und Probft doch wohl aus den warmen 
Neftern herfürmüffen,” brummte der Cellariug, zwifchen Schaden; 
freude und eigener Unbehaglichkeit ſchwankend. 

„Ih habe e8 mir wohl gedacht; e8 fah böfe aus in Hörter, 
als ich heute abend von der Fähre fam. Die Gaffen gefielen 
mir nicht, und was darin geredet und geflüftert wurde, gefiel 
mir noch weniger.” 

„Rebellion? Tumult in der Stadt? Seditio ante portas?“ 

„Unſern teuren Brüdern zu St. Niklas war’8 auch nicht wohl 
zumute.“ 

„Alſo das alte Spiel! Trumpf Luther, — Trumpf Papſt! 
der Herr ſchütze uns, Schellenkönig — Eckerdaus! Stich Münſter 
— Stich Braunſchweig! — zieht Ihr die Lärmglocke von Corvey, 
Frater Henricus; treibt mir die Kloſtermannſchaft in die Hoſen; 
ich will die Väter und Brüder hervorpochen. O Herr von Zitze— 
witz, ach Herr von Metternich, der Herr gibt es den Seinen im 


153 


Traum. Ho, ho, heraus! heraus! all’ arme! all’ arme! Huxar 
im Aufſtande!!!“ — 

Nun war es doc fpaßig, in diefem Moment in diefem Korridor 
der großen Abtei Corvey zu ftehen und darauf zu achten, wie auf 
den Waffenruf das fonore Schnarchgetön hinter den Zellenz 
türen plöglich ftille fand — als ob ein Mühlwerk angehalten wurde. 
Dann aber polterte und grummelte 88 hinter diefen Türen, dann 
öffneten fich die erften derfelben — dann wimmelte es hervor und 
zwar aus allen. 

„St. Veit und Benediktus, was gibt e8 denn nun ſchon 
wieder?” | 

Der Bater Adelhardus Tieß fih auf Feine Antwort ein; er 
wecte den Heren Prior zum andern Mal, Der Bruder Heinrich 
von Herftelle aber, ein Mann, dem e8 ganz gleichgültig war, ob 
in feiner Abtei die fünf erften Bücher der Annalen des Tacitus 
wiedergefunden worden waren, verſtand es Dagegen noch ganz 
trefflih, eine Lärmglode zu ziehen und eine Wachtmannfchaft in 
den Harnifch und an die Spieße zu bringen. | 

Corvey Tief durcheinander: 

„St. Beit, die Braunfchweiger find über den Fluß! St. Bene⸗ 
dift, der Fougerais ift umgefehrt. Sie find im Handgemenge in 
Hörter! Aus den Betten für das Stift! Auf für Chriftoph 
Bernhard, — auf für Corvey!“ 

Die älteften Greife wanften hervor. Der Propft Ferdinand 
von Metternich kam; e8 kam der Subprior Florentins von dem 
Felde, und zuletzt kam auch der Herr Prior Nikolaus von Zitzewitz. 

„Das war mir eine ſchwere Mühe,” erzählte nachher der Vater 
Adelhardus. „Elinguis stabat, gleich einem Ölgöß, gleich einem 
Stode fand er und rieb fich die Augen. Vae turbatori; wer auch 
die Schuld davon fragen mag, — mir vergißt er die Moleftierung 
in feinem Leben nicht.” 

Dem fei num, wie ihm wolle, — fo fam Corvey auf die Beine! 

+. Hörter und Eorven! 


154 








Achtes Kapitel 


a8 ung anbesrifft, fo kamen wir von den Beinen noch gar 

nicht herunter, Verfügen wir ung zurüd nah Hörter, 
und zwar mit kühler Stirn und gelaffenem Gemüt: es ift ung 
beides vonnöten, und des leßteren rühmen wir ung vor allem. 
Der große Autor der Daffelfchen Chronik, Meifter Hans Letzner, 
natürlich ſchnöde zubenamfer der Fabelhans, konnte nicht 
kritiſchruhiger in den Wirrwarr feiner Tage oder insbefondere 
in das Getümmel des St. Vitus⸗Feſtes hineinguden, als wir 
in diefe Hörterfche Lärmnacht nach dem Abmarfch des Marfchalls 
von Turenne und des Herrn von Fougerais, 

In der Stadt war längft alles auf den Beinen! Der Grimm 
mußte heraus, und jeßt hatte eben die Gärung den Zapfen aus 
dem Spundloch getrieben: finnverwirrend ergoß fich die frübe 
Flut, und da wir von Corvey kommen und alfo willen, wie es 
dort ausfieht, fo willen wir auch, daß fürs erfte niemand vor; 
handen war, der den Slzweig über diefe fchlimmen Waffer hin; 
tragen oder noch beſſer das HI felber in fie hineingießen konnte, 
Auch die Frauen befanden fich in den Gaffen, und das war dag 
Allerfhlimmfte. Sie, die Weiber, hatten auch von der franzöfi; 
[hen Einquartierung zu leiden, und zwar in mehr als einer 
Weife, und wahrhaftig mehr als die Männer. In welchen Win; 
feln hatten fie fih mit ihren heulenden hungernden Kindern 
verfriechen müfjen! Glücklich noch, wenn fie nicht daraus hervor; 
gezogen wurden, um: die tägliche und nächtliche Luftbarfeit durch 
ihre Gegenwart zu verſchönen. Nun famen fie von ihren leeren 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie IL. 11d 155 


Speifefchränfen, verfudelten Betten, verfchweinigelten Fuß; 
böden und fuchten ihrerfeits die geeigneten Perfönlichkeiten und 
Zuftände, an denen fie ihren Grimm und Groll auslaffen konn⸗ 
ten, Katholifinnen wie Lutheranerinnen waren fich darin einig, 
daß mehreres gejagt und getan werden müſſe, ehe es wieder 
Ruhe und Anftand in Hörter geben könne, und an ihnen — den 
Hörterfchen „Dames“ — hatte der Helmftedter Relegatus, Herr 
Lambert Tewes, vor allem fein Vergnügen. 

Meifter Lambert, von feinem harten Lager in der Schenke zum 
heiligen Veit auffahrend, wie befcehrieben, ſchob den Horatiug, 
der ihm als Kopffiffen gedient hatte, in die Tafche und fprang 
vor die Tür der Schenke. Wir haben auch bereits dem Lefer 
mitgeteilt, daß diefe Kneipe am Corveytor, alfo ein wenig ent 
fernt vom Mittelpunfte der Stadt, lag. Demnach war es fill 
in der Umgegend; der ausgebrochene Tumult mwütete mehr 
in der Mitte der Stadt, und weitbeinig verfügte fih der Student 
dorthin, 

„Bas würde mir nun das befte Federbett nebft Schlafeod 
und Pantuffeln geholfen haben? Was Hilft e8 nunmehro dem 
Herrn Oheim, daß er die Zipfelfappe über die edlen Ohren 409? 
Muß er nicht auch heraus? Er muß! Sa, ja, wieder hat es ſich 
gezeigt, daß die Bank das einzig richtige Lager für die Zeitum; 
ftände iſt. Paratus sum! und hinein mit Luft und Mut in des 
Säkulums Pläfter und Yokofität. Ein einziger Jammer ift es 
nur, daß man hier nicht rufen kann: Burfche "raus! wie unter 
den Fittichen der hochgelobten Julia Karolina,“ 

Es ging auch ohne das, Bon einem heftigen Zulauf des 
Pöbels mitgezogen, tauchte er, natürlich mit dem altbefannten 
Quo, quo scelesti ruitis, jedoch ohne das diesmal in deutfche 
Reime zu bringen, zuerft vor der Intherifchen Pfarrei aus dem 
wüſten Schwall auf und ſchwang fich auf einen Prellftein; natürz 
lich nur, um beffer fehen zu fünnen, was man eigentlich mit den 
lieben Verwandten im Sinne habe. 


156 





„Sieh, ſieh!“ fagte et, und die Szene war in der Tat recht 
furtög zur betrachten. Die fatholifchen Huxarienses ffürmten die 
Iutherifche Pfarrei und waren natürlich zuerft auf die Frau 
Paſtorin geftoßen, die von der Pforte ihres Haufes aus, mit dem 
Befen in der Hand, den tollen Haufen fürs erfte noch mit merk; 
würdigem Erfolg befämpfte. Über fein Weib weg fprach der 
ehrwürdige Herr mit hocherhobenen Armen Vernunft und diefeg 
ganz vergeblich; — fein Küfter war’g, der im Turm von Gt. 
Kilian am Glocdenfeil hing und für die Augsburgifche Konfeffion 
um Hülfe läutete, während von St. Nikolaus herüber das Ge; 
laut fam, das für den zehnten Klemens — Altieri — ſich an die 
ftädtifchen Auktoritäten, das Stift Corvey, den Bifchof von 
Münfter und den dunfeln, ftürmifchen Nachthimmel wandte, 

Sie hatten Fadeln mitgebracht, die Tumultuanten, um ja an 
feinen Stein auf ihrem Wege zu floßen. Bei dem fladernden 
Lichtfchein beobachtete der Student alles ganz genau, hielt fich 
jedoch feinerfeits vorfichtig fo viel als möglich im Schatten. 

„Coraggio, chere tante,“ jauchzte er, „Sieheft du, Freund 
Säuberlich, dag heißt man eine treffliche Quart. Pariere den! ... 
Hut, der faß wieder, gerade auf dem Schnabel. Siehft du, mein 
Sohn, da haft du dein Maul voll von dem franzöfifchen Nachlaß 
in den Goffen von Hörter! O papae, fchlägt die Papiffa eine gute 
Klinge oder beffer einen faftigen Befen !” 

Das tat fie; allein zulett half eg Doch wenig gegen den über; 
mächtigen Andrang. Sie wich, und wäre die Päpftin Johanna 
an ihrer Stelle gewefen, fo würde die auch gemwichen fein. Der 
Student auf feinem Steine drüdte die Fauſt auf die Milz: 

„Was fällt er ihre denn in die Parade? Soll das Wort hie 
mehr helfen als die Tat der Heldin? Retro retrorsum, Domine 
Pastor, halten Sie fich nicht auf! Herr Onkel, — da, da!“ 

Es War ungefähr fo. Der würdige Herr von St. Kilian 
hatte eingefehen, daß hier fein Wort von fo ſchlechtem Nutzen 
fei als der Beſen feines Ehegeiponfes. Er harte den Arm der 


ı1* 


157 


Gattin erfaßt und zog fie rückwärts die Treppenftufen hinauf in 
die Pforte des Haufes. Hinter ihnen drein brüllte der Haufen, 
hinter ihnen drein lachte der fchadenfrohe Neffe: 

„Hola, e8 ift nicht das erſte Mal heute, daß Ihr fie einem vor 
der Nafe zufchlagt und den Riegel vorichiebt! So habt Ihr es 
denn, wie Ihr e8 gewollt habt!“ 

Contra aegida Palladis ruere, mit dem Kopf gegen die 
Schürze der Weisheit ftoßen, nannte er’8 dann, als die Borderften 
der erboften Bande, von den Hinterften gefchoben, mit den Stir⸗ 
nen gegen die verrammelte Pforte anrannten. Das Hörter 
des Jahres 1673 ließ die Knüppel fallen und griff zu den Steinen. 

Es flog der erfte gegen die Iutherifche Pfarrei, ihm folgte dag 
erfte Dutzend. Noch einen kurzen Augenblid zeigte fih Dominus 
Helmrich Vollbort am Fenfter, dann verfehwand er im Innern 
des Haufes. Die geiftliche Frau hielt fich einen Augenblid länger; 
jedoch die Ochfenaugen zerfplitterten um fie her. Sie verſchwand 
gleicherweife, während, wie der Pater Adelhardus fich ausgedrückt 
haben würde, die infestatio cum bombardis, da8 Bombardieren 
fortdauerte. Und in dem Augenblide, wo die Not am greößeften 
wurde, verftummte der angftvolle Hülferufoom Turm; eine Hands 
voll biederer Hörteranifcher Stadtinfaffen hatte die Tür des heiligen 
Kilianus, durch welche der Küfter eingefchlüpft war, erbrochen, 
hatte den Küfter am Werf und am Seil gefunden, und — jetzt 
läutete er nicht mehr, fondern aber e8 wurde auf ihm geläutet; 
er befam Prügel, entfegliche Prügel. 

Zerreißen, um an zwei Orten zugleich fein zu können, konnten 
wir ung leider nicht, aber daß die Katzenmuſik, welche die Iutheris 
fchen Huprarienfer zu Ehren des franzöfifhen Abmarſches den 
Minoriten bei St. Niklas beforgten, nicht geringer ausfiel als 
die bei St. Kilian, das können wir auf unfer Wort und unfere 
Ehre verfichern! Die katholifche Pfarrei litt nicht wenigek von den 
Freunden unferes Freunds Lambert Tewes als die Iutherifche; 
das Schaufpiel war das nämliche dort wie hier, Es fiel in Wort 


158 





und Werk nichts daneben, und der einzige Troft für die Herren 
bei St. Niklas am Klaustor lag einzig und allein in diefer böfen 
Nacht darin, daß es den „Herren von ber andern Seite” gerade 
fo ergehe: ein leidiger Troft ift eben auch ein Troſt. 

Wäre e8 nunmehr nicht unfere Pflicht, nach dem Burges 
meifter zu laufen? Durchaus nicht, denn er kommt am legten 
Ende doch immer ganz von felber, und fo auch jeßt, und zwar 
begleitet von den Ülteften und Würdigften der Gemeinde. 

Üchzend fam er, Thönis Merz der Bürgermeifter, und mit 
ihm die andern: Kaspar Albrecht der Senator und Jobs Tieles 
mann und Heinrich Kredler und Hans Jakob zum Dahle, und 
Hans Freifen und Hans Sievers und Hans Tropen und Hans 
Heinrich Wulf und Heinrich Voßkuhl und Adam Sievers, die 
Dechanten von den Gilden und Konrad Kahlfuß der Gemeinheit 
Meifter! Sie erſchienen, um Ordnung zu fliften, und etwas 
Großes war das auch gar nicht, wenigftens an dem Drfe, an 
welchem fie jeweilig auftraten. 

„De Burgemefter!” frächzte eine Stimme im Haufen, und 
fofort fam ein Schwanfen und dann ein Erftarren in die wogende 
Flut. Kopfüber ſtürzten die Angreifer von den Treppenftufen 
des Parrhaufes hinunter, auseinander ftob der Pöbel, und der 
Konful fließ dem Senator den Ellenbogen in die Seite und fprach: 

„Gevatter, was habe ich gefagt?!“ 

Ob e8 aber mehr darauf, was er gefagt hatte, oder was der 
Herr Pfarrer und die Frau Pfarrerin jego fagten, ankam, dag 
wollen wir dahingeftellt fein laffen. Wer da fagt: Racha! der 
ift des Rats fchuldig; und es wurde dergleichen ausgerufen; 
— fehen wir zu, wo derweilen unfer Helmftedter geblieben iſt. — 

Wenn das erbofte katholifche Volk bei St. Kilian auseinan⸗ 
der gelaufen war, fo war's danach freilich noch nicht ruhig nad 
Haufe und ins Stroh gegangen, fondern im Lauf durch die 
Gaſſen St. Niklas zu. 

Leichtfüßig war der Student von feinem Edftein herunter; 


159 


gefprungen. Er hatte alles hier in Dbacht genommen, was ihn 
intereffieren konnte, doch die Blüte des Spaßes pflüdte er num 
erft ab. 

Der Platz vor der Pfarrwohnung war leer. In der wieder 
geöffneten Tür ftanden heftig geftifulierend der Onfel und die 
Tante, auf den Treppenftufen der Bürgermeifter mit der Hand 
auf der Bruft, am Fuße der Treppe in einem Halbfreis der Chor 
der Senatoren, Patrisier, Tribunen und Gilden-Hauptleute. 
Gravitätiſch ſchritt jegt Herr Lambert Tewes aus der Dunkel⸗ 
heit hervor, in das Licht der Laterne, die der Gemeinheit Meifter 
Konrad Kahlfuß trug, hinein, 309 höflich den Hut, verbeugte fich 
tief und richtete an die Herrfchaften das, was achtsig Jahre fpäter 
die Literaturbriefe, wenn fie Heren Dufch vornahmen, „mit unfern 
salanten Briefftelleen die Eourtoifte nennen.“ Dann fehritt er 
langfam querüber in die nächfte Gaffe und Tief, fobald er der 
enfrüftefen Auctoritas aus den Augen war, fo fchnell ihn die 
Füße trugen, dem Tumult bei St. Nikolaus gu: 


„Wer fürchtet des Skythen, des Parthiers Wut, 
Mer ſcheuet Germaniens greuliche Brut? 

Nun fit man geruhig beim fröhlichen Schmaus, 
Es fchändet fein Frevler des Biedermanns Haus!“ 


Hiemit, dag heißt mit diefem heitern, wenn auch nicht völlig 
zutreffenden Zitat aus der fünften Ode des vierten Buches 
der Lieder des Quintus Horatius Flaccus fam er an bei den 
Minoriten am Klaustor und wiederum ganz im richtigen Augen⸗ 
blid, 


160 





Meuntes Kapitel. 


(5% zur richtigen Zeit, denn eben fchwieg die Fatholifche 
Sturmglode, und befam der Fatholifche Küfter gleichfalls 
Prügel. In ganz Hörter aber hatte Lambertus feinen beſſern 
Bekannten als Jordan Hunger, den katholiſchen Küfter; diefer 
sing noch über den Fährmann Hans Vogedes, den Korporal 
Polhenne und Seine Hochedelgeboren Herrn Wigand Säuberlich, 
der mit dem Studenten dem, Ontel Vollbort durch die Schule 
gelaufen war und wie er, Meifter Tewes, auf feiner Seite Partei 
nahm, fondern auf jeder nur fein Vergnügen. 

Diefes Vergnügen war nunmehr vor der Pfarrwohnung 
der von Chriftoph Bernhard bei St. Nikolaus eingefegten Ming; 
riten im vollen Gange. Der von St. Kilian herſtrömende 
katholiſche Haufen fiel dem Iutherifchen beim heiligen Niklas 
nicht in den Arm, fondern in die Arme, Im legten Grunde 
hatten fie alle nur den einzigen Zweck, Unheil zu fliften, und das 
verrichteten fie denn auch, und zwar ohne jegliche Courtoiſie. Das 
Steinbombardement auf die Fenfter der Fatholifchen Herren 
wurde ebenfo fräftig unterhalten, wie das auf die Fenfter des 
Onkels Vollbort. 

„Sieh, ſieh!“ ſagte auch hier wieder der Studente fröhlich; 
doch eben, als er ſich von neuem auf den Prellſtein ſchwingen 
wollte, faßte ihn ein Weib am Rockſchoß, zog ihn zurück und 
zeterte: 

„Am Jeſu Chriſti willen, Herr Magifter, fie haben meinen 
Mann totgefehlagen! Er liegt unter den Gloden, und fie tanzen 
auf ihm herum!” 


161 


„O mon dieu!‘ rief der Confiliatus, „Iſt Sie es, Gevatterin? 
Mon dieu, und er war doch fo gut Freund mit dem Fougerais 
bei unferm legten Disput!“ 

„Dafür haben fie ihn auch windelweich gefchlagen, und er liegt 
unter feinem Seil. D Lambert, kommt und helft mir, laßt Euren 
beften Kameraden nicht umkommen. Sie fagen, das Stift fei 
auf dem Wege hierher; aber was hilft dag mir, wenn fie mir 
meinen Mann vorher zunichte gemacht haben. Das leiden wir 
nun um Corvey!“ 


„Hörter und Corvey!“ jauchzte der Student, und dann ließ er 
fih von der Küfterin den Gloden von Sankt Nikolaus nur zu 
gern zu ziehen. Der Spaß war ihm im diefer Nacht eben überall 
in Huxar. 

Weggelaufen war der unglüdfelige Monſieur Jordan nicht aus 
feinem Turmgemwölbe während der Zeit, daß fein Weib hinge— 
gangen war, die barbarifche Welt um Hülfe anzufchreien,. Er 
lag unter feinem baumelnden Seile noch da, wie ihn feine nichts; 
würdigen Feinde und feine brave Gattin verlaffen hatten, mit 
der Nafe im Staube. Seine Schultern zudten, er zappelte mit 
den Füßen und ächzte jämmerlich. 


Mit der Nafe im Staube! und der Student wußte fofort ein 
Zitat aus dem Horaz und trug natürlich dasfelbe dem Unglüd; 
lichen, Geſchlagenen erft Iateinifch und fodann in fwier deutſcher 
Uberſetzung vor: 


„So ſtürzet der Tannbaum mit donnerndem Hall, 
So liegt nun der Küſter nach furchtbarem Fall! 

Im Blachfeld des Teukrers, dem Feinde zum Raub, 
Druckt itzt Don Bravatſcho die Naf’ in den Staub!” 


„Hu,“ woinfelte der Küfter von Sankt Niklas, „bift du’g, 
Lambert? Iſt meine Frau auch da? Hu, dreht mich um — um 
Gottes Barmherzigkeit fachte! vorfichtig, fachte. Die Teukrer, 


162 





oder wie das Dorf heißt, waren es nicht; der Teufel vergelte es 
den Hörterfchen Böfewichtern, die mich um der Kirche willen fo 
greulich zugerichtet haben. D, o, o, das ift viel fchlimmer als die 
leßte Schlacht um die Boffeborner Laterne — weißt du, Lambert, 
die vor drei Fahren, in der du auch einen Prügel führteft, obgleich 
e8 dich als Iutherfchen Ketzer gar nichts anging.“ ' 

Der Student hatte den Armen weich und vorfichtig unter den 
Yrmen gefaßt, während die Frau Küfterin die Füße gehoben 
hatte, um den halb Geräderten auf den Rüden zu legen; aber 
der Küfter hatte zu feinem Schaden fein leßtes Wort hervor; 
geſtöhnt. 

Als Herr Lambert Tewes von der letzten Boſſeborner Laternen⸗ 
ſchlacht hörte, ließ er ſofort los und ſtreckte, um einem ganz 
andern Gefühl als feinem Mitgefühl Luft zu machen, die aus; 
gefpreiteten Hände hoch in die Luft. 

Mit einem lauten Auffchrei fiel der Küfter wieder auf das 
Geſicht; doch Iuftkreifchend fehrie der Student: 

„Bei den unfterblichen Göttern, die Boffeborner Laternen; 
fchlacht! Ei freilich, Jordan, von dorther bift du's fchon gewohnt, 
den Mund voll der ernährenden Erde zu nehmen. Du friegteft 
wahrlich dein gut Teil ab von der Prügelfuppe in der Küfter; 
ſchlacht.“ 

„Aber es war doch eben eine Küſterſchlacht!“ winſelte Jordan 
Hunger, „eine katholiſche Küſterſchlacht! wir ſchlugen uns doch 
nur unter ung ſelber um die Ehre Gottes; aber diesmal — “ 

Er vermochte e8 nicht, feinen Sat zu Ende zu bringen; jedoch 
der Student nahm ihm das Wort fröftend ab: 

„Sei nur fill, Alter, das Martyrtum ift auch um fo größer.“ 

„Hu, das brauchft du mir wahrlich nicht zu fagen,” ftöhnte 
der Märtyrer, und während man ihn von neuem ummendet 
und fürs erfte mühfam in eine figende Stellung bringt, können 
wir unferen Lefern mitteilen, was e8 mit der Boffeborner Laterne 


auf fich hat. 
163 


Heute geht das Ding als eine Sage um, mit welcher fie Die 
von Boffeborn vom Dorfoorfteher bis zum legten Koffaten bei 
jeglicher paffenden Gelegenheit bis aufs Blut, wie die eine Redens⸗ 
art, oder bis zum Schwargwerden, wie die andere heißt, ärgern. 
Sie, die Boffeborner nämlich, follen, von einer Hochzeit nach 
Haufe ziehend, ihren Weg durchaus nicht mehr gefunden haben, 
fondern arg in Geftrüpp, Sumpf und Moor verloren gegangen 
fein. Da foll denn der Küfter, der Nüchternfte in der Gemeine 
(Sofrates beim Sympoſion Platonis!) ihnen geleuchtet haben, 
und zwar auf abfonderliche Art. Man fagt, er habe einen Einfall 
gehabt, felber ein Licht unter den Umftänden; er habe den Hem; 
denſchwanz hinten aus den Hofen gezogen und niederhängen 
laffen, und der habe hell genug durch die Nacht gefchtenen, um 
der Bauernſchaft als Laterne zu nügen. So fei der Küfter von 
Boſſeborn vorangeſchwanket, ihm nach der Vorfteher, dem nach 
der Gemeinderat und dem wieder die torkelnde gemeine Bauern; 
ſchar, im Gänfemarfche alles — einer hinter dem andern — ein 
ewig memorabler Zug bis insg Dorf hinein, 

Die Geſchichte ift gut; wenn ihre nur fo wäre! Aber die Sache 
hat einen ganz andern und viel ernfihaftern Angang. 


„Bann fompt in Sommer Sanftus Veit, 
Sp endert fih beid Tag und Zeit. 

Dem fchlaff geht zu, dem Wachen ab, 
Wie fih das alter neigt zum Grab, 

Und wer dan hat der pfenning viel, 

Der mach ſich auff zu diefem ziel, 

Und mwander hin wol nach Sankt Veit, 
Ahr kann man werben Teichtlich queid —“ 


fingt bei Hans Letzner ein „rechter erfahrener Landtkündiger“; 
und von ber geoßen Prozeffion nach Eorvey auf Sankt⸗Vitus⸗ 
Tag ſtammt die Laternenfrage her, fomwie jede Schlacht, die an 
dem Tage darum gefehlagen wurde; vorzüglich aber Die des Jahres 


164 





Siebenzig, welche eine der hartnädigften und blutigften war, 
infolge der Indulgenz, die Seine Heiligkeit Papft Clemens IX. 
kurz vor feinem feligen Abfcheiden auf den Tag für dasmal 
gelegt hatte. 

Nun war e8 aber ein alt Herkommen, daß die jüngfte Pfarrei 
den feierlichen Zug eröffne, — das Ältere und Würdigere folgte, 
der Neihe nah; und alſo — follten Die von Boffeborn 
voran „mit der Laterne” und wollten“s natürlich den Oven⸗ 
häufern zufchieben, die ihnen folgten: hinc illae lacrimae! 
Denen von Dvenhaufen gingen nach Die von Fürftenau, diefen 
die Boedexer, diefen die AUmelunger, diefen Die von Wehrden 
und Jakobsberge. Dann zogen Dftbergen und Bruchhaufen, 
nachher kam das Dorf Stahle, nachher Die von Albaren, Brend; 
haufen, Lüchtringen und Godelheim. Zuletzt aber Fam dicht vor 
den Reliquien des Heiligen die Stadt Hörter mit ihrer Stadt; 
mufif, zufammen mit den Corveyern. Noch hinter dem heiligen 
Veit 409 das Kapitel auf, ſowie der braunfchweigifche Gefandte 
mit einem Heinen Abtsftab in der mit einem Velum bededten 
Hand (auch nach der Reformation und als Proteftant !), er wurde 
geleitet vom Corveyer Marfchall. Den Beſchluß machte das 
Benerabile unter einem Baldachin, den die Hörternfchen Nobiles 
trugen, — und Jordan Hunger, der Küfter von Sankt Nikolaus, 
war im Jahre 1670 Küfter zu Boffeborn gewefen und hatte die 
Boſſeborner Laterne, d. h. die Kirchenfahne feines Dorfes tragen 
follen — — 


„Wie mancher fompt gar weil’ und Hug, 
Im Heimgehn er einen Narren trug. 
Mancher fompt daher ganz Sinnreich, 
Und geht weg ganz bös und grimmich. 
Ihr viel da kommen frifch und gefundt, 
Da gehn fie heim in Todt verwundt, 
Oder fonft gefallen, gefchlagen —“ 


165 


fingt der erfahrene „Landtfündiger” weiter, und fo war es. Sie 
fchlugen fich jedesmal wader um die Boffeborner Laterne; und 
wenn Boffeborn und DOvenhaufen zwiſchen fich den Streit be; 
gannen, fo war fein Dorf, dag zurücdbleiben wollte, fondern fie 
fielen alle drein und aufeinander. Ohne das gab e8 fein Sanft- 
Vitus⸗Feſt zu Corvey, und weder das Kapitel noch der braun; 
fchweigifche Gefandte fonnten das geringfte da tun, außer daß 
fie es abermals fertig brachten, daß auch das nächfte Mal Boſſe⸗ 
born wieder die „Boffeborner Laterne” trug. 

Doc während wir hier das Krumme gerade machten und der 
Wahrheit zu ihrem Rechte verhalfen, tobt der Mutwillen viehifch 
fort in Hörter, wird der zerfchlagene Meifter Jordan Hunger von 
feinem heulenden Weib und vergnügten Freunde nach feinem 
Bette gefchleift und — — zieht eine andere Prozeſſion langſam 
heran. Leßterer wenden wir ung jeßt zu und freffen fie auf dem 
Wege, den vorhin der Bruder Henricus zur Abtei befchritten 
hatte. Der Bruder Henricus maß diefen Weg jett zurüd, er 
befand fich mit an der Spike diefeg Zuges, der von Corvey fam. 
Er war ein Kriegsmann gewefen in feiner Jugend, und fein 
Prior, Herr Nikolaus von Zitzewitz, hielt fih an ihm und ließ 
ihn nicht von feiner Seite. Dicht hinter ihm hielt fich der Sub; 
prior Florentius von dem Felde und der Probft Ferdinandus 
von Metternich, Den guten Vater Adelhard, den Cellariug, 
hatte man feiner Unbehülflichkeit halben in diefen gefährlichen 
Nöten zu Haufe gelaffen, um dort Ordnung zu halten. 

Die Abtei zog heldenhaft nach der Stadt, um fich felber Nach; 
richt über die Vorfälle dort zu holen, da „‚impie et nefarie‘‘ ruch⸗ 
loſer⸗ und Teichtfertigerweife niemand gefommen war, um ihr 
folche zu bringen, 

Aber Corvey konnte nicht anders; Corvey mußte auf den 
Plan! Die Abtei, eben in ihren „Rechten“ durch den fremdländis 
(hen Helfer, den größeſten der franzöfifchen Feldherren, gegenz 
über der rebellifhen Bürgerfhaft von Hurar und dem braun, 


166 





ſchweigiſchen Schußheren gefräftigt, mußte alles daran ſetzen, 
daß ihr die foeben nach langem Streite endlich einmal wieder 
fefter gepadte Obergewalt nicht von neuem aus den Händen gleite, 
Es galt Hörter gegen jeglichen Feind oder Aufrührer feſtzu⸗ 
halten, und fo zog das Stift in Waffen gegen die Munisipalftadt. 
Unter Umftänden verfiand es Herr Chriftoph Bernhard von 
Galen, merkwürdig böfe Gefichter zu fchneiden, und Corvey wußte 
das und fannte daß, 

Die Lärmglocke, die Bruder Heinrich von Herftelle gezogen 
hatte, war gehört worden. Die Kloftermannfhaft war in die 
Rüſtung gefahren, die Herren Benediktiner hatten fich taliter 
qualiter felber gewaffnet, und die waffenfähige Mannfchaft des 
nächft, aber am andern Ufer der Wefer gelegenen Dorfes Lüch— 
feingen war in Kähnen über den Fluß gefommen, um der Abtei 
zu Hülfe zu eilen. Die Prioren und fonftigen Vorgefegten gingen 
natürlich nur im geiftlichen Habit, doch manch rüffiger Frater 
und Pater hatte mutig und freiwillig die Büchfe oder Halbpife 
auf die Schulter genommen und vermaß fich, Heldentaten zu 
tun, von denen der Chronift von Corvey noch nach Jahrhunderten 
zu erzählen haben follte. Der Kriegerifchfte aber in der ganzen 
geiftlichsweltlichen Heerfchar war doch Bruder Henricus, der ficher 
und männlich, troß feinem hohen Alter, mit einem gewaltigen 
Schwerte ging, das wahrfcheinlich beim Übergang der Huffiten 
über die Wefer im Klofter ftehen geblieben war; — der Zug fah 
mehr auf ihn als auf die im Fadelfchein voranflatternde Sturm; 
fahne mit dem Bilde des heiligen Dionys. Der heilige Patron 
teug feinen Kopf nur unterm Arm, der Bruder Heinrich dagegen 
den feinigen noch wader auf den Schultern. 

„Meinen Segen nimmft du mit, mein Sohn; fomme mir 
aber auch ja gefund und vergnügt wieder,“ hatte beim Abfchied am 
Kloftertor der Vater Adelhardug zu ihm gefprochen und ihn dabei 
ganz zärtlich auf die Schulter geflopft. 

Nun waren fie auf dem zerfahrenen und zerwühlten Wege, 


167 


den wir vorhin gefchildert Haben, mit der Parole: Sankt Virus! 
und dem Feldgefehrei: Abbatia urbi imperat! Corvey über 
Hörter! Nun gerieten fie in die Sümpfe, die Löcher und unter 
die harten Feldfteine, — num hielten fie, um Atem zu fehöpfen — 
und num ächzten fie wieder meiter, 

„Bruder von Metternich, das ift eine Nacht, um Anathema 
zu jagen!” ftöhnte der Prior einmal über das andere, „Was ift 
deine Meinung?” 


„Der Gerechte fiehet vor feine Füße und gehet den Weg, den 
ihn der Herr ſchickt.“ 

„Bene, bene! Wie dunkel aber die Nacht ift! Hätten wir 
doch ein jeglicher eine Laterne anftatt der Fadeln mit ung ger 
nommen! Nun hört auch das Stürmen vom Turm gar auf, 
Henrice,” 


„Es ift vielleicht doch nur ein fehlechter Gaffenlärm gemwefen, 
und die Tummelanten haben des Spaßes genug und gehen zu 
Bett,” 


„Und wir find heraus und hier mitten im Felde? O corpus 
Christi, der Bann auf ihre Häupter! — Fort, voran, ihr alle, 
wahrlich, man foll Corvey nicht ungeftraft hohnneden; abbatia 
urbi imperat, da ift das Corveytor! Ruft: Sankt Virus! und 
laßt ung einziehen I” 

Nach einem mehr als halbftündigen Marfche waren fie jett 
wirklich vor diefem Tore von Hörter angelangt; allein das Eins 
siehen ging fo leicht nicht. Fürs erfte fand das Stift die Tür 
verſchloſſen, obgleich e8 felber die Schlüffel dazu hatte — freilich 
in ben Händen feines tapfern, oben fchon benannten Haupt; 
manns Meyer, den wir ebenfalls von Perfon kennen lernen 
werden, 

„Laſſet uns anpochen,“ fprach der Subprior. 

„Das wird viel helfen, der Graben ift dazwiſchen,“ murmelte 
ber Probft. 


168 





„So laffet den Zinteniften von Corvey herfreten, Sohn Heinz 
rich. Er foll fich den Hals zerfprengen; aber ung den Pförtner auf 
die Mauer fchaffen. Das ift eine fcheußliche Nacht!” grollte der 
Prior. 

Das alte Stift hatte feinen Trompeter mitgebracht, und er 
blies, — er blies und blies fich Halb die Lunge heraus, big fein 
Blafen von der gewünfchten Wirkung war. 

Endlich, endlich flimmerten Laternen auf der Mauer, und 
dann taffelte die Brüde unter dem alten Torturm herunter; 
mit dem Hute in der Hand, von feinen Laternenträgern begleitet, 
wadelte der Hauptmann Meyer eilfertig und atemlos hervor, 
den Prior und das Stift zu begrüßen: ein freundlicher, ältlicher 
Herr, rötlihen Angeſichts, breitbäuchig und behäglich, auch 
einer der beften Freunde des Pater Cellarius, Adelhardus von 
Bruch. 

Höchft verdrießlich empfingen ihn für diesmal die übrigen 
Mürdenträger des Stiftes, 

„Sie find wirklich mit Degen und Feldbinde da, Monſieur?“ 
fehrie der Prior, „Weshalb kommen Sie nicht auch im Schlafrod 
und denen Pantuffeln, mein Herr Hauptmann? Aus dem Bett 
fommen Sie ja doch! Bei Sankt Veit, Herr, e8 geht luftig zu in 
Hörter. Die Sturmglode bringt das ganze Land in Aufruhr, 
und der Herr Kapitän drehen fich auf die andere Seite und geruhen 
weiter zu ruhen. Wo ſteckt Ihr mit Euren Leuten, Meyer? Hat 
man Euch dazu der Stadt Obhut zum zweiten Male anver; 
trauer?“ 

Der bifchöflich Münfterfche Befehlshaber ließ dieſes und noch 
eine Reihe ähnlicher Vorwürfe und Fragen wie das Hochwaſſer 
aus einem aufgezogenen Schütt über fich hingehen. Erft als der 
Prior von Corvey mit feinem Atem zu Ende war, verantwortete 
er fich oder fing wenigftens an, fich zu verantworten. 

„Aus dem warmen Bett fomme ich nicht, Hochwürden, ſon⸗ 
dern von den Wefermauern am Brudtor, allwo ich feit ange; 


169 


hobenem Tumult auf den Noht gepaffet habe nach meinem Eid 
und meiner Pflicht.” 

„uf den Noht?!“ 

„Isa, Hochwürden, auf des Herzogen Rudolf Auguften Oberft; 
wachtmeifter Noht!“ 

„Sankt Veit und Corvey, aber weshalb denn gerade auf 
den?” 

„Wer anders hat ung denn diefen Aufruhr angerichtet als 
der? Aber beim Teufel, hat er mir einmal meine Trommel ge; 
nommen, zum zweiten Male foll er fie nicht in die Tagen kriegen, 
und wenn er fich noch fo verftohlen über die Wefer fchliche !“ 

Dei Fadelfchein und Laternenlicht fah fich der Prior, Herr 
Nikolaus von Zitzewitz, verzweiflungsvoll und zweifelnd auf den 
Gefichtern feines Gefolges um. Sie grinften alle, und Bruder 
Heinrich von Herftelle lachte fogar. Es blieb dem Prior von 
Corvey nichts anderes übrig, als fich fußftampfend von neuem 
an den biedern Hauptmann zu wenden. 

„Uber um Gottes willen, was läuteten fie denn Sturm? wer 
zog die Gloden und warum?” 

„Ja, fehet, Herr Prior,“ fagte der tapfere Kapitän gemütlich, 
„da treten Sie doch näher und fehen felber. Was ung betrifft, 
ſo find wir, feit der Lärm anging, unter den Waffen und auf der 
Mauer, In das Handgemenge habe ich den Korporal Polhenne 
hineingeſchickt, doch der kann auch nichts ausrichten. Es geht eben 
wieder einmal durcheinander, Ratz, Kat und Keger, und unfere 
find auch dabei, In allen Pfarreien haben fie zu Ehren des 
hohen franzöſiſchen Abmarſches die Fenfter eingefchmiffen, und 
alle Küfter haben fie ganz oder halb totgefchlagen. Doch damit 
find fie auch zu Ende, und eben gehen fie, Ketzer und Katholiken, 
in chriftlicher Eintracht über die Juden.“ 

„Mnd dabei fteht der Menfch, lehnt fich auf die Ellenbogen 
und gudt vom Brudtor aus in die Nacht und über die Wefer nach 
dem DOberftwachtmeifter Noht aus!“ ächzte der Prior, die Hände 


170 





über dem Kopfe zufammenfchlagend. „Seine Trommel?! feine 
Trommel! Herrgott und Sankt Veit, follte man da nicht wün⸗ 
fchen, daß zehn Jahre lang die Trommel auf ihm felber gefehlagen 
würde?“ 

„Ich rate nun doch, daß wir fehleunigft in Hörter einrücken,“ 
meinte jeßo Bruder Heinrich von Herftelle, und der Prior, ganz 
und gar nicht wie ein geiftlicher Hirt, Vater und Berater, fom; 
mandierfe wütend: 

„Marſch!“ 

So zog das Stift in die Stadt und nahm auch feinen Haupt; 
mann wieder mit hinein. 


W. Raabe, Sämtliche Werte. Serie II, 12d 171 


Zehntes Kapitel. 


„Mun auf die Juden!” Wer bei Sankt Niklas das Wort zuerſt 

in die durcheinander tobende und im Unheil gemeinfchaft: 
lihe Sache und Brüderfehaft machende Fatholifche und Intherifche 
Menge warf, ift niemals hiftorifch Far geworden. Wir haben 
unferen Freund, den Fahrmann Hans Vogedes, im Verdacht. 
. Gegen die Juden ging es; — hier war dag tertium compara- 
tionis, wie der Helmftedter relegierte junge Weltweife fich aus; 
drüdte, richtig gefunden. Der Pöbel hatte fich zuerft gegen das 
Haus des Meifter8 Samuel gewälzt, und Lambert Tewes war ihm 
felbftverftändlich auch dorthin gefolgt. 

„Sin unfterblih heroiſch Poem werde ich fehreiben und 
Profeſſor der Eloquenz in Helmftedt werden. Bei Venus und 
Mars, die alten Perücken dort follen mir nicht ohne Strafe das 
Conſilium gegeben haben; als ein Faiferlich gefröneter Dichter 
will ich ſterben! Diefe trojanifche Blutnacht Haben mir die Götter 
eigens zubereitet, Es fei ihnen Dank gefagt!” 

Sp ſchrie er, und fein Horaz ſchlug ihm im Laufen an bie 
Schenkel. Wir wenden ung und fehen, wie die Kröppelsteah und 
die kleine Simeath diefe heroifche trojanifche Nacht bis jetzt hin; 
gebracht haben. 

Sie hatten kurz vor Anfang des Lärms beide todmüde in das 
Bett des Sergeanten und dag franzöfifche Kavalleriefteoh kriechen 
wollen und waren natürlich nicht dazu gekommen. Mit einem 
Angftruf hatte das Kind den Fuß vom Bettrande wieder zurück⸗ 
gezogen: 


172 








„Horch, horch, was ift dag, Großmutter?“ 

E8 waren die Hörteraner vor der Pfarrfiche von Sanft 
Kilian. 

„Laß fie rafaunen, Komm, Töchterlein, wir wollen ung 
wieder an den Tifch ſetzen. Lege deinen Kopf an mich. Wir wollen 
die Dede warm um ung fohlagen, und ich will dir erzählen wieder 
von der alten Zeit,” fagte die Großmutter, und die Enkelin fam. 
Sie fauerten von neuem zufammen vor der Heinen Lampe in 
dem falten verwüſteten Stübchen. 

„Unſere Könige waren Hirten in den Zeiten der Ehren. Aber 
die Herden weideten unter den Palmenbäumen — die Sonne des 
Heren leuchtete, das Land unferer Väter duftete nach Myrrhen 
und Weihrauch, Sie waren große Krieger in glänzenden Panzern 
und ſchlugen Schlachten — fie fürchteten niemand — fie waren 
tapferer als jeßt irgendein Heerfürft —“ 

Es ging nicht. Sie mußten zu genau auf den Tumult vor der 
zerbrochenen Tür, vor den zerfchlagenen Fenftern horchen. Auch 
die Greifin, die fo viel Brand und Blut in ihrem Leben gefehen 
hatte, mußte horchen. Das ftärkfte und geprüftefte Herz lernt da 
nicht zu Ende, 

„Sie werden auch auf ung wieder hereinbrechen !” jammerte 
Simeath. 

„Sie werden ung nichts nehmen können. Sei ftill, Liebchen, 
habe Mut. Ya, wenn noch der Riegel vorgefchoben wäre und das 
Haus reich, da wäre Grund zur Angft. Wenn das Haus noch 
wäre wie zu deines Urgroßvaters, meines Vaters, Zeiten, uns 
fcheinbar von außen, doch voll Güter drinnen, fo möchten wir 
eher Furcht haben. Was wollen fie ung heute nehmen, da wir 
nichts weiter haben als unfer Elend?“ 

„Sie haben jeßt auch nur noch das ihrige, Großmutter,“ fagte 
das Kind Hug. „Weil fie diesmal fo ſchlimm daran find wie wir, 
find fie fo wild; und fie werden um fo graufamer fein gegen ung, 
je weniger fie finden.“ 


12* 


173 


„Der Herr Gott, der Gott unferer Väter, ift unfer Schuß von 
der Welt Anfang an. Er wird feine Hand auch in diefer Nacht über 
ung halten, wie er fie feit fünftaufend Jahren über fein armes 
Volk in der Prüfung gehalten hat. Wir find dem Heren zu Ehren 
noch immer da, was fie auch mit Marter und Bosheit gegen 
uns ausgeübt haben. Horch — e8 ift Triumph! Sie wüten jeßt 
gegeneinander! Sei fill, Kind, e8 geht heute Nacht nicht gegen 
Iſrael!“ 

„Aber, Großmutter, ſie haben dich nach Hauſe gehen ſehen 
mit deinem großen Bündel. Du haſt ihnen geſprochen von deiner 
Erbſchaft, Großmutter,“ flüſterte die verſtändige Simeath. 

„Die armen Lappen!“ rief die Alte, ihr Bündel unter dem 
Tiſche näher an ſich heranziehend. „Wir ſind gewickelt in die 
Decke von dem letzten Lager deines Oheims. Das iſt aber das 
Köſtlichſte von der Erbſchaft.“ 

„Wenn ſie es glauben wollten, wären wir wohl glücklich, 
Großmutter,“ ſeufzte die Kleine, und — ſo war es, wie ſie ſagte. 

Von Sankt Kilian gegen Sankt Niklas und von dort 
vorerſt zum Hauſe des Meiſters Samuel und ſeines frommen 
Weibes Siphra! Sie brachen ein und ſtahlen, ſie ſchlugen den 
Hausherrn zu Boden und drückten ſeine Ehefrau gegen die 
Wand; ſie ſchlugen auch ſeine jungen Kinder, da kein Küſter mehr 
zu mißhandeln war, und alles ging drunter und drüber. Ver— 
geblich mwehrten Ratmannswachen und der Korporal Polhenne; 
— sie wir mwiffen, gab währenddeſſen der Stadthauptmann 
Meyer genau darauf acht, daß ihm feine Trommel nicht zum 
weiten Male vom Braunfchweigifchen Oberftwachtmeifter Noht 
abgenommen werde, Sie legten jeßo auch die erfte Brandfadel 
an, und in dem Moment, als der legte Mann vom Zuzuge des 
Stiftes Corvey in das Corveytor 308, fehlug die Flamme aus 
den Fenftern, fprang der rote Hahn aufs Dach, redte fich, fchlug 
mit den Flügeln und krähte wild hinaus: 

„Feuer! Feuerjo!“ 


174 





Jetzt fah der Vater Adelhardus am hohen Bogenfenfter im 
Korridor der Abtei den Himmel rot werden über Hörter. 

„O die Incendiarii! D, die ruchlofen Mordbrenner!“ ſprach 
er. „Haben die Bärenhäuter der Dächer noch zu viel über den 
gottverlaffenen Köpfen? Nun, ich habe den guten Heinrich ge; 
warnt, daß er fich nicht die Finger verbrenne. Der Herr Prior 
und die übrigen werden fich wohl ſchon felber zu hüten wiſſen 
und nicht zu nahe daran gehen.“ 

Darauf ließ er fich von einem Laienbruder einen Seffel und 
Fußfchemel an das Bogenfenfter rüden, fchidte einen zweiten 
Saienbruder in den Keller nach einer Flafche vom Beſſeren 
„gegen den Zorn” und ftellte diefe Flafche mit dem Glafe hand; 
gerecht in die Fenſterbank. Da faß er dann, faltete die Hände 
über dem Bäuchlein und hörte durchaus nicht, wie die älteften 
Herren Patres ihn hinter feinem Rüden mit dem graufamen 
Kaiſer Nero beim Brande Noms verglichen. In der Stummeri; 
gengaffe aber vor dem nun lichterloh flammenden Haufe des 
Juden Samuel wurde e8 unferm Freunde, Heren Lambert Tewes, 
jeßo doch gar übel zumute. 

Er lachte nicht mehr, fondern biß die Zähne aufeinander, Die 
Luft zum Zitieren des Horatius war ihm völlig vergangen. 

„Was zu viel ift, dag ift zu viel!” ächzte er. „Und dies ift eine 
Beftialität. Hierosolyma perdita? Auf für Jerufalem! Nieder 
mit den mordbrennerifhen Halunfen! Und der Monfieur 
Samuel ift der einzige in ganz Huxar, der auf ein dankbar Herz 
bei mir rechnet. Und jegt fehlen fie mir meines Vaters Tafchenz 
uhr in feinem Verſchluß! Himmel, Hölle und alle Teufel, zu 
Boden mit die, du Vieh!“ 

Das letzte Wort war, begleitet von einem Fauftfchlag, an 
einen der Tumultuanten gerichtet. Der Kerl lag fofort am Boden, 
allein im felbigen Yugenblide war auch fchon dem Studenten 
der Hut über Stirn, Augen und Ohren hinabgefchlagen, und 
er befam einen Fußtritt in die Rippen, der ihm für mehrere 


175 


Minuten den Atem benahm. Als er den Hut endlich wieder in 
die Höhe befommen hatte, fand er fich zum zweiten Mal in diefer 
Nacht Aug’ in Auge mit dem Bruder Heinrich von Herftelle, 
und der Bruder padte fofort zu, geiff ihm an die Bruft und 
donnerte dem Hauptmann Meyer zur: 

„Hort mit dem! Ins Gewahrfam! Wenn einer in diefer 
Nacht mitgewürfelt hat, fo iſt's dieſer! Ins Priſon mit ihm!“ 

„Hola!“ rief der Student lachend, „wenn. einer in diefer 
Nacht in Hörter auf Drdnung, Sitte und Tugend geachtet hat, 
fo bin ich's! Meyer, Ihr kennt mich und wißt die Unfchuld zu 
äftimieren. Nehmt lieber meine Hülfe an, domine — allein friegt 
Ihr die Schlingel Doch nicht herunter.” 

Privren, Probft und fämtlicher Zuzug von Corvey fahen 
zweifelnd beim roten Schein der Feuersbrunft; doch der Haupt⸗ 
mann Meyer fagte, fich hinterm Ohr krauend: 

„Was ich fagen foll, weiß ich nicht; aber, ehrwürdige Herren, 
ich fenne ihn freilich, und das Nutzbarſte wär’s, wir rollierten 
ihn ein in unfere Mufterrolle.” 

„Dann vorwärts und Sturm!” fommanbdierte der Bruder 
Henricug, feinen Flamberg erhebend; und mit der linfen Schulter 
voran, Piken, Hellebarden, Halbpikfen und hainbüchene Knüppel 
oorgeftredt und in der Luft, warf fich die bewaffnete Macht von 
Eorven auf die Huxarienses, um den Schußjuden des Stiftes 
wenigftens das noch zu retten, was von ihrem Leben noch übrig 
geblieben war. Zwei nadte Kinder trug Lambert Tewes aus 
dem brennenden Haufe, die Siphra errettete vor weiterer Unbill 
der Bruder Heinrich; den Freund Säuberlich nahm der Haupt⸗ 
mann Meyer mit Hülfe des Korporals Polhenne beim Kragen. 
Die Herren von Metternich und von Zigewiß ftellten fich ritter; 
ih und trieben jeglichen Corveyſchen Hinterfaffen, der Luft be; 
zeigte, fich nach Haufe zu fehleichen, mutig in die Schlacht zurück. 
Es famen überhaupt jett die erften Negungen der Befinnung in 
der Bevölterung wieder zum Vorfehein, und Hörter fing an, fich 


176 








zu ſchämen. Bürgermeifter Thönis Merz und fein Rat fingen an, 
ihrerfeits einzugreifen. Die Mordbrenner und Plünderer wurden 
überwältigt oder flohen nach allen Seiten; e8 wurde Raum in 
der Gaffe, und da jeßt, gegen Mitternacht, der Wind fich legte, 
ſo brannte das Haus des Meifters Samuel ruhig und ohne 
weitere Gefahr nieder. Man ließ e8 brennen. 


177 


Eiftes Kapitel. 


gen die wollene Dede vom letzten Bett des Schwefterfohnes zu 
as Gronau im Fürftentum Hildesheim gemwidelt, hatten 
währenddeflen die Kröppelsfeah und Simeath mit Schauder 
und Schreden gehorcht. Der rote Schein der Feuersbrunft, der 
in die leeren Fenfteröffnungen und die Tür fiel, hatte auch den 
Mut der Alten gebrochen. 

„Stehft du, Großmutter, e8 geht doch wieder gegen ung, fie 
haben Vater Samuels Haus in Brand geftedt; — follen wir 
nicht fort? Wir können über den Hof fehleichen und in des Nach; 
bars Garten; Here Jakob zum Dahle wird nicht zu ſchlimm fich 
ftellen, wenn er ung morgen früh in feinem Stalle findet.” 

„Isa, ja, Kind,” ftöhnte die Greiſin. „Leife, leiſe — da iſt 
mein Bündel — hilf’8 mir wieder auf! Dur haft recht, wir müffen 
hinaus — fie fommen, und fie fennen fein Erbarmen.” 

Sie verfuchte es, aufzuftehen, allein e8 ging nicht an. Der 
Weg von Gronau her war dem alten Weibchen doch zu viel ge; 
wefen. Sie fiel zurüd auf den Stuhl, Tegte die Arme auf den 
Zieh und das Geficht auf die Arme, 

„Sroßmutter, Großmutter,” jammerte das junge Mädchen. 
„Befinne dich — wach auf, laß mich deinen Sad fragen! Laß 
ihnen den Sad, laß ung nur laufen — Barmherzigkeit, fie fom; 
men — ba find fie!” 

Nun Freifchte die alte Jüdin noch lauter als die junge. Sie 
famen, fie polterten die Treppe herauf — fie waren da — nur 
brei Mann, aber die Böfeften in Hörter — Hans Vogedeg, der 


178 








Fährmann, mit einer Art den beiden anderen vorauf. In dem 
Yugenblid, als das Stift anrüdte und Lambert Tewes feinen 
Freund Wigand Säuberlich zu Boden fchlug, hatten fie fich 
aus dem Getümmel vor dem Haufe des Meifterd Samuel weg: 
gefchlichen, und fie machten von vornherein gar fein Hehl daraus, 
daß fie dem Geruche von der Gronauſchen Erbfchaft nachgeganz 
gen ſeien. 

Fünf Minuten fpäter, nachdem fie die gertrümmerte Schwelle 
überfchritten hatten, durchfchnitt von dem Haufe der Kröppel; 
Leah her ein fo fürchterliches und ſchrilles Jammergefchrei die 
Nacht, daß e8 allen fonftigen Lärm in der Stummerigenftraße 
. übertönte und jedermann den Kopf aufwarf und mit jähem 
Schrecken horchte. 

An der Brandftätte hatte die Szenerie fich aber bereits ver; 
fchoben. Im Drnate war Ehren Helmrich Vollbort unter den 
Mönchen und ftädtifchen Beamten aufgetreten und hatte fcharf 
geredet, fowohl gegen den Dunkeln Nachthimmel, wie gegen den 
Heren Prior von Corvey, Heren Nikolaus von Zigemwis, und 
gegen den Münfterfchen Gubernator und Stadthauptmann Heren 
Meyer. 

Er hatte um Rache für fein beleidigt Haus und feinen ges 
prügelten Küfter gefchrien, und über die Schulter des Bruders 
Henricns hatte der Neffe feine rechte Freude an dem Oheim 
gehabt. 

„Sie haben ja unferen Küfter bei Sanft Niklas gleichermweife 
windelweich und blisblau gefchlagen, ehrwürdiger Herr,” hatte 
der Prior eingeworfen. „Da ift doch wahrlich die vollfommene 
Parität vorhanden geweſen — was follen wir in diefer Nacht bei 
folhen Umftänden Ihnen noch zugute tun?“ 

„Stift und Fürftliche Gnaden von Münfter haben immer nad 
Vernunft mit fich reden laffen,” hatte Here Florentius von dem 
Felde begütigend hinzugefegt, „und —“ 

„Schlagt ihm vor, daß Ihr mich vor feiner Tür Hängen laffen 


179 


wollt,” hatte der tolle Helmftedter dem Bruder Heinrich von 
Herftelle ins Ohr geflüftert. 

Der Bruder Heinrich hatte das nicht vorgefchlagen, denn 
nunmehr hatte Herr Ferdinandug von Metternich, der Propft 
von Eorvey, Vernunft gefprschen und wirklich verftändige Dinge 
geſagt. 

Es ſei eine üble Nacht, hatte er gemeint. Niemand wiſſe, wie 
er daran ſei. Morgen ſei wieder ein Tag — totgeſchlagen ſei gott⸗ 
lob und mit Hülfe des heiligen Veit big jet feiner; — die Übel; 
täter habe man auf dem Stroh im Prifon, und felbft die Juden 
ſeien noch mit dem Leben davongekommen, ſoviel man wiſſe. 
Wer am meiften bei der greulichen Unruhe gelitten habe, das fei 
doch wohl das Stift Eorvey, das num auch noch zu allem übrigen 
den ſchlimmen Marfch nach Haufe vor fich habe. Er — der Propft 
— hatte zum Schluß feiner Rede geraten, jeßt vor allen Dingen 
wieder zu Bett zu gehen und für alle Fälle vielleicht eine Salve; 
guardia, gemifcht aus Eorvenfcher Mannfhaft und Bürger; 
wachten, in der Stummerigenftraße zurückzulaſſen. 

„So foll es fein !“ Hatte der Prior gefchloffen, und gehn Minus; 
ten nach feiner Ankunft vor dem Haufe des Meiſters Samuel 
befand fi das Stift bereits wieder im eiligen Rückmarſche nach 
den warmen Betten. 

„Hoffentlich hat ung der Vater Adelhardus, während wir die 
Philifter fchlugen, ein gutes Warmbier zugerichtet,” flüfterte der 
Subprior dem Propft unter dem Corveytor zu. 

Dem mochte nun fein, wie ihm wolle; zornigen Herzens 
fchritt doch noch der Pfarrherr von Sanft Kilian im eifrigen Ge; 
fpräch mit dem Bürgermeifter Thönis Merz auf und ab und warf 
finftere Blide auf den guten Bruder Henricns, Diefen Teßteren 
nebft einigen handfeften Klofterfnechten hatte die Abtei zurück— 
gelaffen, um fi von ihnen bei möglichen ferneren Ereigniffen 
friegstüchtig vertreten zu laſſen; und während der Intherifche 
Paftor aufgeregt hin⸗ und widerfchritt, fand der greife Mönch in 


180 


— 
ln u 





⸗ 


dieſer Stummerigenſtraße im Lichte der Feuersbrunſt nachdenk⸗ 
lich auf ſein huſſitiſch Schlachtſchwert geſtützt und gedachte früherer 
Tage. Der Student hielt ſich zu ihm und zog ihn jetzt am Armel 
ſeiner Kutte. 

„In ſo tiefen Gedanken auf der heiligen Straße, mein Pater? 
Ich hab’ Ihnen vorhin den Lauriger angeboten, um einen Sitz 
am warmen Herde; nun hat ung das Fatum einen noch wärme, 
ten Dfen geheist. Was, mit Erlaubnis zu fragen, laffen Sie die 
Ihren hängen, mein Pater?“ 

Der alte Mönch blidte auf und murmelte: 

„O, Juſt von Burlebede!“ 

„Sie follten ein Wort zu mir fprechen, Ehrwürdiger,“ meinte 
der Student zutunlich. „Sie gefallen mir, und es wäre mir lieb, 
wenn auch ich Ihnen gefiele. Haben Sie mich am Abend fchnöd ab; 
fahren lafien, fo haben wir doch jeßo Schulter an Schulter ge; 
fochten, und — ſchon den grimmigen Bliden meines Herrn 
Onkels da drüben zu Liebe follter Ihr meinen Arm nehmen und 
die Wacht suaviter mit mir verfchwagen. Mit dem Morgen bin 
ich auf dem Wege nach Wittenberg, allwo fie ſchon längft mit 
Herzipann fih nach mir fehnen, und Ihr bekommt mich nimmer 
wieder zu Geficht, alter Hahn.“ 

„Sie find ein Narr, mein Here Studente,” fagte der Bruder 
Henricus, wider Willen über den Schelmen lachend. „Wäre 
Juſt von Burlebede nicht, ich brächte dich auf der Stelle ungefegnet 
auf den Weg nach Wittenberg. Aber fo war Juſt auch zu feiner 
Zeit, und ich ftehe eben nie in der Stummerigenftraße, ohne mit 
betrübtem Sinn der alten Zeit und an Juſt von Burlebede zu 
gedenken.“ 

„So ſagen Sie mir, wer Juſt von Burlebecke war, mein 
Pater, und ich werde gern mich mit Ihnen über ihn betrüben.“ 

„Da,“ ſprach der Mönch, gegen das Stummerigentor hin; 
deutend, „im Sommer Zweiundzwanzig nahm er mit zwanzig 
Neitern Hörter im Sturm, Er ritt für den tollen Chriftian, ich 


181 


mit dem Tilly, Mit swölftaufend zu Fuß und neuntaufend Net; 
fern ging der Chriftian hier bei Hörter über die Wefer, und ich 
ihm und dem wilden Juſt nach als ein Fähnrich im Regiment 
Baumgarten. Yuf dem Felde bei Stadtloo ift Juſt von Burle⸗ 
bede unter den Toutpourellefchen eingefcharrt. Sch hab’ ihn 
unter den Toten gefehen, und er war mein allerbefter Herz 
freund.” 

„Das war der große Krieg, und Ihr feid heute ein Benedik 
tinermönd zu Corvey, mein Vater!” rief der Student. 


„Ja!“ fagte der gute Greis ruhig und fohüttelte nur noch 
einmal den Kopf, die Stummerigenfttaße hinauffchauend. 


„Er jagte ihnen lachend ins Tor und fiel über die Spieß, 
bürger gleich dem Bliß aus dem Sonnenfchein; ich muß heute 
noch darüber lachen! Ach, hättet Ihr den tollen Chriftian und 
feine Reiter gekannt, fo würdet Ihr auch Juſt von Burlebede zu 
wiegen wilfen, Herr Studente, Sie faßen vor ihren Türen und 
ließen fich die Sonne in die Mäuler ſcheinen, da fchlug er ein aus 
dem blauen Himmel, und ehe fie ſich befannen, hatte er mit feinen 
zwanzig Gefellen Hörter in der Hand wie der Junge das Vogel; 
neft, dem Stift und der Tiguiftifchen Armada vor der Nafen; 
freilich nur auf ein DViertelftündlein, doch das gerade war der 
Spaß.” 

Der Alte hatte jett wirklich den Arm Lamberts genommen 
und fchritt mit ihm langfam die Stummerigenftraße hinauf big 
zu dem Haufe der Kröppelsteah. 

„Hier, gerade bier auf diefer Stelle hieß e8 denn: Simfon, 
Philifter über dir! Weshalb erzähle ich Euch aber das alles, 
anftatt Euch, wie es fich gehörte, zur Sittfamfeit zu vermahnen 
und an Eure Bücher zu ſchicken?“ 

„Weil ich nur allzu lange und zu fittfam über den Büchern 
gefeilen habe, Herr Pater, D, Ste werden mir doch noch meinen 
Horaz abhandeln; ich habe ihn allgemach fo feft im Kopfe, daß er 


182 








mich nur noch dumm macht! Amfterdamer Ausgabe, Frontifpiz 
von Romyn —“ 

Der Mönch winkte abwehrend mit der Hand. 

„Nein,“ ſagte er, „ich rede zu Euch, weil Ihr eben noch ein 
törichter Knabe ſeid, und es dem Alter ſo gut tut, die Jugend bei 
ſich zu haben, wenn es der Jugendtollheit gedenkt. Wie war es 
denn? Ja, als ſie ſich beſonnen hatten um des kleinen Häufleins, 
das mit Juſt von Burlebecke jubilierend die Hand auf ſie legte, 
da blieſen ſie Warm, Damals war Hörter auch noch ein volk— 
reicher Drt, voll Handels und Gewerbe, und e8 gab feine Ruinen 
und wüfte Stätten in den Ringmauern. An den tollen Chriftian 
dachten fie nicht, fie fahen nur auf Juſt und feine zwanzig Reiter. 
Sp griffen fie denn nach den Spießen und Büchfen. Es ift ein 
luſtig Schlagen gewefen; aber hier auf diefer Stelle erfchoffen 
fie dem Herzbruder den Gaul, und fo fam er zu Boden unter 
den Gaul und die Fäufte von Huxar. Seinen Gefellen ging’s 
dann natürlich auch nicht anders; zu Hunderten ſchwärmten fie 
um den Trupp, holten fich ihrerfeits manchen blutigen Kopf, 
aber fchlugen doch auch wader zu und riffen die Eroberer mit 
Hafen und Stangen von den Pferden. Das ift denn ein Gezerr 
geweſen, big die alten und verftändigen Leute e8 möglich machten, 
fih durch das Getümmel zu zwängen und Vernunft zu fprechen. 
Da nahm der Stadtfchreiber das Protokoll über den Fall zu 
Papier, und als fie e8 auf dem Papiere hatten, da ging ihnen 
das richtige Licht auf, und fie friegten ein Grauen über ihre eigene 
heldenmütige Tapferkeit und das, was fie ſich durch diefelbige 
eingebrodt hatten.” 

„Sie überlegten fich, daß der Chriftian dem guten Nitter Juſt 
nachtrabe und nicht bloß mit zwanzig Mann,“ lachte der Student. 

„Mit neuntaufend zu Roß und zwölftaufend zu Fuß, wie 
ich e8 Euch fchon ſagte. Als ich nachher mit den Liguiften dem 
Adminiſtrator nachritt, hörte ich die ganze Hiftoria. Ei ja, eg 
war von da an für Rat und Bürgerfchaft an diefem fchlimmen 


183 


Flußübergang ein beſchwerlich Ding, fich durch die Zeiten und 
Parteien zu winden.“ 

„Und heute ift’8 fchier noch nicht beffer,“ meinte Herr Lam; 
bert; doch der Mönch erwiderte: 

„Hättet Ihr das Hörterfche Blutbad erlebt, auch felber eine 
Pike an der Mauer geführt, Ihr würdet wohl anders fprechen. 
Seht Euch um danach und hüter Euch fernerhin, Eure Hand zu 
bieten, noch mehr der Ruinen zu machen.“ 

Dann fuhr er in feiner Erzählung fort: 

„Ste lachten auch in des Tilly Hauptquartier allhier zu 
Hörter; Merode lachte, Dem von Piccolomini wadelte der Bauch, 
und der Savelli ſchüttelte fih unter feiner großen Perücke. Es 
gefiel ihnen allen die Art, wie Juſt von Burlebede die Stadt 
genommen hatte. Ich lag damals bei dem Stadtfchreiber und 
hab’ fein Protokoll mir zeigen laffen. E8 war ein erbärmlich 
Gefrigel und Gefraß, gerad als ob die rote Ruhr mit dem Hafen; 
fuß bei feinem Federfunftftüd am Tifche gefeffen habe. Und Zuft 
als ein waderer Kavalier hatte auch feinen Namen darauf ge; 
hauen, und der ging über die halbe Seite und jede Überfchrift 
von Bürgermeifter und Ratmannen did und ſchwarz weg mie 
ein Küraffierregiment duch ein Erbfenfeld. Einen ganzen 
Abend hat mir der Stadtfchreiber von dem Nittmeifter Juſt 
erzählen müſſen; — wie fie ihn unter dem Gaule vorgogen, 
wie fie ihm den Rod bürfteten, wie der eine mit dem Piftol fam, 
das er dem Gemeindemeifter an den Kopf geworfen hatte, wie 
ber zweite den Degen brachte, der ihm im legten Ringen abhan⸗ 
den gefommen war, und wie der Hader und das Blutvergießen 
in eine Feftiottät auf dem Nathaufe auslief, Ya, den ganzen 
Tag hat man getafelt und getrunken zu Ehren Juſts von Burle; 
bede und feiner Reiter — den tollen Chriftian eingefchloffen ! 
Da haben fie Brüderfchaft gemacht und fich mit tränenden Yugen 
in ben Armen gelegen, der Bürgermeifter von Hörter und Yuft 
von Burlebede, und am Abend hat man der Stadt Judenfchaft 


184 








angehalten, den guten Kavalieren eine Reiterzehrung zu zahlen, 
und fie mit Triumph, der Stadt Mufici vorauf, vor das Tor 
gebracht und fie mit einem höflichen Complimentum an die Fürft; 
lichen Gnaden von Halberftadt ihres Weges reiten laffen, und 
nicht einer hat fich um diefe Stunde fo feft auf dem Gaule gehal; 
ten wie am Morgen beim Einfturm ing Stummerigentor.” 

Ich hab’ doch auch ſchon manche Tür im Sturme genommen, 
aber fo galant hat mich noch nie ein hochedler Senat oder Magiftrat 
darob fraftiert,“ fagte der Student IuftigsFHläglich; und in diefem 
Yugenblid erfholl das erbarmungswürdige Weibergefhrei aus 
dem Haufe, vor welchem vordem Juſt von Burlebede unter den 
Fäuften von Hurar an der Wefer gelegen hatte. Wir willen, 
wer da fehrie. 


185 


Zwölftes Kapitel. 


Se ſtutzten alle in der Gaſſe, vor allen übrigen jedoch der 
+ Mönch und der Student. 

„Sanft Veit,“ rief der Bruder Henricus, „will die Mordnacht 
nie zu Ende gehen? Hier, hier Eorven !“ 

Er eilte gegen das Haus, aus welchem der Schrei hervor; 
drang, und von den Klofterfuechten fprangen auch ſchon einige 
von der Brandftelle her. 

Der franzöfifche nachgelaffene Unrat lag vor der Tür der 
Kröppelsteah in höheren Haufen als fonft irgendwo in Högter, 
und ehe der Bruder Studio dem Bruder Heinrich von Herftelle 
mit einem Sprung über den Unflat nachfolgte, ſchwang er natür⸗ 
ih den Hut in die Luft und jauchzte: 


„Set, römſcher Füngling, zuck dein Schwert 
Und fei der edlen Eltern wert; 

Färb rot die See mit Pönerblut, 

Verla, verlach des Pyrrhus Wut; 

Wirf nieder den Antiochum, 

Sein ſyriſch Königreich ſtürz um; 

Und mit Kanon und Flintenknall 

Scheuch fort den graufen Hannibal !” 


Das alles war nun gerade nicht nötig; allein Eile tat nichts; 
beftomweniger not, Herr Lambert fprang und überholte infolge 
feiner Sprünge ben watenden Benediktiner um einen Schritt auf 
ber Treppe. Bon allen, die auf den neuen Notfchrei herzuliefen, 
befanden fich der Bruder Henricus und der Student auf dem 


186 





Schauplake des Jammers und im Handgemenge mit den Unheil; 
ftiftern, ehe ihnen irgend jemand von der Abtei und der Stadt 
Hülfeleiftung und Handreichung tun konnte. Keine gefperrte Tür 
hielt fie ja auf; und dem Mönche voran fprang der Bruder Studio 
ein in das Quartier des Sergeanten vom Regiment Fougeraig 
und ber Inftigen Mamfell Genevion von dem nämlichen Negi; 
mente. 

Sie famen zur richtigen Zeit, wenngleich nicht für die drei 
Hörterfhen Ruffiane. Der brave Fährmann Hans Vogedes 
hielt eben die Greifin auf dem Boden, ihr die Gurgel zuſammen⸗ 
drüdend, fein einer Raubgenoffe zog mit groben Fäuften die 
jeternde Simeath an den Haarflechten durch das Kämmerchen, 
der andere der Halunfen hatte bereits das armfelige Bündel 
mit der Gronauſchen Erbſchaft unter dem Tifche hervorgezerrt, 
fniete gierig wühlend und verftreute fluchend den Inhalt um fich 
ber auf dem fohmusigen Boden. Die Lampe des armen Vaters 
Sammel und das flammende Haus desfelben verbreiteten ihren 
Schein über diefe häßliche Szene, wie fie Callot fo gern zeichnete 
und malte in dem fcheußlichen Jahrhundert, dem alle Gegen; 
wärtigen angehörten. Sechzehnhundert folcher Bilder hat Maitre 
Jacques gefertigt bis zum Jahre 1635, und der einzige Troft 
für ung liegt darin, daß feine Erbin zulett doch das Kupfer fämt; 
licher Platten diefer miseres et malheurs de la guerre in Küchen, 
gefchirr verwandelte und ihre Suppen darin kochte. 

„Ecce iterum Crispinus!‘“ fohrie der Student, gegen den die 
Kehle der Greifin freilaffenden Hans Vogedes losſtürzend. Im 
weit ausholenden Schwung warf er ihm zuerft den fleifen 
Schweinslederband feines Flaccus auf die Nafe, daß fofort das 
Blut hervorſtrömte. 

„Da haft du dein Recht auf römifch, du Mauskopf!“ 

Und ſchon hatte er ihn felber an der Gurgel und auf dem 
Boden, ehe der Fährmann fein Mordbeil aufgreifen konnte. Mit 
beiden Fäuften aber erhob der Bruder Heinrich von Herftelle fein 


W. R b ä u. 
aabe, Sämtliche Werte. Serie —* 187 


mächtig Schlachtfchwert und Tieß es flach auf den Schädel des 
Strolches fallen, der die Simeath bedrängte. Der dritte det 
Kaubbrüder ließ feige das Bündel der Alten im Stiche, fprang 
empor und wollte mit einem Saß über den niedergeftredten Leib 
feines Kameraden die Tür, die Treppe und die Gaffe gewinnen, 
fiel aber auf der Treppe den heraufpolternden Klofterleuten und 
dem ihnen nachfeuchenden tapfern und mweifen Hauptmann und 


Gubernator Meyer in die Arme, Sie fingen ihn zärtlich auf 


und drüdten ihm faft die Seele aus dem Leibe, und ganz gutz 
willig ließ er fich in der Stummerigenftraße die Hände auf dem 
Rüden zufammenfchnüren. Sp war die Schlacht hier denn faft 
eher beendigt, als fie begonnen hatte, und neben den beiden 
auf der Erde zappelnden Beſiegten ftehend, blickten die zwei 
Sieger, Bruder Mönch und Bruder Studio, einander fogar ein 
wenig verwundert darob an. 

Doch jetzo frat der Herr Hauptmann Meyer herein und fah 
fich feinerfeits ein wenig in dem Gemache der Kröppelsteah um. 

Militärifch grüßend und auf den Fährmann und feinen Ge; 
fellen deutend, fragte er dann: 

„Dit Bermiffion, mein Pater, wie ift es num mit der Gerichts; 
barfeit in Hörter? Hier haben wir den Cafum von neuem, bes 
halten wir von Stift wegen die beiden Lümmel, oder fchiden 
wir fie dem Bürgermeifter Merz? Hängen wird fie ja doch wohl 
Corvey in Anbetracht, daß Biſchöfliche Gnaden der Stadt dag 
Blutgericht genommen haben?!” 

Zweifelnd frauelte fich der Bruder Henticus am Ohr; doch 
der Student nahm ihm das Wort vom Munde: 

„Einen ſchönen Gruß von mir und einen Handkuß desgleichen 
an den alten E—, an die hochehrbare Exzellenz von Huxar, Herrn 
Thönis Merz, und ih — Lambert Tewes, fhide ihm hier was 
und erbitte mir dafür morgen ein Viatikum auf den Weg nach 
MWittenberg von wegen geleifteter Dienfte fürs gemeine Wefen, 
Macht keine langen Worte, behaltet nur ein einziges Mal Eure 


188 








Weisheit und sesquipedalia — Eure ſechs Fuß langen Bedent; 
lichfeiten — für Euch. Den Hans da empfehle ich Euch und dem 
Bürgermeifter befonders, Centurio. Gebt es ihm mit der Wein; 
tebengerte gleichfalls mit einem Kompliment von mir.“ 

Der Hauptmann fah höchft verdrießlich auf den feine Würde 
fo wenig achtenden Redner, doch der Bruder Henricug meinte 
lächelnd: 

„Für diefe Nacht wird’8 wohl das befte fein, daß wir tun, 
wie der Tollkopf vorfchlägt, Herr Kapitän. Sagen Sie auch 
meinen Gruß dem Herren Bürgermeifter. Des Stiftes Rechte 
zu wahren, ftellen Sie zwei Mann zu der Ratmannswacht vor 
den Turm.” 

Der Hauptmann hob wiederum martialifch den Hut; die zwei 
blutenden Hausfriedenbrecher wurden hinaus; und die Treppe 
hinuntergefchleift, und der Bruder Heinrich fowie der Student 
fanden nunmehr die erfte Muße, fich nach den beiden armen 
Frauenzimmern umzuſehen, die fie in fo tapferer Weife aus den 
Klauen der ihrer frangöfifchen Einquartierung, dem Heren von 
Zurenne und dem Heren von Fougerais, nachtumultuierenden 
Hurarienfes errettet hatten. 

Das junge Mädchen kniete auf dem Boden und hielt den 
Kopf der alten Frau im Schoße. 

„O, Seoßmutter, Großmutter,” ſchluchzte es, „Tag doch wag, 
fpeich doch nur ein Wort, wir leben noch, fie haben ihren Willen 
nicht vollführen können! Die guten Herren haben ung von ihren 
Griffen erlöft, dem hohen Gott fei Dank! — Ach, Großmutter, 
befinne dich!“ 

Die Greifin zuckte fürs erfte nur mit den Yemen und krampfte 
die Finger auf und zufammen; der Benediktiner beugte fich zu 
ihe herab und Teuchtete ihre mit der Heinen Lampe ins Geficht. 

„Der Böfewicht hat fie arg gewürgt. Helft mir, Herr Student, 
wir wollen fie auf das Bett tragen, Es ift ein Jammer, daß wir 
den arzneikundigen Bruder Briccius bier nicht vorhanden 


13* 189 


haben. Der würde fie ung in einem Augenzwinkern wieder aufz 
recht hinfegen.“ 

Herr Lambert Tewes hatte bereits den Kopf der Alten der 
Simeath aus den Yemen genommen; der Mönch faßte fie an 
den Füßen, und fo trugen die beiden fie auf das Bett des Ser; 
geanten; der Student mit einem verfiohlenen Seitenblid auf dag 
hübfche zerzaufte Judenmädchen. 

„Trockne deine Tränen, fehwarzlodige Neära,“ fagte er gutz 
mütig. „Tu“s mir zu Liebe — das alte Mütterchen hat in feinem 
langen Dafein mehr ausgehalten als fol ein Katzengekrall; — 
eure Patriarchen und Patriarchinnen haben ein verflucht zähes 
Leben, und Großmutter kommt diesmal noch ficher darüber weg 
auch ohne den Bruder Briccius.“ 

„Ich will e8 dem edlen Heren nie vergeffen !” rief Simeath 
nur noch lauter weinend; und dann beugte fie fich, griff nach der 
Hand des wilden Scholaren und wollte eben die Lippen darauf 
drüden, als Meifter Lambert ihr feine Pfote raſch entzog und ihr 
einen laut fchallenden Kuß auf den Mund gab. 

„Ss fteht’8 gefchrieben in den Legibus der Julia Karolina, 
und Herr Mynfinger von Frunded, der Kanzler, wußte wohl, 
was er fat, als er den Paragraphum einfchob.” 

Errötend trat das junge Kind gegen das Lager der Greifin 
zurück; der Mönch hatte wohl ein wenig die Stirn gerunzelt, 
doch er hatte allgu viel um die allmählich wieder ins Bewußtſein 
zurückkommende Kröppel⸗Leah zu tun, um allzu genau auf die 
fonftigen Vorgänge in feiner Umgebung achten zu können. Mit 
dem Waſſer aus dem Kruge des Vaters Samuel rieb er der 
Alten die Schläfen ; — da niefte fie endlich und ftieß einen heiferen 
Schrei aus, und dann faß fie wirklich aufrecht auf dem Stroh 
und fah aus flieren Augen umher. Der rote Schein der nieder⸗ 
fintenden Fenersbrunft leuchtete noch immer in das Gemach. 

„Salzkotter Quartier. Die Liguiften in der Stadt!” ftöhnte 
fie und fiel gurüd, die Hände über die Augen fchlagend. 


190 








„Sie ift noch nicht ganz bei fih — das Feuer wirrt fie,“ 
murmelte der Bruder Henricus gegen den Studenten gewendet. 
„Sie fieht wieder den Gründonnerdtag von 1634. Wir gaben 
fein Duartier, weil in Salzkotten ung feines gegeben worden war.” 

Und der Greis legte auch die eine Hand auf die Stirn und 
fügte fich mit der anderen gegen die Wand mit den unzüchtigen 
Zeichnungen des Regiments Fougerais: 

„Herr, Herr, mein Gott, wann kommt der Frieden in deine 
arme Welt?!’ — 

Lambert Tewes ftand nun ernſt genug mit untergefchlagenen 
Armen da. 

„Hörter und Corvey!“ fagte er finſter. „Meine Iutherifchen 
Väter fanden für Stadt und Stift. Die Liga war's, die Hörter 
in Trümmer legte und Sankt Viti Sarkophagen zerbrach. Eure 
fremdländifchen Oberften und Kavalierg waren e8, die die Gebeine 
unter fich verteilten, welche der Kaifer Ludwig hierher an die 
MWefer getragen hatte.” - 

„Ss ift es,“ fagte Heinrich von Herftelle. „Das ift die Hifforia 
von Hörter, und ich — bin Mönch zu Corvey! Ich zog für die 
Liga; für den Winterfönig, die ſchöne Elifaberh und den tollen 
Chriſtian ritt Juſt von Burlebede, der mit mir aufgewachfen und 
von meiner Mutter mit mir erzogen war.“ 

„Duft von Burlebede!” Hang es wie ein Echo von dem Bette 
her, und unterflügt von der Enkelin deutete die Greifin mit 
zitternder, fchwanfender Hand auf den Erdboden, wo ihre Erb; 


(haft zerſtreut lag. 


191 


Dreizehntes Kapitel. 


er Student griff eben feinen Horaz, den er diesmal zum 

erften Mal in diefer Hiftorie als unwiderlegbares Argument 
gebraucht hatte, auf. Das Buch lag mitten zwifchen dem von der 
Diebeshand zerwühlten Trödel, und Lambert, drüber hin; 
blidend, rief: 

„Bei Merkur und Radamanth, ift das der Köder, der das Ge; 
fchmeiß angog? Mutter Leah, das habt Ihr aus dem Fürftentum 
Hildesheim auf Eurem alten Budel nach Hörter geichleppt? O 
Mofes und all ihr Propheten, wenn der Titus nicht mehr aus 
Jeruſalem mit fich geführt hätte, jo würde das spolium, der 
Plunder, wahrlich nicht der Mühe gelohnt haben.” 

Das war richtig, und einen erfreulichen Eindrud machte die 
Schauftellung, die jegt der Zufall und die Räubertage bewerk; 
ftelligt hatten, nicht; armfelige Wäfcheftüde, wohlfeile zinnerne 
oder bleierne Schaumünzen auf alle möglichen Ereigniffe, kaiſer⸗ 
liche, fchwedifche und franzöfifche Viktorien und Niederlagen — 
ein halbverbranntes hebräifches Geberbuch mit filbernen Bes 
fchlägen und fieben Stüd fchlechter Löffel! Eine Halskette von 
böhmifchen Glasperlen mit einem Inpfernen Kreuz und ein zus 
fammengedrüdter winziger filberner Becher waren die wert; 
vollften Gegenftände, eine kupferne Pfanne und ein Heiner eiferner 
Kochtopf die umfangreichften, bis auf die Dede von dem Sterbe⸗ 
lager des Gronaufhen jüdifchen Mannes. 

„Was weißt aber du von Juſt von Burlebede, Weib?“ rief 
der Bruder Henricus bewegt, die Hand der Greifin fallend. 


192 





Ich hielt feinen blutigen Kopf in meinem Schoß hier vor 
meines Vaters Tür,” fagte die alte Leah, mit Mühe die Worte 
heroorftoßend. „Sie hatten ihm das Roß erfchoffen, und nie; 
mand wollte den fehlimmen Feind im Anfang aufheben. Ach 
und doch hub damals der Krieg erft an! Da — da, ſucht; er 
gab mir ein Angedenken, das ift aus einer Hand bei ung dann 
in die andere gefommen. In Gronau hab’ ich es wiederge; 
funden.“ 

Die Kröppel⸗Leah fiel wieder zurück auf das Stroh, der 
Student hielt dem Benediktiner ſein Buch noch einmal hin: 

„Was meint Ihr, Reverendissime, jetzt werfe ich's zum 
übrigen, und wir fangen das Trödlergeſchäft in Kompagnie an. 
Was leget Ihr aber in den Handel ein?“ 

Der greiſe Mönch ſtieß ihn nunmehr wirklich von ſich; er 
kniete ſchon und ſuchte auf dem Boden. Mit unſicherer Hand warf 
er die Lumpen und Lappen hin und wider und ließ das Küchen; 
gefchirr und die erbärmlichen Raritäten und Koftbarfeiten unter; 
einander erklingen. 

- „Beim heiligen Vitus,“ rief er plößlich, „Das ift meiner feligen 
Mutter Werk! Sie gab die Handfehuh ihm, als er vor mir aus; 
09. Sie war im Herzen für die neue Lehre; ich ging für meinen 
Bater zu den Kaiferlihen! Das ift Jufts Handſchuh mit meiner 
Mutter Spruch: Geh grad! — D Fran, o Leah, meine Mutter 
hat mit ihrer guten Hand die Goldfäden gezogen !“ 

Der Bruder Henricus hielt einen Reiterhandſchuh, der mit 
verblaßtem Golde geftickt war, und nahm haftig, doch gerührt 
von neuem die fieberhafte Hand der alten Jüdin: 

„Das. hat er Euch gegeben, Leah?“ 

Die Greifin ftrich die weißen, durch das Ningen mit dem 
Räuber gelöften Haare aus der Stirn und fagte: 

„Ich verftehe den gnädigen Heren Abt nicht.“ 

Sie war noch immer nicht ganz bei fich, oder die Betäubung 
trat doch immer noch von neuem ein. 


193 


„Des tollen Herzogs toller Reiter, Zuft von Burlebede!” 
tief der Bruder Heinrich, fich wieder an den Studenten und die 
Heine Simeath wendend. „Er hat noch ein gut und luſtig Jahr 
gehabt; dann iſt er bei Stadtloo im Ernft erfehoflen, und nie 
mand hat fein blutend Haupt mitleidig in den Schoß genommen, 
Leah!“ 

„Wie war denn das?“ murmelte die Alte. „Es iſt ſoviel nach⸗ 
her gekommen — der Herr Feldmarſchall von Tilly und im Jahre 
Neunundzwanzig der Herr Schwede Baudiſſin — nein, Neun⸗ 
undzwanzig war“s der Tilly wieder und der Herr von Pappen⸗ 
heim. Der General Graf Baudiffin erffürmte Zweiunddreißig 
die Stadt. — — Dann war der blutige Grändonnerstag — 
Vierunddreißig. Anno Vierzig berannten Seine Erzellenz; der 
Feldgeugmeifter Piccolomini Hörter, Die famen mit Akkord 
herein, aber Sechsundvierzig ftürmte wieder der Herr Feldzeug⸗ 
meifter Wrangel; — wer redete da von dem Herzog Chriftian 
und Juſt von Burlebede? Welch ein Jahr fchreiben wir heut, 
Simeath?“ 

Das junge Mädchen nannte leiſe die Zahl, und die fiebernde 
Greiſin flüſterte mit geſchloſſenen Augen: 

„Gott Abrahams! Der Herr iſt der Herr der Heeresſcharen; 
Zebaoth ift fein furchtbarer Name.” 

„Das fagte mein Oheim vorhin auch,“ meinte der Stubent, 
im fohaudernden Unbehagen die Schultern in die Höhe ziehend. 

Der Bruder Henricns hatte den Schemel an das traurige 
Bett der Kröppel⸗Leah gerückt und faß nun da nieder, fein roftiges 
Schwert zu feinen Füßen. 

„Ja, ja,” fagte die Greifin, in ihrem verwirrten Sinn fich 
zurückdenkend, „ich erinnere mich wohl, Wir waren jung, und 
der Krieg kam eben erft aus dem Böhmerlande zu ung herüber. 
Mein Vater war der einzige Jüd, der in Hörter wohnen durfte, 
und ich ein jung Mädchen, Stmeath. Wir freuten ung noch des 
Sommers, und der junge Kavalier ritt mit Lachen in das Stum; 


194 








merigentor. Was trieb mich aus dem Haus? Es ift einerlei — ich 
trocknete ihm mit meinem Sadtüchlein das Blut von der Stirn. 
Seine Kriegsgefellen fchlugen fih noch mit der Bürgerfchaft; 
er aber fah mich an und fagte: Merci, mademoiselle! er wußte 
ja nicht, daß ich ein jüdifch Mädchen war. Dann fam der Herr 
Bürgermeifter, und mic zog mein Vater ins Haus, und meine 
Mutter fchlug mich. Sie hörten in der Stadt, mit wie großer 
Macht der Herzog Chriftian im Anzuge fei, und da pofulierten 
fie zuſammen auf dem Nathaufe. Ja, ja, und am Abend, ehe 
fie ihn vors Tor geleiteten, kam er auf dem edlen Pferd, das ihm 
die Stadt gegeben hatte, vor meines Vaters Haus, und ich faß 
am Fenfter, und er warf mir feinen Handfehuh zu und eine Kußs 
band und rief: ‚Denkt an Juſt von Burlebede, Fräulein; er 
wird Eurer immer lieb gedenken!‘ Und doch wußte er da ſchon, 
daß ich eine Jüdin fei — er war aber ein guter Ritter, und ich 
babe feiner wirklich oft gedacht. Meine Mutter fchlug mich noch 
einmal am Abend und mein Vater dazu: denn der Nat hatte 
die Neiterzehrung, die er dem guten Nitter verehrte, auf den 
jüdifhen Mann gelegt. Den Handfhuh hab’ ich heimlich vers 
fteckt, fonft Hätten fie ihn mir mit einem Fluche vor der Nafe 
verbrannt. Dann haben meine Kinder damit gefpielt; es ift ein 
Wunder, daß er noch da iſt; — meine Kinder find tot, dreimal 
bat mein Haus im Schutt gelegen. Ja, ich hab’ des tapfern 
Ritters Handfhuh von Gronau mitgebracht, o ehrwürdiger Herr, 
nehmer ihn und laffet e8 die Simeath nicht entgelten, daß Ihr 
ihn bei ung fandet. Helfet dem unfchuldigen Kinde, der kleinen 
Simeath, duch diefe Nahe!” — 

Das alles war mehr geröchelt als gefprochen worden. Die 
Greifin ſchwieg jegt und atmete im Halbfchlaf ſchwer weiter. Der 
Greis ſprach: 

„So iſt es, Mutter; wir beide denken noch zurück an die Zeiten 
des Friedens. Als meine Mutter dieſen Handſchuh dem Juſt aufs 
Pferd reichte, da vermeinte freilich noch niemand, daß länger 


195 


denn ein Menfchenalter Durch dag deutfche Wolf durch einen See 
von Blut waten werde unter einem Himmel tot und qualmig von 
den brennenden Städten!” 

„Was kümmert's mich?” fehrie die Kröppelsfeah fcharf und 
ſchrill aus ihrem Traum heraus, „Meine Väter haben nie Frieden 
gehabt feit dem Kaifer Titus, Was kümmert’8 ung, was ihr 
gemacht habt aus eurem Lande? Sch ängſte mich um Luft; der 
Schubjad hat mir die Bruft zerfchlagen, doch ich wollte fingen in 
diefer Nacht, wenn die Simeath nicht wäre.” 

„Die Großmutter hat vecht mit dem guten Kaifer Titus,” 
flüfterte der Student dem Kinde zu. „Nun bin ich auch ein Nömer 
— civis Romanus sum, und fenne mein Latein, Jungfräulein; 
aber für ung beide foll das fein Grund fein, ung die Gefichter zu 
zerkratzen.“ 

„O, freundlicher Herr, ſcherzet jetzt nicht!“ rief Simeath, die 
der Greiſin eben wieder den Waſſerkrug an die Lippen ſetzte. 

Leah trank gierig und lange; dann ſtieß ſie den Krug zurück 
und ſetzte ſich wieder kräftig auf. Sie wachte nunmehr vollſtändig 
und ſah hell umher. 

„Laß ihn, Kind! Er tut wohl, daß er ſich lachend in die Welt 
ſchickt. Die Zeit ſchwingt und ſchwingt; — auch ſeine Stunde 
wird kommen, wo er mit gerunzelter Stirn auf den ſchweren 
Pendul ſieht. Ehrwürdiger Herr Mönch, Sie waren ein Reiter, 
nun ſind Sie ein Bruder zu Corvey — Ihr ſeid auch ein alter 
Mann; habt Ihr den Frieden gefunden in den Mauern der 
großen Abtei?“ 

Der Bruder Heinrich von Herſtelle hatte, die Stirn mit der 
Hand ſtützend, in tiefen Gedanken geſeſſen, auf die Frage fuhr 
er auf und wiederholte ſie: 

„Den Frieden?“ 

Er zog wie im Spiel den Handſchuh Juſts von Burlebecke an; 
dann ſprach er: 

„Den Frieden? — Geh grad! — Den Frieden? Weshalb 


196 


folft’ ich auch den Frieden zu finden wünfhen? Ich bin fein ges 
lehrter Mann, wie hier der Herr Student, der den heidnifchen 
Philofophum, den Horatius, auswendig weiß; ich kann's nicht 
fagen, wie’8 mir zumute iſt. In meiner Jugend habe ich Freude 
gehabt am bunten Leben; — hab’ ich denn den Frieden fuchen 
wollen, als ich ein Mönch wurde? Ya, ja, — denn bei Sanft Veit, 
e8 wird wohl fo fein! Ei ja, dann hab’ ich ihn gefunden. Ich bin 
freilich ein alter Gefell und da hab’ ich mein Genügen zu Corvey; 
aber — geh grad! — die Zeiten haben mich gelaffen, wie ich war, 
als ich anfing mich zu befinnen in der Welt, Was Blut und 
Feuer?! Da das ung vom Herrgott beftimmt war, fo mag auch 
Er — fein Name fei gepriefen — die Rechnung befehließen. Sie 
wird wohl fimmen, fowohl für ihn als für ung,“ 

Die Alte lachte rauh: 

„Da ſeid Ihr alfo auch auf dem Troft, der ung gefungen wird 
feit den Tagen des Königs Nebufadnegar. Die Stolgen beugen 
fih, und der Herr lacht über fie — — — —“ 

„And diefes alles, weil geftern der Lump, der Monfieur 
Fougerais, von Hörter abmarſchiert ift!” rief jeßt der Student 
ungeduldig dazwiſchen. „Zum Teufel, den Frieden haben wir 
erft dann, wenn niemand mehr fofort nach dem Prügel im Winfel 
greift, wenn er fich darauf gefpist hat zu hören: Vivat Doftor 
Luther! und es ihm vom andern Tisch herkrächzt: Vivat Clemens 


‚der Zehnte — oder umgekehrt! Der Fougerais ift fort — — 


Nunc est bibendum, nunc pede libero 
Pulsanda tellus — 


dag Lied vom Trinken und Tanzen iſt zwar Schon nach der Schlacht 
bei Aktium gefungen und auf den Niederfall der Königin Kleo— 
patra von Agypten gemünzt; aber ich münze es häufig auf was 
anderes, und taufend Jahre nach mir wird man’s auch fo halten. 
Sem, man hat Serufalem mehr als einmal wieder aufgebaut, 
Mutter Leah.” 


197 


„Doch die Fremden haufen auf der Wohnftätte des Samen 
Abrahams, junger Herr. Die Kinder von Juda und Sfrael irren 
als ein Spott und Spuf zerſtreut; fie haben feinen Ort mehr, 
da fie Herren ihres Haufes und Leibes find. Auch für Euch ift 
noch feine Zeit, den Siegestanz zu tanzen, junger Herr. Wollt 
Ihr wirklich dem Heren von Fougerais und dem großen Marſchall 
Turenne nachfingen und tanzen? Sie haben Hörter leer genug 
gemacht.“ 

„Meines hochwürdigſten Heren zu Münfter glorreiche Ver; 
bündete!” murmelte der Bruder Henricus. „Laflet das Tanzen 
noch eine Weile, Herr Studente.” 

In diefem Augenblide erfüllte von neuem ein heftiges Ges 
töfe die Gaffe und näherte fi dem Haufe der Kröppel⸗Leah. 


198 








PVierzehntes Kapitel. 


ann die Hochwaffer fich verlaufen haben, dann hängt der 

Schlamm noch für lange Zeit an den Büfchen und überdedt 
Wieſen und Felder, und es bedarf mehr als eines Flaren Regens 
und heiten Sonnenfcheins, um das Land der Wüſtenei wieder 
zu entledigen. Und wenn die Flut gar in die Städte und Stuben 
der Menfchen drang, dann iſt das, was fie hineinteug und zus 
rücdließ, gleichfalls nicht fo bald ausgefehrt und vor die Tore 
abgefahren. 

In diefen fchlechten und ſtinkenden Tagen fieht aber der Herr 
mit Vorliebe auf folche Teichte, unverwäftliche Gefellen, die 
lachend über den Schmuß weghüpfen und ihre Hand zur Hülfe⸗ 
leiftung gern und lachend da anbieten, wo fich mancher Ehrbare, 
Wohlweiſe und Hochanfehnliche mit Ekel und Unluft abwendet 
und die Sache fich felber überläßt. Der Herr der Heerfcharen 
hatte nach dem franzöfifchen Abzug in Hörter feine Freude an dem 
telegierten Helmftedter, Heren Lambert Tewes. 

„Inkommodieren fich Euere erzellenten Liebden nicht,” rief 
der Student. „Redet das Befte hinter meinem Rüden von mir; 
ich werde mich erkundigen, was für einen neuen Unfug da die 
alte Bosheit, Meifter Beelzebub, in Hurar ausgebrütet hat. Hab’ 
ich e8 nicht ein Dutzend Mal gefagt: — neque tectum neque 
lectum, das ift die einzig flichhaltige Devife für diefe Nacht!“ 

Er fprang hinaus, doch die diesmaligen Hausfriedens⸗ 
brecher famen ihm bereits an der offenen Pforte entgegen, an 
ihrer Spige fein Oheim Ehen Helmrich Vollbort, der Pfarrherr 
bei St. Kilian. 


199 


Der, Ehren Helmrich, hatte, während am Bett der Kreöppel- 
Leah über den Handfhuh Juſts von Burlebede gehandelt wurde, 
in der Stummerigenftraße fein Zwiegelpräch mit dem Bürgers 
meifter Thönis Merz eifrig fortgefegt und willige Horcher im 
erboften gemeinen Weſen von Hurar gefunden. 

„Ss haben fie wiederum der Stadt Negotien nach ihrem 
Willen geordnet, die Herren von Corvey,“ hatte er zornig ger 
fprochen. „Wird fich Intherifche Bürgerfchaft auch diesmal wieder 
den Maulkorb felber überhängen? Lutherifches Kirchenamt wird 
reden und fich nicht den Mund verbieten laſſen!“ 

„Wir haben doch auch geredet, Ehrwürden; — aber was 
hilfts?“ meinte der Bürgermeifter. 

„Was es hilft? D ihe närrifchen Leute, klingt e8 euch denn 
noch nicht genug in die Ohren von dem Gnaden⸗ und Segens 
Rezeß, den euch der von Galen, fo fich Bischof von Münfter und 
euer Landesherr nennt, über diefelbigen gleich einer Schlafhaube 
ziehen wird? Behalter nur das Wort in der Kehle und die Fauft 
im Sad nach eurer faulen Art und wartet das nächfte Jahr ab. 
Den Hechtsfang und fonftige ſchnöde Nichtigkeiten wird man 
euch wohl laffen; aber eure Kirchen und Schulen wird man euch 
vor den Nafen fohließen ; dann fehet, ob ihr die Schlüffel mit euren 
Nesen wieder auffifchen werdet aus dem Fluß.” 

„Bas follen wie tun?” rief der Bürgermeifter, und — „Was 
follen wir tun, Ehrwürden?” Hang es im Haufen zornig und 
weinerlich nach. 

„Der Herzog —“ wollte Herr Thönis Merz fchwachmütig von . 
neuem beginnen, doch der alte eifrige Prediger unterbrach ihn 
fogleich: 

„Redet mir nicht von dem Braunſchweiger. Der rückt euch 
nicht mehr über die Wefer zu Hülfe. Ihr krochet vor ihm, wie ihr 
vor dem Münfterer Erochet, und fie lachten hinter eurem Nüden 
über euch, Greifet felber an und zu, wie und wo ihr könnt, weicher 
nur zollbreit, rücket immer wieder zu, Artikul für Artikul; laſſet 


200 





euch das Geringfte als das Höchfte fein. Was wollt ihe noch viel 
verlieren?“ | 

„Das weiß der liebe Gott!“ ächzte die Intherifche Bürger; 
fchaft von Hörter. 

„Der weiß e8 und hilft denen, die fich felber helfen wollen,” 
fprach Ehen Helmeich Vollbort feierlich. „Laſſet diefe Nacht nicht 
vergehen, ohne daß ihr euch rührt gegen Eorvey. Sie find heim; 
gezogen und zu Bett, wir aber find wachgeblieben. Werfet 
Panier auf gegen das Stift; fordert mit heller Stimme, fei eg, 
was es fei; laffet den Kampf nicht fchlafen gehen, wie die Mönche 
fchlafen gegangen find. Bei Sankt Veit fohwören fie, wir aber 
rufen den allmächtigen Gott, — voran gegen Corvey!“ 

„Sie haben ung der Jüden Geleit genommen; wir aber haben 
e8 auf dem Papier,“ meinte zaghaft der Bürgermeifter. 

„gaflet den Tag nicht dämmern, ohne daß die Abtei fich 
einem neuen Factum, Actum et Gestum gegenüber finde; wir 
find in dem Kriege, den fie wollen, und den legten Frieden wird 
Gott der Herr machen.” 

„Die Jüden aus der Stadt!” fchrie gell eine Stimme. aus 
dem Haufen, und hundertfiimmig folgte der Ruf: „Fort mit 
den FJüden aus Hörter! Unfer Recht! unfer Recht! unfer Recht !” 

Schon drängten fih wütend die Weiber vor: 

„Sie fanden mit den Franzofen auf du und du! Sehet ihre 
Häufer, — fie blieben unverfehrt, während in unferen fein Stuhl 
und feine Bank heil blieb! — Sie zahlten dem Turenne! fie 
zahlten dem Schandferl, dem Fougerais — fie fonnten ſich 1085 
kaufen, und die hohen Offiziere lagen bei ihnen und ließen bei ung 
ihre wüftes Volt nach Belieben haufen. Die Jüden, die Jüden 
aus der Stadt! Weg mit den Jüden aus Hörter!” 

Nun fiehen auch wir abermals einem Faktum gegenüber: das 
Wort, dag in der Iutherifchen Bürgerfchaft fiel, fand feinen vollen 
Widerhall in der Fatholifchen. Zum zweiten Mal in diefer Nacht 
ſtürzte fich ganz Hörter auf feine Juden, und felbft der Guber; 


20I 


nator, der Herr Hauptmann Meyer, ging mit, — widerwillig 
freilich; aber fie zogen ihn freundlich, an jedem Arm einer — 
rechts die Fatholifche, links die evangelifche Kirche. 

Den Meifter Samuel famt feiner Familie nahmen fie von 
der Gaffe vor feinem brennenden Haufe, die zwei oder drei anderen 
Familien holten fie zufammen, und fo famen fie im greulichen 
Gedränge, das elende jammernde Häuflein halbnadter Menfchen 
in ihrer Mitte, und hielten mit ohrzerreißendem Lärmen vor dem 
Haufe der Kröppelskeah, um auch die mit ihrem Entelfinde abs 
zurufen und mit den übrigen, Corvey zum Truß, vor das Tor 
zu führen. 

Der Mönch war aufgeftanden von feinem Schemel und hatte 
auch das huſſitiſche Schwert vom Boden wieder aufgegriffen; 
der Student aber frat den eindringenden Hörterfchen Würden, 
frägern im Vorgemach entgegen, kümmerte fih um den Bürger; 
meifter und den Hauptmann gar nicht, nahm dafür jedoch den 
Pfarrheren von Sankt Kilian mit zärtlicher Unverfchämtheit in 
die Arme und rief: 

„Mon Dieu, der Herr Onkel — nad) zwei Uhr morgens noch 
in der fchädlichen Winterluft! Was verfchafft mir die Ehre in 
meinem fchlehten Quartier?” 

„Fort, Narrenfpiel!“ fagte der Alte, mit Fräftiger Kauft den 
Neffen vor die Bruft fchlagend und ihn von fich ſtoßend. 

„Bas wünfhen die Herren?” fragte der Bruder Henricug 
von ber Schwelle der Kammer des Sergeanten; und der Guber⸗ 
nator Meyer trat geduckt vor, mit dem Federhute in der Hand 
und ſtotterte: 

„Ehrwürdiger Pater, das Haus und die Gaſſe iſt voll von 
ihnen — von den Unſrigen und Ihrigen. Ste kommen und 
fordern alle basfelbige. Sie kommen Arm in Arm gegen 
bie Jüden und wollen fie in diefer Nacht noch vor die Mauer 
feßen.” 

„Und wir nehmen nur unfer Necht, ehrwürdigſter Here Pater,” 


202 











tief der Bürgermeifter. „Wir haben der Jüden Geleit gehabt 
vor und nach dem Fahre Vierundzwanzig und find durch den 
Frieden auch in specie diefes Punktes ganz und gar reftituieret. 
Das weiß man zu Münfter wie gu Eorvey, und zu Hörter ift 
da fein Unterfchied des Glaubens. Wir fommen alle um unfer 
Recht.” 

Der Pfarrherr von Sanft Kilian fand mit untergefchlagenen 
Yemen und fah finfter auf den Mönch; der Bruder Henricus aber 
fah einzig und allein auf ihn. 

„Sie ftehen in einem fchlimmen Schein, Herr Paftore,“ ſprach 
der Mönch. „Die Flamme des Brandes züngelt noch hinter 
Ihrem Rüden; hatte diefes nicht Zeit, big die Aſche und der Schutt 
diefer Nacht kalt geworden waren?” 

„Ih komme mit den Leuten, die mir in diefer felbigen Nacht 
das friedliche Haus ftürmten und mit Steinen auf mich und 
mein Weib warfen. Andert es, Herr; — das ift Hörter und 
Corvey!“ 

Es hatte ſich während dieſes Geſprächs immer mehr des Volkes 
in das Gemach eingeſchoben. Schrill rief eine Weiberſtimme den 
Namen Leahs und auf der Straße ſchrien Hunderte ihn nach. 
Der Bruder Henricus hatte den Stadthauptmann zornig am 
Arm gepadt und fchüttelte ihn: „Wo find Eure Leute — fendet 
einen Boten nach Corvey — o Sankt Veit und — Kreuz Element, 
bei meiner Neiterehre, der’ erfte, der einen Schritt voran fut, 
liegt mit blutiger Platte am Boden! Hier für Corvey! Münfter 
und Corvey!“ 

„Höxter und Corvey! Her mit den Jüden! Weg mit den 
Füden! Hörter und Corvey!“ fchallte e8 zurück; und nun fat 
der Student einen Sat faft bis an die ſchwarze Dede des 
Zimmers; 

„Hörter und Eorvey! Kann ich den Dgean ſtill brüllen und 
follte Huxar nicht ftillen?! Bei meiner Burfchenehre, wer im 
Zummel fennt mich als guten Kameraden und den einzigen 


W. Raabe, Sämtliche Werte. Serie IL 14d 203 


Hörteraner mit Grüße im Hirnkaften? Wollt ihr nun Vernunft 
annehmen oder nicht? He Wigand — Wigand Säuberlich, tu's 
mir zu Liebe und bring mir die Zeter⸗Lieſe da vor dir zur Räſon 
und nach Haufe. An die Keöppelskeah wollt ihr? Et tu Brute, 
mein Sohn Hans Rehkop?! Donner und Teufel, feid ihr für 
Hörter und Eorvey, fo bin ich, Lambert Tewes, diesmal für 
Juda und Sfrael. Helmftedt gab mir consilium abeundi, — 
Hörter relegatio in perpetuum, nicht wahr, Herr Ontel? Aber 
Serufalem hat mich feit Jahren ernähret, getränket und gekleidet; 
— hier für Juda und Sftael, und wer’8 gut meint mit Höxter und 
Corvey, der fehreie mit; Vivat Hierosolyma!” 

Nun hatte er die Lacher auf feiner Seite und damit ein Großes 
gewonnen. Schon aber hatte er fich im engeren Kreife umher 
gewandt, und da fchlug er den Bruder Henricus auf die Schulter: 

„Willen Sie noch ein und aus in Hörter, Herr Pater?“ 

„Sankt Veit!” rief der Mönch, ratlos nach der Dede auf 
ſchauend. 

„Ihr, Herr Burgemeiſter?“ 

„O je, o gütiger Himmel!“ ächzte Herr Thönis Merz. 

„Ihr, Herr Gubernator?“ 

„Du haſt mich gekannt, ehe mir der braunſchweigiſche Algierer, 
der Noht, die Trommel abnahm, Lambert; das iſt mein Troft 
und meine Reputation. Jetzo gehe ich nur, wie man mich 
ſchiebt.“ | 

„So gehet Euren Weg, Herr Oheim,“ fprach der Student zu 
dem Prediger bei Sankt Kilian, und — 

„Ja!“ antwortete Ehren Helmrich Vollbort und trat über die 
Schwelle in das Kämmerchen der alten Jüdin. 

Bernunft? Wer ift eine Stunde nach der Sündflut imftande, 
Vernunft anzunehmen?! 


204 











Fünfzehntes Kapitel. 


uf das „Ya“ des Predigers hatte der Bruder Henricug die 
Achfeln gezuckt, aber er war zur Seite gefreten und hatte 
ihm weiter fein Hindernis in den Weg gelegt. Der Student fagte: 

„Nicht einmal ein Eitatum aus dem Flacco fällt einem ein.” 

Am Bette der Großmutter faß Simeath und blidte angftvoll 
zu dem finftern Mann im ſchwarzen Chorrod auf: 

„Großmutter ift eingefchlafen !” 

Ehren Helmrich Vollbort beugte fich über das Stroh und dag 
fümmerliche Kleiderbündel darauf; dann nahm er die Lampe des 
Meifters Samuel vom Tifche und ließ den Schein auf das Bett 
fallen: 

„Erhebe dich, Weib. Willft du im diefer elenden Stadt die 
einzige fein, die da fchläft in diefer Nacht?“ 

Wahrlich, das war fo: die Kröppel⸗Leah ſchlief! Da hielt der 
Bruder Heinrich von Herftelle die übrigen nicht mehr; — fie 
drangen in das Gemach, fo viel ihrer e8 halten wollte. Lambert 
Tewes ſchlug den Arm um die zitternde Simeath: 

„Fürchte dich nicht, Juda hat feit der Makkabäer Zeit feinen 
beſſern Kavalier gehabt als mich. Das Stift iſt zu Bett; treiben 
fie e8 noch weiter, fo können auch noch andere Leute als der 
Iutherfche und päpftliche Küfter Sturm in Hörter läuten. Machen 
fie e8 allzu bunt, fo fieht der Befen immer in der Ede, und wir 
fehren und fegen mit den Juden auch Hörter wie Corvey doch 


- noch in die Weſer!“ 


14* 205 


Das war ein frehes Wort; aber e8 war Wahrheit dahinter. 
Es wurde gelacht im Haufen, und eine haarige Fauft hob einen 
anfehnlichen Knotenſtock gegen die Dede: 

„Immer mit dem Zaunpfahl, Bruder Lambert! Gib du dag 
Seldgefchrei, du Sakermenter. Es find genug vorhanden, die 
endlich Ruhe in der Wirtfchaft haben wollen. Hörter und Corvey 
in die Wefer, und — Bivat der heilige Veit am Eorveytor! 
Nimm du das Kommando, Lambert!“ 

Vernunft?! — — 

Sie machten ein großes Gefchrei und fchürtelten das fchlafende 
alte Judenweib an der Schulter. Sie hob noch einmal den Arm, 
als wolle fie das Geficht gegen einen Schlag ſchützen; aber dann 
fiel der Kopf ſchwer zurüd und auch der Arm wieder herab, der 
Leib firedte fich, und der, welcher fie an der Schulter gerüttelt 
hatte, trat betroffen zurüd und rief: 

„zum Donner, die weckt feiner mehr in Hörter und Corvey!“ 

Da ftieß das Kind einen Jammerruf aus und warf fich über 
die Großmutter, doch die Großmutter konnte auch auf die arme 
Simeath nicht mehr achten. 

„Sie hat num freilich die Stadt verlaffen, und es war nicht 
nötig, daß wir mit Stangen und Schleßgewehr kamen, fie zu 
holen,” fagte der Bruder Henricug gegen Heren Helmrich Voll; 
bort gewendet. „Es find nur Minuten, da fragte fie mich, ob ich 
den Frieden gefunden habe.” 

Der Pfarrherr von Sankt Kilian antwortete nichts, aber der _ 
Bürgermeifter murmelte: 

„Selbft Herr Ehriftoph von Galen müßte fie jeßo liegen laſſen, 
wie fie liegt. Herr Paftore, laffet ung zu den Bürgern fprechen 
und morgen auf dem Rathaufe ein weiteres bereden. Ihr Leute, 
wer von euch will diefe Leiche vor die Mauer fchaffen?” 

Da ging ein Murten durch die rohe Gefellfchaft in der Schlaf; 
fammer bes Sergeanten vom Regiment Fougerais, und e8 kam 
die verdroffene Entgegnung: 


206 





„Dazu ruft die Gildemeifter auf oder ladet fie Euch felber auf 
den Budel.” 

E8 wurde Raum im Gemach und Plat auf der Treppe; ver; 
geblich hatte fich fchon feit einiger Zeit der Bruder Heinrich von 
Herftelle nach feinem Studenten umgefehen. Im richtigen Augen; 
blide erfchien diefer wieder auf der Schwelle, des Meifterd Samuel 
gitterndes Weib, die Siphra, vor fich herfchiebend: 

„Jetzt laßt das Heulen, Mutter. Die Kinder fchaffe ich Euch 
auch, und wenn’s den Troft vollfommen macht, den Alten gleichz 
falls. Da, hebt das arme Mädchen auf und fprecht ihr zu. Euer 
Haus Tiegt nieder, alfo nehmt hier Quartier und richtet Euch 
ein; es wird Euch niemand mehr flören. Hörter geht zuletzt 
Doch auch zu Bett, alfo haltet Eure Totenwacht.“ 

Bernunft! — Wenn einer in diefer Nacht in Hörter an der 
Mefer Vernunft gefprschen hatte, fo war das der Tod geweſen. 

Die gute Munizipalftadt Hurar benußte in diefer Nacht nicht 
mehr ihre Judenſchaft, um einen politifhen Widerhafen in das 
Fleifch des Stiftes Corvey und des Bistums Münfter zu 
ſchlagen. Wir wären vollfommen zu Ende, wenn wir nicht aus 
vielfacher Erfahrung wüßten, daß der hochgünftige Lefer deutfchen 
Geblütes fich fo leicht nicht zufrieden gibt. 

Am großen Refektorium der berühmten Benediktiner⸗Abtei 
Corvey fah’8 um diefe frühe Morgenzeit wunderlich aus. Nach; 
dem der Vater Adelhardus von Bruch von feinem Bogenfenfter 
aus den Fenerfchein über Hörter zur Genüge beobachtet und 
gloffiert Hatte, täufchte er das Vertrauen des Subpriors Herrn 
Florentius von dem Felde nicht. Behaglich ſchaudernd hatte er 
an feine geiftlichen Brüder in der rauhen Winternacht gedacht, 
und bei der Heimkehr hatte des Stiftes Armada wirklich ihr 
MWarmbier in den dampfenden Krügen auf den langen Eichen, 
tafeln aufgetifcht gefunden; dazu die Öfen in Glühhise und den 
Cellarius item und bereit, jegliches Lob von Prior und Probft 
befcheidentlich, aber feines Wertes bewußt, entgegenzunehmen. 


207 


Nun lag die Abtei zum zweiten Male in den Federn, aber der 
Vater Adelhardus hatte fich noch größer ergeigt: er war nicht mit 
den andern zu Bett geftiegen; einfam und allein hatte er inmitten 
der Halle, gerade unter der großen Kupferlampe, Stand gehalten 
und auf feinen Sohn Heinrich gewartet. 

„In ihrer Selbftfucht find fie hingegangen, nach genoffenent 
Guten; mich aber foll er finden, fo er labente lingua, mit lechzenz 
der Zunge, anlangt!” Und der Bruder Henricus hatte feinen 
geiftlihen Vater auf feinem Poften gefunden, nachdem er mit 
feiner Schar den Pförtner zum zweiten Male herausgefchellt 
hatte; und jeßo wollten wir, wir hätten des weißen Papieres 
noch fo viel vor ung als zu Anfang diefer echten und rechten Ges 
fhichte, denn mit dem Bruder Henricus kam num doch der Bruder 
Studio gen Eorvey, und fie fehüttelten einander die Hände über 
dem Tiſch, der Pater Kellermeifter und Meifter Lambert Tewes. 

Erft um fünf Uhr morgens dann hatte der Cellariug gefeufzt: 

„Molliter, molliter! fachte, o fachte, mein Kind!“ und die 
Warnung war vonnöten geweſen, denn e8 war eben der Stubdente, 
der ihn zu Bette brachte >— und an des Kellermeifters Tür 
füßten fie einander, und der Vater Adelhard fchluchzte: 

„Nach Wittenberg willt du, mein Junge? Junge, was willt 
du in Wittenberg? — Bleibe bei mir — eine Bi— bli — 009 — 
thef haben wir auch, — ich will fie dir morgen zeigen; — bleibe 
du in Corvey, mein braves Kind — ich zeige dir auch den Keller.” 

„Ra, alter Burfch, dieſes wollen wir befchlafen. Seht Ihr aber, 
Pater Henrice, fo haben ung die Götter nach ihrem Ratſchluß, 
dem Ahr ſchnöde ins Angeficht fprangt, doch diefen Hafen zube; 
reitet |” 

Der Bruder Heinrich von Herftelle aber hatte das Haupt 
gefchüttelt, als er vor feiner Zellentür fein huſſitiſch Schwert 
gegen die Wand lehnte: 

„Es ift nur eine geweſen, die den Hafen in diefer Nacht in 
Hörter oder in Eorven erreicht hat.“ 


208 











Der gute alte Mönch trug noch immer den Handſchuh Fufts 
von Burlebede an feiner linfen Hand; jeßt zog er ihn ab und 
fchlang ihn in den Griff der Huffitenwaffe; er nahm das alte 
Angedenken nicht mit in feine Zelle. Dem Studenten wies er 
ein Bett an, und zehn Minuten fpäter fägte, fang und rafpelte 
Lambert, wie im Wettfampf mit ganz Eorven, Horen und Metten 
zu gleicher Zeit. Da rafchelte es im Abteihofe in einem Reiſig⸗ 
haufen; fürfichtig ſchob ſich ein fcharfbefchnäbeltes, rotfämmig 
Haupt hervor, der eine Hahn, den der Gallier übriggelaffen, 
das heißt der dem Küchenmeffer fich entzogen hatte, wagte fich 
halb verhungert zum erften Mal aus feinem Verſteck, ſchwang 
fih auf die Höhe des Neifigs und frähete: da horchte der Vater 
Adelhardus im tiefen Schlafe auf, — und es war ein neuer 
Tag geworden, gerade fo grau und winterlich ftürmifch wie der 
letztvergangene. 

In Hörter hielt dag hebräiſche Völklein der toten Leah die 
geichenwacht, und die Weiber fangen den Trauergefang und 
fprachen der Simeath Troft zu. Der Meifter Samuel aber hatte 
noch ein anderes zu fchaffen. Er war mit Hammer, Säge und 
Art befchäftigt, die Tür des Haufes der Kröppel⸗Leah wieder eins 
zurichten, Der Herd war bereits notdürftig in Ordnung gebracht, 
und e8 fladerte auch fchon ein Feuerchen darauf und fang das 
Waſſer in einem Keffelhen. Durch die Fenfter zog freilich noch 
immer der Wind; wenn jemand im fiebenzehnten Jahrhundert 
in Deutfchland ſchwer zu befchaffen war, fo war dag der Glafer. 

Ehren Helmrich Vollbort faß eingefchloffen in feinem Studier; 
ftüblein, welches nach dem Garten zu gelegen war und feine Scheis 
ben noch unverfehrt hatte, Wahrlich ein Mann, fo faß der Pfarr; 
herr von Sankt Kilian inmitten feines Rüſtzeugs und fpißte 
fcharfe Keile zum Eintreiben in die Paragraphen und Fugen des 
drohenden Gnaden; und SegenNezeffes Chriftoph Bernhards 
von Galen, Bifchofs zu Münfter und Adminiſtrators von Corvey, 
der eben mit dem franzöfifchen Lonis Krieg gegen Holland führte 


209 


und gern das Seinige fat und riet, fo beiläufig Kolmar franzö⸗ 
fifh zu machen. — Der Bürgermeifter von Hörter aber Hub eben 
an, die Gaſſen feiner Stadt nach dem franzöfifchen Abmarſch zu 
fehren: — er, Herr Thönis Merz, hatte des guten Erempels 
halber felber einen Befen genommen und den zweiten Heren 
Migand Säuberlich Höflich in die Hand genötigt. 

Nah Mittag infpisierte der Corveyſche Gubernator und 
bifchöflih Münfterfche Hauptmann Herr Meyer wieder einmal 
die Wacht am Brudtore und warf fpähende, argwöhniſche Blicke 
über den Fluß nach dem verdächtigen, nebeligen jenfeitigen Ufer; 
er traute dem DOberftwachtmeifter Noht immer noch nicht, und 
diefer heimtücifche Nebel war ihm Außerft unbehaglich. Der alte 
Fluß rauſchte und grollte wie geftern über die zertrümmerte 
Brüde fort; doch ein neuer Fährmann war beftellt worden und 
zwängte feinen Weg, feuchend, wie geftern Hans Vogedes, den 
Waflern ab. 

Der Fährkahn ſchwamm auf der Wefer, und in ihm ftand, mit 
einer Scholarenzehrung des Stifts Corvey in der Taſche und 
feinen Horaz unter dem Arm, der Student Lambert Tewes und 
ſchwang den Hut dem Bruder Henricug zu, der dem tollen Lateiner 
wohlmollend nachwinkte. Der Student ging doch nach Witten⸗ 
berg, obgleich er den Keller des Vaters Adelhardus fennen ges 
lernt hatte. 


Nun trat eben der Hauptmann zu dem Bruder Heinrich von 
Herftelle, ihn zu begrüßen; und der Bruder wendete fich zu ihm 
und fagte: 

„Aber Sie ift noch geredet im Konvent, Herr Gubernator, 
Man wird Sie bei erfter paffender Gelegenheit Seiner fürftlichen 
Gnaden von Münfter zur Promotion vorfchlagen, zum Avance⸗ 
ment,” 

Da lächelte der Hauptmann gerührt und meinte: 


„Ein Gnadengehalt, vielleicht mit dem Titul Major, wäre 


210 








mir wohl das Annehmlichfte. Ich bin und bleibe ein halber 
Menfch feit der verfluchten Trommelgeſchichte.“ 

Der alte, tapfere Mönch zudte die Achfeln und blickte wieder 
feinem Freunde Heren Lambert nad, 

Zu dem fagte eben, als der Kahn drüben ans Ufer fließ, der 
Fährmann: 

„Du willſt alſo doch nochmalen in das gelehrte Weſen hinein, 
Tewes? Tu's nicht; laß dir raten, bleib in Höxter. Wir ſtehen 
alle zu dir und machen dich ſeinerzeit zum Burgemeiſter, du 
paſſeſt uns ganz und gar auf den Leib.“ 

Da lachte der Student und zitierte noch einmal den Flaccus, 
doch jetzt nicht in ſchlechten Reimen, ſondern, wie er meinte, in 
guter poetiſcher Proſa, ſelber verwundert ob des klaſſiſch⸗ melodi⸗ 
ſchen Tonfalls: 

„Unſinn trieb ich lange genug und tappte im Irrſal; ging um 
die Kirche herum, ein Verächter der Götter und Menſchen. Doch 
nun mwend’ ich das Segel und rückwärts fteur’ ich bedenklich.“ 

„Ra, noch iſt's Zeit,“ brummte der. Fährmann, „befinn 
dich, Lambert. Es ift nichts Kleines, Bürgermeifter von Hörter !” 

„Für heute laffen wir den alten Merz in Ruhe auf feinem 
furulifchen Lehnftuhl, Jochen,“ rief der Student, dem Schiffer die 
Hand drüdend, „dem Heren Onkel und der Frau Tante möchte ich 
freilich fchon das Vergnügen und die Überrafhung gönnen. 
Weißt du was? — Ich komme wieder!“ 

Damit fprang er ans Ufer und ging raſchen Schrittes auf 
Lüchtringen zu. 

Sch fomme wieder! das wird oft und leicht gefagt. Diefer 
Helmftedter Studiofus der Nechtsgelahrtheit ift zwei Jahre nach 
der Krönung des erften Königs in Preußen als Profeſſor der 
Beredfamkeit zu Halle geftorben, und fein Horatius foll ſich in 
den vierziger Fahren des achtzehnten Jahrhunderts in der Biblio, 
thef des erften Profeffors der Aſthetik, Alexander Gottlieb Baum; 
garten, wiedergefunden haben. 


211 


Eulenpfingiten. 
Erftes Kapitel. 


D° dag was schöne, dat weder klar, und die Frankfurter 

Gloden, die am 22. Mai 1858 das Pfingftfeft einläuteten, 
läuteten harmonifch in den entflandenen Wirrwarr, von dem 
wir erzählen wollen, hinein. Die Sonne hatte den ganzen Tag 
gefchtenen und ging fehr ſchön unter über Frankfurt am Main, 
Wenn fie es fonft recht wohl verfteht, ihre Schleppe mit einem 
Griff zufammenzuraffen und raſch über den Horizont hinüber⸗ 
zutteten, fo ging fie diesmal in vornehmer, Tächelnder Ruhe, und 
der rote Saum ihres Gewandes fchleifte lang durch den Abend 
nad. Die Stadt hatte vollflommen Zeit, legte Hand an ihren 
Puß für den morgenden Tag zu legen, und tat e8 mit Eifer im 
Innern wie im Außern. 

Ein Perfonenzug der MainsWefersBahn hatte den Mainz 
Weſer⸗Bahnhof gerade beim Ausklingen des PVigiliengeläutes 
erreicht, und die Tante Lina Nebelung war ausgeftiegen und war 
richtig von Käthchen Nebelung, der Nichte, fofort „der Befchreiz 
bung nach” erkannt worden. 

Der Legationsrat hatte die Tante dem Tüchterlein diplo; 
matifch genau und zwar fehr häufig abgemalt. „Sch habe fie 
feit zwanzig Jahren nicht gefehen,” fagte der Bruder Legations⸗ 
rat, „aber fie hat fich nicht verändert, fie kann fich nicht verändert 
haben; e8 liegt nicht in ihrem Charakter, in ihrer Natur; ich kenne 
fie darin.” Darauf war dann jedesmal die allergenanefte Perz 


212 





fonalbefchreibung der Tante, wie fie vor zwanzig Jahren war, 
gefolgt, und zu allem übrigen trug Käthchen Nebelung auch noch 
zwei vor einem halben Jahre aus New Dorf gefandte Photo; 
graphien der guten Dame (ein Bruftbild und ein Bild in ganzer 
Figur) in der Tafche. Daß aber der Papa nicht mit zum Bahnhof 
ging, fondern e8 dem Kinde allein überließ, die anfommende Ver; 
wandte aus dem Gewühl herauszufinden, das eben hatten die 
Furien, die Erinnyen gewollt. Das war der Spaß, den fie ſich 
zu Pingften machten. 

Mit roten, verweinten Yugen und zudenden Lippen, verftört, 
ärgerlich und voll Angft, an die Unrechte zu geraten, fand Fräu⸗ 
lein Katharina Nebelung im Getümmel, ihre beiden photogra; 
phifchen Kabinettftüde nebft dem tränenfeuchten Tafchentuche in 
der Hand, 

„Es ift zu abſcheulich!“ hatte fie gefagt, und dann war der 
Zug herangefchnoben und hatte ausächzend feine Inſaſſen von 
fich gegeben. Arg war das junge Mädchen hin und her gefchoben 
worden; e8 war faft zu arg gewefen, und die Leute waren doch 
eigentlich zu rückſichtslos; aber als der Schwarm fich fo ziemlich 
verlaufen hatte, hatte das Kind fchüchtern vor einer flattlichen, 
länglichen, in ein graues Neifefoftüm gefleideten und etwas 
verwundert, verfehnupft um fich blidenden Dame gefnirt und 
— immer ihre Photographien in der Hand — dem hellen Weinen 
nahe, geftottert: 

„Snädige Frau — Fräulein — liebe Tan — vielleicht bin 
ich Käthchen, — Käthchen Nebelung!“ 

„Wa — was? Bift du vielleicht Käthchen? meine Nichte 
Katharina Nebelung?” 

„Sa, liebe Tante — o Gott fei Dank!” hauchte dag junge 
Mädchen, 

„Mio du bift eg,“ fagte die Deutfch- Amerikanerin, klopfte auf 
die kleine Hand, die frampfhafter denn je die zwei Photographien 
hielt, aber jetzt fchnell mit ihnen in die Taſche fuhr — neigte 


213 


fih, gab der Deutfch-Frankfurterin einen ruhigen Kuß und 
ſprach: 

„Aber ich wundere mich doch! Du allein? Ohne deinen Vater? 
Iſt dein Vater nicht zugegen? Weshalb iſt dein Vater nicht zu⸗ 
gegen?“ 

D a8 war die Frage! und der Leſer wird fie mit der Tante 
wiederholen. Was ung anbetrifft, fo fragen wir nicht nur Wo? 
fondern auch Wer? Nicht nur wo iſt dein Vater, fondern auch 
wer ift dein Vater, — diefer Herr Legationsrat von Nebelung, 
Heines Käthchen? Damit find wir drin, — im Hader, Verdruß 
und Unfrieden mit aller Welt, wie der alte Biedermann e8 fich 
und uns und vor allen Dingen der Tante recht hübſch zuge⸗ 
richtet hatte. 

Man hat fih an die Stien zu greifen, wenn man e8 ſich gez 
nauer überlegen will, wie vafch der Adler zur Sonne und wie 
langfam das Faultier in den Gipfel des Baumes emporfteigt: 
der Karriere des Nats Nebelung wegen brauchte fich jedoch nie; 
mand an den Kopf zu fallen. Der Mann hatte Jurispruden; 
fundiert, hatte fich das Wohlwollen und Zutrauen feiner Borges 
feßten erworben und war nach Frankfurt gefommen als Sekre⸗ 
tarius des Gefandten für — für — beim Ruder des Charon, es 
ift ung augenblidlich nicht möglich, ung auf den Namen des 
Staates zu befinnen, den diefer Gefandte damals vertrat am 
durchlauchtigften deutfchen Bundestage! Beide find feit Jahren 
hinübergegangen, der Gefandte wie der Staat; daß der Herr 
Sekretär Nebelung mit dem legten Eremplar des Landesordeng, 
dem daran haftenden perfönlichen Adel und dem Titel Legations⸗ 
rat noch übrig ift, dag eben iſt unfer ganz ſpezielles Glück. Wir 
haben gottlob fchon öfters dergleichen Venuswürfe zu vergeichz 
nen gehabt. 

Es war Mehreres, was den Legationsrat bewog, in Frank 
furt am Main zu verbleiben, nachdem er dafelbft überflüffig ges 
worden mat. 


214 








Erſtens, natürlich das Ausfterben des angeftammten 
Fürftenhaufes felber. Was war das Vaterland ohne den Vater 
desfelben? Nichts! — Gründlicher wie dem Nat Mlerius von 
Nebelung durch das höchftfelige Abfcheiden Alexius des Drei; 
zehnten war felten einem Staatsangehörigen der Boden der 
Heimat unter den Füßen weggezogen worden. 

Zweitens, feine Verheiratung mit der Witwe eines 
Frankfurter (die Dame felbft war feine Franffurterin), die 
gleichfalls feinen Gefallen an Nullmalnullburg fand und felt 
famermeife an ihren von dort her angeheirateten Verwandten 
noch weniger als feinen. 

Drittens, die Geburt feiner Tochter, die vom erſten 
Aufblick an fich auf den Standpunkt ihrer Mutter ftellte und nach 
dem Tode derfelben diefen Standpunft fefthielt. 

Viertens, eben der Tod feiner Frau. 

Fünftensg, feine angenehme Wohnung auf der Hanauer 
Landſtraße. 

Sechstens, ſein Freund und Nachbar auf der Hanauer 
Landſtraße, Herr Florens Nürrenberg, und: 

Siebentens, er ſelber, Legationsrat Alex von Nebelung, 
ohne daß wir uns hier eines Pleonasmus oder einer Tautologie 
ſchuldig machen. Wem übrigens daran gelegen iſt, die ſonſtigen 
ſechs Taufnamen unſeres Gönners zu erfahren, der mag ſelber 
im Kirchenbuche zu OXxoburg nachſchlagen. 

Es iſt immer unſer Beſtreben, ſo kurz als möglich zu ſein, und 
das Längere und Breitere über uns kommen zu laſſen, aber nicht 
es faul an uns heranzuziehen. Wir könnten nun ganz wohl eben 
aufgeführte ſieben Punkte durch AA, aa, BB, bb uf. ing 
Unendliche zerlegen, tun's aber nicht, fondern wenden ung zum 
Freunde unferes Freundes und Gönners und fagen einiges über 
den Heren Kommerzienrat Florens Nürrenberg, den Nachbar 
des Heren Legationsrats, 

Einiges? Das Wort reicht doch nicht aus men Manne 


215 


gegenüber, den der legte Doge von Venedig, nein, der lebte 
reichsunmittelbare Bürgermeifter der weiland freien Reichsſtadt 
Rottweil am Nedar aus der Taufe gehoben hatte. Das war im 
Jahr 1800 gejchehen, und der Vater des Täuflings war Präfiz 
dent des Faiferlihen Hofgerichtes und aus Sachfenhaufen gebür⸗ 
tig. Nah Sachfenhaufen verzog er denn auch wieder mit feiner 
Familie, nachdem der die erfte württembergifche König Fried; 
eich auch Rottweil verfchluct hatte, und dag Eaiferliche Hofgericht 
dafelbft ebenfo überflüffig geworden war, wie der Legationg; 
rat von Nebelung einige vierzig Jahre fpäter zu Frankfurt am 
Main. 

Ob der Faiferliche Rat Herr Elardus Nürrenberg als ein ver; 
möglicher Mann von Rottweil nach Sachfenhaufen ging, können 
wir nicht fagen; allein fehr vieles deutet darauf hin, daß er feine 
Schäflein am Hofgericht nicht ohne Verſtändnis gefchoren habe. 
Sein Sohn Florens faß jedenfalls gegen Ende der fünfziger 
Sahre in der Hanauer Straße in der Wolle, als ein Mann in den 
beften Jahren, Darmftädtifcher Kommerzientat, gleichfalls Wit; 
wer und als der Vater eines Sohnes, der wiederum Elard hieß 
und fi in den noch befferen Jahren des menfchlichen Lebens bes 
fand. Bis zum Jahre 1850 hatte e8 fih Here Floreng zu Höchft als 
ein berühmter Tabaksfabrikant fauer werden laffen; aber nachher 
— fonnte er’8, und beim Beginn unferer Gefchichte fonnte er’8 
immer noch. Er bewohnte mit feinem Sohn (NB. wenn derfelbe 
in den Ferien daheim war) und feiner Haushälterin, der Frau 
Drißler, fein eigenes Haus mit Garten in der Hanauer Lands 
ftraße; der Nat Nebelung gegenüber wohnte zur Miete, jedoch als 
eine ftille Familie bereits feit fünfzehn Jahren in demfelben 
Haufe und Stodwerk; ja, er war fogar während diefer Zeit zwei— 
mal mit dem Geundftüd verkauft worden, und der neue Befiger 
hatte ihn wie das Käthchen ſtets gern mit in den Handel ges 
nommen, 

Der jüngere Elard hatte auf verfhiedenen Univerfitäten 


216 





Philologie fendiert und hatte Stalien und Griechenland mit 
Nutzen gefehen. Er war Profeffor der Aſthetik zu Heidelberg und 
augenblidlih in den Pfingftferien zu Haufe. Sachverftändige 
behaupteten, daß er zu den fchönften gelehrten Hoffnungen des 
deutfchen Vaterlandes gehöre, und — wir dürfen e8 gleich fagen 
— Fräulein Käthchen Nebelung teilte diefe Hoffnungen des 
Baterlandes; — ſchnöde Kritiker werden das wohl den ganz 
gewöhnlichen Noman-Apparat nennen. 

Außer feinem Profeflor befaß der Kommerzienrat Nürren⸗ 
berg eine der größten Sammlungen gläferner Pokale zu Frant; 
furt am Main. Seine Kakteenzucht war weit berühmt, und es 
eriftiert natürlich auch ein ganz neuer Cactus Florens Nürrenberg. 
Mit feinem diplomatifchen Nachbar war der vergnügliche Patri⸗ 
zius politifh einig. Beide betrauerten eine untergegangene 
fchönere Welt, der Kommerzienrat jedoch mit einem höchft voll; 
fommenen Behagen an der Gegenwart. Um einen Hausfrauen; 
ausdruck zu gebrauchen, waren ihm drei Fingerfpigen Reize 
der Vergangenheit vollftändig genügend, um dem augenblidlich 
vorhandenen Tage den nötigen Hautzgout zu verleihen. Der 
Legationsrat brauchte mehr; und damit werfen w ir ung wieder 
in die volle Gegenwart und fehren zurüd zum MainWefer; 
Bahnhof, wo wir die Tante Lina und dag aufgeregte Käthchen, 
wenn auch notgedrungen, fo doch fehr ungern nach der erfien 
flüchtigen Begrüßung verlaffen haben. Es ift die höchfte Zeit, 


217 


Zweites Kapitel. 


Ar ift mir eine ſchöne Geſchichte!“ rief die Tante Nebelung. 

‚Man kann ein Jahrhundert von der Heimat abwefend 
fein, und man findet fich nach der Rückkehr fofort wieder in dem 
alten Spuk, Ach hätte es mir gleich denken fünnen. Na, ein 
Gutes hat es doch: da behält man eben feinen mühſam errunge; 
nen Gleichmut und verfchiebt feine Rührung auf eine unbeftimmte 
paflendere Gelegenheit. Go ahead, alfo fie haben fich in den 
Haaren gelegen?” 

„D ganz geimmig! Ganz fohreckich müſſen ſie ſich gezankt 
haben! Elard — ich meine der Herr Profeſſor Nürrenberg, kam 
atemlos, und dann war ich fo ärgerlich — deinetwegen, befte 
Tante; und da fagte ich ihm meine Meinung über feinen Papa; 
und dann ſtürzte er wieder fort, meinem Papa nach, und die 
Droſchke kam, und ich mußte außer mir einfteigen und hierher 
fahren. Und hier bin ich und was für eine Angft ich ausgeftanden 
babe, dich nicht zu erkennen und dich zu verfehlen, Tante Lina, 
das kann ich gar nicht mit Worten ausdrüden. Was wirft du 
von uns denken? und wir hatten doch alles getan, um deinen 
Empfang fo feftlich als möglich zu machen!“ 

„Hm,“ fagte die Tante, „berubige dich, mein Kind; ich kenne 
meine Familie, und folange ich denken kann, find unfere Familien; 
fefte immer in diefer Art ausgefallen, Guten Willen haben wir 
ftets gehabt, leider genügt derfelbe nur nicht, um fich das Leben 
angenehm zu machen in diefer fchlechten Welt, und fo bin ich 


218 





denn nicht ohne meine Gründe in die Fremde und nach Amerika 
gegangen. Und jest fomm, mein Kind; jet wollen wir nach 
Haufe fahren und uns eure Vorbereitungen in der Nähe anz 
fehen.” 

- Damit beftiegen beide Damen das Fuhrwerk, dag fie nach 
der Hanauer Landftraße führen follte, und fie fuhren ab vom 
Main MWefer- Bahnhof durch das Gallustor, den Fluß entlang 
und dann über die Promenade nordwärts zum Allerheiligentor; 
aber am Metzgertor rief Käthehen: 

„D Gott, da rennt ja der Papa! Lieber Himmel, er rennt, — 
er rennt nach Sachfenhaufen hinüber !“ 

„Wo?“ fragte die Tante, fich aus dem Fenfter biegend. 

„Dort, — dort über die Brüde! Halt, Kutſcher — o Tante, 
laß ung halten, wir holen ihn noch ein und nehmen ihn wieder 
mit ung um!“ 

„Nein I” fprach die Tante Lina Nebelung mit Nachdruck. „Da 
er e8 einmal fo gewollt hat, fo nehmen wir ihn nicht mit ung, 
fondern laffen ihn laufen. Es liegt fo in unferer Familie; fahr zu, 
Kutſcher; — er wird wohl feinerzeit von felber umkehren. O 
Kathy, du kennſt unfere Familie doch noch nicht fo lange als ich.“ 

Sie faß bei diefen Worten fehr aufrecht, während das Käth- 
chen nunmehr in vollftändiger Verzweiflung fich zurüdwarf und 
das Geficht mit dem Tafchentuch bededte. Letzteres ahmte die 
Tante auf der fchönen Ausficht mit beiden Händen memnons⸗ 
bildartig nach und ließ erfi am Obermaintor die Dede wieder 
finfen. Da fam dann ein verzwickt⸗komiſch Geficht zum Vorfchein, 
und Fräulein Karoline Nebelung fprach: 

„Du, jeßt gud nur auch vergnügt auf. Will der Alex Eulen; 
pfingften feiern, fo tanzen wir beide doch um die Maje. Alfo von 
eurem Herrn Nachbar brachte mein guter Bruder diefe liebliche 
Stimmung mit herüber?” 

„Jawohl! Sie pflegen immer an folchen ſchönen Tagen wie 
diefer im Garten des Herren Kommerzienrats in der Laube eine 


W. Naabe, Sämtliche Werke, Serie IL 15d 219 


Pfeife zum Kaffee zu rauchen, das heißt der Papa ſchnupft nur; 
und feit ich mich befinnen kann, ift das fo gewefen! Da fagt der 
Papa: Ich gehe noch ein Stündchen hinüber, aber zur rechten 
Zeit bin ich wieder da und dann holen wir das Tantchen; nimm 
dich nur zuſammen, Käthchen, daß wir es ihr recht behaglich bei 
uns machen, e8 ift unfere Pflicht und Schuldigfeit! — Nun hatte 
der Nachbar Nürrenberg fhon am Morgen ganze Körbe voll 
Blumen geſchickt; alle Vaſen find gefüllt, und es iſt ganz ein 
Garten bei ung. Ich hatte mir eben die legten Schleifen zurecht 
gezogen und faß vor dem Klavier, um mein Herzklopfen zu verz 
Himpern — da geſchah das Schredliche. Plößlich ſtürzt der Papa 
in die Tür wie ein Untier, ſchlägt fich vor die Stirn, trampelt 
mit den Füßen und lacht dazwiſchen wie ein Böfewicht auf dem 
Theater. Ich fiße bleich und erftarrt und wage e8 nicht, ihn anzu⸗ 
reden, und als ich ihn Doch anrede, fchreit er: Alles hat ein Ende, 
felbft meine Geduld; — o dies fich fagen, fich bieten laſſen zu 
müſſen, — von folh einem Schneebergerfehnupftabafsgroß, 
händler; — fieh aus dem Fenfter, Käthchen, — fiehft du was? 
— Ich war zitternd aufgelprungen und fah aus dem Fenfter, 
Siehft du was? ruft der Papa außer ſich. — Nein, o nein; 
was foll ich denn fehen? fiottere ih, — Einen Abgrund, — den 
Abgrund, der fi da aufgetan hat; es ift zu Ende mit der Freund 
fchaft, der Bekanntſchaft, — für ewige Zeiten zu Ende! — Einen 
Abgrund fah ich nicht in der Hanauer Landftraße, aber jegt fand 
Elard — der Herr Profeffor Nürrenberg, in der Gittertür und 
fah auch verftört nach unferm Balkon hinüber, und als er mich 
erblickte, erhob er die Schultern und Arme und ließ dann die 
auggebreiteten Hände finfen. Er fieht fonft fo geiftreih aus, 
und nun wurde feines Ausfehens wegen mein Schreden noch 
um Vieles größer, und ich faßte den Papa am Arm und rief: 
Papa, o Papa, was ift vorgefallen? — Nichts! fehnarrt der — 
alles! fügte er hinzu als einzige Erläuterung. Und da fpringt 
er herum umd fehreit: Luft! Luft! — die Pfingftweide! und er 


220 








ſchien dag heftigfte Fieber zu haben. Er fand feinen Hut und feinen 
Stock und wollte aus der Tür; ich aber faßte ihn jetzt weinend 
fefter und hielt ihn und ſchluchzte: Uber, Papa, wir müffen ja nach 
der Eifenbahn, — du willft doch jeßt nicht nach der Pfingfiweide?! 
fieh mich nicht fo an, Tiebfter befter Papa; fage mir ruhig, was 
gefchehen ift! — Da fah er mich aber doch fo an, aber gottlob 
kannte er mich wenigftens noch, und da murmelte er: Ya richtig, 
die Tante! . . auch das noch! in einer Stunde und zwanzig 
Minuten wird fie nach zwanzigjähriger Abweſenheit anlangen, — 
nein, e8 geht nicht, es ift nicht möglich, ih muß mir Faffung, 
Ruhe laufen! Kind, fahre voraus nad) dem Bahnhof, ich komme 
die nach! — Damit war er aus der Tür, und ich hörte ihn die 
- Treppe hinabftürgen, o Gott, und unfer Hausarzt wohnt in der 
Großen Bodenheimergaffe! — Tante, Tante, du haft eben 
felber gefehen, wie er ung nachgefommen iſt; — über die Brüde 
ift er, nach Sachfenhaufen ift er hinüber, und hier fahren wir am 
Nechenengraben! Wir hatten ung fo fehr auf dich gefreut; aber 
gewiß, gewiß hat er ein Gehirnfieber, und der Nachbar, der Herr 
Kommerzienrat, ift fchuld daran; — ich habe das Elard auch 
ſcharf genug gefagt, als der nun auch noch fam und mir feine 
Unschuld dartun wollte. O, ich habe ihn nicht zum Worte fommen 
laffen. So voll Angft und Zorn und Verzweiflung bin ich in 
meinem ganzen Leben noch nicht geweſen, und mie ich zu der 
Überlegung fam, daß ich die beiden Photographien mit nach dem 
Bahnhof nahm, das weiß ich nicht, das war ein Erbarmen des 
Himmels, und der hat fie mir in die Hand gedrüdt und mit; 
gegeben.“ 

In Norddeutichland hat man für ein derartiges Erzählen 
oder Berichten das wenn nicht hübfche, fo doch ziemlich bezeich— 
nende Klangwort rawweln; und heiter ließ die Tante Lina das 
Käthchen fich ausrammweln. Daß die Frankfurter Drofchfe nicht 
auf Gummirädern lief, war ficher; aber es war nicht einzig dag 
Stoßen des Wagens, welches den Oberkörper der Tante fo 


= 
* 221 


häufig in eine zudende Bewegung brachte; beim Umbiegen in die 
Hanauer Straße jedoch feßte fie fich plößlich feft hin und erfundigte 
fich erfchredend jach: wer denn diefer oft genannte Herr Elard 
eigentlich fei. Und Käthchen Nebelung, ihrerfeits plößlich angez 
firengt aus dem Wagenfenfter fehend, gab die erwünfchte Aus, 
funft, wenngleich in etwas unbeftimmter und fiodender Weife: 

„O, nur der Sohn des Herrn Kommerzienrats, der. Herr 
Profeſſor Nürrenberg. Weißt du, fonft auch ein guter Freund 
meines Papa. Er wohnt ung auch gegenüber, das heißt, jet 
wohnt er in Heidelberg und hält Vorlefungen, und wir fennen 
uns ganz gut feit langen, langen Jahren.“ 

„Ss?!.. Nur — und: feit langen, langen Jahren,“ fagte 
die Tante lächelnd, und dann hielt die Drofchfe. 

„Ser wohnen wir denn, und dort drüben wohnt der Herr 
Kommerzienrat,” feufste Käthchen. „O Tieber Himmel, wie ift 
mir diefe fehöne Stunde verdorben worden.“ 

„Recht nett,” fagte die Tante, und e8 war zweifelhaft, ob fich 
das Wort auf den erften Sat der Nichte — die Benachrichtigung, 
oder auf den zweiten — den Stoßfeufzer bezog. Sie flieg elaftifch 
aus, und ihr Handgepäd wurde ins Haus gefchafft (das übrige 
fam nad). Auf der Schwelle blickte die Deutfch- Amerikanerin 
noch einmal durch die Lorgnette nach dem gegenüberliegenden 
feindlichen Lager, und dann küßte fie die Nichte und fprach 
tröftend: 

„Nun trockne dir die Tränen ab, Kind; ich heule auch nicht.“ 

„Ja, du auch! Du kannſt wohl lachen!” 

„Das iſt richtig,” fagte die Tante, „als ich fo jung war wie 
du, wurde ich mir auch häufig genug felber intereffanter durch die 
hydrodynamiſchen Erfcheinungen meiner Natur; aber jegt bin 
ich Lehrerin der Phnfit und der Phyſiologie am Vaſſor College im 
Staate New Port gewefen und habe mir manchen Wind zu 
MWaffer und zu Lande um die Nafe wehen laffen. Was ift bie 
Träne? Eine ferdssichleimige Feuchtigkeit, wenig fpezififch 


222 








ſchwerer als Waffer, und enthält viel Soda in reinem, kochſalz⸗ 
faurem, fohlenfaurem und phosphorfaurem Zuftande.“ 

„Sütiger Gott, Tantchen?!” ftammelte Käthehen Nebelung, 
den Mund zierlich offen behaltend; doch ruhig ſchloß Fräulein 
Karoline Nebelung: 

„Kurz, ich kenne die Welt, Habe das Meinige drin erlebt und 
fenne deinen Papa, meinen lieben Bruder, gleichfalls. Sonft 
aber ift e8 mir feit meiner Abreife vom Vaterhauſe dann und 
mann gegeben worden, hier und da Ordnung zu fliften, und ich 
werde auch hier Drdnung zu fliften wilfen. Laß ihn nur nach 
Haufe kommen!“ 

Sie fliegen nunmehr in die fühle, angenehme Wohnung des 
Heren Rates hinauf, und fofort trat Tante Lina, auf deren Stirn 
jeßt das Abendrot wirklich in fehr ernftem Sinne glühte, auf den 
Balkon, warf einen prüfenden Bli nach rechts und links in die 
Hanauer Landftraße und auf das zierlihe Haus hinter dem 
niedrigen eifernen Gitter gegenüber. Es intereffierte fie doch fehr. 

Über das Gitter wuchs und hing dichtes maigrünes Gebüfch, 
und hinter dem Bufch fand der Nachbar Nürrenberg im langen 
grünen Schlafrod und hatte die erlofchene Pfeife an den Strauch 
gelehnt. Gefpannt vigilierte er feit dem Vorfahren der Drofchfe 
auf die Fenfter des Nachbars Nebelung. Jetzo erblidte er die 
Tante auf dem Balkon und fah, wie fie fih graziös über die 
Baluftrade beugte, 


„Da ift fie alſo!“ murmelte er, und haftig tief in die Tafche 
feines Schlafrods greifend, riß er ein Opernglas hervor und 
ſtarrte auch da hindurch. 

„Hm,“ fagte er, „eine gediegene, eine würdige Perſön⸗ 
lichkeit. Gut gearbeitetes Dedblatt. Ei, ei, hm, hm, es ift mir 
doch unangenehm, daß diefe Meinungsverfchiedenheit gerade 
heute zutage treten mußte. Und was konnte ich dafür? Nun, 
zum Teufel, hätte der leidige Satan nicht bereits die ganze 


223 


Dynaſtie geholt, fo würde ich fie ihm in diefem Moment zu 
fchleuniger Berüdfihtigung anempfehlen.” 

In eben diefem Moment wendete fih die Tante Nebelung 
und feat duch die Balfontür in den Salon zurüd. 

„Hm!“ wiederholte Herr Florens Nürrenberg hinter feinem 
Dpernguder. Die Tante gefiel ihm auch von der Rückſeite, und 
fie machte alfo in jeder Hinficht einen fehr vorteilhaften Eindrud 
auf ihn. 


224 








Drittes Kapitel. 


Fr wir diesmal, wie e8 fich gehört, dem Strich nach erzählen, 
fann niemand verlangen. Ganz und gar Ephemeron fährt 
die Gefchichte auf dem Wafferfpiegel unter den überhängenden 
Weiden hin und wider und kreuzt fechsmal, ehe du ſechs zählft, 
die eben hingezudte Bahn. 

Sie — der Legationsrat und der Kommerzienrat — hatten 
den füßeften Frühlingstag oder Frühfommertag, und zwar nach; 
dem fie beide, der eine mit dem guten Sohn, der andere mit der 
lieben Tochter, behaglich zu Mittage gefpeift und friedlich ihre 
Siefta gehalten hatten, dazu benutzt, fich in der Tat gründlich zu 
überwerfen. 

Seien wir num auch gründlich und berichten wir: warum! 

Wir willen bereits durch das Töchterlein, daß der Nat 
Nebelung nicht rauchte, fondern nur fohnupfte, und leßteres 
barmlofe Vergnügen hatten die Götter gleich benußt (wie nachher 
deutlich wurde), um darzutun, daß fie Tüde im Sinne führten, 
Beim Eintritt in den Garten hatte der Legationgrat dem Nachbar 
und Freunde die goldene Dofe, ein Gefchent feines höchftfeligen 
Landesheren, dargeboten, und Herr Florens Nürrenberg hatte 
behaglich den Daumen und Zeigefinger eingetaucht und — feinen 
Lehrjahren bei Bolongaro in Höchft fowie feinem gefamten eigenen 
Gefchäftsbetrieb zum Trotz — fofort nach dem Genuß dreimal 
genieft, 

nd, was ift denn d a 8?” fragte er denn auch einigermaßen 
erftaunt, und er hatte recht, zu fragen: was fonft nur ein günſti⸗ 
ges Zeichen der Götter fein foll, bleibt einem Tabaksfabrikanten 


225 


gegenüber jedenfalls zweifelhaft und erwies ſich diesmal als ein 
finfteres, unheiloordeutendes Omen. 

Nach der gewohnten Begrüßung hatten die beiden würdigen 
Herren in gewohnter Weife ihren Infpektionsgang duch das 
Gärtchen angetreten, und der Kommerzienrat hatte mit der 
Pfeifenfpige wie der Hand felbft auf die Fleineren Einzelheiten 
der in der Nacht vorgefallenen Veränderungen in der Vegetation 
aufmerffam gemacht. Der Legationsrat hatte als ein teilnehmen; 
der Dilettant über alles feine Meinung freundfchaftlich abgegeben, 
und nach einem Einblid in das Kafteendepartement hatten die 
beiden Nachbarn ihre feftbefimmten Plätze in der Laube ein; 
genommen. Es gab gar nichts Behaglicheres als ihre Stimmung 
in diefen Augenbliden. 

Bon drüben herüber jubelte Käthchens Stimme und Piano 
in den blauen Maienhimmel hinein; und der Profeflor der 
Aſthetik, Here Elard Nürrenberg, am offenen Fenfter feines auf 
den Garten fehenden Schülers und Junggeſellenſtübchens 
liegend, hatte nimmer in feinen Ferien himmelblauere Minuten 
genoffen. Auf feinem Tifche hinter ihm lag in des Frankfurter 
Poeten Wolfgang Goethes Liederbuche Alexis und Dora auf; 
geichlagen, und nach vorn hinaus durch das Weinlaub vor feinem 
Fenfter blinzelte der Profeffor durch das halbgefchloffene Auge 
und fagte: „Es ift zu herzig!“ 

Das war e8; und die Tante Lina wurde noch obendrein erz 
wartet, und auch Herr Florens und der junge Doktor freuten ſich 
auf die Tante, Die beiden Räte in der grünen Laube waren eben 
bei der Tante angelangt und bei den Blumen, die der Koms 
merzienrat gefchickt hatte, und bei dem MonftresPapierbogen mit 
dem Worte Willlommen, den der Legationsrat über die Tür ger 
nagelt hatte, Kein Wölkchen am Himmel, und morgen — Pfings 
ften! — morgen, Pfingften, das Feft der Freudel — — Ga, 
Eulenpfingften ! — — — — Hätte Satan, der Fürft der Finfters 
nis, ein Herz gehabt, er würde e8 froß aller feiner Bosheit nicht 


226 








darüber gebracht haben, jet feine Krallen durch den Jasmin zu 
ftrecfen, die beiden guten Papas bei dem ergrauten Haarwuchs 
zu faffen und fie mit den Stirnen gegeneinander zu floßen. 

Die Hölle Hat kein Herz! Das ift e8 ja eben, was wir ihren 
Fehler nennen, was fie felber aber fchnöderweife ihren Vorzug 
zu nennen beliebt. Und wenn wir eben dem Teufel feine alte 
Bezeichnung wieder gegeben haben, wenn wir ihn den Fürften 
der Finfternis nannten, fo widerrufen wir das Wort feierlichft. 
Es iſt nicht wahr, daß die Nacht, die Finfternis, vorzugsweiſe 
das Neich des Böfen iſt; im Gegenteil, e8 macht ihm gerade ein 
Hauptvergnügen, den fehönen, hellen, lichten, fonnigen Tag zu 
feinen fchlimmen Werfen zu benugen. Wenn die Sonne fcheint, 
wenn die knoſpende Roſe unter ihrem Strahl den Schoß zu 
öffnen willens ift, wenn die Lerche über dir fingt, wenn du die 
Flafche Asmannshäufer der Kühlung wegen im dunfelften 
Schatten des Buchengebüfches verbirgf, — wenn du, holde 
Braut, den Schein des prächtigften aller Firfterne in dem feligen 
Tropfen, der fich an der Wimper des Geliebten fammelt (die 
Tante Nebelung würde fich freilich anders ausdrüden), fich wider; 
fpiegelm fiehft: dann — dann gerade ift die richtige Zeit für old 
iniquity: dann ift die Zeit, wo der feltene gewitzigte Menſch 
der Schönheit und Lieblichkeit der Welt um ihn her am wenigften 
traut. 

„Ih traue dem Dinge nicht fo recht,“ fagt der gemwißigte 
Menfch, und diefe Nedensart, die er wahrlich nicht aus fich felber 
hat, ſtammt nicht aus der dunklen Nacht, fondern von dem hellen 
Tag ber. Der alte Feind weiß es nur allzu gut, wann er fich 
am nachdrüdlichiten ein Vergnügen mit den Erdbewohnern 
machen und feine Späße am boshafteften in Szene fegen kann. 

Was war e8 denn gemwefen, was den beiden guten alten 
Herren die Laune in diefer gemütlichen Stunde verdorben hatte? 

Nichts! Ein Nichts! Ein Garnichts! der Schatten eines 
Gefpenftes — Seine höchftfelige Hoheit Alexius der Dreigehnte, 


227 


Aber wenn derfelbe fich als der dreisehnte Gaft höchftteübfeligft 
an einer feſtlich geſchmückten Hochzeitstafel niedergelaffen haben 
würde, fo hätte fein Erfcheinen da feine verftimmendere Wirkung 
haben können als hier in der Jasminlaube, wo man zu drei fich 
befand. 

Er war in die Laube eingefreten und zwar in his nightgowne, 
das heißt nicht in der Uniform feines Leibbataillong, fondern im 
ſchwarzen Frad, den Zylinderhut in der Hand und den Groß 
fordon feines Hausordens famt dem Stern über der Bruft: 
der Kommerzienrat Nürrenberg aber hatte unter dem Einblafen 
des böfen Genius der Stunde, und wahrfcheinlich ohne es felber 
zu wifjen, einen fchlechten Wit über ihn gemacht, und die Hölle 
hatte gelacht über diefen Wit. So war es! Das war es gemwefen; 
und wir find feft überzeugt, daß dem gutmütigen verftorbenen 
Fürften die Sache felber fehr Ieid getan haben würde, wenn er 
in der Gruft feiner Ahnen eine Ahnung davon gehabt hätte, 

Eine von Feldwachtdienftübung heimfehrende und durch die 
Hanauer Landftraße dem Allerheiligentor zu marfchierende Ab; 
teilung preußifchen Fußvolkes hatte Anlaß gegeben, daß fich 
die Unterhaltung der beiden Nachbarn in rem militarem wendete, 
Die Duerpfeifen und Trommeln der blauen Füfiltere hatten mit 
friegerifehem Schall den Beginn des Krakehls begleitet. 

Bon den Pidelhauben war man auf die Soldatesfa der guten 
alten Zeit mit dem Zopf und den Klebeloden geraten; vom Jahre 
1858 und der Schlacht bei Bronzell auf das Jahr 1757 und die 
Schlacht bei Roßbach; von der freien Stadt Franffurt auf die 
olim freie Stadt Rottweil, und von dem Senat und Volk von 
Rottweil auf Seine Hoheit den Fürften ler den Dreisehnten. 
Daß aber der Legationsrat Herr Mler von Nebelung e8 im Grunde 
geweſen war, der den abgefchiedenen Souverän heraufbefchwor, 
machte ihn nachher um fo jähzorniger und grimmiger, 

Vom Abt zu Gengenbach, der den Leutnant zum zweiten 
fhwäbifchen Kreisregiment zu ftellen hatte, und der Übtiffin von 


228 








Rottmünfter, die den Fähnrich lieferte, war e8 natürlich nur ein 
Schritt zur freien Stadt Rottweil, die den Oberleutnant anz 
fchaffte, gewefen. Der Legationsrat aber hatte einen guten Witz 
zu machen geglaubt, als er mit feinem diplomatifch feinften 
Lächeln den Freund Kommerzienrat in der Perfon jenes Ober; 
leutnants für alles verantwortlich machte, was dem nieder; 
gehenden heiligen römischen Reiche bis zum Jahre 1803 Komifches 
und Tragifches begegnet war, Himmlifche Pfingften! die augen⸗ 
blilih Station Bonames paffierende Tante Lina konnte feine 
Ahnung davon haben, was für ein Empfangsvergnügen ihr der 
Abt von Gengenbach, die Abtiffin von Rottmünfter, die Stadt 
Rottweil und der Fürft Alexius der Dreizehnte in der Hanauer 
Landftraße zuſammenquirlten! 

Nach dem guten Wit des Legationsrates war der fchlechte 
des Kommerzienrates wie der Schwefelgeftant nach dem Ver; 
puffen des Schwärmers gefommen, und Fräulein Käthchen 
Nebelung hatte auch, wie wir willen, feine Ahnung von dem, was 
unter dem Jasmin vorging, obgleich fie eine Sammlung der 
fhönften deutſchen Volkslieder auf ihrem Nähtiſchchen liegen 
hatte und vor ihrem Piano fang: 


„Was foll ich die Flagen, 
Herztaufender Schaß? 
Wir beide müffen fcheiden 
Und finden feinen Pla,” 
Aber: 
„Alle Teufel, was haben denn die beiden Alten?“ fragte jetzt 
mit einem Male der Profeſſor der Aſthetik, in feinem weiland 
Schülerftübchen über Aleris und Dora aufhorchend. 


„Geb, hol meinen Mantel, 
Geh, hol mir meinen Stod, 
Set muß ich von dannen, 
Muß nehmen b’hüt Gott,“ 


229 


fang Käthchen; Doch wenn der Vers auch paßte, fo war die füße 
Stimme doch zu fern, den ausgebrochenen Hader zu übertönen; 
fie begleitete nur leife, leiſe die kurz und Freifchend hervor, 
geftoßenen Meinungsänßerungen ihres Papas, fowie das 
dumpfer gehaltene Dreinreden des Nachbars Nürrenberg. 

Näher rief es: Meris! Das heißt, der Profeſſor Elard 
Happte fein Buch aufgefchlagen mit dem Drud auf den Tiſch und 
tief aufipringend und zum Fenfter eilend: 

„Bei der Erinnyen Fadel, dem Bellen der höllifhen Hunde, 
— wahrhaftig, fie zanken fih im Ernft!“ 

Das Weinlaub vor feinem Fenfter und das Gezweig der 
Laube verbarg ihm die beiden Streithähne; aber er vernahm fie 
freilich deutlich genug, und — eine Zigarre angündend, zitierte er: 


„Halte die Blige zurüd! 
Sende die ſchwankenden Wolken mir nah! Im nächtlichen 
Duntel 
Treffe dein leuchtender Blitz diefen unglüdlihen Maft!” 


Dann ftieg er die Treppe hinunter in den Garten. Drüben 
beendigte Käthchen Nebelung ihre Volkslied: 


„Mein allerfeinft Liebchen, 
Nimm mich in deinen Schuß! 
Sept woll'n wir erft lieben, 

. Den Leuten zum Trug! 


Den Leuten zum Poſſen, 

Den Leuten zum Truß: 

Ach will meinen Schaß lieben, 
Wenn mich's gleich nichts nutzt.“ 


Sie zankten ſich wahrlich im vollen, im bitterſten Ernſte! Der 
entſetzte Elard fand bie beiden Freunde in heller Wut gegen: 
einander aufgerichtet wie AltzLimburg und Haus Franenftein 


230 








im Kampfe um das Recht der Verwaltung und den Stadtlädel 
von Franffurt am Main. Mit den entbrannten oder erbleichten 
Nafenfpigen aufeinander einbohrend, ftanden fie fih gegenüber 
am grünen Tiſch und funkelten fich an mit dem uralten Gift: 
lächeln, für welches Haus Zollern und Haus Habsburg am grünen 
Tisch in der Eſchenheimer Gaffe damals noch ebenfalls ihre Leute 
hatten. 

„ber lieber Vater — aber Herr Rat — befter Herr Nach— 
bar?!“ ſtammelte der junge Profeffor. „Um Gottes willen, was 
hat e8 denn gegeben? um was handelt e8 ſich hier?“ 

„Er hat meinen hochfeligen Herrn einen Hering genannt!” 
feuchte der Legationsrat. 

„Ex hat daß kaiferliche Hofgericht und die Stadt deiner Väter, 
Elard, die freie Stadt Rottweil am Nedar einen Efelftall be; 
tituliert!“ rief der Kommerzgienrat, um einen Grad ruhiger als fein 
Gegner, 

„All ihre unfterblihen Götter!” ächzte Elard. 

„Ja, und ich verachte ihn mit feinen Anfipiditäten, ich werfe 
ihn zu dem Abgetanen mit feinen abgeftandenen bonmots!‘ 
fchrie der Legationsrat. 

„Sa, und ich,“ grollte der Kommerzienrat, „ih — da er es 
denn nicht anders haben will — ich finde ihn felber lächerlich, ich 
finde ihn lächerlich abgefhmadt! Dummes Zeug: Ahnengeuft 
— Drden Herings des Großen — Merius! Da fam ſchon, als 
ich ein Bub in meines Vaters Haufe war, ein ruinierter Magifter 
aus Tuttlingen häufig zu ung, und der ſchon wußte es, daß fich 
der Paftor Corydon einen ſchönen Hering briet. Iſt es etwa nicht 
fo, Elard?“ 

Der Heidelberger Profefjor der Philologie und Aſthetik hob 
die Hände über den Kopf, doch er fchlug fie auch in heller Verzweif⸗ 
lung über den entfeglichen, vorfintflutlichen, den jämmer; 
lichften aller gelehrten Kalauer zufammen, als fein Erzeuger 
fortfuhr: 


231 


„Mund das find mir alles faule Heringe. Alexis, — heißt 
etwa nicht der Hering auf Griechifch oder Lateinisch Alexis; ich 
bitte dich, du mußt es doch willen, Elard?“ 

„Mein Name und der Name meines durchlauchtigften Heren 
ift Aexis und auf deutſch: der Heilbringer, der Helfer,” fprach 
der Legationsrat von Nebelung, fich plöglich den Bundespräfis 
dDialgefandten in feinem größeften Momente zum Mufter nehr 
mend; doc die erfünftelte Ruhe hielt nicht über das Wort hinaus, 
„Gut alfo!” Freifchte er, aufs neue erplodierend, und ſtürzte 
aus der Laube und dem Garten, feiner eigenen Wohnung zu, 
und war verſchwunden, ehe Elard fich fallen und ihn am Rod; 
ſchoß begütigend zurückhalten fonnte, 


Der Kommerzienrat Florens Nürrenberg feßte fih auf einen 
feiner Gartenftühle, Tegte die Hände auf die Knie und fagte ge; 
brochen: 

„sch will felber auf der Stelle zu einem fauern Hering mer; 
den, wenn ich fagen kann, was eben hier vorgegangen ift! Elard, 
ich bitte dich —“ 

„Jawohl,“ rief der gute Sohn ärgerlich und angſthaft zu 
gleicher Zeit, „du haft jeßt gut bitten. D Papa, Papa, kann man 
euch denn feinen Augenblid allein laſſen?“ 

Da fchlug der biedere, ermattete Tabafsfabritant und 
Patricius von Rottweil mit der flachen Hand auf feinen Garten; 
tisch und Achte: 


„Mein Junge, mein brav Büble, ich gebe mein Ehrenwort 
darauf: ich habe nicht angefangen. Zum Henker, es konnte 
eigentlich feiner was dafür, Da war der Abt von Gengenbach 
und die Übtiffin von Rottmünſter —“ 

„Der leidige Satan hole euch verruchte zwei alte Zinshähne, 
die Übtiffin, den Abt von Gengenbach, den Herzog Merius und 
bie Stadt Rottweil obendrein !” fehrie Elard wütend. „Das wird 
nun ein Pingften werden I” fchloß er hier fchluchzend und führte 


232 








fih damit alle Folgen der gegenwärtigen Vorgänge eindringlichft 
zu Gemüte. 

Drüben hatte Käthchen Nebelung das ſüße Lied: „So viel 
Stern’ am Himmel“ begonnen, brach aber mitten im Satz ab; 
der ins Zimmer hereinfallende Papa in feinem Wutftuem würde 
aber auch den taftfefteften Heldenfänger aus dem mufifalifchen 
Sattel gehoben haben; — fein melodifches Töchterlein faß fofort 
ftumm und erbleichte. 


233 


Diertes Kapitel. 


Sra: Willkommen! ftand rofenumfrängt über der VBorfaaltür 
as der Wohnung der Familie Nebelung, und unter dem freund; 
lichen Begrüßungswort durch war der Rat in feinen Fühlen Salon 
gehopft, fein Kind vom Flügel auffcheuchend. Wir willen ſchon, 
was Fräulein Käthehen der Tante Lina auf der fchönen Ausſicht 
davon erzählte; aber e8 macht ung Vergnügen, felber noch einmal 
den diplomatifchen Biedermann außer fih im SKreife herum 
rennen zu fehen. 

Er lief im Kreife in dem Gemache umher und zwar mit einem 
gewiffen zirpenden Entrüftungsgeficher: 

„He, be, hi — Mleris — ein Hering — mein Herr und fein 
hochfeliger Herr Vater, mein durchlauchtigfter Pate — Alexius 
der Zwölfte — ein Hering! — Beide Heringe, und ich auch ein 
Hering — ein wahnfinniger Hering! der elende Spießbürger, 
der nichtswürdige, unverfchämte Stinffrautfrämer !” ufw. Nun 
war die Tochter auf den Abgrund in der Gaffe aufmerkfam ges 
macht worden, und alles übrige hatte fich in atemlofem Aus; 
feuchen dran gefchloffen. 


„Geb, hol meinen Mantel, 
Geh, hol mir meinen Stod,” 


hatte das liebe Mädchen kurz vorher in füßer Unbefangenheit 
gefungen und nach feinem Hut und nach feinem Stod hatte der 


234 








Papa jet wirklich geſchrien; Käthchen konnte e8 der Tante recht 
gut ſchildern. 

Luft! Luft! Luft! Der Mann, deffen Gang und Wandel in 
den Gaffen von Frankfurt fich der regierende Bürgermeifter zum 
Mufter genommen hatte, ſtürzte auf die Pfingftweide hinaus mit 
den Sprüngen wahrlich nicht eines wahnfinnigen Herings, fon; 
dern eines toll gewordenen Heufchreds. Er Tief auch auf der 
Pfingftweide im Kreife umher, doch beffer wurde ihm nicht in der 
frifchen Luft, die der Plaß bietet. Die Aufregung trieb ihn weiter, 
trieb ihn zurüd, trieb ihn in das Allerheiligentor, jagte ihn die 
Fahrgaſſe hinunter, jagte ihn über die Mainbrüde und durch 
Sachſenhauſen — allen Sachfenhäufern zum Erftaunen — und 
durchs Affentor auf die Landftraße, auf den Weg nach Darm 
ftadt. Die Tante und Käthehen fahen ihn auf der Brüde; und 
wir — wir laffen ihn jet rennen in der fröhlichen Hoffnung, 
fpäterhin doch noch ein Stüd Weges ruhiger mit ihm zu gehen. 

„Ws will er nun hin? was hat er vor? was hat er meinem 
Kinde — ich meine feinem gefagt?“ fragte drüben hinterm Gar; 
tens und Laubengitter der Profeffor Nürrenberg, dem aus der 
Haustür fpringenden Nachbar nachftarrend. Der Kommerzienrat 
Nürrenberg faß noch immer auf feinem Stuhle; aber er erſchien 
fchlaffer zufammengefunfen und jeßt, auf das lebhafte Wort deg 
Sohnes, ftöhnte er: 

„Weißt du, was ich wollte, Elard?“ 

„Nun?“ 

„Ich wollte, ich hätte heute nachmittag Leibweh oder fonft 
dergleichen gehabt und wäre diesmal nicht in den Garten hinun; 
ter gegangen, Nachher wäre ung diefes nicht paffiert.“ 

„And ich wollte, das ganze Weltall befäme das Bauchgrimmen, 
da es für folch ein paar hirnwütige alte — na, einerlei — Platz 
in ſich hat!“ rief der gute, aber augenblicklich etwas bewegte 
Sohn. Er fah dabei noch immer dem Legationsrat nach, obgleich 
dieſer ſchon längſt verſchwu nden war im Staube der Hanauer 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie I. 16d 
235 


Landſtraße. Plöslich überfam es ihn wie eine Eingebung von 
oben. Seinen Vater feinen Gemiffensbiffen überlaflend, fprang 
er ins Haus, ſchon im Laufe die Joppe vom Leibe reißend. In 
fein Gemach fallend, fuhr er in einen anftändigeren Rod und in 
die Stiefel. Er warf fich in beides fogufagen hinein, er hatte die 
volle Abficht, fich felber nicht die geringfte Zeit zur Befinnung und 
Überlegung zu laffen. Blaue, gelbe und rote, doch zumeiſt licht; 
blaue Funken und Flammen tanzten vor feinen Yugen. 

„Ra, Junge, — aber wohin denn?” rief der Alte aus der 
Laube ihm nach; doch der Junge hörte nicht, er ſtürzte über die 
Gaffe, er fprang in das Haug, er ftürmte die Treppe empor, 
er — ging zum Nachbar, oder vielmehr zur fchönen Nachbarin. 

„Nun fehe einer an, müßte ich ihn num nicht auf der Stelle 
enterben?“ fprach der Kommerzienrat Florens Nürrenberg 
grinfend. 

„Mein Fräulein — Fräulein Käthehen! —“ 

„Do Here Doktor — Herr Profeſſor — Sie? Jetzt? D, das 
ift gut — nein, das wollte ich nicht fagen — Herr Profeflor, ift 
das nicht entfeßlich?” 

„Breilich, — gewiß, ganz gewiß ift es entfeglich! Ein Damon, 
— der nihtswürdigfte aller Dämonen hat ung dies heute, gerade 
in. diefer Stunde eingerührt. Sch bitte Sie, Fräulein Käthchen, 
feft überzeugt zu fein —“ 

„Daß Sie nichts dafür können. D, Ttebfter Himmel, ich auch 
nicht —” 

Wir faßen mit in der Drofchke, wiſſen, was Fräulein Kathas 
rina Nebelung der Tante Lina über diefen Befuch mitteilte, und 
werden wieder einmal in unferer Überzeugung beftärkt, daß den 
Worten der jungen Damen nicht unter allen Umftänden zu 
trauen ſei. Unter gewiffen Umftänden lügen fie nur zu gern; — 
ob fie etwas dafür können, wiſſen wir freilich nicht. 

„Käthchen,” rief der junge Aſthetiker (er nannte das Fräulein 
in diefem Momente zum erften Mal auch im Wachen kurzweg 


236 








beim Taufnamen), „Käthehen, wenn es ganz einfach nur zwei 
alte Narren wären, fo könnte ung die Gefchichte ganz gleichgültig 
fein; e8 find aber zwei wirklich gute Freunde, und da bin ich 
Pſychologe genug, um unter diefen Umftänden einen ewigen 
Haß vorauszufehen. Der eine Böfewicht bedeutet ung ficherlich 
einen worhenlangen — mondenlangen Jammer; der ift imftande, 
ung von diefer Stunde an aus dem guten Frankfurt dag richtige 
Verona zu machen und ung nichts übrig zu laſſen, als —“ 

Er brach ab; aber Fräulein Käthchen Nebelung fragte kläg— 
lich: 
„O Gott, Sie meinen meinen Papa?“ fette die Gedanken; 
und Bilderreihe des Profeffors der Aſthetik ftumm fort, fand leider 
fehr viel logifchen Zufammenhang darin, nahm fich jedoch feft vor, 
keinesfalls ihre Nettung bei dem Schlaftrunf des Paters 
Lorenzo zu fuchen, fondern im Gegenteil fo wach als möglich zu 
bleiben. 

„Mund ich muß noch dazu in einer halben Stunde nach dem 
Main⸗Weſer⸗Bahnhof, um die Tante abzuholen. Er ift nach der 
Pfingftweide, und mich ſchickt er allein Hin — und ich habe die 
Tante in meinem Leben nicht gefehen — und fie fommt, und die 
Droſchke hat Er ſchon heute morgen beftellt, — alles ift bereit; 
wir haben wochenlang darauf hingearbeitet, und alles ift über 
den Haufen geworfen — da follte man doch an Gott und der Welt 
verzweifeln!” 

„Liebes Käthchen,“ flüfterte der Sohn Montagues. 

„O Elard!“ hauchte die Tochter Capulets, und ſo — hatten 
fie es denn, wie fie e8 lange gern gewollt hatten, und — fo ift das 
Schickſal! manchmal ift e8 recht nett und arrangiert dergleichen 
Angelegenheiten auf das Zuvorfommendfte, wenngleich immer 
auffeine Weiſe. Die beiden jungen Leute hätten noch gut ein 
Jährchen bis in einen neuen Frühling hinein ſchämig und ver; 
legen, bis über die Ohren verliebt, finnig und fo dumm wie denk; 
bar umeinander herumgehen fünnen, wäre nicht der Wit und der 


16* 


237 


Zorn der Erzeuger dazu gefreten. Aber nicht nur der Witz und 
die Wut der Väter, fondern ganz fpegiell der deutfche Fürft und 
Held Höchftfeligen Angedenfens, Alexius der Dreizehnte, der 
Vater eines ganzen, mit feinem Abfterben vom Eröboden verz 
fchwundenen Volkes. Diefer herrliche Selige trat herzu, legte 
fegnend den beiden Kindern die Hände auf die Häupter, fügte ihre 
Hände ineinander, drüdte ihre Lippen gegeneinander und machte 
ſowohl den Legationsrat von Nebelung, fowie den Kommerzien⸗ 
rat Nürrenberg — zu Großvätern, — letzteres felbftverftändlich 
nach der gehörigen Zeit und unter den althergebrachten und feilz 
weife fogar noch aus dem blinden Heidentum überlieferten geift; 
lichen und weltlichen Ceremonien und Formalitäten. 

„Sollte ich den Zungen nun nicht auf der Stelle enterben?“ 
hatte der fröhliche Rottweiler Erpatrizier wahrlich nicht ohne feine 
Gründe gefagt, als er den Sohn über die Hanauer Landftraße 
fchlüpfen fah. Glüdlicherweife aber ficherte er dabei, und zwar 
auf eine viel gemütlichere Art, als der giftigere diplomatifche 
Nachbar in feinem Salon. Während der brave Herr Floreng 
feine Blumentöpfe zum zweiten Mal die Revue paffieren ließ, 
ficherte er, und zwar wie jemand, der fich zwar auch an einem 
andern geärgert, aber doch die befte Hand in diefem Argernis 
behalten hat. Er zog dabei auch den Kopf zwifchen die Schultern 
und ging dudnadig mit feiner Gießkanne und feiner Pfeife, als 
ob er fich als den fchlaueften unter den augenbliclich den Erdball 
bewohnenden Menfchen wohl zu farieren verftehe. Nachher ver; 
fanf er in feiner Laube hinter der Oberpoftamtszeitung und tat, 
als nehme er weiter feine Notiz von der Welt, — dem war jedoch 
nicht alfo. Drüben fiel noch ein Kuß, und dann fagte Käthchen 
ſchämig: 

„Das iſt num gut und wäre alſo in Ordnung; aber: die Knie 
gittern und das Herz bebt mir, daß ich faft umkomme. Was wird 
der Papa fagen, und was werde ich zu ihm fagen, wenn er nach 
Haufe komme?“ 


238 








„Ha — ja — oh!” feufjte Elardus. 

„And dann die Tante! Ich habe eine entfegliche Angft, wie 
diefe unbekannte Tante ausfällt. Denke dich nur in unfere Lage, 
wenn fie alle Eigenfchaften unferer Familie in fich vereinigt 
und bei ung wohnt!” 

„Sch denke gar nichts, Kind,“ rief der Profeffor der Aſthetik. 
„Wie Eönnte ich in diefem Moment denken? Im Notfall 
ziehen wir beide aus und überlaffen diefes alte Gefindel fich felber 
und feiner eigenften Liebenswürdigfeit. Du gehft mit mir nach 
Heidelberg, da mieten wir ein Häuschen mit einem Garten 
unter dem Heiligenberg und leben in den Blumen und im 
Grün —“ 

„Bis 28 Winter wird; o ja, das iſt ganz reigend, ganz ent; 
züdend,“ rief Käthchen, „aber jett kommt erft die Tante Lina, 
und ich muß nach dem Weſer⸗Bahnhof, ehe wir mit der Nedar; 
Bahn abfahren fünnen !” 

„Ich werde dich jedenfalls begleiten.” 


„Mein, nein, unter feinen Umftänden, um Gottes willen nicht! 
Das wäre was Schönes! Daß du dich nicht unterftehft, mir gar 
nachzulaufen.“ 

„Aber Liebchen?“ ftammelte der Afthetifer ein wenig ver; 
blüfft. 

„Ih bitte dich, befter Elard, fei nicht böfe, fei nicht gleich 
böfe, — es geht ja nicht. Denke nur, was ich antworten follte, 
wenn mich unter den jegigen Umftänden die Tante fragte, wer 
du eigentlich wäreft? Ach Himmel, und fag nur, hat dich denn 
dein Herr Vater gefehen, als du eben hierher kameſt?“ 

Herr Elard Nürrenberg fah über die Schulter; dann fchlich er 
zu der Balfontür und blidte nach dem väterlichen Befigtum hin. 
Die Landftraße ift ziemlich breit, und der Profeffor führte fein 
Dpernglas in feiner Tafche wie der Kommerzientat. Dafür aber 
fühlte er den füßen Atem der Geliebten an feiner Wange, als fie, 


239 


auf den Zehen ftehend, ihm über die Schulter gudte, und er 
wendete fih, 309 fie von neuem in feine Arme und rief: 

„Ei, laß ihn treiben, was er will! wahrfcheinlich wird er 
ruhig feine Blatt⸗ oder Kaffeeläufe von feinen Kafteen rauchen.” 

„Ach, lieber Elard, ich will ihm eine fo gute Tochter fein!“ 

„D, und ich, mein Käthehen, ich will deinen Papa —“ er 
brach ab und zog eine ziemliche Auantität Luft in fich, ſtieß fie 
wieder heraus und mit ihr unwillfürlich feine wirklichen augen; 
blielichen Gefühle für den Legationsrat: „Herrgott, e8 mag nun 
fein, wie es will, Der Wüterich trägt doch die Schuld an aller 
Verwirrung. Ich will mich gern als Sühnopfer auf den Altar 
feines Ingrimms legen, Käthehen; aber wenn du ihn vorhin 
drüben in der Laube gefehen und gehört hätteft, fo würdeft du ihn 
ficherlich fpäter unfern Buben und Mädeln nicht als Mufter der 
Sanftmut aufftellen.“ 

Der Geliebte wußte wahrfcheinlich nicht, wie weit er fich vor; 
wagte; aber die Geliebte machte e8 ihm Elarer, indent fie fich aus 
feinen Armen loswand und, an den Tifch tretend und in einem 
Bilderwerf die Blätter umfchlagend, fagte: 

„Dein Papa muß doch wohl ebenfo heftig geweſen fein, wie 
der meinige,“ 

„Liebes Mädchen, ich verfichere dich —“ 

Doc das liebe Mädchen drüdte plöglich das Tafchentuch auf 
die Augen, brach in das bitterlichfte Schluchzen aus und ſtotterte 
und ftammelte: 

„sa, und e8 ift recht böſe von dir, — und gerade in diefem 
Augenblick! Du follteft doch mehr Mitleiden Haben — mit mir 
und mit ihm, Er ift auf die Pfingftweide gelaufen; — wenn ihn 
fein Aſthma befällt, pflegt er immer auf die Pfingftweide zu 
laufen, D Gott, was foll ich tun, Mein armer Papa, was habe 
ich getan? D Gott, Gott, Gott, und eben faß ich noch fo ruhig 
am Klavier, und jetzt hat fich die ganze Welt verändert; du bift 
gekommen, und ich bin wie im Traume, und jet hat fich die ganze 


240 





Welt wieder verändert. Und ich muß nach dem Bahnhof, die 
Tante Lina fommt, und ich wollte, ich wäre geftorben und bei 
meiner Mutter!“ 

Der Heidelberger Profeſſor faßte fih in die Haare und fing an, 
im Zimmer herumsurafen wie vorhin der Papa Legationsrat. 
Er verfuchte vergeblich, das Tuch von den Augen der holden 
Meinenden wegzuziehen; er füßte die Hände, die das Tuch hielten, 
aber e8 half alles nichts: der Krampf mußte heraus. Elard 
beſchwor den ganzen Olymp zum Zeugen, daß er nicht wifle, was 
er eigentlich verbrochen habe. Er rief alle Sonnen und Sterne 
her, um fich beftätigen zu laffen, daß ihm die Welt fich nur ing 
Himmlifche in der leiten Viertelftunde verändert habe, und daß 
er gern und willig und herzlich die beiden alten Sünder zur Rech— 
ten und zur Linken der Hanauer Landftraße für alles, was fie 
gefagt und getan haben möchten, abküffen werde. Er erhob die 
Schwurfinger zur Dede und ſchwor, daß es nimmer einen Schwie; 
gerfohn beffer als er gegeben habe und geben werde; e8 half ihm 
alles nichts. Das einzige, wozu er feine in Tränen untergehende 
Berlobte brachte, war das Wort: „Vergib mir nur; — vielleicht 
ift e8 nur körperlich.“ 

Und jetzt gerade fuhr die bereits am Morgen von dem 
Legationsrat beftellte Drofchfe an der Haustür vor, und jetzt 
gerade fingen die Vigiliengloden des Pfingftfeftes an zu läuten 
in Frankfurt am Maine, 

Das war eben Eulenpfingften, und Käthchen Nebelung fuchte, 
wie der Papa, ihren Hut und nahm ihr Sonnenfchirmehen; und 
als der Geliebte fie die Treppe hinunter führte, ftüste fie fich 
mehr auf das Geländer als auf ihn. Er durfte fie zwar in den 
Wagen heben, aber ftatt alles Weitern, befam er nur eine matte, 
falte Hand und dag zitternde Wort: „Lebe wohl, lieber Elard. 
Ich will e8 verfuchen, wieder ruhiger — wieder glücklich zu 
werden !” 

Da fland er und fah dem Wagen nah. Er hätte nun wieder 


241 


nach Haufe gehen können; der Papa würde ihm gern ein Blatt 
der Dberpoftamtszeitung zur Abendleftüre überlaffen haben. 

„Lache nicht diesmal, Zeus!” ächzte der Unglüdfelige, ganz 
als Alexis; und dann rannte er dem Allerheiligentor zu. 

Dermweilen ftiefelte der Legationsrat Herr ler von Nebelung 
allgemach im immer tuhigeren Tempo der Iſenburger Warte 
entgegen, und hinter ihm erflangen außergewöhnlich friedlich 
und melodifch die Gloden von Sachfenhaufen. 


242 











Fünftes Kapitel. 


HDir haben es fchon gefagt: wir laſſen ung auf nichts ein, 

was die Anfprüche des Lefers an die Gefchichte betrifft. 

Was wir zu fun haben, willen wir, und was wir zu fagen haben, 
gleichfalls, und dies genügt ung vollfommen. 

Bon dem Balkon in den Salon fretend, fprach die Tante: 

„Ihr wohnt recht angenehm, Kind, und wenn ihr nach Hanau 
wollt, fo habt ihr den Bahnhof bequem genug zur Hand. Fürs 
erfte aber wollen wir ruhig hier in der Hanauer Straße bleiben, 
und num laß dich einmal genauer anfehen, Schätschen.“ 

Sie feßte fich nieder bei diefen Worten, und e8 war, als ob 
fämtlihe Staaten der großen nordamerifanifchen Republik 
(Utah nicht ausgefchloffen) ſich mit ihr fegten. Sie nahm das 
Käthchen zwifchen ihre Knie, ungefähr wie Uncle Sam die ſchöne 
Inſel Kuba, wenn er e8 irgend möglich machen fünnte, zwifchen 
die feinigen nehmen würde. Wirklich, e8 war bei allem Tantz 
lichen etwas ausgefprochen Onfelhaftes in der Art und Weife, 
wie fie das junge ängftliche Mädchen an den Handgelenfen ergriff, 
die Willenlofe daran fefthielt und fie von der Rechten und von der 
Linken mit auf die Seite gelegtem Kopfe befah. Es fehlte nicht 
viel, fo hätte fie dag Nichtchen auch umgedreht, um es auch von 
der Rückſeite zu betrachten, — wie fie felber vorhin von Nachbar 
Nürrenberg betrachtet worden war. Da aber doch die Unter; 
haltung dabei gelitten haben würde, fo verzichtete fie auf diefe 
Wendung und begnügte fich mit der reisenden Vorderanficht. 

„am,“ Sprach die Tante Lina Nebelung, „wenn man folch ein 


243 


Geſchöpfchen anfieht, dann merkt man, wie die Zeit hingeht. 
Es iſt mir wie geftern, als ich fo alt oder vielmehr fo jung war 
wie du, und doch ift das num ſchon eine fchöne, lange Reihe von 
Jahren her. Ganz und gar eine Nebelung! Hier diefes Fältchen 
von dem Nafenwintel nach dem Lippenwinfel ſtammt faft fomifch 
verdrießlich von ung her; ich kenne es ganz genau, und ich fenne es 
an mehr als einem Familienporträt in HI, Kreide und DBleiz 
ftift. Uber Hier um das Auge hat fich jedoch auch ein anderer 
zug in unferm Familiengeficht eingefunden. Den wird deine 
felige Mutter hineingebracht haben; er gefällt mir jedenfalls 
viel beſſer als diefes Fältchen, und es tut mir um fo mehr leid, 
daß ich dein Mütterchen nicht perfönlich kennen gelernt habe,“ 

„Oh!“ feufjte Käthchen wehmütig. 

„Rein, nein, nicht weinen, Kind! Das habe ich nicht gewollt. 
Wir alle müffen fterben — all must die — ’t is an inevitable 
chance — the first statute in Magna Charta, fagt Mr. Shandy; 
doch was rede ich englifch zu dir, wir werden genug zu tun haben, 
um uns auf Deutſch ineinander zurechtzufinden, und den 
Treiftram Shandy wirft du hoffentlich wohl auch nicht gelefen 
haben.“ 

„Nein, big jetzt noch nicht; das ift gewiß vor meiner Zeit ge; 
ſchrieben, und wir lefen nur die neuen Bücher aus der Leihbiblio⸗ 
thek. Iſt es noch älter als die Ritter vom Geiſt, Auerbachs Dorf⸗ 
geſchichten und Freytags Soll und Haben?“ 

„Ein wenig,“ ſprach die amerikaniſche Tante, wendete aber 
kurz um auf dem Wege in die Weltliteratur und tat wohl daran, 
denn es lagen allerlei Abgründe an dieſem Pfade. Sie begab ſich 
wieder auf das Feld der Familiengeſchichte und bemerkte: 

„Ich kann mir das Leben, welches dein guter Vater hier als 
Junggefell, verheirateter Mann und Witwer gelebt hat, vecht 
wohl ausmalen, Er war und ift ganz ein Nebelung, ohne jeg— 
lichen fremdartigen Zug um das Auge, Er wurde als Nebelung 
geboren und hat fich mir gegenüber ftets als folcher bewieſen 


244 








und wird — muß ein Nebelung geblieben fein. Für das legtere 
fpricht unter anderm auch dag, was ich jet an ihm erlebe, und 
ich — freue mich um fo mehr, ihn nach mehr als gwanzigiähriger 
Trennung wiederzufehen. Ich weiß nicht, ob du mich verftehft; 
aber das ift, wie wenn man in feine Geburtsftadt nach langer 
Abweſenheit zurückkehrt; — da wünfcht man auch alles unver; 
ändert und auf dem alten Flede wiederzufinden. Was deinen 
Papa anbetrifft, fo wird er ficherlich nicht im diefer Hinficht 
gerade meinen Wünfchen fein Leben entgegengelebt haben.“ 

Arm Käthehen verftand die Tante wahrlich nicht recht, und 
um fo weniger, als diefelbe jeßt herzlich lachend fortfuhr: 

„And num fieh mich an, Töchterchen. Ich führe alle Familien; 
züge im Wappen — Katzenkrallen, Eulenflauen et une langue 
mechante, alles im gelben Felde; aber dahinter fiße ich, eben 
ich und fehe aus meinen Augen. Und jegt fieh mir noch ein; 
mal in diefe Augen, mein Mädchen; ich will doch nicht ganz 
umfonft unter meinen legten Verwandten aus der Fremde 
wieder angefommen fein. Willft du mir trauen, Käthchen 
Nebelung?“ 

„Sa, ja, o ja, ich wünfche ja gar nichts Befferes!” rief das 
Kind. 

„Gut! bei guter Gelegenheit wirft du dann mehr von mir 
erfahren. Jetzt bitte ich dich, mir mein Wohn⸗ und Schlafgemad) 
gu zeigen; mein Gepäd ift angelangt, und ich wünfche Toilette 
zu machen. Es ift mir lieb, daß ich mwenigftens dich zu Haufe 
vorgefunden habe, und — ſo ſchlimm, wie ich ausfehe, bin * 
nicht,“ 

„D a 8 bift du gewiß nicht 1” rief Käthchen, im überftrömenden 
Gefühl der Tante die Arme um den Hals werfend, doch Fräulein 
Karoline Nebelung machte fich frei von diefen hübſchen Armen, 
wie fich kurz vorhin Fräulein Katharina aus denen des Heidel; 
berger Profeffors Elard Nürrenberg gelöft hatte. : 

„Ra, nun nur nicht lachen, Kind! Du wirft dich doch wohl 


245 


dann und warn in mir täuſchen; meine ganze Familie hat dag 
dann und warn getan und mir zuletzt fogar mit gefträubten 
Haaren ins Blaue nachgegudt. Übrigens wiederhole ich dir: 
diefer Empfang feiteng meines Bruders, deines armen Papas, 
amüſiert mich königlich oder vielmehr ganz republifanifch. Alles 
diefes verfegt mich vollftändig in meine Jugendzeit und in das 
Haus meines Vaters, deines Großpapas, zurück. Sch fenne, ich 
fenne das, und ich wollte nur, ich könnte meine Mama, deine 
Großmutter, Käthchen, in dieſe Stunde hineinbefchwören und 
dazu die Bernburger Tante und den Nordhäufer Onkel und die 
Vetternfchaft bis nach Hamburg und Bremen hinunter! Von 
Nebelung! O dear me, dein Papa hat mit dem Alexius⸗Orden 
den perfönlichen Adel erhalten; aber ich habe den allerperfün; 
lichften Adel befeffen, folange ich mich erinnern kann, Was 
du, mein Herz, in der Beziehung für Dokumente aufzumeifen 
haft, kann ich der kurzen Bekanntfchaft wegen nicht fagen; aber 
was mich betrifft, fo bin ich al8 geborene Ariftofratin aus dem 
Deutfchland meiner Jugend durchgebrannt und erft als Gefell; 
fchafterin nach Sanft Petersburg und dann als Sonne nad) 
Amerika gegangen.“ 

„And ich — ich weiß nicht, was ich fagen foll!” rief Käthchen. 
„Daß fol ein Tag kommen könnte, habe ich nie, nie geahnt!“ 
rief fie, in das lautefte Weinen ausbrechend, „Und eben habe ich 
mic) mit Elard verlobt, und er ift fo gut, und dann bin ich fo grob 
gegen ihn gemwefen, und dann habe ich dich auf dem Bahnhofe 
angelogen, und doc habe ich für alles, alles nichts gekonnt, und 
ich weiß gar nicht, was fich die Weltgefchichte mit mir vorgenom; 
men hat. D Tante, Tante, Tante Lina, ich bin dag unglädfeligfte 
Gefhöpf auf Gottes weitem Erdboden!” 

Sie hatte fich damit der Tante von neuem um den Hals ge 
worfen, und diesmal ließ die Wadere das fchluchzende Kind da 
hängen, ja 509 es nur noch fefter an fich und fragte begütigend und 
beruhigend: 


246 





„Elard? ift dag der Sohn des Nachbars, mit dem fich dein 
Papa gezankt hat?” 

„Sa, ja, wie ich es die ſchon in der Droſchke fagte. D, ich 
bin zu fchlecht gegen ihn geweſen, nachdem er zu gut gegen mich 
war, und dann ift er in Groll weggegangen, und ich mußte nach 
dem Bahnhofe, um dich abzuholen.“ 

Die Tante Lina lächelte, „Wenn der junge Mann refpeftabel 
und wohlmeinend ift, und wenn du ihn Tiebft, follft du ihn haben. 
Euch ſcheint e8 übrigens auch früh in eure junge Seligfeit hineinz 
geregnet zu haben! Nun, fei nur fill; ich Habe meine eigene, 
meine allerperfönlichfte Erfahrung in dergleichen Angelegen; 
heiten.” 

Die Tante feufzte bei den letzten Worten, aber durch Käthchen 
Nebelungs Tränenregen fehlen plößlich wieder die Sonne, und 
der Bogen des Friedens wölbte ſich auch mit über die deutfch; 
amerifanifche Mädchenerzieherin von Vassor College. 

„O Gott, Gott, o Himmelstante, fo habe ich dich mir wahrlich 
nicht vorgeſtellt!“ rief Käthehen durch das funkelnde Geftiebe 
lachend. „D Herzgenstante, was wird Elard zu dir fagen! wie gut 
wirft du Elard gefallen!” 

„Ja, ja, es ift möglich; wir wollen das aber gelaffen abs 
warten; jeßt führe mich nur erft nach meinen Gemächern, Kathy. 
Sch wiederhole es, ich empfinde nach der langen Fahrt das 
deingendfte Bedürfnis, mich zu wafchen.“ 


247 


Sechftes Kapitel. 


nter den Redensarten, die den Wandel der Menfchen über 
die Erde begleiten und nach dem Weltende wohl noch unter 
dem Throne des höchften Richters der Jury des Jüngſten Gerichts 
in die Ohren Elingen werden, befinden fich einige von außer; 
gewöhnlich einfchmeichelndem Wohlklang. Da ift zum Erempel 
das fchöne Wort: fich für andere aufopfern, — welches bei 
Lichte befehen und gar beim fahlen Schein des Weltbrandes — 
nicht8 anderes gewöhnlich bedeutet, als anderen ihr Dafein mit 
aller Gewalt und der unermeßlichften Rüdfichtslofigkeit nach dem 
eigenen Gefhmad und Neigungen einrichten zu wollen. 

Diefe Kedensart ſtammt wahrfcheinlich von Eva her; aber 
auch Adam, wie er heute noch ift, weiß recht gut mit ihr umzu⸗ 
gehen. Die Herren find immer fo Flug, nie ihren Weg Auer durch 
das DBehagen des Gegenparts zu nehmen, ohne fich innerlich 
oder auch mündlich vor fich felber und der Nachbarfchaft durch 
das drollige heillofe Wort zu rechtfertigen. In vorliegender Ge; 
fchichte wirft die Tante Lina am wenigften und ihr guter Bruder 
am meiften damit. 

Sich an das Ganze hingeben, ift ein ähnliches ſchönes Diktum, 
wird jedoch mehr von Leuten angewandt, die durch ihre Anlagen 
fih gedrungen fühlen, den Betrug über dag Privatleben hinaus 
zu fpielen. 

Am fchönften freilich ift die Nedensart: fih für das Ganze 
bingeben, und damit wollen wir es diesmal hier bewenden 
laffen. Wir machen ung keineswegs beffer, als wir find, aber 
auch nicht fchlechter, al8 die andern find: wir geben ung auch für 
das Ganze hin, wenn auch diesmal nur für das Ganze diefer 
Geſchichte. 


248 








Während die Tante Lina Toilette macht, das heißt fich gründ⸗ 
lich von dem Staub und Schweiß des Neifetages reinigt, ſpazieren 
wir vergnüglich im holden Abendfchein dem Papa Nebelung, der 
fich fein ganzes Leben durch für andere aufgeopfert zu haben 
behauptet, nach durchs Affentor. Die Unterhaltungen, die er 
mit fich felber und fpäter noch mit einem andern führt, find ung 
fehr wichtig. 

Sachſenhauſen lag längft hinter dem zur Ruhe gefegten 
Diplomaten, und wenn er auch, wie wir fagten, allgemach im 
gemächlicheren Tempo fehritt, fo hatte er feine Aufregung doch 
bei weitem noch nicht genug verlaufen. Die Rachegeifter begleis 
teten ihn immer noch dicht an feinen Rodichößen auf der Darm; 
ftädter Chauffee, und fo deutlich wie in diefer Stunde war es 
ihm fehr felten geworden, daß er fich fein ganzes Leben fort und 
fort, bei Tage und bei Nacht für die andern geopfert und hinge- 
geben habe. Hin und her wendete er das verruchte Wort in feinem 
Gemüte; — dag war ganz die richtige Stimmung, in welcher der 
Menfch feiner bodenlofen, unglaublihen Gutmütigkeit und 
Herzlichkeit wegen vor Gift und Galle erftiden möchte! Das war 
die Laune, in der der gefränfte, erbofte Menſch fich nur zu gern 


inmn ein Brett verwandelt fähe, unter der Bedingung, daß die ganze 


nichtsnugige Welt fommen müßte, um fich den Hienfchädel dran 
einzurennen ! 

Alle Kränkungen, Zurüdfegungen, Beleidigungen, die ihm, 
Alexius Nebelung, während feines mehr denn fechzisjährigen 
Lebenslaufes zuteil geworden waren, fraten ihm auf diefem 
Abendfpaziergange frifch und unverblaßt vor die Seele; und, dag 
goldbeknopfte fpanifche Rohr gen Himmel fehwingend, ſchwur er 
unter dem Läuten der Pfingftgloden wieder einmal, fih von heute 
an aber wirklich zu beffern, an nichts anderes mehr zu denfen 


als fich felbft und fein Leben für feinen andern mehr zu verbrauchen 


als für fich felber, 
„Rad dem Bahnhofe fomm’ ich doch zu ſpät, felbft wenn ich 


249 


jeßt noch umkehren würde,” hing er fodann epilogifch an den 
Schluß feiner guten Vorſätze; und die Rachegeifter — wendeten 
ſich mit verächtlicher Entrüftung von ihm; fie haften ihr mögz 
fichfteg getan und ihn Doch nicht zum Sprung über feinen eigenen 
Schatten gebracht. Der Legationsrat von Nebelung begann eine 
neue Reihe von Gedanfen, Gefühlen und Empfindungen. Plötz⸗ 
lich geiff er fich über der linfen Hüfte in die Seite; er fühlte den 
erſten Gemwiffensbiß, und aus der Erbofung über den Nachbarn 
Nürrenberg fiel er in den Arger über fich felber. 

„Sch hätte Doch nach dem Bahnhof gehen follen !” murrte er 
und ftieß heftig mit dem Stod auf. 

Man kann mancherlei auf der Darmftädter Landftraße fehen 
und empfinden. Da ift 4. DB. ein Buch auf Erden, genannt: 
Wahrheit und Dichtung aus meinem Leben, — das handelt unter 
vielem andern auch mehrmals von diefem Wege. Wir rufen 
e8 auf, indem wir den Beweis der Wahrheit des eben Gefagten 
antreten. 

Da ift ein junger Menfch, dem die Lage von Frankfurt zu 
ftatten fam, weil e8 „zwifchen Darmſtadt und Homburg mitten 
inne” lag. 

„oft ging ich allein oder in Gefellfchaft Durch meine Vater; 
ftadt, als wenn fie mich nichts anginge — mehr als jemals war 
ich gegen offene Welt und freie Natur gerichtet. Unterwegs fang 
ih mir feltfame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine, 
unter dem Titel Wanderer Sturmlied, übrig ift: 


„Wen du nicht verläffeft, Genius, 
Nicht der Regen, nicht der Sturm 
Haucht ihm Schauer übers Herz. 
Men du nicht verläfleft, Genius, 
Wird dem Regengewölk, 

Wird dem Schloßenfturm 
Entgegen fingen — — 


250 








Mandeln wird er 

Wie mit Blumenfüßen 

Über Deufalions Flutſchlamm, 
Python tötend, leicht, groß, 
Pythius Apoll.“ 


Mit Blumenfüßen über Deukalions Flutfhlamm wandelte 
der Legationsrat gerade nicht. Er ging jeßt mit vorgeneigfem 
Kopfe, krumm, mit den Augen im Staube des Weges, und hätte 
um ein Haar einen ihm von der Sachfenhänfer Warte her ent; 
gegenfommenden Wanderer angerannt, welches Mißgefchid 
wahrfcheinlichermweife von den fchlimmern Folgen für ihn felber 
begleitet gewefen wäre. Diefer die Straße herabichreitende 
Spaziergänger war ein alter, frifcher Herr mit weißem Baden; 
bart, weißer Halsbinde, im Frad und begleitet von einem 
braunen Pudel, Er trug gleichfalls ein fpanifch Rohr mit einem 
Goldfnopf und wich dem Zufammenftoß mit einem verdrieß- 
lichen Grunzlaut aus und zwar nach rechts hin. Da num aber der 
Rat fofort nach links fuhr, fo ftanden beide wieder voreinander, 
und der Alte mit dem Pudel grungte um ein Bedeutendes grim⸗ 
miger und fprach dazu Teife ein englifches Wort. Mit einer deut; 
fchen Entfcehuldigung zog der Legationsrat den Hut, und der 
Alte, feinem Grundfage: Give the world its due in bows, nad), 
hob mit wütendfter Höflichkeit den feinigen gleichfalls von der 
breiten Stirn, fehritt kurz und fchnell weiter dem zornwütigen 
Sachfenhaufen zu und fehnurrte das Wort: „Bipes!‘“ indem 
er wie zu feiner Selbftberuhigung und Befänftigung hinzufügte: 

„Die Klöße werden eg nicht lernen, nach rechts aus; 
zumeichen I” 

Der Legationsrat Alexius von Nebelung vernahm im Weiter; 
gehen diefe Bemerkung ganz wohl; allein er wendete fich nicht, 
um fich eine Erläuterung auszubitten, Nicht daß er fein Gift 
ſchon völlig verfpudt gehabt hätte, aber augenblidlich fühlte er 


W. Naabe, Sä 
aabe, Sämtliche Werke. Serie U 17d 251 


die Zähne etwas ftumpf und hatte das Wiederzufammenlaufen 
der Galle abzuwarten. Den Haräugigen Alten im Frad kannte 
er aber auch zu gut vom Lefesimmer des Kaſinos und der Table 
d’höte im Englifchen Hofe her, um fich mit ihm auf dem nam; 
lichen Fuße einzurichten wie mit dem guten Nachbar und braven 
geoßherzoglich darmftädtifchen Kommerzienrat Florens Nürrenz 
berg. 

„Der hätte meine Schwefter Lina heiraten müffen!“ fagte 
der Legationsrat im langfamen Weiters und HügelanzSchleifen. 
„Jetzt wird fie angelangt fein und fich fehr darüber wundern, 
mich nicht am Main⸗Weſer⸗Bahnhofe zu finden. Und mit 
Kecht! es war meine Schuldigfeit, dort zu fein; zumal unter 
den obwaltenden Verhältniffen. Wie wird fie mich num ihrerfeits 
empfangen, wenn ich nach Haufe komme? Werde ich fie überhaupt 
zu Haufe finden? Wenn fie ihren Charakter über das Weltmeer 
wieder gebracht Hat — wenn Käthehen fie vielleicht — was der 
Himmel verhüten möge! — gleichfalls verfehlt Hat — wenn das 
Kind, das die Tante gar nicht Fennt, fie im Menfchengewühl 
nicht herausgefunden hat, ift fie imftande, in gerader Richtung 
vom Bahnhof nach irgendeinem Hotel zu fahren, mir eine Viſiten⸗ 
farte zu fohiden und mit dem nächften Zuge wieder abzureifen. 
Und das alles nach zwanzigjähriger Trennung! das alles, 
nachdem fich fo manches verändert, — nachdem wir beide — — 
milder, bedächtiger, gelaffenee — ja, milder geworden find! 
Zwanzig Jahre — und ihre freundlichen Briefe aus der Fremde! 
— zwanzig Jahre, feit wir ung nicht fahen; feit die ganze Welt 
eine andere geworden tft! Ei, fo wollte ih doch —“ 

Er ftand fill und blidte auf den Weg nach — RpOIER 
zurück und — fah nach der Uhr, 

„Es ift zu ſpät!“ murmelte er mit einem Seufier. „Jetzt ift 
es gleichgültig, ob ich bei eingebrochener Dämmerung oder erft 
bei vollftändiger Nacht heimkehre. Ich werde noch big zur Warte 
binauffteigen, mir überlegen, was ich daheim fagen werde, und 


252 








dann ruhig heimgehen. Iſt es denn meine Schuld, daß ung dieſer 
fchöne Abend fo ſchändlich verdorben worden ift?“ 

Nun fehlich er unter dem Gefange der Feldgrillen um ihn her 
und fah, fühlte und empfand das Seinige auf diefer Landftraße, 
die von Frankfurt nach Darmftadt führte. Von nun an blieb er 
dann und wann ftehen, entweder mit dem Kopfe fehüttelnd oder 
mit ihm nidend. Er geriet immer tiefer in die Vergangenheit, in 
jene Zeit, als er noch mit der Schwefter Lina im Elternhaufe zu 
OxOburg lebte, und für einen Mann ohne jegliche Phantafie 
malte er fich die Bilder bunt und farbig genug aus; da fand ſich 
freilich nicht die Stimmung und Anlage, Wanderers Sturm⸗ 
lieder zu fingen oder über die Welt als Wille und Vorftellung 
nachzugrübeln. Wie eine Claurenfche Novelle wuchs das empor 
in feiner Seele, und es fehlte nichts von allen Zubehörigfeiten 
dabei. Nur die Schwefter Lina paßte ganz und gar nicht hinein, 
und das war auch der Grund, weshalb fie vor zwanzig Jahren 
daraus wegging. 

Da war die Heine Reſidenz mit dem Fürften Alerius dem 
Dreisehnten, der auf Alexius den Zwölften gefolgt war; — die 
Heine Reſidenz mit dem hochfürftlichen Minifterio, dem Hof; 
marfchallsamte, dem LeibgardesSägerbataillon, dem Landes, 
fonfiftorio, dem Landeszuchthaufe, dem Hoftheater, dem hohen 
Adel und verehrungswürdigen Publito, wie es in den achtzig 
oder hundert Bänden der gefammelten Werke des berühmten 
Autors genau verzeichnet fteht. 

Da war das Haus des Papas, welcher der Großpapa umnferes 
Käthchen Nebelung in der Hanauer Straße da drunten in Frank; 
furt am Main war. Wilhelm Hauff hat e8 ganz genau fennen 
gelernt, und die Tante Lina las als ein ganz, ganz junges Bad; 
fifchchen den Mann im Monde nebft der darangehängten Kontro; 
verspredigt und Vermahnung an die deutfche Nation. Sie hätte 
beinahe für die leßtere ein Dankfagungsfchreiben, einen Bes 
lobungsbrief an den jungen Stuttgarter Hauslehrer gefchrieben, 


17% 


93 


und zwar ganz verftohlen, denn ihre fämtlichen älteren und jünge⸗ 
ten Befanntinnen waren entrüftet über den ſchwäbiſchen Doktor 
und fein heimtüdifcheg, frivoles, Täfterliches Vorgehen gegen den 
herrlichen, liebenswürdigen Hofrat im Generalpoftamt zu Berlin, 
Karl Gottlieb Samuel Heun. Sie fohrieben nach dem Eßlinger 
Prozeß ganz offen ein Gratulationsfehreiben an den Hofrat und 
gaben das duftende Briefchen am hellen Tage auf die Poft, 
und ihre Mamas hatten nicht das mindefte dagegen einzu⸗ 
wenden. 

Auch der Studiofus der Jurisprudenz Wer Nebelung las 
damals feinen Clauren und las ihn in den Ferien den Schweftern 
feiner Studiengenoffen vor, 

„om, ba!” fagte der Legationsrat Alexius von Nebelung auf 
der Darmftädter Chauſſee. 

Er dachte immer inniger daran, wie ſchön es doch) fei, jung 
zu fein und fich begeiftern zu können. Er dachte an den erften 
Hofball, auf dem er als jugendlicher Auskultator, feiner Tanz⸗ 
füße wegen, wenn auch nicht feiner fogialen Stellung nach hof; 
fähig war, und dann — dann dachte er an das, was während 
diefes Balles zu Haufe vorging, und wie damals das Wohl; 
behagen in Ox Oburg durch Schuld der — Karoline in 
eine Kataſtrophe auslief. 

Die Schweſter Lina war nicht hoffähig. —— gab es 
nur allzuviel in den höchſten geſellſchaftlichen Sphären der Reſi— 
denz Seiner Durchlaucht ler’ des Dreizehnten. Es war wirklich 
nicht notwendig, ihre Überzahl duch Zufuhr aus den Reihen der 
Bourgeoifie zu vermehren, und wenn die guten Kinder mit noch 
ſo gutem Rechte in diefem winzigen Staatswefen zur noblesse de 
robe zu rechnen waren. 

Während alfo der Bruder im fürftlihen Palais fich mit dem 
weiblichen Teile des hohen Adels des Landes, im Glanz der 
Girandolen und unter der Mufik des fürftlichen LeibgardesJägerz 
bataillons im SKreife drehte, hatte Schwefterchen Lina ftill zu 


254 











Haufe bei ihrem Stridfteumpf und hinter einem Bande von 


Börnes gefammelten Schriften (wiederum verftohlen) gefeflen 


und — an ihren Friß gedacht. 

An ihren Frig! Es war zu Boden fohmekternd, und es war 
um fo zerfehmetternder, da niemand im Haufe eine Ahnung davon 
gehabt hatte, daß das Kind, während andere tanzten, fich auf ihr 
eigen Fäuftchen einen Tänzer, und zwar für den Ball des Lebens 
ausgefucht haben könne! Einen Tänzer nach ihrem Gefchmad! 
Den braven Fri Heflenberg, den anrücigften aller Bewohner 
der Stadt! 

Und Fritze hatte auch die Rechtskunde fEudiert, oder fich doch 
unterm Vorgeben, fie zu fiudieren, von verfehiedenen Univerfiz 
täten relegieren laffen. Und Frige war politifch anrüchig, und die 
Entrüftung über ihn war um fo größer in der Reſidenz, als er 
ihre Verachtung mit vollfommenfter Gemütlichkeit auf feinem 
breiten Rüden trug. Seine Lafterhaftigfeit hatte lange zum 
Himmel — einen übeln Geruch gefendet, — der gutmütige Fürft 
hatte ihn perfünlich gewarnt, und es hatte alles, alles nichts 
geholfen. 

Nachher ift es herausgefommen: der Unhold hatte fogar 
während der Audienz, während fein langmütigfter Landesvater 
ihn fo väterlich ermahnte, fich zu beſſern — auf der bloßen Bruft, 
nur vom Hemde verdedt, ein ſchwarzrotgoldenes Band getragen. 
Der Legationsrat von Nebelung unter der Iſenburger Warte 
erinnerte fich des Entſetzens der Reſidenz bis in die Teifeften 
Schwingungen. Wegen demagogifcher Umtriebe wurde der 
biedere Fritze in jener Ballnacht verhaftet; und mit der Welt, die 
felten etwas anderes fagt, ald was ſchon vordem gefagt worden 
ift, meinte der Auskultator Mer Nebelung: „Der Krug geht fo 
lange zu Waſſer, bis er bricht.“ 

Der in den höheren Kreifen fo gut angefchriebene junge Rechts; 
gelehrte follte aber auch noch über verfchiedenes andere feine Mei; 
nung abgeben. Vom Schloffe heimfehrend, fand er auch die 


255 


Schwefter eingefperrt, den Papa in fih sufammengefniffen und 
die Mama auseinandergegangen. Friges Papiere hatte man 
von Amts wegen verfiegelt, aber mit Linas Papieren war ganz 
das Gegenteil vorgenommen worden. Linas Papiere lagen auf 
dem Tifche, offen und feilmeife von einer fcharf zugreifenden 
Hand arg gefnittert: die Mama hatte die geheimften Verftede 
im Schreibtifche des Töchterleing fofort aufgefunden; und für 
den foliden Gang ihres Hausweſens war es ein Glüd, daß der 
deutfche Bund ihre Talente in diefer Hinficht nicht gekannt hatte, 

Großer Gott, die Schriftftüde, die das Gericht in der Woh— 
nung des Verbrechers gefunden und eingefiegelt hatte, waren 
nichts, gar nichts gegen die Dokumente von feiner Hand, die 
Papa und Mama Nebelung im Befige ihrer Tochter fanden. 
Der hatte Frige fein Herz aufgefehloffen, — der hatte er gefagt, 
wie er dachte, — der hatte er nichts verhehlt, gegen die war er 
gerade herausgegangen! D, und was für einen Stil er ſchrieb! 
einen braven Stil, einen biedern Stil; der Landesvater felbft 
fehrieb feinen bravern. Und er fohrieb, wie er war; und bei allen 
Mächten im Himmel und auf Erden, er war ein alter guter Junge, 
und Linchen hatte ihn mit dem eingeborenften Inſtinkt für alt 
deutfche Treue und Nedlichkeit für fich aus der Blüte des Vater- 
landes herausgefunden und herausgepflüdt: mas konnte fie 
dafür, daß er der Nefidenz und dem durchlauchtigen deutfchen 
Bunde fo fchlecht gefiel? 

Das war num dreißig Jahre her, aber für einen Mann ohne 
Phantafie, wie der Rat Nebelung, war's um fo merfwürdiger, 
wie ſcharf und Har jegliche Einzelheit jener denfwürdigen Nacht 
aus dem Dunfel emportauchte, Nicht nur die Menfchen, fondern 
auch die Sachen fanden ganz deutlich an diefem Abend vor 
Pfingften 1858 vor dem inneren Auge des Legationsrates, Nicht 
nur der Papa und die Mama, fondern auch ihre Porträts über 
dem Sofa, die Uhr in dem antifen Tempel an der Wand gegen; 
über, und vor allem der Tifch mit der roten wollenen Dede und 


256 








den fonfiszierten Papieren des Schwefterchens, — der Tiſch, an 
dem das Schwefterchen felbft lehnte, die Hand feft auf die Platte 
geffügt und froß ihrer verweinten Augen mit einem lachenden 
Zug um diefe Augen und einem froßigen um die Lippen. 

Der Wanderer hörte die teilmeife fo lange verflungenen 
Stimmen, und vor allem andern hörte er die Rede des bild- 
hübſchen, ſchlanken, nafeweifen neunzehnjährigen Dinges, der 
Schweſter Lina. 

„Run, was wollt ihr denn eigentlich! Ja, es ift fo, wie eg 
jetzt herausſpioniert iſt; ich Habe ihn gern und er mich, und das 
find feine Briefe an mich! Mit mir fünnt ihr machen, was ihr 
wollt; aber was ihr ih m anhaben könnt, das will ich doch erft 
einmal fehen. Feftung? Er auf die Feftung? Ach, du lieber 
Gott, da baut euch doch erft eine! ... Und ih — Waffer und 
Brot? Gütiger Himmel, Papa, ganz fo tief im hohen Mittel; 
alter und im tanzenden Schädel am Kabenftein, im Konrad von 
Strahlenburg und dem wandelnden Geift auf der Kuksburg 
fteden wir doch nicht mehr. Eine ſchlechte Kreatur bin ich? Ach, 
Mama, liebe Mama, das bin ich auch; denn i ch habe ih m ver; 
führt, und ich will e8 auch vor Gericht ausfagen, ich will alles 
geftehen, und ich will auch Seiner Durchlaucht felber mein Ge; 
ſtändnis ablegen. Ja, ja, es ift fo, wir beide — ich und Frig, 
wir haben ebenfalls die deutfche Nepublif gründen und Seine 
Durchlaucht als deutfchen Kaifer an die Spiße ftellen wollen, — 
wir haben ung unfer Wort darauf gegeben, und Frig hat einen 
Ring mit einer Haarlode von mir.“ 

Der Legationsrat hatte fich auf dem Wege nach der fen; 
burger oder Sachfenhäufer Warte überlegen wollen, was er nach 
feiner Nahhanfekunft der Tante fagen könne, aber nicht, was 
vor dreißig Jahren in jener fehredlichen Nacht die Tante fagte. 

„Ich verfuche vergeblich, e8 von mir zu weißen,“ murmelte er 
jetzt. „Es iſt ftärker als ich, und mir ift ſchlecht zumute! Ich Hätte 
doch nach dem Bahnhof gehen follen. Es war meine Pflicht. 


257 


Den Verdruß über den Nachbar Nürrenberg hätte ich mir auf 
eine andere Art von der Seele fchütteln können als durch dieſes 
tolle Gerenne ing Blinde. Da ift die Warte, und e8 ift mir, als 
ob mir eine Gerichtspedellenhand die Kehle zuſammendrücke. 
Setzen muß ich mich einen Augenblid; ich komme fonft gar nicht 
wieder nach Hauſe — wenigſtens nicht Tebendig.” 

Er arbeitete fich fohmwer und mühſam dem alten Turme zu, 
und Scharf und hell vernahm er während diefer letzten hundert; 
fünfzig Schritte die Stimme feiner feligen Mutter: 

„sch will dir etwas fagen, Karoline, Morgen mittag, fobald 
dein Koffer gepackt ift, fehaffe ich dich aus der Stadt; hörft du?! 
Ich werde dich felbft der Tante Nebelbohrer in Bernburg bringen. 
Du bleibft mir feinen Augenblid länger, als nötig ift, im Haufe. 
Bilde dir ja nicht ein, vielleicht den Papa allmählich durch Trotz 
oder Krofodilsteänen herumzubringen. Dafür bin ich auch noch 
da; — nach Bernburg gehft du morgen mittag, und jeßt gehft 
du auf der Stelle zu Bett, und ich gehe mit dir, um die Tür hinter 
dir zu verriegeln — in Die fe m Leben traue ich dir nicht wieder. 
D Bater, Vater, ift e8 denn möglich, daß wir diefe Nacht über; 
leben?” — 

Das war doch möglich geweſen. 

Am folgenden Morgen hatte Wer Nebelung das Protokoll 
beim erften Verhör feines Schul; und Univerfitätsgenoffen Fri 
Heſſenberg zu führen und war feiner Aufgabe in einer Weiſe 
nachgefommen, die ihm die Achtung aller feiner Vorgeſetzten 
erwarb. Am Nachmittage befand fich Linchen Nebelung verſtockt 
und leider gänzlich reulos auf dem Wege in die Verbannung. 

Selten von jener Nacht an hatten fich die Gefchwifter wieder 
gefehen und feit zwanzig Jahren gar nicht. Im Verlaufe diefer 
zwanzig Jahre waren die Eltern geftorben; ler Nebelung war 
als Legationgfefretär nach Frankfurt gefchiett worden und Lina 
nad Amerika gegangen, Brige Heſſenberg hatte einige Jahre 
ftill auf der Feftung eines benachbarten größeren Staates (e8 


258 





lohnte fich doch nicht, feinetwegen eine im Heimatlande zu bauen!) 
sugebracht und war dann auch in der Fremde verfchwunden. Eins 
mal fam das Gerücht, er habe geheiratet. Daß er feine erfte Liebe 
nicht geheiratet hatte, ftand jedoch feſt. — Alexius der Dreisehnte 
war auch geftorben, und heute fchrieb man den 22. Mai 1858. 
Wie doch die Jahre und die Leben hingehen! — 

Der Legationsrat hatte die Iſenburger Warte erreicht, und 
der Atem zum Rückwege mangelte ihm in der Tat. Dazu wühlte 
e8 immer feltfamer in ihm. Was er widerwillig Rührung nannte, 
hätten andere wahrfcheinlich Verdrießlichfeit benamfet. Sentis 
mental angehaucht war er augenblidlich, allein nur zu einem 
Drittel, was die anderen beiden Drittel anbetraf, fo krittelte er 
fich, und zwar nicht allein über fih,. Wie ein von Entogoen und 
Episven geplagter diplomatifcher Lachs fuchte er fich durch einen 
Schwung und Sprung Luft zu verfhaffen und in feine gemöhn; 
liche Seelenflimmung zurüdzufhnellen. Mit giftiger Energie 
tief er fich ins Gedächtnis zurüd, was der fatanifche Nachbar 
und Kommerzienrat am Nachmittag in der Jasminlaube ver; 
beochen hatte, Nur um einen Augenblid die Tante Lina aus 
dem Gewiffen 108 zu werden, malte er e8 fich noch mal recht grell 
aus, und in das Wirtfchaftslofal gudend, rief er: 

„Einen halben Schoppen Apfelwein!“ 

Der wurde fehnell gebracht, und ein Glas des edeln Tranfes 
in die Ubenddämmerung emporhebend, brachte der Legationsrat 
einen Teinffpruch aus und fagte laut und feierlichsgrimmig: 

„Es lebe Alexius der Dreizehnte!“ — — als worauf fich etwas 
ganz Kuriofes ereignete, — 

An einem Nebentifch im Grün unter dem alten Wachtturm 
horchte ein anderer Gaft — ein breitfehulteriger, jovialer Herr mit 
einem dien Eichenftoc zwifchen den Knien und in einem langen 
blauen Rod — hoch auf, erhob dann gleichfalls fein Glas 
Eppelmei’, erhob fich felbft, trat an den erftaunten Diplomaten 
heran und fagte: 


259 


„Hören Sie, Herr, wenn wir denfelben Landesvater im Sinn 
haben, fo ftoße ich mit Ihnen an auf den fidelen alten Hahnen. 
Vivat Merius der Dreisehnte!” 

„Mein Herr?“ — ftammelte der Legationsrat. 

„Ra, na,” fagte der andere gutmütig, „Eommen Sie, feßen 
Sie fich hierher, hier zieht e8 am wenigſten. Wiffen Sie, ich bin 
ein Schweizerbürger und habe längft feinen Konner mehr mit 
Ihren refpeftiven Landesvätern. Aber auf Den ftoße ich doch 
an, und noch gar in dDiefem angenehmen Getränfe. Sie find wohl 
auch ein oxoburger? Willen Sie, vor dreißig Jahren war ich 
auch mal einer, Damals war ich ein forfeher Studente, eben 
frifeh von Göttingen her, und hatte das Jus ſtudiert. Heute aber 
bin ich Lohgerber in Romanshorn am Bodenfee und habe dafelbft 
ein forſch, florierend Ledergefchäft. Mein Name ift Heffenberg; — 
wenn Sie mir den Ihrigen fagen wollen, fo fommen wir als 
Landsleute einander vielleicht ganz nahe, — freuen follt’8 mich 
fhon. Herrgott, was ift Ihnen aber denn?” 

Er mochte wohl fragen. Der Legationsrat Aler Nebelung 
faß auf dem nächſten Schemel mit gefchloffenen Augen und 
fchnappte wie jener vorhin erwähnte Brave Fifch, wenn er, flatt 
fich in fein gemohntes Element zurüdzufchnellen, fich aufs Trockene 
gefchleudert fühlt und findet, 








Siebentes Kapitel. 


We wenden uns jetzt dem zweiten in unmenſchlicher oder 
vielmehr allermenſchlichſter Aufregung aus der Hanauer 
Landſtraße Weggelaufenen, nämlich dem Heidelberger Profeſſor 
der Aſthetik, Herrn Elard Nürrenberg, nad. 

Sub specie aeternitatis ſah er zuerſt dag, was ihm eben be; 
gegnet war, nicht an. Dazu ſteckte er viel zu tief mit Haut und 
Haar dein. Wonne und Verblüffung mifchten fich auf eine Weife 
in ihm, daß in diefem Yugenblide die Natur wahrlich nicht feinet- 
wegen aufgeftanden wäre, um ber Welt zu verfünden: dies ift 
ein Mann! 

Nur ein männlicher Menfch war er und zwar ein durch den 


weiblichen Menfchen aus Rand und Band gebrachter. Und: 


„Was ift der Menfch? Und felbft der philofophifch gebildete 
Menfch?” fragte er geiftig taumelnd im körperlichen Rennen. 
„Was war das nun? Welch eine entfeglihe Kagenmufif ent; 
feffelter Gefühle? Welch ein roher dorifher Päan von Leiden, 
haft und Gemüt! D Käthchen, Käthchen! .. .. Und fie mußte 
nach dem Bahnhofe — nicht fünf Minuten hatte man, um fi 
nur notdürftig wieder zu verftändigen. Bin ich jet verlobt oder 
nicht? Ach, der Traum war fo füß — fo füß: weshalb mußte ich 
Ungeſchickter im vollen Schlürfen den zierlichen Becher fallen 
laffen?! Sie hatte recht, ich war ein Ungeheuer. Aber es kommt 
heute alles zufammen; — dies und die Tante Lina, die gerade 
in der Krifis von Bremen fommt und vom Main⸗Weſer⸗Bahn⸗ 
hof abgeholt werden muß, und der abgefehmadte Zanf der beiden 


261 


Alten. D Ares und Aphrodite, ich wollte — was wollte ich? 
Sch wollte — e8 wäre Pfingften übers Jahr! Ya, das iſt's, was 
ich wollte, dag ift das Einzige, worüber ich mir momentan Har 
bin.” 

Aber er hatte doch nicht umfonft fein Auditorium, feine drei 
zahlenden Zuhörer und feine ſechs Hofpitanten, in Heidelberg. 
Wie der Baron von Münchhaufen faßte er, jedoch ohne es felber 
zu willen, nach feinem eigenen Zopfe, um fi daran aus dem 
Sumpfe zu ziehen; und die auch hinter ihm dreinläutenden 
Glocken des Pfingftabends halfen ihm freundlich dabei. 

„Ach,“ fenfzte er, in der Fahrgafle aufatmend, „Pfingften 
Achtzehnhundertneunundfünfzig. Dder —“ er blieb einen Augen; 
blick horchend ſtehen — „oder vielleicht noch beffer — Pfingſten 
Fünfzehnhundert! Die Vergangenheit ift hier doch 
noch angenehmer als die Zukunft, und, bei den unfterblichen 
Göttern, ich wollte, dag, was mir heute begegnet ift, wäre mir im 
Fahre Fünfzehnhundert paffiert.“ 

Sie redeten alle in Zungen; der Pfarrturm, Sankt Paul und 
Peter und Sankt Nikolaus; und ganz entgegen dem biblifchen 
Wort mulier taceat in ecclesia gaben auch unfere liebe Frau 
und Sanfta Katharina hell ihe Wort darein. Da der Wind aus 
der Richtung vom Paradeplag fam, hatte Käthchen fogar dann 
und wann das große Wort. 

„So ift e8,” fagte der Profeffor, „der Mann, welcher nicht die 
Macht und Kraft hat, fich ftellenweife ganz und gar von der Zeit, 
von dem Tage loszulöfen, der ift von Grund aus verloren. Leben 
wir denn wirklich in der Zeit, da das Vergänglichfte, der Klang, 
uns überlebt? Ich Habe das fo nie gehört; — ich habe fo nie 
empfunden, was das da in den Lüften will; — diefer Alex der 
Dreisehnte hat ung alle wirbelig gemacht. Wahrhaftig, da lügt 
wieder einmal ein Sprichwort. Wo die Gloden hängen, wiffen 
bie Leute wohl, fie hören fie nur nicht lauten. Ich felber höre fie 
in diefer Stunde zum erften Mal in meinem Leben.“ 


262 








Er nahm fich wieder auf unter diefem Eindrud, daß er zum 
erften Mal} in feinem Leben wirklich die Gloden läuten höre, und 
rannte haftiger zu, die Fahrgaſſe hinab, und vor und hinter ihm 
und zur Seite da8 Volk von Frankfurt am Main im Koftüm von 
Anno MD. Sie hätten felbft fich über fich verwundert, die guten 
Frankfurter, wenn fie fih fo gefehen hätten, wie Herr Elard 
Nürrenberg fie fah: die Herren in pelgverbrämten Mänteln und 
in Schnabelfchuhen, die Damen in Schauben und Goldhauben. 
Was der die öfterreichifche Oberleutnant über fich gedacht haben 
würde, wenn er fich plößlich von dem Kopfe bis zu den Füßen 
ſchwarz und gelb geftreift und mit einem Zweihänder über der 
Schulter erblidt haben würde, wollen wir weiter nicht aus; 
malen. „No, aber der Trottel!“ würde er ficherlich ausgerufen 
haben. 

Daß der Heidelberger Profeffor auch fein Käthchen plöglich 
in der Tracht von Fünfzehnhundert erblickte, war felbftverftänd; 
lich, und fie war reigend — nur zu reigend, fie war zum Küffen 
drin, und der Aſthetiker Tief fchneller und ächzte: 

„Wenn wir damals gelebt hätten, durch welches Tächerliche 
Argernis würden wir ung dann wohl die Verlobungs;, Fefttags; 
und Lebens + Fefttags ; Stimmung haben verderben laffen?“ 

Er ſchlug im Laufen feine Kolleftaneen nach und fand allerlei 
Gründe, die in jenem Jahrhundert wurzelten und ihn noch 
untauglicher machten, die Fahrgafle im Jahre 1858 als ein ver; 
ftändiger Menfch zu durchfchreiten. Da er nunmehr aber auch 
den Legafionsrat von Nebelung und feinen eigenen Papa, den 
großherzoglich darmſtädtiſchen Kommerzienrat, in jene Zeit, jene 
Hofen und Röcke hHineindachte, fo fuchte er nach weiteren Grün; 
den nicht weiter, 

Er wurde angerannt, und er rannte an. Man fagte ihm mehr; 
mals, was man über ihn dachte; er aber fagte zur fich felber: 

„Das Wahre in der Welt ift doch, halb betrunfen gemacht zu 
fein — zuerft natürlich durch Entzüden, nachher aber auch durch 


263 


Ärger — und die Welt verſchleiert zu fehen. Der richtige Menfch 
und vor allem der deutfche Menfch gehört nur in den Nebel 
hinein, in folchen Nebel! Da wird ihm wohl, Wer nicht zwei 
geben hat, ift ein armfeliger Hund; der Genius aber hat deren 
neun und Flettert an den Hausmanern herauf und geht auf den 
Dachfirften wie die Kate. D Käthehen, mein Mädchen, mein 
zweites Leben. Momentan fühle ich mein Leben dreifach; in dir, 
in mir, und —“ 

In diefem Moment wurde er in drei Teufelsnamen von einem 
erboften, in die Rippen gepufften Pfahlbürger des zweiund⸗ 
zwanzigſten Mat Uchtzehnhundertachtundfünfzig gefragt: welchem 
Menageriebefiger er eigentlich von der Kette Iosgebrochen fei? 
Und er lachte und antwortete: 


„Dem Gott Amor!“ 


Er zog auch alle feine Literaturfenntniffe herbei, dachte an 
Lili Schönemann und an Lilis Park, Die Liebe und die Bosheit, 
die alle neun Mufen repräfentieren, jagten ihn in die Poefie, und 
das alte Frankfurt wurde immer mehr zu jenem Eiland, das 
Miranda trug und Profpero, den rechtmäßigen Herzog von Mais 
land, Ariel, Kaliban und die anderen. 


„Se — Wolfgang — hörte auch diefelben Gloden, — und 
die Frau Rat hörte fie, und Gretchen und Lili hörten fie, und hier 
gehe ich, und es ift doch der höchfte Genuß auf Erden, Deutſch zu 
verftehen I” 

Da hatte er recht. Es ift in der Tat fehr tröftlich, Deutſch 
zu verftehen ; zumal wenn man unter dem Pfingfigeläut das große 
Buch von Wahrheit und Dichtung, das große deutfche Buch 
menfchlicher Erfahrung und Weisheit in Herz und Hirn trägt. 


Mir wiffen, daß Käthehen und die Tante von ihrer Drofchke 
aus den Papa Nebelung laufen fahen, und wir müflen jegt 
fagen, daß es ung viel lieber wäre, wenn fie ftatt des Legationg; 
rates unferes Freundes Elard anfichtig geworden wären. 


264 








Ob das liebe Käthchen den AuafisVerlobten wohl in feiner 
gegenwärtigen Stimmung verfianden hätte, wenn fie Kenntnis 
von ihr gehabt hätte? 


Mir bezweifeln das. 


Ein junger deutfcher Profeſſor aller möglichen Kunſtanſchau⸗ 
ungen, der zugleich natürlich ein Kenner und Wiſſer aller mögs 
lichen Philoſophien ift, ift nicht fo leicht in feinen Seelenregungen 
zu begreifen; zumal wenn er fich felber keineswegs vollfommen 
Har ift und feine Verwirrung im Galopp in die freie Natur hinaus; 
trägt. Seine Kollegienhefte tragen freilich nachher die Frucht; 
beingendften Spuren der Eraltation. Es ift eben nichts feucht; 
breingender als die Verblüffung der Gelehrten und Poeten. 
Klares Nachdenken und ruhiges Behagen leiften lange nicht fo 
viel für den Fortfchritt ſowohl der Wiffenfchaft wie auch der 
Poeſie. 

Unter dem Eindruck, dem Quaſi⸗Schwiegervater nachzu⸗ 
rennen, kreuzte auch Elard den Main, durchſtürmte Sachſen⸗ 
hauſen und das Affentor, lief aber dann nicht gerade aus, wie 
der Rat, ſondern bog, von ſeinem Dämon dirigiert, links ab 
auf den Weg nach Oberrad. Er lief bis nach Oberrad, immer in 
der nebeligen Idee, daß das Glück und die Ruhe ſeiner Leben 
davon abhänge, daß er ſich dem durchgegangenen Ex⸗Diplomaten 
an die Rockſchöße klammere, bis zurück in die Hanauer Land 
ſtraße und die allgemeine Verſöhnung. In der Idee rannte er 
eigentlich nur fich felber nach; wie fchön der Abend war, haben 
wir fchon mehrfach Gelegenheit gefunden zu bemerken; an den 
erften Gärten des Dorfes fand Elard e8 auch von neuem und 
trocknete den Schweiß, der zu einem guten Teil leider der Angſt⸗ 
ſchweiß war, von der Stirn. 


„Iſt denn die Welt nicht übrig?” fragte der Profeffor mit 
jenem, ber den Weg nach Oberrad und dann weiter nach Offen; 
bach feinerzeit ebenfalls fo gut kannte und fo oft ging: 


265 


— — — — — — — — „Felſenwände, 

Sind ſie nicht mehr gekrönt von heiligen Schatten? 

Die Ernte, reift ſie nicht? Ein grün Gelände, 

Zieht ſich's nicht Hin am Fluß durch Buſch und Matten? 
Und wölbt fich nicht das übermweltlich große 
Geftaltenreiche, bald Geftaltenlofe?” 


Das war ganz richtig! die Welt war in der Tat noch vor; 
handen, und der Profeffor fah fih um am Himmel und auf der 
Erde. Der Himmel war Har und rötlich angehaucht von der fich 
neigenden Sonne. Die Erde war grün, und vorzüglich grün 
erfchienen die Gärten von Oberrad. Vernunft fing wieder an 
zu fprechen, und ein verftändig Gelüfte überfam plöglich den 
Aſthetiker. Es gelüftete ihn nach einer Bank im fröhlichen 
Schatten und nad einem Tifch davor. Es gelüftete ihn, die Welt 
duch ein Glas guten Weines anzufchauen, und was eben auch 
nur eine Idee war, machte er zu einer Nealität. Er trat in eins 
der Iuftigen Vergnügungslokale — ganz gegen feine fonftigen 
Gewohnheiten felbftverftändlih — und fein Damon Hopfte 
ihm, wahrfcheinlich diesmal fehr zufrieden mit ihm, auf die 
Schulter. 

„Die fürchterlichften Efel laufen doch unter der Maske eines 
Doftors der Philofophie herum; mein Beifpiel redet davon,” 
murmelte er. „Was war ich nur eben? Eine Mücke, plattge; 
quetſcht zwifchen den Bogen eines uralten Buches, des Buches 
von der Narrheit der Menfchen. Ein ſchöner dauerhafter Tröfter 
in Schweinsleder oder auch in Eſelshaut! Sollte ich es zu einem 
berühmten Namen bringen, ſo würde man mich und den heutigen 
Tag vielleicht noch nach hundert Jahren darin aufgetrodnet 
finden.” 

Er zitierte von neuem: 

„Mit dem Philifter ftirbt auch fein Ruhm —“ doch hier fehon 
brach er ab und meinte: 


266 








„Das ift auch ein Irrtum von Schiller. Gewöhnlich ift der 
Mann Mitglied einer Kammer, einer Landtagsverfammlung 
oder wenigftens Mitglied einer politifchen Partei oder des Aus⸗ 
fchuffes einer Aftiengefellfhaft, und dann trägt ihn wie ung die 
Mufe in Mnemoſynens Schoß. Es findet fich immer ein Vor; 
fißender, der die Mitteilung vom Abfcheiden des verdienftuollen 
Mitbürgers und Kollegen macht und auffordert, fich zu feinen 
Ehren von den Sigen zu erheben. Die Verſammlung tuts, und 
der Verſtorbene hat feine Unfterblichkeit weg.“ 


Die Gedantenfolge hatte faum etwas mit Käthchen Nebelung 
zu Schaffen. Der erfchöpfte Verlobte faß bereits unter einer Akazie 
und winfte einen Naturfellner heran. 


„Einen Schoppen Eppelwei’?” fragte diefer. 


„Rein!“ fchrie Herr Elard Nürrenberg faft zornig. „Eine 
Flaſche Hochheimer — und raſch! — Appelwei?!!“ 

„O Käthchen, Käthehen?” flüfterte er, und dann fam der 
edlere Tran, der allein der Minute gerecht werden fonnte. „Man 
follte doch toll werden,“ ächzte der Profefior, und dann wurde er 
ftatt deffen elegifch; gerade um die Zeit, als die Tante Lina fein 
füßes verweintes Liebchen zwifchen die Knie zog, um es einer 
genanern Dfularinfpektion zu unterwerfen. Da er, Elard Nürren; 
berg, eben die Welt durch das flüffige Gold in feinem Glafe 
betrachtete, fo tat er ganz genau das Nämliche, was die Tante 
Lina Nebelung tat: er befah fich noch einmal genau — ganz 
genau Käthehen Nebelung, und er fand — — — — — bei Eros 
und Aphrodite, e8 wäre zu lächerlich, wenn wir ung lange dabei 
aufhalten und Punft für Punkt auseinanderfegen wollten, wie 
er das Univerfum, alles in allem genommen, fand. 

Wenn Fräulein Katharine Nebelung, die Tochter des Legaz 
tionsrats, Nitters uſw. Mlerius von Nebelung, nur die geringfte 
Ahnung davon gehabt hätte, wie fie dem Jüngling, dem Ge 
lehrten, dem Spealiften in diefem Augenblick erfchien und was 


B. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 18d 267 


alles fie ihm war und gab, fo würde fie fich fehr über fich ver; 
wundert und wahrfcheinlich gerufen haben: 

„Mein, aber ift e8 denn die Möglichkeit?!” 

Es war die Möglichkeit; und daß das eben immer wieder die 
Möglichkeit ift, das erhält die Erde, die Sonne und alle Ge 
ftirne im alten Glanz und Licht und wird fie in alle Ewigkeit fo 
erhalten. 

Was will das Individuum mit feiner Logik, wenn das Uni; 
verfum verlangt, daß e8 nach der feinigen lebe und fich halte und 
richte? — Erft mit Sonnenuntergang fam der wadere Profeffor 
von Heidelberg zum vollftändigen Wiederbewußtfein feines groß; 
herzoglich badenfchen Anftellungspatentes und der Vorfälle, die 
ihn aus der Hanauer Landftraße nach dieſem verzauberten Ober; 
rad getrieben hatten. 

Da machte er fich auf den Heimmeg, und zwar wie jemand, 
der einen guten Ruf und zwar um feiner felbft willen aufrecht 
zu erhalten hat. Er ging als ein wenn auch fehr gelehrter und 
verliebter, fo doch nicht unverftändiger junger Mann nach Haufe. 


268 








Achtes Kapitel. 


ie gehen mit ihm. Das heißt, nachdem wir dem Legationg; 
' tat das Geleit nach der Iſenburger Warte gaben, eilen wir 
dem Profeffor Nürrenberg voraus auf dem Wege von Oberrad 
nach Frankfurt und fuchen zu erkunden, wie fih Here Florenz 
Nürrenberg, der Kommerzienrat, mit der Keifis des Nachmittags 
abfand. Selbfiverftändlich auf die allein fachgemäße Weife: 
er hatte kurzweg die fämtliche Gefellfchaft und Freundſchaft für 
eine ausbündige Narrenbande erklärt und ſich für das allein 
vernünftige Wefen unter der ganzen Hetz. Er gebrauchte ein 
wunderlihes Durcheinander ganz vortrefflicher Gleichniſſe, die 
er aug feiner früheren Fabriktätigkeit zu Höchft entnahm, um fich 
ein fchmeichelhaftes Anerfennungsdiplom über feinen Charakter 
und feine Lebensführung auszuftellen. 

„Was follte aus diefer zerfahrenen Welt werden,“ fagte er, 
„wenn die ewige Vorfehung nicht unfereinen als Dedblatt für 
diefe Pfäher Havannas, für diefe ſchöne deutfhe Nation auf 
Lager hielte! Wir find e8, die das närrifche Gefindel, die Gefell; 
haft, zufammenhalten. Wir geben dem Cigarro den Duft! 
Auf uns allein verläßt ſich der Fabrikherr, der liebe Herrgoft. 
D, der fennt feine Kiften und feine Fabrikation! Der weiß ung 
zu farieren. Da ift num die alte Rippe, diefer Nebelung — manch 
liebes langes Jahr rauche ich nun fchon an dem Tabaf, und immer 
bleibt mir ein Philifter für den andern Morgen übrig. Und dann 
das feltfame Produkt, mein äfthetifcher Herr Sohn, — auch ein 
feines Kraut! Daß ich e8 an der rechten Brühe dafür hätte fehlen 


18* 269 


laffen, kann mir fein Menſch vorwerfen. Und num diefes Käthchen 
— ganz das Blatt, welches in eine Damensigarre gehört; — zu 
Knaſter verfchnitten etwas leicht, aber angenehm; — na, das 
ift denn meines Profeſſors Sache, wie fich das Ding raucht. Auf 
das Dedblatt kommt e8 allein an: fürs Ganze bin ich’8 hier in 
der Hanauer Landftraße; aber im Einzelnen, — Donnermetter, 
da bin ich mit meinen Komparationen doch am Nande, und wenn 
mir jeßo mein Philoſophikus zur Hand wäre und ich erfuchte ihn, 
fortzufahren, fo würde er in die Skulptur, Mythologie, Malerei, 
Poeſie oder dergleichen auf der Stelle hineinfallen und mich noch 
fonfufer machen, als ich ſchon bin. Hm, jetzt foll mich nur wun⸗ 
dern, welch ein Arom die überfeeifche Tante mit fich bringt. Hm, 
ich habe gar nichts gegen eine gute Virginia einzuwenden, den 
Strohhalm möchte ich nur nicht gern für andere Leute drin 
fpielen. Nun, wir wollen’8 abwarten, ganz ruhig abwarten.“ 

Das war alles hinter der Oberpoftamtsgeitung hergefprochen ; 
aber weder der politifche Inhalt des Blattes noch die Kursberichte 
wurden dem Biedermann in der Jasminlanbe heute fo deutlich 
wie an anderen Tagen. Er ſchob das auf die Mufe der Geſchichts⸗ 
fhreibung und brummte: „Daß geftern draußen rund um den 
Erdball gar nichts paffiert fein follte, kann ich mir nicht vorſtellen; 
der Blättlesfchreiber hat's nur eben nicht erfahren.” 

Er gähnte und warf das Blatt auf den Tiſch — 

„om, hm, hm!“ murmelte er, auf feinem Stuhle fich hin und 
her wiegend und ſchiebend. Aber plötlich vergog fich fein Mund in 
ein ſchlaues Lächeln; er fagte noch einmal Hm! aber in einem 
ganz andern Tone; griff rafch in die rechte Hofentafche und brachte 
einen Schlüffel mit einem ledernen Riemchen zum VBorfchein, 
Diefen Schlüffel beäugelte er einen Augenblid zärtlichft, wadelte 
dann ins Haus, um nach gehn Minuten wieder zum Vorſchein zu 
fommen, eine verftaubte Flafche in der einen Hand und einen 
grünen Römer in der andern. 

„Nur der Aufregung wegen und in der Einſamkeit!“ fprach er, 


270 








wie zur feiner Entfhuldigung. „Geärgert hab’ ich mich Doc, 
wenn auch nur im ftillen, und ein Gläsle Rüdesheimer wird 
mir vielleicht nicht ſchaden. Auf die Ankunft der Tante muß ich 
doch auch warten — da hat man beffer die Waffen zur Hand.“ 

Liebevoll ftellte er die Flafche nieder auf dem Tifche, in der 
linfen Hofentafche nach dem Pfropfenzieher fahndend, „Was 
mein Bub jeßt da drüben fut und was er der Kleinen vorträgt — 
— geht mich nichts an; aber was ich auf den Skandal jetzo 
tue, das weiß ich, und was ich mir mitzuteilen habe, des 
gleichen.“ 

Er hatte bereits die Flafche zwiſchen den Knien, und fich felbft 
von neuem Beifall nidend, fegte er das Infteument an. Schwer 
fam der Kork, doch er kam; ftöhnend fegte fich der Kommerzien; 
rat und Patrisins von Rottweil, ſchenkte das Glas voll, Eoftete, 
nidte dem Weinchen feinen Beifall und rief: 

„Hoch ſämtliche Meriuffe und Heringe in der Welt und im 
MWeltmeer! Vivat Merius der Dreisehnte! Vivat Alexius von 
Nebelung, mein Here Bruder und meiner Schwiegertochter 
Papa!“ 

Schon diefes Wortes bei diefer Gelegenheit wegen haben wir 
den Mann hochzuachten; nein, das ift ungenügend: wir haben 
ihn zu lieben, und wir lieben ihn auch und ftellen ihn allen übrigen 
Kommerzienräten, Tabafsfabrifanten, Blumenzüchtern, Wein; 
fennern, Nachbarn, Vätern und Schwiegervätern als Mufter hin. 

Der alte Mufterfnabe fah den Legationsrat fortrennen und 
fah ihm nach. Er fah feinen Elard fpringen und laufen und fah 
Käthchen Nebelung nach dem Main⸗Weſer⸗Bahnhof abfahren. 
Mit feiner Dberpoftamtszeitung, feinen Kaffeeläufen, feiner 
Pfeife und feiner Flafche hob er fich nur etwas mehr in die Höhe, 
flieg empor in den wonnigen Abendhimmel und ftellte fich als 
feine eigene Jury das Verdikt aus: 

„Unſchuldig an der Narrheit der andern.“ — 

Auf die Rüdkehr der Kleinen Nachbarin nebft der überfeeifchen 


271 


Tante mit dem unbelannten Arom paßte er aber in größerer 
Unruhe, als fonft in feiner Konftitution und Gemütsverfaffung 
lag. Er fah fie vorfahren, er fah die Tante Lina auf dem Balkon 
des Haufes gegenüber; er befah fie genau durch fein Opernglag, 
und dann — machte er es wie fein Herr Sohn in Oberrad, er 
beäugelte den Himmel und die Erde durch ein ander Glas, und 
die Welt ſchien fich darüber zu freuen, daß er — er wenisfteng 
noch in ihr vorkommen könne. Sie lachte ihn an und nidte ihm 
möütterlich zu, und er nidte vertraulich ihr wieder zu. Literarz 
hiſtoriſche, Afthetifche oder fonft in die Kunftfächer einfchlagende 
Bemerkungen machte er nicht, aber er meinte: 

„Wenn fich alle Menfchen hier unten fo gut amüfierten wie 
ich, dann meldete ich mich heute abend noch als Prätendente 
für den erften vafanten Herrfcherthron und wollte regieren, Daß 
e8 eine Art hätte. Na, das follte einen Vater des Vaterlandes 
geben, nicht wahr, mein Sohn Florens? So aber, wie's ift, mag 
fich meinetwegen das Volk Eonftituieren, wie's will ; ich für mein 
Teil danke für Zepter und Krone oder den Präfidentenftuhl. 
Da trete ich doch lieber dem Nachbar Nebelung alle Anfprüche auf 
eine welthiftorifche Stellung ab. Der hat fich ja doch ſchon herein⸗ 
gearbeitet und weiß mit dem Käs umzugehen und fertig zu 
werden. Hier fige ich und muß fagen, das Weinle ift ein gutes 
Weinle, und der Elard, wenn er gleich ein Blitznarr ift, ift doch 
nicht fo übel, und das Kindle drüben, das Kätherle — na eigents 
fich folle’ ich’8 nicht laut werden laffen, aber e8 gefällt mir im 
ganzen ebenfo gut wie dem Buben, dem Profeſſor. Na, da vers 
ftehe ich mich am Ende ebenfo gut wie der Heidelberger Prä— 
zeptor auf die Aſthetik und habe doch nicht in der Beziehung 
meinem Vater fo ein horrendes Geld gekoftet, wie mein gelehrter 
Sprößling mir. Ho, dazu braucht man nicht nach Rom und 
Griechenland zu geben, um die Kunft zu lernen, es herauszu⸗ 
finden, wenn feine Heine Nachbarin hübſch iſt. Mit gutem Willen 
und einer Dofis Mutterwig hab’ ich die Wiſſenſchaft auch in Höchft 


272 








gelernt, und da er, diefer Elard, die Frucht meiner Studien if, 
fo — hat er big jetzt auch noch nicht gewagt, von feinem Griechen; 
und Römertum aus auf meine natürliche fchwäbifche Begabung 
herabzufehen. Ich wollte es ihm übrigens auch nicht geraten 
haben! Hm, hm, ich habe, bei Gott, wüftere Tanten in meinem 
Dafein gefehen, ald da eben auf dem Balkon ſtand. Was tue 
ich nun? Laffe ich den alten Kater, den Legationsrat, nach Haufe 
fommen und die erſte Wiederfehensrührung vorbeigehen, 
ohne dabei gemwefen zu fein, fo garantiere ich mir einen dreis 
wochenlangen Muff und obligates Negenwetter. Auch den beiden 
Kindern werden ficherlich diefe drei Wochen ihrer kurzen Jugend 
durch das gelbgrane diplomatifche Neibeifen verrafpelt, und die 
Tante — der Tante werde ich, ohne mich verteidigen zu können, 
in das allerfchauderöfefte Licht geftellt. Sie friegt einen unmoti⸗ 
vierten Ekel unbefanntermweife vor mir. — Holla, holla, Florens 
Nürrenberg, jetzt gilt e8 liebenswürdig zu fein und diefem diplo⸗ 
matifchen Märzhafen eins auf den Pelz zu brennen, das heißt 
ihm bei feiner Nachhaufekunft, wie er e8 nennt, ein fait.accompli 
vorzuführen oder, wie ich e8 nenne, ihm höflich eine lange Nafe 
zu drehen.” 

Ein ganzes Gelegenheitsarfenal trug diefer Anwohner der 
Hanauer Landftraße bei fih. Schon hatte er wiederum in die 
Tafche gegriffen und diesmal ein krumm Heilbronner Garten; 
meffer hervorgeholt. 

„Seftern, heute morgen hätte mir einer zehn Gulden bieten 
können, und ich hätte die Sträuche nicht angerührt,“ murmelte er, 
zwifchen feinen Beeten aufs und abwandelnd. „Den bunten 
Ausſchuß Haben fie ſchon drüben gu Kränzen und Gitlanden; aber 
jetst ſchicke ich ihr perfänlich ein Mufterbufett; ha, ha, einen Selam 
ſchicke ich ihr als abgefeimter alter Araber, und wenn fie den nicht 
verfteht und beantwortet, wie ich’8 erwarte, fo tun mir freilich 
meine Lieblinge leid, und der Neft mag meinethalben gleichfalls 
verregnen.“ 


273 


Er ftellte einen Strauß zuſammen, der fich in der Tat fehen 
lafien konnte, und fummte dazu, in fich hinein Tachend: 


„An Mleris fend’ ich Dich, 
Er wird, Roſe, dich nun pflegen —“ 


dann verfügte er fih mit den „Kindern Florens“ in das Haus, 
um fich von feiner Frau Drißler ein blaues oder rotes ſeidenes 
Band zur Schleife zu erbitten., 

„Einen wahren Greuel der Verwüſtung hab’ ich angerichtet,“ 
feufsfe er, mit einem etwas Häglichen Blicke von der Treppe der 
Tür auf den Garten zurüdfehend. „Wenn nun die Alte als eine 
alte Schachtel ausfällt, und gar noch mit Yankee-Verſchluß und 
Sadanftrih, dann erkflär’ ich mich gleichfalls für ladiert, denn 
was bleibt mir noch übrig als die Kaktuszucht, an der allein auch 
fein Menſch fein alleiniges Genügen haben kann.“ 

Madame Drißler hatte ihm außer dem feidenen Band auch 
die Botin in der Perfon des jungen ſchmucken Hausmädcheng zur 
Verfügung zu flellen, und der Kommersienrat verfäumte e8 
nicht, der Kleinen unter das Kinn zu greifen, während fie fich 
fchnell ein weißes Schürgchen vorband und er ihr die Beftellung 
ausdeutete und auf das genaueſte eintrichterte. 

„Du weißt alfo jett, was du zu fagen haft, Liesle?“ 

„Si freilich! Der Herr Rat freuten fih arg, daß das gnädige 
Fräulein glüdlich angelangt feien. Und was das übrige Vor— 
gefallene anbetreffe, fo laffe er fich feine grauen Haare drum 
mwachfen. Der Herr Kommerzienrat wollten fich nur was anziehen 
und dann kämen Sie gleich.” 

„Beinahe ganz richtig, Liesle, aber doch nicht ganz! Sie — 
das gnädige Fräulein — folle fich Feine grauen Haare um dag 
Borgefallene wachſen laffen und fich’8 nicht zu Gemüte ziehen, es 
fäme fchon alles ing Gleiche. — Hm, Madame Drißler, kann ich 
ber Dame da 8, ich meine dag von den grauen Haaren, hinüber; 
fagen laſſen?“ 


274 








„Seh’ nur, Mädle, mach nur fort und ſchwätz, wie dir der 
Schnabel gewachfen ift; aber das rat ich dir, daß du dich nicht feft; 
ſchwätzeſt da drüben, fondern mir auf der Stell’ wieder riwwer 
biſt!“ fprach die geftrenge Frau Aja; und der Herr des Haufes 
fteich mit der Hand über fein ftahlgraues Haupt und fehlich ein 
wenig gebudter, als er gefommen war, zurüd in feine Garten; 
laube zu feinem Rüdesheimer und blingelte dem Liesle und feinem 
Blumenſtrauße durch das Gitter und Gezweig nad. 


275 


Meuntes Kapitel. 


8 war die Zeit nicht fern, wo der ruhige Bürger fittfam zu 
Frau und Kindern nach Haufe geht, der unruhige in feine 
Stammfneipe; aber der ganz wilde von Kneipe zu Kneipe. Die 
Tante Lina hat fich nicht nur gewafchen, fondern auch gefämmt, 
und frat erfrifcht, in grauer Seide, aus der ihre angemwiefenen 
Kemenate. 

Bor einer Viertelftunde hatte ihre Käthchen des Nachbars 
Mufterftrauß in die Tür gereicht mit den Worten: 

„Bir follten ung feine grauen Haare darum wachfen laffen. 
MWahrfcheinlich meint er des Papas Weglaufen. Er ift doch fehr 
freundlih, der Herr Kommerzienrat; mein armer Papa ift 
meiftens auch fehr gut —“ 

„ber viel zu fehr ein Nebelung, um fo raſch das Schmollen 
aufzugeben und fich herzlich und gutmütig zu fallen. Bitte, 
Kind, laß dem Heren Nachbar vorerft meinen beften Dank und 
Gruß zurüdfagen. Was wir weiter zu fun haben, werden wir ung 
überlegen.“ | 

Und die Tante ging der Welt von neuem auf mit dem Strauße 
des Nachbars Nürrenberg in der Hand. 

Die leten Strahlen der ſinkenden Sonne trafen fie; im Salon 
wartete ber Teetifch auf fie; fie aber — die Tante, fand zum 
zweiten Male auf dem Balkon und fah ſich um nach dem Kavalier 
jenfeit8 der Hanauer Landftraße, und der Kavalier fonnte nicht 
umbin, fich zu zeigen. 

Er trat heraus und nahm das Hauskäppchen ab, verbeugte 


276 








fich und legte fogar die Hand auf dag Herz. Die Tante verneigte 
fich gleichfalls und drüdte die Blumen an die Nafe. 

Dbgleich der Kommerzienrat num Höflichfeits halber feinen 
Dpernguder nicht benutzen durfte, erfannte er doch froß der Ent 
fernung die Lage der Dinge. 

„Bei Allah, fie verfteht meinen Selam! fie macht fich nicht fo 
leicht Tächerlich als ihr Herr Bruder! es ift eine Dame, die Vers 
nunft annimmt. Na, recht lieb ift das mir, alles in allem ge; 
nommen.” — 

„Wenn e8 dir num gefällig ift, Tantchen?!“ flötete Käthchen 
im Gemache, und es war der Tante Lina gefällig. Sie verneigte 
fih nochmals gegen den zartgefühligen Nachbar und trat zurück 
duch die Balfontür, 

„Da figen wir denn allein, — o e8 iſt eine Schande, und der 
Braten wird auch verbrennen — die Köchin hat fehon gefragt, was 
fih der Papa eigentlich dächte!“ rief Käthchen weinerlih. „Am 
Ende tut er fich gar noch ein Leid an, und fie bringen ihn ung 
naß aus dem Main ins Haus. Jetzt, wo wir hier ung fo ruhig 
hinſetzen wollen, fällt mir das auch noch zentnerſchwer aufs Herz.“ 

Lächelnd erwiderte die Tante: 

„Naß aus dem Main? Meinen Bruder? Meinen Bruder 
Alex mit einem Stein hinten in jeder Rocktaſche aus dem Waffer? 
Na, Kind, da kennſt du die Nebelungen nicht, obgleich du ihren 
Namen gleichfalls trägft. In das Waſſer geht fein Nebelung aus 
Zorn — den läßt er ruhig und giftig an feiner nächften Umgebung 
aus, Ja, ganz ruhig froß allen äußerlichen Gebärden, Sprüngen 
und Verrenkungen. Ein Nebelung, der in feiner Wut fich ums 
brächte, würde dadurch nur zugeftehen, daß er unrecht habe, und 
das tut fein Nebelung.” 

„Uber Tante — liebe Tante —“ 

„Es ift fo, mein Mädchen, — verlaß dich drauf, ich habe 


zwanzig Jahre in der Fremde darüber nachgedacht. Und jest — 


nochmals — ich freue mich unendlich, hier in Frankfurt bei euch 
277 


zu fein. Du gefällft mir, und der Empfang, den mir das Schidfal 
bereitet hat, bringt ficherlich meinen guten Humor nicht um. Und 
weißt du, jegt mache ich den erften Gebrauch von meinem Nechte 
als Erbtante und lade mir meinen Freund, diefen guten Nach: 
bar Nürrenberg, zu diefem Tee ein. Siehe doch einmal die Glode 
und laß die Jungfer hereinfommen.“ 

„Uber Tante —?” 

„Nun ja, und wenn der Mr. Elard wieder nach Haufe fommt, 
kann er ja nachfommen.“ 

„O Tante Lina! Denke doch —“ 

In diefem Augenblid erfchien die Jungfer in der Pforte, ohne 
herbeigeläutet worden zu fein, und meldete: 

„Da ift das Liesle von drüben zum zweiten Mal und frägt an: 
ob der Herr Kommerzienrat fo ſpät noch die Ehre haben fünne, 
den Damen aufjumwarten. Er hat dem Liesle die Beftellung 
diesmal auf.ein Papier gefchrieben, und fie lieſt's ab.” 

„Wenn der Mann Präfident der Vereinigten Staaten von 
Amerika werden will, fo gebe ich ihm nicht nur meine Stimme, 
fondern ich verfhaffe ihm überhaupt die Majorität!” rief die 
Tante, auf ihrem Seffel fich gegen die Dienerin wendend. „Augen⸗ 
blicklich ſoll dag Liesle beftellen, der Herr wäre ung recht herzlich 
willfommen, und Miß Lina Nebelung ließe ihm im befonderen 
fagen, er möge fich nur beeilen, der Tee werde kalt.“ 

Die Zungfer verfehwand, und die amerikanifche Tante, fich 
zu der deutſchen Nichte wendend, fprach: 

„Du, diefer Nachbar hat ſich das Wort darauf gegeben, fich 
und das beutfche Vaterland mir fofort bei meiner Ankunft von 
ber liebenswürdigften Seite zu zeigen!” — 

Das war in der Tat, wie wir wiffen, die Abſicht diefes Nachz 
bars gewefen, und wir wenden ung nunmehr noch einmal zu 
ihm, um die Vorgänge in feiner biedern Seele bis zu dieſem 
Yugenblide in ihrer Entwicklung uns deutlich zu machen. Da 
er gottlob eine gänzlich unfanftifche und unmephiftophelifche 


278 








Natur war, fo koſtet das wahrlich feine Mühe; und hätten wir 
ihm nicht fo gern, fo würde es uns ficherlich fchon genügen, bei 
feinem Eintritt in den Salon des Haufes Nebelung gegenwärtig 
zu fein. 

Nachdem er feinen Monftres und Mufterftrauß big in bie 
Haustür drüben verfolgt hatte, war ihm der Rüdesheimer big 
zur Rückkehr feines Liesle nicht zumider, Im Gegenteil, da ihn 
fein Gewiſſen lobte, erfchien ihm das Weinle fogar noch füffiger. 
Mit vollen Zügen zog der alte muntere Kenner feine Belohnung 
in fich hinein. 

Nun kam Liesle mit dem Gruße und Danf der Tante Lina 
und gab ihre Notizen dazu zum beften: 

„Hu, fieht das da drüben aus! Die fremde Dame hab’ ich 
nicht gefehen, aber Fräulein hat mich angefehen aus Augen wie 
gefochte Krebfe; und fie hielt fih kaum noch auf den Beinen! 
Ach, Here Rat, Herr Kommerzienrat, und die Nanny fagt, ein 
Unglüd gäb's doch noch, und unfer Here Profeffor fei auch nicht 
ohne feine Gründe fo fchnell weggelaufen. Erft haben die beiden 
jungen Herrfchaften fehr fehön miteinander getan, aber dann 
haben fie fich auch verungient, und unfer Herr Profeflor hat auf 
der Treppe vom Fluch der Väter oder vom Mutterfluch gefprochen 
— ganz wie im Theater! Und das Fräulein ift in der Droſchke 
ohnmächtig geworden und hat dem Kutfcher zugerufen, er folle 
fie in den Main fahren. Bon der Tante weiß Nanny noch nichts 
Schlimmes; aber Augen hat fie auch gemacht, und das Haupt 
unglüd, meint Nanny, kommt erft, wenn der Herr Legationdrat 
nach Haufe kommt.“ 

-  „Donnerwetter, jegt wird’8 mir aber zu bunt!“ rief der alte 
Patrizier, auf den Tisch fchlagend. „Scher dich ins Haus, Mädle, 
aber halt dich parat, vielleicht verſchick ich Dich nochmal. — Sapper; 
ment, fo verderben fie mir doch das ganze Feft! Es kann der 
Beſte nicht im Frieden bleiben, wenn e8 dem böfen Nachbar nicht 
gefällt, fchreibt mein Landsmann Schiller, und recht hat er. 


279 


Was tue ich nun, um die Dinge noch ing rechte Geleife zu bringen? 
Tue ich das Außerfte? Gehe ich felber nüber?“ 

Er war beim legten Glaſe — und jeßt war die Flafche Rüdes⸗ 
heimer auch geweſen. Herr Florens fand auf, ftemmte die Arme 
in die Seiten und ſagte: 

„Wenn’s mir fo gelänge, wär's ein Triumph, an dem ich ein 
Sahrhundert zu zehren hätte. Zum Abendeſſen hat er mich ja ein; 
geladen, und zurüd hat er die Invitation nicht genommen. He, 
he, wenn ich ihn fo unterfriegte mit Hülfe der Tante, follte er mir 
nur noch mal fommen mit feinem — feligen Landesvater. Bei 
den Frankfurter Pfingftgloden, ich ftelle mich der Tante perfünz 
lich vor, erobere ihr Herz im Sturme, bringe die beiden Kinder 
endlich feft zuſammen und freffe mich fo feft da drüben, daß zehn 
Legationsräte außer Dienft mich nicht vom Tiſche bringen follen. 
Herrgott von Blaubeuren, fo foll es fein, und jetzt wünfche ich 
nur, daß der verrüdte Herr Nachbar nicht vor zehn Uhr heimz 
fommt; nachher mag er verzehnfacht anrücken.“ 

Ohne fich noch die geringfte Zeit zu befferem Befinnen zu 
gönnen, fprang er mit fehler eben fo großer Behendigfeit ing 
Haus wie vorhin fein Sohn. Zappelnd vor Eilfertigfeit fuhr er 
in fein ftattlichftes Gefellfchaftstoftüm und brachte feine Haus⸗ 
hälterin, die Frau Drißler, faft ums Leben durch die Fieber; 
haftigfeit, mit der er nach allen möglichen notwendigen Toilettes 
gegenftänden fehrie und ſuchte. Dazmwifchen wurde Liesle zum 
zweiten Male über die Gaffe mit der befannten Anfrage in das 
Hans Nebelung gefendet und fam mit der ung gleichfalls bes 
fannten Antwort der Tante zurück, Frifch war die Tante aus 
ihrer Kammer getreten: als der Kommerzienrat Here Florens 
Nürrenberg aus der feinigen hervorging, glänzete er. 

Mit einer Rofentnofpe im Knopfloch über dem weiß emaillierz 
ten, rot eingefaßten Malteſerkreuz des großherzoglich heffifchen 
Verdienſtordens, dicht über der Infchrift: Gott, Ehre und Vaters 
land, dicht über dem ſchwarzroten Bande, durchfehritt er den 


280 








Garten, fehrte an der Pforte aber noch einmal um und — irrte 


Er glaubte in der Flafche einen Reſt zurückgelaſſen zu haben, 
und als er num die legten Tropfen in den Römer träufelte und 
die Flafche wieder hinſetzte, murmelte er: 

„Der Elard wird fich auch wieder einmal über feinen Papa 
verwundern. Er läßt das immer noch nicht, obgleich er doch nun 
fchon feit einer geraumen Reihe von Jahren das Vergnügen hat, 
ihn zu kennen.“ 

Nun fohritt er gravitätiſch, an der Kravatte zupfend, über den 
knirſchenden Sand und überhüpfte dann in einem munterern 
Kurztritt die faubige Straße, Madame Drißler aber erfchien 
in der in den Garten führenden weinlaubumfponnenen Haus, 
pforte, ſtemmte ihrerfeits beide Hände in die Hüften und fprach: 

„Seit er fich vor einem Jahr als wohl fonfervierter Witwer 
in die Zeitung feßte mit achttaufend Gulden jährlichen Eins 
kommens und einem verforgten Kinde — was unfer Profeffor 
war — und wegen Schüchternheit und Mangel an Damenbefannts 
fchaft fich aus Spaß eine Photographiefammlung anlegte und 
oben in feiner Stube ſechs dicke Albums voll hat, fah er mir nicht 
fo verdächtig aus, Die Alte da drüben, die fie heute den ganzen 
Tag erwartet haben, mag fich nur im acht nehmen; — ich fage 
nichts!“ — 


281 


Zehntes Kapitel. 


Metzt war e8 aber wirklih Dammerung geworden, und die 
as bleibt e8 nunmehr, und fpäterhin wird’8 fogar Nacht. Im 
fanften Grau lagen die Gefilde, und vom Lerchesberg, von der 
Iſenburger Warte herab, fehritt Frise Heffenberg Arm in Arm 
mit dem noch immer wie im Traume trippelnden Legationsrat 
ler von Nebelung auf Sachfenhaufen zu. Teilmeife hatten fie 
ſich natürlich bereit gegeneinander ausgefprochen; allein lange 
noch nicht genug. 

„Du haft dich alfo wirklich verheiratet und bift jeßt Vater von 
mehreren erwachſenen Kindern?!” ftöhnte der Nat. 

„Und wie!“ ächzte Frig. „Eigentlich follteft du drauf nicht 
zurückkommen; — Sapperlot, hätte mich dies kurioſe Wieder; 
finden nicht fo barbarifch fanft und weich geftimmt, fo könnte ich 
da grob werden. Freilich Hab’ ich mich verheiratet, und erwachfene 
Kinder hab’ ich auch. Hu, das waren Jahre! Wenn je einer den 
braven Laokoon und feine Söhne in Fleifch und Blut vorgeftellt 
hat, fo Bin ich das mit meinen beiden Jungen zwifchen meiner 
Frau und meiner Schwiegermutter gewefen, und du und deine 
Eltern und eure hochfelige Hoheit, ihr waret einzig und allein 
ſchuld daran! D, ich wäre der Mann gemwefen, den Kunftver; 
ftändigen die Frage zu löſen, ob der bedrängte alte Trojaner in 
feiner Not wirklich fchreie oder nur den Mund auffperre.“ 

„Und beine Gattin ift leider geftorben?“ 

„Jawohl, die Gute hat mich allein gelaffen in der Welt.“ 

„Deine Kinder —“ 


282 





„O, die hab’ ich alle untergebracht, alter Kerl!“ rief der wackere 
Fris, aus dem Ton mürrifcher Verſtimmung in den der höchften 
Zufriedenheit übergehend. „Was die beiden Jungen anbetrifft, 
fo haben mir die niemals die geringfte Sorge gemacht. Sie fielen 
von einem Stamme, der feine Holzapfel trägt, und es tut mir 
nur leid, daß ihre Großvater väterlicher Seite, mein Alter nämlich, 
fie nicht kennen gelernt hat. Der würde fich die Hände gerieben 
haben, wenn er gefehen hätte, wie feine Erziehungsprinzipien 
auch noch in der zweiten Generation Früchte trugen. Gelbftver; 
ſtändlich Habe ich die zwei Schlingel nach feinen Marimen erzogen. 
Wenn fol ein Bengel nur nicht ftiehlt, lügt oder gar ein feiger 
Hund ift, fo iſt's ganz gleichgültig, was aus ihm wird. Auch 
mit dem Krepieren auf dem Stroh ift’8 nicht fo ſchlimm, wie die 
Frau Mütter fich gewöhnlich einbilden. Jeder, der fich als einen 
rechten Mann fchäßt, hat das wohl ſchon in feiner eigenen Seele 
erfahren, daß e8 ihm ungeheuer einerlei erfcheint, auf was für 
ein Material ihn fein Schidfal beim legten Schnappen bettet. 
Aber die Mädchen — ja mit den Mädchen iſt's eine andere Sache! 
Nun, das meinige hab’ ich, fowie e8 neunzehn Jahre alt war, 
und das war im vorigen Winter, glüdlich einem braven Kerl in 
Straßburg aufgehängt, und der mag num fehen, wie er mit der 
wilden Hummel fertig wird. Ich Hab’8 ja auch mit ihrer Mama 
ausgehalten.“ 

„Heilenberg, wenn ich dich reden Höre, fo möchte ich faft 
zweifeln, ob wir hier wirklich auf dem Gebiet der freien Stadt 
Frankfurt gehen, — ob wir nicht beide träumen —“ 

„Was dich angeht, fo hatteft du zum Träumen in deiner 
Jugend feine Anlage. Als ihr mich damals dingfeft machtet, 
hab’ ich mein wahres Wunder über deine Aufgewecktheit gehabt. 
— Du verftandeft e8 mit offenen Augen und Ohren ein Protokoll 
zu führen.“ 

Der Legationsrat von Nebelung ließ auf diefes gutmütig 
munter gefprochene Wort die Ohren ein wenig fehr finfen. 


W. Raabe, Sämtliche Werte. ie U. 
mtliche Werke. Serie 194 283 


„Sieber Friedrich,“ ſtotterte er, „es ift eine lange Zeit feit 
jenen unangenehmen, mir auch — du fannft es mir glauben — 
jenen auch mir fehr verdrießlichen Tagen hingegangen.” 

„Da haft du recht, Alter!” fagte der voreinſtige Vaterland, 
verräter. „Schlagen wir diefes Faß zu; mir liegt nicht das ges 
ringſte an dem Geruch, der einem daraus in die Nafe ſteigt. 
Übrigens hat ja auch das Fatum meine Sache in die Hand ges 
nommen, OxOburg erifttert nicht mehr, und ich bin noch da 
und Lohgerber zu Romanshorn in der freien Schweiz.” 

„Lohgerber? — Lohgerber?!” rief der Legationsrat. „Ja entz 
fchuldige, daß ich darauf noch einmal hindeute. Iſt es denn wirk; 
lich wahr? ift e8 möglich? Haft du in der Tat die Jurisprudenz, 
die Wiffenfchaft aufgegeben? Haft du in Wahrheit die Loh — die 
Tannerie zu deinem Studium und Lebensberuf gemacht? 
Es ift mir faft unmöglich, daran zu glauben, mein guter Fried, 
rich I“ 

Der gute Friedrich blieb ftehen, um feinen breiten Lungen 
einen noch bequemeren Spielraum für das jegt aus ihnen vor; 
brechende Gelächter bieten zu können. 

„Verlaß dich auf deine Nafe!” brüllte er. „Rieche mich an, — 
rieche mich dreift an und ziehe die ſchauderhafte Gemwißheit 
durch deine Geruchsorgane in dich hinein! Niechft du's mir 
nun ab?” 

„Rieche ich es die nun ab?” ftammelte der verftörte Diplomat. 

„Haft du es mir abgerochen?“ a. 

„Abgerochen?!“ hallte wie ein fchwächliches Echo der Legations⸗ 
rat und Inhaber des Alexiusordens nad. 

„Gut; dann beruhige dich in der furchtbaren Überzeugung, 
daß e8 fich fo verhält, wie ich dir fehon da droben vor dem alten 
Turm fagte, Sonft aber habe ich nicht die Jurisprudenz aufs 
gegeben, fondern fie mich, und du haft das Protokoll dabei 
geführt. Lohgerber bin ich geworden, Lohgerber bin ich, und die 
Lohgerberei war mein innerfter Beruf, Mein Glüd aber war’g, 


284 





daß mich euer wahrfcheinlich eigens zu diefem Behuf in die Welt 
gefeßter Unterfuchungsrichter mit der Nafe drauf fließ. Was find 
ein paar Fahre Feftung, wenn man dadurch auf das Handwerf 
hingemwiefen wird, gu dem einen Gott der Herr erfchaffen hat? 
%a, der Herrgott hat's gut mit mir gemeint. Er wußte, daß ich 
in diefer nichtswürdigen Welt notwendig mit dem Rind⸗ und 
anderem Vieh in Konflikt geraten müſſe, und fo wies er mich in 
feiner Güte auf die Haute, und ich habe meinen Groll an man; 
chem Ochſen ausgelaffen und meine Wut an manchem Efelfelle 
vergerbt.“ 

„Ganz der alte Fritz Heſſenberg!“ murmelte der Legationgrat, 
und der breitfchulterige Weggenoffe fing das Wort grinfend auf 
und fprach: 

„Natürlich! Wem zu Liebe follt’ ich denn anders werden? 
Um euch etwa? Um euer Kududsneft, eure Durchlaucht, euer 
Kriminalgericht und was fonft drum und dran hängt? Das 
glaubt ihre doch wohl felber nicht. Sieh — deiner Schwerter war 
ich recht, wie ich war; auf ihren Wunfch hätte ich meine eigene 
Haut, wohin fie wollte, zu Markte getragen. Ihr übrigen aber 
— bah, laß ung davon lieber abbrechen; es verftimme mich felbft 
heute al8 Witwer und Vater von drei erwachfenen Kindern 
noch, wenn ich daran denke, wie ihe mich und die arme Lina 
ſchikaniert Habt.” 

Der Legationsrat hatte die Hälfte des halben Schoppen Apfel; 
weins auf dem Tifche der Jfenburger Warte ftehen laffen. Das 
Getränf konnte es alfo nicht fein, was ihm plöglich fo fcharf durch 
den Leib und die Seele fchnitt. Lina? Lina! Und fie faß ja jett 
deunten in Frankfurt vor dem Allerheiligentor, und ee — Alexius 
Nebelung — wußte, daß er auch heute wieder eigentlich ſchändlich 
an der Schwefter gehandelt habe, und daß auch er — in diefer 
Beziehung wenigſtens — der Alte geblieben fei. 

Er geiff fih an den Bufen, und nur um fich auf das not; 
dürftigfte einen Halt zu geben, fragte er: 


19* 285 


„Sonft aber geht es dir Hoffentlich wohl und nach Wunfche, 
mein guter Friedrich?” 

„Wie ich e8 verdiene, Umgekehrt wie dem böfen Friedrich im 
Struwwelpeter. Der arme Hund, den ihre aus dem Tempel 
jagtet, hat fich zu Tifche gefeßt, Die Serviette umgebunden und — 


— — — ißt die gute Leberwurft 
Und trinkt den Wein für ſeinen Durſt. 


Was eure große Peitſche anbetrifft, die ihr ihm ſo trefflich zu 
koſten gabt, ſo hat er ſich auch da das famoſe Bilderbuch eures 
Frankfurter Doktors zum Exempel genommen. Er hat — 


— — — —— ſie mitgebracht 
Und nimmt ſie ſorglich ſehr in acht.“ 


„He, he, he — hi!“ kicherte der Diplomat und verſuchte es 
nochmals, zu tun, als ob er ſich ſeinerſeits augenblicklich ſehr wohl 
und behaglich fühle. Es gelang ihm aber nicht ganz nach Wunſch. 

Der brave Lohgerber Fritze Heſſenberg aber lachte einige 
bereits zur Nachtruhe in die Bäume gefallene Vögel aus dem 
Gezweige auf und rief: 

„Ein hübſches Vermögen hab’ ich im Laufe der Jahre gemacht, 
und wenn du dich haft penfionieren laffen, fo hab’ ich mich nun 
felber penfiontert. Drüben in Romanshorn hab’ ich mein Gefchäft 
mit der Ausficht auf den durchlauchtigften deutfchen Bund jens 
feit8 des Sees. Mein Ültefter führt da die Negierung zwifchen 
den Fellen und Gruben; und ich Habe mir nur die Neifen vorbe; 
halten, von wegen des vergnüglichen Bummelns; und einer Ges 
(häftsfahrt halben nächtige ich auch heute da unten in Sachfens 
haufen. Es ift das erfte Mal, daß ich hier in die Gegend gerate. 
Am liebften gehe ich nämlich den Eichenwäldern nach, denn diefer 
Baum ſtimmt immer noc mit mir; heute jedoch mehr meines 
Gewerbes als meiner patriotifchen Jugendgefühle wegen; denn 
was für unfereinen eine richtige Borke bedeutet, davon haft du 


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auch feinen Begriff. Für fol eine Diplomatenhaut, fol ein 
Bundesgefandtenfell gehört freilich eine ganz befondere Lohe. 
Na, e8 wird wohl mal auch in Deutfchland der Gerber fommen, 
der mit euch umzugehen verfteht; und, weißt du, e8 ſchwant mir, 
als müſſe dag einer aus eurer eigenen netten Gefellfchaft fein, fo 
einer, der den Klüngel aus dem Grunde verfteht. Ich habe mich 
für dies Gefchäfte für infompetent erklärt von det Zeit an, wo ich 
mich auf mein jeßiges Handwerk warf und die Fineffen und 
Schwierigkeiten davon begreifen lernte.“ 

„Aber lieber Friedrih —“ 

„Nur ganz ftille, Alter. Du follteft dich am erften freuen, daß 
mit den Jahren auch der politifhe Verftand zunimmt. Ohne 
dieſes hätte ich Dich Doch von Rechts wegen hier aufder Darmftädter 
Chauffee, auf der offenen Landftraße, durchgerben müſſen. 
Sacrosanctus, eine unverlegliche Perfon bift du ja feit dem 
Abfcheiden unferes gemeinfchaftlihen Landesheren wohl nicht 
mehr?” 

„Heſſenberg, ich bitte, ich befchwäre dich —“ 

„Das haft du gar nicht mehr nötig, mein lieber Junge,” fagte 
der Romanshorner, dem fohwanfenden Legafionsrat wieder eins 
mal und zwar noch gemütlicher auf die Schulter Hopfend. „Der 
Kanton Thurgau fchätt mich als einen feiner ruhigften und ſtill⸗ 
vergnügteften Bürger. In Sachfenhaufen trinken wir noch einen 
Shoppen Echten mitfammen, und du erzählft mir dann von 
deinem Leben und deinen Zuftänden und vor allem von — von — 
deiner — Schwefter — deiner guten Schwefter Linchen. Nicht 
wahr, du nimmt einmal fein Blatt vor den Mund, du gehft eins 
mal ganz frei mit der Sprache heraus, Ich fage dir, wenn du 
wüßteft, wie weich mir augenblidlich zumute ift, du würdeft mich 
nicht fortwährend fo feheu von der Seite anfehen. Ich bin ein 
grauföpfiger Burfche geworden, ich bin Schwiegervater und 
werde demnächſt auch wohl Großvater werden; aber feit ich unter 
dem alten Gemäuer da hinter ung an dich anrannte, bin ich der 


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Gegenwart fo entrüdt, daß man mich dreift deswegen unter 
Kuratel ftellen dürfte!“ 

„Es ift auch eine Phantasmagorie,“ murmelte der Legationg; 
rat. „Auch mir fehlt allee Boden unter den Füßen. Großer 
Gott, und ich war immer ein erafter Menfch, der langſam, aber 
fiher ging, und nun ift alles in Unordnung und Verwirrung! 
D die Schwefter! die Schwefter! die gute Karoline!” 

„Bas ift mit der Karoline?” fchrie Heffenberg, mit einem Ruck 
den Begleiter anhaltend. „Du kommſt mir nicht von der Stelle, 
ehe du mir gefagt haft, was ihre wieder mit Lina angefangen 
habt!” 

„Wie? Nichts! ich verfichere dich, Friedrich,” ſchrillte der Nat. 
„Aber fie foll Heute nach zwanzigjähriger Abweſenheit von 
Deutſchland aus Amerika zurückkommen. Sie hatte ſich längſt 
angemeldet, und wir erwarteten fie in vollfommenfter Harmonie 
und Herzlichkeit, — Käthchen und ich, und der Kommerzienrat, 
mein Nachbar Nürrenberg, und deffen Sohn Elard. Ich bin 
wochenlang umhergegangen und habe darüber nachgedacht, wie 
man der Guten von jeßt an das Leben bei ung behaglicher machen 
fönne. Wir freuten ung alle fo fehr auf fie, und da — da iſt im 
legten Moment — eben als ich mit Käthehen zum Bahnhof 
fahren wollte, feine Höchftfelige Hoheit dazwifchen getreten. Ein 
Zank, eine Veruneinigung ift ausgebrochen zwifchen mir und dem 
Nachbar, und ih —” 

„Und du?“ 

„Ich bin vom Haufe fortgerannt und nicht nach dem Bahnhof 
gefahren! — Man hatte mich in meinen tiefften, heiligften Ge; 
fühlen gefränft — vielleicht nicht gang mit Abficht — aber einer; 
leil e8 war wieder wie ein Verhängnis — kurz, aus diefem 
Grunde haft du mich an der Sachfenhaufer Warte getroffen, und 
während wir hier zufammen gehen, wird die Schwerter längft mit 
meiner Tochter zu Haufe figen, wenn fie nicht fogleich ein Billett 
für den nächften Zug nad Bremen zurüdgenommen hat und in 


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diefem Augenblick vielleicht ſchon wieder bei Friedberg fährt! — 
oh — oh — oh!” 

„Oh!“ brummte der brave Frig mit einem unbefchreiblichen 
Blick auf feinen Jugend, und Schulgenoffen. Dann fagte er 
dasfelbe, was die Tante Lina gefagt hatte: 

„Mnd wenn man nach hundert Jahren nach Haufe fommt, 
trifft man immer diefelbige Sorte Leute, Nebelung, Nebelung, 
wenn die Unbegreiflichkeit der Schöpfung je an einer Kreatur 
deutlich geworden ift, fo bift du das Machwerk! Du bift doc 
eigentlich ein ganz abfonderlihes Gewächs, Nebelung. Wenn 
der Schöpfer über dich nicht felber dann und wann den Kopf 
fcehüttelt, fo Taß ich mich über meinen eigenen Gerbebaum ziehen 
und mit dem Schabeifen, ohne mich zu wehren, fraftieren.“ 

Er brach ab, völlig überwältigt von dem eben Bernommenen; 
der Nat aber, in völliger Hülflofigkeit, faßte feine Hand: 

„Brig, weißt du was? Komm mit mir nach Haufe!“ 

„Am dir als Schanzkorb bei dem nunmehrigen Zufammen; 
treffen mit der armen Lina, mit deiner Schwefter, zu dienen?!“ 

Daran war etwas; aber der Legationsrat fagte: 

„Nein, fondern weil der Himmel ung gerade heute diefes 
MWiederfinden vermittelt hat. Sch erkenne hier eine höhere 
Fügung —“ 

„Ne fchöne höhere Fügung! Mach mir nichts weis; — deine 
jämmerliche Angft und Verfahrenheit if’8, die mich jett mit fich 
zu fchleppen frachtet. Der ganze Sammer der Efchenheimer Gaffe 
fieht mich aus deinen Brillengläfern an. O vivat, vivat Wleriug 
der Dreisehnte!“ 

„Ich verſichere dich, Fritz — 

„Verſichere mich nichts! Freilich — diesmal wenigſtens 
würdeſt du nicht das Protokoll bei den eintretenden Verhandlun⸗ 
gen führen. Heute, endlich wären Lina und ich an der Reihe.“ 

„Da kommſt du doch wieder darauf!“ winſelte der Rat. 
„Konnte ich denn dafür? war es nicht meine Amtspflicht? hing 


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nicht meine ganze Karriere davon ab? Verſetze dich doch nur in 
meine damalige Lage.” 

„Ra, na, du haft recht, e8 war gegen die Abrede; wir wollen 
den alten Stinktopf zugededt fein laſſen; nimm es nicht übel, 
Alter. Siehft du, ein guter Kerle bin ich, und Lohgerber Bin ich 
auch. Es läuft ſchon ein tüchtiges Schauer an mir ab, ohne big 
auf die Knochen zu dringen, und da meine ich manchmal, das 
müſſe bei den andern auch fo fein. Alfo die Lina habt ihr heute 
aus der Fremde zurüd erwartet? und habt fie nach eurer Art 
wieder einmal in den Verdruß hineingeritten? Alle Teufel, 
ler, e8 find jet mehr als ſechsundzwanzig Jahre, feit ich fie 
sum legtenmal fah! Bigott, was willft du mit deiner Elends⸗ 
vifage? Wenn einem von uns das Gemüte fich bewegen muß, 
fo bin ich's! Und wenn ich heute DbersAppellationsgerichts; 
Präfident wäre, anftatt Lohgerbermeifter zu Romanshorn am 
Bodenfee, fo könnte ich doch nicht firenger und unparteiifcher zu 
Gerichte ſitzen über alles, was mir paffiert ift, feit jener Nacht, in 
der ihr ung auseinander brachtet. Ich gehe mit dir, Nebelung, 
und wünfche ihr einen guten Abend in der Heimat! — Und jetzt 
laß ung gehen und alles, was wir ung fonft noch zu fagen haben, 
auf morgen verfchieben, das heißt — bis nach diefem Wieder; 
fehen.” 

Ich danke dir, Fritz!“ fagte der Legationsrat, und er fagte 
es mit einem Ton und Ausdrud, aus welchem man nicht heraus, 
hörte, daß er von einem Nlerius dem Zwölften aus der Taufe 
gehoben worden war und, nachher, im Laufe der Jahre, fich aus 
fih und feiner Umgebung weiter entwidelnd, eine recht gute 
„Karriere“ gemacht hatte. 


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Eiftes Kapitel. 


Syprspem der Profeffor der Äfthetit, Herr Elard Nürrenberg, 
mit feiner Flafche und der guten aus dem übrigen Verlaufe 
des Tages fich fo merkwürdig felbftändig loslöfenden Stunde in 
Oberrad zu Ende gefommen war, hatte er fich als ein „wenn auch 
ſehr gelehrter und verliebter, fo doch nicht unverftändiger junger 
Mann” auf den Heimweg begeben. Diefes willen wir bereits, 

Wahrheit und Dichtung begleiteten ihn, der Weg lag wieder 
vor ihm, und er fpazierte gen Sachfenhaufen — weit lang- 
famer, als er von dort hergelaufen war. Diefes wiffen mir 
ebenfalls, 

„O Käthchen, mein Käthchen,“ flüfterte er, „wir haben ung 
nicht in einander geirrt; wir gehören zu einander, wir bleiben bei, 
einander. Niemand, niemand foll ung von einander trennen! 
weine nur nicht, mein Kindchen; wir haben ung doch für das 
höchfte Lebensglüd einander verpflichtet, und morgen ift Pfingften, 
und die Sonne foheint, und alles ift gut.“ 

Hm, jener Jüngling mit den Feueraugen und den wallenden 
Loden ſchritt nicht bloß zwifchen Darmfladt und Frankfurt hin 
und wider und erlebte und fah alle Wunder der Welt: er ging 
auch zwifchen Offenbach und Frankfurt, und wiederum zitieren 
wir ihn. 

„Ich ging die Landftraße nach Frankfurt zu, mich meinen 
Gedanken und Hoffnungen zu überlaffen — Sachfenhaufen lag 
vor mir, leichte Nebel deuteten den Weg des Fluffes an: e8 war 
friſch, mir willlommen. Da verharrte ich, bis die Sonne nach 
und nach) hinter mir aufgehend das Gegenüber erleuchtete. Es 
war die Gegend, wo ich die Geliebte wiederfehen follte, und ich 


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kehrte langfam in das Paradies zurüd, dag fie, die noch Schlafende, 
umgab.” 

Der Profeffor wußte feinen Goethe fo ziemlich auswendig; 
in ein Paradies kehrte er auch zurüd, wenngleich die Geliebte — 
feine Lili — noch nicht darin zu Bett gegangen war, und er nicht 
die Abficht hatte, auf einem Stein am Wege figend, den Aufgang 
der Sonne und das Wiedererwachen des guten Kindes abzu⸗ 
warten. Die unfterblichen Worte tanzten ihm doch gleich 
lieblich flammenden Meteoren voran auf dem Wege nah 
Sachſenhauſen und zündeten ihm heimmärts. 

Es ift ein angeborenes Recht des Menfchen, fich nach jedem 
gegenwärtigen Ärger und Verdruß fchnellftens in alle möglichen 
und unmöglichen Seligkeiten der Zukunft felber hineinzulügen. 
Wenn auch nicht immer, gelingt das doch recht häufig. Manchmal 
ift die wiedergewonnene gute Laune von Dauer, manchmal aber 
fährt fie auch vorüber wie ein Sonnenblid an einem Apriltage, 
In letzterem Falle redet die Welt in allen Zungen von Eulen; 
pfingften — St. Nimmerleinstage — verfchiebt das Behagen 
am Erdenleben at latter Lammas, ad graecas Calendas, aux 
calendes grecques, auf die Pfingften, wenn die Gans auf dem 
Eife geht; recht aber behält für alle Zeit die jüdifche Weisheit: 
Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, ehe denn die böfen 
Tage kommen, von denen du fagen wirft, fie gefallen mir ganz 
und gar nicht. 

Man mußte e8 dem Profeffor der Aſthetik Elardus Nürren⸗ 
berg laffen: er hatte big jeßt, unbefchader feines Hellenismug, 
das hebräifche kluge Wort nicht verachtet. Er hatte feine Jugend 
nach beften Kräften benußt und fich ihrer gefreut; und wie wir 
ihn fennen gelernt haben, ift Ausficht vorhanden, daß er aus 
dem Heinen Käthchen Nebelung eine vergnügliche vergnügte Frau 
macht. Wir freuen ung darüber und begleiten ihn in der Hoff- 
nung um fo lieber auf feinem Wege nach Haufe. 

Daß er auf diefem Oberrader Fußwege fich weiter noch tief⸗, 


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uns oder ganz einfach finnigen Gedanken hingegeben habe, ift 
nicht darzutun. Er fehlenderte, ein Studentenlied pfeifend, durch 
den warmen Abend und überrechnete dabei den Gefamtbetrag 
feiner Kollegiengelder. Darüber ein wenig zu feufjen, war ihm 
gerade nicht zu verdenken; allein da er e8 von vornherein gewußt 
hatte, daß das Afthetifche Bedürfnis feiner Nation gering fei, fo 
feufzte er nur über das Vergnügen, in einem leeren Auditorio zu 
lefen, und ärgerte fich nicht darüber. 

„Hab“ ich doch von jetzt an eine Zuhörerin, die einen ganzen 
Pandeftenfaal voll Mufenföhne aufwiegt!“ teöftete er fih. „Und 
nicht nur von Mund zu Ohr, fondern von Mund zu Mund werde 
ich zu ihr reden,“ fügte er hinzu, in die dereinftigen Wonnen aller 
möglichen Frühlingsmorgen, Sommernachmittage und Winter; 
abende verfinfend und zerſchmelzend, und das Wort war denn doch 
finnig, und mit diefem Worte erreichte er das Rondel vor dem 
Affentore von Sachfenhaufen. 

„Slard — Herr Profeffor — lieber Nachbar!” rief ihn eine 
etwas Frächzende Stimme an, und er fuhr zufammen, denn er 
fannte diefe Stimme, 

Die Götter, welche löſen und binden, gerfrennen und ver; 
einigen, führten ihn im richtigen Moment an das Tor von Sad 
fenhaufen zurück. Dicht vor fich erblidte er den Schwiegervater, 
den durchgegangenen Legationsrat WMerius von Nebelung — 
drüben von der Hanauer Landftrafe — Arm in Arm mit einem 
breiten, kurzen, dien, behaglichen, aber etwas plebejifch aus⸗ 
fehenden Unbekannten. Und hätte er nur eine Ahnung davon 
gehabt, daß er gerade diefem fidelen Unbekannten den merfwür; 
digen freundlichen Anruf des Papas feiner Verlobten verdantte, 
fo würde er ihm unter den obwaltenden Umftänden auf der Stelle 
um den Hals gefallen fein, um ihn abzufüffen, wie er bald fein 
Käthchen abzufüffen verhoffte, — zärtlich — zärtlichft nämlich 
und — vor den Augen ihres Vaters. — 

Der Tante Lina wegen hatte der Legationsrat von Nebelung 


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zuletzt mit beiden Händen nach dem Jugendfameraden gegriffen; 
des Jugendkameraden halber griff er jet mit beiden Händen 
nachdem Söhne des verfeindeten Nachbars. Diefer Lohgerber 
hatte fich dem Diplomaten von der Sfenburger Warte herunter 
von Schritt zu Schritt ſchwerer auf die Schultern und auf die 
Seele gelegt. Der gute Friß hatte den Fugendfreund und Proto⸗ 
£ollführer in der Tat doch über den Gerbebaum gezogen und ihn 
mit dem Abfleifcheifen bearbeitet, wie ein im Eſchenheimer Palais 
in die Lehre und nachher auf die diplomatifche Wanderfchaft 
gegangener und dann vollfommen Insgefprochener Meifter. 
Das waren ebenfalls „obwaltende Umftände”, und unter denfel; 
ben kam der Üfthetifer dem mürbgemachten Nate wie der im 
Meer ſchwimmende Maft dem Schiffbrüchigen; er er fih 
dran und ftellte in zitternder Haft vor: 

„Herr Heffenberg aus Romanshorn —— Heſſen⸗ 
berg!“ fügte der alte Demagoge bei), ein teurer Jugendfreund 
und Freund meines Hauſes! Herr Profeſſor Nürrenberg aus 
Heidelberg! Nicht wahr, lieber Elard, wir haben wohl denſelben 
Heimweg? Mein guter Friedrich, der Herr Profeſſor iſt nämlich 
der Sohn des Herrn Kommerzienrat Nürrenberg, meines Nach; 
bars in der Hanauer Straße,” 

„Wie dein Kätherle deine Tochter iſt. Es freut mich, Sie 
fennen zu lernen, Herr Nürrenberg,” fprach Fritze, dem jungen 
Manne die Hand ſchüttelnd. „Kurios ift’8 eigentlich, daß in diefer 
frafeelerifchen Welt die Wege doch immer wieder zufammenlanfen 
und fich Immer wieder Leute finden, die des nämlichen Weges 
gehen. Mit Erlaubnis zu fragen, was dozieren Sie?” 

„In diefem Semefter leſe ich publice über die Sturm; und 
Drangperiode in der deutſchen Literatur; privatissime über die 
Bildwerke vom Tempel des Zeus Panhellenios auf der Inſel 
gina und als Profeffor extraordinarius Kulturgefchichte 
der Araber in Spanien,” fagte der junge Gelehrte fanft und 
befcheiden. 


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„Allmächtiger!“ rief Frige Heffenberg. „Willen Sie, ich habe 
allerhand Suriftica bloß gehört, und felbft da 8 fonnte ich 
kaum aushalten. Wie muß nun Ihnen erſt zumute 
fein? — Na, aber bon! Geben Sie mir nochmal die Hand; 
e8 ift mir eine Ehre und ein Vergnügen, Ste fennen gelernt zu 
haben,” 

Der Profeffor der Aſthetik fah fich hierauf den Mann, der da 
redete, genauer an, und die Dämmerung erlaubte e8 dem Meifter 
Heſſenberg noch, die Wirkung feiner Anfprache auf den Ge 
lehrten in den Zügen desfelben zu erfennen, Gutmütig drollig 
fagte er: 

„Ra, guden Sie nur zu. Ich bin nicht allein der Lohgerber; 
meifter Heffenberg aus Romanshorn, fondern auch fonft dag 
Kind recht netter Eltern, und habe das Meinige meinerzeit 
gleichfalls auf Univerfitäten profitiert. Der Nebelung da kann 
Ihnen das Nähere darüber fagen.” 

„Mein verehrter Herr, ich glaube —“ 

„Mein verehrter Herr, glauben Sie nichts! Sehen Sie, über die 
Sturm; und Drangperiode könnte auch ich publice leſen; fragen 
Sie nur diefen Nebelung hier. Das Chaos und das Glüd laffen 
immer wieder von neuem taufen. Sie wiffen doch: des Chaos 
wunderliher Sohn, — Goethe, Des Glüdes abentenerlicher 
Sohn, — Schiller! Und ich bin auch ein Sprößling aus folcher 
Ehe. Patenftelle vertrat das Unterfuchungsgericht zu Ox Oburg, 
und diefer Menfch hier, diefer Nebelung trug mich in das Kirchen⸗ 
buch ein; nämlich er führte das Protokoll, Drei Jahre hielten 
fie mich in den Windeln; dann brach ich ihnen heraus, ging durch 
die Lappen und über die Grenze. Ihr Herr Vater hat heute mit 
meinem Freunde Aler hier einen Disput über unferen feligen 
Landesvater Merius gehabt, — willen Ste, und ſchon deshalb 
allein haben wir die herzlichften Bezüge auf und zu und mit ein; 
ander; und jetzo fallen Sie den Legationsrat unter den andern 
Arm. Er hat e8 ein wenig nötig, daß wir ihm unter die Arme 


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greifen, und die Hülfe der Jugend ift bei feiner Gelegenheit zu 
verachten. Seine Schwefter ift zum Befuch gekommen, und wir 
bringen ihn nach Haufe. Eine niedliche Tochter hat er auch, wie 
er fagt, Herr Profefior.” 

Der Here Profefior hatte fhon lange auf den Legationsrat . 
gefehen, und auch ihm hatte die Dämmerung noch erlaubt, die 
Züge des würdigen alten Herrn zu erkennen. Privatissime lag 
er fich felber in angfthafter Spannung ein Kolleg über diefelben, 
und hätte ganz wohl Doktor, wenn auch nicht der Philofophie, 
durch eine Differtation über fie werden können; wenn er eben 
nicht ſchon Doktor der Philofophie geweſen wäre. 

Fa, Philofophie?! Die ließ ihn in diefem Moment voll; 
ftändig im Stich, der Phyſiognomie feines fünftigen Schmwieger; 
vaters gegenüber. Medizin ſtudiert zu haben und Vorfteher eines 
Aſyls für Nervenleidende zu fein, war das einzige, was in diefem 
Augenblick helfen Eonnte. 

Der Legationsrat von Nebelung fah am Ende gar nichts mehr. 
Dagegen fpürte er hundert gefpenftifche Hände um fich herum. 
Er fühlte fie am Kragen, er fühlte, wie er von ihnen von den 
Füßen gehoben und fanft gefchüttelt wurde. Das fam mit ange 
fengten Körken, um ihm die Nafenfpige zu betupfen, das tätfchelte 
ihm die alten, ledernen Wangen, das fah er, zu einer Fauſt ges 
ballt, vor feinen Brillengläfern, und das kam freundlich mit einer 
Bürfte, um ihm zierlich den Staub der Darmftädter Chauffee 
vom Rode zu bürften. Er hatte nie an Geifter geglaubt, das 
Zeugnis konnten ihm feine Vorgefegten, vom Anfang feiner 
Laufbahn an, geben; — er hatte aber auch nie an Gefpenfter ges 
glaubt — dies Zeugnis ftellen wir ihm aus — und jeßt, in dieſer 
lieblihen Dämmerung des Matabendg, des Abends vor Pfingften, 
fpufte e8 um ihn und in ihm auf jegliche Weiſe. 

„D teurer Herr,” fagte Elard ſchüchtern und befangen, „ich 
freue mich unendlich, Ste noch getroffen zu haben. Wir machten 
uns fo große Sorge um Sie, und Käth — Fräulein Tochter, die 


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ich fprach, — ja, die ich gefprochen habe, fuhr in heftiger Angft 
zum Main⸗Weſer⸗Bahnhof.“ 

„Sie ift alfo zum Bahnhof gefahren?” ächzte der Legationsrat. 

„Sch fah fie in den Wagen fleigen, und dann trieb mich die 
eigene Erregung Ihnen nach, teuerfter Herr Legationsrat. D, 
Sie wiffen nicht —“ 

„Und meine Schwefter ift angefommen?” fragte der Rat, 
immer wieder auf den einen Punkt bohrend. 

„Du hörſt ja, daß der Herr dir nachgelaufen if, Wer,“ 
brummte Fritz Heflenberg. „Nimm doch den Arm des Profefforg; 
je eher wir nach deiner Wohnung kommen, defto eher erfahren wir, 
in was für häusliche Zuftände du dich wieder einmal hinein ver; 
galoppiert haft.” 

Der Legationsrat Alexius von Nebelung nahm wirklich den 
Arm des Profeflors, und er hielt fich von jetzt fogar fehr feft 
daran. Vom Haufe weglaufen, ift leicht genug; aber wieder 
heimfommen und Rechenſchaft ablegen müſſen, das ift die 
Schwierigkeit! 

Da die Geifter der Vergangenheit ihn nunmehr zwifchen den 
beiden waderen handfeften Helfern fahen, warfen fie die legte 
Rüdficht weg und hoben ihn vollftändig von den Füßen. Er hing 
zwifchen den zwei Herren. Ya, fo war es; — zu Haufe faß die 
Schwefter Lina, und hier in der Elifabethgaffe zu Sachfenhaufen 
hing er, Werius Nebelung, zwifchen dem Sohne des von ihm 
am Nachmittag allen Furien überantworteten Nachbars Nürren; 
berg und dem biedern Lohgerbermeifter und Erdemagogen 
Friedrich Heffenberg aus Romanshorn, über deflen Staatsver; 
brechen und Hochverrat er vor dreißig Jahren fühl und gelaffen 
das Protokoll geführt hatte, ohne fih um die Gefühle der 
Schwefter Lina im geringften zu kümmern. 

„Ballen Sie ihn fefter, Profeffor,“ fagte der brave Frig. „Es 
hat feine guten Gründe, daß ihm ſchwül und ſchwankend zumute 
iſt. Wär’ ich fein Gerber, fo hätte ich ihn Ihnen fchon allein auf 


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die Schulter gelegt, hätt’ Kehrtum gemacht und Reißaus ge; 
nommen — einerlei wohin!” 

Sept tanzte das Deutſch⸗Ordenshaus vor ihren Augen und 
ftellte fich auf den Kopf; aber noch ſchlimmer war es mit ihnen auf 
der Mainbrüde. Alle drei zogen in ein vollftändig verzaubertes 
Frankfurt hinüber und hatten fich dazu duch ein Gewimmel: 
Majenstragenden Volkes durchzuminden. Dicht zu den Füßen 
des Kaifers Karl fließ eine grüne Iuftige Birfenrute dem Legations⸗ 
tat den Hut vom Kopfe, und der Kerl, der den Buſch trug, ließ 
e8 fich außerdem nicht zu viel fein, ihm zu feinem, ihm von feinem 
hochfeligen Landesheren verliehenen Titel noch einen andern bei⸗ 
zulegen. Aber der Kaifer Karl der Große rächte weder mit feinem 
Schwerte den Frevel, noch warf er dem Frevler den NReichsapfel 
an den Kopf. Im Gegenteil, er fchien ein Vergnügen an der 
Untat zu haben ; er grinfte durch die hereinbrechende Dunkelheit, 
und der Meffinghahn nebenan hob fih wahrhaftig auf den 
Füßen, fohlug mit den Flügeln und feähte dem Trio nach, obgleich 
er diesmal doch feinen Juden vorübergehen fah. 

Der Profeffor Elard fegte dem Schwiegervater feiner Hoff: 
nung den Hut wieder auf. Der brave Fri brummte und grum⸗ 
melte immer wunderlicher in fich hinein, blöde und voll Unruhe 
zog er hin und fühlte fich nicht mehr imftande, dem Jugend; 
genoffen die Vorfälle jener Zeit, da fie beide, und die Tante Lina 
dazu, noch jung waren, vorzurüden. Wahrlich, er würde jeßt 
viel darum gegeben haben, wenn er nicht mit dem Legationsrat 
an der Iſenburger Warte zufammengetroffen wäre und ihn an die 
alte Bekanntfchaft erinnert hätte, Er war Lohgerber, und das 
Schidfal hatte ihm freilich felber im Laufe der Zeit das Fell weid⸗ 
lich gegerbt; aber unter der harten, zähen Haut lag doch noch dag 
weiche, zärtliche Fleifh, und — die Lina Nebelung faß in der 
Hanauer Landftraße, und er — er follte nach einem Menfchens 
alter wieder vor fie treten und ihr die Hand bieten, und zwar als 
Witwer und Vater von drei erwachfenen Kindern. 


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Zwölftes Kapitel. 


De Patrizius von Rottweil, Tabaksfabrikant von Höchſt und 
großherzoglich heſſiſche Kommerzienrat Florens Nürrenberg 
und die Tante Lina hatten in einer Weiſe Freundſchaft geſchloſſen, 
die etwas Überraſchendes hatte. Der Nachbar war gekommen, 
geſehen worden und hatte geſiegt. Die Tante mit ſeinem Strauß 
in der Hand war aus dem höchſten zeremoniellen Anſtande einer 
ſchier dreißigjährigen Gouvernanten⸗ und Geſellſchaftsdamen⸗ 
exiſtenz fünf Minuten nach dem Eintritt des Kommerzienrats in 
den allergemütlichften Plauderton befter Bekanntſchaft gefallen, 
und jetzt faßen fie feit Stunden behaglichft beim Tee, und Käths 
chen Nebelung faß ihnen gegenüber und ängftete fich nicht mehr 
über die heifle Frage: wie wohl die Tante Lina ausfallen möge? 

Fünf Minuten nach feinem Eintritt in den Salon hatte die 
Tante den behaglichen, Lächelnden ältlichen Heren mit der Deviſe: 
Gott, Ehre, Vaterland, und der Roſenknoſpe im Knopfloch auf 
der Bruft für einen Mann nach ihrem weltbürgerlichen Herzen 
in der Stille ihres Bufens erklärt, und augenblidlich fagte fie 
es ihm laut, 

„Sie find der Mann, den ich in Deutfchland zu finden hoffte,“ 
fagte fie lachend. „Nach Ihnen hab’ ich Heimmeh gehabt! Ohne 
Schmeichelei, — ich verfichere Sie, von Ihnen hab’ ich häufig 
geträumt in Amerika. Lachen Sie nur nicht, Herr Nachbar; 
parole d’honneur, Sie gefallen mir ausnehmend wohl.“ 

Der Ertabatsfabrikant lachte nicht; der ließ die Welt nichts 
von feinem Behagen ſehen; diefes Iuftdicht verfchloffene Gefäß 
fomprimierteften Lebensvergnügens ermwiderte nur: 

„Ja, ja, Tante Lina, wir beide find eben zwei folcher Dafen 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 204 
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in der Wüfte. Rund um ung her heult der Schafal, winfelt die 
Hyane, yhant der wilde Efel und rollt der Skarabäus feine heilige 
Kugel mit feiner Nachkommenſchaft durch den Sand (Nota bene, 
das alles weiß ich von meinem Heren Sohn, den ich alfo hiemit 
eremplarifch und poetifch verwerte und empfehle, Fräulein 
Käthchen!), aber in uns wachfen und blühen die Palmbäume 
und fpringt der Duell, Nota bene, Käthehen, der Schlingel hat 
mich auf feinen Reifen nach Stalien, Griechenland und Agyp⸗ 
ten Geld genug gekoſtet — ich fage Ihnen ein Heidengeld, 
Käthchen —“ 

„O, Herr Kommerzienrat!“ hauchte Fräulein Käthchen 
Nebelung. 

„Jawohl, Kind: Herr Kommerzienrat! wenn der Bub ein; 
mal Wirflicher Geheimer Rat wird, fo hat er das nur meinem 
Titel und der foliden Grundlage, aus welcher derfelbige hervor⸗ 
blühte, zu verdanken. Nun, wir waren ja wohl in der Wüſte 
ftehen geblieben? Alfo, Tante, die Palmen wachfen in ung und 
die Duellen raufchen in ung, da kommen die Kamele, aus ung 
zu trinken, und die Affen Hettern in unfern Zweigen herum, und 
die Beduinen —“ 

„Berwideln Sie fich nicht in Ihren Gleichniffen, Nachbar!“ 
rief die Tante, „Wir find nur die Dafen, und die Palmen mit 
ihren Zweigen wachfen nur in ung. Was die Affen anbetrifft, fo 
müſſen die doch wohl in den Zweigen der Palmen Elettern.” 

„Ss ift es! Mein Sohn hält fich ebenfalls darüber auf und 
verbeffert mir ſtets das, was er meine Parabeln und Allegorien 
nennt, aber das iſt mir ganz einerlei. Annähernd begreift mich 
meine Umgebung dann und wann; und ich felber verftehe mich 
immer recht gut, und das iſt die Hauptfache. Aber bleiben wir 
in der Wüfte, das heißt bleiben wir bei den Dafen, bleiben wir 
Dafen! Ich verfichere Sie, Tante, fo rund umgeben von Sand 
und Samums, wie vor einer Stunde, hab’ ich mich felten in 
meinem Leben gefühlt. Der Legationsrat hatte mich wie ein 


300 








Tiger, wie der reine Wüftenfönig angeheult; mein eigen Fleifch 
und Blut, mein Elard, hat mir den Rüden zugewendet und hatte 
fih im Sturmſchritt hierher verfügt. Vivat Alexius der Dreis 
zehnte! Vivat mein befter Freund und Nachbar Alexius 
Nebelung! Stellen Sie e8 fich nur genau vor, wie alles in diefem 
Moment fein würde, wenn die ganze Gefchichte der Regel nach 
verlaufen wäre. Wenn der Nat Sie mit Rührung vom Bahnhofe 
abgeholt hätte und ich fedate und gut altbürgerlichnachbarlich 
erfchienen wäre, um zu gratulieren. Malen Sie fich das Gegähne, 
daß jeßo von Mund zu Munde gehen würde! Na, ich habe mich 
manch liebes Mal in meinem Dafein mit allerlei Leuten über; 
worfen, aber fo zu gelegener Zeit wie heute noch nie!” 

„Bahren Sie ja fort, Herr Nachbar !” rief die Tante, mit fröh⸗ 
lichfter Miene fich über den Tifch ihm zuneigend. „Ich komme von 
New Dorf und Bremen und wiederhole es: nur Ihnen hat meine 
Sehnfucht gegolten! Ich habe an meinen Bruder mit fehwefter, 
lihem Verlangen gedacht, aber das deal eines deutfchen ge; 
mütlichen Nachbarg, der nicht zu weit ab wohnt, fand mir doch 
ftet8 dicht daneben vor der Seele. Go on — fprechen Sie munter 
weiter, Sir.“ 

„Mit Vergnügen, mein verehrtes Fräulein,“ rief der alte 
Rottweiler. „D laſſen Sie ung nur erft zu einem treuvertraulichen 
Whift oder Lhombre kommen; laffen Sie nur erft den Schnee 
drei Fuß hoch in der Hanauer Landftraße liegen und die Eis, 
zapfen drei Ellen lang am Dache hängen, da werden Sie aufs 
guden, da werden Sie Ihren Mann an mir finden.“ 

Das Heine Käthchen Nebelung hatte allmählich ganz ängftlich 
von der Tante auf den Nachbar und von dem Nachbar auf die 
Tante gefehen; nun aber follte aus der verlegenen Verwunderung 
der jähefte Schrecken wie der Kobold aus der Verierdofe hervor; 
fpringen. 

Ganz wie beiläufig, ganz harmlos über die Schulter richtete 
der Nachbar das Wort an fie und fragte — — ja, was fragte er? 


* 301 


„And nun, ehe der Nat heim und ung dazmwifchen kommt, 
und ehe ich es vergefle, Käthchen; — wie weit feid ihr denn zu; 
fammen? Willft du meinen Aſthetikus, meinen Buben, meinen 
Profefjor? oder haft du ihm heute nachmittag kurzab einen Korb 
gegeben?” 

Das war die Frage! Und es war in der Tat eine Frage, die 
fih hören laſſen konnte! 

Fräulein Katharina Nebelung fuhr zufammen, wie ihr Vater, 
wenn der öfterreichifche Gefandte in der Efchenheimer Gaffe das 
Wort ergriff, Purpurfarben, jungfräulich-wehrlos rüdte fie 
ihren Stuhl fo dicht als möglich an den der Tante heran, und die 
Tante tat auch einen Ruck und feßte ſich gerader, als fie fonft zu 
figen pflegte, und murmelte: 

„ber Here Kommerzienrat?!“ 

Aber der Herr Kommerzienrat Florens Nürrenberg Ficherte 
vergnüglicher denn je und rief, indem er die Hand auf den 
Bufen und das offizielle Zeichen feines Verdienftes um Heſſen⸗ 
Darmftadt Tegte: 

„Sante Lina, wenn Sie die legten Frühlinge und Sommer 
durch da drüben in der Jasminlaube die Oberpoftamtsgeitung ges 
lefen und von Zeit zu Zeit Darüber weggefehen hätten, fo würden 
Sie mich ficher nicht ganz fo undelifat finden, wie ich aus Ihrem 
Ausruf a conto frage. Weißt du, Käthchen, mein Herz, wenn du 
heute nachmittag deinen Sinn, etwa Seiner hochfeligen Hoheit 
dem Fürften Alerius dem Dreisehnten zu Liebe, nicht geändert 
haft; für meinen Elard will ich einftehen, Er will dich von ganzer 
Seele und von ganzem Herzen, und er gäbe nicht nur die vordem 
freie Stadt Rottweil, fondern auch die freie Stadt Frankfurt 
am Main und das fonftige Univerfum als Beilage für dich. 
Sprich dich alfo ruhig aus, klein Käthchen; — wir find ganz unter 
ung, und der Papa ift nicht zu Haufe.“ 

„O Gott, der Papa!” hauchte Käthchen Nebelung, das Geficht 
an ber Bruft der amerifanifchen Tante verbergend; und fehwer; 


302 








mütiger, ernfter als in diefem Moment hatte die Tante, feit wir 
die Ehre haben, fie zu fennen, noch nicht ausgefehen. Sie legte 
fanft die Hand auf den Kopf des armen Heinen Mädchens und 
ftrich leiſe tröſtend und befänftigend über die dunfeln Haare. Sie 
dachte wohl an jene ferne Zeit, wo fie mit dem guten Frig Heſſen⸗ 
berg in Abmwefenheit von Papa, Mama, Bruder und ſonſtiger 
näherer und fernerer Verwandtfchaft volllommen einig war. 

„Faſſe dich, Herschen; wir fcheinen wirklich ganz unter ung 
zu fein, und wenn fich das fo verhält, wie der Herr Nachbar in 
folch einer eigentümlichen Weife andeutet —“ 

„O Tante, Tante, liebe Tante!” 

„Es verhält fich wirklich fo, Tante Lina !” rief der Kommerzien⸗ 
tat. „Wenn es Ahnen recht tft, Taffe ich auch meine Madam 
Drißler als Zeugin herbeiholen. Und dann ift da der Elard 
felber —“ 

„Hört einmal, Kinder,” fprach die Tante Lina Nebelung, „ich 
bin in die weite Welt gegangen aus Neid über die Kaifer, Könige 
und Fürften, die fich aus ihren Mitteln ihre Hoftheater halten 
fönnen. Nun bin ich wieder im Lande und habe mir richtig mein 
eigen Theater mitgebracht und laffe Europa und Amerika darauf 
agieren. Nur zu, Kinder! Ehe ich mir meine eigene Komödie 
halten konnte, Hab’ ich auch vor den Leuten getanzt. Käthchen, ich 
weiß Befcheid !” 

„Und ich wußte dag,” fchmunzelte der Nachbar Nürrenberg, 
fih die Hände reibend. „Das Kind will, Tante Lina; alfo kurz 
und gut, wir machen jeßt die Sache richtig. Im Herbft ift Hochzeit; 
und ich bitte um den erften Walzer, Tante Lina.“ 

„Wiffen Sie, was ich denke, Nachbar?“ 

„zwar weiß ich viel, doch wer kann alles wiffen? Ich erfuche 
um freundliche Mitteilung.” 

„Run, fo will ich Ihnen fagen: Sie find ein argliftiger, ein 
heimtüdifcher, ein rachfüchtiger Menfch! Ja, leugnen Sie e8 nur; 
— rächen wollen Sie fich an meinem Bruder! Er hat Ihnen den 


303 


Nachmittag verdorben, und Sie wollen nun Ihr möglichfteg tun, 
um ihm den Abend für ewige Zeiten ing Gedächtnis zu prägen! 
Iſt es nicht ſo?“ 

Der alte Patrizier rieb ſich immer ſchmunzelnder die Hände, 
zuckte aber nur die Achſeln. 

„Ja, es iſt ſo!“ fuhr die Tante fort. „Da ſchicken Sie erſt 
Ihre Blumenſträuße, und dann kommen Sie ſelber im Frack, 
aber mit dem Stiletto in der Taſche. Und dann ſchleppen Sie, um 
allem die Krone aufzuſetzen, ſogar Ihren unſchuldigen Herrn 
Sohn herbei; — o, Sie wiſſen Ihre Mittel zu verwenden, Herr 
Rat, und ſchonen Ihr eigen Fleiſch und Blut nicht, wenn es gilt, 
Ihre Rachgier zu befriedigen. Hätte das Kind mir nicht bereits 
geſtanden, daß ſie ſich nach Ihrem Zank mit meinem Bruder 
und wohl gar infolge desſelben für Zeit und Ewigkeit mit dem 
Profeſſor Elard verſprochen habe, ſo — ſo — well, das Weitere 
mag folgen, wenn mein Bruder nach Hauſe gekommen ſein wird.“ 

„Hurrah! Hurrah! Es leben alle Leute, die einander auf 
der Stelle verſtehen!“ rief der Kommerzienrat, das Geſicht 
pfingſtroſenhaft entfaltend. „Es lebe das Haus Nebelung und 
Nürrenberg! Es lebe Alexius der Dreizehnte, der ſelbſt noch von 
feiner Ahnengruft aus hier in feiner fürſtlichen Machtvollkommen⸗ 
heit fo fegensreich eingegriffen hat. Ohne den alten Burfchen 
wäret ihr mwahrfcheinlich auch heute noch nicht euch völlig Kar 
geworden, Käthehen?! Und Käthehen, mein Kind, jetzt bekommt 
der brave, der liebe Schwiegerpapa doch wohl auch den erften Kuß 
von feinem Töchterchen?” 

Das hatte durchaus nicht den Anfchein. 

Bon allen ihren Gefühlen bewältigt, brach Käthchen Nebelung 
in ein lautes Weinen aus und warf fich von neuem an den Bufen 
ber Tante, 

„O Gott, Gott, dir hab’ ich e8 ja ſchon gefagt — geftanden; 
— ja, Elard war fo gut und fo freundlich, und ich war fo erſchreckt, 
und alles fam fo überrafchend und da — da — haben wir ung 


304 











wirklich miteinander verlobt, — e8 war wie ein Traum, ihr könnt 
e8 mir glauben, und ich weiß auch noch nicht, ob ich das Glüd 
nicht bloß geträumt habe! — Ach, aber dann war ich fo böfe! und 
daran waren beide Väter fchuld, und mich haben fie für mein 
ganzes Leben elend gemacht. Der arme Elard fprach mir fo gut 
und traurig gu; ich aber wurde immer böfer — und da — während 
ich die Tante abholen mußte, ift er nun hinausgelaufen, und ich 
habe ihn nicht wieder gefehen und weiß nicht, ob er noch was von 
mir wilfen will; — ich war zu unartig! — O Gott, ich wollte ja 
gern; aber was fragt ihr mich um meine Meinung? Mein 
Glück ift für alle Zeiten verfcherzt. Fragt ihn doch — fragt Elard, 
— o ich wollte, ich wäre tot, ich wäre mit meiner Mutter ge; 
ftoeben !” 

„Das alles Haft du mir freilich ſchon mitgeteilt, Käthchen, 
und ich habe es für ganz dummes Zeug erklärt,“ fprach die 
amerifanifche Tante jeßt in eben dem Grade gütig wie vorhin 
ernft und melancholifch. „Auch meiner Erwiderung wirft dur dich 
erinnern. Wenn der junge Mann refpeftabel und wohlmeinend 
ift und du ihn wirklich lieb Haft, fo will ich dag Meinige dazu tun, 
und du follft ihn haben, habe ich gefagt, und dasfelbe wiederhole 
ich dir jet. Site ftill, denfe an deine Ausſteuer und laß mich noch 
ein Wort mit deinem guten Schwiegerpapa da reden. Den Kuf 
fannft du ihm nachher geben.” 

Der Kommerzienrat hatte fich bei den legten Worten fo weit 
als möglich der Tante über den Tifch zugeneigt. Die Lampe 
ſchien ihm hell ing Geficht, und er lachte mit dem ganzen Gefichte, 

Auch die Tante Lina lachte jetzt herzlich und hell und rief: 

„Eine ganz himmlifche Gefchichte ift e8, Nachbar. An Bord 
der Germania, auf der Fahrt über den Atlantifchen Ozean hatte 
ich faft vier Wochen Zeit, mir das Wiederfehen mit meinem Bru⸗ 
der Alex auf die verfchiedenfte Art und Weife auszumalen. In 
allen Nuancen zwifchen Ernft und Heiterkeit hat mir diefe Stunde 
vorgeſchwebt; aber fo, wie fie jeßt vorhanden ift, doch nicht. 


305 


Und, Nachbar, Ihre Schlechtigkeit beifeite gelaffen, wenn ich unter 
allen Arten des Wiederfindens die Wahl gehabt hätte, jo würde 
ich diefe durch Sie arrangierte gewählt haben! D, wird der 
Monſieur Alex ein-Gefiht machen! Wahrhaftig, ich habe dann 
und wann daran gezweifelt, aber nun habe ich den Glauben, und 
niemand nimmt mir ihn wieder: es gibt gerechte Götter über ung 
— es gibt eine Vergeltung — es gibt ein Etwas, das felbft nach 
einem Menfchenalter das Hausbuch auf den Tifch legt und mit 
den Fingern auf jedes Defizit zwifchen Soll und Haben deutet. 
Diefer Abend macht vieles wieder gut, was mir vor dreißig 
Jahren zuleid getan wurde —“ 

Sie hätte wohl noch länger gefprochen, wenn es dem Käthchen 
möglich gewefen wäre, an ihre Ausſteuer zu denfen und ruhig den 
Stoff und Schnitt ihres Hochzeitskleideg in Erwägung zu ziehen. 
Es war ihr aber doch nicht möglich, denn fie war nicht zwanzig 
Fahre lang Erzieherin in den Vereinigten Staaten von Nord⸗ 
amerifa gewefen, und ihre fpielte noch nicht die ganze Welt 
Komödie, fondern fie felber fpielte noch fehr befangen in der 
Komödie der ganzen Welt mit, und fie hatte Talent zur Lieb⸗ 
haberin. 

Es brach los. Sie mußte ſprechen, und alles mußte heraus! 
Gleich einem Bach, der vom Berg herunterkommt, wenn ein Ge⸗ 
witter geweſen iſt, war das. Das Gewitter war aber geweſen da 
oben im Gebirge, und der Strom ſprang in die Sonne nach dem 
Sturm hinein. Das plätſcherte und rauſchte und rieſelte, und 
alles, was drum her wuchs an Buſch und Baum, hatte feine 
Blüten, Käfer und Raupen, fein trodenes Gezweig und feine 
grünen, vom großen Wind abgeftreiften Blätter hineingefchüttelt. 
Und diesmal, im höchften Affekt, war alles, was Käthchen Nebes 
lung fagte, echt gewachfen und nicht künftlich angefertigt. Der 
Papa und Legationsrat außer Dienft glitt wie ein alter, etwas 
eigenfinniger, aber fonft höchft wohltätiger und nur von der Welt 
verfannter Zauberer auf dem Strom der Rede daher. Die felige 


306 





Mama flieg aus dem Bilde über dem Divan und ſchwamm mit. 
Wie aber der Profeffor der Afthetif Elardus Nürrenberg von den 
Wellen gefchaukelt wurde, hätte ſchwachmütigere Charaktere als 
— die Tante Lina und den Kommerzienrat Florens Nürrenberg 


ficherlich feefranf gemacht. 


Und zulegt, tränenüberfirömt — lachend und mweinend, 
jauchzend und in heillofer Angft vor dem Papa warf die erregte 
Kednerin ihre Taffe und den Teetopf um, und fich ſchluchzend 
an den Hals des Ertabafsfabrifanten und Vaters ihres einzig 
Geliebten — ihres Elards — ihres einzigen Elards, der eben 
gerade ihren eigenen Vater hinter der Judenmauer her in die 
Allerheiligengaffe fehleifte und ihm, rechts um die Ede, dem 
Allerheiligentor zufchleppte, und zwar in zugreifendfter Weiſe 
dabei unterftügt vom göttlichen Gerber Friedritos, wie Ho— 
meros fagen würde, — vom braven Frige Heflenberg, wie wir 
fagen. 

Den Griffel eines Homers aber hätten wir jeßt nötig, um 
das Gebaren des Rottweiler Patriziers unter dem erfien Kuß 
feines DuafisSchwiegertöchtercheng zu fehildern. Wir haben ihn 
nicht, und deshalb teilen wir einfach mit, daß er es ebenfalls zu 
zwei Dielen Tränen brachte, die ihm rund und voll über die runden 
Biedermannswangen rollten und fich in feiner Wefte verloren. 
Alles andere, wodurch der Menfch feine Empfindungen und Ge; 
fühle fundgibt, war heute abend an ihm dagemwefen; dies war 
das Außerfte, das Lekte und war noch nicht dagemwefen. 

Nec plus ultra, durfte er dreift von nun an big zur Heimkehr 
feines Freundes Nebelung zum Motto nehmen. Er tat’g, 
trocknete fich die Augen und feufste im jovialften Trauertone: 

„Der Hansnarr verdient dich gar nicht, Kätherle. Kenne ihn 
nur erſt fo genau, wie ich ihn kenne, und du wirft dich dieſes — 
meines Wortes erinnern und fagen: der Alte hat e8 mir damals 
ſchon gefagt, Elard; o lieber Himmel, hätte ich ihm doch geglaubt ! 
— Ach, Fräulein Karoline, was ein guter Ehemann ift —“ 


307 


„Krümmt ſich bei Zeiten,” fiel die Tante ein, doch der Nachbar 
ſprach: 

„Nein, dieſes nicht, ſondern ich wollte nur bemerken, daß ich 
wiffen müffe, was ein guter Chemann fei; denn, Nachbarin, i ch 
war meinerzeit ein wahrhaft guter Ehemann! Wenn’s drei 
Meilen jenfeit8 des Horizontes donnerte, fand ich vom vers 
gnügteften Tifche auf und ging aus der fidelften Geſellſchaft nach 
Hanfe, weil fich meine Selige vor dem Gewitter fürchtete. Ach, 
Kätherle, ich glaube, mein Profeffor wird fih nur fefter bins 
pflanzen und ruhig dich daheim in deiner Angft figen laſſen.“ 

„Ich fürchte mich aber auch nicht vor dem Donner, lieber —" 

„Papa!“ fchloß der Patrizius und fuhr fort: „DO, mich hätten 
Sie in meiner Blüte fennen follen, Tante Lina. Damals war ich 
des Kennenlernens wert! Damals Iohnte es fih noch, von 
Amerika herüberzufahren, um meine Bekanntfchaft zu machen. 
Mein Bub hat viel zu viele Augenblide, in denen er das Erden, 
leben vollftändig begriffen zu haben glaubt, und das find die 
Momente, auf welche ich dich hinweiſe, Käthchen. Wenn du erft 
einige Male mit ihm in der Stimmung zufammengefeffen haft, 
dann teile mir deine Anficht darüber mit. Ich fage dir ganz offen, 
hätte ich nicht einen folchen freudigen Sinn für jegliches Indivi⸗ 
duum als folches, fo hätte ich mich ſchon fehr Häufig bis zum 
YussdemsHanfeswerfen an meinem — Deinem himmlifchen Elard 
geärgert.” 

„Individuum als ſolches?“ murmelte die Tante, „Nachbar, 
über das Wort wären Sie ohne Monſieur Elard auch nicht im 
Tanze geftolpert. Ei, aber Sie haben Ihrem jungen Heren doch 
wohl dann und wann über die Schulter ins Buch gefehen; — ich 
glaube faft, Sie hätten ebenso gut als ich Philofophie des Lebens 
den jungen Ladies im Vaſſor College vortragen können.’ — — — 

Daß diefes alte Frankfurt am Main verzaubert war, ftand feft; 
das heißt nichts fehlen darin mehr feft an feinem Drte zu ftehen, 
nämlich den drei aus der freien Natur in den geheiligten Bezirk 


308 








der getürmten Stadt fich einfchleichenden tapfern deutſchen 
Männern, von denen aber ein jeglicher feinen eigenen Wurm im 
Herzen frug. 

Die fieben Schwaben, als fie fich dem Ungeheuer am Gee 
näherten, bedeuteten zufammen nicht mehr innerliches Unbe; 
hagen als diefe drei Helden, und deshalb machte bereits über dem 
Fluſſe ein jeder die Bemerkung, daß er e8 heute abend aus, 
nehmend ſchwül in Frankfurt finde. 

Daß die Fahrgaſſe während ihrer Abweſenheit enger geworden 
war, unterlag weder dem Profeffor noch dem Legationsrat 
einem Zweifel. Die Häufer waren aufeinander eingerüdt, und 
was das ſchlimmſte war, fie rückten noch immer aufeinander ein. 
Um der beängfligenden Fata Morgana zu entwifchen, bog der 
Profeffor in die Predigergaffe, und die beiden anderen folgten. 

Sie marfchierten jet nicht mehr en front; fie fchleppten fich 
einer hinter dem andern, wie ein Indianerzug, dem das Feuers 
waffer ausgegangen ift. Einer fuchte den andern voranzufchieben 
und tat's wahrlich nicht aus Höflichkeit. 

Der Profeffor fuchte einmal oder zweimal feine Begleitung 
auf die malerifche Beleuchtung der Umgebung aufmerffam zu 
machen, dann unterließ er es. Der Legationsrat fagte nichts; 
aber er atmete defto fehwerer. Hinter der Judenmauer fagte 
Feige Heſſenberg: 

„Weißt du, Nebelung, e8 wird mir immer furiofer. Was foll 
ich ihr eigentlich fagen, wenn ich vor fie trete? — Ich hab's mir 
nun ganz genau überlegt: ich bringe dich und den Profeſſor bis 
zu deiner Tür, und dann fehre ich um und gehe nach Sachfenhaufen 
in mein Wirtshaus zurück. Du fagft ihr im richtigen Augenblid, 
wen du heute an der Iſenburger Warte getroffen haft, und merfft 
die, wie fie die Benachrichtigung aufnimmt. Dann fomme ich 
morgen früh gewiß. Aler, ein Wiederfehen mie diefes fchict fich 
beffer für den hellen Mittag, wo man fich fofort mit allen Falten, 
Runzeln, grau und gelb zu Gefichte Friegt, als für folch eine dunkle 


309 


Abendftunde und die Familienlampe. Sch Eehre um, Aler, ich 
hab’8 mir überlegt.“ 

„Du kehrſt nicht um, Fritz! Du gehft mit mir!” ftöhnte der 
Legationsrat von Nebelung und faßte blisfchnell wiederum jeden 
feiner Begleiter unterm Arm, um ja feinen von ihnen zu vers 
lieren. Wir haben es oben ſchon gefagt, daß er fich von ihnen 
durch die Allerheiligengafle fchleppen ließ, gerade um die Zeit, 
als fein einziges Kind, Wonnetränen weinend, am Halſe feines 
größten heutigen Widerfachers hing. 

„Bas foll ich ihe denn fagen?” rief der Rat weinerlih. „Sf 
mir nicht etwa Eurios geworden? Muß ich ihr etwa nicht eben, 
fall8 bei der Familienlampe vor die Augen treten? Und du, der 
du unfere Lina fo genau kennſt — gekannt haft, follteft doch eins 
fehen, daß ich um fein Haar breit befier dran bin als du. Nein, 
du Eommft mir nicht fort; ich laffe Dich unter keiner Bedingung 
frei. Soll ich etwa mit dir umkehren? Willft du mich mit nach 
Sachfenhaufen in dein Hotel nehmen?“ 

Sie durchwankten das Allerheiligentor, und jeßt fanden fie 
vor dem Haufe! 

„Da find wir denn,” fagte der Nat und machte wirklich den 
Verſuch zu lächeln. „Sie treten doch mit ung ein, lieber Pros 
feſſor?“ 

Der liebe Profeſſor hatte den Vater ſeiner Verlobten vor ſich! 
Und dieſer Vater wußte nichts davon; er, der Verlobte, wurde 
auf das dringendſte von feinem Quaſi⸗Schwiegervater einge⸗ 
laden, noch auf einen Yugenblid mit hinauf zu feiner Tochter zu 
fommen, und — — er zauderte doch! 

Die Gaslaternen brannten bereits in der Hanauer Landftraße, 
aber Heren Elard Nürrenberg war e8 noch nie in feinem Leben fo 
ſchwarz vor den Augen gewefen wie in diefer Minute, 

Durch die Finfternis vernahm er die Stimme des Romans; 
horner Lohgerbermeifters, der ihm mit einem tief heraufgeholten 
Üchzen auf den Rüden Hopfte und fagte; 


310 





„Na, Profeſſorchen, Sie find jedenfalld der Unbefangenfte; 
alfo marfchieren Sie voran. Die Treppe kennen Sie auch; — 
ich führe den Rat, und im Notfall greife ich nach Ihrem Rockſchoß. 
Bitte, nehmen Sie auf unfer Alter feine Rüdfiht; Sie haben 
bedingungslos den Vortritt.“ 

Woher die Unbefangenheit fommen follte, durfte Here Elard 
ſich fragen, aber leider nicht den Lohgerber und den Schwieger; 
vater der Zukunft. 

Plöglih — mit einem Ruck — malte er fi von neuem die 
Geliebte, wie er fie fich von jeher gedacht hatte, rief, wie jeder 
andere Ritter in der höchften Gefahr, ihren lieben Namen, das 
heißt er murmelte: 

Käthchen! Mein Käthchen!“ und ſtürzte in das Haus, ohne 
darauf zu achten, ob die beiden andern ihm auch folgen würden. 
Da er in der Tat die Treppe kannte, und da er einmal im Stürzen 
war, fo gelangte er nach oben — der Schillerfche Taucher im 
Wirbel der Charnbde war ein Nachmittagsichläfer auf feinem 
Sofa gegen ihn, und um fo natürlicher war’, daß die holde 
Prinzeffin deoben fich ſchon lange in bängfter Erwartung über 
den Rand der Klippe gebeugt und auf fein Wiederauftauchen 
mit Sehnfucht geharrt hatte. 

Sept riß er die Tür des Salons auf und ftand einen kürzeſten 
Yugenblid geblendet von dem Glanz des gemütlichen Teetifches. 
Er fah feinen Vater und fah ihn nicht; er fah eine ältliche Dame 
in grauer Seide durch das Geflimmer, aber fie hatte feine Bes 
deutung. Er fah fein Käthchen, und er hörte ihren leifen Schrei, — 
fie allein erblickte er wirklich, und er ſtürzte fich gegen fie, faßte 
ihre Hände, riß fie ganz an fih und rief — ſtammelte: 

„O Kind, Herz, mein Leben, mein füßes Leben, willft du mir 
vergeben? kannſt du mir vergeben? Mein Mädchen, wie dumm 
und fchredlich hätten wir ung beinahe diefe Pfingften verdorben! 
Aber ich habe dich und halte dich wieder, und von jegt an. wird 
unfer Dafein ein ewiges Maienfeft fein, nicht wahr?! Dein guter, 


311 


treffliher Vater kommt fogleich nah; — ach, Käthchen, liebes 
Käthchen!“ 

„O Elard,“ ſchluchzte das Kind, „ich allein war ja ſehr unartig, 
und wie ich mich ſelber die letzten Stunden durch ausgeſcholten 
habe, das weiß keiner. Biſt du denn wirklich wieder gut? Biſt 
du wiedergekommen? Sieh, ganz ſo böſe, wie du dir dachteſt, als 
ich Dich von der Droſchke aus wegrennen ſah, hab’ ich es Doch nicht 
gemeint.” 

Die Tante und der Kommerzientat fahen und hörten dem zu; 
aber nicht lange. 

„gina? —“ rief der Legationsrat Alexius von Nebelung. 

„Mer!“ rief die Tante, und auch die beiden hatten einander 
wieder und zwar nach swanzigjähriger Trennung. Sie umarmten 
fich gleichfalls und Füßten einander, und dann fehoben fie fich 
beide zu gleicher Zeit einander zurüd, um fich anzufehen, und 
für diefes Wiederfinden gab die Familienlampe das einzig rechte 
Licht. 

„Du haft dich wenig verändert, lieber Bruder,” fagte die alte 
Schwefter, ihre Tränen verfehludend und laufen laffend. 

„Iſt er wirklich ſchon in feiner Jugend fo geweſen?“ fragte der 
Nachbar Nürrenberg gleichfalls mit gebrochener Stimme. 
„Run, Nachbar, dann will ich weiter nichts fagen; aber ich meine, 
aus alter Anhänglichkeit und wegen fernern guten Verkehrs 
erklären Sie fich für befriedigt und ausgeſöhnt, wenn ich hiermit 
Seiner hochfeligen Durchlaucht, dem Herzog Mlerius dem Drei; 
zehnten, in feiner Fürſtengruft feterlichft Abbitte leifte. Er führt 
feinen Namen mit Recht und ift ein Heilbringer, und unfer erfter 
Enkel foll auch Alexius heißen.“ 

„Der Teufel hole den Fürften Alerius den Dreisehnten !” rief 
ber dritte Ankömmling, aus dem Schatten in das Licht tretend. 
Die Tante Karoline Nebelung ſchrak zufammen, ſah hin, feßte 
fi, fuhr von neuem in die Höhe und feßte fich zum zweiten Mal. 
Der gute Fri feßte fich ebenfalls; feine Kniee zitterten, feine Füße 


312 





trugen ihn nicht länger, der Hut entfiel feinen Händen. Er holte 
ein grobes baummollenes, blau; und meißgeftreiftes Sacktuch 
hervor und trodnete fich den heißen und den falten Schweiß 
von der Stirn und flotterte, tiefer gefchüttelt als einer der übrigen, 
die Tante Lina ausgenommen: 

„Sa, Linchen, ich bin Frige Heffenberg, und wenn wem ein 
richtiges Enlenpfingften zubereitet wurde im Leben, fo find wir 
zwei dag gewefen. Und wenn zwei mit wohlmeinenden Herzen 
und guter Gefinnung in diefe zänfifche, nichtsnugige, katz⸗ 
balgerifche Welt hineinmußten, fo find wir das auch gemefen. 
Geben Sie mir Ihre liebe Hand, Lina. Jetzt bin ich ein alter 
Kerl, und du — — ja, fieh, ich bin es wirklich und ich bin auch 
mitgefommen, um dich mit den anderen bei ung zu begrüßen.“ 

„O Friedrich!“. a ih FT re tree 

Der großherzoglich heſſiſche Kommerzienrat ſah dumm aus, 
der Legationsrat von Nebelung ſtupide. Elard und Käthchen 
ſahen und hörten nichts; ein roſig durchleuchtet Gewölk trug ſie, 
und Arm in Arm ſchwebten ſie ins Paradies hinein. Sie ließen 
ſich nicht ſtören durch das, was um ſie her vorging, und es machte 
auch niemand Miene, die goldrote Wolke unter ihren Füßen 
wegzublaſen und ſie in die Wirklichkeit und auf den feſten Boden 
zurückzurufen. 


313 


Frau Salome. 


Erftes Kapitel. 


Mohannes Falk in feinem Buche über Goethe fchildert fehr 
as hübfch einen Befuch, den er an einem Sommernachmittage 
im Jahre 1809 dem Dichter abftattete. Er fand ihn bei milder 
Witterung vor einem kleinen Tifche in feinem Garten fißend 
und eine Heine Schlange in einem langgehalſten Zuderglafe mit 
einem Federfiele fütternd. 

„Die herrlich verftändigen Augen !” fagte Goethe. „Mit diefen 
Yugen ift freilich manches unterwegs, aber, weil e8 das unbe 
holfene Ringeln des Körpers nun einmal nicht zuläßt, wenig 
genug angefommen. Hände und Füße ift die Natur diefem läng⸗ 
lich ineinandergefehobenen Organismus fohuldig geblieben, wie; 
wohl diefer Kopf und diefe Augen beides wohl verdient hätten; 
wie fie denn überhaupt manches fehuldig bleibt, was fie für den 
Augenblick fallen läßt, aber fpäterhin doch wieder unter günftigeren 
Umftänden aufnimmt.” 

Nun erfcheint auch Frau von Goethe im Garten, ruft fehon 
von weiten, wie herrlich der Feigenbaum in Blüten und Laub 
ftehe, erkundigt fich nach dem Namen der ausländifchen Pflanze, 
„die ung neulich ein Mann aus Jena herüberbrachte” — nämlich 
nach) der großen Nieswurz, und fragt, ob die ſchönen Schmetter; 
linge aus den Kokons von eingefponnenen Raupen, die in einer 
Schachtel neben dem Zuderglafe liegen, noch immer nicht 
erfcheinen wollen. Dann fagt fie mit einem Seitenblid auf die 
Schlange: 


314 








„ber wie können Sie nur ein fo garfliges Ding mie dieſes 
um fich leiden oder e8 gar mit eigenen Händen geoßfüttern? Es 
ift ein fo unangenehmes Tier. Mir graut jedesmal, wenn ich es 
nur anfehe.” 

„Schweig du!” meint der Geheimrat und fügt, gegen den 
Befucher gewendet, hinzu: „Ja, wenn die Schlange ihr nur den 
Gefallen erzeigte, fich einzufpinnen und ein ſchöner Sommervogel 
zu werden, da würde von dem greulichen Wefen gleich nicht weiter 
die Rede fein. Aber, liebes Kind, wir können nicht alle Sommer; 
vögel und nicht alle mit Blüten und Früchten geſchmückte Feigen; 
bäume fein. Arme Schlange! Sie vernachläffigen dih! Sie 
follten fich deiner beffer annehmen! Wie fie mich anfieht! Wie 
fie den Kopf emporftredt! Iſt e8 nicht, als ob fie merkte, daß ich 
Gutes von ihe mit euch fpreche! Armes Ding! Wie das drinnen 
fteckt und nicht heraus fann, fo gern e8 auch wollte! Ich meine 
zwiefach, einmal im Zuderglas und fodann in dem Hautfutteral, 
das ihr die Natur gab.“ 

Das ift ein fonderbarer Anfang für eine Gefchichte, die mit 
dem feligen Legationsrat Falk in feinem Buche: „Goethe aus 
näherem perfönlichen Umgange dargeftelle,“ fonft nichts zu 
fchaffen hat! Doch Hören wir weiter. 

An einem der Wege, die zum Broden hinaufführen, liegt ein 
Wirtshaus mit feinen Nebengebäuden und einem Fleinen Garten, 
in dem aber, der Höhe wegen, wenig wächft, und welchem man 
feinen Namen und Titel nur aus Höflichkeit oder Bequemlichkeit 
gibt wie fo manchem andern Dinge in diefer Welt. 

Das Haus wie die Stallungen find niedrige, langgeftredte 
Bauwerke, das Mauerwerk ift von einer in der Ebene unbefannten 
Dide, die Schiebefenfter find Hein und tief in die Mauer einge, 
laffen; kurz, alles ift auf Sturmwind, Negenftöße, Schneemwehen, 
lange Winter und kurze Sommer fo fürforglich als möglich ein⸗ 
gerichtet: der Wirt, die Wirtin und das Dienftvolf-desgleichen. 
Eine moderne Hptelbefigerfamilie, die auf einer Tour in das 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 21d 315 


Gebirge hier vorfpricht, mag wohl ihre Betrachtungen über den 
Gegenfag zwifchen ihe und den Leuten und Zuftänden diefes 
Berghaufes anftellen, Nun, e8 kann nicht jeder feine „bougies“ 
unter den Linden, ben Rhein entlang, oder am Sungfernftiege in 
Rechnung ftellen. ; 

Das Berghaus Tiegt fchon in einer Gegend, wo die Tannen 
und Birken anfangen, zu verfrüppeln. Das Waſſer ſickert moorig 
zmwifchen dem Geftein, den Heidelbeeren und der Haide, und der 
Wind Hört felten auf, zu fingen; aber gewöhnlich heult er, Nur 
noch ein wenig höher hinauf erfcheint das isländifche Moos auf 
den Felsblöden, und wer den Wind fingen hört und das Plaid 
fefter um Hals und Ohren zieht, begreift die Fürforge der 
Vorſehung; recht forgliche Charaktere denken auch wohl an ihren 
Hausarzt und fenden ihm einen ftillen Gruß. 

Deffenungeachtet ift der Weg viel betreten, beritten und be; 
fahren, vorzüglich im Sommer. PVielgeftaltig und vielgefchäftig 
geht’8 und kommt's; geht vorbei oder kehrt ein, und Langeweile 
hat weder der Wirt noch feine robufte Ehehälfte und fein Dienſt⸗ 
perfonal, — im Winter nur foniel davon als der Hamfter, das 
Murmeltier und wie fonft die behaglichen Gefchöpfe heißen, welche 
die unangenehme Zeit des Jahres ruhig verfchlafen. 

Nun war e8 im Sommer, in den Tagen, wo die Erdbeeren 
ot und die Heidelbeeren ſchwarz werden, wo der Fingerhut feine 
toten Kerzen anzündet und das Harz duftiger und reichlicher den 
Tannen und Fichten’entquillt. Die Sonne lag auf dem Gebirge, 
die Duellen raufchten zur Tiefe hinab; und aus der Tiefe her, 
aus der Ebene der Kultur hatte die gewöhnliche Völkerwanderung 
ihre Züge in die ſchöne Wildnis aufgenommen. Alle Reitefel 
und Maultiere in den DOrtfchaften der Ausgangstäler hatten ihre 
trüben Erinnerungen vom vorigen Jahre aufgefrifcht und be; 
fräftigten fich von neuem in der Meinung, daß der beffer ges 
fleidete Teil der Menfchheit abermals verrüdt geworden ſei; und 
abermals hatten fie ihre Laft auf fich zu nehmen und wie die vers 


316 








Ioren gegangene Königstochter von Antiochien im Perifleg, 
Prinz von Tyrus, alle möglichen Temperamente fennen zu 
lernen. 

Es war am Nachmittage gegen drei Uhr, und augenblidlich 
hatte ein einziger Gaft alles, was das Bergmwirtshaus an Ge; 
nüffen und Bequemlichkeiten zu bieten hatte, zu feiner Der; 
fügung. Er fah aber aus, als ob er fich zu befcheiden wiſſe und 
wahrfcheinlich feinen Grund dafür habe. 

Neben der niederen Eingangstür der Wirtfchaft ift ein Stein; 
wall zum Schuß gegen den Wind aufgefchichtet, im Halbrund um 
eine roh auf Pfählen befeftigte Tifchplatte und eine gleichfalls im 
Boden befeftiste Banf. 

„Da ſetzen wir ung nicht hin,“ pflegten gewöhnlich die eins 
fehrenden Touriften zu fagen; aber e8 war deffenungeachtet oder 
gerade darum fein übler Platz. Man vernahm von hier aus dag 
feife Geläut der Kuhgloden in den Tälern und hatte einen vollen 
Bli auf das bergan fich dehnende Felfenmeer. Auch die Straße, 
wie fie von der Höhe Fam, überfah man big zur nächften Wendung, 
und das war zu feiner Zeit des Jahres und um diefe am wenigften 
ohne Intereſſe. 

Der einfame Gaft hatte fih dahingefegt, und er ſah auch 
wahrlich nicht aus, als ob er fich fehr vor Zugluft in acht zu 
nehmen habe. Er war ein verwitterter und, wie der größere Teil 
der Touriftenfcharen fagen würde, ein verwahrlofter alter Gefell, 
der denn auch fein Gläschen Nordhäufer vor fich hatte und eben 
im Begriff war, eine abgenußte, abgefogene, abgefaute kurze 
Pfeife aus einer Schweinsblafe von neuem zu füllen. Er faß 
in einem graubraunfchwarzen abgetragenen Node, Gamafchen 
über den derben, beftaubten Nägelfchuhen und eine alte fchwarze 
Mütze mit breitem Schiem auf dem grauen Schädel. Er trug 
eine Brille, doch durch die Gläſer derfelben Teuchteten Augen von 
einem fo fonderbar Haren bläulichen Glanz, daß es ſchwer hielt, 
an eine irgend bedeutende Kurzfichtigkeit des Alten zu glauben. 


21* 


317 


Ein tüchtiger Knittel lehnte neben ihm an der Bank. Auf feinen 
Viſitenkarten (er führte dergleichen und legte fie unter Umſtänden 
auf den Tifch oder gab fie an der Tür ab) ftand: 


Justizrat Scholten. 


„Ste wundern fich?” pflegte er zu fagen, wenn fich jemand 
darüber wunderte. 

Es kann auch nicht jedermann aus Duadenbrüd im Fürftenz 
tum Dsnabrüd fein; doch des Juſtizrats Wiege hatte wirklich 
dafelbft geftanden, und feine Eltern waren aus Hafelünne an der 
Hafe geweien, einer Drtfchaft, die fehon ganz bedenklich der 
niederländifchen Grenze nahe liegt und zwar im Herzogtum 
Irenberg- Meppen. 

Das find eigentümliche Erdftriche, die eigentümliche Kreaturen 
hervorbringen. Der Juſtizrat Scholten ftammte, und fein befter 
Freund ebenfalls, dort her; aber fein allerbefter Freund faß zu 
Pilfum, einem Dorfe an der Emsmündung, und las Jakob 
Böhme mit der Ausficht aufs Pilfumer Watt. Der Juſtizrat 
las Voltaire in einem Hargdorfe unter dem Blodsberge, 


318 


Zweites Kapitel. 


F er Alte war mit dem Stopfen ſeiner Pfeife zuſtande ge— 

kommen und nahm Stahl, Stein und Zunder aus der Taſche. 
Er behauptete, Schwefelgeruch falle ihm auf die Lungen, und 
führte deshalb kein modernes Feuerzeug; aber da er geſtern abend 
durch einen argen Gewitterſturm gewandert war, ſo wollte 
diesmal der Schwamm nicht fangen, und nach längerem ver; 
geblichen Bemühen fchob der Juſtizrat Scholten fein Gerät wieder 
ein und tief: 

„Heuer, Here Wirt!” 

Der Wirt fleddte den Kopf aus dem offenen Fenfter feiner 
Gaftftube, um fich genauer zu vergemiffern, wer da fo fur; etwas 
von ihm wünfche, und als er fich überzeugt hatte, daß es nur 
der alte und fein neuer Gaft fei, tat er natürlich, als habe er nicht 
gehört, blickte nach dem fchnellen weißen Sommergewölk am 
Himmel und brummte innerlich: 

„Die werd’ ich auch einen Oberfellner halten, alter Stänfer ! 
Marſchier in die Küche und Hol dir felber, was du brauchft.“ 

Der Juſtizrat fagte auch weiter nichts; aber er ſchob die Brille 
auf der Stirn empor und fah den Heren Wirt an. 

„om — na — nu!“ murmelte der Wirt, 409 vollftändig über; 
wunden den Kopf ins Zimmer, um dem Gaft auf der Banf vor 
dem Fenfter ein Feuerzeug in Geftalt eines fleinernen Turmes 
mit den dazu gehörigen Zündhölzern zu reichen. 

„Hier, Here Nat! Sie waren es mit Erlaubnis, der rief?“ 


319 


„Ich war es mit Erlaubnis,” fagte der Alte, erhob fich von 
feinem Site und ging in die Küche an den Herd, wo ein helles 
Feuer einen Wafferkeffel im Sieden erhielt und zwei junge derbe 
Gebirgsmägde mit Kaffeeröften und Mahlen befchäftigt waren. 
Höflih nahm der Juſtizrat Schalten die Mütze ab: 

„Suten Tag, Jungfern. Welche von euch will einmal in 
meine Pfeife guden, um mir den Griff mit der Zange in Die 
Kohlen zu erfparen? Iſt das eine Herenküche! Hört einmal, 
Mädchen, wenn ihr euch nicht in acht nehmt, holt man euch doch 
noch vom Berg herunter, und wenn nicht vors Kriminalgericht, 
fo doch zuerft vor den Heren Paſtor und dann vor feinen Altar in 
der Kirche, Sch rate euch, Hüter euch, ich bin mehr als einmal dabei 
geweſen, — e8 werden da verdammt verfängliche Fragen vor; 
gelegt, und ohne Tränen geht es nicht ab — alle Kameradinnen 
fchnuden und heulen mit, und der Müller unten vor dem Dorfe 
hat auch im frodenften Sommer mit einem Male Waffer im 
Überfluß.“ 

„Mb Herrje!” riefen die zwei Dirnen aus einem Munde und 
ficherten hinter ihren Schürgen, obgleich fie den grauen Witzbold 
feineswegs ganz verftanden. Sie verftanden ihn aber gut genug, 
und als er fich gemütlich auf die Wafferbanf feste, kam die jüngfte 
und hübfchefte eilig und Höflich mit einem brennenden Span und 
hielt ihm den auf die Pfeife. 

„Buten Tag, Herr Juſtizrat; find Ste auch einmal wieder da? 
Man hat Sie lange nicht zu Gefichte gekriegt.” 

„Den ganzen Winter nicht. Und hat man mich wirklich hier 
vermißt in der Küche?” 

„St, freilich, Herr Rat. Solch einen —” 

„Nun, was fol einen —?” 

„sa, Niekchen fag du's lieber!” Kicherte die Rednerin hinter 
ihrer Schürze; aber Riekchen verftedte fich auch nur verlegen 
lachend hinter einem Handtuche, und e8 blieb dem alten Scholten 
nichts weiter übrig, als den Sa zu Ende zu bringen. 


320 


„Solch einen fhnurriofen — niederträchtigen — und in det 
Weltgefchichte drunten in den Dörfern wohlbefchlagenen Kalenz 
dermacher und Wetterfündiger fähe man wohl in allen Nöten des 
Tages und der Nacht gern den Schnabel in die Tür fehieben — 
be?! Ja, ja, ich will’8 wohl glauben, e8 gibt allmählich mehr als 
einen Kochherd, mehr als einen Kuh⸗, Pferde; und Efelftall, mehr 
als eine Spinnftube, wo man nad mir fragt, wenn ich lange 
nicht nachgefragt habe,” 

„Mund was bringen Sie ung denn diesmal Neues mit, Herr 
Juſtizrat?“ 

„Auf die Frage war ich auch ſchon gefaßt, mein Kind; Neues? 
— Nun, es iſt mir dunkel fo, als ſei mancherlei Kurioſes vorge; 
fallen; ich habe aber leider Gottes alles wieder vergeſſen.“ 

„Ach, Herr Rat!“ riefen beide Mägde. 

„Aber wartet einmal! Ja, in Elbingerode hat's einen argen 
Lärm in Mayers Hauſe gegeben —“ 

„Liebſtes Leben, — wieder einmal!” rief das eine Kind, ließ 
den Griff der Kaffeemühle fahren und fah Häglich auf den wun; 
derlihen Botfchafter. | 

„Sie hatten ihn nach Goslar auf den Schügenhof einge 
laden, und beide Alten festen natürlich ihren Kopf auf, und der 
Alte fchlug auf den Tisch und verlangte, daß nun endlich die Sache 
mit der Karoline von den Farbenfümpfen in Richtigkeit gebracht 
werde; das Jahr folle nicht hingehen, ohne daß Hochzeit gehalten 
werde —“ 

„O, du lieber Gott!” fchluchzte die Kaffeemüllerin. 

„Ra, nur ftille,“ fagte Scholten. „Sie hätten eher den Ram—⸗ 
melsberg als ihn zum Wadeln gebracht. Ihm eile es nicht fo wie 
der Goslarſchen Bafe, meinte er. Der Teufel folle ihn holen, 
wenn er fich da fo mir nichts die nichts in den Sumpf reiten laffe. 
Er fei ein Bergmann und wolle mit der Oker⸗Schlemme nichts 
zu tun haben; gelb fei nicht feine Leibfarbe, und wenn er gegen 
das Heiraten an und für fich wenig einzuwenden habe, fo fomme 


321 


e8 doch immer darauf an, mit wen man fich vom Paftor von der 
Kanzel werfen laffe. Prügel mit der zärtlichen Verwandtfchaft 
in Goslar wie im vergangenen Jahre könne es wohl feßen —“ 

„O, der gute Zunge!“ 

„Jawohl, fo weit ging feine Güte, In der Hinficht ift die 
Menschheit ein Herz und eine Seele; ich kann das hundertfach 
aus meinen Akten nachmweifen, ihre dummen Dinger; aber 
cherchez la femme — wenn ihr Franzöfifch verftänder, fo wüßtet 
ihr, was ich fagen will.“ 

„ah, Tagen Sie es ung nur auf Deutfch,“ meinte Riefchen, 
die big jegt ffumm, aber mit aufgefpannteften Herzens; und Ver⸗ 
ftandesfräften zugehört hatte. 

„So?“ brummte Scholten. „Gönnft du ihn ihre denn? Dir 
wär’8 wohl ein gefunden Freflen geweſen, wenn ich ihr gleich den 
Abfagebrief in der Tafıhe mitgebracht hätte? Nun, fei nur ruhig; 
in Rübeland bin ich auch gewefen, und deinen habe ich gleich; 
falls gefprochen. Das ift ein höflicher Menfch, fonft Hätte man 
ihn auch nicht zum Fremdenführer in der Baumannshöhle 
gemacht. Der weiß ein Wort mit den Damen zu fprechen! Und in 
Goslar ift er auch geweſen und hat fich recht ‚amefirt‘ —“ 

„Und ich fchlage ihm alle Knochen entzwei, wenn er fich hier 
wieder am Broden bliden läßt!” rief Riekchen, die duftenden 
Bohnen in ihrer Pfanne ſchüttelnd und zu gleicher Zeit zwifchen 
die fiadernden, frachenden, Inadenden Tannenfcheiter fahrend, 
als habe fie eine Million Sünder am weiblichen Herzen im ewigen 
Höllenfener zu röften. „Sonft weiß ich aber’ auch gar nicht, weg; 
halb Sie mir das erzählen, Herr Nat. Was geht e8 denn mich 
an, ob er nach Goslar oder ob er nach Amerika gegangen ift?“ 

„Bub,“ fagte Scholten, „meinetwegen wollen wir ung nächften 
Sommer wiederfprechen. Jetzo aber brennt meine Pfeife, und — 
Lieschen, ich habe eine Ahnung, daß er's nächte Woche möglich 
macht und fich herauffchleicht, und wenn e8 auch nur wäre, um 
dem Linchen aus den Goslarſchen Farbenfümpfen zu zeigen, daß 


322 





hinter den Bergen auch noch Leute wohnen. ch empfehle mich 
Ahnen, meine Damen.” 

Er war aufgeftanden von feiner Waflerbanf und zwar ganz 
zur richtigen Minute; denn im Vorderhaufe, in der Gaftftube 
hatte fich ein Tumult erhoben, ein recht lebhaftes Aufeinander; 
drängen menfchlicher Leidenfchaften; in Mayers Haufe zu 
Elbingerode fonnte es faum munterer hergegangen fein. 

„Dazu fteigt man denn aus dem Qualm der Städte herauf,” 
murmelte der Juſtizrat, Doch eine weitere Bemerkung zu machen, 
fand er augenblicklich nicht die gehörige Zeit. Aus der offenen 
Tür der Gaftftube ftürgte ihm die Wirtin auf den Hals, faßte ihn 
am Oberarm und fchleppte ihn in die Haustür, auf die Landftraße 
deutend: \ 

„Da fteht er, der Kujon! und jet laß ihn nur vor Gericht 
gehen und einen falfchen Eid ſchwören wegen Mißhandlung! Sie 
find unfer Zeuge, daß wir ihn fo heil und ganz gelafien haben, 
als e8 nur möglich war ; aber wo ihn mein Mann angriff, da 
riß e8, und dag war nicht unfere Schuld. Brauche ich mir in 
meinem eigenen Haufe von fol einer Vogelfcheuche Imper; 
tinenzien fagen zu laffen? Aber wir haben es ihm auch gefagt, 
und fein Menfch foll es meinem Mann verdenfen, daß er ihn 
erft über den Tifch zog und dann vor die Tür warf.“ 

„Da wundert’8 mich denn doch, daß der Kujon nicht noch da 
tiegt,“ fagte Schalten, feinen Arm von dem Griff der robuften 
Stau befreiend. Er rückte auch die Brille wieder zurecht, nahm 
feinen Wanderfnittel unter den Arm und ging über die Straße 
dicht an das fo energifeh in die freie Natur beförderte Indivi— 
duum heran, befah es von oben bis unten und fagte: 

„Menſch, wenn du wirklich ein Menfch und feine Vogelfcheuche 
bift, wie fiehft du aus, Menſch?!“ 

„Herrje, Herrje, Here, heren Se, wenn ich es Sie nur felber 
wüßte!” . ; 


323 


„Alſo wirklich, wenigftens der Sprache nach, ein deutfcher 
Bruder!” 

„Ei ja,“ fagte der Zerzauſte, immer noch verftört und wie in 
einem ſchlimmen Traume um fich flierend, „aus Leipzig bin ich 
Sie und meines Zeichens ein Schneider, und die Poefie und die 
Lektüre, willen Sie, von Schiller und von Goethes Fauft hat 
mic) da auf den Blodsberg geführt. Als ein anftändiger Menfch 
bin ich nach oben gegangen und — ſo fomme ich wieder herunter. 
D je, Herrje, komme ich Sie da in die Wirtſchaft —“ 

„In dem Haufe da einzig und allein hat man Sie fo zuges 
richtet?” 

„Run, willen Sie, ich bin ſchon feit dem März auf der Wanz 
derfchaft, und da oben haben wir unferer zwölf auf dem Stroh 
fampiert und waren vergnügt, und ein Seßer aus Hildburghaufen 
wußte ihn halb auswendig, und die andere Hälfte pfiff ein Ber; 
liner aus der Dper her. Willen Sie, auf dem Blodsberg muß 
doch jeder von ung geweſen fein, wenn er in die hiefige Gegend 
fommt, und fo wimmelten wir unferer zwölf in die Höhe und 
ftanden oben auf dem Herenaltar, und fahen alle zwölf zwiſchen 
den Beinen durch von wegen Verfehönerung von der Landfchaft. 
Das war Sie groß! und da ſchlug Sie's in der deutſchen Mannes; 
bruft, und, weeß Gott, wenn mir da einer gelagt hätte, Daß mir 
heute das da drinnen mit dem Schuft, dem Lump paffieren follte, 
ich fage Sie, wir hätten ihm alle zwölf unfern Standpunft Har 
gemacht, Er hätte fchnell genug den Berg wieder herunterfommen 
ſollen!“ 

„Sie kamen alſo heute den Blocksberg allein herunter?“ 

„Einſam und alleine, Die anderen hatten ſich nach einer 
anderen Richtung davon gemacht; ich aber will Sie nach Ballen⸗ 
ftedt, und das war mein Verdberben. Da komm ich hier an, fo’n 
bißchen lahm ums Kreus, aber mit aller Dichterpvefie im Gemüte, 
und fomme höflich in die Stube und denke, wenn hier ein Hotelier 
am emwigberühmten Broden feine Bildung hat, wo foll er fie 


324 


denn haben? Ya wohl, da deklamiere ich dem Hildburghäufer 
nad: 

Da rief er feinen Schneider, 

Der Schneider fam heran: 

Da, miß dem Junker Kleider, 

Und miß ihm Hofen an! 


Bitt’ ich Sie, fagt Sie der Wirt: verbitt’ ich mich den Unfinn 
und Lärmen in meine vier Wände, feine Schneidergefellenherberge 
haben wir hier nicht! — Herr, fag’ ich ganz höflich, von mir ift 
das gar nicht; i ch bin Sie ein Damenfleidermacher. Das ift Sie 
ja von Goungd und Goethe, — was wollen Sie denn? Sie find 
wohl noch niemals in Berlin, Dresden und Leipzig in der Oper 
gewefen? Herr Jeſes, fennen Sie denn Goethes Fauft von Gous 
nod nicht? Hier mitten am Blodsberg? Iſt das Kultur? Iſt 
das Bildung? Iſt dag Literatur? — Bratſch, haut mir der 
Halunf, der Barbare aus heller blauer Luft eine hin, als ſchmiſſe 
man Gie ein glührotes Bügeleifen an den Kopf, und da — 
waren wir. denn ſchöne dein. Sch langte ihm denn natürlich 
einen mit meinem Weißdorn hinüber, und ohne feine Frau hätt’ 
ich’8 auch wohl durchgefschten; aber, Tiebfter Herr, wenn fich die 
Weiber einmifchen, dann iſt's für einen Damenfleidermacher aus 
und zu Ende,” 

„Nicht nur für einen Damenkleidermacher,“ fprach Juſtizrat 
Scholten, wider feinen Willen dem keuchenden Afthetiker in den 
atemlofen, fprudelnden Bericht fallend. 

„Hören Sie, da mögen Sie wohl recht haben, lieber Herr. 
Mein Bater war Sie ein Zimmermann aus Penig an der Mulde, 
und feine Meinung war diefes auch. Alfo fehen Sie, auf einmal 
hängt mich diefe Kreatur am Rockkragen und reißt mich nach 
hinten; und als mir der Wirt ftößt von vorn, da half denn fein 
Ausfchlagen und Widerftehen nach hinten und vorn, und ehe ich 
weiß, wie’S zugeht, bin ich draußen, und feine Gerechtigkeit und 


325 


Juſtiz ringsum zu fehen und abzureichen. Himmeltaufendhöllen; 
hunde, wenn mir das einer geftern abend gefagt hätte, als wir 
da oben auf dem alten Teufelsberge im Chore fangen: Du 
Schwert an meiner Linken, und: Denkſt du daran, mein tapfrer 
gagienfa? — Herrje, an diefe Fahrt auf den Broden werd’ ich 
wohl mein Lebtage gedenfen. 

„Keine Gerechtigkeit und Juſtiz, fo weit das Auge blickt, zu 
fehen?” fagte der alte Schalten freundlich und dem mutigen 
Schneider faft zärtlich auf die Schulter klopfend. „Lieber Mann, 
ich Bin ‚Sie‘ vom Berg der Hirtenfnab —“ 

„Das haben wir auch gefungen; aber da kam der Brockenwirt 
und gebot Feierabend.” 

„Unterbrechen Sie mich nicht, Angeflagter! Ich bin von der 
Juſtiz, wollte ich Ihnen bemerken, und Gerechtigkeit foll Ihnen 
zuteil werden und zwar auf der Stelle. Marfchieren Sie nur 
ruhig weiter nach Ballenftedt, lieber Leipziger; ich werde fofort 
mit dem Herren Wirt und feiner Gattin ein Wort reden.” 

„Ei je, Sie find von der Juſtiz?“ rief der Leipziger. „Dann 
gibt e8 freilich noch einen gerechten Gott! — Soll ich mit Ihnen 
wieder "nein gehen? Wollen Sie mich ſchwören laffen, geehrter 
Herr Treibunalspräfident? Ach beſchwöre Ihnen alles. Warten 
Sie, ih will Sie meine Papiere —“ 

„Wollen Sie fich wohl gefälligft nach Ballenftedt fcheren I” 
fcehrie der Juſtizrat, mit feinem Stode aufftoßend. 

„Sntfehuldigen Sie, mein verehrter Herr,“ flotterte der 
Schneider verfchüüchtert, und der Juſtizrat Hopfte ihm zum andern 
Mal vertraulichsermunternd auf die Schulter und fagte: 

„Ich meine, gehen Sie nur ruhig Ihres Weges und überlaffen 
Sie die Sache hier mir. Ach bin bekannt in der Gegend, und Sie 
fönnen fich auf mich verlaffen. Und hören Sie, guter Freund, wie 
ih Sie kennen gelernt, werden Sie mir für einen Nat dankbar 
fein: machen Sie doch den Heinen Umweg durchs Selketal und 
grüßen Sie unter dem Fallenſtein des Pfarrers Tochter zu Tanz 


326 








benhain recht freundlich vom — Juſtizrat Scholten; das ift mein 
Name nämlich.” 

„Herr Jeſes Sie — die lebt noch? Die haben Sie auch vor 
Gericht vertreten? OHerr Juſtizrat, Hundertmal ließ’ ich mich aus 
der Tür fehmeißen, um Ihnen zu begegnen; jet verlaß ich mich 
auf Sie, wie aufs Jüngſte Gericht, und da Sie es wünfchen, fo 
empfehle ich mich höflichft. Der Herrgott möge es Ihnen ver; 
gelten, was Sie in meinen Angelegenheiten vornehmen.“ 

„Ich empfehle mich gleichfalls Höflichft,“ fprach der Juſtizrat, 
die Mübe abnehmend; jedoch zu gleicher Zeit mit dem Kittel 
bergab winfend. Der Schneider nahm Abſchied von ihm in den 
drei Tanzmeifterpofituren und entfernte fich, alle drei Schritte 
über die Schulter zurückblickend. Der Juſtizrat trat in das Berg; 
haus zurüd, von deſſen Fenftern aus man ihn wie den Schneider 
fortwährend ſcharf und nicht ohne Beforgnis im Auge behalten 
hatte, | 

Die Wirtin hatte ihn im Auge behalten, der Wirt faß ver; 
deoffen und tüdifch hinterm Tifch, den Kopf auf beide Fäufte 
geftüßt. Der alte Scholten grüßte die Wirtin und wendete fich 
an den Wirt. 

„Da haben Sie aber Ihre Sache einmal wieder ganz vor; 
trefflich gemacht, Herr Zuder,“ fagte er, „Meine aufrichtigften 
Komplimente! Ya, ja, da fieht man, daß Sie ziemlich Hoch über 
der norddeutfchen Ebene wohnen und alfo die Berechtigung haben, 
vornehm darauf hinunter zu fehen. Höflichkeit foll zwar eine 
Tugend fein, die an Wert zunimmt, je tiefer hinab fie gehandhabt 
wird, aber Sie müffen dag beffer verftehen, und ich befcheide mich 
gern. Seltfamermweife behaupten da in der Tiefe einige, daß es 
gar feine Kunft fei, vor einem NKeichen und Vornehmen die Müße 
zu ziehen, und daß folches kaum als Verdienft angerechnet werden 
fünne; aber Sie müffen natürlich am beften wiffen, an wem Sie 
am meiften verdienen. Sch habe herzlich lachen müſſen über das 
Geficht, mit welchem der arme Teufel da eben abzog. Denfen 


327 


Sie aber nur: er entblödete fich nicht, Sie einen Flegel zu 
nennen und Ihre Frau eine giftige alte Bergkatze! was fagen Sie 
dazu, Madame Zuder?” 

Sie ftarrten beide ffumm, mit geöffnetem Munde auf den 
alten Juriſten. 

„Und jet ift er hinunter den Berg, feinen drei Brüdern entz 
gegen — zwei Zimmergefellen und einem Grobfcehmied; und dazu 
iſt's feine fefte Abficht, Ihnen jeden Schneider, der diefen Som; 
mer den Blodsberg erflimmen wird, auf den Hals zu heben. 
Sch fuchte ihm, meinem Beruf gemäß, verföhnlichere Gefühle 
beisubringen, aber es ift mir nicht gelungen. Auf jedes gute 
Wort hin wurde er wütender und jähzorniger, fprach von Beftien; 
volf und fragte, was ich wohl meine, ob Sie Ihr Anweſen über 
feinen Wert bei einer Fenerverficherung eingefchrieben hätten. 
Sch fagte ihm, dies glaube ich nicht, und dann lachte er teuflifch, 
zog eine Tigerzigarre hervor, zündete fie mit einem Baſilisken⸗ 
blide auf Ihr Dach an und ging zähnefnirfchend ab mit dem 
Worte: Steben auf einen Schlag! was ich nicht verſtand.“ 

„Barmberzige Güte!” ftöhnte die Frau Wirtin, und der Wirt 
ftand längft hinter feiner Tifchplatte aufgerichter, ſtemmte beide 
Hände darauf und fagte: „Sapperlot!”, Srimm und Beftürzung 
in dem Ausruf aufs wirkungsvollfte zutage fördernd. 

Mit fogufagen trüben Auge fah der Juſtizrat nach feiner Uhr: 

„Und meine Zeit ift leider jet auch abgelaufen, Schuldig bin 
ich wohl nichts mehr? alfo — guten Tag!“ 

So ging auch er, und der Wirt feßte fih wieder, und feine 
Frau fette fich gleichfalls. 

Sie faßen eine geraume Zeit, fich mit giftigen Seitenbliden 
anfchielend, bis plöglich fich die Frau erhob, die Hände ihrerfeits 
auf den Tifch ſtemmte, fich weit über ihn hin bog und ihrem Gat⸗ 
ten ins Geficht fauchte: 

„Haft du's nun mal wieder, wie du's willft? Iſt es nun fo 
recht? Du Grobfad, du Schnarcher, du Leuteanbeller; Haft du 


328 





dir nun bald genug Hypotheken aufs Haus gebellt? D du — du !— 
Prügel genug haft du in deiner eigenen Gaftftube gekriegt — 
aber immer noch nicht genug! Jetzt weißt du meine Meinung!“ 

Damit fuhr fie hinaus und in die Küche; aber leider nicht durch 
den Schornftein ab. 

„Sapperlot!” ftöhnte der Wirt noch einmal und dann 
murmelte er: „Wer mir vor fünfzehn Jahren als zivilem jungen 
Zimmergarson im Hotel Royal in Hannover gejagt hätte, was 
bier in der Wildnis aus mir werden würde, der — hätte ficher 
den Zug verfchlafen und fein Haar im Kaffee und feine Portion 
Mäuſedreck im Milchtopf gefunden. So verwildert man, ohne 
was dazu zu können! O verflucht! — aber — am meiften ärgert 
einen doch der verfluchte alte Befenbinder, der da eben ging, 
nachdem er feine Sottifen beftellt hatte, ohne daß man ihm dafür 
an die Gurgel konnte, Und das Verdammtefte ift, daß man ihn 
eben fennt und weiß, daß ihm nicht beigufommen ift. An dem ift 
Höflichkeit und alles, was das Gegenteil davon ift, verloren. Im 
Dunkeln möchte man den Hund auf ihn hegen; aber ich glaube, 
felbft die Hunde wagen fich nicht an ihm!“ 


329 


Drittes Kapitel. 


Ve den zutunlich wedelnden Hunden des Berghauſes um⸗ 
geben, ſtand der alte Herr noch einen Augenblick auf dem 
Steintritte vor der Haustür und atmete in vollen Zügen die 
frifche Gebirgsluft. Dazu Tachte er vergnügt in fich hinein, und 
da jeßt zu Efel, Maulefel und zu Fuße ein nicht Heiner Schwarm 
von Touriften fih der Wirtſchaft näherte, jo entfernte er fich 
feinerfeits, das heißt, er fuchte feinen eigenen Weg über die Lands 
ſtraße weg auf einem kaum fichtbaren Fußpfade, der fich durch 
ein Gemwirr von abgemwafchenen Granitblöden ſchräg bergan 309. 
Diefer Pfad erreichte die große Straße nach einer Heinen Stunde, 
freuste fie abermals und flieg in die Täler hinab. Jemand, der 
ihn nicht ganz genau kannte, der hätte ihn bald verloren, und wenn 
er ihn noch fo feft und ficher unter den Füßen zu haben glaubte, 
Dem Juſtizrat Scholten kam er nicht abhanden; doch wurde er 
auf ihm aufgehalten, und zwar durch ein ſchönes Weib und Bild, 
auf welches beides er ftieß, als er wiederum aus dem Tannen, 
dickicht auf die Chauſſee trat. 

Eine Dame hielt allein in der Einſamkeit, auf einem Maul; 
tier, feitab des Weges auf einem Felfenvorfprung, den Blid 
über das zu ihren und ihres Tieres Füßen ſchroff fich fenfende 
MWaldtal in die Weite gegen Nordoften gerichtet: — regungslos, 
die Zügel über den Bug des ruhigen Tieres gelegt, das Kinn mit 
der Hand ſtützend; — eine ftattlihe Figur — Kraft und Schön; 
heit — ſchwarze Haare und ſchwarze Augen und in den Augen 
jenes feltfame Suchen der im Gewühl Einfamen — 

„Ichor!“ murmelte der alte Jurift, „Das freut mich!” Ichor 
aber ift ein griechifches Wort, von den griechifchen Menfchen er; 


339 








funden als Bezeichnung für das Blut, welches ducch die Adern 
ihrer Götter rann, ald ein klarer Saft — „denn nicht koſten fie 
Brot, noch trinken fie funkelnden Weines”. Der Rufer im Streite 
Diomedes entlocdte e8 durch einen Lanzenwurf der Hand Aphro; 
dites, und die Göttin fehrie laut auf und flüchtete weinend; aber 
Dione fänftigte ihr die Schmerzen, und es lächelte fanft 


— — — — der Menfchen und Emwigen Vater, 

Rief und redete fo zu der goldenen Aphrodite: 

Nicht dir wurden verliehn, mein Töchterchen, Werfe des 
Krieges. 

Drdne du lieber hinfort anmutige Werke der Hochzeit. 

Diefe beforgt fehon Ares der Stürmende, und Athenäa. 


Ichor entquoll auch dem fehredlichen Ares, und er fehrie wie 
zehntaufend der fterblichen Menfchen; weshalb jedoch der Juſtiz⸗ 
tat Scholten das Wort jett zu einem Ausruf verwendete, bleibt 
ung fürs erfte dunfel, wir werden e8 aber erfahren und zwar 
nach und nad. 

Der lebte, nach der Straße hin vom Walde ausgeftredte 
Tannenzweig hob dem Alten die Mütze vom Kopfe, 

„Sehorfamer Diener!“ fagte er, nämlich der Juſtizrat; und 
aufdiefes Wort wendete die ſchöne Dame das Geficht von der 
ſchönen Ausficht ab und blidte auf die Störung, doc fie lächelte 
ebenfalls erfreut, als fie den Störenfried erkannte. Scholten 
grüßte, während fie ihr Neittier wendete, trat vafch auf den Gras; 
hang zwifchen den Felfen und reichte ihr die Hand: 

„Auf dem Kreuswege am Blodsberge! natürlih! Guten 
Tag, liebe Barsnin! guten Tag, Fran Salome!” 

„Suten Tag, lieber Scholten,“ fagte die Dame, „Im Grunde 
weiß ich freilich nicht, ob ich Sie fo anreden darf — fo mit 
einem ganz gewöhnlichen Familiennamen, dem Titel Juſtizrat 
und einem: Karl — Heinrich, Auguft, Friedrich oder dergleichen 
dazu. Gie fliehen mir da viel zu eng in Verbindung mit den 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 22d 
331 


Herrfchaften hier unter Ihren Füßen, Hundert Klafter tief in der 
Erde —“ 

„Und fo glauben Sie freundlichft, man habe mich meiner 
Frau Mutter vor fechzig Jahren als Wechfelbalg in die Wiege 
gelegt, und der richtige, ehelich erzeugte junge Scholten — andere; 
halb Fuß hoch — trete im Mondfchein Herenringe in dag grüne 
Gras und vermelfe den Bauern mit einem fo gefegneten Durft die 
Kühe, daß die Butter da unten in den Städten der Ebene um 
fünf Groſchen aufſchlägt. Danke gehorfamft.“ 

Die ſchöne Dame lachte; aber da in diefem Augenblid ein 
Häher fich über ihr in einem Baummipfel niederließ und Hell 
herniederfreifchte, fo benußte der Juſtizrat auch das und diefen 
Vogel noch zu feiner Gegenrede, 

„Darf ich die Herrfchaften miteinander befannt machen,” 
fagte er mit einer Verbeugung und einem Blick nach dem Buchen 
zweig in der Höhe: „Mein Gevatter, Herr Marquart, aus dem 
Gefchleht Korar — Glandarius in der Familie genannt; — 
Frau Baronin Salome von Veitor— Bankierswitwe aus Berlin, 
Millionärin und unzufriedene Weltbürgerin in den Kauf — 
reitet vortrefflich, nimmt fich ausgezeichnet aus zu Maultier 
auf einem Felsvorfprung unter den germanifchen Buchen 
und Tannen, würde jedoch unter den Palmen des Drientg, 
auf einem Dromedar fih —“ 

„Noch viel beffer ausnehmen. Ei, lieber Juſtizrat, Ste waren 
ja nie in Paläftina und können alfo durchaus nichts davon 
wiffen, wenn Ihnen nicht irgendeine Erinnerung an einen Holz 
fchnitt nach irgendeinem Bilde von Horace Vernet im Gedächtnis 
hängen blieb. Aber Sir Mofes Montefisre fah mich auf dem 
Berge Karmel und war in ber Tat entzückt. Ich kann Ihnen nur 
raten —“ 

„Sich in Ihrem deutfchen Philifterbewmußtfein zurechtzufinden 
und gemütlich einzurichten. Liebe Freundin, ich freue mich unend- 
lich, Ihnen begegnet zu fein oder haben: wenn ich jedoch durch 


332 








den fortwährenden Umgang mit mir felber grenzenlos langweilig 
geworden fein follte, fo laffen Sie's nur nicht mich entgelten; — 
fonft aber, wie befinden fich Euer Gnaden?“ 

„Durch den fortwährenden Verkehr mit der Welt durchaus 
nicht verwöhnt, momentan fehr wohl, Beſter Scholten, ich habe 
Sie bereits gefucht, das heißt ich habe die legten Wochen durch 
fort und fort gehofft, Euch fonderlichften der Sterblichen an einer 
Wendung des Weges zu treffen, Nun haben wir hier freilich die 
rechte Stelle getroffen, um ung in der gewohnten Weife zu grüßen 
und die Wahrheit zu fagen oder allerlei Wahrheiten, wie man da 
unten im flachen Lande fi ausdrückt.“ 

Der Juſtizrat war fo nahe als möglich gefreten und hatte dem 
Mauleſel der fohönen Jüdin die Hand auf die Kruppe gelegt: 

„Wird das auch heut abend zu einer Dfengabel oder einem 
Befenftiel?” 

Die Baronin lachte: 

„Ei, Herr, Sie haben e8 ja felber bemerkt, daß wir ung unter 
den germanifchen Buchen; und Tannenbäumen befinden, Was 
habe ich mit euren Mofterien und Mythologien zu fchaffen? Da 
wir zu Haufe feine Öfen hatten, fo fannten wir wahrfcheinlich 
auch feine Dfengabeln, und über die Art der Zimmers und Gaſſen⸗ 
reinigung zu Jerufalem find eure Gelehrten auch noch nicht ganz 
einig. Auf dem Toten Meere tanzten wir leichtfüßig über dem 
Salz, Schwefel: und Afphaltfhaum; bleibt mir gefälligft mit 
eurer Bratäpfels und fingenden Teefeffel-Daämonologie vom 
Leibe, Wie wäre e8 aber, wenn Sie trotz alledem endlich einmal 
wieder eine Taffe Tee bei mir frinfen würden?“ 

Der Juſtizrat fehlen die leßte Frage gänzlich zu überhören. 

„Götterblut!“ murmelte er. „Beim Atemholen des Archi⸗ 
pelagos, ich brauche ihr den Puls nicht zu fühlen! Ichor!“ 

„Was foll dag bedeuten?” rief die Frau Salome. „Sie reden 
mit fich felber! Weshalb reden Sie nicht mit mir? Ihr Umgang 
ſcheint Sie freilich arg verzogen zu haben.” 


22 * 


333 


„am, Sie haben recht, Gnädige. Was beliebten Sie zu 
fagen?” 

„Ich Ind Sie zu einer Taffe Tee ein, mein braver germanifcher 
Waldſpuk.“ 

„Und ich würde die Einladung ſelbſtverſtändlich mit Ver, 
gnügen annehmen, wenn nicht heut abend vielleicht bei mir 
jemand zu Gaſte wäre, den ich nicht gern allein am Tifche figen 
laffen möchte, Wenn Sie aber eine neue Probe deutfchen Spuks 
haben wollen, ſchöne femitifche Zauberin, fo rate ich Ihnen väter; 
lich, mit mir zu reiten und meine Bewirtung anzunehmen. Über 
die legtere follen Sie fich verwundern, und gewiſſen Leuten fann 
man feine angenehmere Gabe bieten, als einen echten und ge; 
rechten Grund zur Verwunderung.” 

Die Baronin Salome lachte erft, ſeufzte aber gleich darauf 
und fagte: 

„Ss ift es.“ 

„Run?“ 

„Iſt vielleicht Freund Schwanewede aus Pilfum unterwegs?” 

„Dem bin ich einen Befuch fehuldig, und Sie desgleichen, Tiebe 
Frau. Ich habe Sie auf einen neuen Spuf eingeladen, Baronin, 
und wiederhole meine Einladung.” 

„Und ich nehme fie an, mein väterlicher Wundermann; die 
Sonne fteht noch ziemlich Hoch, und ich finde nachher auch wohl 
in einer Sternennacht den Weg durch den Wald nach Haufe, 
Levate la tenda! ich bin wirklich neugierig auf das, was Sie mir 
geigen wollen.” 

„Sie und Ihr Tier werden dann und wann vor einer Schneife 
ober einem fonftigen Holzwege nicht zurückſchrecken, und fo reicht 
bie Zeit für alles,” 

„S» denn hinein in das Geheimnis!“ rief die Dame und ließ 
ihren Maulefel auf die Straße zurücktreten. 

Es war ein hübſches Bild, wie die drei jet zufammen fürbaß 
sogen, der Efel, die ſchöne Jüdin und der Juſtizrat Scholten, 


334 








Viertes Kapitel. 


7 aß der Juſtizrat die Gegend genau kannte, wurde bald recht 
deutlich. Er führte, und der Eſel folgte. 

Ihr Weg ging nun eine kurze Strecke auf der Landſtraße hin; 
dann ſchlug der Alte einen Nebenpfad über die baumloſe, mit 
Felfentrümmern überſäte Lehne ein und benutzte einen Wald⸗ 
arbeiterſteig, der ſie in den dunklen Tannenwald niederführte. 
Nun benutzten ſie einen durch den Sommer ausgetrockneten 
Bergbach als Weg und gelangten erſt nach längeren Mühfeligs 
feiten und Befchwerden in eine Schneife, die es dem Juſtizrat 
erlaubte, neben dem Maultier und dem Knie der Frau Salome 
einherzugehen. Sobald ihm das möglich geworden war, geriet er 
mit der Dame in ein Gefpräch, dag felbftverftändlich feinen Anz 
fang aus der landfchaftlichen Umgebung entnahm. 

„Jetzt treibe ich mich num fehon wieder an die fechs Wochen in 
diefen Bergen umher,“ fagte die Baronin. 

„Mund zwar mit dem Gefühl, durchaus nicht da hinein zu 
gehören,” meinte Scholten. 

„Da das über unfere Willkür hinausliegt, halte ich mich nicht 
für verpflichtet, Ihnen eine Antwort zu fuchen. Sonft aber ftehe 
ich mich durchſchnittlich recht gut mit den Höhen und Tiefen, den 
Bäumen und Waffern und allen lebendigen Gefchöpfen, Sie 
eingefchloffen, Scholten.“ 

„Das foll nun feine Antwort fein?“ brummte Scholten und 
fügte erft nach einer geraumen Paufe Hinzu: „Alfo Ener Gnaden 
haben fih den Stimmungen Ihrer Umgebung wieder nach 
Möglichkeit angepaßt?“ 


335 


„Das ift der rechte Ausdrud! Wir paffen uns den Stimz 
mungen deffen, was ung umgibt, an, und ein Gefchäft ift es — 
ein Tun, eine Arbeit, während welcher wir ung mehr Melancholie 
als Behagen aus Sturmwind und Stille, aus Negen und 
Himmelblau, aus Sonne und Schatten fpinnen. Wenn einmal 
das Zünglein der Wage einfteht, dann —“ 

„Run, dann?” 

„Sehen Sie doch die Nafe, die ung der alte Steinfloß dort 
aus dem Gebüfch dreht! Scholten, der Kerl hat eine faft ärger; 
liche Ähnlichkeit mit Ihnen. Nehmen Sie e8 nicht übel, aber Sie 
müſſen mich unbedingt noch einmal hierher führen, Sch muß 
diefen Burfchen zeichnen !“ 

„Das tft nicht der erfte Efel, den ich Ihnen gehalten habe, 
während Sie fich derartigen artiftifchen Verfuchen hingaben,“ 
fagte Scholten; doch die Frau Salome neigte fih aus ihrem 
Neitfattel und rief: ' 

„Glück auf, Großpapa Granit! Nicht wahr, es ift zu lächer⸗ 
lich, zu dumm, daß das närriſche Menfchenvolf hierher kommt 
und meint, du follteft dich feinen Grillen bequemen und deine 
Stimmung der feinigen anpaffen? Hat er genidt, lieber Freund?“ 

Der Alte lächelte: 

„Wohl möglich. Sie haben wohl ſchon ehedem die Steine 
zum Niden gebracht.” 

Nun lachte die ſchöne Frau: 

„Wahrlich! In den Tagen, da ung das noch Spaß machte!” 
Doch da der Hochwald um fie her augenblicklich fehr dicht und 
dunkel wurde, fo ſchien fie fich ebenfo augenblidlich der Stimmung, 
die er verlangte, zu fügen und, zu ihrem Begleiter fich niederz 
beugend und die Hand auf feine Schulter legend, fagte fie: 

„Mein Freund, nidendes Geftein droht mit Einſturz. Unfere 
eigenen Wälle brechen über ung zufammen. Und manchmal wird 
man lebendig von ihnen begraben, Führt Ihr Weg nicht bald 
wieder in die Sonne?” 


336 








„Rum fo nach und nach,” fagte der Juſtizrat verdrießlich. 
„Ubrigens reicht die Beleuchtung wohl noch hin, daß Sie fi 
meine Phyſiognomie dabei betrachten fünnen. Sagen Sie, Sie 
närrifche Judenmadam, fehe ich fo aus, als ob ich mir durch fenti; 
mentalskläglihe Nedensarten die Laune verderben ließe? Da 
müffen Sie doch fich einen anderen Jeremias fuchen und fich mit 
ihm auf die Trümmer von Serufcholajim ſetzen. Ich habe beide 
Rechte findiert und dies und das noch dazu, bin dreimal meiner 
eraften Lebensphilofophie halber relegiert worden und nachher 
nur aus Gnaden zum Eramen zugelaffen. Sp ziemlich ift mir 
alles durch die Taten gegangen, vom Brotdieb aus Hunger, 
Elend und zu ſtarker Familie bis zum Brandftifter und Mörder 
aus purem Vergnügen. Vom eintägigen Gefängnis wegen Feld; 
arbeit am heiligen Sonntage bis zum Tod durchs Schwert oder 
Beil wegen fechsfachen Familienmordes weiß ich Befcheid in 
den Zuftänden der Menfchenwelt. Eine hebräifche Millionärin 
und dazu hübfche und gefunde junge Witwe und zwar aus 
Berlin, die ihre Villeggiatur hier in der Gegend in einer eigenen 
Billa hält, muß fich mir auf eine andere Weife zu den Akten 
geben, ehe ich ihre und ihrem ſonor⸗melancholiſch verfchleierten 
Stimmorgan glaube, daß fie ſich über ihr Dafein zu beflagen hat. 
Daß fie fich dann und wann über die frummmafige Verwandt; 
ſchaft und über die liebe Bekanntfchaft unter den chriftlichzger; 
manifch aufgeftülpten Arier⸗Riechern zu ärgern hat, will ich ihr 
wohl glauben. Zu weiteren Konzeffionen laſſe ich mich aber nicht 
herbei.” 

„Sie find doch ein furchtbarer Grobian, Scholten!” rief die 
fhöne Frau. 

„Unter Umftänden — ja!” brummte der Alte und fügte un, 
verftändlich zwifchen den Zähnen hinzu: „Immer aber da, wo ich 
nicht nur Menfchenfleifch rieche, fondern auch Jchor wittere und 
man mir dann mit Flaufen kommt.“ 

„Da tft die Sonne wieder,“ rief die Frau Salome, „und jest, 


337 


Scholten, bitte ih Sie freundlich, ein ander Geficht zu ziehen. 
Im Grunde ift e8 doch nur eine komiſche Nachahmung und 
erreicht das Urbild Tange nicht. Ich mache Sie da eben harmlos 
auf eine Felfenfrage zwifchen den Tannen aufmerffam, und fofort 
fallen Sie ins Genre untergeordneter Talente und ziehen fie nach. 
Was fehe ich an Ihrem Geficht, was mir — unter Umſtänden — 
mein Spiegel nicht grimmiger zeigt? Was murmelten Sie da 
von: Schor?! Da kommt ein Iuftiger Strahl zwifchen den alten 
Stämmen durch, und wenn Sie höflich Abbitte leiften wollen, 
ziehe ich den Handfehuh ab und halte meine Hand in das Licht. 
Über die Hand hat man mir dann und wann Komplimente gefagt, 
aber noch nie über das Blut, das in ihr fließt. Sehen Sie das 
Götterfener? da flammt es zwifchen Aufgang und Niedergang 
und wird gwifchen Okzident und Orient fluten, ob ich mich dann 
und wann langweile oder nicht. Was haben Sie noch zu fagen, 
befter Juſtizrat?“ 

„Daß Euer Gnaden eine Hand zum Küffen haben!“ 

„Blaufen!” fagte die ſchöne Jüdin boshaft Tächelnd, das 
Wort von vorhin wieder anwendend, und der Alte lachte und 
ftieß mit feinem Stod auf den Boden und rief: 

„Was für ein Ohr Eure Leute haben! Nun denn, bei den 
Göttern des Aufgangs und des Niedergangs, bei dem hohen 
Liede von der Attraktion im Weltall, bei den roten Kügelchen in 
den Adern von Menfch und Tier; wenn du vor mir ſtirbſt, 
Menfchenkind, will ich mich über deinem Hügel auf den Schild 
lehnen und fprechen:: Das war mal ein braves, ordentliches 
Weib! Mit dem Worte ‚außerordentlich‘ wird ein zu großer 
Mißbrauch getrieben, als daß ein Freund dem andern e8 in die 
Grube mitgeben könnte.” 

„Da ift meine Hand, mein Freund; wenngleich nicht zum 
Küffen, Wie weit haben wir noch big zu Ihrer Höhle?“ 

„Eine Pfeife Tabak, eine gute Harsftunde, zwei und einen 
halben Hundeblaff weit. Gehen Sie nur immer meinen Eier; 


338 








fchalen nach, in einer Stunde find Sie am Drt, fagte mir einmal 
ein fauender Iandeseingeborener geiftlicher Herr, den ich nach dem 
Wege fragte, und feine Eierfchalen brachten mich richtig nad) 
einem Gewaltmarfch von ein und einer halben Stunde an Ort 
und Stelle.” 

„Ein recht ordentlicher Appetit!” 

„Nun, den können Sie dreift außerordentlich nennen, Baronin. 
Mir aber ift die gute Verdauung eines andern nie von folchem 
Nutzen gewefen als in jenem Falle. Aber beiläufig, zum Henker, 
was ift denn überhaupt unfer Sein, Wefen und Treiben anders 
als ein DenzEierfchalenszanderer-Nachgehen?“ 

„Sagte das Merlin aus der Tiefe von Brogeliand, oder 
Juſtizrat Schalten von der Höhe feines Bureauftuhls aus?“ 

„Ichor!“ murmelte Juſtizrat Scholten, und fo zogen fie weiter, 
wirklich wohl noch eine gute Stunde, durch Licht und Schatten, 
auf gebahnten Wegen und auf ungebahnten, bis ein mit gelben 
Zannennadeln bededter Pfad, den nur hier und da die Wilds 
fchweine zerwühlt hatten, fie aus dem Hochwalde heraus und zu 
ihrem Ziel brachte. Vor ihnen, über eine Gebirgsebene weit 
ausgeftreut, lag ein graues Dorf in der Spätnachmittagsfonne, 
und trotz der Sonne fraf die Wanderer ein Fühler, ja kalter Luft; 
ſtrom, vor welchem wie vor dem plößlichen Blick in den gegen die 
weftlichen Berge finfenden Feuerball die Neiterin unwillkürlich 
die Zügel ihres Tieres anzog. 

„Welch ein merfwürdiger Wechfel der Temperatur!” rief fie, 
und fie fand zu der meteorologifchen Bemerkung ein Dichterzitat. 


„Ein Windftoß fuhr aus dem befränten Grunde, 
Und e8 erbligte purpurrotes Licht,“ 


murmelte fie, und der Juſtizrat, auf die fehindelgededten Häufer 
und Hütten deutend, brachte die Terzine und den dritten Gefang 
der Hölle mit einem gemwiffen mürrifchen Nachdrud zu Ende. 


339 


„Hinſank ich ohne meines Dafeins Kunde, 
Wie unter eines ſchweren Schlafs Gewicht,“ 


sitierte er und fügte feinerfeits hinzu: „Es haben ſchon mehr 
Leute ausfindig gemacht, daß e8 hier gewöhnlich ziemlich fühl 
weht. Das ift nervenftärkend, Baron.nz und was den Schlaf 
anbetrifft, jo habe ich feinetwegen hier Quartier genommen, 
Er hat fich niemals im Leben zu fohwer auf mich gelegt; — auf 
meines Dafeinsd Kunde aber verzichte ich dann und wann mit 
dem größten Vergnügen.” 

„Am fo weniger finde ich’ es paffend und berechtigt, daß Sie 
mich vorhin fo geimmig anfuhren und von Ihrer Amtserfahrung 
und Keiminalgefeßbuchmweisheit aus lächerlich machten.“ 

„Wenn wir demmächft einmal wieder eine Partie Billard zu; 
fammen fpielen, wollen wie die Kontroverfe fortfegen, Frau 
Salome, Wenn wir ung jeßt nicht beeilen, wird wahrfcheinlicher; 
weife mein Beſuch des Wartens überdrüffig werden und heim; 
gehen, ohne eine Viſitenkarte zurückzulaſſen.“ 

Er ergriff von neuem den Zügel des Maultiers und führte e8 
von dem Waldpfade auf den fleinigen Dorfweg und dem Dorfe zu, 

Die ſchöne Frau lachte und fagte: 

„Ss feid ihr!” 

„Ja, 19 find wir!” brummte Scholten. „Als ob noch jemand 
nötig hätte, mir das zu fagen?!“ 


340 








Fünftes Kapitel. 


We unter eines ſchweren Schlafes Macht lag trotz der Tages⸗ 
helle das Dorf da. Was die drei anging, ſo war der Eſel der 
gleichmütigſte unter ihnen; aber auch er hatte ſich mit ſeinem 
Verdruß abzufinden. Es wuchſen ausgezeichnete Difteln farben; 
prächtig zwiſchen dem Geftein bis in den Weg; man wußte ihren 
Zudergehalt wohl zu tarieren, aber der zweibeinige Narr mit dem 
dicken Prügel und dem ewigen widerlichen, unverftändlichen Men, 
fehengefchnatter zog nicht am Zügel, fondern er riß an ihm, und 
die dumm⸗unverſchämte Kreatur, die man den lieben langen Tag 
auf dem Rüden gehabt hatte, hätte einem freilich durch ihren 
Anblid den Genuß an der vollftien Krippe verleiden können. 

„Bas tft Talent für Lebensbehagen?” murmelte in dem 
Augenblick der Juſtizrat Scholten. „Nichts als die Gabe, aus 
dem Dualm etwas zu machen, der von dem Feuer der Leiden; 
fchaften in der Luft wirbelt!” 

Die Frau Salome aber fah mit ihren orientalifchen Augen 
auf das ftumme Dorf. 

Kein Kindergefcehrei — Fein Gänſegeſchnatter — fein fröh⸗ 
liches Singen der Feldarbeiter! Viel Gebüfch, doch wenige Obft; 
bäume um die Schindelhäufer. Eine graue Steinfirche abfeits 
auf einem Hügel zwifchen den Gräbern des Dorfes; das hohe 
Gebirge feitwärts über den Wäldern und nach der andern Rich; 
tung hin, über die Dächer, das Gebüfch und die mageren Felder 
hinaus, die ferne blaue Ebene! 

„Es ift ein einfilbiges Volk, das hier hauſt,“ fagte Scholten. 
„zum größten Teil befindet e8 fich gegenwärtig fogar unter der 
Erde; drei Viertel der männlichen Bevölkerung treiben Bergbau, 


341 


und das legte Viertel mit den Weibern befindet fich im Walde 
oder auf den Adern. Sie haben kurz anzubeißen, das fehen Sie 
fchon den Kindergefichtern an. Manchmal paffieren da Gefchichten, 
die das Gepräge eines ganz andern Säkulums fragen. Sie fioßen 
auf Worte, Ausdrüde, Anfichten, die ganz fonderbar nach der 
Wüſtenei des fiebzehnten Jahrhunderts riechen, kurz, einen idylli⸗ 
ſchern Sommeraufenthalt für einen alten Juriſten werden Gie 
fich ſchwerlich vorftellen können, liebe Baronin, Außerdem habe 
ich aber natürlich auch da8 Vergnügen, der einzige Gaft der guten 
Leute zu fein, — ein nicht zu unterfchägender Vorzug. Sagten 
Sie etwas?” 

„Mein. Aber e8 wäre mir lieb, wenn wir nun bald Philemons 
Hüttchen und Strohdach zu Geficht befämen. Sie fehildern fo 
verlodend, daß man faft Luft hat, jet — zwanzig Schritte vor 
dem riegellofen Pförtchen umzudrehen und im Galopp feinen 
Hals in Sicherheit zu bringen.” 

„Nun, nun, das Neft liegt troß allem mit allem übrigen 
rundum im neunzehnten Jahrhundert. Vorwärts, Signor 
Mulo!“ 

Sie kreuzten einen haſtigen Bach und gelangten nun zwiſchen 
die Zäune und Häuſer. Da fuhren wohl einige ob der Reiterin 
verwunderte Geſichter an die Fenſter, drei oder vier eilige Frauen 
liefen gaffend in die Haustüren, und die Kinder rannten in den 
Weg und fcheu zurück; aber das Dorf behielt deffenungeachtet den 
Yusdeud des Abgeftorbenfeind. Nur ein Mann begegnete dem 
Juſtizrat und der Frau Salome und grüßte den Alten ziemlich 
höflich, 

Hügelauf und hügelab zogen fich die Dorfgaffen, wenn man 
die Wege zwiſchen den regellos verftreuten Wohnungen fo nennen 
wollte; und der Kirche zu, gegen die Berge hin, zwifchen Gebüfch 
verftedt, lag die Behauſung Scholtens; fo nahe der Kirche, daß 
der kurioſe Nechtsgelehrte in windftillen Nächten wahrfcheinlich 
das Geräufch der Unruhe im Turm vernehmen konnte, 


342 





Bor einer Lüde in der lebendigen Hede, die eine Tür vor; 
ftellen konnte, Tieß der Juſtizrat den Zügel des Efels frei und zog 
die Mübe ab, indem er fich verneigte wie ein Senefchall oder 
Kaftellan auf dem Theater oder aus einer zierlich-höflicheren 
Zeit. 

„Euer Gnaden find angelangt,” fprach er und war feiner Be; 
gleiterin beim Abfteigen in einer Weiſe behülflich, die klar dar; 
legte, daß er nicht zum erften Mal einer Dame vom Roß oder 
Efel half. 

„Unſere Gnaden danken Euch freundlichft,” fagte die Baronin 
lächelnd. „Die fnieenden Pagen, den Salut vom Donjon, den 
üblihen Bewillfommmungsfcher; des budligen Burgzwergs 
erlaffen wir unferm edlen Gaftfreund. Sie haufen in der Tat 
recht heimlich, Tieber Scholten,” 

„Und Sie haben wie gewöhnlich das richtige Wort für die 
Sache gefunden, liebe Frau Salome. Nie oder felten hat ein 
alter, abgefeimter juriſtiſcher Fuchs fich fo heimlich ins Grüne 
verzogen wie ich hier. Sehen Sie da, zur Linken und Rechten die 
Küfterei und Pfarrei. Da habe ich meine zwei lieben Dorffreunde 
dicht zur Hand. Und der Schatten des Kirchendaches fällt auf 
mein Dach, wenn die Sonne danach fteht; aber dag Gemütlichfte 
ift doch der ftille Dorffriedhof, auf welchem ich ſtets, der geſchützten 
Lage wegen, meine Morgenpfeife rauche, Wenn die Witterung 
e8 irgend erlaubt, wandle ich in Schlafrod und Pantoffeln unter 
den Gräbern, Blumen, Kränzen und Kreuzen als ein Poet und 
Philoſoph und notiere nichts — als eben die Witterung in 
meinem Terminkalender —“ 

„And bringe e8 doch nicht dahin, von der närrifchen Juden; 
madam Salome Beitor für den Verzwidteften der Sterblichen 
gehalten zu werden. Wir haben unter ung Charaktere, denen Sie 
längft nicht das Waffer reichen, befter Juſtizrat. Geben Sie fich 
alfo weiter feine Mühe.” 

„89 laffen wir nun den Afinus?“ fragte Scholten, mit dem 


343 


Zügel des Tieres in der Hand fich umfchauend, und die Baronin 
lachte darauf fo herzlich, daß der Alte beinahe nunmehr zum 
erften Mal an diefem Tage die Faffung und Haltung verloren 
hätte, 

„zum Kuckuck!“ brummte er und fand zu feinem Glück einen 
Aſt, um welchen er den Riemen fihlang. „Tretet ein, Gnädige,” 
fagte er, „und nehmt die Gewißheit mit über die Schwelle, daß 
hr willkommen feid. Hätte ich viele Euresgleichen unter. euch 
und ung gefunden, fo — würde ich mich wahrfcheinlich nicht 
mit meinen Befuchen bei Ihnen begnügt haben, liebe Freundin.” 

Die ſchöne Frau verneigte fich, den Saum ihrer Kleider zus 
fammentaffend, und frat über den Steintritt. In demfelben 
Moment erfchien ein altes, verwittertes Harzweib auf der Schwelle 
des Haufes, und der Juſtizrat ftellte vor: 

„Meine Hausmwirtin, Witwe Bebenroth, vor fünfzig Jahren 
ein recht niedliches Kind, um dag mehr denn ein Jüngling mit 
biutigem Kopf nach Haufe kam; jetzt eine ganz brave Frau, die 
nur dann und warn ihre Mundwerk ein wenig im Zaume zu 
halten hat.” 

„O Here Juſtizrat!“ rief die Alte, 

„Nun, nun, Frau Baronin; wir wollen mit niemand zu 
ftrenge ing Gericht gehen. Sie hatte e8 für ihren Charakter viel; 
leicht zu bequem mit dem Friedhof da vor ihrer Tür, Zwei 
Männer hat fie zu Tode geärgert und zwar nur, weil fie fie nur 
über den Zaun zu fehieben brauchte, um das Haus rein und ruhig 
zu machen.” 

„D du gütiger Himmel, nun höre ihn wieder einer!” Freifchte 
bie Alte. „Ach, Madam, konnte ich denn für die Ruhr bei meinem 
Zweiten? Und konnte ich dafür, daß mein Letter fih im Stein, 
bruch nicht mit der Sprengpatrone in acht nahm?! D Madame, 
glauben Sie nur niemalen, was der Herr Juſtizrat fo hinfagen; 
auf dreimal machen Sie zweimal Ihren Spaß mit einem. Was 
meinen Erften angeht, fo hat mich der von Anfang an fo ſchlimm 


344 











fraftiert, daß e8 Fein Wunder geweſen ift, wenn ich mich gegen ihn 
gewehrt habe, wie ich konnte.“ 

„Herrgott, von dem Erften hab’ ich ja noch gar nichts ges 
wußt!“ rief Scholten verblüfft. „Alſo find e8 gar drei geweſen? 
Und jeßt komme ich fchon ſechs Sommer hintereinander hier in die 
Einöde und gehe jeden Morgen da im Dorfarchive fpazieren, und 
fie Hat e8 doch möglich gemacht, mir einen — ihren Erften gar, 
zu verheimlichen. D Witwe Bebenroth, o Weiber, Weiber, 
Weiber !” 

„Der Meifter Kafties kann ihn felber nicht mehr finden,“ fagte 
die Alte, Heinlaut befhönigend, und mit zum Himmel gerichteten 
Augen wendete fich der Zuftigrat an die Frau Salome und ächzte: 

„Nun bitt’ ich Sie; diefer Meifter Kafties ift der Archivar 
des Drtes, das heißt der Totengräber, und gut feine achtzig Jahre 
alt. Er ift mein guter Freund und behauptet, jedes Negal und 
Fach in feinem Repofitsrio genau zu fennen nah Datum und 
Inhalt. Das nennt man nun Hiftorie; und fo geht man mit den 
wichtigften Dokumenten der Erde um!“ 

„SG ginge in Ihrer Stelle jegt in Ihre Stube, Herr Juſtiz⸗ 
tat,“ fagte die Alte verdroffen. „Das Kind ift eingefchlafen, und 
wenn e8 mir nicht gefagt hätte, daß es auf Sie warten müffe, 
und daß Sie e8 eingeladen hätten, fo würde ich ihm wohl eine 
andere Schlafftelle angewiefen haben.“ 

„Huf Eure Gefahr!” rief Scholten. „Kommen Sie, Baronin. 
Sie ziehen mir auch eine verzwickte Miene. Iſt Ihnen die Witwe 
zu ſchwer auf die Seele gefallen?“ 

Die Frau Salome fchüttelte fih ein wenig, folgte dann der 
einladenden Handbewegung und trat über die Schwelle der Stube 
des Juſtizrats. Der Kudud der Uhr im Winkel rief gerade in 
diefem Augenblick fechsmal. 

Es war eine gewöhnliche Bauernftube, jedoch kahler und 
geräteleerer, als man fie fonft zu finden pflegt. Der jegige Be; 
wohner hatte für feinen Aufenthalt alles, was ihm im Wege 


345 


ftand, und deffen war nicht wenig, hinausfchaffen laffen. Nur 
die Uhr, der lange, maffive Tifch, die in der Wand befeftigte Bank, 
der Dfen und einige dreibeinige Holyftühle mit herzförmigen Aug; 
fägungen in den Rüdlehnen hatten Gnade vor feinen Augen 
gefunden. Ebenfo ein Wandfchranf und am Fenfter eines jener 
befaunten untrüglihen Wetterhäuschen, aus deffen Tür bei 
angenehmer Witterung der Mann, bei Negen aber die Frau tritt, 
und in welchem eine Darmfaite das bewegende Prinzip fpielt. 
Eine alte — die erfte Genfer Ausgabe der Pièces fugitives von 
Mr. de Voltaire lag in der einen Fenfterbanf, ein bleiernes 
Dintenfaß mit einem Gänfefederftumpf fand in der andern. 
In einer Ede fiand ein halb Dusend langer Pfeifen und ein 
Refervefnotenftod. An einem Nagel hinter der Tür hing die 
Garderobe des Juſtizrats Scholten, und eine zweite Tür führte 
in eine Kammer, in welche einen Blick zu werfen wir ung nicht 
erlauben werden. Wir haben noch ein anderes zu betrachten, was 
auch die Baronin Salome raſch und nicht ohne Intereſſe ing 
Auge faßte, und auf welches ung die Witwe Bebenroth bereits 
aufmerffam gemacht hat. 

Auf der Bank hinter dem Tifche faß oder lag vielmehr ein 
junges Mädchen, dem Anfchein nach ein Kind von zwölf Jahren, 
und fchlief. Bon dem Gefichte fah man nichts; die Kleine hatte 
es auf die Arme gelegt und fehlief mit der Nafe auf dem Tifche, 
Das Haar aber, deffen eine Flechte fich gelöft hatte, überftrömte 
in merfwäürdigfter gelbweißer Fülle die Arme und den Tifch, und 
diefer Beſuch fchien fehr müde zu fein und lange nicht gefchlafen 
zu haben: der Eintritt des Juſtizrats mit feiner ſchönen Freundin 
erweckte ihn nicht. 

„Ih würde Ihnen die Bank anbieten, Gnädige,” fagte der 
augenblidliche Herr der vier Wände, „aber Sie fehen, es läßt fich 
nicht tun, Nehmen Sie Pas, ich freue mich fehr, Sie endlich 
einmal hier zu haben,” 

Er fchob der Baronin einen der breibeinigen Stühle mit einem 


346 


der Herzen in der Lehne hin und holte fich gleichfalls einen. Doc 
ehe er fich feßte, ging er zu dem offenen Wandfchranf, holte ein 
weißes Brot nebft einer mit Salz gefüllten Glasfchale, fowie ei 
Meſſer auf einem irdenen Teller mit dem Spruche: Und fie aßeü 
alle und wurden ſatt. Ev. Matthäi 14, 20. — Damit fam er ver; 
gnügt zurüd an den Tifh und meinte: 

„Es ift eine Gefälligfeit von Euch, Gaftfreundin, aber Ihr tut 
mir wirklich einen Gefallen, wenn Ihr jeßo zum erfien Mal 
Sal und Brot unter meinem Dache eßt.“ 


„Mund einen Trunk der frifchen Welle, 
Der nie das Blut gefehwinder treibt, 


Gaftfreund,“ bat die jüdifche Edelfrau, worauf Juſtizrat Scholten 
feine Witwe Bebenroth mit einem Kruge zum Brunnen fchidte 
und brummte: 

„Mit der Refervatio, daß Sie mir damit nicht fommen, wenn 
ih Ihnen meinen Gegenbefuch abftatte.“ 

Die Schläferin am Tifche regte ſich während diefes IZwieges 
fpräches, doch fie erwachte nicht, fie legte ihren Kopf nur ein wenig 
bequemer zwifchen ihre Arme. 

„Wen haben Sie denn da, Scholten?” fragte die Baronin. 
„Welch ein merfwürdiges Haar die Kleine hat!“ 

„Die Sonne Judäas hat freilich nichts mit diefem Flachsfelde 
zu fchaffen. ’8 ift die Tochter Dueriang, den Sie auch nicht kennen, 
Frau Salome, Ihren Taufnamen habe ich ihr aus der Tiefe 
meiner germaniftifchen Gefchichtsftudien aufgefifcht und ange 
hängt. Eilife heißt das Kind — Eilife Auerian. Ein ganz vor; 
frefflicher Name, Eilife, den ich aber dem Paftor vor dem Taufakt 
in den Büchern altfächfifcher Chronik und Legende aufzufchlagen 
hatte, ehe ich ihm denfelben mundgerecht machte.” 

„And wer ift Duerian?“ 

„Som,“ antwortete der Juſtizrat, „das mögen Sie fich von 
feiner Tochter erzählen laſſen. Vierzehn Jahre ift’S her, feit ich 


WB. Raabe, Sämtliche Werte. Serie II. 23d 
347 


fie in der Marktkirche zu Hannover aus der Taufe hob und fie 
auf den Markt des Lebens brachte, Sie ift ein recht gefcheites 
Ding in den Jahren geworden und weiß ziemlich genau Befcheid in 
den Umftänden ihres Papas.“ 

„Und Duerian wohnt hier im Dorfe?“ 

„So tft e8. Und er wohnt hier nicht bloß als ein flüchtig 
vorüberziehender Sommergaft. Er hat ſich anfäffig hier gemacht, o, 
er fit hier fehr fett. Nun, wenn Ste Glück haben, werden Sie 
ja auch wohl feine perfönliche Bekanntfchaft machen; ich erlaube 
mir jedoch, Sie von vornherein darauf aufmerffam zu machen, 
daß der Verkehr mit ihm einige Behutſamkeit erfordert.” 

„Meine Neugier —“ 

„Nach dem Wörterbuch ein heftiges Verlangen, etwas Uns 
befanntes kennen zu lernen oder zu erfahren; dag aber, wie ich 
dann und wann erfahren habe, nach feiner Befriedigung in fein 
Gegenteil umfchlägt. Eilike!“ 

Er hatte bei dem legten Worte feinem ſchlafenden Gafte die 
Hand auf die Schulter gelegt, und die Kleine erwachte. Sie fuhr 
aber nicht raſch und erfchredt in die Höhe, fondern fie richtete 
fih langfam und träge empor und ftrich gähnend mit beiden Hans 
den bie Haare zurück. Da ihr die Frau Salome gerade gegen, 
überfaß, fah fie auch auf die ſchöne Baronin, Sie ftiette fie an 
aus hellen, blauen Augen, und e8 war etwas in dem Blicke, was 
die Frau Salome zu dem fiummen Ausrufe bewog: 

„Mein Gott, das arme Gefchöpf ift blödſinnig!“ 


348 





Sechstes Kapitel. 


„Siiſes wohl nicht; freilich aber ein wenig in Hinficht auf 
geiftige wie körperliche Erziehung vernachläffigt,“ fagte der 
Juſtizrat, als ob er mit feinen leiblichen Ohren gehört habe, 
was die Baronin in der Tiefe ihrer Seele gerufen hatte. „Blödz - 
finnig ift fie nicht, fie fieht nur dann und wann fo aus,“ 

„Daß der Umgang mit Ihnen ein wenig mehr als bloße Be; 
hutſamkeit erfordert, weiß ich, es ift nicht mehr nötig, daß Sie 
mir diefes immer von neuem deutlich machen, Scholten. Guten 
Abend, mein Kind; wirft dur mir erzählen, was dir eben träumte?“ 

Die Kleine machte nur die größten und verwundertften 
Augen; wie eine Erfoheinung aus einer anderen Welt ftarrte fie 
die fhöne Dame an, antwortete aber nicht. 

„Guten Abend, Eilife,“ fagte der Juſtizrat. „Gut gefchlafen? 
Eigentlich follte man die einen guten Morgen wünſchen.“ 

Jetzt ging ein Lachen über die Züge des Mädchens, während 
e8 fich mit den Knöcheln beider Hände die Yugen rieb und von 
neuem herzhaft gähnte. 

„Wie viele Haft du heute ſchon verfehlungen?“ brummte 
Scholten, und jeßt zeigte e8 fich, daß das Ding doch auch zu reden 
wußte, 

„O, noch niemand, Herr Pate, Wir haben auch gar nicht zu 
Mittag gekocht. Der Vater hatte feine Zeit, und ich habe ihm 
geholfen. Jetzt fchläft er, und ich bin Hier und Habe auch gefchlafen. 
Es ift wohl der heiße Tag geweſen, und unterwegs hatte mir der 
liebe Gott noch einen Botengang linfsab gefchict. Das hat mich 


er * 


wohl noch fehwindeliger gemacht; da bin ich hier in der Kühle 
eingefchlafen, ohne daß ich weiß, wie es zugegangen iſt. D, 
nehmen Sie es nur nicht übel!” 

„Im Brotfhranfe war ein halbes gebratenes Huhn — delikat! 
— und ein Topf mit Pflaumen in Zucker?!“ fagte oder fragte der 
Juſtizrat, wie verftohlen mit diefer Bemerkung fich feitwärts an; 
ſchleichend. 

„O, ich weiß, Herr Pate! Ich ſtand auf den Zehen; aber fie 
hat mich am Zopf umgedreht, und da habe ich hier auf der Bank 
gewartet und bin eingefchlafen.“ 

Die Yugen der Kleinen leuchteten bei dem neuen Blick auf den 
Wandſchrank; aber die Augen des Juſtizrats Scholten Teuchteten 
gleichfalls bei einem Blick in denfelben. Mit einem Sprunge war 
er vor der Stubentür, und fofort erhub fich in der Tiefe des 
Hauſes — wahrfcheinlich in der Küche — ein Lärm, der die ftillen 
Schläfer an der Kirche unter den Kreuzen und grünen Hügeln 
hätte aufweden können. Der gemütliche alte juriftifche Sommer; 
gaſt der Witwe Bebenroth ſchien toll geworden zu fein. Er fehrie, 
er brüllte — Pfannen und Töpfe raffelten — dazwiſchen zeterte 
und heulte die Witwe; die Frau Baronin Salome von Veitor 
aber ſchob der Eilife dem irdenen Teller mit dem Brot zu und 
fagte: 

„Du wirft für jegt wohl damit fürlieb nehmen müffen, mein 
armes Kind.” 

„O!“ rief Eilite Auerian, griff mit beiden Händen gierig zu, 
riß ganze Stüde mit den blendend weißen, feharfen Zähnen ab 
und erfticte faft im Kauen und Schlingen. 

Der Unblid war folcher Art, daß die Frau Salome, die Hände 
faltend, murmelte: 

„Wer konnte darauf achten? Ich hab's nicht gefehen; aber ich 
hoffe, er hat feinen Spazierfnittel mit in die Küche genommen 
und macht Gebrauch davon. Ich hoffe zu Gott, daß er das Weib 
durchprügelt !” 


350 


Keuchend, mit dem hellen Wurfchweiß auf der Stirn, trat 
Scholten wieder ein, 

„Das Kind habe alles gefreffen, behauptet der Unhold und 
will darauf einen felbftverftändlich falfchen Eid ſchwören,“ fagte 
er grinfend. „Eilite —“ 

Das Kind hatte fich bereits erhoben. Es ftand in einer feltz 
fam pathetifchen Stellung. Die linfe Hand hatte e8 auf die Bruft 
gelegt, die rechte erhob es, redte die Schwurfinger auf und fagte 
mit wunderlich feierlihem Tone: 

„Der barmherzige Herr und Schöpfer vom Himmel und der 
Erde ift mein Zeuge. Sch habe e8 nicht getan.“ 

Die Frau Salome fah von dem jungen Mädchen auf den 
Juſtizrat: 

„Scholten, ich bitte Sie?! Was iſt das, Scholten?“ 

„Eilike Querian. Querians Tochter, wie ich Ihnen ſagte. 
Mein Patchen aus der Marktkirche zu Hannover, wie ich Ihnen 
bemerkte, Ach habe die Perfon nach dem Wirtshaufe gefchidt. 
Nicht wahr, Eilife, wir find mit jeglichem Tafelabhub zu; 
frieden?” 

Das Kind lachte, Es kaute weiter, fehlen den Heren Paten 
wenig zu verftehen und ſchien vor allen Dingen mit allem zus 
frieden zu fein, was ihm zwifchen die gefunden, glänzenden Zähne 
kam. — Die Witwe Bebenroth fam mit einem leeren Korbe 
zurück, trat paßig in die Stube, fehlug die Arme unter und fagte 
grimmig, verdroffen und voll Höhnifchen Triumphes: 

„Nichts! Alles ratzenkahl — der legte Knochen für die Hunde, 
Sapperment, ift das ein Umſtand!“ 

„Sapperment,“ brummte der Juſtizrat. „Weib, ich hätte 
Luft, dir einen Kriminalprozeß auf den Hals zu hängen!“ 

Da feßte die Witwe ihren Korb nieder und verzog den Mund 
zu einem neuen Geheul: 

„O, Herr Rat, ich habe noch einen Schinken im Rauch. Mein 
legter Seliger ift diefes fein letztes Frühjahr durch mit langer 


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Zunge drum herumgegangen, und ich habe ihn leider Gottes 
mehr als einmal von der Leiter heruntergesogen und ihm das 
Meffer aus den Händen geriffen. Ach Gott, ach Gott, hätte ich 
gewußt, daß dies fein letztes Frühjahr fein follte, fo Hätte ich ihn 
gut und gern mit feiner Gier dran gelaffen. Ein Drache bin ich 
nicht, fondern nur eine arme, elende Witfrau, Herr Juſtizrar, und 
das wiffen Sie feit fech8 Jahren am beften.“ 

„Herunter mit dem Schinken! Her mit ihm!” rief Scholten; 
doch fein Feiner Gaft fand auf, knixte höflich und fagte: 

„Ich bin ganz fatt, Herr Pate; ich danke auch ſchön.“ 

„Sapperment,” wiederholte Schalten, und die Witwe Beben; 
roth murmelte etwas von einer „diebifchen, gefräßigen Kröte“ 
und verfchwand, auch diesmal ihren Schinfen noch rettend. 

„Ste hat das Huhn doch fich felber genommen,” flüfterte Eilike 
Querian, und dann trug fie Teller und Brot und Meffer ein 
jegliches an feinen Platz und wifchte den Tifch ab mit einem Fleder; 
wifeh, den fie vom Nagel hinter dem Dfen holte; brachte auch 
den Gänfeflügel wieder an feinen Ort, kam zurüd an den Tiſch 
und auf ihre Bank und hub nun an, bitterlich zu weinen, Die 
Tränenflut kam fo überrafchend für die Frau Salome, daß fie 
beinahe erfchraf und jedenfalls ihren Stuhl höchſt verdutzt zurück⸗ 
fchob. Der Juſtizrat, mit den Zuftänden feines kleinen Gaftes 
befannt, zog nur ganz unmerklich die firuppigen grauen Augen; 
brauen zufammen, fchob die Brille auf die Stirn und fragte: 

„Alſo es iſt einmal wieder gar nicht auszuhalten zu Haufe, 
mein Mädchen?” 

„Ich bin aus dem Fenfter geftiegen, Es ift böfe von mir; 
aber er hat e8 gottlob nicht gemerkt. Ich meine, ich könnte fterben, 
ohne daß er es merkte. Er hat mich wieder nadt abgebildet, daß 
ich mich vor mir felber fürchte —“ 

„Gr ift verrüct; und wenn wir ſechsmal aus einem Nefte find, 
meine Geduld mit ihm ift zu Ende!“ rief der Juſtizrat, die Fauſt 
fehwer auf die Tifchplatte fallen laffend. „Es ift unverantwort, 


352 





lich, daß ich ihm nicht ſchon längſt die Tür habe aufbrechen laſſen; 
aber e8 foll heute abend — jet gleich — noch gefchehen. Er foll 
hervor! Einen andern Herbft und Winter durch Taffe ich dich nicht 
mehr mit ihm allein, mein armes Kind! Er ift unzurechnungs⸗ 
fähig; ich werde jeßt auf der Stelle mit dem Vorfteher reden und 
mich diefe Nacht noch mit einer Darlegung der Verhältniffe an 
die zuftändigen Behörden wenden. Sie follen mir die Vormund— 
(haft über ihn umd dich legaliter übertragen. Zum Henker, e8 
iſt kaum zu glauben, was alles den verftändigen Leuten in diefer 
Welt über den Kopf wachfen will! Promerheus?! D, der Narr 
foll mir nur mit feiner Dummheit fommen. Am Kaukaſus werde 
ich ihn nicht feftfehmieden laſſen, wohl aber folide und behaglich 
in das Landesirrenhaus feßen laffen. Ichor?! Sapperment, die 
Doktoren und Chirurgen nennen das auch serum sanguinis, 
Wundwaſſer — Eiter und Jauche! Ich werde ihn an den Ohren 
hervorziehen — beim Zeus, das heißt dem verftändigen, Haren, 
blauen Himmel, das werde ich.“ 

Ja, beim unbewölften Zeus, der e8 aber verfteht, Wolfen zu 
fammeln und tüchtig zu regnen; der Juſtizrat Scholten fah in 
diefem Moment nicht aug, als ob er viel von dem Blute der Götter 
in den Adern der erdgeborenen Menfchen halte! Wie ein alter 
Kater ſah er aus, oder, edler gefagt, wie ein Schwurgerichtg; 
präfident, der bei ausgefchloffener Öffentlichkeit über einen mit 
dem Untergange von Sodom und Gomoreha in Verbindung zu 
breingenden Fall zu Gerichte figt. 

Die Frau Salome fah noch verduster auf ihn wie vorhin auf 
die fo unvermutet in Tränen zerfließende Eilife. Das Kind hielt 
angfthaft, mit offenem Mund, in der offenen Hand den Grofchen 
hin, welchen e8 vorhin für einen Botenweg von einer gutherzigen 
Seele im Dorfe zur Belohnung empfangen hatte; — der alte 
Juriſt erfchien in demfelben Grad erregt wie vorhin, als er, 
wutentbrannt ob des fehlenden Hühnerbratens und feines Topfes 
voll Zwetſchen, in die Küche der Witwe Bebenroth ftürzte, und 


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er beruhigte fich in demfelben Grade rafch wie nach jenem Zorn 
ausbruche. 

Die gefträubten Brauen glätteten fich, die geimmigen Falten 
legten fich wieder in die gewöhnlichen Furchen zurecht, und der 
Juſtizrat fprach zur Frau Salome: 

„Sure Gnaden verwundern fih? Eure Gnaden haben feine 
Urſache, fih zu wundern, Aber diefer Querkopf, diefer Duer 
tion, macht mir die Sache dann und warn zu arg, und wie er 
die Eilife traftiert, das hat fie Ihnen eben felber vorgetragen. 
Ein altes Vieh bin ich nicht, wie eben meine Witwe da draußen 
brummt, und wenn ich einmal den Polyphem herausfehre, fo 
hat das gewöhnlich feine guten Gründe, Eilife, mein Herz, 
wie oft Hab’ ich e8 dir verboten, von den Leuten Geld zu nehmen!“ 

D, fie geben e8 mir aus gutem Herzen.” 

„And aus Mitleid,” ächzte Scholten. „Das ift der Jammer, 
und — der Duerian gehört Doch ins Irrenhaus. Du aber nimmt 
e8 aus Dummheit, mein Kind, und fo muß ich auch das gehen 
laffen, wie e8 geht. Es ift, um fich die Haare auszuraufen!“ 

Die Frau Salome von Veitor hatte felten in ihrem Leben die 
anderen Menfchen fo lange allein reden laffen. Sekt jedoch hielt 
fie e8 nicht länger aus, und es war ihr eigentlich auch nicht zu 
verdenfen, wenn fie endlich eine genauere Einficht in die Umftände 
der Leute wünfchte, deren Bekanntſchaft fie in io abfonderlicher 
Art machte. 

„Wenn ich hier nicht in die Höhle des Polyphemos geraten 
bin, fo iſt's vielleicht die Grotte des Trophonios. Nun warte ich 
aber mit Schmerzen auf die Fuge, geheimnisvolle Stimme aus 
dem Dunkeln, Juſtizrat. Und auch der Efel draußen vor der Tür 
wird allgemach ungeduldig, und ich bin es gewohnt, auch auf ihn 
einige Rüdficht zu nehmen.” 

Sie fagte das letztere lachend, aber es zitterte doch eine 
ganz andere Bewegung in der Stimme, mit welcher fie hinzus 
ſetzte: 


354 








„Was diefes Kind ift, fehe ich. Wie e8 geworden ift, kann ich 
mir in hundertfacher Weife vorftellen. Wie da zu helfen wäre, 
fann ich mir auch auslegen; — im Grunde ift da noch wenig 
verſäumt und verloren. Aber wer und was iſt diefer unheimliche 
Herr mit dem verqueren Namen? Duerian! Hat je ein Menfch 
ein ehrlih Handwerk getrieben, ein Gefchäft gemacht oder in 
der Gelehrfamteit es zu etwas, gebracht mit einem Namen wie 
dieſer?“ 

„Nein,“ erwiderte der Juſtizrat, „und deshalb hat der Uns 
glüdliche e8 in der Kunſt verfucht, und es ift bis dato ihm auch 
damit nicht geglückt, wenngleich diefes noch am erften das Feld 
war, worauf er Duerian heißen konnte. Ein Doftor Duerian, 
ein Paftor Duerian und ein Geheimrat Duerian find freilich 
vollfommen unmöglich. Weshalb hieß der Tropf nicht Scholten 
und brachte e8 zu einer anftändigen Stufe auf der Leiter Bürger; 
licher Reſpektabilität?!“ 

„Alſo Me. Shandy hat da wieder einmal recht?“ 

„Wieder einmal, Gnädige; aber nomina omina fagen ſchon 
die Lateiner. Was die Eilife angeht, fo habe ich da eine homöo⸗ 
pathifche Kur gebraucht und den Haus; durch den Taufnamen 
beruntergedrüdt. Als Eilife Auerian kann man e8 am Ende 
doch noch zu etwas bringen, fowohl im Romane wie im gewöhn⸗ 
lihen Leben. Nicht wahr, mein Kind, e8 wird doch noch etwas 
aus uns, und die Sonne fcheint uns nicht nur in den Mund, 
fondern auch in das Herz. Ein wenig Hunger dann und warn 
bewirkt nur, daß wir den Mund ein wenig weiter aufiperren —“ 

„Die Witwe Bebenroth darf ung dann aber nicht zu häufig 
zwifchen das Glück und unferen Inſtinkt oder Appetit geraten. 
Lieber Freund, was die Sonne anbetrifft, fo ift diefelbe heute 
bereits feit einiger Zeit untergegangen, und ich habe, wie Sie 
willen, noch einen ziemlichen Weg nad Haufe vor mir. Was 
treibt, was Schafft Ihr furiofer Freund und Gevatter? Es wird 
Dämmerung, und ich habe über feinen Hippogryphen zu vers 


355 


fügen, der mich aus diefem Reiche der Romantik in meine 
modernen, nüchternen vier Pfähle zurückbringt.“ 

„Er bildet Menfchen, Frau Salome. Machwerfe, die von 
ferne fo ausfehen, in der Nähe aber immer ein wenig anders. 
Es würde aber ein eigener Gefehmad dazu gehören, mit feinen 
Kreaturen Haus und Garten zu bevölkern. Sie haben e8 gehört; 
er bat wieder einmal fein Kind nadt abgebildet; — nun fage, 
Eilife, Haft du dich da wiedererfannt, und haft du dir ge 
fallen?“ 

Das Mädchen fchüttelte heftig den Kopf und fchauderte wie in 
einem unüberwindlichen Grauen. 

„Es war da 8 , weshalb ich aus dem Fenfter fprang. Es war 
nicht der Hunger. Ich will leben und möchte auch ein ſchönes 
Kleid haben wie die fhöne Dame. Er aber bildet mich tot ab. 
O, ich wollte, ich wäre tot; aber dann auch begraben und mit 
grünem Gras und Blumen auf meinem Grabe; dann brauchte ich 
mich nicht mehr zu fürchten und zu ſchämen!“ 

„Scholten?!“ rief die Frau Salome, zufammenfchauernd wie 
eben Eilife Duerian. „D, das unfelige Gefchöpf! Und Sie dulden 
das? Sie erfragen es, derartiges in dem Tone fich fagen zu 
laffen?“ 

„Prometheus im Dorf! Ein Tropfen vom Blute der Götter, 
Madame,” fagte der Juſtizrat finfter. 

„O, und Ste haben mehrmals den Verfuch gewagt, mich über 
das unglüdliche Kind lächeln zu machen! Der Himmel verzeihe 
das Ahnen. Uber ich will diefen Mann kennen lernen! Wenn er 
Geld haben will, foll er e8 haben. Er foll mir heraus! — Wenn 
er ein Künftler — ein Bildhauer ift, foll er weg von hier — einerlei 
wohin — nach Italien — nah Rom, und mir foll er fein Kind 
laffen. So antworten Ste doch, Scholten; fagen Sie etwas, 
fprehen Sie doch!“ 

Der Auftiseat war aufgeftanden und ging in der Stube auf 
und ab, Nun blieb er vor der Frau Salome ftehen und fagte 


356 





mit einer Stimme, die ob der Rührung nur noch fohnarrender 
wurde: 

„Ich würde e8 da nicht zum erften Mal erfahren, daß Ihnen 
der Gott Abrahams in Fällen Gebeihen gibt, wo andere Leute 
unfehlbar und ohne Gnade fehlgreifen. Wiffen Sie was? Ich 
will in diefer Nacht einmal nach Pilfum fchreiben. Darf ich 
Ahnen übrigens jett noch die Hand Füffen, teure Freundin?“ 

Er tat das leßtere und behielt diefe Hand dann noch mehrere 
Augenblicke zwifchen feinen Händen. Eilife Querian aber fah und 
hörte dem allen zu. Der Efel vor der Tür aber wurde num in der 
Tat recht ungebärdig, 509 an feinem Zaume, ſcharrte und ftampfte 
und ließ Töne hören, die dem Kinde fehr fpaßhaft vorfamen und 
über die e8 leiſe, aber doch fehr herzlich lachte. 


357 


Siebentes Kapitel. 


7 ie Dämmerung des ſchönen Sommertages war gekommen, 
und die Baronin Veitor zögerte immer noch im Hauſe der 
Witwe Bebenroth. 

„Es würde mir ſo lieb ſein, heute abend noch den Mann mit 
Augen zu ſehen. Ich glaube, ich würde viel beſſer ſchlafen,“ 
ſagte ſie. 

„Was meinſt du, Eilike,“ fragte der Juſtizrat Scholten, ſich 
an das junge Mädchen wendend, „würde der Papa ſich heute 
Abend ſehen laſſen?“ 

Eilike Querian ſchüttelte den Kopf: 

„Ich ſteige wieder ins Fenſter und ſchleiche zu Bett. Die 
Dachluke laſſe ich offen wegen der Sterne und Wolken, und daß ich 
den Nachtwächter hören kann und die Katzen und Hunde und die 
Kühe in den Ställen. Ich ſchlafe dann auch viel beſſer. Weil 
aber der Mond ſcheint, iſt's noch beſſer, denn da habe ich auch 
meiner Mutter weißes Bild am Bette, das ſieht mich freundlich 
an und bewacht mich.“ 

„Es iſt ein Gipsabguß des Kopfes irgendeiner Muſe, Nymphe 
oder Nereide; aber es iſt ein gutes griechiſches Frauenzimmer⸗ 
geſicht in der Tat, und fo läßt man das Kind in Gottes Namen am 
beften bei feinem Trofte. Seine Mutter kann es nicht gefannt 
haben, fie ftarb ihm zu früh,” fagte Scholten leiſe erflärend zu der 
Frau Salome, 

„So laffen Ste ung die Kleine jeßt nach Haufe begleiten und 
eigen Ste mir wenigftens ihre und ihres Vaters Wohnung.” 


358 





Der Juſtizrat nahm feinen Hut und Eichenftod. Eilife 
Duerian fprang vor die Tür und löfte dem Maulefel den Zaum 
von der Hede und legte ihm denfelben geſchickt zurecht. Die 
Witwe Bebenroth kam auch wieder herbeigefeochen und fagte 
höflich: 

„Wollen Sie uns ſchon verlaffen? Nun, befuchen Sie ung 
recht bald einmal wieder,“ 

„Berlaffen Sie fich darauf!” murmelte die Baronin von ihrem 
Neittiere herunter. „Es ift nicht das legte Mal, daß ich mich hier 
befand.“ 

Sp zogen fie ab vom Haufe der Witwe quer durch das Dorf. 

Es war längft Feierabend, und längft waren die müden Ein; 
wohner von ihrer Arbeit auf und unter der Erde heimgefommen; 
aber der Drt war faum lebendiger dadurch geworden, Die Leute 
faßen müde vor ihren Türen, und nur die Kinder waren wie ge 
wöhnlich vor dem Schlafengehen noch einmal recht munter ge; 
worden und trieben wilder und mit helleren Stimmen ihre legten 
Spiele an diefem Tage. Nun fenkte fich wiederum am äußerften 
Rande des Dorfes der Weg in eine Talmulde, in die der Wald 
hineinwuchs. Da lag das Haus Duerians, das fih, foniel man 
in der Dämmerung fehen konnte, durch nichts von den übrigen 
Gebäuden der Ortſchaft unterfchied. Mit Schindeln gededt und 
behangen, lehnte es fih an das Gebüfch und an die Hügelwand: 
ein einftöcdiges Bauwerk mit einem Giebel. 

„Da wohne und fohlafe ich,” fagte Eilife, auf diefen Giebel 
deutend. „Aber nach hinten hinaus,” fügte fie hinzu, „Ein 
frummer Zweig reicht gerade an mein Fenfter, und ich kann 
Hlettern. Hier unten wohnt mein Vater, Madame, Wir fönnten 
drei Tage klopfen, und er machte doch nicht auf, wenn es ihm 
nicht gefällig wäre, Er hat fo viel zu tun; und die Fenfterladen 
macht er nie auf, Er arbeitet bei Licht — bei einem großen Feuer; 
er friert immer fo fehr. Er hat fich felber einen Herd dazu gebaut. 
Aber feine Arbeitsftube ift auch nach hinten heraus. Da hat er die 


359 


Wände eingefehlagen zwifchen der Küche und der Kammer und 
fich eine große, große Werkftatt gemacht. Er kann alles, und die 
Leute im Dorfe wiffen das auch beffer als der Herr Pate Scholten. 
Es ift unrecht, daß ich e8 ſage, aber e8 ift doch fo.“ 

„Das Kind hat recht, Frau Salome,“ ſagte der Juſtizrat. 
„Ste paſſen zueinander, die Leute im Dorf und mein braver 
Freund Querian. Diefer würde fich auch fonft hier gar nicht 
halten. Das Kind hat ganz recht, und ich bin feft überzeugt, 
daß mehr als einer der Männer vom Leder hier des Nachts 
Hopft und Einlaß findet, wo wir drei Tage vergeblich pochen 
würden. Was mwiflen wir hellen Leute, Frau Salome, von den 
Myſterien der Narren, zumal wenn fie noch dazu ihre Tage bei 
ihrem Grubenliht im Erbeingeweide verwühlen? Duerian! 
Der König der Zwerge und Alraunen dürfte dreift Duerian 
heißen. Wenn Sie demnächft ung einmal wieder befuchen, Tiebe 
Baronin, fo fragen Sie, ehe Sie bei mir und der Witwe Beben; 
roth vorfprechen, in der erften beften Bergmannshütte nach 
Herrn Duerian und achten Sie gefälligft auf die Gefichter, mit 
denen man Ihnen den Weg zu feiner Behaufung andeutet. 
Diefe werden Ihnen das Verhältnis, in dem mein fonderbarer 
Freund zu der hiefigen Bevölkerung fteht, deutlicher machen, als 
ich e8 durch die ausführlichften Auseinanderfegungen und Erz 
läuterungen vermöchte. Nicht wahr, Eilike, e8 kommen viele 
Leute aus dem Dorf, um fih Rat von deinem Vater zu holen, 
und fie bringen ihm auch allerlei, was fie in der Erde gefunden 
haben?“ 

„Die Bergleute kommen, Herr Pate,” antwortete Eilife ger 
heimnisvoll mit dem Finger auf dem Munde. „Sie find mein 
Herr Pate und dürfen mich fragen. Mein Vater kennt alle Steine 
und Erze und weiß gut Befcheid unter der Erde,” 

„So!“ fagte Juſtizrat Scholten, zu der Baronin von Veitor 
gewendet, „jet willen Sie ziemlich genau Befcheid in dem, was 
meinen Gevatter am hiefigen Orte betrifft. Was fonft meinen 


360 





Zufammenhang mit ihm anbetrifft, fo kann ich Ihnen darüber 
das Nähere bei paflender Gelegenheit beiläufig mitteilen. Wir 
hellen Leute lafjen feine Myfterien gelten —“ 

„Und bleiben deshalb vielleicht fo oft während der Feier der 
eleufinifchen Geheimniffe vor der Tür fiehen !” rief die Baronin. 

„Wahrfcheinlich!” brummte der Juſtizrat; aber Eilike, der 
diefe Unterhaltung allmählich fehr langweilig geworden war, rief 
num plößlich: 

„Gute Nacht!” und fprang fort, um das Haus herum ver; 
ſchwindend. 

„Die Krabbe iſt die Vernünftigſte von uns allen,“ murmelte 
Scholten. „Sie weiſt uns auf unſere Wege und weiß ihrerſeits 
den Baumſtamm und den Zweig, die ſie zu ihrem Bette bringen, 
auch im Dunkeln zu finden. Es wird wahrlich Zeit, daß ich Sie 
auf die Landſtraße geleite, Frau Baronin. Wir haben des 
Spukes für heute genug, und es fängt an, kühl vom Blocksberge 
herzublaſen, und ich habe noch nach Pilſum zu ſchreiben. Sie 
haben mich ganz zur richtigen Stunde daran erinnert, Frau 
Salome, daß ich dem Freunde Schwanewede ſeit zwei Jahren 
einen Brief ſchuldig bin.” 


„Das freut mich,” fagte die Baronin zerfireut, und ebenfo 
zerſtreut fagte fie: „Das Kind wird doch nicht den Hals brechen?“ 

Ich hoffe nicht,“ meinte der alte Scholten, und dann griff er 
von neuem nach) dem Zügel des Maulefels und führte ihn zurück 
von der Tür Duerians auf den holperichten Fußpfad, der vom 
Dorfe herüberführte. Er wußte fonft, wie wir auch ſchon erfahren 
haben, jeglihem Weggenoffen die Zeit der Wanderung durch 
anmutige Unterhaltung zu verkürzen, doch jeßt ging er ftill und 
ftieß nur dann und wann, wie um einen Punkt in feiner eigenen 
ſtummen Unterhaltung zu machen, mit dem Knotenſtocke feft auf, 

So brachte er feinen ſchönen Gaft wieder auf die durch dag 
Dorf führende große Straße und dann noch weiter ein gutes 


361 


Stüd Weges über das Dorf hinaus big auf die Höhe des nächſten 
Bergrüdens, wo die Chauffee fich über eine kürzlich abgeholste 
Hochebene hinfchlang. Das war eine gute halbe Stunde von feiner 
Behaufung, und er nahm hier Abfchied mit der Bemerkung: 

„Jedem anderen Frauenzimmer zu Fuß, Pferd oder Efel 
würde ich die beiden übrigen Stunden zur Seite mitlaufen. 
Nehmen Sie dag als ein Kompliment, liebes Herz, und kommen 
Sie gut nah Haufe.” 

Die Frau Salome lachte und fohüttelte dem mwunderlichen 
juriftifchen treuen Edart von ihrem Maulefel herab die Hand. 

„Das ift wahrlich ein wackerer Freund und braver Lebens; 
genoffe, der aber ficherlich feinen Troft und eine ſchöne lange Nach: 
rede auch herausfinden würde, wenn man mich morgen nach 
Sonnenaufgang, von Räubern erfchlagen oder in einem Ab; 
geunde, famt meinem Cfel mit zerfchlagenen Gliedern fände. 
Nun, grüßen Sie auch von mir unbefannterweife, wie man fagt, 
nah Pilſum. Sch muß doch noch einmal von Norderney aus 
Shren Freund Schwanewede fennen lernen. Den Duerian 
gedenfe ich mir in den allernächften Tagen hervorzuholen. 
Iſt das ein Kleeblatt — Scholten, Schwanewede und Duerian ! 
Und da foll man, den Broden hinter fih, ruhig nach Haufe gehen, 
fich zu Bett legen und einen guten Schlaf tun!” 

„Dort kommt der Mond über den Berg, Frau Salome, und 
die Straße ift in einem ausgezeichnet guten Zuftand und macht 
der Wegebaudireftion alle Ehre. Ich wünfche Ihnen recht wohl 
zu fchlafen und werde mich morgen durch die Eilife nach Ihrem 
Befinden erkundigen!“ 

Sie nahmen jett wirklich Abſchied. Der Juſtizrat ſchlug fich 
wieder durchs Dorf nach dem Haufe der Witwe Bebenroth, und 
die Baronin ritt fürbaß auf der nicht ohne Grund gelobten vor; 
trefflichen Landftraße. Den Mond hinderte auch nichts auf feinem 
Wege quer über das Firmament, und er ging, ald ob es ihm nie 
eingefallen fei, die Weltmeere in Bewegung zu ſetzen, geſchweige 


362 





denn bie Gemüter der Menfchen fih nach und zu fih empor; 
zuziehen. 

„Do Himmel, welch eine wundervolle Nacht und welch ein 
wunderlicher Abend!” murmelte die Baronin Salome von Veitor 
und gelangte richtig ohne die mindefte Gefährde und Befchwerde 
vor dem zierlichen Gittertor ihrer Sommerwohnung an, und 
niemand unter ihren Leuten hatte fich irgendwelche Sorge um fie 
gemacht. 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 24d 
363 


Achtes Kapitel. 


Mr weiß füdwärts der Polargrenze des Weines, das heißt 
des trintbaren Meines, feineswegs viel von den 
Ländern und Menfchen zwifchen dem Harz und der Deutfchen 
See; aber deffenungeachtet ift Karl Ernft Querian in das Kirchen; 
buch zu Duadenbrüd als ehelich ergeugter Sohn bürgerlich an, 
ftändiger Eltern eingetragen, deffenungeachtet eriftierte Peter 
Schwanewede in Pilfum, ein doctor theologiae der gleichfalls 
vorhandenen Univerfität Göttingen, und deffenungeachtet hatte 
fich foeben Juſtizrat Scholten von feiner Wirtin die Lampe an⸗ 
zünden laffen und blättert, ehe er an feinen Freund Peter fohreibt 
— wahrfcheinlih um wenigſtens fich Far zu bleiben — im 
Recueil de nouvelles pieces fugitives de Mr. de Voltaire, und 
zwar in der Ausgabe, die man voreinft außer in Genf auch zu 
Paris, und zwar bei Duchesne, rue St. Jacques — au temple 
du gout, finden fonnte, 

Das ift ein langer Sab, aber e8 war ung unmöglich, ihn und 
uns fürger zu faffen; wir werden auch gleich fehen, daß es auch 
dem Juſtizrat teoß feiner Lektüre nicht gelang, bündig zu fein. 
Mademoifelle Katherine Bade mag es ihm verzeihen. 

Die Witwe hatte die Lampe gebracht, noch einmal mit dem 
Schürgenzipfel vor den Augen die Rede auf das halbe Huhn und 
den Pflaumentopf bringen wollen und war mit einem Donner 
wetter zur Tür hinausbefördert worden. Der Juſtizrat ſchlug 
Antoine Vadés „‚discours‘ an die Wälfchen zu und mit der Fauft 
auf den Tifch und ächzte: 


364 





„Wir find das langmweiligsverrüdtefte Volk auf Erden, und 
wir haben alle Ausſicht, e8 noch längere Zeit zu bleiben. Was 
hilft’8 dem einzelnen, zu willen, wie flug andere Leute ſchon vor 
hundert Jahren geweien find?” . 

Er ſchien die größte Luft zu haben, den alten Lederband mit 
der blaffen, abgegriffenen Rofokofchnörfelvergoldung unter den 
Zieh der Witwe Bebenroth zu werfen, legte ihn jedoch nur um 
defto vorfichtiger, ja zärtlicher beifeite und fich feine Briefbogen 
zurecht. 

„Diefe hübfche, kluge Jüdin hat mir gleichfalls für einige Tage 
meinen Gleichmut wieder verfchoben,“ brummte er. „Alle 
Teufel, da wird der alte Myftifer an der Emsmündung einmal 
wieder furiofe Augen über feinen Kommilitonen und voreinftigen 
Hausburfhen machen! Wodan und Thor mögen ihm den 
Appetit gefegnen! He, he, he; e8 muß in der Tat ein abfonder; 
liches Gefühl fein, wenn man aus Swedenborgs fonftabilierter 
Erd; und Himmelsharmonie plößlich abgerufen wird, weil 
Hermode und Braga an der Tür ftehen und Odins Gruß bringen: 
Genieße Einherierfrieden und frinfe Met mit den Göttern! — 
Schöner Frieden! Urgemütliche Kneiperei! Prügele dich Iuftig 
weiter in Walhalla und bramarbafiere am Abend beim Bierfrug. 
Sch danke gehorfamft!“ 

Er hatte bereit das Tintefaß herangezogen und die Feder 
eingetaucht, Noch faß er einen Moment äußerft nachdenklich, und 
um fo deolliger war der Effekt, als er beim Niederfchreiben des 
Einganges feines Briefes mit, fogufagen, zärtlihem Grimme fich 
die Worte auch laut vorſchrie: 


„Mein lieber Peter!“ 


Das übrige knüpfte fih dann ziemlich in einem Zuge daran; 
nur hatte er eine Flaſche Bordeaur zu entpfeopfen, dann und 
wann fein Glas zu füllen und dann und wann feine Pfeife von 
neuem in Brand zu feßen. Es gibt ärgere Störungen geiftiger 


24* 


365 


Tätigkeit und gemütlichen oder ungemütlichen fehriftlichen Seelen; 
erguffes. Wie er fich aber dagegen wehren mochte: der bleiche Mon; 
denfchein aufden Gräbern, Kreuzen und Denffteinen des Bergdorfes 
vor feinem Fenfter und das Glitzern der Fenfter der Kirche drüben 
gab doch feinem Brief eine Färbung, die derfelbe bei hellem, 
Harem Tageslicht und auch an einem Gebirgsregentage nicht 
befommen haben würde. Freund Schwanemwede, der um diefe 
Stunde, wie der Juſtizrat glaubte, den Mond fih im Pilſumer 
Watt fpiegeln fah, und dem da vielleicht über die Blätter der 
Aurora oder der „Morgenröte im Aufgang“ weg, durch das 
weiße Licht ein weißes Segel nach fremden Landen vorüberglitt, 
verdarb fich aber den Magen nicht daran. Wir werden fehen, 
weshalb. 


„Mein lieber Peter! 


Nach zweijähriger Paufe in unferm Schriftenwechfel drängt 
es mich heute abend, die Korrefpondenz durch diefen meinen 
Schreibebrief von neuem zu eröffnen und Dir vor allen Dingen 
mitzuteilen, daß ich mich noch am Leben befinde und das Näm⸗ 
liche von Dir verhoffe. Seit wir uns in Göttingen fennen lernten 
und zuſammen dafelbft findierten, Haben wir als Kaftor und Pol; 
Iur, Dreft und Pylades ein jeder den andern für den größten 
Narren auf Erden gehalten, und nur der Tod erft wird das freund, 
fchaftliche Verhältnis — meiner Schreibfaulheit zum Trotz — 
löfen. Wie oft — wie oft, während ich mich in der nichtswürdigen 
Praris des Tages abängftete und abwütete, habe ich an eine 
Kröte gedacht, die feit einigen Jahrtaufenden irgendwo in einem 
Steine eingefchloffen fit, wie oft habe ich mich am den alten 
Freund Peter Schwanewede in Pilfum erinnert, und wie unge, 
mein hat mir beides Troſt und Stärkung im Kummer verliehen 
und Nachlaß in Verdruß und Abnahme der Wut zumege ge 
bracht! 

Peter, nicht wie ein alter Juſtizrat, fondern wie der jüngfte 


366 








der modernen Poeten, der feinen Velocipegafus zu einer Dichter; 
fahrt gefattelt hat, fie ich auf. Die bunteften Schwärme des 
Lebens womöglich follen fich über diefes Blatt drängen, und es 
figelt mich, wenn ich daran denfe, daß ich dich zwinge, ihnen mit 
flimmernden Augen nachzuftieren. Wenn Du mir wieder fohreibft, 
wirft Du Die zwar einbilden, wie eine gotifche Kirche auf einen 
Jahrmarkt voll Buden, Hanswürſte, Bratwürfte, Niefendamen 
und fonftiger Meßraritäten herunterzufehen, aber das tut nichts 
— das tut gar nichts! Solange Du mir nicht mit Deinem Heer 
fteinerner Heiligen auf den Kopf fällft, gönne ich Dir das Ver; 
gnügen. 

Peter, ich verkehrte wieder einmal mit Duerian, und — ich bin 
einem Menfchen begegnet; einem Menfchen weiblichen Ge; 
ſchlechts, — einem Weibe, und zwar einem jüdifchen Weibe, 
welches ich im Affekt oder bei fcehlechter Laune, ohne Widerfpruch 
zu erfahren, Frau Baronin anreden darf! — Nun wirft Du 
fiherlich fragen: Iſt e8 denn überhaupt nötig, Menfchen zu be; 
gegnen? Kann man fich nicht an die Oſter⸗Ems fehen, von ge; 
fochtem Seegras und gebratenen Duallen leben und Bengels 
Auslegung der Apofalypfe ftudieren? — Ich aber erwidere Dir, 
leider kann man das nicht, indem ich Dir mit Vergnügen zus 
gebe, daß e8 eine Luft wäre, wenn das jeder könnte, und wir da 
den Strand entlang einen ftillvergnügten Haufen bildeten; — 
e8 erzittert da übrigens wieder einmal ein buntgefiederter Pfeil, 
den ich vor dreißig Jahren ſchon auf Deinen Lebenswandfalender 
abgefchofien habe, und der noch immer drin ſteckt und Dich an 
mehr als eine fidelssänfifhe Disputiernacht erinnern wird, 
Schwanemwede, ich ſchmeichle mir, fo gelebt zu haben, daß 99 Pros 
zent meiner Mitgeborenen nicht imftande find, mein Leben zu 
überfehen. Sch glaube, ficher und fröhlich mit dem, was die Welt 
augenblidlih an Kulturelementen aufzumweifen hat, rechnen zu 
können; und auch ich habe mich damit abgegeben, Müden zu 
feigen und die Fleinften und untergeordnetften Tierarten zu 


367 


Teufelsfragen und Karikaturen zu magnifisieren. Aber ift dag 
eine Kunft, aus einer Maulwurfsgrille durch ein Vergrößerungg; 
glas ein Dlimstier, ein vorfündflutlich Ungeheuer und aus einer 
Raupe einen Leviathan zu machen? Ich glaube nicht; wo hin⸗ 
gegen, alter Peter, e8 wirklich eine Kunft ift, eine Nuß, die mar 
fnadte und hohl fand, wegzuwerfen und feine Meinung nicht 
darüber zu verhehlen; denn die Welt verlangt das Gegenteil und 
verlangt, daß man gut von ihren tauben Nüffen rede, fie für voll 
nehme und ihren Kern Iobe, 

D Du alter myſtiſcher Nußfnader an der Nordfee, benutze 
meinen Brief jetzo noch nicht als Fidibus; ich werde fofort proto⸗ 
follarifch Har werden, Dich mit meiner Judenmadam Salome 
Veitor befannt machen und nachher erſt wieder von Duerian 
reden. 

Wie ein Mann, der zwifchen feinen Haus; und Zimmer; 
wänden, feinen Bücherbrettern und Aftenrepofitorien fich wieder 
einmal den Maßftab, fo der Menfch an fich felber legt, Hatte fälfchen 
laffen, ging ich vor drei Jahren in die Gerichtsferien, um mir 
meinen Standpunkt in und zu der Natur von neuem Har zu 
machen, und e8 gelang mir damals auf den Landftraßen des 
Thüringerwaldes, Ich war ein Niefe geworden zwifchen dem 
Wänden meiner Schreibftube, und alle Garderobe der Gegen, 
wart war mir den Winter über zu eng geworden. E8 war die 
höchfte Zeit, daß ich wieder einfehrumpfelte und auf mein richtiges 
Map zurüdgedrücdt wurde, und e8 gefchah. Ewigkeit wurde mir 
wieder Zeit auf der Chauffee und ich felber wieder zu einem jovia⸗ 
len Touriſten durch die Wälder, Höhen und Tiefen der irdifchen 
Vorkfommmiffe. Damals begegnete ich der Frau Salome zum 
erften Mal, und ich traf mit ihr zufammen, wie die Herrfchaften 
im Don Quixote, im Tom Jones und im Gil Blas von Sans 
tillana zuſammenkommen, nämlich im Wirtshaus — in der 
Schenke am Wege, 

Du Tiefeft feine Romane mehr oder bift doch überzeugt, feine 


368 








mehr zu lefen, Peter Schwanewede; in dem einen wie in dem 
andern Falle foreche ich Dir mein Bedauern aus; wir alten 
Suriften leſen leidenfchaftlich gern Romane, wenn wir e8 gleich 
häufig nicht gern geftehen wollen. 

Und meine Bekanntfchaft ift eine Roman⸗, das heißt Land 
ſtraßen⸗ und Wirtshausſchildbekanntſchaft. My landlord oder 
el sennor huesped mit der weißen Schürze und der Zipfelfappe, 
‚die größte Plaudertafche von ganz Afturien‘, fteht unter feinem 
Schilde in der Tür und fieht nach feinen Gäften aus. Da fleigen 
Staubwolfen in der Ferne auf, Reiter auf englifchen Stuß- 
fehwänzen oder Fatalonifhen Langſchwänzen fprengen heran, 
die Glocken der Maultiere klingeln, fchwerfällige fpanifche Karoffen 
ächzen langſam her, und ein fchon in der Kneipe vorhandener Gaft 
ift zu dem Herren Wirt in die Pforte gefreten und ift mit ihm 
gefpannt auf die neue Kundfchaft. Wer komme? Iſt e8 die 
Prinzeffin Mikomikona? Iſt e8 der Hauptmann aus der Berberei 
mit der fohönen Zoraide? Iſt es Miß Sophia Weftern mit Mes. 
Honor, oder gar der Pretender auf dem Marfche von Falkirk 
nach dem Feld bei Eulloden? Iſt e8 der Korregidor von Balla; 
dolid oder nur ein Teupp feiner nicht nur graufen, fondern auch 
groben Alguazils? Es können fehr vornehme Leute, aber auch 
das nichtsnugigfte Bettler; und Vagabondenvolf, ja e8 fünnen 
fogar auch Schaf und Schweineherden fein, die da kommen. 
Diesmal iſt's einfach eine zweifpännige Landfutfche, und Staub; 
wolken gibt’8 auch nicht; e8 regnet fürchterlich, und der Wirt 
ſchickt den Hausfnecht mit einem alten Regenſchirm an den 
Wagenfchlag, um die ausfteigende, dag heißt vor der Sündflut fich 
rettende Dame froden in fein Haus zu ſchaffen. 

Lieber Peter, das Genie macht die Fußtapfen, und dag nach— 
folgende Talent tritt in diefelben hinein, tritt fie aber ſchief: ich 
fann fo grob wie Du gegen die Leute fein, aber nie mit der 
originalen Wirkung wie Du. Die dreht man einfach den Rüden 
zu, mit mir fängt man, aller Bärbeißigfeit ohngeachtet, eine 


369 


Unterhaltung an. Du fißeft in Pilfum feft, und ich beziehe alle 
Sahre ein Sommergquartier im Gebirge und verfehre mit der 
Menſchheit; Dur befißeft die geniale Grobheit, die nur fich felbft 
ausfpricht; ich als Harmlofes Talent werde ftetS einen großen 
Verkehr Haben und an den Einfiedler an der Ems lange Briefe 
fehreiben: Du zwingſt ein halb Dutzend Menfchen, von Dir zu 
reden; ich bringe alle Welt dazu, mit mir zur ſchwatzen. 

Sagt die Dame: Diefes ift ein entfetliches Neifewetter, 
mein Herr. — Murre ich zutunlih: Himmeldonnerundhagel, 
fige ich Hier nicht feit anderthalb Tagen feſt? — Sagt die Dame 
höflich und lächelnd: Das fieht man Euch an, Sennor; fo wie 
auch, daß es nicht das erfie Mal ift, daß Euch das Wetter und 
Schickſal in die richtige Lebensſtimmung hineinfchüttelten. 

Hm, antworte ich, wie verftehen Euer Gnaden das, und was 
weiß Ders glatte Stirn davon? 

Hm, verfegt die ſchwarzhaarige Sennora, ich komme heute 
zwar im Zweifpänner; aber ich bin eine gute Neiterin, reite jedoch 
nicht fohneller als die anderen. 

Und die Sorge hält deshalb Schritt, Madam; — ich erlaube 
mir, mich vorzuftellen: mein Name und Titel ift Juſtizrat 
Scholten aus Hannover. 

Da hatten wir's; — die Bekanntſchaft war gemacht, und — 
Dauert noch fort! — Die Sennora gibt mir ihren Namen, Rang - 
und Titel befannt, und ich rücke zu am Tifche, was Du in Pilfum 
nicht getan haben würdeft. Der Wirt bringt den Kaffee, und die 
Frau Salome fagt: Ein jeder Menfch Hat, meiner Erfahrung nach, 
feine eigenen Hausmittel, um die fohlimmen Stunden zu über; 
winden; darf ich nach den Ihrigen fragen, mein Herr Juſtizrat 
Scholten aus Hannover? 

Giftig ſchnurre ih: Was halten Euer Gnaden von dem ge 
mütlichen Trofte: achtzig Jahre wirft du unbedingt alt und 
begräbft ohne allen Zweifel alles, was dich heute ärgert? 

Würdeſt Du diefes nun gefagt haben, fo hätte man dem 


379 











Kellner gewinft und fein Service auf einen entfernten Tifch haben 
ftellen laſſen; — an mich rüdt man nur dichter heran und meint 
mit zärtlihem Behagen und einem Blick auf den Landregen vor 
den Fenftern: Mein befter Herr Juſtizrat, e8 ift mir höchſt ange; 
nehm, Ihre werte Bekanntfchaft gemacht zu haben! Haben 
wir wicht vielleicht denfelben Weg fernerhin? Diefes würde mich 
ebenfo fehr freuen. . 

Peter Schwanemwede, wir haben fo ziemlich von diefer Be; 
gegnung an den nämlichen Weg gehabt, ich und die Frau Salome 
Veitor, und wenn einem in feinem Bekanntenkreife durchgängig 
nichts fchwerer gemacht wird, als feiner Natur zu folgen, fo 
machen wir, die Frau Salome und ich, und das fo leicht als 
möglih. Nun haben wir heute zum erfien Mal in diefer Saifon 
einander wieder gefroffen, und zwar am alten Broden, Die Frau 
hat noch immer n cht wieder gefreit (fie war bereits Witwe, als 
ich fie kennen lernte, und ich machte fofort den Verfuch, fie nach 
Pilfum zu dirigieren, und fehilderte ihr die Gegend fowie die dort 
haufenden Menfchen, Dich, Peter, eingefchloffen, äußerft ver; 
Iodend) und langweilt ſich aufs ſträflichſte. Sehr dankbar 
nimmt fie e8 auf, wenn ein vernünftiger Mann fich mit ihr 
einläßt, einen Sommernachmittag mit ihr vertrödelt und ihren 
MWeibergrillen und Phantafien irgendeine fefte Direktion gibt. 
Die Frau hat entfeglich viel Langeweile und ift — bei den unfterb; 
lichen Göttern fei e8 gefagt — über der Welt Eitelfeit fo erhaben 
wie je ein tüchtiger und verftändiger Mann, und da habe ich fie 
denn heute mit nach meinem Dorfe genommen und fie mit 
Querians Kinde befannt gemacht. 

Seit diefer Dritte in unferem Lebensbunde eine Närrin fand, 
die fich bereitwillig zeigte, in ehelicher Verbindung mit ihm 
diefem armen Gefchöpfe den Fluch Adams aufjuladen, haft Du 
ihn nicht zu Geficht befommen, unfern Freund Auerian, wohl 
aber ich ziemlich Häufig, und ein Vergnügen ift das nicht. Nun 
ift das Kind, die Eilife, dreisehn Jahre alt, und der Alte toller 


371 


denn je. Du fennft zwar meine Anficht, daß es bei den Mädchen 
abſolut nicht darauf ankommt, ob fie etwas gelernt haben oder 
nicht, fondern ob fie einen Mann friegen oder ledig bleiben. 
Wiffen und Kunft und Schönheit fun da nichts zur Sache; wenn 
wo das Schidfal rückſichtslos und allmächtig fich zeigt, fo iſt das 
hier, und die Frauenzimmer ahnen das auch inſtinktiv und nehmen 
und geben fich mit zierlichfter Brutalität felber als das Schiefal. 
Die Egoiftinnen, die fo viel ahnen, haben durchaus feine Ahnung 
davon, welch eine Sorge fie felbft einem alten Junggefellen, wie 
ich, duch ihr bloßes Vorhandenfein machen können. Nun ift da 
die Eilife, das Kind eines andern Mannes — geht mich im Grunde 
nicht das geringfte an und verurfacht mir doch mehr fehlaflofe 
Nächte, als ich felbft mit meiner ziemlich kräftigen Körperkonſti⸗ 
fution erfragen will. Ich fage Dir, eine verwahrloftere und hülf⸗ 
Iofere Kreatur als diefe Eilife Duerian gibt e8 auf Erden nicht, 
und Duerian felber treibt es ärger denn je. Und feine Verrücktheit 
ift anftedend! Wie wir vor dreißig Jahren ſchon ung mit Macht 
Dagegen zu wehren hatten, daß wir nicht mit in feine Tollheits; 
ſtrudel hineingeriffen wurden, fo habe ich mich manchmal heute 
noch dagegen zu ſtemmen. Das Berguolf aber am hiefigen Ort 
hält ihn für den Mann mit den Schlüffeln zu allen Gängen und 
Pforten der Unterwelt. Es ift mir nicht unerflärlich, woher er die 
Mittel, fein Leben und verrücktes Treiben fo fortzuführen, nimmt; 
aber ein Elend und Verdruß ift es. 

Durch die Dorffchule iſt das Kind des Narren zwar defahfen: 
aber felbft der Schulmeifter, mein guter Freund und Nachbar, ift 
ſich nicht Har, ob e8 ihm gelungen ift, ihm das Lefen und Schreiben 
beizubringen. Dazu hungert das Gefchöpf und fchläft auf Stroh, 
und der Alte läßt e8 nadt Modell ftehen. Seine Wege gehen nicht 
durch die Haustür, fondern durch das Fenfter, über das Schindel; 
dad, an einem Baumaft hinunter; und fo ift e8 auch heute ges 
fommen, und fo hat e8 meine Freundin, die Frau Salome, 
fennen gelernt. Nun frage ich Dich, Peter Schwanewede (und 


372 











das ift der bittere innerfte Kern diefes vielſchmackigen Briefes!), 
foll und darf ich unfern Freund und Zugendgenoffen Karl Ernft 
Querian ins Irrenhaus ſtecken Taffen oder nicht? — — Reif dazu 
fcheint ee mir zu fein, und es ift nur die Frage, ob gerade wir 
beide dazu berufen find, ein endgültiges Urteil über diefe feine 
Neife abzugeben? Du weißt nur zu gut, Peter, wie wir drei von 
jeher ein jeglicher über den andern dachten. Du weißt, wie häufig 
unfer Freund ung feine Meinung über ung in diefer Richtung 
nicht vorenthalten hat. Du weißt, wie oft er felber ung für ganz 
verrüdte Narren erflärte, und — Schwanewede — ich, der ich 
doch ein Geſchäftsmann bin, in des Lebens Praftifen und Kniffen 
ziemlich Befcheid weiß und mir felten ein £ für ein U machen 
laffe, oder, was noch mehr für meinen gefunden Verftand fpricht, 
e8 mir felber mache: ich faſſe die heikle Frage, je älter ich werde, 
mit defto fpigeren Fingern an. Peter von Pilfum, ich habe noch 
nie in meinem Leben vor einer größeren Verantwortlichkeit 
gezögert! 

Meine kluge, klare, hebräiſche Freundin, die unſern vortreff— 
lichen Querian bis jetzt noch nicht perſönlich kennen gelernt hat, 
ſondern nur ſeine Erziehungsreſultate an ſeinem Kinde, hat mir 
den Vorſchlag getan, ihn nach Rom zu ſpedieren, und es iſt nur 
ſchade, daß ſie dieſen Vorſchlag uns und ihm nicht vor dreißig 
Jahren machte. 

Sie will das Kind zu ſich nehmen und ihm eine menfchen; 
würdige Eriftenz fchaffen. Beim Blute der Götter, ich habe fie 
eben auf den Weg nach Haufe gebracht und ihr gefagt, daß ich 
mich auf nichts einlaffen könne, ehe ich nicht am Dich gefchrieben 
und Deine Anficht gehört habe. Sehr freundlich wäre e8 von 
Dir, fteht aber wohl nicht zu erwarten, daß Du auf vierzehn Tage 
den Bengel, den Böhme und den Swedenborg zuflappft, die 
Eifenbahn zu erreichen fucheft, hierher fommft und Dich auf 
einen Tag mit unferem in Frage fiehenden Freunde und Patien; 
ten zufammenfperrft? ! 


373 


Es ift meine Pflicht gegen Duerian, Die auch diefes in Über; 
legung und unter die Füße zu geben. 
Zu einem Entfhluß müflen wir kommen! 


Dein Freund Scholten.” 


Dem Juſtizrat war über diefem Schreiben mehrmals die Pfeife 
ausgegangen. Seht fand er auf, ging zum Fenfter und blidte 
eine ziemliche Weile auf den mondbefchienenen Kirchhof hin. 

„Sp gehen die Gefpenfter um,” murmelte er. „Und dann 
fpricht man noch von Haren Köpfen und tut fich was zugute auf 
feine fünf gefunden Sinne!” 


374 








Meuntes Kapitel. 


Mm“ einer fchlängleingleichen Behendigkeit war die Eilife in 
ihe Dachfenfter geglitten; man vernahm faum ein Ge 
räuſch ihrer Bewegungen, und felbft dann faum, als fie von dem 
Fenfter auf den Fußboden ihrer Kammer fprang. Der Monds 
ſchein glitt ihre faft nicht geräufchlofer nach. 

Das Mädchen hatte fonft den Schlaf der Tiere, die, wenn fie 
fatt und nicht auf der Jagd find, auch fonft nicht gehindert 
werden, fich zufammenrollen und die Augen zubrüden. Damit 
war’8 in diefer Nacht nichts. 


Auf ihrer Bettſtatt ſitzend, löſte Eilike mechanifch ihre Haare, 


um fie dann fefter und zierlicher von neuem zu flechten, und fah 


fehr ernft und nachdenklich in den immer mehr den Raum mit 
feinem Lichte füllenden Mond. Aus ihrem Schlummer in der 
Stube des Paten und Juſtizrats Scholten erwachend, hatte 
Eilife Querian die Frau Salome gegenüber am Tifch vor fi 
gefehen, und das Bild der ſchönen jüdifchen Baronin war’s, was 
fie munter hielt auf ihrem Strohfad. 

Wir haben erzählt, wie das junge Mädchen damals jach fich 
aufrecht fette, die blonden Haare zurüdftrich und die ſchöne Dame 
anftarrte; — damals hatte fich inmitten ihrer verwahrlofeten 
Seele auch etwas mit einem heftigen Sprunge aufgerichtet, und 
dag ftand noch aufrecht und ſtarrte nun aus fehnfüchtig funfelnden 
Augen in eine neue Welt. Nicht eine Bewegung, nicht ein Wort 
der eleganten Dame war verloren gegangen, und wenn die 
Tochter Auerians den Sinn der Worte nicht begriff, fo war es 


375 


doch ſchon allein der Ton, der Klang der Stimme, der fie im 
Tiefften aufregte und jeder Fiber ihres Wefens ein Mit und 
Nachklingen abzwang. 

„So möchteſt du ausſehen! ſo möchteſt du ſprechen!“ In 
dieſen beiden Ausrufen zog ſich gierig das bekümmerte Herz 
Eilikes zuſammen, und als nun der alte Pate Scholten polternd 
nach ſeinem halben gebratenen Huhn und ſeinem Topf mit den 
Zuckerpflaumen fragte, als dann die Frau Bebenroth loszeterte 
und in der Stube herumfuhr, und ſie — die arme Eilike — von 
ihrem Mittagseſſen Beſcheid zu geben hatte, da ſchämte ſie ſich 
vor der fremden Dame wie noch nie in ihrem Leben vor einem 
Menſchen. Und weil ſie ſich ſo ſehr ſchämte, — grade weil ſie ſich 
ſo ſehr ſchämte, zeigte ſie den Bauerngroſchen in ihrer magern 
Hand und erzählte der ſchönen, ſchwarzen, fremden Dame (nicht 
dem Paten Zuftigeat!), daß der Vater fie abgebildet Habe — 
nadt abgebildet Habe; und dann hatte fie fich zufammengenom; 
men, ums fich nichts merfen zu laſſen — fie hatte die Zähne gezeigt 
und gelacht, und hätte e8 gern gehabt, wenn die fremde Frau . 
laut, ganz laut gerufen hätte: 

„O, fe ift blödſinnig!“ | 

Das war nicht das erfte Wort gemwefen, welches fie von der 
Frau Salome vernommen hatte, als fie aufgewacht war, aber der 
Pate Scholten hatte gefagt, daß die ſchöne Dame das ſchlimme 
Wort in ihrer Seele gefprochen habe, Und da ging ein armer 
Menfh im Dorfe umher, von dem wußte fie, daß er blödfinnig 
fei. In der ganzen durch ihre unglüdlichen Zuftände verfchütteten 
Neinlichkeit, Klarheit und Zierlichfeit des Weibes ſchauderte fie 
vor ihrem Dafein; e8 blieb ihr nichts übrig, ald dumm zu Tachen 
und die Zähne zu zeigen! Jetzt auf ihrem Bette ihre Haare 
flechtend und in den Strahl des Mondes, der durch ihr Fenſter 
fam, ſehend, wiederholte fie: 

„Sie iſt blödſinnig!“ und leiſer, mit heißerem Atem ſagte ſie: 
„Und der Herr Pate ſagt auch, mein Vater ſei ein Narr!“ 


376 











Der Mond flieg an der Wand dem Bette gegenüber hinauf 
und fraf den griechiſchen Frauenkopf; — Ihönruhig ſah das 
hellenifche Geficht geradeaus, und, Eilife Duerian faltete die 
Hände auf ihrem rechten Knie und rief, ihre Tränen nieder; 
fchludend: 

„Nein, du bift doch nicht meine Mutter, Meine Mutter ift erft 
feit zwölf Jahren tot, du aber bift fchon vor taufend Jahren ger 
ftorben. Ich bin blödfinnig, und du bift dag fremde Bild, das 
mein Vater im Sinne hat und nicht finden fann, und mein 
Vater ift ein Narr. Wer kann ung aus unferer Not helfen? 
Niemand als der liebe Gott, wenn er ung einen guten 
Tod ſchickt.“ 

Es war eine fhöne Sommernacht, fein Lüftchen regte fich, 
der Mond ging an dem wolfenlofen Himmelsgewölbe hin, und 
die Berge und Wälder lagen im tiefen Frieden. Von der Hiße 
und dem Froft, von dem Hundstagsfener, von dem Knirfchen des 
Schnees und dem Krachen des Eifes ſchien die Natur nichts zu 
wiffen. E8 war nur eine linde Kühle. Das Kind fohlang feine 
Zöpfe um die Stirn; e8 machte noch immer nicht Miene, fich zu 
entfleiden. Es hatte nur den einen Schuh vom Fuße fallen 
laffen, und jeßt 509 e8 auch den wieder an. Es fprang wieder 
empor von feiner Bettſtatt und ſchwang fich in die Fenfterbanf; 
da faß es ftill eine Weile. Nun riß e8 ein Blatt von dem Baumaft, 
den ihm der Wald gleich einem hülfreichen Arm hinzuhalten 
ſchien, und drüdte diefes fühle, taufeuchte Blatt an die heiße 
Stirn. Da fniete e8 von neuem auf dem Schindeldache, doch es 
litt diesmal nicht hinab. Die bufchbewachfene Hügelwand, 
welche die Hütte Dueriang im Nüden dedte, fperrte jede weitere 
Ausficht ab. 

Unten im Hauſeſſchnarrte und fehnurete etwas. Ob es eine 
Feile oder das Rad einer Drehbank war — einerlei; e8 bedeutete 
jedenfalls, daß der närrifche Vater fih auch noch wach und zu 
einem feiner närrifchen Werke halte oder vielleicht auch wohl ein 


377 


Gerät zu einer neuen Arbeit ſchärfe. Eilife legte den Finger auf 
den Mund und horchte auf den Tonz fie hatte Angſt, daß fie 
gerufen werde aus der Werfftatt, und ſchon ftand fie fchlanf und 
leicht auf dem Dache. Behende wie eine Kate, gefehmeidig wie 
eine Schlange glitt fie aufwärts bis zum Firft: da fland fie im 
weißen Lichte und fah fiefatmend fih um. 

Ein leichter Rauch, manchmal gerötet von der Flamme des 
Herde drunten, flieg aus dem Schornftein Fergengerade und 
verlor fih in dem Haren Äther, Eilife Querian ftüßte fich mit 
der einen Hand auf den Rand des Schornfteins, mit der 
andern wifchte fie die Teßte Träne vom Auge und fah in 
die Ferne. 

Bon drei Seiten her begrenzten über der Talmulde, in welcher 
die Hütte ihres Vaters lag, die hohen Berge und die dunklen 
Wälder die Ausſicht; doch nach der vierten Seite öffnete fich das 
Tal auf die Hochebene und das weit Darüber hin verzettelte Dorf 
und über die Gaffen des Dorfes weg, zwifchen den Gärten und 
Baummwipfeln durch auf die im Fichten Mondnebel flimmernde 
norddeutfche Tiefebene. Seltfam und verlodend — verſtreute 
Lichter im blauen Glanz! — bliste und funfelte e8 aus der 
Ferne, Was Jakob Böhme fah und fühlte und wovon er zu 
ſchreiben verfuchte, hier war’8 und fonzentrierte fich in dem Herzen 
des unverftändigen, verwahrloften Gefchöpfes, der Eilife Duerian ! 
das ewige Kontrarium zwifchen Finfternis und Licht — die 
„Quall“ im Univerfo. Was vielleicht Peter Schwanemwede zu 
Pilfum am Pilfumer Watt in diefer Mondfcheinnacht aus den 
Büchern des muftifchen Philofophen mit ächzenden Hebebäumen 
und knarrenden Ketten des Geiftes aufzuwinden frachtete: hier 
lag e8 auf den Lippen des Kindes, unter den Zähnen, bie diefe 
Lippen blutig preßten! 

Das Auge Eilikes ſchwebte über den ganzen fichtbaren Aus⸗ 
fchnitt der nächtlichen Weltenfhöne von der Talwand zur Linfen 
bis zum Hochgebirge auf der Nechten, und wieder zurüd; es 


378 





trennte das Licht von der Nacht. Dann ſchloß es fich eine Weile, 
und als es fich wieder öffnete, fuchte e8 zur Rechten am fernen 
Tannenwalde. Da lief jenfeitd der grauen Dächer des Dorfes 
den Berg entlang ein weißer fehimmernder Strich, der um eine 
Ede bog und noch weiter weg an einer andern Berglehne wieder 
auftauchte, um dann bald ganz in dem Walde zu verfehwinden. 
Das war die Straße, auf der die Frau Salome nach ihrem Bes 
fuche beim Juſtizrat Scholten nach Haufe geritten war. 

Yus der Dual des Alls rettete das hülflofe Menfchenfind, 
nach feiner Art von Adam an, fich eben auf den nächften Weg, der 
aus der Unzulänglichkeit und Verwirrung der iedifchen Zuftände 
herauszuführen fehien. 

„Die Welt ift fo weit, fo weit,” fagte Eilife Duerian, und fie 
fagte e8 ganz laut. „Die Wege find fo lang, fo lang, und in den 
Wäldern geht man in die Irre. Es find auch viel zu viele Men; 
fchen in der Welt — feiner kennt den andern, und wenn einer 
den andern fennt und fern von ihm wohnt, weiß er nicht einmal, 
ob er noch lebt. — Und die einander nahe wohnen, die fürchten 
einander und tum fich allen möglichen Schabernad und Poſſen an. 
Die Leute im Dorfe, was die Bergleute find und was die Ader; 
leute find, und ihre Frauen und Kinder zu Haufe quälen fich 
fchlimm mit ihrer Arbeit und find niemals zufrieden; aber am 
ſchlimmſten quält fich mein Vater, und der ift am wenigften 
zufrieden. Der Herr Pate Scholten tut auch nur fo, als ob er 
vergnügt fei, wenn er hier im Dorfe wohnt und fpazieren geht 
in die Berge und fich einen guten Tag macht. Bei der Witwe 
Bebenroth möchte ich nicht wohnen! D, der Pate ärgert fich 
genug und fohimpft genug, und fein Franzöfifch Hilft ihm auch 
nicht viel, Er hat mit feinem Iuftigen franzöfifchen Buche nad 
dem tauben Yuguft geworfen, weil er meinte, daß der ihm den 
Sad voll Ameifen ins Bett gefchüttet habe. Ich wollte nur, der 
Arme könnte genug fehen, Hören und fprechen zu ſolchem Streich, 
und dem Heren Paten hat's auch fehr leid getan, und er hat ihm 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II, 25d 
. 379 


einen blanfen Taler gefchenft, nachdem ihm die Frau Bebenroth 
das Blut abgewafchen hatte. Er ift meines Vaters befter Freund, 
der Herr Pate, und e8 tut ihm auch Teid, wenn er fagt, er fei ein 
Narr. Bon mir fagte die ſchöne vornehme Dame, die heute hier 
war, in ihren Gedanken, ich fei blödfinnig — o — und fo, fo hat 
mich noch Fein Menfch angefehen wie die fohöne Dame. Auch 
mein Bater tat ihr leid: o, wenn fie nicht fo übel dran wäre, 
wie wir alle hier?! Wenn fie alles kann, was fie will!!! — — 

Da machte fich das Elend von neuem in einem Tränenſtrom 
Luft. Ein großer Nachtraubvogel flatterte ſchwarz aus dem 
Walde hinter dem Haufe Querians auf, er hob fich fehwerfällig 
in die Luft und fand flügelfchlagend einen Moment über der 
Feuereffe und dem Haupte Eilifes. Dann zog er langfam durch 
den weißen Glanz des nächtlichen Friedens, und Eilife Duerian 
fah ihm erfchredt durch ihre Tränen nach, bis er plößlich über 
dem Dorfe jach herabfiel und verſchwand. 

Beinahe hätte fich ein Schrei um Hülfe dem jungen Mädchen 
entrungen, atemlos horchte e8, ob fich nicht ein Todeskreiſchen ver; 
nehmen laffe; aber es blieb ftill. 

„O, der Verderber !” flüfterte die Tochter Querians, und in 
diefem Augenblick wälste fich ein Dichterer, fehwärgerer Qualm vom 
Herde des Baters durch die Effe, an der fie lehnte, und ein röterer 
Glutſchein beleuchtete die aufwärts rollenden Wirbel des Rauches. 
Der Vater mußte das Feuer, das ihm bei feinen närrifchen 
Werfen half, zu neuem Aufflammen angefehürt haben. Es 
krachte und praffelte drunten wie von trodenen harzigen Fichten; 
zweigen und Tannenzapfen. Bor dem erftidend fich verbreitenden 
Gewölke glitt Eilife Duerian wieder hinab von ihrem wunderlichen 
nächtlichen Lugaus zu ihrem Fenfter hin. Noch zögerte fie eine 
Minute; dann fegte fie den Fuß auf den ſchwankenden Aſt. Er 
serbrach auch diesmal nicht unter der leichten Laft, und geſchmei— 
dig erreichte fie, an dem alten treuen Stamm hinunter, den feften 
Boden ber Erde, Noch einmal fah und horchte fie nach dem 


380 


Haufe Hinz ſchwere Hammerfchläge erfchallten jeßt aus der Werk; 
ftatt des Vaters, ſcheu rückwärts fehreitend, auf den Fußſpitzen, 
zog fich Eilife aus dem Mondenfchein in das Dunfel unter den 
Bäumen zurüd. Dann wendete fie fich rafch, das Gebüfh an 
der Tallehne raufchte, wie fie ſich durchwand. Sie war ver; 
ſchwunden hier, und niemand begegnete ihr auf jenem fernen 
lichten Streif an den Bergen, der Landftraße, die auf der letzten 
Höhe im Hochwalde fich dem Auge des Dorfes verlor, 








25* 


381 


Zehntes Kapitel. 


) uf einem der äußerſten Vorberge des Gebirges, eine gute 
Stunde hinter jenem Hochwalde, lag eine elegante Villa 
von jener jedem Stil, aber auch jeder Bequemlichkeit fich fügenden 
Bauart, in welcher e8 die jeßige Zeit zu einer fo großen Voll; 
fommenheit gebracht hat. Zierlihe und wohleingerichtete 
Nebengebäude und Stallungen, ein fohöner Blumengarten mit 
Springbrunnen und Terrakotta-Figuren — alles an dem rechten 
Pak — umgaben das Haus, Ein fünftlerifcher Sinn und eine 
fachverftändige Hand hatten das Grundftüd für den Zweck aus 
der Wildnis herausgegriffen, e8 mit Mauerwerk und Pflanzen; 
wuchs bededt und mit einem hübfchen eifernen Gitter umzogen. 
Eine Wiefe flieg im Rüden der Villa aufwärts am Berge bis 
an den Wald. Aus den Fenftern und von den Balkonen der 
Borderfeite fah man hinunter über den Garten auf eine Heine 
Stadt mit mittelalterlihen Türmen und den Logterhäufern, den 
Neftaurationen eines frifch und waldduftig in den Neifebüchern 
Deutfchlands und des Auslands aufgetauchten Badeorts für 
Leute, die eben nicht ins Bad reifen wollten. Über das Städtchen 
weg lag auch hier die norddeutfche Ebene vor den Augen, dag 
heißt ein gut und wohlbebaut Stüd von derfelben mit Städten, 
Dörfern, Eifenbahnlinien bis in die weitefte Ferne hinaus, 
„Ein gewiffer Unterfchted zwifchen der Villa Bebenroth und 
der Billa Veitor läßt fich nicht in Abrede ftellen,” fagte der 
Juſtizrat Scholten, als er im vorigen Sommer feine Freundin 
zum erften Male in ihrem Sommeraufenthalt befuchte und den, 
felben gründlich inſpizierte. „Wahrlich, Jehova iſt groß, und 


382 








e8 wundert mich gar nicht, daß fich immer noch Leute finden, die 
Panier für euren alten Rachegott aufwerfen, da er dergleichen 
aus dem Handel mit alten Kleidern und neuen Papieren auf; 
wachſen läßt.” 

Die Frau Salome hatte herzlich gelacht und erwidert: 

„Als mein feliger Mann vor ſechs Jahren fich diefes idylliſche 
Winkelchen einrichtete, war man fofort fo freundlich, ihm eine 
Telegraphenlinie an den Fuß des Berges nachzulegen: die Ge 
legenheit, Ihre Überrafehung nach Berlin, Wien, London, Peters; 
burg und Paris fundzugeben, ift Ihnen alfo aufs Bequemfte 
geboten. Mein feliger Mann —“ 

„Bleiben Sie mir mit Ihrem feligen Mann vom Leibe!” 
hatte Scholten faft wütend gegrungt, und die Baronin Salome 
Veitor Hatte von neuem gelacht; aber dann doch nach einem 
Seufzer tief aus der Bruft Atem geholt und gemeint: „Lieber 
Freund, ich glaube zwar mit Ihnen, daß das Schidfal ung im 
Grunde nur deshalb zufammengeführt und zu fo guten Bekann⸗ 
ten gemacht hat, damit wir einander heiter die größtmöglichen 
Sottifen fagen, allein wir wollen ung die guten Stunden doc 
nicht ftets von vornherein verderben. Laflen wir die Toten ruhig 
unter ihren Steinplatten im Tale Joſaphat; die Lebenden machen 
uns wohl genug zu fehaffen, vorzüglich, wenn man eine große 
Verwandtſchaft hat, wie Ich, und einen bei den Namen Wien, 
Berlin und Frankfurt am Main eine Gänfehaut am heißeften 
Sommertage überfommt. Ich bin eine geplagte Frau, Scholten, 
und es ift durchaus nicht notwendig, daß auch meine Freunde 
ihre Lazzis an meine Wände fohreiben, wie ein Teil meiner jüngern 
und Altern Nachbarfchaft aus der Stadt da unten die feinigen an 
mein Gartentor.“ 

Das war im vorigen Jahre gewefen, und feitdem hatten fich 
der Juſtizrat und die Frau Salome noch um vieles beffer kennen 
gelernt; und auch die Bekanntſchaft eines ziemlichen Teils des 
großen Kreifes lieber Verwandten der Dame hafte der alte 


383 


Scholten gemadt. Er wußte ganz ficher, daß die Baronin Veitor 
eine geplagte Fran war und daß ihr das „Ichor“ in ihren Adern 
das Dafein feineswegs gemütlicher machte, Die fo weit über ganz 
Europa verbreitete Blutsverwandtfchaft gab nichts auf das Ichor, 
fie ärgerte fich fogar dann und wann an dem Ichor, fie ließ e8 die 
Couſine häufig merfen, daß das Schor feinen Kurs bei ihr habe, 
Was tue ich mit dem Ichor? fragte die Verwandtſchaft; und die 
Frau Salome, die, wenn fie in Leidenfchaft geriet, fofort immer 
in den jüdischen Agent und Snverfionsredeftil fiel, fagte zu ihrem 
guten Freunde: 

„Es ift immer dasſelbe gewefen mit mir, und e8 wird mit mir 
bleiben immer das Nämliche. Sch habe in einer feinen Wiege 
gelegen —“ 

„Meine Wiege hätten Sie mal fehen follen,” warf der Juſtiz⸗ 
rat ein. 

„And ich bin geboren mit einem großen Efel vor vielen Din; 
gen, und alles, was mir zumider ft, ift Tiftiger und mächtiger als 
ich, Und auch ich bin aus Affeontenburg wie mein Stammes; 
genoffe, der gute Heinrich Heine, und ich bin ein armes Mädchen 
und Weib gemwefen, und ich habe mich Duden müffen vor jedem 
Affront, der mir angetan worden ift zu Affrontenburg.“ 

„Haben Sie das wirklich?” fragte Scholten, und dann kam 
ein Strahl von dem uralten foharfen Geterblid, wie er durch die 
Bücher von den Königen funfelt und in den Büchern der Makka⸗— 
bäer vor Antiochus dem Syrier. 

„Sa, fie hätten e8 gern gehabt, wenn ich hätte auch gelächelt 
zu jeglichem Affront; aber ich Habe dann und wann gelacht! Ich 
habe auch meine Zähne, und fie find echt; und find echte jüdifche 
Zähne. Ich habe gebiffen, wenn ich gleich Feine biffigen Gedichte 
und Lieder drucken laffen konnte, wie der Parifer Poet, mein 
talentvoller Here Vetter aus dem Morgenlande, Sch fehillerte 
bunt und lieblich — purpurn, golden, grün und violett und zeigte 
ein rot Zünglein, wie eine fremde Schlange in der Menagerie, 


384 





Es war aber gefährlich, die Hand in den gläfernen Behälter zu 
fenfen! Das Gleichnig paßt nicht ganz. Der Menfch blieb draußen 
vor dem Zelt: wir waren ganz unter ung, und es waren auch 
recht noble Charaktere unter uns: der folge Löwe, der Brave, 
Huge Elefant, der biedere Bär, das würdige Kamel! aber die 
Füchfe, die Luchfe, die Wölfe und dergleichen Nachbarfhaft war 
fhlimm, und vor allen anderen die Affen.“ 

„Es geht ordentlich ein Geruch von Ihrer Schilderung aus, 
meine Befte,“ meinte der Juſtizrat mit innigfter ungeheucheltfter 
Teilnahme. „Na, auch ich war in Arfadien, bin fogar noch immer 
dein, und Sie brauchen nichts weiter zu ſagen.“ 

„Sott fei Dank!” rief dann die Frau Salome, „Manchmal 
fomme ich mir nicht vor wie eine gefangene Schlangenfönigin im 
Glaskaſten, fondern wie ein arm Feuchend Häslein, und dann if 
e8 immer ein Troft, einem Kameraden zu begegnen, der gleichz 
falls hinkt und mit allen Hunden gehegt wurde.“ 

„Nun, ich bin ein alter Rammler, und wie ich gebraten ſchmecken 
werde, weiß ich nicht. Horazifche Dden wie’mein Landsmann, 
der Profeffor Namler aus dem Preußenlande, laſſe ich auch 
nicht drucken; aber den Horaz lefe ich und den Francois Marie 
Arouet dazu. Ich komme ſchon durch und weiß fertig zu werden 
mit Berlin und Hannover,” 

„Mnd ich mit Affrontenburg!“ rief die Frau Salome mit 
einem ſozuſagen glüdlichen Lächeln. „Darf ich Ihnen noch eine 
Tafle Tee einfchenfen, Scholten?“ 

Die Sonne geht wohl glorreih, Har und würdevoll ver; 
nünftig auf; aber die Menfchen, die auf die Berge Flettern und 
dort in wüften Hirtenhütten und unfomfortabeln Hotels über; 
nachten, um den Sonnenaufgang zu fehen, haben gewöhnlich 
ermüdete, überwachte Leiber, heiße Stirnen und fieberifch 
trodene Zungen und Hände und wenig Vergnügen von dem 
Pläſier. Der, welcher die Sonne wirklich aufgehen fieht, merft 
eben nichts Davon; e8 verfteht fich ihm von felbft, daß die Sonne 


385 


aufgeht und er an feine Arbeit. Diefe Bemerkung geben wir zum 
beften, weil der zweite Sonnenaufgang nach der Fühlen Mond; 
fcheinnacht, in der Eilife Duerian von dem Dache ihres Vaters 
verfhmwand, einen außergewöhnlich heißen Morgen, eine feltfam 
fchwüle Temperatur brachte. Und alles zu Berg geftiegene 
Touriftenvolf im Harz behauptete, nie die Sonne fo wundervoll 
und eigentümlich emporfteigen gefehen zu haben. 

Es war etwas daran. Auch die Arbeiter auf dem Felde 
taufchten vom erften Erfcheinen der roten Kugel ihre Bemerkun⸗ 
gen darüber aus und hielten von Zeit zu Zeit ein mit ihrer Ber 
fhäftigung, um fi um und nach oben zu fohauen. Es war ein 
Dunft in der Luft, den der Mittag nicht zerftreute, und in der 
Ferne, über der Ebene im Norden, Nordweften und Nordoften 
lag diefer Dunft zufammengefchichtet, doch nicht zu maffigem 
Gewölf, fondern wie ein dunkler Schleier. Gegen elf Uhr 
morgens wurde die Hige fehler unerträglich; der dichtefte Wald⸗ 
[chatten gab feinen Schuß vor ihr; die Tiere in der Gefangen, 
haft wie in der Freiheit fingen an zu merken, daß nicht alles 
richtig fei in der Aimofphäre, und die Menfchen fragten einander: 
„Nun, was foll denn das mal wieder werden?” Am verwundert; 
ften aber fahen fich die Bergleute in der Oberwelt um, wenn fie 
aus ihrem unterirdifchen Neich zutage auffuhren. Alteſte, 
Kappen und Jungen fohüttelten in gleicher Weiſe die Köpfe, 
fobald fie den Drud diefes glühenden Firmaments auf ihnen 
verfpürten, und fie huben einer wie der andere an, von aller; 
hand gefährlihen Vorkommniſſen da unten in ihrem Neich, 
von den böfen Wettern und den Bergwaffern, vom Einfturz und 
dergleichen zu fprechen, und erinnerten fich gegenfeitig an einzelne 
Fälle, wie das damals war, als das und das gefchah, und die und 
die zugrunde gingen da unten in der Tiefe. — 

Teoß gefchloffener Zaloufien und niedergelaffener Vorhänge 
war die Hite auch in der Villa Veitor arg zu fpüren. Die bunten 
Farben auf Wänden und Deden Iinderten fie nicht, die bunten 


386 





Glasſcheiben machten fie nur noch bemerfbarer, und das Rauſchen 
des Springbrunnens im Garten gewann in der niedergedrüdten 
Phantafie eine merfwürdige Ähnlichkeit mit dem Singen und 
Brodeln eines überfochenden Keffeld auf dem Kohlenfeuer. - Die 
Frau Salome hatte den Kampf bereits aufgegeben; fie lag hin; 
geftrecdt wie die büßende Magdalena auf dem Bilde Correggiog, 
jedoch mit feinem Totenfopfe vor fich, fondern umringt von einem 
Kreiſe zerfmitterter deutfcher und ausländifcher Zeitungen. Gar 
fehr verwunderte fie fich, als fie, dag Journal des Debats zu dem 
übrigen werfend, jeßt unter ihrem Altane eine fremde Stimme im 
Verkehr mit ihrer Dienerfohaft vernahm. 

„Beſuch? Mein Gott, was ift das für ein Menfchenfind, das 
zu diefer Stunde und bei diefer Temperatur mich forechen will? 
Mer e8 auch fei, und was ihn zu mir treiben mag, wenn er nicht 
ſchwitzt, und wenn er mir drei vernünftige Worte im logifchen 
Zufammenhang mitbringt, fo ift der Aquator fein Vater, die 
Wüſte feine Mutter und der Siroffo fein rechter Bruder — o ihr 
Götter, es ift ja Scholten! — Scholten, find Sie e8 denn wirklich? 
Eben habe ich da noch gelefen, daß man wieder einmal die Stadt 
München mitten in den fibirifchen Steppen ald Spiegelbild in 
der Luft gefehen habe: ich bitte Sie, Scholten, reden Sie auch, 
geben Sie mir die Gewißheit, daß Sie fein Produft der Fata 
Morgana find!” 

„Jawohl — leider bin ich’8, und heute mal ich zu Efel!” 
ächzte der Juſtizrat, in den nächften Seffel fallend und die Mütze 
im die fernfte Ede ſchleudernd. Halstuchlos, mit aufgeriffener 
MWefte, ftierte er um fih, und wenn’s auf Schwigen anfam, fo 
gehörte er nicht in die Verwandtfchaft, welche die Baronin ihm 
foeben zurecht gemacht hatte. Er ſchwitzte gräßlich. 

„3a Manlefel — im Galopp zu Efel bin ich da; das heißt 
was noch von mir übrig iſt. Warten Sie nur, — es ift eine Kunft, 
drei verftändige Worte zufammenzubringen. Ah, den ganzen 
Kant und Nriftoteles für ein Glas Selterswaffer mit einer 


387 


Nuance von Kognak! D Jeſus, meine Befte, und Sie haben e8 
fogar bei diefer Witterung fertig gebracht, fich mit der orientaliz 
ſchen Frage zu befchäftigen?” 

Das letztere war mit einem Häglichft matten Blick auf den 
Zeitungshaufen gefagt. Die Baronin fand zwifchen den Auf; 
trägen, welche fie in aller Haft dem Diener betreffs der Aufrich- 
tung und Erfeifhung des lieben und liebenswürdigen Befuchers 
gab, die Zeit, mit fröhlicher Miene gu erwidern: 

„Ste kennen doch meine Stellung zu der Lehre von der Seelen; 
wanderung, Scholten? Vor dritthalb taufend Jahren kam ich 
aus Saba zum König Salomo.“ 

„Jetzt laſſen Sie mich gütigft mit alle dem in Ruhe, Frau 
Salome! Auf der Wanderfchaft befindet fich meine Seele augen: 
bliclich auch, und ich wollte nur, fie hätte das Eisbärenfell fchon 
gefunden, in das fie am Tiebften aus ihrem jegigen abgefchmadt 
unerfräglichen Futteral fih verziehen möchte. Uh — ob, am 
Nordpol ift es ſchön!“ 

„Aber da8 Dach der Witwe Bebenroth ift an einem folchen 
abnormen Sommermorgen wie der heutige, gegen einen Efel; 
riet von dritthalb Stunden gehalten, auch nicht zu verachten? !” 

Da fprang der Juſtizrat Scholten vor Argernis pfeifend in 
die Höhe und fehrie: 

„Glauben Sie etwa, meine Gute, ich fei pour vos beaux yeux 
jeßt hier? Da könnten Sie fich ebenfogut einbilden, Frau, mein 
Eſel Habe mich gefattelt und gezäumt, um auf mir zur Vifite nach 
der Billa Veitor zu reiten! Alle Teufel, Sie Närrchen — meine 
Gute, Liebe, Befte, der Teufel reitet mich freilich und nicht mich 
allein, fondern das Dorf, den Querian, die Eilike, fur; uns alle! 
Die Eilife ift feit geftern verfchwunden und bis heute noch nicht 
twieder gefunden; Duerian ift vollftändig toll geworden, und ich — 
ih war drunten in der Stadt auf der Kreisdireftion, um als 
braver deutfcher Staatsbürger dafelbft befcheidentlich anzu— 
fragen, was unter den obmwaltenden Umftänden zu tun fei. 


388 


Glauben Sie wirklich, ich Habe ganz und gar vergeblih Juris; 
prudenz findiert? Glauben Sie, ich wiffe ganz und gar nicht, 
woran der germanifche Menfch in feinen Nöten fich zu halten 
habe — he?“ 

„Ich weiß nur, daß Ihr Studium und Ihr Germanentum 
Sie nicht hindern, einer der ausgegeichnetften Grobfäde zwifchen 
der Weichfel und dem Wasgau zu fein; und ich glaube verfichern 


zu fünnen, daß die heutige etwas ſchwüle Witterung eine mil; 


dernde Wirkung auf She Temperament und Ihre Ausdruds; 
weife nicht ausgeübt hat.” 

„Und Ihr Eigfeller ift fo vortrefflich, und Ihr Rheinwein dito 
— ah, noch ein Glas Soda! So? ich grob, Liebfte? Außer mir 
bin ich, — weiter nichts! Verrückt bin ich, — hundertmal toller 
als Auerian, und das ift das Ganze, und dann fommen noch die 
Leute, die hier auf dem Divan Tiegen und die fühlen Bergwaſſer 
in ihre Treägheit, um nicht zu fagen Faulheit, hineinfprudeln 
hören und wollen von Grobheit reden! Verrüdt, verfehroben und 
toll bin ich; Querian und Schwanewede aufeinander gepadt, 
reichen Tängft nicht mehr an den armen Scholten heran. Und 
num falten Sie einmal Ihre glatte, Huge Stirn, Frau Salome; 
taten Sie, helfen Sie! die Polizei allein tut's nicht, zumal wenn 
die Landreiter über Land geritten find und heute abend erft nach 
Haufe fommen werden.“ 

„Nehmen Sie noch ein wenig Eiswaffer und verfuchen Sie 
dann, mir ruhig zu erzählen, was vorgefallen ift. Vor allen 
Dingen aber, was ift mit dem Kinde, dag ich vorgeftern bei Ihnen 
fennen lernte?” 

„Das Mädchen ift fort, und mein furiöfer Freund Duerian 
behauptet, man habe e8 ihm geftohlen. Und ich foll es ihm ger 
ftohlen haben! Wurfchnaubend hat er mir feine dahingehende 
Anfiht von der Sache in die Zähne gerückt.“ 

„Und diefes ift nicht der Fall? Sie haben feine Schritte 
getan —“ 


389 


„sch habe nichts getan. Nach Pilfum an Peter Schwanewede 
habe ich gefchrieben um Rat; und in der Nacht, während ich 
fohrieb und Sie nach Haufe ritten, muß das Ding Davongegangen 
fein. Da ift ein Halunfe im Dorfe, ein armer geiftesfchwacher 
Kretin, halb blind und ganz taubftumm, Auguſt fein Name, und 
mir fonft als Charakter ziemlich verdächtig, der hat zu Protokoll 
gegeben, daß er das Mädchen im Mondfchein von ihres Vaters 
Dach Hetternd und im Walde laufend gefehen habe. Seine 
Mutter hat ihn geprügelt, und jedesmal, wenn ihn feine Mutter 
geprügelt hat, fo hat ſich der Hydrokephalus, der Wafferfopf und 
der Kropfmenſch, in den Schuß der Eilife begeben, das heißt, 
unter einem überhängenden Stein im Bufch hinter ihrem Haufe 
feine Zuflucht genommen. Er fagt nun aus, die Eilife fei an ihm 
vorbeigefchlüpft, und ich glaube nicht, daß der Tölpel diefes Mal 
fügt. Fort ift fie, und dann ift am Morgen Duerian zu mir 
gekommen; — feit langer Zeit zum erften Mal am hellen Tage 
bat er fih aus feiner Höhle erhoben — und hat feine Fräulein 
Tochter von mir zurücdverlangt. Da hat es Auftritte gegeben 
in der Idylle bei der Witwe Bebenroth und auf der Dorfgaſſe, 
die mir den Aufenthalt auf Patmos für alle Zeiten verleidet 
haben. Der ganze liebenswerte Ort ift zu einem Tollhaufe ger 
worden, und alles Bergmannsvolk hat für den primus inter 
pares, für meinen Freund Auerian, Partei genommen. Wahr; 
haftig, da leben wir mitten im erleuchteten neunzehnten Jahr; 
hundert und erleben e8, daß einem die Tierheit, der Unverſtand 
die Tür mit den Köpfen einrennen und Recht verlangen für ihren 
weifen Meifter! Sie nennen ihn wirklich und wahrhaftig ihren 
weiſen Meifter, und fie haben vor meiner juftigrätlichen whiftflub; 
und landtagswahlfähigen Nafe auf den Tisch gefehlagen und es 
fih verbeten, daß ich mich in — ihre Angelegenheiten mifche! 
Sie haben behauptet, ich Habe das Kind fortgeſchickt; und Duerian, 
felbftverftändlih Methode in feinen Wahnfinn bringend, hat 
mich fehr verftändig gefragt: ob ich in der Tat nicht die Abſicht 


399 








habe, mich in feinen Haushalt einzumifchen und ihn in dem 
Seinigen zu flören? — Nun komme einer einem Narren wie er 
mit der Kreisdireftion und der Polizei! — Dem Borfteher muß 
ich e8 laſſen, er hat ſich als ein vernünftiger Beamter gezeigt, 
und auf einen Teil der Bauern konnten wir gleichfalls zählen als 
verftändige Männer. So haben wir den Wald abgefucht bis zum 
geftrigen Abend, die Eilife jedoch nicht gefunden. Und nun figt 
der Duerian wieder und hat fich noch fefter verbollwerft in feiner 
Behaufung, und die Bergleute Haben die heillofe Gefchichte unter 
die Erde getragen und verarbeiten fie da weiter. Frau Salome, 
in dem Augenblid, wo Sie als Hare ifraelitifhe Baronin und 
europäifche Bankierswitwe und ich als hannoverſcher Juſtizrat 
hier am hellen Tageslichte verhandeln, wird da unten in der 
Tiefe auch verhandelt, und wenn fie ung nicht eine Kompagnie 
Musketiere ſchicken, ift fein Gedanke daran, daß wir den Duerian 
in ein Aſyl für Nervenkranfe und die Eilife in unfere Hände und 
ein Erziehungsinftitut für junge Damen befferer Stände friegen, 
Alles unterirdifche Volk ift für Querian, die Waldarbeiter find 
fohwanfend, und nur die Bauern, wie gefagt, find zum Teil für 
ung, wollen aber natürlich erft willen, was der Herr Kreisdireftor 
zu der verfluchten Gefchichte fagt. Jawohl, die suftändige Behörde 
da unten in der Stadt wartet ab, daß ihre Landdragoner nad 
Haufe kommen, und hier fiße ich. Mein Reittier fteht in der 
goldnen Forelle, und mein Brief an Peter von Pilfum befindet 
fih auf der Eifenbahn, auf der Reife nordweftwärts. Sollte man 
da nun nicht felber rappelig werden; zumal an einem folchen 
mörderlihen Tage, wo die Wendefreife des Krebfes und des 
Steinbods fich einem im Hirnfaften zu ſchneiden fcheinen, und 
einem ber Gleicher gerade über die Nafe herunterläuft?!“ 
„Die Unglüdlichen !” feufzte die Frau Salome, und fie meinte 
den Vater und das Kind in dem aufgeregten Dorfe hinter den 
Bergen. „Was für einen Rat wollen Sie von mir im diefer 
traurigen Sache? Nehmen Sie mich mit fichz ich werde fogleich 


391 


den Befehl geben, anzufpannen, und wir fönnen auf der Stelle 
abfahren. Ich will mit dem unfeligen Menfchen reden; ich will 
ihn fehen; — 9, ich weiß, ich kenne ja noch gar nichts von ihm! 
Sie haben mir von ihm gefprochen; aber von feinem Leben, feinen 
Anfängen und feinem Entwidlungsgange faum etwas erzählt, 
Scholten.“ 

„Da iſt eben wenig zu erzählen, gute Frau. Sch, Schwane⸗ 
wede und Duerian find ſämtlich aus Auadenbrüd, drei Wieder, 
hopfe aus einem Neſte; — Schulgenofien, Jugendgenoſſen, 
Studienfreunde, wir alle drei zufammen; — aber drei geborftene 
Töpfe machen feinen ganzen und heilen. Jeder von ung ift feine 
eigenen Wege gegangen, und hier find wir angefommen; jeder 
mit feinem Sprunge vom Henfel bis zum Boden, und nur ich 
von der alten Drahtbinderin Notwendigkeit für den ferneren not⸗ 
dürftigen Lebensküchengebrauch notdürftig Eonfervieret. Sch 
nehme e8 nicht zu fehr übel, wenn Sie mich für den Vernünftig⸗ 
ften von den drei edlen Duadenbrüdern halten wollen. Daß ich 
Juriſt bin, wilfen Sie; Schwanemwede hat Theologie ſtudiert und 
Querian eigentlich alles und die Bildhauerei noch obendrein. 
Da er der Begabtefte von ung war, fo fuhr die Welt natürlich 
am fehlimmften mit ihm. Um irgendeinen Halt zu haben, 
heiratete er und hat fein Weib bald genug in lauter Liebe und 
Zärtlichkeit zu Tode gequält. Sa, Frau, ich laſſe meinen Efel in 
der goldenen Forelle an der Krippe, und Sie laffen anfpannen, 
und wir fahren zufammen. Sie follen Auerian fehen und mit 
ihm reden. Als er in die Welt fiel, purzelte er auf den Nüden 
wie ein Käfer. Er hat auch fechs Beine oder Krallen wie ein Käfer, 
und damit zappelt und greift er in der Luft umher und hat e8 
immer noch nicht aufgegeben, den Halm zu finden, an dem er fich 
aufrichten könne. Bis dato ift er auf dem Rücken liegen ge 
blieben und hat jenen Halm oder Strohhalm nicht gefaßt. Im 
fünfzehnten oder fechzehnten Jahrhundert würde er vielleicht ein 
großer Mann geworden fein, ein Alchymiſt und Urchimedifus am 


392 








Hofe von Burgund, ein Profeffor zu Bologna, Prag oder Witten; 
berg, oder ein fürtrefflicher Skulptor in der Bauhütte des Kölner 
Domes, Es iſt ſchade um ihn; ich verfichere e8 Sie, Frau Salome! 
Im Gefolge Eurer föniglichen Majeftät von Saba würde er fich 
auch gar nicht übel ausgenommen haben — er hat eine leichte 
Hand und fehneidet ausgezeichnet gut Krähenaugen aus; auf der 
Univerfität hat er fie mir oft ausgeſchnitten. Ach, wie es jeßt 
ift, wird ihm wohl fein Hofmarfchallamt bei feinem Begräbnis 
eine Hofkutſche nachſchicken! Ya, laffen Sie anfpannen, Frau 
Salome, und fahren Sie mit mir zu meinem armen Freunde 
Querian.“ 

„Wie iſt er in dieſes Dorf gekommen?“ 

„Gerade wie Sie auf dieſen Vorſprung des Gebirges, Frau 
Salome. Sie bewohnen hier die Villa Veitor, weil Ihnen der 
Lärm, der Geruch und die Verwirrung dort in den Städten der 
Menſchen zu viel werden. Er hatte wohl noch zwingendere Gründe. 
Mit einem goldenen Löffel ſchöpfte er nicht vom ſüßen Brei dieſer 
beſten Welt. Ei, und die Tollen ſind ſchlau! Es geht eigentlich 
nichts über die Liſt der Wahnſinnigen, und es iſt ein großes 
Glück für uns, daß ſie ſelten ſo heimtückiſch ſind wie die ver— 
nünftigen Leute. Querian ging nur ſchlau den Leuten durch, die 
ihm nicht gefielen; — habe ich Ihnen nicht geſagt, daß die größere 
Hälfte des Volkes hier auf ihn ſchwört?“ 

Die Baronin zog die Glocke und befahl, den Wagen hervor; 
zuziehen und die Pferde anzufchirren. Der Juſtizrat Scholten lobte 
noch einmal den Wein, das Waffer und den Eiskeller feiner Gaft; 
freundin, dann fprach er mit gedrüdtem Tone: 

„Ich warne Sie, Liebſte. E8 gibt feine gefährlicheren Ver; 
bindungen als mit Menfchen, welche die Rolle, die fie nur fpielen 
follen, ernft nehmen. Mit dem mächtigen Kaifer Octavianus 
Auguſtus ließ fich vortrefflich auskommen und höchſt angenehm 
verfehren; aber mit dem armen hinterfinnigen Schluder, meinem 
Freunde Erneftus Duerianus, läßt fich verdammt fchlecht Kir; 


393 


fchen effen. Wer bürgt Ihnen dafür, befte Frau, daß nicht die 
Berflehtungen und Verpflichtungen, in welche Sie vielleicht 
duch diefe Fahrt geraten, Ihnen die Sommerfrifche hier an den 
Dergen ganz fo verleiden, wie fie mir bereits zumider gemacht 
worden iſt?! Iſt's die Witterung, oder etwas anderes — Ich 
traue dem Tage nicht.“ 

„sch bin aus Affrontenburg und fürchte mich vor feinen Ver; 
wicklungen.“ 

„Schön,“ ſeufzte der alte Scholten. „Neulich traf ich da unten 
im Kurgarten eine recht patriarchaliſche Familie, deren greiſendes 
Oberhaupt eben einen von einem jüngeren Sprößling unter dem 
Nebentifche zwifchen den Füßen der Nachbarfchaft gefundenen 
Silbergrofehen mit hundert Prozent Agio bezahlte. Lange hat 
mir nichts fo wohl gefallen. Sp richtet man in der richtigften 
Weiſe für alle Vorkommniſſe des Lebens ab! Die liebe Familie 
war auch aus Berlin, Frau Salome! Eine fehr hriftliche Familie, 
Euer Gnaden.” 

„Seien Sie nicht allzu unsorfichtig, Scholten!“ fagte die 
fchöne Fran lächelnd, „Sie wiffen, ich beiße, wenn man die Hand 
zu vermeffen in mein gläfern Haus und Gefängnis ſteckt.“ 

„Beißen Sie!” rief Scholten. „Davor fürchte ich mich auch 
nicht; ich Fenne den Saft, der in die zierlichen Wunden fließt. 
Sie alter Schmeichler, Sie! werden Sie fagen; nicht wahr, Frau 
Salome? Übrigens wartet der Wagen, und wir können ab; 
fahren.” 

Dem ftellte fich noch ein Hindernis entgegen. 


394 








Elftes Kapitel. 


Ei" Hindernis konnte man es eigentlich nicht nennen; e8 war 
vielmehr ein Begebnig, dag fie noch aufhielt. Sie waren 
aus dem Saal auf den fiesbededten Rundplatz der Hinterfeite 
des Haufes hinabgeftiegen, wo der leichte, offene Wagen fie an 
der Veranda erwartete. Seltfamermweife fehien das ganze Haus⸗ 
perfonal fich diesmal für die Abfahrt der Herrin außergewöhnlich 
zu intereffieren. Es hatte jedoch einen anderen Grund, daß 
jedermann feine Befchäftigung unterbrochen oder ganz auf 
gegeben hatte. 

„Bei der Hiße folch eine Vergnügungsfahrt !” ächzte der Juſtiz⸗ 
tat mit einem anflägerifchen Aufblide zum erbarmungslofen, 
verfchleierten Blau über feinem Kopfe. 

„Wollen Sie ein Eremplar der Dönffee mit auf den Weg 
haben?“ fragte die Baronin lächelnd. „Das ift immer fühl und 
erfrifcht euch germanifche Gemüter. Ich meinesteils verfeße 
mich einfach in der Phantafie nach Judäa, wo fie an die Wüſte 
Edom ſtößt; — das fühlt auch.” 

Sie fegte eben den Fuß auf den Wagentritt, als fie von ihrem 
Gärtner angefprochen wurde. 

„Snädige Frau, wir haben jetzt endlich unfern Gartendieb. 
Er foll ung Hoffentlich von num an nicht mehr durch die Heden 
brechen. Im Wafchhaufe haben wir ihn in Numero Sicher unter 
Schloß und Riegel, und in der Mooshütte habe ich ihn beim 
Fittich genommen. Solch eine Frechheit! Denfen Sie, er lag 
und fchlief, fo voll gefreffen hatte er fich in den Kirſchen.“ 

„Haltet ihm eine Nede, Friedrich; gebt ihm einen feinen 


W. Raabe Sämtliche Werke. Serie II, 26d 395 


Dentzettel und laßt ihn laufen,” meinte Scholten. „Selbft einen 
Mordbrenner follte man bei einer folhen Temperatur nicht vor 
Gericht ſchleppen.“ 

„Es ift fein Er; es ift eine Sie, Herr Juſtizrat.“ 

„Eine Sie?” fragte die Baronin. „Dann wollen wir doch die 
Berbrecherin fehen, Scholten. Schließen Sie einmal das Waſch⸗ 
haus auf und bringen Sie uns das arme Ding her, Friß! Ich 
will nicht umfonft den Blutbann auf meinem Gebiet ausüben. 
Gütiger Himmel, find denn die Kirfehen fehon genießbar? Ich 
würde e8 mir nie vergeben, wenn fich jemand die Nuhr auf 
meinem Grund und Boden holte.” 

Sm Haufen hatten fich die Leute auf die Waſchhaustür ges 
ſtürzt, und, inmitten des Haufens geführt, erfehien die Sünderin, 
die man in der Mooshütte fehlafend gefangen hatte, 

„sch traue meinen Augen nicht!’ rief der Juſtizrat Scholten. 

„Das Kind?” rief die Frau Salome. „Unfere Eilife Querian!“ 

„Die Eilike!“ wiederholte Scholten matt. 

Die Dienerfchaft der Villa Veitor hatte ihren Fang verwundert 
freigelaffen und ihren Kreis um die Gefangene auf einige Schritte 
erweitert; wie fchlaftrunfen auf den Füßen ſchwankend, fand das 
Mädchen und ftarrte aus gefchmwollenen, geröteten Augen blin— 
zelnd umher. 

„Ich habe keine Kirſchen geſtohlen!“ rief es. „Ich ſtehle nicht. 
Mein Vater macht unſterbliche Götter, und ich ſtehle nicht! Sie 
lügen wie die Frau Bebenroth; ich weiß nichts von des Herrn 
Paten Huhne. Die Köhler im Walde haben mir genug zu eflen 
gegeben. Ach wollte nur die Dame befuchen — fo wahr mir 
Gott helfe, ich wollte nur die ſchöne Dame noch einmal fehen !” 

„Mich Haft du aufgefucht, mein liebes Kind? Du bift um das 
Hans gefhlichen — großer Gott, vielleicht feit vorgeftern! — 
Weshalb bift du nicht hereingefommen zu mir!’ 

„sch habe mich doch gefürchtet, und ich habe mich auch ges 
ſchämt. Es war zu fehön,“ 


396 








Juſtizrat Scholten faß auf einem Rohrſtuhl unter der Veranda 
mit Hm und Ha und einem fortwährenden Abnehmen und 
Wiederaufſetzen der Mütze. Jetzt ließ er die Ueme hängen und 
ftöhnte: 

„War ich die vielleicht auch zu ſchön, Eilife? Na, ich fage nichts 
mehr, und ich tue nichts mehr. Hier fie ich wie ein obergerichts⸗ 
advokatliches Fräulein von Klettenberg und warte ruhig ab, was 
noch weiter paſſiert.“ 

„Wir verfchieben unfere Fahrt in den Wald noch um eine 
Stunde, nicht wahr, Scholten?” fragte die Frau Salome, und 
ſchon hatte fie die Eilife unter dem Arme gefaßt und führte fie 
die Treppe hinauf in ihren Salon zurüd, 

Der Juſtizrat folgte langfam; aber im Saal angefommen, 
warf er feine Mütze auf den Boden und rief: 


„Sch hänge alles an den Nagel und mich dazu! Was hilft 
mir nun meine mit den nüßlichften Studien hingebrachte Jugend? 
Was hilft alle meine Jurisprudenz und andere Prudenz, all 
mein Wiffen und meine Weisfagungen? Ich habe nur den 
einen Wunfch, nämlich daß ein anderer fommt, um mir mit; 
zuteilen, was diefes Menfchenfind gerade hierher getrieben hat.“ 

„Ih ahne es,“ murmelte die Frau Salome. 

„Jawohl! Natürlich! Verſteht fich! Was mich anbetrifft, fo 
hat e8 bei mir nie mit dem ‚Ahnen‘ und ‚Schwanen‘ fo recht von 
ftatten gehen wollen, und wenn mir was geſchwant hat, fo ift 
fiher eine Dummheit herausgekommen. Nun fprich, Eilife, du 
Kindskopf, du Hedenfpag, du echte Tochter deines Vaters, was 
wollteft du hier? Weshalb bift du ung durchgegangen und haft 
den alten Duerfopf ganz rabiat und defperat gemacht und das 
ganze Dorf auf den Kopf geftellt? Iſt es dir gar nicht eingefallen, 
daß man dich fuchen, daß man fih Sorge um dich machen 
werde?“ 

Die ſchöne Baronin hatte währenddeflen das arme, zitternde, 


26 * 


397 


verfchüchterte Mädchen auf den Divan niedergedrüdt; fie hatte 
ihr auch ein Glas fühles Getränf bereitet und es ihr faft mit Ge; 
walt eingezwungen. Sie faß neben ihr und fprach ihr mit mütter; 
lihem, zärtlibem Tone zu: 

„Richt wahr, die Sache ift ganz einfach, mein Herz; du bift 
zu mir gefommen, weil du Gefallen an mir gefunden haft?“ 

„Sa, ja — ja!“ flüfterte Eilife Duerian. 

„Du haft mich vorgeftern, als ich bei euch — bei dem Herren 
Paten war, darauf angefehen, ob ich dir wohl helfen würde, 
wenn du zu mir kämeſt. Und weil du gern möchteft heraus aus 
deinem Leben in ein anderes, mein armes Herz, haben fie dich 
fchlafend gefunden in meinem Garten! Weil du fo groß gewachfen 
fein möchteft wie ich und folche Kleider tragen und reinlich fein, 
bift du gefommen! Du haft deinem Vater nicht aus Bosheit, aus 
böfem Herzen weglaufen wollen?!“ 


„Rein, o nein!” ſchluchzte die Eilife. „Es ift alles ſtärker 
gewefen als ich. Ich Habe müffen! — Ich weiß aber nicht zu 
fagen, was ich getan habe, was ich will, und das weiße Bildnis 
in meiner Kammer tft nicht meine Mutter, fondern eine fremde, 
heidnifche Frau. Meine Mutter ift tot.” 


„Und das Univerfum leidet am Sonnenftih! Ich — du — 
wir alle!” fchrie der Juſtizrat. 


„Seien Sie mir jegt fill, Scholten,“ fprach aber die Frau 
Salome mit fonveräner Herrfchaft über alle Zuftände der Minute, 
„Was willen Sie? Was verftehen Sie? Die Eilife foll jett ein 
ganzes Huhn effen; in meinem Küchenfehranfe wird fich wohl 
noch eins finden; und wir wollen mit ihr frühftüden, denn in 
Ihrem Dorf ift man doch nicht ficher, ob das Wirtshaus nicht 
wieder ratzenkahl gezehrt ift, wie fich Ihre gemütliche Witwe aus; 
drückt, Tieber Scholten. Nachher wollen wir dann alle drei in den 
Wald zum Vater Duerian fahren und alles in Ordnung bringen. 
Wir bringen doch noch alles in Ordnung!“ 


398 








Zwischen Lachen und Weinen hatte das die Frau Salome ge; 
rufen; doch der alte Scholten fagte feufzend: 

„Wahrfcheinlih wird eben alles fo, wie es jetzt ift, in der 
fchönften Ordnung fein; und wir find insgefamt nur zu dumm, 
um die Harmonie herauszufühlen und einzufehen. Appetit habe 
ich nicht, und kann das auch feiner von meinem Magen und mir 
verlangen. Mit der Ausficht auf einen Befuch bei Duerian zu 
verdauen? Das könnte einem Leber, Milz und Pankreas für 
alle Ewigfeit in Unsrönung bringen, und dann möchte ich freilich 
wohl den Philofophen fennen lernen, welcher dann auch das in 
der fhönften Ordnung fände.” 

Sprach's und frühftücdte mit und war der einzige von den 
dreien, der wirklich aß und zwar mit Appetit. Gerade um die 
zwölfte Stunde des Mittags fuhr man num wirklich von der Villa 
Veitor ab und gelangte bald auf die große Straße, den weißen 
Streif, welcher der Eilike fo deutlich durch die fühle Mondnacht 
gefchimmert hatte, 

Sept lag die allerheißefte Sonne auf diefer Straße; doch die 
Ebene fah noch dunkler im ftill ſchwülen Scheine herüber auf das 
Gebirge. Die Pferde ſchnoben und ſtöhnten auch, und die Höhen 
brachten heute feine kühlere Luft; im Gegenteil. Dagegen aber 
erblidte das Auge, ald man auf das fehon gefchilderte Berg, 
plateau gelangte, über die nächften Tannenwälder und Höhen; 
züge weg gegen Weften hin eine ſchwere, weiße Wolfenwand, die 
ſtill zu Tiegen fchien, aber Doch rücte, Der Broden war nicht mehr 
zu fehen, das Gewölk hatte fich bereits über ihn weg und vor ihm 
hergefehoben, aber ein Bergzug lag noch tiefblau, ja ſchwarz, 
einer legten Mauer gleich, gegen den unheimlichen, weißen, 
ftillen Feind, 

Stille! Nur einmal fam ein leifes, wie fpielendes Lüftchen 
und frieb gehn Schritte vor den Pferden ein Wirbelfäulchen von 
Staub und Strohhalmen und Blättern auf. Dann legte es fich 
wieder, und alles war ruhig wie zuvor; aber der Kutfcher, feine 


399 


Zügel fefter in der Hand zuſammen nehmend, wendete fich zu den 
Herrſchaften im Wagen und fagfe, mit der Peitfche nordwärts 
und weſtwärts deutend: 

„Das fieht ſchlimm aus; und es gibt heute ficherlich noch 
was,” 

„Sehen Sie zu, daß Sie ung wenigftens troden in das Dorf 
bringen, Ludwig.” 

„Das wird fich wohl noch machen laffen, Herr Juſtizrat. Das 
platte Land da geht ung überhaupt nichts an; wenn nur die Berge 
da vor ung ftandhalten. Auf dem Broden haben fie heute eine 
fchlechte Ausſicht.“ 

Die Straße lief jeßt ohne weitere bedeutende Steigung weiter. 
Die Pferde flogen, der Wagen rollte leicht auf dem guten Wege, 
und Eilife Duerian ließ wieder den Kopf auf die Bruft finfen 
und fohlummerte von neuem ein, betäubt durch die Hiße der 
Stunde und die Yufregungen der Teßten Tage, 

Die Baronin faß ftill dem Kinde gegenüber; nur einmal be; 
merfte fie: 

„Ich habe das in Sizilien vor einigen Jahren, Fur; vor Aus⸗ 
bruch eines fehr heftigen Drfang, fo gefehen und gefühlt, Wie 
dunfel e8 über der Ebene wird und doch wie Har die Türme der 
Städte und Dörfer und das übrige heroortreten !” 

„And es ift möglich, daß wir hierher feinen Tropfen Negen 
befommen. Daß wir von hier aus wie aus der Arche auf die 
Sündflut fehen. Ich habe das häufig erlebt. Den Wind aber 
friegen wir dann und zwar tüchtig. Sehen Sie, die Titanen, die 
den Blodsberg verfchlungen haben, vermögen jenen legten Wall 
nicht zu nehmen.” 

Die Frau Salome fohauerte zufammen: 

„Wiffen Sie, Freund, diefer unheimliche Sonnenfchein, der 
ung begleitet, troßdem daß die übrige Welt ringsum fo finfter 
wird, würde auf die Länge meinen Nerven zu viel werden. Ich 
traue den Göttern nicht. Sie machen ung hohnlächelnd ein Kom; 


400 








pliment mit diefer Sonne und in ihre für einen Egoismus 
verantwortlich, an dem wir nicht die Schuld tragen. Was haben 
fie im Sinne mit und? Sehen Sie nordwärts — da bricht es 
fchon los! Bei meinem Wort, ich gäbe viel darum, wenn der 
fhwarze Flügel ung wie unfere Brüder dort überfchatten würde, 
Ich würde mit Vergnügen naß bis auf die Haut werden.“ 

„Damit wird e8 nun wohl nichts werden,“ meinte Scholten. 
„Hier haben wir das Dorf. Machen Sie ſich übrigens nur ja 
feine unnötige Sorge, daß man uns in der Hinficht vergeffe. 
Kriegen wir heute nicht unfer Teil, fo friegen wir e8 morgen. 
Wir wollen jeßt aber die Kleine weden; da fie den Weg fo ziemlich 
verfchlafen hat, fo mag fie alles für einen Traum halten, ſowohl 
was fie felbft ausgeführt, als was fie von anderen Leuten er; 
fahren hat.” 

Der Wagen hielt vor dem Wirtshaufe, einer Schenke, die auch 
in einem der Bücher ftehen fonnte, von denen der Juſtizrat an 
Peter Schwanewede ſchrieb. Mit leifer, fanfter Hand ſtrich die 
Frau Salome der Eilife über die Stirn, und das Kind fuhr 
auf und fah fich wahrlich um, ald wenn es aus einem Traum 
erwache, 

Sie fliegen aus, und in dem Augenblid, als fie den Fuß aus 
dem Wagen festen, fanf das ſchwüle Himmelsgewölbe mit ver; 
doppeltem Gewicht auf fie. 

Die Baronin fagfe: h 

„Aber das Wetter haben wir im Fahren vieles gefprochen; 
über ung felber auch nicht wenig. Es find ung aber viele Leute 
begegnet, meiftens mit fohmweren Laften auf dem Rüden. Was 
diefe Fußgänger, diefe alten Mütterchen, Weiber und Kinder 
wohl von diefem Tage halten, haben wir nicht gefragt.” 

„Es ift ein Glüd, daß einem nicht alles zu gleicher Zeit in den 
Sinn kommt,” brummte Scholten, „Für jet haben wir felber 
genug auf dem Budel an Duerian und Duerians Tochter.“ 

Er nahm fein Patenkind an der Hand, und num gingen fie 


401 


duch das Dorf. Die Baronin erinnerte fich der Eisfühle, von 
der fie vorgeftern auf diefem Wege getroffen worden war, Bon 
der Aufregung, von der ihr vorhin der alte Freund erzählt hatte, 
bemerfte man nichts mehr. 

Sm Gegenteil, die Gaffen und Hütten erſchienen noch aus; 
geftorbener als damals. Die Bergarbeiter befanden fich wieder 
in ihren Gruben und Stollen; die Feldarbeiter mit ihren Frauen 
und Kindern auf den fümmerlichen Ackern, die Waldarbeiter in 
den großen Wäldern, und fo weit ab, daß der Schall ihrer Arte 
nicht hierher drang. 

Nur ein einziges lebendes MWefen begegnete ihnen auf dem 
Wege zu der Hütte Dueriang, eine weiße, magere Kase, die ſcheu 
vor ihnen über die Straße ging und in einer offenen Haustür 
verſchwand. 

Aus einem anderen Hauſe ertönte das laute Weinen eines 
Säuglings, der — von der hart arbeitenden Mutter notgedrungen 
ſich ſelbſt überlaſſen — zu früh aus ſeinem Schlafe aufgewacht war 
und nun ſeinen Jammer laut, aber vergeblich in die Welt 
hinausſchrie. Das war der einzige Lebenslaut, den fie ver; 
nahmen. 

Des Juſtizrats ſchien fich jet eine eigentümliche Luftigfeit 
bemächtigen zu wollen. Dazu fprach er zwifchen den Zähnen mit 
fich felber. Eilife machte ihre Hand von der feinigen [08 und hing 
fih fehüchtern an den Arm der fehönen Jüdin. 

„Ich fürchte mich fol“ 

„Dummes Zeug,” fehnarrte der alte Scholten. „Was foll 
das Geſchwätz, Mädchen? Wir werden fohon mit dem Bruder 
Zauberer fertig werben. Heraus foll er jet! Ich verfichere Sie, 
Frau Salome, daß ich in diefem Moment nötigenfalls ebenfo toll 
fein kann wie er. Aber wir wollen ihn in Güte zur Näfon bringen; 
wenn wir ihm mit Mufit — Hörnern und Paufen — vor die 
Bude rüdten, wär's wohl noch beffer; aber er foll auch fo die 
Überzeugung gewinnen, daß die Welt noch auf ihn rechnet, Peter 


402 








von Pilfum? Dummes Zeug! Ich weiß wahrhaftig nicht, was 
mich bewogen hat, an den zu fehreiben! Der Mond fehlen mir 
damals auf den Kopf; einen anderen Beweggrumnd find’ ich nicht 
heraus, — Was focht und quirlt er num wieder? Sehen Sie 
den Dualm über feinem Schornftein! Wer fann bei diefer Hitze 
heigen? — Und die Tür richtig wieder verfchloffen. Warte, 
mein guter Freund, endlich reißt die hausmachenfte Geduld, Wir 
werden dich befchwören, mein Befter, wir wollen und werden dir 
iß0 die Nägel befchneiden, die Haare und den Bart kämmen und 
fcheren! Holla, heda, Karl Ernft Duerian, mach auf; wir find 
e8, die Klaren, die Verftändigen, die Vernünftigen diefer Erde!” 

„Ich bitte Sie, Scholten, bedenken Sie, was Sie tun!“ rief 
Frau Salome ängftlih, und Eilife Hammerte fich jegt heftig 
zitternd an fie. „Scholten, laffen Sie ung vorfichtig zu Werfe 
gehen !“ 

„Ih werde ihn beſchwören und ihm zugleich ein Rezept geben, 
damit er e8 noch zu etwas bringe in der Welt!“ rief der Juſtizrat 
grimmig Iuftig. Dann pochte er mit der Fauft an die Tür feines 
Augendgenoffen und erhob von neuem die Stimme: „Holla, 
heda, Aueriane! Mac die Tür auf und nimm guten Rat — 


Eimweißftoff und Hundedred, 
Albumin und Album graecum, 
Und dazu drei Fingerfpigen 
Mäuſekot, was auf lateinifch 
Nennt der Magus Album nigrum, 
Mifche, Eoche, quirle man, 

Wie man will, man hat darum 
Kein unfterbliches Gedichte 

Für das Album unfrer Damen, 
Kein erquicliches Gerichte 

Für der Jetztzeit Göttertafel 
Von dem Herde abzuheben! 


403 


Queriane, Dueriand, alter Freund, fchließe auf und zeige ung 
wenigftens, was du gekocht haft! Wir ftehen vor deiner Tür, dag 
Kapital und der Wis, und warten auf dich, und dein hübfcheg, 
braves Kind bringen wir dir obendrein zurück!“ 

„Er ift toller wie der andere,“ murmelte die Frau Salome, 
wirklich fcheu fo weit als möglich von der Pforte des Dorf; 
Prometheus zurückweichend und dabei wie fehüigend den Arm um 
den Naden der Eilife legend. „Der Himmel ſchütze und — 
mir mein fühl ſemitiſch Gehirn.“ 

Sie hatte vorgeftern beim erften Erbliden des Dorfes einen 
Vers aus dem Dante zitiert — 

„Ein Windftoß fuhr aus dem betränten Grunde; 
aber fie Hätte jet mehr Grund gehabt, den Vers herzufagen ; nein, 
laut hinauszuſchreien. 

Yuf einmal war er wieder da, der Wind! Unvermutet, 
plöglich, im atem; und herzerdrüdenden Überfall und Anſturm. 
Es erbraufte der Wald um das Haus Dueriang, ein erftidender 
Staub erhob fich aus allen Gaffen des Dorfes und verhüllte 
teilmeife alles, Wie e8 jeßt rund um das Bergplateau ausfah, 
fonnte man aus diefer fehon befchriebenen Talmulde nicht erfun, 
den; nur griff der Gewitterdunft aus Norden bereits bis zum 
Zenit hinauf, und das Gewölk im Weften hatte auch feine Farbe 
geändert und drohte dunkel herüber. Ein dumpfes Rollen ging 
auch herum; aber der Wind wollte noch den Donner nicht zum 
Worte fommen Taffen. 

„Da haben wir’s!“ rief der Juftigrat, dem die Mütze vom 
Kopfe geriffen und weithin entführt war, ehe er zugreifen fonnte. 
Der Dualm vom Herde und aus dem Schornfteine Querians 
wurde auch über da8 Dach zu Boden getrieben. Staub, Rauch, 
welfes Laub vergangener Jahre aus den Forften wirbelten Hin — 
die Tür des Haufes hatte fich geöffnet, und Auerian fand auf 
der Schwelle, mit der Rechten den Griff fefthaltend gegen den 
Sturm, mit der Linten die Augen gegen das Freifende Geftäube 


404 





(hügend. Die Frau Salome hätte beinahe einen Ruf der Ent; 
täufchung ausgeftoßen, — ber Heine, ſcheue, ſchämige, ſchwächliche 
Mann mit dem fümmerlichen dünnen Haar, im fümmerlichen 
grauen NRödchen, mochte Zauberer, Herenmeifter, Taufend- 
fünftler fein, fo viel er wollte; ein Rieſe im Sturme war er nicht, 
und e8 hätte wenig gefehlt, daß er der Mütze feines Jugendfreung 
des nachgeflogen wäre. 


„Wir find e8, lieber Karl; fiehft du, da bringen wir dir dein 
Töchterlein zurück. Wozu war num geftern all die Aufregung und 
der Lärm notwendig?” rief der Juftisrat, die Baronin und das 
junge Mädchen heranmwinfend. „Als einzigen Lohn fordere ich, 
daß du dich heute einmal Höflich erzeigft und zwar gegen eine der 
fhönften und wohlhabendften Damen des Univerfums, die noch 
dazu eine ganz fpegielle Freundin deines fpeziellen Gevatters 
und Freundes Scholten ift. Geftatte ung, aus dem Winde in 
dein Haus zu treten, und ich werde euch genauer miteinander 
befannt machen.” 


Das fhüchterne Herrchen betrachtete fih von feiner Schwelle 
aus die Baronin von Veitor; e8 zog einen Taſchenkamm hervor 
und fuchte ängftlih damit feinen Haarwuchs in Drdnung zu 
bringen; — über fein Kind fehlen Duerian ganz wegzuſehen. 

Es mußte in der Tat angenehm fein, eine Mauer zwiſchen 
fih und den Sturm zu bringen. Die Frau Salome war heran; 
getreten an die Tür des geheimnisvollen Mannes und hatte auch 
die Eilife ſich nachgezogen. 

„Mein Herr, e8 würde mich fehr freuen, in den Kreis Ihrer 
Bekannten aufgenommen zu werden,” fagte fie. „Unfer ge 
meinfchaftlicher Freund Scholten hat mir fo viel Gutes von Ihnen 
erzählt —“ | 

„Sm, hm, f0? ſo? — ei ei!” Tächelte der Kleine, fich immerfort 
verbeugend, „Die gnädige Frau belieben zu fchergen; noch nie; 
mand hat etwas Gutes von dero untertänigem Knecht erzählt. 


405 


Aber es ift ein häßliches Wetter; friert die gnädige Frau nicht 
auch?“ 

„Ra, bei dem Samum!“ ächzte Scholten. „Sekt mad) weiter 
feine Umftände, Duerian, fondern mach Platz und ung bie 
Honneurs deines Ateliers. Worgeftern habe ich an unfern 
Freund nach Pilfum gefchrieben und ihn fehr herzlich von Dir 
gegrüßt.“ 

„Ja, ja — ei freilich, freilich! Große Ehre — ich danke dir, 
Scholten. Es iſt heute noch kälter als geſtern. Treten Sie 
doch gefälligſt ein, aber lachen Sie nicht — o bitte, lachen Sie 
nicht!“ 

Er ſagte das alles ganz ſchlaff Hin, mit der müdeſten Gleich; 
gültigfeit in Ton und Geſtus. 

„Er ift in der Tat unheimlich; aber auf eine ganz andere 
Weiſe, als ich mir vorftellte,“ murmelte die Baronin. Sie faßte 
in dem Gedanken, daß das Kind mit diefem Manne hatte leben 
müffen, die Hand Eilifeg fefter; doch der Juſtizrat winfte, und fie 
traten alle in das Haus; der Wind fohlug fofort die Tür hinter 
ihnen zu, und fie fanden fich zuerft in einer vollkommenen 
Finſternis. 

„Ich bin dicht hinter Euch,“ flüſterte der alte Scholten. 
„Fürchten ſich Euer Gnaden nicht; Sie wiſſen ja, daß er ſeine 
Fenſterladen wie die Klappen ſeines Intellekts gegen die Außen⸗ 
welt hermetiſch verſchloſſen hält.“ 

Die Frau Salome griff mit ihrer freien Hand nach dem Arm 
des Juſtizrats; Eilike Querian flüſterte: 

„Hier und in der Stube nebenan ſteht alles voll Gerät. Die 


ſchöne Dame würde ſich wundern, wenn es hell genug dazu 
wäre.“ 


„Das würde ſie,“ ſagte der Juſtizrat; doch der Herr dieſes 
Reiches der Finſternis hüſtelte jetzt in der Tiefe des Hauſes, und 
dazu hörte man den Sturmwind draußen immer heftiger pfeifen 


406 








und sifchen und einmal auch einen fernen langhinrollenden Donner 
fehr deutlich. 

„Wollen die Herrfchaften es mir feft verfprechen, nicht zu 
lachen?“ fragte es ſchläfrig. „Sch möchte fehr Bitten, nicht zu 
lachen !” 

Und die Frau Salome raunte dem Juſtizrat zu: „Bei allem, 
was einen an den Nerven zerren kann, ich fange auch an, e8 Kalt 
zu finden! und dabei wird man noch gefragt: ob man Luft habe, 
zu lachen.” 

„Bir verfprechen dir, alle Rüdfichten auf deine Gefühle zu 
nehmen, alter Burſch! Es wird niemand von uns die Miene 
verziehen, felbft wenn es dir einfallen follte, dich einmal ganz 
folide vom Kopf auf die Füße zu ftellen,“ fügte er Teife hinzu. 
In demfelben Augenblick ftieß Duerian die Tür feiner Werkftatt 
auf, und die Baronin Veitor wie der Juſtizrat Scholten fließen 
einen Schrei aus und fuhren auf den erſten Anblid und An; 
bauch mehrere Schritte weit in den dunfeln Hausflur zurück. 

Ein roter Schein und eine erftidende Glut fohlugen ihnen 
entgegen. Auf einem Badfteinherde unter einem mächtigen 
ſchwarzen Schlote loderte das Feuer, das den ſchwarzen Dampf 
duch den Schornftein fandte. Die Tannenfheite praffelten, 
fnadten und krachten, und der Wind trieb einen Teil des Qualms 
und der Funken zurüd in das weite und doch in der verwirrendften 
Weiſe vollgepfropfte Gemach. Steine und Erze, Holzſtücke, riefige 
Haufen von Hobelfpänen, Töpfe, Tiegel und Pfannen, Abgüſſe 
von antiken und modernen Bildwerfen, das Material und Werk; 
zeug des- Erzarbeiters, Zimmermanns, des Bildfehnigers, Bild; 
hauers und des Chemifers durcheinander! Im Hintergrunde 
aber durch die wirbelnden Dämpfe und Fnifternden Funken ficht; 
bar das jüngfte Werk Querians, das Bildwerk, welches die Eilife 
mehr denn als alles andere aus dem Haufe ihres Vaters ge; 
ſcheucht hatte! 

Bon der dunklen Wand hob fih die Tongruppe im roten 


407 


fladernden Schein des Herdes riefenhaft, übertrieben karikatur⸗ 
artig, aber doch mächtig und überwältigend ab. Der nadte 
Gigant mit dem toten Kinde in den Armen lebte! — die Muskeln 
zuckten, er mußte den grinfenden Mund jet, gerade jetzt zur einem 
Gebrüll der Verzweiflung aufreißen ! 

Eilife verbarg ihre Geficht in dem Kleid der Baronin; diefe 
ftand feftgebannt mit weitgeöffneten Augen, fehweratmend und 
wortlos. 

„Alle Wetter, Querian!“ rief der Juſtizrat Scholten. „Was 
ſagen Sie, Frau Salome? Wenn er aus ſeiner Haut heraus 
könnte, wäre er ein großer Mann! Wenn er Rechenſchaft ab⸗ 
legen könnte über das, was er macht, wäre er längſt Profeſſor an 
irgendeiner Akademie der bildenden Künſte und Profeſſor der 
Philoſophie obendrein. Wie das Ding ſich im Tageslichte aus⸗ 
nehmen wird, wer kann das freilich ſagen?!“ 

Mit dem Tone eines Cicerone in einer öffentlichen Kunſt⸗ 
fammlung fagte der Meifter des Werkes: 

„Das ift mein Kind, gnädigfte Frau, Sch habe fünfzig Jahre 
gearbeitet, ein Lebendiges zu fehaffen; es ftirbt mir aber immer in 
den Armen; ich möchte wohl einmal die Sachverftändigen 
fragen.” 

Da lachte Scholten doch, 


408 








Zwölftes Kapitel. 


uſtizrat Scholten lachte gegen fein VBerfprechen, und was nach⸗ 

her in den Zeitungsblättern über das Nachfolgende zu leſen 
gewefen ift, gab nur eine matte Relation der hereinbrechenden 
ſchrecklichen Ereigniffe. 

Um diefe Stunde — zwifchen drei und vier Uhr nachmittags 
ift e8 in der Tiefe der Erde, fern in den Wäldern auf den Holz; 
fhlageplägen und an den Meilern, fowie auf den entlegenen 
Feldern und Wiefen den Leuten gemwefen, als habe fie plößlich 
jemand gerufen, Der Bergmann hat Fäuftel und Eifen finfen 
laffen, der Holzhauer die Art, der Köhler den Schürbaum. Auf 
den Üdern und Wiefen hat man mit der Arbeit innegehalten, 
und der Hirt fein Pfeifen unterbrochen und die Hand ans Ohr 
gelegt. Jedermann, der einen Nachbar beim Tagewerf zur Seite 
hatte, hat den angefehen und ihn gefragt, ob er nichts gehört 
habe. Wunderlicherweife hatte dann doch niemand etwas ver; 
nommen, und jeder hat feine Befchäftigung wieder aufgenommen, 
jedoch in einer gewiſſen Befangenheit und Zerftreutheit und nicht 
mit der vorigen Luft. 

Soweit des Dorfes Feldmarf ging, hat e8 nicht geregnet; doch) 
der heiße Sturm: ift freilich überall gewefen und hat den Menfchen 
die Stirnen betäubt. Die Bauern, die Holzarbeiter, die Köhler 
und Hirten find vielleicht dadurch fehon auf ein Außergewöhn⸗ 
liches vorbereitet worden, zumal fie von dem dunfeln Horizont 
rundum fich umgeben fahen und die Donner rollen hörten. 
Für die Leute unter der Erde galt dag freilich nicht, die haben fich 
über die Mahnung nachher am meiften gewundert oder vielmehr 
entſetzt. 


409 


Mer fohrie e8 in die Schachte hinunter, in die Stollen hinein, 
daß Feuer zu Haufe fei? Wer verfündete e8 in den braufenden 
Forften, auf den Feldern? Wer fagte e8 dem einfamen Hirten 
auf feiner Waldwieſe? 

Sie wußten e8 alle zu gleicher Zeit. Sie warfen ihre Geräte 
bin, fie fliegen auf, fie fprangen über die Heden und Hohlwege, fie 
ftürgten die Schneifen hinunter; — mit hocherhobenen Armen 
liefen fie von den Feldern weg. Auf allen Wegen und Stegen 
wimmtelte e8 von entfeßten, angftvollen Menfchen. 

Es war Feuer zu Haufe, und fie fern vom Haufe! — — Viele 
haben ein Lachen in dem Sturmmwind gehört. Alle aber haben 
noch nimmer mit folder Verzweiflung das Zifehen und Pfeifen 
über und um ſich vernommen und den Atem des Sturmes in 
ihren Haaren und Kleidern gefühlt. 

Ja Feuer! e8 war Feuer, und der alte Scholten, die Frau 
Salome und Eilife Duerian waren die einzigen im Dorfe, die 
Bericht darüber geben fonnten, wie e8 entftanden war. —— — — 

„Ach ja, ich Habe e8 wohl gefürchtet, daß Sie doch wieder 
lachen würden,” fagte Duerian, mit einem Geficht wie ein Kind, 
das nach einer verbotenen Frucht griff und einen Verweis erhielt, 
„O, Sie haben wohl ganz recht; Sie verftehen das viel beffer als 
ich. Es iſt nichts, es iſt gar nichts — ich fehe e8 wohl, ich weiß es 
wohl, Es ift alles fehr lächerlich und ich auch — ja! Nun, num, 
die Herrſchaften Haben recht, und wir wollen e8 fortfchaffen; 
der Eilife gefiel e8 auch nicht; aber e8 wäre mir freilich Tieb gez 
wefen, wenn die Herrfchaften nicht gelacht hätten.“ 

Langſam, fröftelnd die Hände reibend und dazwiſchen bie 
Knöpfe feines Rockes zufnöpfend, ging er an den Herd, fah einen 
Augenblid in die Glut, und dann noch einmal wie fragend, 
fehnfüchtig auf den Befuch, und dann nahm er ein brennend Reis, 
Er fchleuderte e8 nicht, er ließ e8 nur fallen zwifchen die Hobelz 
fpäne und das dürre Holzwerk, das hoch in Haufen den Fußboden 
bebedte und gegen die Wände zu fich auftürmte, Von den Be 


410 








ſuchern hatte noch feiner eine Ahnung, was kommen follte — was 
da geſchah — was dieſer arme Menfch in feiner Verwirrung 
antichtete, 

„Ei, mein befter Duerian —“ hatte der Juſtizrat noch einmal 
einen Sat begonnen; da war e8 aber bereits für jegliches tätige 
Zugreifen zu fpät. Er tat einen Satz und trat mit dem Fuße auf 
die nächfte aufhüpfende Flamme, Die Baronin ſtieß einen Angſt⸗ 
ruf aus, Eilike ſchrie Hell, und fehon war aller Kampf gegen das 
fucchtbare Element vergeblich! 

Sie fahen den Tollen inmitten des Feuers und des Dampfes. 
Mit einem Hammer fchlug er auf fein kurios mächtiges Bildwerk. 
Er zerfchlug das tote Kind in den tönernen Armen des Genius, 
des Rieſen; — die große Figur zerfplitterte und ſtürzte polternd 
sufammen, teilweife auf den Künftler felber., Das Feuer war 
überall — auf dem Fußboden, an den Wänden, an der Dede; — 
e8 leckte ſchon nach dem leichten Sommerfleide der Frau Salome. 
Scholten riß die Freundin mit einem rauhen, heifern Entſetzens⸗ 
geächz zurück gegen die Tür, die Eilife flüchtete bereits durch den 
dunklen Hausgang. 

Das Haus Auerians brannte im Innern lichterloh, und um 
das Haus faufte der Wind wilder denn zuvor. Von dem Eintritt 
‚der drei big jeßt, mo fie wieder auf dem Wege ftanden, waren faum 
sehn Minuten vergangen. 

Der Juſtizrat kam zuerft wieder zur Befinnung und griff fich 
mit einen Verzweiflungseuf in die Haare; — der Dualm der 
Feuersbrunft quoll bereits zwifchen den Schindeln des Daches 
durch und aus der Haustür hervor. 

„Ins Dorf! um Hülfe — Feuer ! fohrie Scholten. Die Frau 
Salome mußte alle ihre Kräfte aufbieten, um das Kind Queriaus 
abzuhalten, fich abermals in das Haug zu ſtürzen. Die Eilife 
fehrie, fie wolle mit ihrem Vater untergehen; doch dann verlor fie 
die Befinnung, und die Frau Salome trug fie weiter weg von 
der brennenden Hütte, den Waldabhang hinauf. 


W. Raabe, Sämtliche Werte Serie IL 27d 411 


Grad auf das Dorf zu trieb aber der Sturm die erften vor; 
brechenden Funken. Schon loderte zehn Schritte vom Haus ab 
ein trockner Baumzweig — nun zwanzig Schritte weiter eine 
dürre Tanne, Das nächfte Haus am Eingange des Tälchens hatte 
ein Steohdach, und faft mit dem fortflürgenden Scholten langte 
das Feuer im Dorfe an. 

Ein altes Weiblein lief zitternd aus der Strohhütte hervor, 
hielt fich faum gegen den Wind aufrecht und ftarrte in Betäubung 
und Zweifel auf ihre flammendes Dad. Schon Hangen andere 
Stimmen ängftlich her; — das Feuer überhüpfte das folgende 
Haus, faßte jedoch mit einem Griff die drei nächftliegenden. Nun 
fprang e8 über auf die andere Seite der Gaffe, und — das 
ſchlimme Geſchick hatte feinen Lauf! Keiner, der e8 an Drt und 
Stelle mit erlebte, wird den Tag je vergeffen, und noch lange wird 
von ihm in den neuen Häufern und Hütten geredet werden und 
wird man fich erzählen, wie das Feuer flog, über weite Streden, 
Heden und Gärten fich ſchwang; wie die Mütter, die vom Haufe 
entfernt gewefen waren, ihre Häufer nicht mehr erreichen fonnten 
und nach ihren Kindern fohrieen; wie man das brüllende wider; 
fpenftige Vieh aus einem Stalle in den andern rettete, ſchleppte 
und zog und von dem nachfolgenden Verderben ftets weiter 
gefcheucht wurde; wie der Wind in Stößen heulte und der ferne 
Donner übertönt wurde von den Erplofionen der Spreng- 
patronen, welche die Bergleute in ihren Häufern aufbewahrten. 
Während des Tumultes felbft hatte nur ein Menfchenfind für 
alle diefe Einzelheiten des großen Brandes Auge und Ohr, — die 
Frau Salome Veitor. 

Sie ftand auf dem höchften Punkte des Kirchenhügels, von 
dem man das Dorf überblicte und einen Teil der norddeutfchen 
Ebene dazu. Sie hatte zu retten gefucht, wie und wo fie fonnte, 
Sie hatte Heine Kinder aus den Häufern getragen und fehlechte 
Habfeligkeiten ärmften Volkes in Sicherheit gebracht; ihre Hände 
biuteten, ihre Kleider waren zerriffen, und jet waren ihre Körper; 


412 


fräfte zu Ende, wenn fie gleich ihre geiftigen Fähigkeiten noch Har 
und vollftändig beifammen hatte. 

Die Frau Salome hatte fich fehr nüglich gemacht. Ihr Wagen 
verbrannte mit dem Wirtshaufe; aber auf dem einen Pferde hatte 
fie ihren Ludwig nach einer entlegenen Ortſchaft um Hülfe ge 
ſchickt und auf dem zweiten Gaul den beften Reiter des Dorfes 
von dannen gejagt. Gie hatte ein Wort für die Witwe Beben; 
roth, deren Haus unverfehrt blieb, die aber deffen ungeachtet im 
MWeineframpf auf dem Grabhügel ihres letzten Gatten faß. In 
Abweſenheit des Juſtizrats und des Vorftehers war’8 die Frau 
Salome, welche die Offiziere der aus der Kreisftadt im Eilfchritt 
zu Hülfe marfchierenden Füfilierfompagnie empfing, fie mit 
der Sachlage und dem GSituationsplane des Dorfes bekannt 
machte und fie dahin dirigierte, wo ihre Hülfe vom beften Nußen 
fein konnte. 

Nun aber ftand fie an einen Grabftein gelehnt und neben ihr 
der alte Paftor des Dorfes, den fie gleichfalls aufrecht zu erhalten 
hatte durch allerlei Troftesworte. Der Schulmeifter zog noch 
immer unnötigerweife im Turme die Sturmglode. 


Zu ihren Füßen lag Eilife Duerian auf einem liegenden Grab; 
ftein, mit dem Gefichte auf den Händen. Die Baronin hatte dag 
junge Mädchen hierhergefchafft, wo allmählich alles fich zufam; 
mendrängte, was fich nicht felber zu helfen vermochte und noch viel 
weniger anderen zu Nutze war. 


Die Augen der Frau leuchteten, wenngleich ihre Glieder 
sitferten und der Atem heiß und ſtoßweiſe ſich ihrem Bufen 
entrang. Sie fah über die Flammen der Nähe auf die Blige und 
Wolfenbrüche der Ferne; und alte Verſe aus den Pfalmen ihrer 
Väter gingen ihr durch den Sinn und wurden laut auf ihren 
Lippen. Sie ſtand wie die Seherinnen ihres Volfes, wenn unter 
ihren Füßen die Schlachten gegen die Heiden gefchlagen wurden; 
fie redte ihren Arm aus und murmelte: 


37° 


413 


„Die Erde bebete und ward bewegt, und die Grumdveften der 
Berge regeten fich und bebeten, da er zornig war. 

Dampf ging auf von feiner Nafe und verzehrend Feuer von 
feinem Munde, daß e8 davon blikete, 

Er neigte den Himmel und fuhr herab, und Dunkel war unter 
feinen Füßen. 

Und er fuhr auf dem Cherub und flog daher, er fchwebete 
auf den Fittichen des Windes, 

Sein Gezelt um ihn her war finfter — vom Glanz; vor ihm 
frenneten fich die Wolfen — und der Here donnerte im Himmel, 

Er ſchoß feine Strahlen und zerftreute fie, er Tieß fehr bligen 
und fchredte fie. 

Da fahe man Waffergüffe, und des Erdbodens Grund ward 
aufgededt, Herr, von deinem Schelten, von dem Ddem umd 
Schnauben deiner Nafe.” | 

Wenn fie fich dann aber, was immer, immer von neuem ges 
ſchah, das gräßliche Erlebnis in dem Haufe Dueriang, die Stimme 
und Geftalt des Wahnfinnigen, fein letztes Bild und den zer; 
trümmernden Hammer in der Hand des Tollen von neuem vor 
den inneren Sinn rief, dann ſchloß fie die Augen vor der Nähe 
und Ferne, und der Aufruhr, das Geheul und Krachen um fie 
betäubte fie, daß ihr die Stirn zu zerfpringen drohte; und fo 
wechfelte das ab bis zum Abend, bis e8 in der Ferne und im der 
Nähe ftill wurde, Ja ſtill! 

Um fechs Uhr Abends legte fich der große Wind, und aus den 
Gewittern in der Ebene wurde ein Landregen, der acht Tage lang 
nicht aufhörte und viel böfes Blut machte. Zwei Drittel des 
Dorfes lagen in Afche, das letzte Drittel war gerettet, ohne daß 
bis zum Ende ein Tropfen aus der Höhe dazu geholfen hätte, 
Die Menfchen aber hatten nicht mehr die Kraft, über ihr Elend 
zu fchreien oder laut zu fluchen; fie beteten und meinten leife, 
oder knirſchten leife mit den Zähnen. 

Gegen fieben Uhr erſchien der Juſtizrat Scholten mit verbun; 


414 


. — 
Pe 


denem Kopfe, verfengtem Haar und Badenbart auf dem Kirchz 
hofe, fehüttelte die Witwe Bebenroth ziemlich grimmig auf und 
fehiete fie in ihren Keller nach dem Vorrat feines Getränkes. Er 
ließ die Frau Salome ein Glas Wein trinken und feßte fih dann 
zu ihr und der Eilife auf den alten verwitterten Stein. Nach einer 
geraumen Weile fagte er fo matt und müde und gleichgültig wie 
vor vier Stunden Duerian: 

„Und da glaubt man denn noch, man fei etwas und bedeute 
etwas, wenn man mit den Armen und Beinen zappelnd fich eine 
Meinung, eine Anficht bildet und fie von dem Mift laut hinaus; 
kräht! D Duerian, Karl Ernft Duerian!— Ob wohl die Behörde 
glauben wird, daß es fich ſo einfach zutrug, wie wir es fahen und 
e8 wohl demnächft als Augenzeugen werden befräftigen müffen, 
Frau Salome? — Übrigens, meine Befte, müffen wir heute 
abend noch das Kind des Unglüdlichen von hier fortfchaffen. 
Es ift unbedingt notwendig; denn das Volk ift jegt fo wahnfinnig 
wie der Alte, fpinnt grimmige Phantafien und fucht nach jemand, 
gegen den e8 feiner Verzweiflung und Wut Luft machen kann. 
Sch habe bereits abfonderlihe Worte gehört, und Auerians 
Kind würde morgen früh manches zu Hagen haben, wenn wir es 
hier über Nacht ließen. Sehen Sie ſich um — wir drei figen allein 
— fie haben einen leeren Raum um ung gelaffen; aber fie fehen 
nach ung herüber.” 

So war e8 in der Tat. Eine unfihtbare Linie hatte das Dorf: 
volf gezogen und fand um den Kreis ftumm, aber mit fehlimmen 
Blicken. 

Die Baronin Veitor blickte gleichgültig auf, zu gleicher Zeit 
den Kopf des Kindes fanft berührend. 

„Wir können nicht heraus,“ fagte fie; „es ift vergeblich — wir 
ſtecken in ung, wir ſtecken in der Menfchheit, wir find gefangen in 
dem harten Gefängnis der Welt. Wir feuchen nach Freiheit, 
Erfenntnis, Schönheit, und im günftigften Falle wird ung ge; 
ftopft der Mund mit Erde, Morgen werd’ ich wieder anders 


415 


denken; aber jeßt fehne ich mich nach der dunklen Ede auf der 
MWeiberfeite der Synagoge, wo ich faß mit meiner Mutter und 
fang, und wo ich hörte ablefen die Thöra — das Geſetz.“ 

„Jawohl,“ ächzte Scholten. „Es war eine fchöne, eine behag⸗ 
liche, anmutige Zeit, mo das Gefeß, daß Corpus juris meine Welt 
war, und die Ausſicht auf das Staatseramen mein alfereinzigfteg 
Elend in fich ſchloß. Morgen werde ich wohl gleichfall8 wieder 
anders denken.” 

Der alte Sommergaft des Dorfes durfte e8 fich fehon für eine 
Weile gönnen, zu fißen und zu verfehnaufen. Die Behörden des 
modernen Staates-befanden fich jeßt in der erftaunlichften Tätig- 
feit, und man fonnte fie nur loben. Ehe die letzte Hütte, die dag 
Feuer erfaßte, in fich zufammenftürzte, überlegte man und forgte 
bereits von Amts wegen für das proviforifehe Unterfommen der 
Abgebrannten und ihre fonftige Bequemlichkeit. Die Kirche wurde 
aufgefchloffen und in eine Vorratsfammer und in einen großen 
Sicherheitsfchranf für die gerettete Habe der Drtseinwohner 
umgewandelt; der obdachlofe Teil der Bevölkerung, foweit e8 
anging, dem verfehont gebliebenen Dritteil unter die Dächer 
gelegt. Aus den umliegenden DOrtfchaften famen Wagen mit 
Hlfsmannfchaften und Sprigen über Sprisgen an. Proviant 
langte an. Verwandte und Freunde wurden eingeladen, fürs 
erfte zu der Betterfchaft der nahen Dörfer überzufiedeln, Für 
die Alten und Kranken waren Ärzte genug vorhanden; und wer 
bis jet hHöchfteng den Kuhhirten feiner Gebrechen wegen um Nat 
gefragt hatte, der konnte fih nun von einem Sanitätsrat den 
Puls fühlen laffen. Einen der Doktoren rief auch die Baronin 
Beitor an, der Eilife wegen. Auf einem zu Tal fahrenden Leiter; 
wagen, auf einer Kifte figend, brachte dann die Frau Salome dag 
Kind Duerians in Sicherheit. Es wurde nur einmal ein fehwacher 
Verſuch gemacht, die beiden zu infultieren und die Eilife wieder 
vom Wagen herabzuziehen, 

Der Juſtizrat fah die Freundin und fein Patenkind abfahren, 


416 


fhärfte dem Fuhrmann, als er ſchon auf die Gäule ſchlug, immer 
von neuem ein, vorfichtig zu fahren und die beiden Frauenzimmer 
ja recht in acht zu nehmen, und blieb auf der Brandftätte zurüd. 
Er wußte e8, daß er eine der brauchbarften Perfonen hier war, 
und die Behörden hatten das auch bereits erfahren und befeftig- 
ten fih im Laufe des Abends immer mehr in ihrer günftigen 
Meinung von ihm. 

Der alte Scholten fannte jedermann im Dorf und jedermanns 
Umftände und Charakter; und die Leute fannten ihn und wußten, 
daß er eben fo gutherzig wie grob war, Nachdem er fich ein wenig 
erholt hatte, fuhr er von neuem umher, vervielfältigte fich mie 
eine Kugel oder ein Becher in den Händen eines Preftidigitateurg 
und erfhien wie Pythagoras an ſechs verfchiedenen Drten zu 
gleicher Zeit. 

Er legte eine gelähmte, hundert Jahre alte Schladenpucher; 
witwe in das weiche Bett der Höchlichft darüber entrüfteten Witwe 
Bebenroth und den taubftummen Auguft, feinen Todfeind, 
welchem ein ftürzender Balken die Schulter getroffen hatte, in 
fein eigenes. Er machte Duartier — er verftand e8, Quartier zu 
machen; der Ortsvorſteher fah ihm mit offenem Munde zu, und 
das böfefte Volk ward zahm vor ihm, wenngleich er fich dann und 
wann gebärdete wie ein Fourier im Feindesland. 

Endlich fonnte aber auch er nicht mehr, und gegen Mitternacht 
fchleifte er ein Bund Stroh in dag alte Beinhaus an der Kirch- 
hofsmauer, wo froß dem Wohnungsmangel niemand ein Unter; 
fommen fuchte, warf das Stroh in die Ede, fich darauf und 
ächzte: 

„O, Donnerwetter — uh, meine Knochen! O ja, wenn der 
Kaifer Carolus der Fünfte hier am Orte heute mir zur Hand 
geweſen wäre und jest mit mir hier auf dem Stroh läge und feine 
Carolina mit mir durchfprechen wollte, fo würde ich ihm freund, 
lich raten, die Strafe des Räderns nicht unter feine Züchtigungs; 
mittel aufzunehmen. Gevierteilt, gefädt, gefpießt zu werden, 


417 


meine ich, muß nur ein angenehmer Kigel fein gegen — dieſes! 
Wenn ich nur wüßte, wie's möglich ift, daß einem die Schulter; 
blätter ing Kreuz und die Hüftknochen in die Knie rutſchen können? 
D Querian, Duerian, was haft du angerichtet! Dies Refultat 
fam die nicht in den Sinn, als du zuerft deinen Kopf darauf feßteft, 
nach deinem Tode einen Kirchhof berühmt zu machen !” 

Er fah fih noch einmal in der Werffiatt Aueriang und ächzte. 
Dann aber gähnte er, drehte fich, eine bequemere Lage fuchend, 
und murmelte fchlaftrunfen: 

„Sa, ja — das Beinhaus! — Im Beinhaus! — Ich Urnarr! 
— Wenn ich geftern ihn am Kragen genommen hätte?! — Ad, 
e8 ift einerlei; ich wollte nur, ich hätte meinen Brief an Peter 
Schwanemwede in Pilfum von der Poft zurück. Die Mühe Hätte ich 
mir auch fparen können!“ 

Damit entfchlief er und hub an, fehr zu ſchnarchen. Die 
Füfiliere hielten die Wacht um die Brandftätte, und die lautefte 
Verzweiflung wurde allmählich ftill in der Erſchöpfung; — e8 war 
aber im Sommer, und die Nächte waren kurz. Die Sonne war 
wieder da, ehe irgendein Schmerz, irgendeine Angft ausgefchlafen 
hatten — geſchweige denn verfchlafen worden waren, 


Wie der Juſtizrat erwachte und feine Tätigkeit in Angelegen⸗ 
heiten feines Lieblingsfommeraufenthaltes von neuem aufnahm, 
brauchen wir nicht des weiteren zu fchildern, Um es kurz zu 
machen, er beteug fich fo auffällig, fo eigentümlich, daß ihm zu 
Neujahr zu feinem argen Schreden von höchfter Stelle aus mit; 
geteilt wurde, er habe fich durch fein fonderbares Verhalten die 
zmweitunterfte Klaffe des Landesordens verdient und fich fortan 
ohne Weigerung als einen Ritter desfelbigen anzufehen. 


„I fo was!” rief er. „Na, dag foll mir aber ins Künftige eine 
Warnung fein, Brennt mir noch einmal mein Sommerquartier 
ab, fo Laffe ich e8 ruhig in Dampf aufgehen, fee mich höchſtens 
auf der Windfeite auf einen paffenden Ausſichtspunkt und fehlage 


418 


die Harfe zu dem Malheur. O Duerian, Duerian, wenn fie dir 
Doch das Anhängfel zur rechten Zeit gegeben hätten?!’ — — 

Am vierten Tage nach dem Tode Duerians und dem großen 
Brand erfhien er zum erften Male wieder in der Villa Veitor, 
Er ging mühſam und fcehwerfällig an feinem freuen Eichenftod 
und fehlen um mehrere Jahre älter geworden zu fein. Die Frau 
Salome traf er am Bette der Eilife, die in einem hisigen Fieber 
lag. 

Die Frau Salome teilte ihm alles mit, was fich feit ihrer Rück⸗ 
fehr in das Landhaus mit ihr und dem Kinde zugetragen hatte; 
dann auch ihre Anfichten und die des Arztes. Glüdlicherweife 
hatte der Doktor bereits den Troſt gegeben, daß die gute Natur 
des jungen Gefchöpfes wohl auch ohne feine Hülfe fich geholfen 
haben würde. 

„Und nachher foll fie e8 gut bei mir haben,” ſchloß die Frau 
Salome, Baronin von Veitor, 

Scholten nidte und legte ein verfiegeltes Schreiben auf die 
Bettdede feines Patenfindes: 

„Meine Befte, da ich das Ding einmal gefchrieben und feit 
einigen Tagen einen merkwürdigen Widermwillen und Abfchen 
gegen jeglichen Feuerherd und Kohlentopf habe, fo betrachten Sie 
e8 wohl bei Gelegenheit als an fich gerichtet.“ 

Die Baronin nahm das Schreiben und fah erfchroden den 
Suftisrat an. Es war der Brief des Alten in Sachen Aueriang 
und Eilife Duerians an Peter Schwanewede, Die Poft hatte ihn 
zurüdgefchickt mit der Bemerkung auf dem Umfchlage: 

„Adreſſat bereits vor einem Jahre verftorben.” — — 

„Im nächften Sommer werde ich in Pilfum wohnen und mich 
nah dem Genaueren erkundigen,” fagte Scholten. „Vielleicht 
befuchen Sie mich auch dort einmal und dann bringen Sie die 
Eilife mit. Wir wollen ihr einmal die See zeigen. — D Frau 
Salome, liebe Frau Salome, der Streich fieht dem Peter ähn; 
lich! Sp — gerade fo fehlich er fich ſtets um die Ede und überließ 


419 


e8 ung anderen, fertig zu werden, wie wir fonnten. Ei, ei, dieſer 
Peter! Er Hatte alle möglichen Schrullen — unter anderen die, 
daß er die See dem Gebirge vorzog. E8 war feine Natur fo; — 
ich kletterte meinesteild Tieber in den Bergen; doch offen gr 
ftanden, augenblicklich fäße auch ich am liebften und fähe über 
die Fühlen Waffer ins Weite. Meine Natur ift’S freilich nicht.“ 

„Ich komme im nächften Sommer nah Pilfum,” fagte die 
Frau Salome, 


420 


Die Innerſte. 


Erſtes Kapitel. 


F ieſe Geſchichte handelt von einem Bach und zwei Mühlen 

und iſt wahr. Es hat ſich alles ſo zugetragen, wie es 
erzählt werden wird: wer da meint, daß es anders hätte zu Ende 
gehen können, der erzähle es anders. 

Es waren drei Fräulein vor etwa hundertundzwanzig Jahren, 
und fie leben heute noch und heißen die Leine, die Ih me und 
dBiegnnerfte. Sie find im Laufe der Zeiten reguliert worden; 
aber hübſcher find fie nicht dadurch geworden. Vor hHundertund; 
zwanzig Fahren war ihnen allen dreien nicht zu frauen; doch die 
Innerſte war die ſchlimmſte und ift es bis auf den jeßt vorhan⸗ 
denen Tag geblieben. Wenn wo das alte Wort Gültigkeit hat, 
daß fohlechter Umgang gute Sitten verdirbt, fo ift e8 in diefem 
Falle. 

Man fagte wohl im Lande umher: „Die Leine ift falfch! Die 
Leine ift ein böfes Waffer! Die Leine ift tückiſch!“ und es war ein 
gut Stück Verleumdung in jeglihem landläufigen Diktum. Die 
Leine war nicht beffer, als fie war; aber von Natur aus war fie 
jedenfalls beffer als ihre Ruf. Von Natur ein braves Waffer, ein 
gutes Wafler, ein gutmütiges Waffer, wurde fie durch die Innerſte 
verdorben. 

Im Hildesheimfchen Amt Rethen vereinigt fich die Innerſte 
mit der Leine, und nachher iſt's freilich zu Ende mit den guten 
Sitten der leßteren, und die Stadt Hannover hat zweifelsohne 
mancherlei zu erzählen von ihrer üblen Laune und Heimtüde. 


421 


Bon der Ihme brauchen wir eigentlich nichts zu erzählen. 
Reißend und fumpfig zugleich, voll von Wirbeln und Drehfuhlen, 
faulen Bäumen, Pfählen und Klößen, ftinfend von den Flachg; 
rotten der Anwohner und überall fehr trübe, laſſen wir fie laufen 
und fagen nur noch, daß auch ihre fehlechten Eigenfchaften die 
arme Leine auf ihre Rechnung zu nehmen hat, nachden fie, die 
Shme oder der Ricklinger Bach, vom Tieblichen Deifter herunter; 
gefommen ift, die freundlichen Dörfer Bredenbef und Vörie 
und die Landwehrfchenfe im Amt Kalenberg paffiert und gleich; 
falls ihre Sehnfucht nach der Stadt Hannover befriedigt hat. 
Mer mehr von dem Waffer wiffen will, fchlage nach in Grupeng 
haunöverſchen Altertümern. 

Jetzo wenden wir ung zur Innerfte, 

Bon ihrem Urfprunge mitten im wilden Harggebirge an bis 
zu ihrer Ausmündung im Amt Nethen verfchlechtert fich ihr 
Charakter von Schritt zu Schritt, und alle Glocken und alle 
Dfaffengefänge von Hildesheim treiben ihr die böfen Teufel nicht 
wieder aus. Selten aber auch geriet ein unfchuldig hellblidend, 
Haräugig Bergmwäfferlein und Duellnirlein fofort bei feinem 
Austritt aus dem dunklen Schoß der Erde in fo ſchmutzige Hände 
und an folch ſchwarz fehmweflicht Handwerk als diefe arme hercy- 
nifhe Najade oder Nymphe. Wahrlich, ihe find niemals HI, 
Wein, Milch und Blumen geopfert worden! Wildemann nimmt 
fie beim Schopfe, Lautenthal und Langelsheim mit ihren Hütten 
und Pochwerken tun ihr alle erdenkliche Schmach an, und fo ift 
es fein Wunder, daß fie bei Ringelheim ſchon vollftändig ver; 
derbt ift und bei Himmelstür frech, boshaft und ſcheußlich in die 
Ebene hervorgeht, und daß trotz allen Hildesheimfchen Pfaffen; 
gefangen und Glodenklängen bei Sarftedt die fohlimmften 
Gerüchte von ihr im Schwange find. Es Hilft ihr nichts, daß fie 
da zur Leimoniade, zur Wiefennymphe wird: wild, heimtückiſch 
und blutdürftig bleibt fie. Mit dem Auswurfe des Harzes, 
bem verberblichen Puchfande gefehwängert, bleiben ihre Ber 


422 


— 


gierden unordentlich und wird ſie von Zeit zu Zeit von unheim⸗ 
lichen Gelüſten ergriffen, und dann ſchreit fie. 

Der Erzähler hörte fie fohreien, der junge Müller Albrecht 
Bodenhagen gleichfalls. Nun aber wollen wir von der einen 
Mühle reden und nachher von der andern. 

Zwifchen Groß-Förfte und Sarftedt war die eine Mühle 
gelegen, heute ift fie nicht mehr vorhanden. Die Gebäude find 
längft niedergebrochen, der Garten ift wieder zur Wiefe geworden; 
wo die junge Müllerin unter dem Flieder faß und ſpann, wächft 
manneshohes Schilf. Die Innerfte ärgert fich hier nicht mehr an 
dem Iuftigen Rade, das fich fonft an diefer Stelle drehte; fie hat 
fi über ganz andere Dinge zu erboßen: der harzifche Bergmann 
quält fie nicht allein mehr; es ift manche nichtswürdige Fabrik 
an ihrem Laufe entftanden feit dem Jahre 1760, und von Rechts 
wegen müßte fie heute da heulen, wo fie fonft nur ſchrie. 

Im Jahre 1760 drehte fich das Rad, Happerte das Werk und 
war alles im Gange, wie das Säfulum ſelber. Es war eine 
muntere Zeit, Eine vollftändige Treffenbefegung für eine 
Mannsperfon koftete, wenn man fie billig faufte, ihre ſechsund⸗ 
fiebzig Reichstaler; aber faum der dritte Teil der meiften Städte 
war bewohnt, und zwei Teile beftanden aus wüften Stellen und 
leeren Häufern. Zwar führte jedermann feinen Haushalt wie 
die Patriarchen im Alten Teftamente, ein jeglicher zwifchen feinen 
eigenen vier Pfählen mit eigenem Ader, Garten und Vieh; aber 
e8 war denn auch danach. Nur einige Mal in der Woche kochte man 
und fraß fich durch die ſchwere Zeit an Brei, Hülfenfrüchten und 
gemeinen Kohlarten. Wer fich recht gütlich tun konnte, hielt fich 
zum Neide der Nachbarn an das eingefchlachtete, entweder ger 
räucherte oder gepöfelte Fleifch, wer aber ganz und gar fardanaz 
paliſch ſchlampampen wollte und nach friſchem Fleifche Techzte, 
der hatte ſich mit einem gleichen Schwelger zum Anfauf eines 
Stück Viehs zu einigen. Auf gut Glück fchlachtete Fein Metzger. 

Das war die gute alte Zeit, wo niemand von dem andern 


423 


etwas nötig hatte, die gute alte Zeit des Siebenjährigen Kriegeg, 
wo man, wenn die Einquartierung e8 litt, fich früh zu Bett legte 
und fpät wieder aufftand, und wo man bei feftlichen Gelagen 
Honigkuchen in eine Schale Branntwein brodte und je nach der 
politifhen Meinung entweder den König Fritz oder die Kaiferin; 
Königin hoch leben Tief in dem olympifchen Göttertranfe; immer 
felbftverftändlich dabei voraugsgefeßt, daß die Einquartierung 
nicht hinderlich dabei in den Weg trat und den bürgerlichen 
Nektar in die eigene ausgepichte Kriegsgurgel hinüberfließen Tieß. 

Sp war e8 in Hannover, fo war's in Göttingen und in Hildes; 
heim, und fo war’8 auch in Sarftedt an der Innerfte. Trotz allem 
eine wunderlich real⸗geheimnisvolle Zeit voll feltfamer Schwingen 
und Flüge! Wer da etwa glauben möchte, daß heutzutage hinter 
den Stirnen und unter den Schädeln mehr in den Menfchen; 
föpfen vorgehe als Damals, der irrt fich bedeutend. Ja wahrlich, 
jeder gegenwärtige Augenblid ift ftet8$ ein novus homo, ein 
Emporfömmling; und die Vergangenheit, felbft mit dem Zopf 
und der Beutelperüde und im Reifrock auf den hohen Stödel; 
ſchuhen, erfcheint merkwürdig als der vornehme Herr und die 
erlauchte gnädige Dame, Sie tun aber meiftens fo, als lachten fie 
darüber, die Leute des Tages, und beweifen gerade durch ihr 
Lachen nur die niedrigere Befchaffenheit ihres Standes. Wer 
wahrhaft vornehm ift, hat immer Reſpekt, wo er hingehört, der 
Pöbel nicht. 

Die Franzofen waren im Lande, und der Herzog Ferdinand 
lag gegen fie zu Felde. Bei Bergen war er von Broglio zurüdz 
gedrängt worden, und bei Minden follte er über Contades fliegen, 
Zwifchen den beiden Schlachten, alfo im Jahre 1759, und gerade 
in der fohönften Sommerzeit hebt unfere Hiftorie an, 


424 


Zweites Kapitel. 


F amals ſaß noch ein alter Müller mit ſeiner ebenſo alten 

Müllerin in der Mühle und der nachherige Herr war noch 
in der Fremde — fern und verſchollen, wenn er noch lebte. Die 
ihn genau gekannt hatten, erwarteten ihn gar nicht zurück; es 
gab mehr als einen handfeſten Galgen in der Welt, und mehr 
als ein würdiger, ehrenfeſter Sarſtedter Bürgersmann legte, 
wenn die Rede auf den Jungen aus der Mühle, Albrecht Boden; 
hagen, fam, den Finger an die Nafe und gab feine Meinung 
dahin ab, daß niemand willen fünne, wo der fich im Winde 
drehe; daß er fich aber im Winde drehe, das fei ficher. 

Der brave Albrecht hatte e8 feinerzgeit in der Stadt und der 
Umgegend, weit über Groß-Förfte hinaus, nicht danach gemacht, 
daß man fich nach ihm fehnte, und die alten Eltern wußten nichts 
von dem einzigen Sohn. Seit dem Beginn des Krieges hatten 
fie ihm nicht zu Geficht gekriegt. Eines Morgens hatte er feine 
Pelzmütze gefchwenft. 

„Vivat Fridericus! Adjes, Herr Vater! Adjes, Frau Mutter! 
Aushalten fu ich’8 nicht länger zu Haufe. Wär’ ich nicht zu gut 
gewefen, jo hätt's der Herr Vater nicht zu fchlimm mit mir gez 
macht. Adjes!“ 

Und dann war er mit einem Sprunge über die nächte Hede 
weg gewefen, und die Sarftedter Jungfern hatten mit den Eltern 
das Nachfehen nach dem angenehmften Junggefellen der Gegend 
gehabt. Nachher find nur Gerüchte über ihn und fein Verbleiben 


425 


nach Haufe gefommen, und e8 fand jedem frei, diefelbigen zu 
glauben oder nicht. 

Da hat mit ihm einer in einem berüchtigten Freibataillon 
Schulter an Schulter geftanden; ein anderer hat mit ihm nach der 
Schlacht bei Leuthen vor Schweidnig gelegen, und wieder ein 
anderer hat ihn Spießruten laufen fehen im Lager vor Olmütz. 
Ein Vierter jedoch, und der war, wie viele meinen wollten, der 
einzige Glaubwürdige — Barthold Dörries aus Dielmiffen be; 
hauptete, Wbrecht Bodenhagen habe freilich zu allererft fein Glück 
in dem preußifchen Freibataillon probiert, doch nicht lange. Nach 
Kollin fei er defertiert, und droben im Harz zwifchen Wildemann 
und Lautenthal, gleichfalls an der Innerfte, fei auch eine Mühle 
gelegen, und die Tochter dafelbft, die wiffe vielleicht am meiften 
von dem Albrecht! Er — Barthold Dörries — habe auf der 
Wanderfchaft dafelbft das Handwerk angefprochen und eine Nacht 
allda genächtiget, aber fein Teufel Friege ihn wieder unter das 
Dach, denn da könne man zwifchen Sonnenuntergang und 
Sonnenaufgang mehr erleben als in einem ganzen Feldzug des 
Königs Friß, zwifchen dem erften Aufbruch aus den Winter; 
quartieren und der legten Schlacht vor dem erften Schnee, 

Dem Meifter und der Meifterin fprach der gute Müllerfnappe 
nicht hiervon, denn der Alte hatte ihm beim erften Wort das Maul 
verboten, wohl aber erzählte er den Mühlgäften, die ihm ein 
offenes Ohr liehen, und das taten fie alle, wenn die Rebe auf ben 
tollen Albrecht kam. Das ging denn wie der Laufer um das 
Mühleneifen, und wenn nur der Bodenftein irgend fefte lag, ſo 
gab’8 ein erfleclich fein Mehl. 

Es war ein feiner Meiftersfohn, diefer Barthold, und mit 
Grauſen war er aus dem wilden Harz hervorgefommen, Wie 
gefagt, verſchwur er ſich am Schluffe jeder Rede jedesmal Hoch 
und teuer, daß ihn nie wieder einer in die wüften Berge unter dag 
wüſte Volk da friegen tun täte, Bon der Waldmühle, ihren 
Leuten und Gäften aber erzählte er, daß dem Hörer die Haare 


426 


fich ſträubten — und da — da follte diefer Albrecht Bodenhagen 
immer noch figen, und die Müllerstochter, die rothaarige Doris 
Radebreder, follte fein Liebchen fein! 

„Das iſt freilich ein Ort für den böfen Jungen!“ murmelten 
die Leute aus dem Mühlenbann zwifchen Sarftedt und Groß, 
Förfte und fahen mit melancholifchen Kopfſchütteln auf den alten 
Vater und die alte Mutter Bodenhagen, und die Gerüchte 
wurden immer fehlimmer., 

Nun fland einmal im Juli des Jahres 1759 der alte Müller 
Bodenhagen an feinen Gartenzaun gelehnt und fah verdroffen 
auf die leife an demfelben Hinfließende Innerfte und fehlen die 
Blafen zu zählen, die vom Grunde des Flüßchens emporftiegen, 
zerplagten und anderen Pla machten. Es follen aber diefe Luft; 
blafen von dem Atem der Waffergeifter in der Tiefe herrühren, 
und was viele Leute auf Hörenfagen hier weiter fprechen, das 
wußte der alte Chriftian Bodenhagen ganz genau. Er ſprach 
aber nicht gern davon und zog meiftens ein finfteres Geficht und 
verlor fich hinter dem Dampf feiner ſchwarzen Tonpfeife, wenn 
die Rede darauf kam. Er kannte fein Mühlwaffer genau und 
mußte, daß nicht mit ihm zu ſpaßen war. 

Die Morgenfonne fhien, die Lerchen fangen in der blauen 
Luft, auf den Wiefen lag das Heu in Haufen, und der leichte 
Wind trug den Duft herz doch die Waffergeifter ſchienen ſchwere 
und heftige Atemnot zu haben. Die Blafen perlten in Stößen 
auf, und der Meifter Bodenhagen 509 feinen Atem gleichfalls 
bedrüct aus der Tiefe der Bruft herauf und ftieß ihn in Seufzern 
von fih. Sein altes Weib Hatte ihm wieder mal des verlorenen 
Sohnes wegen von Mitternacht an den Doch ſchon fo kümmerlichen 
Schlaf ganz verfcheucht und dann fich natürlich an ein gefundes 
Schnarchen gegeben und ihn wachen laffen. 

„Mund kann ich denn dafür?” murmelte er jeßo. „Liegt es 
nicht feit der Schwedenzeit auf dem Dach und dem Nade? Ich 
habe nicht gezählt, wie viele Räder die Innerfte dreht, vom Ur; 


W. Raabe, Sämtlihe Werke. Serie II. 28d 
427 


fprung an big zum Eingang in die Leine; aber daß fie auf dieſes 
feit vielen hundert Fahren troß aller guten Nahrung einen 
befonderen Stoll hat, das weiß ich, und mein Vater und mein 
Großvater haben ihn auch verfpüren müfjen. Sie fagen, feit 
der Schlacht bei Lutter am Barenberge, allwo der General Tilly 
und der König von Dänemark aneinander waren, hat fich alles 
geheime Volk in Waffer, Wald und Luft hier in der Gegend mit 
dem Menfchen überworfen. Gott foll mich behüten, darauf nach: 
sufagen, aber die BodenhagenMühle weiß das Ihrige davon. 
Vor der Bataille foll diefes alles nicht gewefen fein. Zwerg, 
Nir und Waldſpuk hat wohl auch fein Wefen getrieben, aber mit 
Gutmütigfeit und im Spaß. Nachher erft find fie giftig geworden 
— fie mögen wohl ihre Gründe gehabt haben — und begnügen 
fich nicht mehr mit dem bloßen Iuftigen Schabernad; fondern —“ 

Er brach ab und fah fich ſcheu um und legte die Hand auf den 
Mund. Beinahe hätte er von dem Herzeleid gefprochen, was 
insbefondere die Innerſte ihm und feinen Vorfahren in der 
Mühle angetan haben follte; allein er befann fich noch zur rechten 
zeit und ſchwieg. Es ift gewiſſen Mächten gegenüber ſtets 
fiherer, zu ſchweigen, als fich zu beklagen; aber recht hatte der 
alte Meifter doch in betreff der Charakterveränderung des ge 
heimnisvollen Volkes feit dem Dreißigjährigen Kriege. 

Schon lange ging man nicht mehr mit einem bloßen Grufel 
oder gar einem behaglichen Lächeln zu Bett, wenn man am Winz 
terabend hinter dem warmen Dfen ein neues Hiftörchen von ihm 
vernommen hatte. Seit der Schlacht bei Lutter am Barenberge, 
wo die Liguiften den Dänenkönig Flopften und fein Heer aus— 
reuteten, und gar feit der Schwedenzeit hatte fich das gründlich 
zum Schlimmen und Böfen geändert. Mit der Menfchennatur 
verwandelte fich in jener greulichen Zeit auch der Sinn der Geifter 
in allen Elementen. Wo fie fchalfhaft gewefen waren, wurden 
fie nun boshaft. Ihr fpaßig Lachen wurde zu Hämifchem Grinfen, 
und wie der Menfch fanden auch die Geifter nunmehr ihre Luft 


428 


an der Grauſamkeit, dem Elend, dem Verderben. Es war die 
Axt an alles harmlofe Behagen gelegt worden, und die Leine 
und die Ihme fahen viel zu viele niedergefehlagene Wälder und 
verbrannte Wohnftätten der Menfchen an ihrem Wege, um 
bleiben zu fönnen, was und wie fie waren. Was aber die Innerfte 
anbetraf, fo gab ein Müller Bodenhagen die Überlieferung, daß 
ihr nicht zu frauen fei, weiter an den andern. Es ging faum ein 
Fahr vorbei, ohne daß man fie fehreien hörte — fein Auftauen 
des Winterfchnees, ohne daß fie das Land weit und breit über; 
flutete. Die Leute in der Mühle jedoch hielten das Schreien für 
das Schlimmere und Unheimlichere. 

Gegenüber dem Mühlengarten z0g fih am andern Ufer ein 
ziemlich dichtes, ineinander geflochtenes und gewirrtes Erlen; 
und Weidengebüfch hin, und gerade dem Orte gegenüber, allwo 
der alte Meifter Bodenhagen an feinem Zaune lehnte, hatten 
die Wirbel das Erdreich unter einem knorrigen Stamme weg, 
gefpült, der Baum hatte fich gefenft, lag mit dem Gezweig im 
Waffer und ſtreckte fein verworren Wurzelwerk in die Luft: die 
Niren fpielten auch den Baum; und Buſchnymphen ihre Streiche, 
wo fie e8 fonnten. 

„Suten Morgen, Herr Vater!” fprach es plöglich von dort 
herüber, und der Alte, von den Wafferperlen der Innerfte mit 
einem heftigen Schreden in die Höhe fehend, hielt fich mit beiden 
Händen am Zaune, 

„Schmedt Ihm fein Pfeifchen wie fonften? Es foll mich freuen,” 
erfcholl e8 wieder, und die Pfeife wäre faft dem Munde des 
Müllers Bodenhagen entglitten. Er griff aber doch noch danach, 
wie der Held der Pfeffelfchen Ballade, und legte die zitternde linke 
Hand über die Augen — fraute ihnen noch immer nicht und 
ftarrte wortlos über fein Mühlenwaffer nah dem Weiden; 
ftamm hin. 

Da faß auf dem Humpigen Wurzelwerk, das in der Tat einen 
recht bequemlichen Sig bildete, ein Menfch, der fich immer noch 


28* 


429 


nicht wie ein Phantom in dem flimmernden Sonnenfchein auf; 
löfete oder in das Waffer, aus dem er auch vielleicht aufgeftiegen 
fein konnte, zurüdfant, Ein Menſch, ein richtiger Menfch, aber 
nicht gar erfreulich anzufchauen! Er trug einen zerlumpten blauen 
Rock mit fehmierigen roten Auffchlägen, Kragen und Futter; er 
trug gelblich⸗ſchmutzige Kniehofen und zerfetzte Gamaſchen; und 
den dreiedigen alten Soldatenhut trug er fchräg über das eine 
Yuge gedrüdt, über dem andern eine Binde. Wie der greife, 
weiße, reinliche alte Müller hielt er auch eine Tonpfeife zwifchen 
den Zähnen, und jeßo legte er militärifch grüßend die Hand an 
den Hut und rief von neuem über die Innerfte: 

„Ih wünſche dem Herrn Vater den allerfchönften guten 
Morgen und refommandiere mich fürs gefchlachtete fette Kalb. 
Sch bin’s, Herr Vater, und frage an, ob Er und die Frau Mutter 
was dagegen einzuwenden haben, daß ich über den Steg laufe 
und den lieben Eltern mit Tränen in die Arme renne?“ 

Der Alte ftieß ein Geftöhne aus; aber zu antworten vermochte 
er noch nicht. 7 

„Run, wie iſt's?“ fragte der Blaurod von jenfeits her, „Soll 
es heißen: Pardon, Grenadier; oder gebt ihr fein Duartier? 
Hunger, Durft und einen zerfohlagenen Kopf bringe ich mit, ich 
fomme aus dem Weftfalenland, und e8 ift ung als wie den hohen 
Alliierten und dem Herzog Ferdinand herzlich fchlecht ergangen. 
Sage Er Duartier, Here Vater — ich bringe zu allem übrigen ein 
gebeffert Gemüte und weiß nun aus der Erfahrung, daß es zu 
Haufe bei der Frau Mutter am beften ift. Mache Er ein Ende, 
Vater, und laffe Er mich wieder ein; es ift mein blutiger Ernft, 
und ich habe beides fatt, den Krieg wie das Wandern!” 

„Iſt Er e8? Oh!” ächzte der Alte; aber er antwortete den 
Fragen von dem anderen Ufer der Innerfte auch jeßt noch nichts, 
Er ließ den Zaun 108 und drehte fich um und wadelte dem Haufe 
zu durch den engen Gartenweg, beide Hände mit ausgefpreisten 
Fingern vor fich hinftredend, als müſſe er feinen Weg durch eine 


430 


dide Finfternis taften. Aus dem Garten fat er in die Küche, wo 
feine graue Frau am Herde wirtfchaftete, und er ſetzte ſich ſtumm 
auf die Banf neben dem Herde, und die Müllerin ließ erſchreckt 
ihren Topf und Löffel und fehrie: 

„Jeſus Chriftus, Vater, was ift? was ift 108? was ift ger 
fchehen?” 

„sa, Vater, Vater, Bater!” murmelte der Müller Boden; 
hagen; und drüben auf dem Meidenftamme hob der zerlumpte 
Kriegsmann den Dreieder vom wirren Haarwulft, ließ ihn wieder 
fallen und fagte zwifchen den Zähnen: 

„Rob Kreuz und taufend Schwadronen, hab’ ich nun eine 
Antwort oder nicht? Da geht der Dampf aus dem Schornftein, 
und ich meine den gebratenen Sped bis hierher zu riechen. 
Hu, Sped und Eier, und geftern ift auch der Tag gemwefen, allwo 
wir frifh baden! Der Teufel, im Lager zu Pirna konnte fein 
Sachs mehr Wehmut ausftehen als ich anjeßt auf diefer hohlen 
Weide! Nun hält er SKriegsrat drinnen mit der Alten. O, 
Albrecht Bodenhagen, wie bift du heruntergefommen feit der 
DBataille bei Bergen!“ 


Er ſtarrte auch in das Waffer nach den auffteigenden Blafen 
und Perlen, und mit einem Male fette er finfteren Auges die 
Zähne fefter auf die Lippen, daß ihm das Pfeifenrohr zerbrach, 
und murmelte: 

„And da ift die Innerfte wieder! Wie wär’, wenn ich noch 
einige Tagemärfche dran aufwärts rüdte und den Sped in der 
Pfanne an einem anderen Ort in die Naslöcher zöge? D, heulen 
möchte man, daß man fo wenig gefchickt ift für den Krieg und das 
Wandern. Sie würden alle lachen, wenn fie das wüßten!“ 


In diefem Augenblid ließ fich ein Weibergefchrei aus der 
Mühle vernehmen, und der Menfch auf der Weide fiotterte: 


„Die Alte! das war die Alte! jegt weiß die Alte, wie weit es 
am Tage ift!“ 


431 


Und e8 war fo. Die Alte war's, und die Alte wußte, wie weit 
e8 am Tage war. Sie fam durch den Garten, fo haftig, als es 
ihr ihre fünfundfechzig Jahre erlauben wollten, fie ſtreckte auch 
die Arme weit vor fich hin, doch Durch eine Finfternis brauchte fie 
fih nicht zu taften, 

„Mein Sohn! mein Kind!” EFreifchte fie; und drüben hatte 
der Soldat den preußifchen Infanteriſtenhut abgenommen und 
hielt ihn in den Händen, und der Pfeifenftummel war ihm ent; 
glitten und in die Innerfte gefallen, | 

„Frau Mutter, wenn Sie Gnade für Recht ergehen laffen 
will, und wenn der Herr Vater damit zufrieden ift, fo komme ich 
über den Mühlenfteg. Sch hab’ e8 fatt in der weiten Welt, und 
den Krieg um Schlefien follen fie unter fich allein ausmachen, 
und den Colignon, den Werber, den foll der blutige Teufel holen. 
Frau Mutter, will Sie mir heute wieder mit einen Teller auf den 
Tisch feßen? Den Geruch Ihres Speds, Frau Mutter, halte ein 
anderer aus, ohne zu fchluchzen wie ein Kind: ich heule Ihr ges 
radeweg was vor, wenn der Herr Vater mich nicht über den . 
Steg am Mühlenſchütt fommen läßt und mich weiter fehict 
zum Träberfreffen und Schweinehüten oder zum General 
Freytag.” 

Der Bater Bodenhagen zeigte fich nicht wieder vor dem 
Haufe; aber Mutter und Sohn begegneten einander auf dem 
Mühlenftege, und zwifchen ihnen beiden war alles in Nichtig- 
feit, und als ob nie etwas vorgefallen fei, was dem fehlimmen 
ungen, dem Albrecht, einen häuslichen Verdruß bei feiner - 
Heimkehr aus dem Felde und von der Wanderfchaft hätte eins 
bringen können. Als fie jedoch Hand in Hand und die Alte in 
Tränen in die Stube traten, da faß der Alte am Tifch, drehte der 
Tür den Rüden zu und hatte die Fauſt auf die Tifchplatte gelegt. 
Er wandte fich nicht um bei ihrem Eintritt. 

„Mit Permiffion, Herr Vater —“ 

„Sr Halunk!“ murrte der Alte. „Wenn Er e8 wirklich ift, fo 


432 


fage Er mir, wer ihn gerufen hat? Hat fich der Herr wirklich nicht 
in der Tür geirrt?“ 

Die alte Frau legte ihrem Ehemanne die Hand auf die 
Schulter: 

„Ich habe ihn gerufen in meinen bangen Nächten; er muß es 
mitten unter dem Volk gehört haben.” 

„Der Bagabonde — der Landläufer!” 

„Mund er ift zurüdgefommen mit fohleppendem Fittich und 
hat fich nicht in der Tür geirrt. Sieh dich um, Bodenhagen, fieh 
ihn an, Vater. Hab’ ich ihn mit meinen Tränen hergemweint, 
fo haft du in deinem Ärger nach ihm gefcehnarrt. Sieh dich um, 
Alter,” 

Und der Müller Chriftian Bodenhagen fah fih um nach feinem 
lieben Söhnchen und zwar froß feinem Alter mit den munterft 
funfelnden Yugen. 

„Das ift das Wort! In meinem Argernis hab’ ich nach dem 
Strolhen, dem ſchwachmütigen Lumpen auch gerufen und es 
kaum erwarten können, daß e8 fo käme, wie e8 heute endlich ge; 
fommen ift! Ho, wirklich, er iſt's, und ganz fo, wie ich ihn mir 
im Traum und Wachen abphantafiert habe, der Has im Marder; 
pelz! Alte, Alte, wenn ich den Schlingel nicht zu genau fennte, fo 
würde er mir wahrhaftig nicht über die Innerfte gefommen fein. 
Das ift der Milchtopf auf dem Feuer — er kocht über, und es 
finft. Du rüdft ihn ab von der Glut, und er gibt fich fein zur 
Ruhe. D, du jammerhafter Wifchlappen, was hatteft du im 
Felde beim König Frig und dem Prinzen Ferdinand zu fuchen? 
Du Großmaul, haben fie dir nach Verdienft den Budel zerbläut 
und dich heulend zu Vater und Mutter heimgefchict? Ich habe 
e8 ſo gewußt, mein Sohn, verlaß dich drauf. Du bift mir nicht als 
etwas ganz Neues drüben am Waſſer aufgegangen; und meil 
dem fo ift — deshalb — fei gefegnet dein Eingang!” 

Er hatte fein fpanifch Sonntagsrohr neben der alten knochigen 
harten Hand auf dem Tifche liegen, und jeßo war er aufgefprun; 


433 


gen, und e8 erhub fich ein Tanz, beinahe noch Iuftiger und wilder, 
als er am kommenden erften Auguft bei Minden zwifchen dem 
Herzog von Braunfhmweig und dem franzöfifchen Marfchall 
Eontades aufgeführt werden follte. Die Mutter Bodenhagen 
flüchtete fich fehreiend in eine Ede; das Haus; und Mühlengefinde 
lief entfeßt zu Hauf — der Meifter Chriftian fehlug brav zu und 
fümmerte fich nicht, wohin er traf. Den wilden Albrecht aber 
mußte die Schlacht bei Bergen und der darauf folgende Hunger 
wahrlich tief Heruntergebracht haben. Er wehrte fich kaum anders 
als duch ein ununterbrochen Ausmweichen rund um den Tifch 
herum, | 

Sie wußten im achtzehnten Jahrhundert, felbft in der rand⸗ 
und bandlofeften Zeit des Siebenjährigen Krieges, immer noch 
in der richtigen Art und Weife mit den verlaufenen Herren Söhnen 
umzugehen, die Herren Väter. Sie hatten e8 gelernt von Seiner 
königlichen Majeftät in Preußen, Friedrich Wilhelm dem Erften, 
und waren imftande, Seine Majeftät König Fritz den Zweiten 
als glorreiches Eremplum hinzuftellen und fich des weiteren und 
breiteren darüber zu ergehen, daß der dag hifpanifche Rohr felber 
fühlen müffe, welcher e8 einmal felber führen und andere, als 
z. B. die Kaiferin Maria Therefia und den franzöfifchen König 
Louis, fühlen laſſen wolle, 


434 


Drittes Kapitel. 


E⸗ war der gutmütige und handfeſte Mühlknappe Barthold 
Dörries aus Dielmiſſen, der dem zornigen Hausvater endlich 
den Stab Wehe entrang und den Hausſohn vor dem Schickſal er⸗ 
rettete, zu fein gemahlen zu werden. Auch das übrige Geſinde 
ſprang endlich zu; dann kam die Mutter und am andern Morgen 
die ganze umliegende Landſchaft zu Worte. Letztere behielt es 
längere Wochen hindurch über die Vorgänge in der Sarſtedter 
Mühle, | 

Es gibt nicht wenige Leute, die, wenigſtens zu einer gewiſſen 
Lebenszeit, einen ſchlimmen Ruf für beffer als gar feinen halten; 
allein es gehört Charakter dazu, diefe Anficht Bis zum Ende feſt⸗ 
zuhalten, und ſolche Seelenftärfe befigen freilich micht alle. 
Albrecht Bodenhagen befaß fie ficherlich nicht. 

Er hatte genug des Ruhmes oder Nufes und gab, wie man 
das nennt, Hein bei; und auch darüber machte die Umgebung 
dann natürlich wieder ihre Gloffen. 

Selten find zu irgendeiner Zeit fo viele Kornfäde nach der 
Mühle an der Innerfte getragen und gefahren worden als in 
jenen Tagen. Ein jeglicher wollte den verlorenen Sohn fehen, 
ein jeglicher gern ein Wort mit ihm reden, und manch einer fam 
zu feinem Zweck zum großen Verdruß des Heimgefehrten, dem 
beides ein Greuel war, das Vermahnen fowohl als das Beglüd; 
wünſchen, und der jedem Gevatter und jeder Gevatterin unter 
dem wachfamen Auge des Herrn Vaters ftill zu Halten hatte. So 
blühte mit dem Geſchwätz das Gefchäft, und die Räder drehten 
fih, und der Laufer drehte fih auch, und die Innerfte quirlte 
lautlos ihr ſchmutzig Waffer vorbei und nach Sarftedt, um jenfeits 


435 


der Stadt andere Mühlen zu treiben und auf anderer Leute 
Angelegenheiten tüdifch Achtung zu geben. Das geht ung aber 
nichts an. 

An einem Donnerstage war Albrecht nach Haufe gefommen, 
und am Sonnabend fam nach alter fefter Sitte der Balbierer von 
Sarftedt, um dem Meifter Chriftian den Wochenbart abzunehr 
men. Stumm und mürrifch ließ ſich der Alte an der Nafe ziehen, 
drehen und wenden und das Mefler gewähren; aber nachdem 
das glattmachende Werk an ihm vollendet war und er den Schaum 
abgetrodnet hatte, winfte er dem Sohn auf den Stuhl, und der 
friegerifche Schnauzbart desfelben fiel dem Meffer geradefo zum 
Dpfer wie die Wochenftoppeln des Vaters, Der tapfere Kriegs; 
mann ging mit einem ganz anderen Geficht aus der Prozedur 
hervor, und die Hausgenoffenfchaft wie die Umgegend hatten von 
neuem Grund, fich zu verwundern. 

Es war doch etwas an dem Wort des Alten vom Hafen im 
Marderpelge! Eine gar gutmütige und augenblidlih gar 
melancholifche Menfchenvifage Fam hinter dem grimmen Bart 
zum Vorſchein. Es fehlte weiter nichts als eine weiße geftridte 
Zipfelfappe zu einer weißen Müllerjade, und als am Sonntag; 
morgen die Mutter mit Freudentränen im Auge dem Söhnchen 
beides brachte und er mit der Kappe über den Ohren zur morgend, 
lihen Bierfuppe ſchlich, da mangelte nichts an der Verwandlung 
zum Beſſeren, und die Böswilligften und Mißtrauifchften mußten 
zugeftehen, daß fie Doch wohl an dem „wilden’’ Bodenhagen fich 
geirrt haben könnten. Nun fehlte bald wenig, daß der verlorene 
Sohn durch das halbe Fürftentum Kalenberg und das ganze 
Fürftentum Hildesheim als ein Mufter aufgeftellt worden wäre, 
Entrüftete Väter und betrübte Mütter waren jetzo um ſo ge⸗ 
neigter Beifall zu niden, als fie vordem den braven Albrecht als 
ſchlechtes Eremplum für ihre eigenen wilden Sprößlinge vers 
wünfcht hatten. Auch die Jungfern in der Stadt und auf dem 
Lande gudten auf und hin, und manch ein Mägbelein machte fich 


436 


ein Gefchäft in der Mühle, das ein anderer ebenfo gut oder beſſer 
hätte ausrichten können. 

Am 1. Auguſt fiel die Schlacht bei Minden und am 12. des; 
felbigen Monats die bei Kunersdorf vor, in welcher e8 dem alten 
Fritz fo herzlich fchlecht erging. Nach derlegteren Bataille verſchwand 
eines Tages der Knappe Dörried aus der Mühle; er war nad) 
Pattenfen auf den Jahrmarkt gezogen, fich einen vergnügten Tag 
zu machen und eine neue Mütze zu faufen. Beides foll er zuftande 
gebracht haben, dem Gerüchte nach; aber auf den vergnügten 
Tag folgte auch eine kreuzluſtige Nacht; der gute Barthold ift nicht 
nach der Mühle zurüdgefommen; der Oberft Colignon hatte auch 
ihn, und ſchon am 21. November hat ihn bei Maren ein Stüd 
von einer Haubisgranate des Feldmarfchalls Daun zu den übrigen 
auf den Boden gelegt. E8 war ſchade um ihn, und der König 
Friederich ift nachher auch fehr ergrimmt darob auf den Herrn 
General von Fink gemwefen, hat ihn vor ein Kriegsgericht geftellt 
und auf die Feftung gefet, aber den guten Barthold nicht wieder 
lebendig dadurch gemacht. 

Meifter Chriftian Bodenhagen in der Mühle an der Innerfte 
nahm feinen andern an feiner Statt an. Er hatte ja feinen Sohn 
zurück und konnte ihm aufladen, was ihm beliebte; und Vater, 
Mutter und Kind waren und blieben allein und feierten Weih— 
nachten im engften Familienfreife. Man hat diesmal aber nicht 
gefehen, daß fie einen Tannenbaum mit goldenen Äpfeln und 
Nüffen behängten und mit Lichtern beftedten. Es wäre auch 
ſchade um den Baum gemwefen, denn in diefem Jahre ſchwamm 
der ganze Torgauer Wald die Elbe hinunter nach Hamburg und 
duch des Dberften Colignons Werbetafhen fo nach und nach 
in die Tafchen von fechzigtaufend neuen Rekruten. Und was an 
gutem Holz in den Lagern von Dresden, Freiberg und Dippoldig; 
walde in den Brandhütten der HÖfterreicher und Preußen in 
Rauch aufging während des harten Winters, ift von der gütigen 
Mutter Natur auch erft lange Zeit nachher erfegt worden. 


437 


Um Weihnachten drehte fih dag Rad noch; aber dann kam 
der Froft, die Innerfte wurde zu Eis, und die Mühle ftand ftill. 
Da hat man Zeit gehabt, allerlei miteinander zu überlegen, und 
über allerhand Vergnügliches und Zärtliches zu einem feſten Bes 
fchluß zu kommen. Bald hat man e8 weit und breit gewußt, daß 
der Vater Bodenhagen mit großem Nachdrud von dem Sohne 
verlangt habe, er folle ihm nun auch eine junge Fran ins Haus 
bringen und zwar fchon zu Dftern des kommenden Jahres. 
Rundum haben die Jungfern aufgehorcht; aber auch nicht wenig 
die Näschen gerümpfet, als fie zu dem übrigen vernahmen, daß 
fie feine Stimme bei dem Handel haben follten, daß derfelbige 
fchon fo gut wie abgemacht und durch Handfchlag zwifchen den 
Eltern befiegelt worden ſei; daß der Albrecht ja gefagt habe, ohne 
fich ange zu gieren und zu befinnen, und daß die Braut zu Groß, 
Förfte fie und wirklich niemand anderes fei als Lieschen 
Papenberg, des Brinkſitzers Papenberg einzige Tochter ! 

Das hatten fie nicht erwartet, die Jungfern in der Stadt 
Sarftedt und fonft im Fürftentum Hildesheim. Nun hatten fie 
fich zum zweiten Male in dem Albrecht Bodenhagen geirrt, aber 
voraus zu fehen war's doch gewefen; denn ein Menfch, der fo 
fortlief in die Welt und fo wiederfam und fo weichmäulig und 
fo weiß, fo hammelweiß vom Mehlftaub über die Gartenhede 
greinte, dem fonnte man alles zutrauen, felbft den fehlechteften 
Geſchmack im Lande, weit über den Deifter hinaus und bis tief 
hinein in die Lüneburger Heide, 

Sp dachten und zifchelten die Jungfern hinter den Türen, 
auf den Dorfgaffen, am Brunnen und hinter den Spinnrädern; 
aber die Eltern dachten anders und nannten den Meifter Chriftian 
einen Hauptkerl, der e8 verftehe, einen Windhund an die Leine 
zu nehmen, und auf die Haus; und Staatsräfon faft ebenfogut 
ausgelernt habe wie der preußifche König Fritz und fein Herr 
Vater Friedrich Wilhelm, 

Man hat auch das Lieschen gefragt, wie ihr denn eigentlich 


438 


nun zumute fei? und fie hat den Schürgenzipfel an den Mund 
genommen und gemeint, das fei eine dumme Frage. Dabei 
aber hat fie gefichert, und die Fragerin hat auch nichts weiter 
gewußt, als gleichfalls zu Fichern, ift jedoch hingegangen und hat, 
drei Häufer weiter, erzählt: ihre fei eben eine Gans über den 
Zaun geflogen, der fei fie nachgelaufen bis auf Papenbergs Hof, 
und da habe fie fich beinahe vergriffen und das Lieschen dafür am 
Flügel genommen; folch ein kurios Gegader fei feit Erfhaffung 
der Welt nicht erlebt worden, und auf die Hochzeit fei das ganze 
Freikorps des Oberſten Bauer geladen, dazu aus Böhmen viele 
fhöne Fräulein; wer aber zu allererft gebeten fei, dag fei die 
Müllerstochter oben im Harz, die auch an der Innerſte fige und 
tagtäglich ihre Grüße mit dem Waffer herunterfchide, wie der 
arme Barthold Dörries das ja hundertmal erzählt habe. Dem 
fei num, wie ihm wolle, gelacht mußte Lieschen Papenberg haben: 
wer das Mädchen lachen fehen wollte, der konnte überhaupt leicht 
dazu fommen, Es war ein fröhliches Ding von den Kinder; 
ſchuhen an gemwefen, brachte von Natur ein vergnügt geduldig 
Herz mit zu allem, was die Frauen erleben fünnen auf diefer 
Erde; die Innerſte hüpfte da oben in den Bergen, an ihrem 
Geburtsorte im Walde nicht unfchuldiger, klarer und Tieblicher 
in die Welt hinaus. 

Gegen Ende Februars, als es in Schlefien und Sachfen wieder 
lebendig wurde und überall das Eis aufging, fehrie die Innerfte 
im neuen Jahre 1760 zum erften Male, aber die junge Braut hat 
fie damals noch nicht fehreien hören. 


439 


Viertes Kapitel. 


8 war ein Sonntag, und die Kirche war überall zu Ende im 
Lande. Der Tag war regnerifch, Doch konnte man gerade 

nicht fagen, daß e8 regne; e8 war eben ein Tag im Hornung, und 7 br 
man mußte das Wetter nehmen, wie e8 fich gab. Der junge 
Müller befand fich' allein zu Haufe, beide Alten mit den Mägden 
waren nach Sarftedt zur Kirche und konnten faum vor Mittage 
zurüd fein. Das Nad war geftellt, und der junge Müller lag 
faul auf der Bank am Dfen und hörte der Uhr zu, die hinter 
feinem Kopfe im Winkel tidte, Die Hausfage faß zu feinen 
Füßen auf der Bank und pußte fich über die Ohren; denn e8 
war Feiertag, und dazu follte am Nachmittage Befuch fommen: 
Sungfer Lieschen mit Vater und Mutter, der Vetter und die 
Bafe aus Harfum, ja, auch die Verwandtichaft aus Groß; und 
Klein⸗Algermiſſen wollte fommen, und am Abend follte e8 Hoc) 
hergeben in der Mühle, 

Der Haushund kam von Zeit zu Zeit und ledte dem Träumer 
auf der Bank die Hand; dann fagte der junge Müller: 

„Nieder, Laudon! Gib dich zu Ruhe; ich Habe mich auch zu 
Ruhe geben müſſen.“ 

Er gähnte fchläfrig, und doch zogen ihm allerlei bunte Bilder 
durch den Kopf. Da dachte er, daß er num bald ein junges Weib 
haben werde, und lächelte. Dann fragte er fich, wie e8 dem Alten 
und der Alten wohl auf dem AUltenteil gefallen werde, und fraßte 
fich hinter dem Ohre. Nun richtete er fich auf dem Ellenbogen 
halb empor und drehte fich gegen das Fenfter, um nach dem 
grauen Gewölk zu fehen, und da mußte er an die Kriegsvölker 
im Weften und Oſten denken, mit denen er's vor einem Jahre 


440 


noch hatte Frühjahr werden fehen, — e8 war ihm, als höre er 
fern die Trommeln und die Trompeten und auf einmal die erften 
Schüffe von den VBorpoften her. Er fchüttelte fi, ſchob von 
neuem die Hände unter den Hinterkopf und feufjte: 

„Uh Ve 

Mit einem Male aber feßte er fich aufrecht, daß die Kae 
erfchredt von der Banf fprang und Laudon am Dfen verwundert 
den Kopf erhob. Es war fo ftill in der Stube, daß man außer 
dem Piden der Uhr nichts weiter hörte, als dann und wann ein 
lauteres Raufchen der Innerfte, und die Innerfte war's eben, 
die den jungen Müller Albrecht Bodenhagen fo jach aufgejagt 
hatte. Er war in feinen fchläfrigen Phantafieen, anfangs ohne 
darauf zu achten, an dem Wafler hinaufgefchritten, und plöß- 
ih — 

Der Hund ſtand und bellte gegen die Tür, und der Müller 
fah verftört darauf hin; e8 hatte gepocht, und es pochte jeßt noch 
einmal. 

„Herein !’’ rief Albrecht, Doch e8 koſtete ihm Mühe, das kleine 
Wort hervorzubringen. Mit flieren Augen fah er auf die Tür — 

„Bon jour!“ fagte der eintretende Befuch, den Hut abneb- 
mend, und zwar mit der linfen Hand. Rechts frug er nur einen 
an die Jade gefnöpften Armel. „Bon jour! Nicht’ euch! Na, 
Mustetier, hat Er’s fo ſchnell verſchwitzt, wie der Soldat fi 
gegen feinen Vorgefegten zu behaben hat? Taufend Donner; 
wetter, foll ih Ihm die Hände an die Naht bringen, Musketier 
Bodenhagen? Sa, ja, fo fieht die Kuh das neue Tor an, aber 
Seinen alten Unteroffisier follte Er doch noch kennen, Albrecht! 
Schodihwerenot, da fieht man wieder, was e8 nüßt, mit einem 
Eſel Freundſchaft zu fehließen und an taufend Beiwachtfeuern 
ihn zu GSittfamfeit und Tugend anzuhalten! Kerl, fo dumm fah 
Er nicht aus, als ich Ihn zum erften Mal in Reih und Glied 
ftellte. Na, geht Ihm endlich ein Licht auf, Kamerad? Es hat 
mich lange nichts fo fehr gefreut! Guten Morgen, Albrecht; es 


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ift wirklich ein Pläfter, daß du endlich den Mund zumachſt. Ich 
bin e8 und — da bin ich und verhoffe, daß du es für einen Affront 
genommen häfteft, wenn ich heute an deiner Tür vorbeimarſchiert 
wäre, ohne vorzufprechen. Sch bleibe auch zu Mittag und nehme 
mit einem Strohſack zur Nacht vorlieb: du weißt, verwöhnen 
tut unfereinen weder Seine königliche Majeftät, noch Geine 
herzogliche Durchlaucht; aber ein Vivat wirft's doch noch für 
beide ab; vorzüglich wenn das Getränk danach iſt. Gewehr ab! 
Rührt Euch! Musketier, auf da 8 Wiederfehen hatteft du Dich 
wohl auch nicht eingerichtet, als die Glode heute Morgen in die 
Kirche läutete?“ 

Er hatte den Hut auf den Tiſch geworfen und ſich in den 
Sorgenftuhl des Meifters Chriftion. Der junge Müller Boden, 
hagen fand vor ihm: 

„Iſt Er e8 denn wirklich, Korporal? Biſt du e8 wirklich in 
Fleifh und Blut, Jochen?” 

„In Fleifch und Blut bis auf das, was bei Minden liegen 
geblieben iſt — Joachim Brand aus der Bergftadt Grund im. 
Harz, Eöniglich preußifcher und Furfürftlich hannoverſcher Korz 
portal auf der Netraite, und bis auf dag Stüd von ihm, dag bei 
Minden liegt, immer noch dein guter Freund und Kamerad, 
Musfetier Bodenhagen.” 

Der junge Müller fah fi um. Rechts über die Schulter 
und links, 

„Das ift freilich Sonntagsbefuh, auf den ich mich nicht 
eingerichtet hatte, Korporal,” ftotterte, er; aber der Einarm 
lachte: 

„Will's Ihm glauben, Albrecht; aber das muß ich fagen, 
warm fißt Er und propre, Iſt das das Neft, aus dem Er aufge 
flogen ift, um mit ung zu ziehen? Da kann ich es dir freilich wicht 
verübeln, daß du dich beizeiten wieder aus dem Pulverdampf 
in den Mehlftaub verzogen haft! Was fieht Er mich fo jammerz 
haft an, Mustetier?” 


442 


Der junge Müller fah in der Tat den Kriegsfameraden ein 
wenig Häglich und verlegen an. Die Uhr im Winkel hob eben 
aus und tat ihre zwölf Schläge: lang konnt's nicht mehr dauern, 
fo waren die beiden Alten aus Sarftedt zurück; und was der Alte 
zu dem vermwilderten Gafte mit dem leeren Ärmel fagen würde, 
das wußte der junge Meifter fürs erfte noch nicht zu fagen. Er 
erinnerte fich nur mit merfwürdiger Deutlichkeit feines eigenen 
Empfangs zu Haufe nach der Rückkehr aus dem Felde und blicte 
jeßo nach dem Winkel neben der Uhr, aber einen Troſt gewährte 
e8 nicht, daß das fpanifche Rohr dafelbft nicht an feinem gewohn⸗ 
ten Platze lehnte, Der Meifter ChHriftian führte es mit fich, 
würdig war er daran zur Kirche gefchritten, und unbedingt 
brachte er e8 wieder mit heim; er hielt etwas auf den Stab, den 
er bereits von feinem Vater ererbt hatte und noch um eine Gene; 
tation weiter zu geben hoffte, 

„Ich fehe dich nicht jammerhaft an, Jochen,“ fagte der junge 
Müller. „Aber mein Vater und meine Mutter —“ 

„9950,“ lachte der andere, „ſteckt's da? Die halten das liebe 
Söhnchen wohl feft am Bande? Sie haben wohl nicht Luft, es 
zum zweiten Mal im weiten Felde zu fuchen? He, Albrecht, 
Bruder, da laß du mich nur forgen; aus dem Quartier geh’ ich 
bis morgen früh nicht. Schaff zu frinfen; den Hunger heb’ ich 
mir zu Tiſch auf! Neftküchelchen, Füfiltier Bodenhagen, Bruder; 
herz, find wir darum in fo erfchredlichen Bataillen geftanden, 
um ung zu Haufe den Suppenlöffel ums Ohr fohlagen zu laffen? 
Mordieu, her mit der Flaſche — ſchaff einen Schnaps; oder ich 
bee deinen eigenen Hund auf dich! wie heißt denn der Köter?“ 

„Schrei nur nicht fo, Jochen. Hierher — ruhig, Laudon! 
will er Ruhe halten, Laudon? O Jochen, tu mir die Liebe an —“ 

„Laudon heißt das Beeſt? Nenn e8 Sadville, Kamerad! 
Feig und niederträchtig genug fieht die Kreatur zu dem Namen 
aus! Heb fie nur auf den Zeltfameraden, Bruder Albrecht! 
He, Sadville! He, Sadville! faß an, pad an, Lord Sadbille! 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 294 443 


Mit meinem leeren Ärmel wehr’ ich mich! Siehft du, da ver, 
friecht fich der Kujon unter der Bank, und da — dort verfriecht 
fih der Broglio aus der Affäre, und da Tieg’ ich im Sumpf und 
der Arm ift zum Teufel, Sadville, hoho, Sadville, Mylord 
Sadville! fo zieh’ ich als ein Invalid mit dem Bettelfad aus dem 
Feldfpital nach Haufe, und mein befter Freund fürchtet fich vor 
der Rute hinterm Spiegel. Pfui, Satan; ich ſpucke aus und 
mwünfche dir alles Glüd bei deinen Mehlfäden, Albrecht Boden; 
hagen. Adjes, und wenn du es gar nicht mehr aushalten Fannft, 
laß dich beim Sadville unter die englifche Kavallerie anmwerben, 
und deinem Hundevieh tu’ ich Abbitte, das ift viel zu gut für 
den Namen. Gott befohlen, Müller, und die englifche Krankheit 
in deine Knochen !” 

Er hatte den Hut aufgeftülpt und wollte eben zornig zur Tür 
hinaus, als fich Diefelbe öffnete, das heißt als fie weiter aufgemacht 
wurde. Es hatte feit mehreren Minuten bereits jemand da dem 
Dinge zugehört. Der alteMeifter Chriftian ftand auf der Schwelle, 
und hinter ihm ftand angfthaft feine Hausehre und hielt ihn am 
Rockſchoß; es wies fich jedoch fonderbarermeife aus, daß das gar 
nicht notwendig wat. 

Der Invalide von Minden rannte an den Meifter an und 
fuhr zurück. 

„Wo will Er hin?“ fragte der Greis. „Halt da! Daß Er das 
große Maul gleich allen übrigen aus dem Kriegselend mitbringt, 
weiß ich fehon. Erwartet Ihn etwa auch zu Haufe ein alter Vater 
und eine Mutter, die Fahre lang allmächtlich ihr Kiffen in ihren 
Tränen wäfcht? Die Rute hinterm Spiegel? Ei, ei, führt nicht 
der König gerade darum den Krieg, um der ganzen Welt zu 
jeigen, daß die Rute immer noch hinter dem Spiegel ſtecke? Lege 
Er Seinen Hut hin, Musje, fage ich; Er fann bleiben in der 
Mühle bis morgen und auch noch einen Tag länger, wenn“s 
Ihm beliebt. Auf den Jungen da aber hatte Er nicht fo hineins 
zuräfonnieren, das ift mein Junge, und den hab’ ich abzus 


444 


richten! Marfch in die Küche, Mutter, wir haben einen Gaft zu 
Tiſch, und wir haben auch heut abend einen Gaft mehr. Hänge 
Er Seinen Hut da an den Nagel, Kamerad — da, ftell meinen 
Stod in die Ede, Wlbrecht, und leg mein und der Mutter Gefang- 
buch) ins Schaff. Setze Er ſich, Kamerad, und laffe Er mich von 
Sich und Seinen Umftänden ein Weiteres wiffen.” 

Der Korporal ſchüttelte mit einem eigentümlichen Bli auf den 
früheren Kriegsgenoffen dem Alten die Hand. 

„Er ift mein Mann, Müller! Nehme Er vorlieb mit der Lin; 
fen; ich würde Ihm nur zu gern die Rechte geben, wenn’s an⸗ 
ginge, Mit Seinem Jungen da darf Er natürlich machen, was 
Er will. Ich bin auch nicht umfonft fein Unteroffigier geweſen 
und weiß, wie er fraftieret fein muß. Hänge Er auch meinen 
Hut an den Nagel, Musketier Bodenhagen.“ 

Der „Zunge“ tat verdeoffen, was ihm geheißen worden wat, 
trieb fich Häglichsmürrifch noch einen Augenblid in der Stube 
herum und ging dann hinaus und duch den Garten an den 
Zaun. Er ftügte beide Arme auf den Zaun und fah die mürrifche 
Innerſte vorbeifließen. 

„D Jemine,“ feufzte er, „jedermann hat feinen Willen mit 
mir, und wie ich auch aufwerfen mag, es ift doch, als ob fie alle 
Befcheid in mir wüßten. D je, es ift doch ein miferabel Dafein — 
die ganze Welt hunzt an einem herum, und nichts, gar nichts hat 
es genüßet, daß man fein Leben dran feßte, der wilde Albrecht zu 
heißen. Der Krieg hat mich kaput gemacht — und der tolle 
Albrecht, der wilde Bodenhagen ift zahm genug geworden. Ohne 
die Alte follte mich die Innerfte ſchon längft mit fich weggenom; 
men haben. Und jeßo frieg ich auch ein junges Weib —“ 

Sie riefen ihn vom Haufe her, und ohne fein lettes Wort zu 
Ende zu bringen, fehlich er zurüd, fand die Suppe auf dem Tifche 
ftehend und den Korporal Brand im beften Einvernehmen mit 
dem Vater und der übrigen Hausgenoffenfhaft daran figend. 
Sp feßte er fich auch, fat den Mund nur zum Effen auf und hörte 


in. A 


den Sochen von der Schlacht bei Minden erzählen; nach dem 
Eſſen aber, als der Alte fehlief, ftand er abermals am Zaun an 
der Innerſte, doch diesmal mit dem Korporal Jochen an feinem 
Ellenbogen, und fah hin auf den aufgeweichten Feldweg, der von 
Groß-Förfte auf die Mühle zuführte durch die Felder und Wiefen, 
und auf welchem die Verwandtſchaft mit der jungen Braut jeßt 
herangezogen kommen follte. Der Korporal aber redete ihm ing 
Gewiſſen. 


446 


Fünftes Kapitel. 


„@erl,” fagte der Korporal Jochen Brand, „nun fage mir mal, 
was das mit die iff? Seße allen Reſpekt zur Seite; mein 
Korporalſtock liegt mit meinem Arm ruhig bei Minden; tu dir 
feinen Zwang an; fprich dich aus, wie dir's ums Herz iſt; es 
deucht mir, die Marſchroute fei mir nur deshalb fo vorgefchrieben 
worden, um dir die Beichte zu hören, als ob ich mein Lebtag nichts 
anderes gemwefen fei als ein Hildesheimfcher Kanonikus.“ 

„O Jochen!“ ſeufzte der junge Müller, 

„Als ein Hildesheimfcher Kanonifus! Kerl, wenn e8 auf die 
Kanonen ankommt, fo haft du die auch oft genug fingen hören 
im freien Felde und hinter Wall und Schanze — ſchäme dich, die 
Ohren hinter der Front und gar in fol einem Duartier wie 
diefes alfo Hängen zu laffen. Und deine gefunden Gliedmaßen 
haft du gleichfalls nach Haufe mitgebracht, und freien follft du 
das properfte Mädchen im Lande — Himmeldonner, Kamerad, 
fege mich an deinen Platz und fieh dir dann dag Gefichte an, was 
ich dann machen werde! Aber fo iſt's, das Gute auf Erden wird 
immer an die Unrechten weggeworfen; wenn nicht dann und 
warn fo ein Richtiger das Pläfier Hätte, fo einem unverdienten 
Glückspilz in feiner Fortun’ beisufpringen und mit Troft aufs 
gurichten, fo wär’ e8 gar nicht länger auszuhalten in der Welt. 
Das hätt’ kein lutherſcher und päpftlicher Pfaff beffer gefagt: 
alfo heraus damit, Bodenhagen, wo fehlt's Ihm? Wo kann der 
einarmige Invalid Jochen Brand aus Grund feinen Trofthebel 
anfegen?“ | 

Der melancholifche junge Müller fah nach der Mühle hin; 
dann von neuem auf den Weg nach Groß-Förfte, und dann faßte 
er den Kriegsfameraden am heilen linfen Arm und fragte leife: 


447 


„Steht Er's mir wirklich auch nicht mehr an, daß fie mich hier 
rundherum auf drei Meilen Weges den follen Bodenhagen 
nannten, Korporal?” 

„Re!“ ſprach der Korporal, ohne fih nur den fürzeften Augen; 
blif auf die Antwort zu befinnen. 

„Dann will ich Ihm fagen, was ſchuld daran iſt; das Waffer 
da — da8 Schlechte ſchlimme Waffer ift fchuld daran! Die Innerfte 
iſt's! Kennt Er die Innerſte, Korporal Brand?“ 

Der Korporal machte feinen Arm fo facht als möglich von 
dem Griffe feines Kameraden 108. 

„Ob ich die Innerſte fenne?“ fragte er in der feften Über; 
zeugung, daß fein voreinftiger Zeltgenoffe zu allem übrigen auch 
verrüdt geworden fei. 

„Die Innerſte! das böfe Waffer! die ſchlimme Innerſte!“ 

„Kotz Blitz!“ fchrie der andere. „Musketiere Bodenhagen, 
treibe Er nicht Seinen Spaß mit Seinem Korporal! Wenn au 
der Stod mit dem rechten Arm bei Minden liegt, fo Hab’ ich mich 
doch allmählich auf den linken einererziert, und ich weiß von 
Seinem Herrn Vater, daß ein fpanifch Rohe immer noch feine 
Wirkung auf Ihn tut. Was meint Er zu einem Knittel hier aus 
dem Zaune? Rede Er Vernunft, oder ich wede Seinen Herrn 
Vater, und auf ein Wort mit der Jungfer Braut ſoll's mir au 
nicht ankommen.” 

„Nimm du endlich Vernunft an, Jochen,“ fagte Albrecht 
Bodenhagen, „Du haft jet dein Vergnügen an mir lange genug 
gehabt und kannſt recht gut, ohne dir was zu vergeben, das Maul 
halten. Daß du mein Korporal geweſen bift, das ift richtig; daß 
du mich nicht ſchlimmer traftiert haft als die anderen Kerle, mag 
auch feine Nichtigkeit Haben —” 

„Mag auch feine Nichtigkeit Haben? Burfch, wie einen Prinzen 
hat man dich unter der Fuchtel gehalten. Der alte Frig zu 
Küſtrin hat's nicht viel beffer gehabt! Hab’ ich dich nicht auf dem 
Budel getragen wie eine Mutter ihre Kind?“ 


448 


 ı 


„Das weiß der Tiebe Himmel!” ächzte der junge Müller. 
„Uber e8 mag fein, wie’s will, ald du mir heut morgen in die 
Stube rüdteft, ift e8 mir wahrhaftig nur ein freudiger Schreden 
gewefen, und ich habe gedacht, da ift Doch zuletzt doch einmal 
wieder eine Seele, mit der du das Deinige reden kannft, Boden; 
hagen. Berfchoffen ift die blaue Montur zwar, aber dein Kamerad 
war er doch! will Er mich nun reden laffen oder nicht, Korporal 
Brand?“ 

Der Korporal Brand legte feinen gefunden Arm dem nieder⸗ 
geſchlagenen Müller um den Nacken. 

„Bruderherz, rede frei hin. Von einem Narren kann man 
eben nicht verlangen, daß er Spaß verftehe, und fo iſt's auch von 
dir nicht zu pretendieren. Sonft aber weißt du wohl noch, daß 
in unferem ganzen hochlöblichen Regiment nur der Oberft ein 
Schnupptuch in der Tafche führte; das ganze übrige Korps, 
DOffisiere, Unteroffigiere, Trommler, Pfeifer und Gemeine 
ſchnaubten fih nach Adams Art: alfo daß ich ein Tafchentuch 
der Rührung wegen an die Augen bringe, fannft du beim Satan 
nicht verlangen. Jetzo mach ein Ende und deinem Herzen Luft! 
wo ſteckts? wo quält dich dein jung Leben? was bat dir die 
Innerfte, das Waffer, das deines Vaters Rad fo nahrhaft freibt, 
zuleide getan?” 

„Ehe ich zu euch zum Regiment kam, Yochen,“ flüfterte der 
Müller, „war ich droben bei euch im Harz. Ich hatte dem Alten 
wohl mein Vivat Fridericus über den Bach zugefchrieen; aber 
Ernft iſt's mir nicht damit gewefen. In die Iuftige weite Welt 
wollt’ ich, und fo bin ich Hinaufgefommen bis Wildemann, Korz 
poral. Kennſt du die Buſchmühle zwifchen Wildemann und 
Lautenthal, Jochen Brand?“ 

Der Einarm trat einen Schritt zurück und fat einen langen, 
verftändnisvollen Pfiff, 

„Hui — die Radebreders Mühle! Da alfo liegen die Kroaten 
im Busch? Alle Hagel und Wetter, Musketier Bodenhagen, da 


449 


möchte ich wirklich zurüdfragen, ob Er denn ganz und gar Ber 
fcheid in der Buſchmühle weiß?“ 

Der Müller nidte, über die Schulter fehen nach) feines Vaters 
Haufe blidend, und der Korporal fuhr fort: | 

„Das Waller, das vom Stein auf das Rad fpringt, drehte e8 
fchon felten genug, als ich da aus; und einging. Sie haben andere 
Dinge zu fchaffen, als fih um ihre Mühlenwerf zu kümmern. 
Seit ſechs Jahren ftehe ich im Felde; aber vor ſechs Jahren fpufte 
und ftanf es dort bedenklih, und Doris Radebreder war ein 
fechzehnjährig Ding. Die Werber holten mich aus dem Forft 
am Hübichenftein und legten mir ftatt der Jägerbüchſe des Königs 
in Preußen Kommißflinte auf, fie hätten mich vielleicht noch 
bequemlicher in der Bufchmühle gefunden.” 

„Mich faßte dort des Dberften Colignon Werbeoffizier vor 
deitthalb Jahren, und damals war die Innerſte, die Doris 
wollt’ ich fagen, fo zwifchen Neunzehn und Zwanzig.” 

„Wem möchte ich nun am Tiebften die Knochen zerfchlagen, 
dir oder ihr?“ murmelte der Invalide; dann aber lachte er von 
neuem, wenngleich ein wenig grimmig, und rief, feinen leeren 
Armel fchüttelnd: | 

„Nur weiter, du Armſündergeſichte!“ 


„Als ich von hier, vom Haufe, fortlief und dem Alten zufchrie, 
daß ich in den Krieg ziehe, da meinte ich für ganz gewiß, Daß ich 
ihm was vorlöge. Aber gelogen Hab’ ich zuletzt doch nicht, wie 
Ihm bekannt ift, Korporal; unter dem Stode des Alten weg bin 
ih unter den Seinigen geraten, Korporal Brand; aber in der 
Bufhmühle bin ich befannt, und wie ich in den Krieg gefommen 
bin, davon weiß Doris Radebreder in aller Welt. am beften 
auszuſagen.“ 

„Und da mein Marſch dort vorbeigeht nach Grund, ſo will ich 
vorſprechen und mich des weitern erkundigen, Meiſter Albrecht,“ 
ſprach der einarmige Invalide mürriſch. „Sonſt aber gebe ich 


450 


Ihm recht: wer die Doris aus der Sägemühle zwiſchen Lauten; 
thal und Wildemann fennen gelernt hat, der weiß fein übrig 
Leben davon zu erzählen, wenn er nicht lieber den Mund Hält zu 
feinem eigenen Beften.“ 

„Laß fie nicht wiffen, daß ich wieder zu Haufe fige!” flüfterte 
Albrecht Bodenhagen angfthaft. „Bei unferer Kameradfhaft in 
Not und Tod, Jochen, wenn du da vorfprechen mußt — und ich 
weiß e8 ja, daß du jeßo e8 nicht laffen Fannft, und wenn der Strid 
drauf ftünde — rede nicht von mir. Da kommt die Berwandtfchaft 
aus Groß-Förfte; ich bin verfprochen worden mit dem Lieschen 
von Papenbergs Hofe, und zu Oftern ift die Hochzeit. Sag ber 
Innerſte, der Doris, ich läge bei Bergen vor der Stadt Frankfurt 
mit den anderen — fehshundert in einer Grube! Sag ihr, ich 
fei defertiert, und du habeft mich zu Hameln auf Fort George 
Spießruten laufen fehen — fag ihr, ich fei verendet mit einer 
zerbiffenen Bleikugel zwifchen den Zähnen unter den Hafeleuten. 
Sag ihr, dur habeſt felber mit zugehauen am Wefertor, hinter dem 
Hamelnſchen Wall —“ 

„Lüg ihr ins Blaue und Rote hinein, bis du ſchwarz wirft; — 
o Kamerad, wenn ich dich jet anfehe und mir denfe, daß fie dich 
bier den wilden Bodenhagen nannten, fo kommt mir, der Innerfte 
zum Teoß, ein Lachen an. Jetzo weiß ich aber doch, weshalb e8 bei 
jeglicher Affäre meine Pflicht gegen den König von Preußen war, 
dich im Feuer ſtets mit dem Flintenkolben zum Gradeftehen zu 
animieren! Hm, die Innerſte! fie fagen, daß die Innerfte dann 
und wann fehreie und dann jedesmal ein Lebendiges für ihren 
Hunger verlange. Da kommt richtig die Vetter⸗Michelſchaft von 
Groß-Förfte an, und jeßo will ich Seinen jegigen Schag mit 
meinen Augen fehen, Musketier Bodenhagen, und Ihm dann 
meine legte Meinung gemwißlich nicht vorenthalten. Verlag Er 
fih darauf; ehe ich hier aus meinem Quartier abmarfchiere, 
werde ich Ihm meine Meinung fagen, grad als ob ich fie Ihm in 
einem Teftamente vermache. Wer aber hätte e8 denken können, 


451 


daß beim erften Ausrüden aus dem Spital die liebe Doris — 
Doris Radebreder wieder die erfte fein würde, mir das Lachen 
zu vertreiben und von vornherein den Spaß am ewigen Urlaub 
zu verderben. Wie wird fie lachen, wenn fie mich anmarfchieren 
fieht mit dem einen Fittich! Mordieu, wenn man nicht feine 
eigene Vetternfchaft in Grund fißen hätte, fo wär's freilich beffer, 
ungehohnedt bei Bergen oder hinterm Hamelnfhen Wall feine 
fünf Fuß tief unterm Erdboden zu liegen.“ 

In diefem Moment hörte man jenfeits der Innerſte zwiſchen 
den kahlen Erlen und Weiden im Gebüfch ein hell und Iuftig 
Mädchenlahen. Die Verwandtfchaft fuchte fedate ihren Weg 
über den Mühlenfteg; doch die junge hübfche Braut, dag Lieschen 
Papenberg von Papenbergs Hofe, ftand mit einem Male auf 
jenem Weidenftamme, auf dem im vorigen Sommer der heim; 
fehrende verlorene Sohn faß, als wir ihn zum erften Male zu 
Geficht befamen. Sie fand lachend und hell unter dem grauen 
Himmel vor dem ſchmutzig fehleihenden Waffer und winkte: 

„Bir find da! wir find da, Mbrecht! Hol über, hol über!“ 

„Eine faubere Jungfer, um die man fohon einen Sprung in 
das Waffer tun kann, Musketiere Bodenhagen,“ fagte der Kor⸗ 
poral, höflich den Hut vor der lachenden Braut ziehend. Es war 
wahrlich ein bildfauberes Mädchen, und e8 ftand gierlich in feinem 
Sonntagsftaat, und e8 war, als ob ein fröhlicher Schein von ihm 
ausgehe in der grauen Umgebung an dem trüben Februartage; 
die Innerſte aber fpiegelte nicht das hübſche, zierliche Bildnis 
wieder, fie kroch fchlammig und heimtüdifch hin, mürbe, ſchmutzige 
ſchwarze Eisftüde treibend. Und plöglich regte fich der Stamm, 
auf welchem die junge Braut fand, Fort und fort hatte die 
Annerfte unter ihm genagt, und er fank tiefer gegen ihren Spiegel, 
und fie verfchlang ihn jet, daß nur der allerlegte Wurzelſtumpf 
noch vorragte. Mit einem Schredengfchrei fprang das Mädchen 
von diefem hinab und auf feften Boden; auch die beiden 
Männer am Zaun hatten einen Angſtruf ausgeftoßen und eilten 


452 


raſch durch den Garten nach dem Mühlenftege, der kommenden 
Freundſchaft entgegen. 

„Da hätteft du mich beinahe aus der Innerſte auffifchen 
müffen! Weshalb Holteft du mich auch nicht herüber, Albrecht?“ 
tief die junge Braut ſchmollend. 

„Die Innerſte ift eine Kanaille, JZungfer Papenberg!” fagte 
der Korporal Brand, und der junge Müller fagte: 

„Diefes hier ift mein allerbefter Freund in der ganzen Armee 
des Prinzen Ferdinand, Vater Papenberg. Er heißt Jochen 
Brand und ift aus der Bergftadt Grund im Harz. Den Weiden, 
ſtrunk Hol’ ich morgen mit dem Früheften aufs Trockene, Lieschen. 
Er foll nicht wieder einen Menfchen in die Verfuchung führen. 
Aber jett kommt alle nur herein, wir wollen ung einen pläfier; 
lihen Tag machen.“ 

Sie machten fih in der Tat einen guten Tag; feit langen 
Fahren hatte die alte Mühle nicht einen gleichen erlebt. Selbft 
der Meifter Chriftian legte ein Feiertagsgefiht an, wie e8 die 
Mutter Bodenhagen feit ihres Sohnes Geburt nicht an dem Ehe; 
herrn gefehen hatte. 

Der Vater Papenberg, feiner Natur nach ein vierfchrötiger 
geober Bauersmann und fozufagen acht Tage in der Woche ein 
Slegel, hatte fo fein und zutunlich wie heute auch feit langem 
nicht den Dualm aus feiner Tonpfeife der Stuben; und Tifch- 
genoſſenſchaft ing Geficht geblafen. Es war ein jeglicher auf 
feinem Schi, und weder unter den Vettern noch unter den Bafen 
sing das Wort aus, wenn auch der Wis dann und wann nicht 
allzu Hell durch die Unterhaltung glänzte. 

Und man hatte im Jahre 1760 allerhand Stoff, um darüber 
zu diskurrieren; der alte Friß und fämtliche Völferfchaften 
Europas forgten dafür. 

Hier war denn der einarmige Invalide von Minden, der Kor; 
portal Jochen Brand, an feiner Stelle. Sie hörten ihm mit Er; 
ftaunen zu, und was er fagte, war auch meiftens höchft erftaunlich. 


453 


Da war fein Kriegsrat, in welchem er nicht mitgefeffen zu haben 
fhien. Wenn man ihn hörte, fo verwunderte man fi) nur, daß 
er heute hier in der Mühle an der Innerſte am Tiſche fige und 
nicht in einer der beiden großen Staatsmühlen zu Berlin oder 
Wien am Trichter oder Beutelfaften; und daß ihn der franzöſiſche 
König und feine Hauptſtaatsdame, die Madame Pompadour, 
nicht auch ſchon längſt nach Verfailles geholt hatten, das war 
gleicherweife unbegreiflich. 

Im Winkel hinter dem Dfen faß aber Albrecht mit dem Lies; 
chen. Sie ſprachen am mwenigften, und ob fie alles, was die 
anderen fagten, vernahmen, das tft auch die Frage. Die Manns; 
leute tauchten allefamt, und fo verſchwand, als nun gar noch die 
Dämmerung dazu Fam, das Brautpaar in feinem Winkel faft 
vollftändig aus dem Gefichte der Verwandtſchaft. 

MWeidlih aß und trank die Verwandtfhaft, und der Meifter 
Chriſtian ging ftets felber in den Keller nach dem Bier, Als aber 
die Blechlampe angezündet auf den Tifch geftellt wurde, da half 
e8 wenig, daß man den Docht mit dem an dem Kettchen hängen⸗ 
den Drahthaken ſoweit als möglich hervorzog; fie gab wohl auch 
ihe Teil Dualm zu dem vorhandenen Tabatsdampf her, aber die 
Helligkeit, die fie heruorbrachte, wollte wenig bedeuten. Doch 
aber hatte das rote Pünktchen in dem Nebel eine andere Wirkung: 
das Gefpräch kam von Krieg und Kriegsnot auf das, was der; 
gleichen blutig und brandig Elend vordeutet, ald wie Kometen, 
Feuerkugeln, feurige Neiter und Wagen im Gewölk, greuliche 
Veränderungen an Sonne und Mond, wie jeder davon zu fagen 
wußte und folhes erlebt hatte, fowohl vor dem Ausbruch des 
jeßigen Krieges, wie vor dem Angang des erften und des zweiten 
Schlefifhen. Wußte doch fogar ein Altvater noch von Wundern 
zu erzählen, die fich zur Zeit des vorigen franzöfifchen Königs im 
fpanifhen Sukzeſſionskriege und vor der Schlacht bei Belgrad 
ereignet hatten. 

Davon war ber Sprung Hein auf das, was ein jeglicher für 


454 


fein eigen Leben und Wefen an folhen Dingen ald Mahnung und 
Warnung und Borfage gefehen und gehört hatte, und der Vetter 
Hans aus Harfum meinte: 

„Da hat der Gevatter Bodenhagen wohl auch hier lange 
genug auf diefer Mühle gefeffen, um davon nachfagen zu 
können.“ 

Ein Murmeln ging um den Tiſch, und dann wurde es ſtill; 
es war, als horche jeder nach den dunklen Fenftern, und es 
war auch, als rauſche die Innerſte lauter als fonft durch die 
Nacht, 

Die Mienen des alten Müllers hatten fich mit einem Male 
wieder verfinftert. 

„Wenn e8 Ihm recht ift, Gevatter,“ fagte er, „fo laffe Er das 
auf fich beruhen. Ich bin im Frieden mit meinem Mühlwaffer und 
will darin bleiben. Wir find manches Jahr gut miteinander 
ausgefommen, die Innerſte und ich, und e8 verdrießt mich, wenn 
einer feine Zunge dazwiſchen ſtecken will.“ 

„Run, nun, Gevatter Bodenhagen,” fagte ein amderer, 
„manchen Poffen hat fie dir doch gefpielt im Laufe der Zeiten, 
und wir mit unferen Wiefen und Adern find auch nicht leer 
ausgegangen. Schreien hab’ ich fie freilich nicht Hören, und unter 
den hannoverfhen Herrfchaften, die im Sommer zu ung am 
Sonntage aufd Dorf gefahren fommen, ift auch mal einer, ein 
Hofrat und graufam gelehrter Profeffor aus Göttingen, gemefen, 
der hat gefagt, dag fei eitel dumm Zeug, denn —“ 

Ein Fauftfhlag des alten Müllers auf den Tiſch und ein 
zorniger Blick auf den Redner fehloffen dem legteren den Mund. 

„Wer die Innerfte nicht hat fohreien hören, der foll Gott 
danken I“ fprach der Meifter Bodenhagen. „Und jet iſt's zu Ende 
mit dem Geſchwätz darüber,” fügte er hinzu. 

Es war aber noch nicht zu Ende; dafür war der Korporal 
Jochen Brand als vielerfahrener Gaft in der Mühle an diefem 
Abend vorhanden. 


455 


„Wir hatten einmal einen Schwaben im Bataillon, der hat 
fich Hoch verſchworen, daß man jeden Duell, Brunnen oder Bach 
tot machen fünne, daß er nie wieder aus der Tiefe herauf; 
fomme. Man müffe einen kupfernen Keffel auf den Grund der 
Duelle eingraben, fagte er, und Duedfilber hinein in den Born 
fchütten, davon vergehe das Waffer; in feiner Heimat habe vor 
alten Zeiten ein reicher Graf fo einmal einen großen Fluß zum 
Abſterben gebracht, weil fein Töchterlein hineingefallen und vers 
trunfen fei. Wem alfo die Innerſte nicht gefällt, der mag morgen 
mit mir an ihr hinauffteigen bis zu ihrem Urfprung im Harz 
und das Mittel probieren, Dem Müller hier wär’ freilich troß 
allem wenig damit gedient, wenn ihm plöglich das Waffer: Emp⸗ 
fehle mich! fagte. Du da in der Ede, Kamerad, da müßte dich 
doch die Jungfer Lieschen reineweg ans Spinnrad fegen, wenn 
die fo zwifchen heut und morgen das Mühlrad ftehen bliebe, 
Nicht wahr, Jungfer im Winkel, da foll die Innerfte doch Tieber 
fohreien, fo viel fie will?“ 

Es kam ein Kichern aus der dunklen warmen Ede hinter dem 
Dfen. 

„D ia!” rief Lieschen Papenberg; doch ein verdroffener Laut 
Hang dazwifchen, und der junge Müller fagte mürriſch: 

„Sch meine, was mein Vater meint, Jochen Brand, von 
wegen des Waſſers. Laß es laufen, wie e8 will! Hier den Krug 
bring’ ich dir, Jochen; tu Befcheid und fag ung einen feinen 
Spruch dazu. 

„Das ift das Richtige !” rief die Verwandtſchaft und um den 
Tisch, und der Korporal ließ fich nicht lange nötigen. Er erhob 
fich, legte feinen Teeren Armel auf der Bruft zurecht und hob den 
Steinfrug mit der weißen Tulipane auf blauem Grunde in der 
heilen Linken. 

„Ss tw’ ich denn diefen Spruch mit Verlaub und Gunft der 
ganzen anweſenden hochlöblichen Kumpanei: 


456 


Bivat, der König Frige foll leben 

Und die Jungfer Liefe auch darneben; 
Und flöff’ die Innerſte voll rotem Wein, 
Sollt“ fie nach mir nicht lange fohrein. 
Was aber ein gut Waſſer ift, 

Sich immerdar bergab ergießt, 

Und big diefer Bach urüde wird gehn, 
Soll immer hier das Rad ſich drehn. 
Nun höret mich an, ihre lieben Leute, 
Prinz Ferdinand foll leben heute; 

Und wird die Braut erft Frau genannt, 
Rückt ein zur Taufe Jochen Brand!“ 


Er war noch nicht fertig; denn wenn er einmal fo angefangen 
hatte, fonnte er felten ein kurzes Ende finden; diesmal aber kam 
er nicht weiter. 

Der alte Müller, der mit aufgeftemmten Armen, das Kinn 
in der Hand, behaglich nidend zugehorcht hatte, fuhr mit einem 
Male zufammen, hielt ſich mit beiden Händen am Tifche und 
fat einen Ruck an demfelben, daß die Krüge und Gläfer auf ihm 
erflirrten und übereinander fielen. Er ftand auf den Füßen, 
aber nicht feft; er horchte. Die Weiber rundum freifchten auf, und 
die alte Müllerin faßte zitternd den Arm ihres Mannes: 

„Jeſus Chriftus, Bodenhagen?!“ 

„Still!“ flüfterte der Greis abwehrend, und nach einer Paufe, 
während welcher man nichts hörte als das Piden der Uhr, das 
leife Schnaufen des am Dfen fohlafenden Hundes und das 
Rauſchen des Mühlwaffers draußen, fagte er feierlich mit einem 
gewiffen ängftlihen Grimm in der Stimme: 

„Wer will nun noch dagegen reden? Wollt Ihr Euch nun 
auf Eure eigenen Ohren verlaffen, Gevatter Schulze, oder im 
fommenden Sommer wieder auf Euren Göttingenfchen Hofrat? 
Mer hat e8 eben nicht gehört?!” 


457 


Sechstes Kapitel. 


un hätten wohl auch wir in diefem Moment gern den ge; 
lehrten Profeffor aus Göttingen hier in der Stube des 

Müllers an der Innerfte gehabt. Wir malen ihn ung wenigfteng 
hinein und fehen ihn leibhaftig vor ung in dem Koflüm von 
Anno 1760, ſchwarz, mit wohlgeordneter Perüde, tadellofem 
Kragen und wohlgefälteter Hemdkrauſe, den Hut und Stod 
unterm Arm, die zierlich geöffnete Dofe in der Linken und zwi⸗ 
fchen dem Daumen und Zeigefinger der Rechten die zierliche Prife. 
Er ift furfürftlich hannoverſcher Untertan, aber er Hält die Illu⸗ 
fion feft, zugleich königlich großbritannifcher zu fein; — er tut 
fich nicht wenig auf die leßtere, etwas zweifelhafte Eigenschaft 
zugute, zumal da er vielleicht wirklich einmal in London war und 
den großen Mimen David Garrif auf den Brettern von Drury 
Lane „tragieren” fah. Wie dem auch fei, er nimmt feinen Tabat 
mit mehr Grazie als der große Doktor Samuel Johnſon, blickt, 
die Achſeln emporziehend, um fich her und murmelt: 

„om, hm w 

Sp ziemlich das Nämliche tun wir; — auch wir fagen Hm, 
hm, hm! und fehen im Kreife umher. — Der Göttingenfhe Hof; 
rat ift nicht ganz in der Verehrung des großen beitifchen Doktors 
Johnſon aufgegangen; der Voltaireaner Fritz figt in Berlin 
(freilich reitet er um diefe Jahre mehr in Schlefien und Sachfen 
bin und her), und der deutfche Profeffor glaubt felbft als königlich 
geoßbritannifcher Untertan nicht an den Geift in CodsLane: er 
glaubt überhaupt nicht an Gefpenfter, und das tft ein Vorzug, 
auf den er gottlob kaum ftolz fein darf als Profeffor von Götz 
fingen, 


458 


Hm, hm; wer in der Müllerftube hatte den Bach fehreien 
hören? — Niemand natürlich, das heißt niemand als der Müller 
felber! Es trat aber augenblidlich da8 ein, was gewöhnlich folgt, 
wenn irgend jemand in einer größeren Gefellfhaft etwas Unge; 
wöhnliches oder gar Geheimnisvolles gehört zu haben glaubt. 

„Alle gute Geifter —“ ftöhnte die Müllerin, „jetzt Habt ihr’s 
doch alle vernommen und könnt big zu eurem Ende davon nach⸗ 
fagen !“ 

Und fie nidten faft alle, und die Weiber drängten fich zu 
Hauf und flüfterten zitternd. Die Männer warfen noch ver; 
ftohlenere, fcheuere Blicke nach den niedrigen ſchwarzen Fenftern, 
und wieder wurde e8 manfeftill in der Stube. 

Sie warteten in Todesangft und doch voll eines geheimen 
Verlangens, daß der Ton noch einmal fommen, daß die Innerſte 
zum zweiten Male fohreien werde. Sie warteten jedoch vergeblich; 
man vernahm zu dem gewöhnlichen Raufchen des Waflers nur 
einen gurgelnden Laut aus der dickſten Mitte des Tabaksqualms. 
Diefer Laut rührte von dem Korporal Jochen Brand her, der 
abermals den Anhalt feines Kruges die Kehle hinunterlaufen 
ließ; und der Korporal war’ auch, der zuerft wieder der Kom; 
pagnie ein lautes Wort zu hören gab. 

„Ih für mein Teil Habe nichts gehört!” ſprach er ganz 
gemütlich, „Alle Wetter, und fie haben doch mein feines Ohr 
manch liebes Mal auf Vorpoften gelobt!” Damit feste er den 
geleerten Krug mit einem Klapp auf den Tifch nieder. „Nicht 
wahr, Musfetier Bodenhagen?” fügte er hinzu. 

Hinter dem Dfen hervor fam eine befangene Stimme: 

„Sei ruhig, Lieschen — e8 war nichts! Ich — ich glaube auch 
nicht dran!“ 

Der Meifter Chriftian nahm die Tonpfeife, die er vor fich 
hingelegt hatte, wieder auf, jedoch nur, um fie in zwei Stüde zu 
brechen und unter den Tifch zu werfen. 

„Junge?!“ rief er. „Was will der Zunge? Was fagt der 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 30d 
459 


unge da? — Will der Junge, der Landläufer, auch einmal 
wieder reden, ohne gefragt zu fein?” 

„sa, Herr Vater,” kam die Antwort ein wenig zögernd, aber 
doch mürriich genug aus dem Winkel zurück. „Und wenn die 
Innerſte wirklich fehreit, fo fehreit fie nicht bloß nach Ihm, Herr 
Vater, fondern auch nach mir; alfo darf ich Diesmal doch reden, 
ohne von dem Herrn Vater gefragt worden zu fein.” 

. Der Alte ächzte in maßlofer Verwunderung und fland auf 
von feinem Stuhl. 

„Shriftian? !” rief die Mutter flehend; doch der Vater Boden; 
hagen ſchob fie wieder einmal von fich und ſtreckte drohend die 
Fauft nah dem Dfen hin. Es war die höchfte Zeit, daß fich 
jemand ins Mittel fchlage und, was noch an Behagen und fried; 
lihem Einvernehmen zu retten war, in Sicherheit bringe. Auch) 
hierzu war der Korporal Brand gut und auf der Stelle bereit. 

„Und feße ich den Fall, daß da draußen nicht alles in Ord⸗ 
nung fei oder einer fich einen Spaß mit diefem löblichen Konz 
vivium und guter VBetternfchaft und Freundfchaft gemacht habe,” 
rief er, „Saframent, fo foll mich der Teufel holen, wenn ich nicht 
dem Dinge auf den Naden fpringe und dem Schreier verdemon; 
ftriere, wie naß die Innerſte ift! Bajonett auf, marſch, Muske⸗ 
tier Bodenhagen! Komm mit hinaus in die frifche Luft, Albrecht, 
wir fangen den Spuf mit oder ohne Fiſchſchwanz. Hier in der 
Stube foll er uns was vorfingen, und der Herr Meifter foll ihm 
die Noten halten !” 

Er fprang hinaus, und ihm nach fprang der junge Müller, 
dem Jungfer Lieschen Papenberg vergeblich einen Häglichen Bitt; 
ruf nachſchickte. Die übrigen blieben alle ſitzen und legten fih von 
neuem aufs Horchen. Die Braut drüdte fih an ihre Mutter, der 
Bater Papenberg ſchüttelte den Kopf, der Meifter Chriftian ſenkte 
ben feinigen finfter auf die Bruft und fehlug die Arme ineinander. 
Nach zehn Minuten vergeblichen Harrens und Horchens ächzte 
bie alte Müllerin: 


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„Bater, sch frage es nicht länger! Das Herz will mir vor 
Angſt zerfpringen !” 

„Laß fie doch,“ murmelte der Greis, „Laß fie nur fuchen. In 
meiner Jungheit bin ich auch mal dem Rufen nachgegangen, 
meinem Vater zum Troß. Morgen früh — ja morgen früh foll 
jedem fein Recht werden; und jeßo, Freundfchaft, gudt auf und 
fümmert euch um nichts. Schenk frifch ein, Mutter, die Innerfte 
wird nicht mehr zum zweiten Male fchreien; fie foll morgen früh 
ihr Recht haben !” 

Die legten Worte hatte der Alte felber mit fehreiender Stimme 
gegen das Fenfter hin gerufen, und nun tat er felber einen haftigen, 
wilden Trunk. 

„Sud auf, Lieschen! Gevatterfhe Papenberg, bringe Sie 
das Kind wieder zu einem vergnügten Geficht. Kümmert euch 
nicht mehr um die Innerſte, Freundfchaft, ich kenne fie, und fie 
fennt mich, und fie hat nicht im Sinn, ung das Pläfier an diefem 
Abend zu verftören. Sie will nur ihr Recht haben, und das foll 
fie auch morgen mit dem Früheften kriegen.“ 

„Wenn ich nur meinen Jungen von draußen wieder drin 
hätte!” feufste die Mutter Bodenhagen; aber da fehnarrte der 
Alte wiederum höchſt verdrießlich: 

„Der Junge? Fa, der Junge! Freilich fagt man: was 
hängen foll, verfäuft nicht, und zu meinem Wunder ift der Junge 
ungehangen von dem Volk nach Haufe gefommen. Ach was, 
Gevatter Papenberg, trinke Er aus und laffe Er nur das Kopf; 
fohütteln. Friſch weiter mit dem Pläfier !“ 

Das „Pläſier“ war jedoch, was der Müller an der Innerfte 
auch fagen mochte, verdorben und blieb fo, und die Fröhlichfeit 
des Abends kam nicht wieder in Gang. Dagegen aber famen von 
neuem die feltfamen Hiftorien in die Höhe, und ein jeglicher 
wußte abermals das Seinige zu fagen voh der Leine, der Ihme 
und der Innerfte und felten etwas Gutes. 

Die beiden Kriegsfameraden blieben eine ziemliche Zeit aus; 


” 461 


aber nicht einmal den wachfamen Hund Laudon, der mit ihnen 
auf die Suche und Jagd gefprungen, hörte man anfchlagen, als 
ob er auf etwas Sonderbares geftoßen fei. Am beften wird's 
fein, wir gehen ihnen jeßo nach; denn wenn fie in der naßkalten 
Dunfelheit des Abends auch nichts Merkfwürdiges fanden, fo 
haben fie doch allerhand Kuriofes miteinander geredet; die 
Sungfern, denen wir erzählen, hören gern von dergleichen, 
zumal, wenn e8 fie allefamt fo genau angeht, wie in diefem Fall. 
Es klingt nämlich durch die Nacht, das Rauſchen des Mühl; 
waffers und Wehen des Windes wie ein kurz abgeriffenes Stüd 
aus dem alten, alten Liede von der Treue, 

Sie ftanden beide ftill, nämlich die zwei einftigen Waffen; 
brüder vor der Tür der Mühle, und ein jeder tat einen langen 
Atemzug in der feuchten Kühle diefes Februarabends. 

„Puh,“ meinte der Korporal, „da merft man erft, aus was 
für einem Badofen man fommt, und was für einen Dunft die 
gute Freundfhaft im Zufammenhoden präftieren kann. Eine 
Taternhöhle ift ja gar nichts dagegen! — Nun, Albrecht, fted 
die Laterne an, ohne eine Laterne fommen wir dem Spuf nicht 
auf die Sprünge! Sieh, der Sadville ift ja auch vorhanden, 
den fünnen wir item gut gebrauchen. Such, fuch und bring, 
Mylord!” 

Der Hund tat ein paar Sprünge um feinen jungen Herrn 
herum, doch mit dem Suchen gab er fich weiter feine Mühe, 

„Du haft nichts vernommen, Jochen?“ fragte der Hausſohn. 

Der Korporal fing an, einen Eöniglich preußifchen Kriegs; 
marſch zu pfeifen, brach nach dem erften Gefäß ab und erwiderte: 

„Dich möcht’ ich Tieber als alles andere beim Laternenfchein 
befehen, Bodenhagen — Musfetier Bodenhagen! Die Innerfte 
hat wohl nicht gefehrieen, wie der Alte vermeinte; aber die Doris 
da oben an der Innerſte könnte wohl gelacht Haben. Was meinft 
du, Albrecht?” 

Der junge Müller lachte jedenfalls, doch e8 Hang rauh, und 


462 





die Dunfelheit verhinderte den Korporal, zu fehen, wie fein 
Kamerad zu dem Lachen die Hand ballte, Die Fauft öffnete 
fih aber wieder, und Jochen Brand fühlte die Hand feines 
Freundes an feinem gefunden Arme. Der Müller zog ihn weiter 
von dem Haufe weg um das Haus herum, über den Hof, durch 
den Garten. 

„Wer hat Ihm das gefagt; oder hat & e8 aus fich felber 
gefagt? Das mit dem Lachen? Kochen, es ift fo; als der Vater 
fein Wort gerufen hatte und das Frauenzimmer in feinem 
Schrecken winfelte, Habe ich ein Lachen gehört. So wahr mir Gott 
helfe, e8 hat jemand in der Finfternis vor dem Fenfter gelacht, 
und dabei war ein Knirſchen — da — fo — hörft du? — gerade 
fo u 

Diesmal knirſchte nichts als zwei der Eisfehollen, die fich auf 
dem dunklen, ſchläfrig Dahinfriechenden Spiegel der Innerfte an 
einander trieben, und der Korporal fpudte deshalb erft verächtlich 
in den Bach hinein, dann aber fprach er ernfihaft genug: 

„Musketier Bodenhagen, ich habe vieles erlebt in der Welt, 
und was am grimmigften ausfah, dag wurde manchmal zum 
größten Spaß. Sch bin mit dem König, volle Feldmufif und 
fliegende Fahnen vorauf, dem Feldmarfhall Daun unter der 
Nafe vorbeimarfchiert, und er fah fehauderhaft genug herunter 
von feinem Berge und hinter feinen Schanzen und Kanonen 
hervor. Ich weiß Befcheid in der Welt, Musketier, und zwifchen 
Morgen und Abend habe ich auch von Ihm genug gefehen und 
gehört, um zu willen, wie es mit Ihm ſteht. Will Er nun einen 
guten Rat annehmen?” 

„Wie von einem leiblichen Bruder!” rief der junge äller. 

„So geh nicht wieder zurüd in die Stube, Albrecht.“ 

„Ach, Jochen, rede deutlich!” 

„Bleib draußen! Geh nicht wieder in das Haug zur Freund; 
ſchaft zurüd, Ich habe drei Neichstaler in der Tafche, mehr bin 
ich in der ganzen weiten Welt nicht wert; aber du follft die Blech; 


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fappen haben und willfommen dazu fein. Da liegt der Mühlen, 
fteg über die Innerſte; — fpring, lauf und laß dich vor dem 
Füngften Gericht nicht wieder hier fehen. Diefes ift mein Nat, 
und meine Meinung dazu ift, daß du hier ohne Gnade und Barm⸗ 
herzigfeit kaput gehft. Der Alte ruiniert dich, die Freundfchaft 
ruiniert dich, und die Jungfer Papenberg ruiniert dich zu allerz 
meift. Du fpielft Hier ja doch den wilden Bodenhagen nicht länger, 
der gute Geruch verdampfte wie der Franzos bei Roßbach. 
Die Innerſte aber Holt dich bei guter Gelegenheit einmal wirklich, 
und die Freundfchaft und Verwandtfchaft wird dir feine Stange 
hinhalten, um dich aufs Trodene zu holen, Sie wird nur fagen, 
daß es ihr leid fei, wenn fie dich mit dem Hafen durchs Schilf 
zieht. Albrecht, Bruder Albrecht, du weißt es felber, daß wir 
folhe wie du zu Taufenden in der Armee haben, und, Bruder; 
herz, e8 ift doch vergnüglicher, bei Trommeln und Pfeifen, mit 
Kling und Klang in angenehmer Kameradfchaft eingefcharrt, 
als fo zu Haufe in Güte und Herzlichkeit vom Böſen geholt zu 
werden. Kerl, geh zum Fritz nach Sachen, wenn du den Prinzen 
Ferdinand fatt haft. Den Eolignon findeft du immer noch unter; 
wegs, und er zahlt auch ein immer beffer Handgeld, Das ift der 
eine Weg aus deinem Jammer; der andere aber geht hier am 
Bache hinauf, immer den Bergen zu. Schleich dich zurück nach 
der Bufchmühle, grüße Doris Nadebreder von mir und beftelle 
ihr, fie folle dir fchon um meinetwillen den Hals nicht umdrehen.” 

Mit fchluchzender Stimme wimmerte der wilde Bodenhagen: 

„Aber da drinnen in der Mühle in der Stube bei Vater 
und Mutter habe ich ja meinen Schak, meine junge Braut 
figen? I” 

„Jawohl, hinter dem warmen Dfen, und des Heren Vaters 
fpanifch Rohr hängt ihr über dem Kopfe am Nagel. Kamerad, 
ich fage dir, nimm dich in acht, daß dur die Innerfte nicht wirklich 
und wahrhaftig nach dir fehreien hörſt, wenn der Pfaff dir dag 
arme Ding erft niet und nagelfeft um den Hals gefchmiedet hat. 


464 


Nun, wie iſt's? nimmft du Vernunft an von deinem alten Zelt; 
bruder und Unteroffigier? Greif zu; — da haft du den Juden 
Ephraim und den Borufforum Rex dazu dreifach als Reifegeld. 
Als du zum erften Male durchgingeft, hat dir der Herr Water 
wahrlich nicht fo viel gutwillig mit auf den Weg gegeben.” 

Er hatte fein letztes Befistum an Flingender Münze aus der 
Taſche geholt und hielt e8 hin; der andere aber fchob die Hand mit 
dem Gelde mattherzig zurüd. 

„Die iſt dann nicht zu helfen,“ fagte der Korporal Brand mit 
einem Fluch. „Alſo fehe ich auch nicht ein, daß wir ung noch 
länger hier in der Kühle und Feuchte herumtreiben. Laß ung 
zurüd in die Stube! Element, nachher wundert fich Seine könig— 
liche Majeftät Frige noch, daß felber ihm manchmal eine Bataille 
ſchief abläuft. Kotz Blitz, e8 ift auch ein Wunder, daß er mit 
folhen Breiföpfen und Plattfüßen in Reihe und Glied fich doch 
noch fo anftändig durch zwei fehlefifche Kriege bis in diefen dritten 
hinein durchgefchlagen hat. Marfch zurüd unter den Dfen, Sad; 
ville! Und meinen leeren Ärmel trag’ ich auch noch nicht lange 
genug, um nicht die Nachtkühle an dem nicht swürdigen Stumpfe 
zu verfpüren !“ 

Er drehte fich kurz um und ging in das Haug zurüd. Strad 
und munter trat er in die heiße, dampfvolle Stube ein, und dicht 
auf den Haden fchlich ihm Albrecht nad). 

„Herr Meifter,“ rief der Einarm lachend, „bei der Finfternis 
da draußen fuche Ihm ein anderer Seine nächtlichen Spuk; 
mufifanten. Hier der Musketier Bodenhagen ift mein Zeuge, daß 
die Innerfte fo fanft dahinfließt, als hätte fie niemals ein Mühlen; 
rad gefrieben oder einem Müller die gute Laune verdorben. 
Und das muß ich auch fagen, das Gefpenfterhaftefte, was man 
heute abend zu fehen friegen kann, find die Käfegefichter, welche 
die Töblihe und angenehme Verternfchaft allhier durch den 
Nebel fchneidet. Hab’ ich recht, Jungfer Papenberg?“ 

Die Zungfer Papenberg antwortete dem luſtigen Invaliden 


465 


nicht, ihr war’ genug, daß fie den Bräutigam heil und ganz 
von der gefährlichen Erpedition wieder hinter den Dfen ziehen 
fonnte, 

Der alte Müller Bodenhagen fagte aber ruhig: 

„Sr hat fich eine vergebliche Mühe gemacht, Musjeh. Meine 
Schuld ift e8 nicht, Korporal Brand. Das Waffer fchreiet 
wohl, aber fehen läßt fich felten erwas, und das ift auch das 
Beſte.“ 

Die anweſende Geſellſchaft, die trotz allem vollauf genügenden 
Grauen und Gruſeln gehofft hatte, von den beiden mutigen 
Kriegsleuten noch etwas Grauligeres zu vernehmen, fühlte 
ſich getäuſcht, wenngleich niemand dieſes zu ſagen wagte. Es 
iſt ſtill geblieben, und die Freundſchaft von Groß-Förſte, die 
am Nachmittage auf dem Wieſenwege angekommen war, ſtieg 
nach einem bedrückten Abſchiede auf den Leiterwagen und fuhr 
wieder ab auf dem Fahrwege. Ebenſo die Vetternſchaft aus 
Harſum und aus Pattenſen. 

Als der junge Müller feine Braut auf den Wagen hob, 
erfchien fie ihm beim Lichte der Laternen merkwürdig bleich, 
und fie fchluchzte auch: 

„O Albrecht, ich werde toll, wenn ich erft ganz bei dir bin und 
einmal allein fiße und die Innerſte fchreit!” 

„Binde dir felber feine Dummpheiten auf und laß dir feine 
aufbinden!” Tachte der Bräutigam, doch Hang fein Lachen gar 
nicht luſtig. 

Was der Göttingenfhe Hofrat und Profeffor zu dem Rate 
des Korporals Jochen Brand gefagt haben würde, können wir 
leider nicht wiffen: feine Anficht Darüber wäre ung aber —* 
höchſt willlommen geweſen. 


466 





Siebentes Kapitel. 


F en Erſten nennen wir bei der Fahne den Weckauf, der geht 
auf Sein Wohl bergunter, Meiſter Müller, Den Zweiten 
nennen wir den Nebeldrüder; diefen bringe ich Ihr zu, Frau 
Meifterin, und verhoffe, daß Ihr Fein Nebel in diefem Jahre den 
Dampf antue, Den Dritten nennen wir den Lerchentriller, und 
den trinke ich zum Schluß auf dein Wohl, Musfetier Bodenhagen. 
Bon den Lerchen ift freilich gegenwärtig noch nicht wiel zu fehen 
und zu hören in der Luft — e8 fieht mir vielmehr nach einem 
‚ordentlichen. Schneefall aus. Aber einerlei, ein Soldat marfchiert 
mit gleihem Mut durch jedes Wetter; alfo habt allefamt Danf 
für eure kompläſante Aufnahme und fürs gute Duättier; und 
Ihm, Meifter Müller, wünfche ich noch ganz apart beifeite, daß 
Er recht behalte, und daß das, was Er da eben fo graufamlich 
vollführet hat, Ihn und fein Hauswefen vor allen Halunfen von 
Geiftern und Gefpenftern fehüge und nicht bloß vor denen, die in 
Seinem Mühlwaffer ihr heimtückiſch Weſen freiben.“ 
Alſo ſprach am anderen Morgen gegen neun Uhr der Korz 
poral Jochen Brand, und der Meifter Chriftian entgegnete ihm: 
„Seinen Wunfch will ich annehmen und gelten laffen, obgleich 
Er ihn wohl ein wenig feiner hätte vorbringen fünnen. Sonft 
aber hat Er mir ganz wohl gefallen, Korporal, und e8 freut 
mich, daß mein Junge unter Seinen Stod unterm Volk geraten 
if. Das Quartier war gern gegeben, und wenn Jhn Sein Weg 
ſchon nochmals hier vorbeiführen wird, fo erinnere Er fih, dag 
ein Teller für Ihn ohne Maulverziehen mit Satisfaktion auf 
den Tifch geftellt wird.” 


467 


„Das ift ein Wort, Herr Vater, und ich bin der Mann gu dem 
Teller, Meifter Müller, Aber nun adjes, Frau Mutter und 
Kamerad Albrecht! Bleibt gefund und munter. Beiläufig, eg 
ift Doch ein Gaudium, fo franf und frei auf jeder Landftraße 
marfchieren zu dürfen, ohne vor dem Colignon und feinen Leuten 
Bange zu haben. Da fieht man, wozu eine franzöfiiche Kanonen; 
fugel am richtigen Fleck nuße if. Bon jour!“ 

Sie ftanden während diefer Reden alle auf dem Mühlenftege, 
der über die Innerſte auf den Feld; und Wiefenweg nach Groß, 
Förfte führte, und der Meifter Chriftian Bodenhagen hielt im 
Arm die dickbäuchige Branntweinflafhe, aus welcher er dem 
muntern Gaft und braven Invaliden Seiner Majeftät in Preußen 
zum fröhlichen Abfehied den Wedauf, den Nebeldrüder und 
Lerchentriller eingefchenkt hatte. Aber auf diefem nämlichen Stege 
hatte er, der Alte, im Augenblid vorher ein anderes nach feinem 
Bornehmen ins Werk gerichtet, was auch des Erzählens wert ift. 

Wenn das Waffer, die Innerſte, gefchrieen hat, fo will fie 
ihren Willen haben, und wehe! wenn fie den nicht friegt. Ein 
lebendiges Landtier fordert fie für ihren gierigen Hunger, und 
am Tiebften ift ihr ein fchwarzes Huhn; weshalb, das weiß man 
nicht. Bekommt fie ihren Willen nicht in Zeit von vierundzwanzig 
Stunden, wird ihr das Huhn nicht mit gebundenen Füßen und 
Flügeln in den Rachen geworfen, fo hilft fie fich felber. Sie ver; 
fteht e8, fich felber zu helfen, und Holt fich einen Menfchen — 
ohne Gnade und Gegenwehr einen Menfchen! — und zwar noch 
in dem nämlichen Jahre, Manchmal wartet fie heimtücifch 608; 
haft bis in die letzte Stunde; aber fie erhafcht ihre Opfer, und 
follte e8 auch erft in der letzten Minute des letzten Degembertages 
gefchehen. 

Diesmal jedenfalls hatte fie ihren Willen gehabt; der alte 
Müller an der Innerſte, Meifter Chriftian Bodenhagen, hatte 
die ganze Nacht hindurch ein zu feinem Unglüd ſchwarzgefiedert 
Huhn, das ruhig und ahnungslos auf feinem Balken fehlief, nicht 


468 


aus feinen Gedanfen und Träumen gelaffen, und nun — hatte 
e8 die Innerſte bereits wie der Eolignon den Rekruten, auf 
welchen er’8 abgefehen hatte. Die Zufchauer hatten mit geheimen 
Schauder dag elende Tier in der Mühlrinne zappeln gefehen und 
freifchen gehört — die Innerſte hatte ihre Beute verfchlungen, 
und felbft der Korporal Brand hatte e8 nicht gewagt, den Meifter 
Chriftian auszulachen. Der Korporal hatte fogar dem jungen 
Müller leife den Ellbogen in die Seite geftoßen und ihm hinter 
dem Rüden der Hand zugeflüftert: 

„Du ! Der König Frige würde zwar über diefes auf Frans 
zöfifch gelacht Haben, doch mir iſt's augenblidlich gar nicht lächer⸗ 
lich mehr. Nun ift mir doch wahrhaftig felber, als Hätte ich geftern 
abend ein Gefchrei gehört! Alle Wetter, Musketier Bodenhagen, 
gib mir Acht, daß du für dein Teil auch immer ein ſchwarz Huhn 
zur Hand haft, wenn du hier allein Herr und Meifter fein wirft. 
Selbft wenn mir jeßo die Sonne auf den Weg fiheinen fäte, 
was fie nicht ut, fo würde fie mir diefe Narretei nicht aus dem 
Kopfe fcheinen. Was ich geftern abend gefagt habe, behält eben 
doch feinen Sinn. Merk dir’, Kamerad!“ 

Darauf hatte der junge Müller feinerfeits dem Korporal den 
Ellenbogen in die Seite gefeßt, aber nur ftumm dazu geſeufzt. 
Der einarmige Invalide verfchwand auf dem Wege nah Großs 
Förfte im Morgennebel, und der Meifter Chriftian fagte: 

„Sa, ja, Albrecht; wärft du mir fo wie der nach Haufe ge 
fommen, fo hätt's mir auch beffer gefallen. Das ift wenigftens 
ein Kerl und fein Windfad, Marfch an die Arbeit! was fteht Er 
da und gafft, Junge?“ 

Die Mutter Bodenhagen trug die Flafche und das Glas in 
das Haus zurüd, und allefamt gingen fie, ein jeglicher an feine 
Geſchäfte. Es gab viele Arbeit in der nächften Zeit, und dag war 
für alle gut, befonders aber für den Hausfohn, denn dem flog’8 
recht häufig um Stirn und Nafe, gleich einer läftigen Fliege, die 
weder zu fangen noch zu verfcheuchen war. 


469 


Es ift gar nicht zu fagen, wie viele Leute fich auf die Hochzeit 
des jungen Müllers und der Jungfer von Papenbergs Hofe 
freuten, und wie viele fich zu derfelbigen geladen und ungeladen 
einfanden. Zu angefegter Zeit, als die Welt wieder grün gewor⸗ 
den wat, fand fie flatt, und e8 wurde eine große Luftbarkeit. 
Unter den ungeladenen Gäften fanden fich goftlob feine von denen, 
die Lieschen Papenbergs gute Freundinnen fo gern aus den Feld- 
lagern in Weftfalen, Schlefien oder Böhmen hergebeten hätten. 
Die Sonne fohien, die Geige fehrillte, und der Brummbaß 
rumpelte dem Siebenjährigen Kriege und den Franzofen im 
Lande zum Troge, und was das allerbefte war: die Innerfte 
bat nicht die Pläfterlichkeit geftört, das Waſſer hat nicht in die 
Luft Hineingefchrieen. Das war auch für fie, die Innerſte, dag 
befte; denn weder ein ſchwarz noch ein bunt Huhn wäre an dem 
Tage für fie auf dem Hofe zu finden geweſen. Groß und Hein, 
jung und alt, waren fie in die Suppentöpfe gewandert — nicht 
ein einziges entging dem Meffer der Hausmutter. 

Und die Männer fagten alle, eine fo faubere Braut wie das 
Lieschen ſei im ganzen Fürftentum Hildesheim nicht zum zweiten 
Male zu finden, | | | 

„Ich fuche auch gar nicht danach,” fprach der junge Meifter, 
und der alte Meifter rieb fich die Hände und murmelte: 

„Run mag e8 doch noch gehen; in fichere Zucht ift er anjetzo 
mit Gottes Hülfe gebracht. Ich habe das Meinige an ihm getan, 
und wann er jeßo dem Stabe Sanft parieren wird, fo tue ich vor 
Sohanni noch ein lettes und gebe das Negimente ganz und gar 
ab. Der Alten wird's auch fo recht fein.” 

Sp reden die Menfchen von dem, was fie morgen — über; 
morgen — vor Johanni tun wollen! Der Hochzeitsjubel ift 
verftummt in ber Mühle; den Brummbaß famt feinem Muſikan⸗ 
ten hat man am Morgen in zärtlicher Umarmung, und was den 
Mufitanten anging, im tiefen Schlaf im Graben an der Straße 
nad Hohen⸗Hameln, und den alten Müller, den wackern Meifter 


470 


Chriftian Bodenhagen, in feinem Bette tot gefunden. Der Medi; 
fus aus Sarftedt hat ihn, den Meifter, nachträglich zur Ader 
gelaffen, jedoch ganz und gar vergeblich. 

„Es ift eben, auch nach der Errichtung der Univerfität Göt⸗ 
fingen, immer noch ein eigen Ding mit diefen Schlagflüffen, 
Mutter Bodenhagen,” fprach der Doktor zu der in Tränen und 
Sammer aufgelöften alten Frau, „Zu fehnell kann unfereiner da 
nie fommen. Halte Sie fih an den Troft, daß im vorliegenden 
Caſu die ganze medizinifche Fakultät der Georgia Auguſta nicht 
mehr ausgerichtet hätte als mie ich,“ 


471 


Achtes Kapitel. 


Yuf einer Trommel faß der Held 
Und dachte feine Schlacht, 

Den Himmel über fich zum Zelt, 
Und um fich her die Nacht; 


nämlich die Nacht vom vierzehnten auf den fünfzehnten Auguſt 
1760. Als e8 dämmerig wurde, ftand das Heer in voller Schlacht; 
ordnung auf den Liegniger Hügeln; die Öfterreicher rüdten an 
gegen den linken Flügel der Preußen, und zwei Stunden fpäter 
war wieder einmal alles ganz anders gekommen, als ein bedeu; 
tender Teil Europas erwartet hatte. Der König Frig von 
Preußen hatte die Welt wieder einmal in ein nicht ungerecht; 
fertigtes Erftaunen verfeßt und die Schlacht bei Liegnitz ge; 
wonnen. 

Der Hauptmann von Archenholz, der als blutjunger Junker 
mit dabei war, ſagt, daß der Morgen ſehr ſchön war, und daß 
die Sonne den blutigen Wahlplatz, die Leichen und Sterbenden 
hell beſchien. Sehr hübſch ſchildert er auch, was nach der Affäre 
vorging: 

„Um fünf Uhr des Morgens, da die feine Welt in allen 
europäiſchen Ländern noch im tiefen Schlafe begraben lag und 
die arbeitenden Volksklaſſen ſich erſt von ihrem Nachtlager er; 
hoben, waren hier bereits große Taten geſchehen und vollendet. 
Man hatte einen wichtigen Sieg erfochten, der die Vereinigung 
der Ruffen und Öfterreicher hinderte und alle ihre auf die ſchleſi— 
fchen FBeftungen gemachten Entwürfe vereitelte, Friedrich ließ 


472 


auf der Stelle von der ganzen Armee ein Freudenfeuer machen, 
und fodann feßte er fich fogleich in Marfch; ein Marfch, der durch- 
aus einzig in feiner Art und erfiaunenswürdig war, der Auf: 
zeichnung fo fehr wert, wie irgendeine große Begebenheit des 
gegenwärtigen Kriegs; denn diefe von der Blutarbeit abgemattete 
und von zahlreichen Heeren umtingte Armee mußte ohne Raſt 
und ohne allen Zeitverluft fortrüden und dabei alles eroberte Ge; 
fhüß, alle Gefangenen und auch alle Berwundeten mitnehmen. 
Man padte die leteren auf Mehl; und Brotwagen; auch andere 
Wagen und Chaifen nahm man dazu, fie mochten gehören, wem 
fie wollten; felbft der König gab die feinigen her. Auch die Hand 
pferde des Monarchen und der vornehmen Befehlshaber wurden 
hergegeben, um die Verwundeten, die noch reiten konnten, fort; 
zubringen. Die ledigen Mehlwagen fohlug man in Stüde und 
fpannte die Pferde vor die erbeuteten Kanonen. Bon den feind- 
lichen Gewehren mußte ein jeder Reiter und Padknecht eins mit; 
nehmen. Nichts wurde zurüdgelaffen oder vergeffen, erheblich 
oder unerheblich; e8 war Beute, Auch nicht ein einziger Verwun; 
deter blieb zurüd, weder von den Preußen, noch von den Öfter; 
reichern, fo daß um neun Uhr, vier Stunden nach geendigter 
Schlacht, dies fo unvorbereitet neu belaftete Heer mit dem ganzen 
ungeheuren Troß fehon im vollen Marfche war.“ 

Wir haben die Schilderung ganz abgefihrieben, denn e8 wird 
einem fo reinlich, leicht und gemwiffermaßen freundlich dabei zu; 
mute, daß e8 eine wahre Luft ift. Umd der Morgen war in der 
Tat ſehr ſchön, und nicht bloß in Schlefien. Um diefe neunte 
fonnige Morgenftunde, während der alte Frig mit feinem fieges; 
frohen Heere fich auf dem Marfche nach Parchwitz befand, fang 
in der Sarftedter Mühle eine helle Stimme, die aber mehr der 
arbeitenden als der feinen Welt Europas angehörte, fröhlich in 
den jungen Tag hinein. 

Die junge Müllerin fang, und die Räder der Mühle drehten 
fich Inftig, die Innerſte raufchte und glißerte, und in dem Heinen 


473 


Hausgarten grünte und blühte und duftete ed. Die Vögel, 
die Blumen und die Bienen wußten fo wenig wie die junge 
Müllerin, daß foeben der König von Preußen die Schlacht bei 
Dfaffendorf gewonnen hatte, und wenn jemand e8 ihnen gefagt 
hätte, würde es ihnen mwahrfcheinlich auch ziemlich einerlei ges 
wefen fein. Die Vögel fangen, die Bienen fummten, die Schmet; 
terlinge flatterfen um die Gartenblumen des achtzehnten Jahr⸗ 
hunderts, und die junge Müllerin fprang hell und glänzend in 
den Garten, um Peterfilie zu pflüden, — was ging fie alle die 
Bataille bei Liegnig an? 

Es war jammerfchade, daß der Sänger des Frühlings gerade 
vor einem Jahr bei Kunersdorf gefallen war, er hätte die Müllerin 
fehen und den Sommer befingen follen! Es paßte alles zuſam⸗ 
men: die junge Frau mitten unter dem Suppenkraut, das Herd⸗ 
feuer, da8 man durch die offene Tür um den ſchwarzen Topf 
tanzen fah, die Bienen, die Vögel, die Blumen, das tanzgende 
Rad, die Innerfte und das grüne Weidengebüfch und die weiten, 
fonnigen Wiefenflächen jenfeit8 der Innerfte. Gleim lebte noch, 
aber er war damals noch nicht der alte Vater Gleim, fondern als 
‚Sefretär des Domkapitel von Halberftadt und des Stiftes 
Walbet ein Mann in feinen beften Jahren und fang Kriegs; 
lieder: ih m hätte e8 damals nichts genugt, das Hüttchen, das 
Flüßchen, die Wiefe und den Garten, die Sonne und die junge 
Müllerin zu obfervieren. Es hat alles feine Zeit — auch in einem 
poetifchen Gemüte! Der tapfere Krieger fingt von den Schäfern 
und Schnittern, der Herr Domfekretär von den preußifchen 
Grenadieren, und wahrfcheinlich iſt's ganz das Rechte, erft der 
alte Vater Gleim zu werden und dann von Daphnis und Chloe zu 
fingen, — Anafreon foll’8 auch fo gemacht haben. 

Der jungen Müllerin fah man's nicht mehr an, daß ihr Hochs 
zeitstag fie in ein Trauerhaus eingeführt hatte, Sie trug zwar 
noch ein Schwarzes Band auf der Haube, aber das war auch allein 
als äußeres Zeichen von jenem jähen Schreden, der ihrer Braut; 


474 


nacht folgte, an ihr übrig geblieben. Und fo war's in der Drd; 
nung! Die alte, ganz und gar ſchwarz gefleidete Frau drinnen 
im Haufe, am offenen Fenfter, die vor ihrem Spinnrade die 
Hände auf dem großgedrudten Gefangbuche gefaltet hielt, 
mochte hinter ihrer Hornbrille immer noch duch Tränen in den 
Sonnenfchein hineinzwinfern: für die Jugend wollte es fich nicht 
ſchicken — das Leben war kurz und der gegenwärtige Morgen gar 
zu ſchön! 

Die junge Müllerin fang: „Geh aus, mein Herz, und fuche 
Freud!” fie fang: 


„Die Bäume ftehen voller Laub, 
Das Erdreich dedet feinen Staub 
Mit einem grünen Kleide, 
Narziffen und die Tulipan, 

Die ziehen fich viel ſchöner an 
Als Salomonis Seide,” 


Aus Kleifts Frühling war das nicht; auch nicht ein Lied von 
Gleim und noch viel weniger aus einer Ramlerfchen Ode. Paul 
Gerhardt hatte es vordem gefungen: 


„Die Bächlein raufchen in dem Sand 
Und malen fih an ihrem Rand 

Mit fchattenreichen Myrten; 

Die Wiefen liegen hart dabei 

Und klingen ganz vom Luftgefchrei 
Der Schaf’ und ihrer Hirten,” — 


und von dem Iuftigslebendigen Rade her fiel eine Männerftiimme 
in das Loblied des Sommers ein: der neue Herr der Mühle, 
Meifter Albrecht Bodenhagen, fang mit, und er hatte allen Grund 
dazu; denn e8 war eine ſchmucke Frau aus der Jungfer Papen; 
berg geworden, er — Herr der Mühle an der Innerfte oberhalb 
Sarftedt, und die Innerfte war ein nahrhaftes Waffer: wer je 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 31d 
475 


Übles von ihr gefprochen hatte, der mochte die Verantwortung 
auf feine eigene Kappe nehmen. 

Fa, wenn nur drüben jenfeits der Innerſte im Weidengebüfch 
die Augen der Nire nicht gemwefen wären! 

Der Müller Albrecht Bodenhagen hörte Paul Gerhardts 
Sommerlied duch das Geflapper feiner Mühle, durch das 
Rauſchen feines Baches, und fein Herz Hlopfte auch immer leben; 
diger. Er hielt e8 nicht länger aus: 


„Die unverdroßne Bienenfchar 
Fleugt hin und her, ſucht hier und dar 
Sich edle Honigfpeife!“ 


jauchzte er und fam auch in den Garten gefprungen. Die alte 
Frau am Fenfter legte die Hand über die Augen zum Schuße 
gegen das Licht und fchüttelte ob der Iuftigen Jagd, die jet um 
die Büſche anhob, den Kopf. 

„Drei Schritte vom Leibe!” rief die junge Frau, mit beiden 
Händen abwehrend, „Wie eine Schleiereule fieht er aus, ganz 
Groß-Förfte hat feinen Spaß daran, wenn man folch ein weiß; 
gepudert Gefchöpf im Kirchturm aushebt und die Jungen es im 
Dorfe herumsragen! Rühr mich nicht an! ich werfe dir unfern 
ganzen Garten an den Kopf, wenn du mir nahe kommſt, du 
ftaubig Müllergefpenft !” 

Eine Handvoll Peterfilie befam er fofort ing Geficht und nicht 
in die Suppe; aber er griff doch zu und lachte: 

„Weshalb hat Sie einen Müller genommen, Jungfer Papen; 
berg? Einen Schornfteinfeger hätteſt du dir wohl lieber gefallen 
laffen, Lieschen?” 

„Ich will nicht! ich will nicht! Mein Topf kocht über, und 
mein Brei brennt an, und über den Tifch fehneideft du mir ein 
Geficht I” 

Sie brachte einen Johannisbeerbuſch zwifchen fich und ihren 
Verfolger. 


476 


„And ich fange dich doch, mein Schaß !” rief der junge Meifter. 
„Jawohl — ei freilich: mein Schaß! das haft du auch gelernt 
im Felde — 


Lieschen, mein Engel, meine Herzenstrompet', 
Meine Paufe, Standarte und meine Muster’, 


— Dazu hat dich der Eolignon von der Landftraße mitgenommen. 
Nein, nein, ich will jet nicht! Drei Stunden hat man nachher an 
fich zu fegen und zu bürften. Mutter! Hülfe, Mutter Boden; 
hagen !“ 

Das alte Weiblein beugte fich weiter vor aus dem grünum; 
fponnenen Fenfter, und über das verrungelte Geficht glitt doch 
ein vergnügliches Lächeln. In den Liebesftreit der jungen Leute 
mifchte die Greifin fich aber doch nicht ein; fie nicte nur mit dem 
Kopfe und murmelte: 

„Sind das ſchon fünfundvierzig Jahre her, feit mir mein 
Chriſtian da durch diefelbigen Wege nachiagte?“ 

In der Rofenlaube, dicht am Zaun und Bach, fing der junge 
Meifter in der Mühle feine Müllerin — 


„Geh aus, mein Herz, und fuche Freud 
In diefer lieben Sommerzeit 

An deines Gottes Gaben! 

Schau an der fohönen Gärten Zier 
Und fiehe, wie fie mir und dir 

Sih ausgefhmüder haben!” 


fie wußten in der Laube nichts von der blutigen Schlacht bei Lieg- 
ni, die der König Friedrich und der Feldmarfchall Laudon an 
diefem Morgen einander geliefert hatten, und fie wußten auch 
nichts von den zwei Augen drüben am andern Ufer der Innerfte 
im Weidendickicht! — 

Es waren oben im Harze in den legten Tagen ftarfe Gewitter 
niedergegangen, und infolge Davon war der Heine Fluß nach feiner 


EEE? 


Gewohnheit wieder einmal eine gute Strede in den Bufch und dag 
NRöhricht übergefreten. Und inmitten des Bufches, mit dem 
linken Arm fich um einen knorrigen Weidenftumpen Hammernd, 
der vorgefegte rechte Fuß vom Waffer überfpült, ftand ein junges 
Weib, vorgebeugt durch das Gezweig nach der Mühle Iugend, 
Nicht häßlich, aber feltfam verwildert war die Erfcheinung anzu⸗ 
fehen. Rotes, brennend rotes Haar, haftig geflochten, war um 
eine faft männlich breite Stirn gewunden, und eine der Flechten 
hatte fih gar gelöft und hing über die vorgeneigte Wange, 
Schlank, faft Hager und gebräunt von Sonne, Wind und Wetter, 
in einem grauen Rod und grünem Jäckchen ftand das Weib oder 
Mädchen da, und wunderlich, wunderlich ließ der Fuß im Wafler ! 
Wie fie fo daftand, hätte fie daraus hervorgeftiegen fein können; 
e8 paßte alles zu einander in Geftalt und in Farbe: die Weiden 
und das Kleid der Laufcherin, das rote Haar und das gelbrote, 
trübe Waffer der Innerſte, und vor allen Dingen zu allem die 
hellen, großen, grünblauen, fühlen Augen. Wer die Nire der 
Annerfte hätte malen wollen, der hätte diefe Kreatur in fein Bild 
feßen müſſen! 

Und fie regte fich nicht, diefe Erfoheinung! Der Wind rührte 
leife an die Weidenzweige über ihr, an die hohen Schtlfdolden und 
die Blätter des Erlengebüfches um fie; aber nur ein einzig Mal auf 
einen kürzeſten Moment wehte er ihr die gelöfte Flechte ganz über 
das Geficht. 

Zu ihren Füßen — um ihren Fuß! — regte fich und glitt leife 
die Flut der Mühle zu, und die Blafen — die Luftblafen vom 
Atem der Waffergeifter fliegen auch wieder empor zur Ober— 
fläche und gerplaßten im Lichte. Manche fagen, die Waffergeifter 
figen drunten in der Tiefe gleich riefengeoßen Fröfchen mit 
glühenden Augen und atmen fill und warten „auf Seelen“; 
wir mwiffen das nicht und können nicht darüber nachfagen, und 
es iſt nicht die Zeit, die rothaarige Laufcherin im Geröhricht danach 
zu fragen; aber die Fröſche haben nicht folche Augen wie bie; 


478 


jenigen, mit welchen fie in den Mühlgraben fah und nun in die 
Laube am Zaun des Gartens hinüberfieht. 

„Du Schelm!” flüfterte der Meifter Albrecht, und jegt rührte 
fich da8 Weib im Ufergebüfch doch. Die Zweige, die Dolden und 
die Blätter um fie her erzitterten, der Fuß verfanf tiefer im 
Waſſer und weichen Schlammboden, und — das war alles um 
den legten mutwilligen Schrei, mit dem fich die Müllerin unter 
den Nofen gegen den Kuß des Müllers wehrte, 

Die weißen Tauben, die fih auf dem Hausdache gefonnt 
hatten, erhoben fich flatternd, und ihr Federfpiel bliste, als fie 
fich in dee Morgenfonne und in der blauen Luft um den Schorn; 
ftein ſchwangen. 

„Du wilder Albrecht — wenn — du num ER lägeft mit 
den taufend und taufend anderen — in einer Grube auf dem 
fremden Felde, wie der arme Barthold Dörries?!“ flüfterte die 
junge Stau, und in demfelbigen Augenblick lachte es laut im 
Meidengebüfh, und mit dem Lachen drang zugleich ein anderer 
Ton in die Laube herüber. Ein Rufen war e8 nicht; auch ein 
Schreien nicht; es war ein Lachen und Kreifchen zu gleicher Zeit, 
und niemand fonnte fagen, ob der Ton aus der Luft, aus dem 
Buſch oder aus dem Waſſer komme! — — — — 

Die junge Frau wurde £otenbleich in den Armen ihres Mans _ 
nes, Diefer fuhr zufammen und ließ fein Weib los, und beide 
fanden und horchten, und wieder erwarteten fie mit ftoden, 
dem Atem und gefrierendem Blut, daß fih da 8 zum zweiten 
Mal vernehmen laffe. Vergeblich fehten die Sonne morgendlich; 
fhön und fommerlichwarm in den eisfalten Schreden hinein. 
Bon Haufe her fchlug der Spishund an und bellte heftig und 
zornig gegen die Innerſte hin; aber ringsum blieb es ftill, und 
wiederum ließ fich die Stimme nicht zum zweiten Mal hören, 

Die Innerſte ſchrie nicht wieder; diesmal aber hatte fie wirk; 
lich und wahrhaftig geſchrieen; — e8 war feine Sinnestäufhung 
gemwefen ! 


479 


„Am Gottes und Jeſu willen, was war das?” rief die junge 
Frau. „Haft du es denn auch gehört? Iſt e8 das, was dein 
Vater damals am Abend hörte? Albrecht, Albrecht, — Mann, 
Mann, e8 ift doch wahr! Das Waſſer hat gerufen wie ein böfer 
Menfch in Angſt und Zorn, und ich fterbe, wenn ich die Stimme 
noch einmal höre!“ 

Der jegige Herr der Mühle war gleichfalls bleich geworden; er 
preßte die Zähne zufammen und lachte heifer: 

„Sei fill! e8 ift doch eine Dummheit! Site einen einzigen 
Augenblick ftill; — diesmal fange ich den Halunfen, der ung da in 
die gute Stunde hineingemedert hat! Er wird ung nicht wieder 
hohnnecken; — ich werde ihm doch noch einmal den tollen Boden; 
hagen zeigen.” 

„Rein, nein! Du gehft nicht von mir, Mann!“ 

Er war aber fchon gegangen. Er hatte dem Hunde gepfiffen 
und fprang aus dem Garten der Mühle zu. Sein Lieschen fah 
ihn über den Mühlenfteg laufen und in dem Bufche jenfeits der 
Innerſte verschwinden. Ängſtlich rief fie ihn noch einmal; aber 
fie hörte ihn drüben nur: „Such, fuch, Laudon !” rufen und den 
Spiß bellen. Mit zitternden Knieen faß fie auf der Bank in der 
Laube und verfuchte eg, ein Vaterunfer zu beten, fam aber vor 
‚ Ansft und Beben nicht weit damit. Sie faß halb bewußtlos in 
der Sonne; alles — Bäume und Büfche und Blumen, die Wiefen 
und dag Haus, wirrte fih ineinander; — fie wollte nach der alten 
Frau im Haufe rufen und vermochte es nicht. Eine Ewigkeit 
verging dem armen Weibchen, big der Mann zurüd von feiner 
Suche fam, und e8 waren doch kaum zehn Minuten, die er aus; 
blieb! 

Als fie ihn langſamen Schrittes über den Mühlenfteg zurück—⸗ 
fchreiten fah mit dem Hunde hinter ihm, atmete fie tief aufs fie 
fah noch immer durch einen blendenden, flimmernden Nebel, aber 
die Gegenftände ringsum nahmen doch wieder ihre gewohnten 
Plätze ein und hielten fich ruhig. Ihr Müller aber verfuchte Iuftig 


480 


aussufehen, als er durch den engen Gartenweg fam und fich mit 
dem Kopfe auf der Schulter und IFEERDENCHINGENEN Armen vor 
fie hinftelfte. 

„Kein Jägersmann, dem man Glüd zur Jagd gewünſcht hat, 
kommt mit leererer Taſche zurüd, Liefe!” fagte er. „ES ift eine 
Dummheit, und e8 bleibt eine Dummheit. Mein Troft ift nur, 
daß es nicht meine Sache ift, einen Menfchenverftiand in den 
Weiberfehnidfchnad und die Spinnftubenhiftorien hineinzu; 
bringen.” 

„Du haft nicht gefunden — gefehen, was da lachte! D Herr 
Jeſus!“ 

Meiſter Albrecht ſchüttelte den Kopf. 

„Weit und breit nichts zu ſehen als der Buſch und die Wieſen, 
und nichts zu hören als der Wind im Buſch! Der Satan finde 
aber auch mal einen, der e8 darauf ablegt, fich in dem Röhricht 
zu verfteden. Und der Laudon ift zu gar nichts nuße, der Korz 
portal Jochen hat recht, Sadville follte er heißen, und wir wollen 
ung einen Köter mit einer feineren Nafe anfchaffen zu deiner Be; 
ruhigung, Lieschen. Wahrhaftig, da läuft ihe noch eine Träne 
über die Bade. Jetzt fu mir den einzigen Gefallen, guck wieder auf! 
Morgen lege ich Fußangeln das ganze Weidicht durch, und ich 
gebe dir mein Wort, das nächfte Mal fangen wir das Gefchrei. 
Nah Sarftedt vors Gericht foll mir der Spuf, fo wahr ich das 
geben habe!” 

„O Albrecht,“ rief die junge Frau Liefe mit gefalteten Händen, 
„tue dag nicht! denk an deinen feligen Vater! Du kannſt die 
Innerſte nicht mit Fußangeln fangen; fie will ein Lebendiges —“ 

„Und den Hunger foll fie fich diesmal vergehen laffen, bei 
allen Tenfeln! Mohrenelement, e8 fit ein neuer Mann auf diefer 
Mühle — was vorher war, ift abgetan, und die alten Narrheiten 
fümmern den neuen Müller nicht mehr. Dazu bin ich nicht gegen 
den Franzos im Felde gewefen, um mir von fol einem nichts; 
nutzigen Waffer ein folches bieten zu laffen. Meine Hühner ef’ 


481 


ich felber! Solange mein Vater lebte, habe ich mich freilich 
genug duden müſſen; aber als ein Tropf vom Wirbel bis zur 
Zeh bin ich Doch nicht nach Haufe gefommen.“ 

„Aber dein Vater —“ 

„Der ruht endlich in Frieden, und ich bin Herr und Meifter 
allhier an der Innerſte. Komm ins Haus, mein Her;, mein 
Schatz, da kocht dein Topf über — da haben wir ja fihon dag 
ganze Malheur und brauchen auf Fein anderes zu warten. Wenn 
du mir aber noch einen Gefallen ermweifen willft, Lieschen, fo 
ſchwatz gegen feinen Dritten von dem Unfinn und vor allem nicht 
gegen die Alte, Die Alte wäre imftande, unferen ganzen Hühner; 
hof den Bach hinunterſchwimmen zu laffen, und wenn das nicht 
reicht, mit dem Kuh⸗ und Schweineftall obendrein dem Dinge 
den Mund zu ftopfen. Es ift wahrlich fo in der Welt: man braucht 
nur lauf zu brüllen, um feinen Willen zu friegen, und die Innerſte 
verfteht das meifterlich.” 

„sh wollte, ich kriegte nur diefes allereinzigfte Mal meinen 
Willen,” fagte weinerlich die junge Frau. 

„Die beften Stüde von dem allerfehmwärzeften Huhn follft du 
am Sonntag haben,” fagte der Meifter Albrecht, und fie traten 
durch die Küche in die Stube, wo die alte Frau in ihrem Lehnftuhl 
am Fenfter faß. 

Sie traten feft herein, doch auf den Zehen gingen fie näher an 
den Lehnftuhl heran; Lieschen hatte den Finger auf den Mund ges 
legt und geflüftert: . 

„O ſieh, die Mutter ift eingefchlafen! Sie hat nichts von dem 
Schrei und Schreden gemerkt! Gud nur, wie fanft fie ſchläft!“ 

Es war freilich ein friedliches Bild, und die Süßigfeit des 
Schlummers lag wahrlich auf dem Teicht zurückgelehnten alten 
guten Gefichte der Greifin. Das große Gefangbuch lag noch offen 
in ihrem Schoße, und die Hornbrille lag darauf, und die Mutter 
hatte die Hände darüber ineinander gelegt. Die Sonne drang 
freundlich durch die grünen Blätter vor dem Fenfter und um; 


482 


fpielte diefe alten, harten, fo lang fo fleißigen Hände; die beiden 

jungen Leute traten noch einen Schritt näher an den Sorgen; 
ſtuhl — 

Meinethalb mag fie zu jeder Zeit, wenn es ihr Pläfier macht, 

den ganzen Biehftand zur Nordfee ſchwimmen laſſen,“ flüfterte 

der junge Herr und Meifter in der Mühle. 

„Du bift doch ein guter Junge, Albrecht,“ fagte leife die junge 
Müllerin zu ihrem Mann, und dann fügte fie noch leifer Hinzu: 
„Wenn ihre das Buch von der Schürze ruefcht, erfchridt fie auch 
und wacht auf; — ich nehme e8 ihr unter den Händen fanft weg.“ 

Sie beugte fich zärtlich herab, aber in demfelbigen Moment 
fiel fie nieder auf die Kniee und faßte die Hände der Greifin mit 
einem lauten Schrei: 

„Albrecht? Albrecht! — Albrecht!“ — 

Die Alte, die Mutter fehlief; aber fie wachte von feinem Ge; 
räuſch und Lärm in der Welt mehr auf. Kein Lärmen — Weinen 
und Lachen rundum weckte fie mehr! Ob ihr Geſangbuch zu 
Boden fiel, ob die Innerfte fchrie, ob Friedrich, Daun und Laudon 
im Schlachtendonner fich trafen — einerlei! Die alte Frau Ichlief 
— fohlief ruhig weiter. 


483 


Meuntes Kapitel. 


wm Sahre 1760 war der Harz bei weitem mehr als heute der 
ad wilde Harz. Er ift feitdem kultiviert worden, wie Die 
Leine, die Ihme und die Innerſte reguliert worden find. Was 
wir erzählen, gilt, fofern e8 die Natur — Wald und Waffer ber 
frifft, nur von der Mitte des 18. Jahrhunderts; was die Men 
fchen angeht, fo haben die fich weniger verändert, wenn fie gleich 
unendlich viel gebildeter geworden find und anders zugefchnittene 
Kleider tragen, fo Mann wie Weib. 

Mit dem wilden Harz haben wir e8 jeßo zu fun, Immer an 
der Innerſte aufwärts bis in das Revier der drei Bergftädte 
Grund, Wildemann und Lautenthal führt ung die Hiftorie von 
dem fchreienden Waſſer. Da Tiegt, wie der Lefer fchon meiß, 
swifhen Wildemann und Lautenthal Nadebreders Mühle an 
der Innerſte; vordem, als die Räder fich noch drehten, eine Säge; 
mühle mit gefräßigen Zähnen; aber die Räder ftehen feit Fahren 
ftill, und der vom Fels hinter der Mühle ab fich ftürgende Bach 
findet allhier feine Arbeit mehr. Der Buſchmüller Hat diefes 
Geſchäft längſt aufgegeben und fich ein ander Brot gefucht. 

Das alte ruinenhafte Anmefen liegt in eine fchluchtartige 
Windung des Tales gedrüdt, umgeben vom dunklen Tannen, 
hochwald. Wer die Innerfte in ihrer ganzen Wildheit fehen 
wollte, der mußte fie hier in der Wildnis aufſuchen. Grauſchwarz 
und giftig kommt das Waffer von den Hüttenwerken von Wilde; 
mann; daß es über mehr als drei Steine läuft, hilft ihm nichts, 
es wird nicht reiner dadurch, und wütend fpringt e8 vom Stein 


484 


hinter dem Haufe des Meifterd NRadebreder und hohnlachend 
vorbei an dem geftellten, trümmerhaften Rade. 

Hoch, eine Stimme, ein Lied aus dem Innern der Mühle, 
und Stimme und Lied paffen ganz und gar zu diefer Menſchen⸗ 
wohnung und zu dem Tag und Wetter. Es iſt ein dunkler, 
windiger Dftobertag, der Sturm rauſcht und zifcht durch den 
Tannenforft und beugt die fehlanfen Stämme; aber das alte 
Harzsfchügenlied aus den Kriegen des vorigen Säfulums über; 
tönt er doch nicht. Es ift ein Lied, gut zu fingen in der Felshöhle 
am Feuer in der Winternacht, im wilden Walde — vor der Blut; 
tat und nach derfelbigen — ein Lied von Blut und Feuer, vom 
fchnellen, tüdifchen Überfall aus dem Bufch, ein Lied von Galgen 
und Rad — feltfam zu hören aus einem Weibermunde! Und 
die Innerfte fingt mit, und die Weife dringt weit hinein in den 
Forft, und tief im Walde nimmt eine Männerftiimme den 
Endreim auf und fendet aus fraftuoller Bruft das Gefäß zurück. 

s ift der Kriegsfamerad des neuen Müllers da unten an der 
Innerſte, oberhalb Sarftedt, der einarmige Korporal Jochen 
Brand, der da durch den Wald kommt. Er trägt noch immer den 
militärifchen Dreimafter fchräg aufs Ohr gedrüdt, er trägt noch 
‚den blauen Rod, den er bei Minden trug; aber Hut und Rod find 
um ein Beträchtliches fehäbiger geworden; — fie foheinen in der 
Bergftadt Grund fich nicht viel aus dem tapferen Stadtfinde 
gemacht zu haben, und mit der Menage muß es auch nicht weit 
hergeweſen fein. Wohlgefüttert fieht der Korporal nicht aus, und 
die ſchmutzig⸗roten Auffchläge an Kragen und Ärmel find die 
munterfte Farbe an ihm. 

Aber immer noch ſchwingt er den Wanderknittel in der heilen 
Linken zu den alten Fechterfunftftüden; es feheint ihn wenig zu 
fümmern, daß die Jade nur noch einen der Meffingfnöpfe mit 
dem F. R. — Fridericus Rex — aufjumweifen hat — der Knopf 
genügt immer noch, den Teeren rechten Ärmel auf der braven, 
breiten, wetterfeſten Bruft feftzuhalten. 


485 


Er fam den Berghang herunter aus der Dämmerung des 
Waldes hervor und ftieß einen lauten Hollaruf aus, als er das 
Dach der Mühle unter fich fah. Drei mächtige Hunde mit Stachel; 
balsbändern heulten die Antwort und ftürzten fich durch den 
Bach dem Nahenden entgegen; als fie ihn aber erkannten, ber 
grüßten fie ihm freundfchaftlih, und das nämliche fat der Hert 
des Haufes, der jeßt in feine Tür getreten war und unzweifelhaft 
einer etwas genaueren Beſchreibung würdig ift. 

Es war ein Heines, alraunenhaft ausfehendes Kerichen, dag 
Meifterchen Nadebreder, Man war durchaus nicht ficher, ob der 
alte Burfch nicht einft alg die fchlimme Wurzel unter dem Galgen 
ausgeriffen worden war und den entfeglichen Schrei der Sage 
ausgeftoßen hatte. Aber wenn’s fich fo verhielt, fo war der Alraun 
doch allgemach gewachfen und hatte e8 zu einer Höhe von faft 
fünf Fuß gebracht. Für ein befcheiden Gemüte war ein ganz 
menfchenähnliches Individuum aus der Mandragora geworden. 
Ob die rauhhaarige Pudelmütze mit dem grauen, zofteligen 
Köpfchen des Alten geboren worden war, fonnte niemand willen, 
aber niemand erinnerte fich auch, ihn je bei Sommer und Winter, 
bei Tag und Nacht ohne diefelbe erblict zu haben. Seitwärts 
geneigt trug er das Köpfchen auf der einen Schulter und als 
Gegengewicht ein Budelchen auf der anderen. Sein Gehör war 
fo fcharf wie feine Augen, obgleich manche Leute feltfamermweife 
meinten, das eine fei fo fchwach wie die anderen; wenn fie dann 
des Gegenteils zu ihrem Schaden gewahr wurden, wunderten fie 
fih gar noch. 

Als der Einarm unter den letzten Bäumen hervorfrat und 
über die Steine im Bette der Innerſte wegftieg, nahm der Feine 
Greis die Heine Tonpfeife aus dem zahnlofen Munde und 
ficherte: 

„He, he, auch der wieder! Steh, fieh, gud, gud, auch Er kann 
es noch immer nicht laffen; — da ift Er ja wieder! — Es iſt ein 
Prahtmädchen! Sie tut e8 ihnen allen an, und wie fie ſich auch 


486 


wehren mögen, fie fönnen nicht davon laffen. Der liebe Gott 
hat mich in Wahrheit mit einem guten Kinde gefegnet, und es ift 
immer noch, wie's in dem Buche fieht: ‚Wohl dem, der Freude an 
feinen Kindern erlebt‘.“ 

Das war nun mit einem folchen blasphemiftifhen Grinfen 
gefagt, daß jegliche Bibel auf ſechs Meilen in. die Runde von 
Rechts wegen einen Schredensfprung hätte tun müſſen auf ihrem 
Platz oder Geftell, und wie das folgende Gefpräh ausweilt, 
kannte der Korporal Jochen feinen Mann auch nach der Richtung. 

„Guten Tag, Vater Nadebreder,” fagte der Einarm, mili; 
tärifch grüßend. 

„Guten Tag, mein Söhnchen,” entgegnete der alte Meifter. 
„Der Herr fegne deinen Eingang und — Ausgang.“ 

„Sm,“ meinte der Soldat, „kann Er's denn gar nicht laſſen, 
Er alter Sünder? Weiß Er aber, ich habe mir fagen laffen von 
einem großen Dfen, der immer noch geheizt wird, und anjeko, 
wie einige meinen, mehr denn je. Will Er denn abfolut Paftor in 
der. Hölfe werden und von einer glühenden Kanzel den armen 
verlorenen Seelen Geduld predigen, Nadebreder?” 

„gm, — jedermann nach feinen Gaben, Freund Jochen. Er 
in feinem wilden gottlofen Kriegsleben kann nichts davon willen, 
wie fanft e8 dem Menfchen zumute wird hier in der Eremiterei, 
im ftillen Forſte.“ 

„Man follt’8 doch nicht für möglich halten!” brummte der 
Invalide mit einem Blide zum molfenvollen Herbfthimmel. 
Dann fah er den Alten mit einem gewiſſen ſcheuen Unbehagen 
von der Seite an und brachte das Gefpräch auf etwas anderes, 

Er fagte mit einigem Zögern: 

„Da Er's doch fehon weiß und darüber fein Pläfier hat, fo 
mach’ ich’8 kurz: der Innerfte wegen bin ich mal wieder da, und 
wär's auch nur, um mich von ihr malträtieren zu laffen, ſchlimmer 
als ein armer Sünder vom Profoffen, Wie geht's der Jungfer 
Tochter, Vater Radebreder?“ 


487 


„Hört Er fie nicht, mein Sohn? Sie hat eine recht feine, 
liebliche Stimme. Es ift meine einzigfte Luft in meinen alten 
Tagen, fie fo in den Wald. hineinfingen zu hören.” 

Der Einarm murmelte etwas zwifchen den Zähnen; der greife 
Alraun aber legte die Hand hinters Ohr. 

„Was beliebt Ihm zu meinen, mein Herzensföhnchen? Es 
wird immer fchlimmer mit meinem Gehör von Tag zu Tage?“ 

„Ich fage auch, daß die Innerſte — die Doris eine feine 
Stimme hat und fie weit hinausfchiet!” fehrie der Korporal 
Jochen Brand. „Ich bin nicht der erfte, der fie auf fehs Meilen 
ins Land vernommen hat, und den fie hergefungen hat nach 
diefer verdammten, gottverfluchten Näuberhöhle. Und an Boten 
für ihre Wege fehlt’8 ihre auch nicht; wenn nur der Botenlohn 
danach wäre!” 

„Ei, ei, mein Söhnchen, was fagt Er da! Befinne Er fich 
doch, Korporal, dag Er zu dem Bufchmüller fpricht, der ein Dach 
und einen Platz am Tifche hat für jedermann, von dem man zu 
Haufe — nichts wiffen will, und wenn er noch fo glorreiche 
Bataillen gewonnen hat. Ein guter Ruf ift das Föftlichfte Ding 
auf Erden und ein gut Gewiſſen —“ 


„Das zweitbefte Ding, Vater Nadebreder. Sapperlot, ich 
weiß alles und verlange auch von Ihm Feine Brühe an den 
Braten. Alſo die Innerfte figt in der Stube?” 

„Wie's Täubchen im Neſte; — und Er ift willfommen, 
Kochen, wenn man Ihn gleich in Grund über die Schulter anfieht. 
Geh’ Er nur hinein; ich habe noch hier draußen zu fehaffen und 
fomme nad.” 

„Der Zwergenkönig vom Hübichenftein ift nichts gegen Ihn, 
Meifter Radebrecker!“ feufste der gute Kriegsmann des Herzogs 
Ferdinand und fliefelte mit gehobenen Knieen wie ein Storch über 
die Hausſchwelle. Der Alte fchlich fich wie ein Fuchs um die Ede 
feines Haufes und ficherte vergnüglich in fich hinein. 


488 


Auf der Schwelle der Stubentür nahm der Korporal den 
Hut ab: 

„Bon jour, mademoiselle 

„He?“ fragte Jungfer Doris, auf ihrem Stuhl am Fenfter 
fih ummendend. 

„Guten Tag, allerfchönfte Mademoifell, mein’ ich. Wir haben 
manchen Franzmann draußen unter ung, und von denen lernt 
man die Höflichkeit und was den Damens fonft gefällt.” 

„Mir gefallen Seine franzöfifchen Broden gar nicht,“ fagte 
‚die Jungfer Radebrecker. „Wenn Er Seine Hündinnen da draußen 
vor den Bergen damit vom Dfen loden kann, fo hab’ ich nichts 
dagegen einzuwenden, Kamerad. Bringt Er mir fonft was mit, 
fo fomm Er herein, Jochen, fonft aber bleibe Er draußen.“ 

Der einarmige Soldat trat wenigftens einen Schritt weiter 
in die Stube vor, Die Innerfte raufchte dicht an dem Fenfter 
vorbei, und Wald und Fels fahen herein. Die rothaarige Jungfer 
faß faul an die Lehne ihres Holsfchemelg fich legend und aß mit 
einem blutigen Meffer in der Hand ein Stüd Brot. Das Meffer 
hatte fie aus der Küche mitgebracht, und wenn die Furfürftlich 
hannöverfchen Förfter nachgefucht hätten, fo würden fie auch 
wohl das ausgemweidete Schmaltier gefunden haben, deffen rote 
Lebenstropfen an der Klinge hingen. 

„Sakerment,“ murmelte der Invalide, „am beften paßte fie 
doch zwiſchen Mitternacht und ein Uhr auf ein Schlachtfeld, mit 
einem Sad auf der Schulter und einer Blendlaterne in der Hand. 
Sie würde frifeh aufräumen im Notfalle unter den DBleffierten. 
Wenn ich nur wüßte, was fie ung eingibt, daß wir ihre immer 
von neuem fo gutwillig ihre Säde tragen?“ 

Lachend zeigte die Jungfer dem Kameraden ihre weißen 
Zähne und wies mit dem Meffer auf einen Schemel ihr gegenüber 
am Fenfter. 

„Run, Korporal Brand, will Er fich nicht Seine Bequemlich- 
feit nehmen? Aber — ganz wie eg Ihm beliebt.“ 


10 


489 


Schwerfällig fette fich der Snvalide auf den ihm angedeuteten 
Pas, warf feinen Hut auf den Tiſch und fagte mürriſch grollend: 

„Deinen Vater fenne ich, Doris; aber deine Mutter hätte ich 
auch wohl fennen mögen.” 

„Weshalb?“ 

„Weil ich dann das Teufelskleeblatt voll zuſammen hätte; 
den alten Satan und die alte und die junge Hexe. So iſt's, 
Jungfer Radebrecker, nehme Sie es mir nicht vor ungut.“ 

Das Mädchen lachte wiederum, — ganz und gar nicht bes 
leidigt: 

„Warte Er nur, Freund, bis ich meines Weges gegangen bin 
und Ihn der Meifter Hämmerling auf dem Galgenberg von der 
Reiter geftoßen hat. E8 wird fehon eine Zeit fein, mo die ganze 
wilde Jagd hübſch warm beifammen ift. Wer die richtige Geduld 
hat, wird manche furiofe Dinge in der Welt zulegt in ein Bündel 
knoten. Was bringt Er mir mit nach der Bufchmühle, Jochen?” 

Da beugte fich der Einarm näher zu dem Mädchen und fah ihr 
ernft, faft grimmig ing Geficht und antwortete: 

„Dein Narr bin ich und bleibe ich; aber den Gang geh’ ich 
doch nicht wieder für dich; und wenn du wirklich ein Weiberherz 
in der Bruſt teügeft, fo ließeft auch du das Vergangene auf fich 
beruhen, zumal folch einem armen Tropf gegenüber, der, wenn 
er dich gefränfet hat, dazu gekommen ift, wie zu allem andern in 
feinem Leben, ohne wie ein rechter Mann davon zu wiffen. Dorig, 
wäre er ein richtiger Kerl, fo möchteft du deinen Groll büßen, fo 
wild du wollteft, und fein jung Weib müßte feine Schuld mit auf 
fih nehmen. Aber er ift ein Teopf, ein Schwachherz, und wenn 
du da die Unhuldin fpielen willft, ift’8 nicht aus eigenem Herzens; 
jammer, fondern aus Bosheit und Luft am Schaden. Ich bin 
wieder in der Sarftedter Mühle eingefehrt, und ich fage dir, du 
follft die Leute in Frieden ihr Leben leben laffen. Hier haft du dein 
Leben, wie du e8 verlangft, und kannſt fein anderes gebrauchen ! 
Da unten figen fie wie die Kinder im Winkel, und du haft nichts 


490 


hinter ihrem Dfen zu fuchen. Was du zu fehen nötig hatteft, haft 
du im Sommer felber gefehen; — fie haben Vater und Mutter 
begraben und haben in Sarftedt mit dem Meifter Tifchler einer 
Wiege halber gefprochen. Sie haben mich zu oberft an den Tifch 
gefeßt, und du — fißeft hier oben wie eine wilde Königin — feine 
zahme hat's mehr nach ihrem Wunſche.“ 

„So?!“ fagte oder fragte die Jungfer Nadebreder, und der 
Korporal Brand, mit der gefunden Hand auf den Tiſch ſchlagend, 
tief: 

„Ja! fol — Doris, Doris, ift e8 denn nicht fo? Ich bin 
nicht dabei gemwefen, als der arme Flederwifch, der wilde 
Bodenhagen, zuerft hier in der Buſchmühle das Handwerk 
grüßen wollte; aber aus eigener Erperienz weiß ich, was er ge⸗ 
funden hat —“ 

„Sp?!“ 

„a, und weil ich das weiß, und obendrein auch noch, daß 
ihn der Colignon nur zu feinem Beften abgeholt hat, fage ich 
zum dritten und legten Mal, Jungfer Nadebreder, Habe Sie ein 
Einfehen und Erbarmen und führe Sie nicht Krieg, wo es nicht 
vonnöten ift. Ich komme auch aus dem Kriege und weiß, was 
es damit iſt. Der Albrecht ift doch nichts weiter als ein groß Kind, 
und wollte Sie fich eine Hafeleute da aus dem Bufch an der 
Innerſte holen und ihn über die Banf ziehen, fo wollte ich mich 
She wahrhaftig nicht in den Weg ftellen; ich habe ihn ja felber 
mehr als einmal unter dem Prinzen Ferdinand über ein Bund 
Stroh gelegt. Weil aber fein Herr Vater und andere Leute dieſes 
ſchon nach beften Kräften beforgt haben, fo laffe Sie nun feinem 
Leben den Lauf und ſchreie Sie ihm nicht hinein, denn Sie freibt 
nicht ihn allein ing Elend, und das kommt Ihr nicht zu, denn das 
ift nur ein Recht, wie e8 das Waffer, der Bach, die Innerſte fich 
nimmt, wenn’s hier in den Bergen fich allerlei Hat gefallen laffen 
müſſen und num hervorbricht und den armen Bauern im Hildes; 
heimfchen die Acker und die Wiefen ruiniert, Ich bin auch Kor; 


W. Raabe, Sämtlihe Werke. Serie I 32d 491 


portal in einem Freibataillon geweſen und habe manches mit; 
gemacht, was gen Himmel geftunfen hat; bei Minden auf dem 
Feld liegt mein rechter Arm, und — ſo fpreche ich heute in der 
Buſchmühle. Ich weiß wohl, daß wir nicht in einer Welt leben, 
wo alles glatt abs und hingeht wie auf einer Potsdamer Parade 
vor Seiner Majeftät. Aber der König Fri kümmert fich heute 
auch wenig um Puder und Zopf; er marfchiert in Schlefien durch 
Blut und Brand, und in feiner Refidenzftadt Berlin find anjeßo 
die Ruffen und die Öfterreicher, der Tottleben und der Lasch; — 
wer ſich da als ein ehrlicher braver Kerl und als ein lieb, guf 
Weib zurechtfindet in der Welt, der hat Ehre davon. Ich über; 
legte e8 mir doch noch einmal in meinem Leben, Jungfer Rade⸗ 
breder.” 

Die Tochter des Bufchmüllers war bei diefer Rede des Kor; 
porals Kochen Brand aufgefprungen und wild in der rauch—⸗— 
ſchwarzen, wüften Stube hin und hergegangen. Ihr Meffer hielt 
fie wie einen Dolch, und num frat fie Dicht an den Invaliden heran, 
legte ihm die Fauft mit dem Meffer auf die Schulter und nahm 
ihn mit der anderen Hand an dem gefunden Arm. 

„Er ift ein guter Kamerad, Jochen,” fagte fie, „und Er hat 
ein gutes Wort gefprochen; aber was weiß Er denn von mir und 
vom Albrecht Bodenhagen? Meinen Vater fennft du und meine 
Mutter hätteft du kennen mögen, um das Teufelsfleeblatt bei; 
fammen zu haben. Du haft’8 eben noch felber geſagt. Hier in der 
Bufhmühle bin ich geboren und auferzogen worden, und jeßt 
bin ich, wie ich bin, und wenn ich wie das wilde Waffer, 
die Innerſte da vorm Fenfter, bin, fo kann ich's nicht 
ändern —” 

„Dann laß deine Tollheit an ung aus, Doris,“ brummte der 
Korporal, „du weißt, daß wir zu Dubenden über jeden Stod 
fpringen, den du ung vorhältſt. Zum Erempel mit mir kannſt du 
machen, was du willft, aber das Kindervolf da unten im Lande 
ſollſt du mir jeßt in feinem Spiel ungefchoren laſſen!“ 


492 


Da ftieß die Doris Nadebreder einen Schrei aus, der auch ein 
Geſchluchz war. 

„Was habe ich denn mit euch? Was habe ich mit dir, Jochen 
Brand? Mit dem armen Tropf, dem Weichmaul, dem blöden 
Schäfer, der den tollen Bodenhagen fpielte, hab’ ich’8. Was weißt 
du von mir und ihm? — Er hat mehr gefriegt als ihr anderen 
alle, und e8 war eine Zeit, da hätte er mich wohl zu einem lieben, 
guten Weibe machen können! und jeßo foll er die Rechnung 
zahlen, der Müller von Sarftedt, und ihr — ihr follt mich nicht 
umfonft die Innerſte nennen!“ 

Der Korporal Brand fah die Jungfer Radebreder mit einem 
grenzenlofen Erftaunen — mit offenem Munde an; aber draußen 
bellten von neuem die Hunde, und allerlei Stimmen ließen fich 
vernehmen. Es famen allerlei Säfte des Bufchmüllers, 


33*+ 


493 


Zehntes Kapitel. 


wm Dftober gehen die Tage bald zu Ende, und aus dem Wind 
—J wird ſchnell Sturm. Dann muß man in den wilden Bergen 
wohnen und im Zwielicht vor die Tür treten und den Wind, den 
Wald und das Waſſer reden hören. Dann iſt es auch gut, Be⸗ 
ſcheid zu wiſſen in den alten Sagen ſeines Volkes, den Liedern, 
die die Großmutter ſang, und der Weisheit des Urgroßvaters. 
Und wenn noch gar der Krieg von ferne donnert, dann läßt es 
ſich gut zurücktreten von der Schwelle, die Tür verriegeln und 
am Herde am warmen Ofen niederſitzen. Angſtlich, aber auch 
heimelig und lieblich iſt's dann, beim Lampenſchein liebe Ge; 
ſichter — junge und alte — um ſich zu ſehen und bekannte junge 
und alte Stimmen zu hören; — mit ſonderbar heimlichen und 
unheimlichen Fingern zupfen Vergangenheit und Zukunft dann 
an der Behaglichkeit der Gegenwart. Die Augen ſoll man ja nicht 
ſchließen, wenn das fröhliche Geſpräch zu einem Flüſtern herab; 
ſinkt; e8 ift, als fpreche die Zukunft in dem Sturme draußen; — 
den Verftändigften, den Nüchternften kann eine Angſt über; 
fommen, daß er die guten Gefichter nicht mehr im Kreife um 
fich her finden werde, wenn er wieder die Lider aufſchlägt und 
umherſieht. 

Es gibt aber vielerlei Geſichter und Stimmen in der Welt. 
Das merkt man recht, wenn man bedenkt, was alles ſich um ſo 
einen winterlichen oder herbſtlichen Herd niederſetzen und über 
feine Luft und fein Leid, feine Pläne, Sorgen, Taten und Ger 
danken verhandeln kann, In der Bufchmühle nun achten und 
jauchzten feine fröhlichen Kinder, erzählte nicht der brave Vetter 


494 


Michel, wie es ihm den Tag über ergangen war, kam nicht die 
Bafe und die Nachbarin mit dem Spinnrad und faßen nicht Groß; 
vater und Großmutter von ihren Enfeln umgeben. Der Ofen 
glühte, als e8 Abend geworden war, der Tifch war zurechtgerüdt 
und die Gäfte vorhanden. Die Innerſte faß an der einen Seite 
des Dfeng, der Einarm an der anderen, der Meifter Nadebreder 
aber oben am Tiſch. Das alles in den richtigen Farben zu fchil- 
dern, hätte einem kurioſen Maler zu fchaffen gegeben; und für 
ein Ohr, das nicht zu fein gebaut war, mocht’8 auch ein feltfames 
Gaudium fein, das zu belaufchen, was da hinüber und herüber 
geredet, gefchrieen und geflucht wurde. Aus der Bibel wurde nicht 
vorgelefen. Es gab zwar eine Bibel in der alten Sägemühle, 
aber fie war in einer Bodenfammer als Erfaß für einen fehlenden 
Fuß einem wadelnden Schrank untergefchoben. Eine Zeitung 
fam im Jahre 1760 nicht in die Bergftädte Grund, Lautenthal 
und Wildemann, und alfo in die Bufhmühle gar nicht. 

Die großen Welthändel wurden damals von Mund zu Munde 
umgetragen, und vielleicht ftand fich die Welt dabei nicht fchlechter 
als heute, Die Wahrheit kam jedenfalls ebenfo felten zu kurz 
wie heutzutage. 

Der Invalide von Minden war nicht der einzige gewefen in 
diefem Kreife, der den Krieg gefehen, und die Jungfer Rade—⸗ 
breder nicht Die einzige, welche ihr Brot mit einem blutigen Meffer 
gefchnitten hatte. Wanne, die Innerfte, hatte fein zu feines Ohr, 
fie konnte alles anhören und über alles mitlachen, und ihre 
eigenen Worte legte fie gleichfalls nicht auf die Goldwage! Ihre 
helle, Hare Stimme überflang oft das wüſteſte Gelärm diefer 
nächtlichen Mühlgäfte, und als fich einmal zwei derfelben über 
den Tifch in die Haare gerieten, fiel fie dazwifchen und zwar auch 
mit einem Fluch, der die ganze Gefellfchaft zum Lachen brachte 
und den Meifter Nadebreder zu einem abermaligen zärtlichen Lob 
feiner Tochter, 

Sie famen aber nicht allein wegen der Küche und des Kellers 


495 


des Buſchmüllers zu diefer Stunde zuſammen. Sie hatten nicht 
bloß zu bramarbafieren und fich ihrer felbft zu rühmen. Es wurde 
auch verftändig geredet, und von Zeit zu Zeit nahm der. Alte 
einen beifeite und flüfterte mit ihm, oder führte ihn wohl gar vor 
die Stubenfür, um dorten weiter mit ihm zu flüftern, 

Sie hatten ihre Gefchäfte; aber das befte wird's fein, daß 
wir unfere Hand davon laſſen. Es ift über hundert Jahre 
ber, feit fie da im Harz an der Innerſte, im wilden Walde fo 
vergnüglich beifammenfaßen. Verjährt! verjährt! Es ift über 
da8 alles Gras gewachfen, und ebenfo arge Dinge find nachher 
ausgeführt, und ift damit renommiert worden, und die alte, 
uralte Entfehuldigung, daß der ſchwache Menfch eben zufehen 
müſſe, wie er fich durch die böfe Welt bringe, gilt auch heute noch. 

Einmal ging ein Kelch um den Tifch, der freilich verdächtig 
ausſah, als ob er wohl aus einem Sakriſteiſpinde herſtammen 
fönne, und dann war ein Stündlein fpäter von dem Förfter vom 
Iberge die Rede, der im Frühjahr tot, mit einer Kugel hinter dem 
Ohr im Kopfe, im Dickicht am Hübichenftein gefunden worden 
war, Voll und leer ging der Kelch um den Tiſch, und über den 
toten Jägersmann lachte man, und einer meinte, mit Dem Zwerg 
Hübich laſſe ſich ſchlimm ſpaßen. E8 war auch eine Geldſumme 
zwiſchen zwei der Gefellen zu teilen, da gab’8 neuen Hader, den 
der Meifter Radebreder fehlichtete, indem er die zwei Wildemanns⸗ 
gulden und acht Mariengrofchen, um die e8 fich handelte, für fi 
nahm als Unparteiifchen. Dann fam das Schmaltier gebraten 
herein und neues Getränfe, und e8 wurde auf das Wohl des Berg; 
meifters MWiefehahn zu Lautenthal angeftoßen, und wiederum 
hatte einer ein Wort zugugeben und meinte, der möge fich nur auch 
in acht nehmen, denn der Zwerg Hübich fei mächtig unter ber 
Erde wie über der Erde, 

Hiermit ift denn die Unterhaltung auf das Feld der Sage 
übergegangen, und da hätte wohl manch ein gelehrter Herr des 
neunzehnten Jahrhunderts gern den Horcher an der Wand ge; 


496 


fpielt und die Steolde, Halunfen und Vagabunden des Jahres 
1760 reden hören. 

Ellenbogen an Ellenbogen mit dem Kleinen Alraun, dem 
Meifter Nadebreder, faß noch ein Heiner Kerl, der auch einen 
Budel trug, aber auf der anderen Schulter als der Buſchmüller. 
Zwei Stunden von der Harzburg bei Wülperode im Steinfelde 
ift der Klöpperfeug gelegen, und dem Wirt dafelbft war am legten 
Sonntag der Knecht abhanden gefommen, aber feine zwei Kühe 
und feinen mageren Gaul hatte er frepiert im Stalle gefunden. 
Da hatte e8 ein lautes Heulen gegeben um das Vieh und ein 
hitziges Suchen nach dem Knecht, aber der war nicht gefunden 
worden, denn bis in die Bufchmühle war man von Amts wegen 
nicht gefommen. 

Und vor dem Fenfter der Bufchmühle braufte der Wald und 
faufte der Sturmwind; e8 ächzten und knirſchten und frachten 
die hohen Tannenbäume und der Knecht vom Klöpperfrug fagte: 

„Das ift das Wetter, wo Er waltet. Ich follte meinen, alle 
Augenblick müßte er anfprechen und fich vermelden !” 

„Wer?“ fragte Doris ſchrill über die ganze Länge des Tiſches. 

„Der Ritter, Sungfer! der Hadelberg, Jungfer Nadebreder. 
Bei folcher Witterung jagt er am liebſten.“ 

Im Garten des Klöpperfruges liegt ja der wilde Jäger, der 
Nitter von Hadelberg, begraben, und feine Sturmhaube wird 
bis auf den heutigen Tag dafelbft aufbewahrt und gern vom 
Wirt vorgemwiefen; aber die Kumpanei in der Buſchmühle lachte 
doch, und der Korporal Jochen Brand fprach: 

„Kamerad, den wilden Jäger habe ich wohl auch ziehen fehen, 
aber nicht in den Lüften. Es ſtürmte auch jedesmal, wo die Jagd 
zog in Sachfen, Böhmen und Schlefien; fie zieht auch heute wohl, 
und der alte Zieten reitet vor dem Zuge. Wer aber den General 
Seidlig jagen fah mit feinen Küraffieren, dem mwird’8 übel, 
wenn er vom Hadelberg, der Tuturfel und all dem anderen Ge; 
fpenfterplunder hört, Kos Blitz, der König Frige läßt reiten, 


497 


und von den hungarifhen Hufaren der Frau Kaiferin will ich 
auch nichts Defpeftierliches fagen; aber Seinen Ritter Hadelberg 
muß ich felber ziehen fehen, ehe ich glaube, daß der beffer zu Pferde 
figt al8 ein Franzos.“ 

Der Soldat hatte gefprochen, der budelige Knecht vom Klöp; 
perfruge aber hat etwas von einer Großſchnauze gemurmelt, und 
daß er wife, was er wilfe. Die anderen haben einen Moment 
ftodftill gefeffen, denn jeßt hat fich der Sturm im Walde ärger 
denn je hören laffen, und es ift ein Heulen und fonftiger Lärm 
geworden, daß jeder fich gedudt hat, als komme ihm ſchon das 
Dach über den Kopf herunter, oder die ſchwarze Pferdelende durch 
den Schornftein, um jedweden Spötter vom Stuhl und Tifch zu 
fchlagen. Nach dem angſthaften Hinhorchen aber nahm ein eig; 
grauer alter Sünder die Pfeife aus dem Munde und fprach, zu 
dem Einarm gewendet: 

„Wenn Er das Seinige im Felde mit dem Zieten erlebt hat, 
Korporal, fo fei Er dankbar dafür; aber wenn Er in diefer Nacht 
noch) etwas dazu erleben follte, fo fie Er nur ja ftill und halte den 
Mund und fich dazu mit beiden Händen an dem Stuhl, Man hat 
Erempel, daß noch ganz andere Kerle als Er, Korporal Brand, 
dem Herren von Hadelberg Hohn gefprochen und nachgerufen 
haben, und e8 ift ihnen jedesmal übel befommen. Der Budel da 
hat ganz recht; es ift eine Nacht für den wilden Jäger, und viel, 
leicht tut Euch der Ritter den Gefallen, Jochen, und weift Euch, 
daß er doch noch beffer reitet als Seidlig bei Roßbach. Ich rate 
hm aber dann, ihm nicht nachzuzifchen von der Tür aus, wenn 
Er fein Horn über dem Kopfe fehallen hören wird.“ 

„9050 I” lachte der tapfere Kriegsmann, doch die Doris Rade⸗ 
breder gab jeßt auch wieder ihr Wort dazu. 

„Sowohl, Hohe, Kamerad!” rief fie. „Ich rate Ihm auch, 
fich zu hüten vor dem Volk in der Luft, Wald, Feuer und Waffer. 
Ich fage Ihm auch ein Erempel: hat Er etwan nicht erfahren, 
wie die Innerſte da drüben im Lande vor dem Harz fehreien kann? 


493 


Weshalb follte der Ritter Hadelberg nicht fein Jagdhorn in der 
Luft blafen? Jetzo aber laffet den Mann da aus Wülperode mit 
Ruhe verzählen, was fich zulegt mit ihm — den wilden Jäger 
meine ich — begeben hat.“ 

„Dit Pläfter,“ fagte der Soldat lachend. Der Budlige aber 
ließ fich nicht Iange bitten und erzählte halb flüfternd: 

„Einer von des Herzogen von Anhalt Jägerei hat ihn zulest 
verfpürt. Sie haben ein groß Treiben gehalten mit den Wernige; 
rödefchen, und nad dem Treiben haben fie, die Bernburger und 
die Gräflichen, die Nacht duch am Hartenberg in einer Köte 
gelegen, die vornehmen Herren in der Köte, die Gemeinen beim 
Feuer im freien Forft. Der aber, den ich meine, ein Junger vom 
Adel, hat ein hübſch Mädchen gewußt auf einem Förfterhofe, den 
ich kenne, und ich nicht allein in diefer Höflichen hochlöblichen 
Kompagnie. Und er hat fich fehon bei Abenddämmerung weg; 
gefchlichen und ift nach Mitternacht pfeifend duch den Wald 
zurüdgefommen, der Köte zu, allmo die anderen Tagen. Am 
Buchenberge hört er’8 auch einmal von ferne: Hoho, hoho, wod, 
1008, ho hallo! Sie haben ihn jeßo bei einem Doktor — er ift nicht 
bei Sinnen, denn er hat fich in feinem Vergnügen Iuftig gemacht 
über den wilden Jäger in der Luft. Am anderen Morgen hat 
man ihn gefunden mit zerbrochenem Arm und einer Schlag, 
wunde auf der Stirn, und das ift anzufehen geweſen wie von 
einem befchlagenen Pferdefuß. Er ift heute noch nicht wieder 
bei Verftand, und der Hund, den er bei fich gehabt hat, hat fi 
auch den Verftand abgeheult, und fie Haben ihn erfchießen müſſen; 
denn der Hadelberg —“ 

Der Erzähler brach ab und horchte — Fäfebleich. 

„Wod! wod! wod! Hohe, hu, kliff und Haff!” Iachte der 
Korporal noch; aber dann horchte auch er mit allen übrigen ſtarr 
und atemlos in das Gebraufe und Gefaufe draußen vor Nade; 
breders Mühle. Durch das Tofen der Windsbraut klang e8: 
Hoho, wod! wod! und dazu das Uhu der Tuturfel, Es fam 


499 


wie Hundeblaff und dann vom Sturm zerriffen der Klang eines 
Waldhorns, das zum Halali blies! Die Jungfer Doris wollte 
noch einmal den jachen Schreden der Manngleute hellfreifchend 
weglachen; doch da tat's einen Schlag an die Tür, und dann 
wurde mit einem Kolben ein Fenfter eingeftoßen, daß die Glas; 
fcherben fplitternd zwifchen die Gefellfchaft fuhren. Die Öllampe 
erlofch im Windzug, doch von draußen fiel Laternenfchein in die 
Stube, und viele rauhe Stimmen ließen fich nebft den Hunden 
um die Mühle hören. 

„Im Namen Seiner Majeftät, König Georg des Zweiten!" 
tief jet über alle anderen Stimmen eine im Kommandotone weg, 
und eine zweite ſchrie womöglich noch gebieterifcher: „De par 
le Roy — sa Majeste Louis Quinze, de France et de Navarrel“ 
Die Haustür zerfplitterte gleichfalls unter den Büchfenfolben 
der Einlaß Begehrenden, und e8 fam wieder Vernunft in die 
Kumpanei! 

Sie fuhren mit den Icheußlichften Flüchen durcheinander und 
fuchten nach Auswegen und fanden fie allefamt verfperrt und 
befest. Da famen allerlei Waffen — Meffer, Knittel, ja auch) 
Feuergemwehre zum Vorſchein, Doch alles das und die befte Kourage 
dazu fonnte wenig mehr fruchten. Der gute Meifter Nadebreder 
fing mit einem Male an zu fehluchzen und laut zu weinen und 
feßte den Mut feiner Tiebften Gäfte dadurch unter Waſſer. Die 
Störenfriede, die Hausfriedenbrecher hatten doch über beſſere 
Waffen — Jägerbüchſen, Hirſchfänger und Musketen mit auf: 
gepflanzten Bajonetten zu verfügen, und nach einem kurzen 
Geraufe, halb im Dunkel und halb im Laternenfchein — einem 
Tumult, in welchem auch ein weniges Blut floß, war alles in der 
Bufchmühle geordnet nach Wunfche Seiner furfürftlich hannöveri— 
fhen Durchlaucht und großbritannifchen Majeftät Georg Rex 
troß der fränfifchen Beſatzung des Landes, 

Sie fingen fie alle, und eine Stunde fpäter war alles bereit 
zum Abmarfch in Kolonne nach Lautenthal. Die Jungfer Doris 


500 


sing allein ungebunden im Zuge; den übrigen waren fämtlich 
die Hände mit füchtigen Striden auf dem Rüden zufammen; 
gefnebelt. Dem armen einarmigen Korporal Jochen Brand hatte 
man wenigftens ein Seil um das linke Handgelenf gelegt, und 
er marfchierte im gleichen Schritte Höchft verwundert hinter dem 
franzöfifchen Korporal und Leutnant, die das Füfilierer-Detache; 
ment fommandierten, welches fich die Eurfürftlichen Forftmeifter 
und Amtmänner von Wildemann und Lautenthal zu ihrer 
. nächtlichen Erpedition als Beihülfe vom Kommandanten von 
Goslar verfchrieben hatten. Er machte nicht einmal den Verfuch 
auf diefem Marfche, die fremden Kameraden zu der Überzeugung 
zu bringen, daß er beffer fei als die Gefellfehaft, in der man ihn 
gefunden hatte. Auch die Innerfte ging fill durch den ſtürmiſchen 
Wald mit; was fonft noch von den furfürftlichen und Föniglichen 
Jägern, Juſtizleuten und den fremdländifchen Kriegsmännern 
mitgenommen wurde, fluchte bis auf den Meiſter Radebrecker, 
der ſich am wenigſten in das Ding zu finden wußte und ſeinen 
Tränen den freieſten Lauf ließ. Leider hatte man aber ihm auch 
die Hände am fefteften auf dem Budel zuſammengeſchnürt. 


501 


Elftes Kapitel. 


4® die Innerfte wurde fehr fchlimm im Laufe des nächften 
Monats. Gemwaltige Regenftürme brachen mit dem rafenz 
den Winter über das Gebirge herein, und alle Waldwaffer 
ſchwollen auf wie feit Menfchengedenken nicht. Nun tofte die 
Here zwifchen den Felfen und Fichten und verübte Unheil, fo viel 
fie vermochte. In Wildemann und in Lautenthal hatte dag 
Hüttenvolk bei Tag und Nacht zu wehren, daß fie nicht alles 
ruinierte; aber in der Sägemühle zwifchen den beiden Berg; 
ftädten befand fich niemand mehr, der ihr wehren konnte. Da 
trieb fie ihr tolles Spiel nach Herzensluft. Sie nahm das alte 
Rad in Trümmern mit; fie brach in das Haus und bededte alles, 
fo meit fie reichte, mit Kies und Puchſand. Sie zerfraß die Wände 
und warf die Pfoften um; wie eine Tigerfage fpielte fie da mit 
ihrer Beute, 

Nadebreders Mühle ftand für immer verlaffen feit jenem 
Abend, wo die ewige Gerechtigkeit ihre Hand vermittelft der Hände 
der nächften Behörden dranlegte. Nach den hannoverſchen Grün 
röden und den bunten Jacken des Herzogs von Nichelieu bei 
Naht waren noch einmal gar würdige Herren in fihwarzen 
Nöden und amtsmäßigen Perüden bei Tage dagewefen, hatten 
noch einmal eine genaue Unterfuchung des Drtes angeftellt und 
auch mancherlei Dinge zum Kopffchütteln, Aha und Oho gefun⸗ 
den. ‚Nachher mochten Eule, Wolf und Luchs ihr Duartier da 
auffchlagen; das peinliche Gericht kümmerte fich nicht weiter drob. 
Was von den Ruderibus noch für Menfchenbedürfnis zu brauchen 
war, das wurde im nächften Frühjahr und Sommer fo nach und 


s02 


nach abgeholt von Leuten der Umgegend, die altes Eifenwerf 
gebrauchen und dergleichen nicht am rechten Drte kaufen wollten. 


So war es im Harz. Wir aber folgen dem Laufe der Innerſte 
wiederum in die Ebene hinaus, 


Greulich wälzte fi den ganzen November durch die trübe 
Flut in das Hildesheimifche, und manchen Ortes befam mehr 
als ein braver Mann Gelegenheit, fih ein Lied von dem zeit 
genöffifhen Poeten zu verdienen, friegte jedoch, fo viel ung be; 
wußt ift, feines, Auch die Mühle zwiſchen Groß-Förfte und 
Sarftedt hatte ihre liebe Not, fich der böfen, fhlammigen Strudel 
zu erwehren; und was man an Tifchen und Bänken und fonft 
dergleichen auffing an dem Wehr, damit hätte man beinahe einen 
vollfommenen Haushalt einrichten fünnen. 


Aber der junge Meifter Bodenhagen hatte einen eingerichteten 
Haushalt, Er 309 das angeſchwemmte Geräte nur aufs Teodene 
und wartete, daß die richtigen Eigentümer famen und e8 wieder 
abholten. Einmal kam auch eineleere Wiege die Innerfte herunter; 
geſchwommen, aber auch deren bedurften Müller und Müllerin 
nicht; — fie hatten vorforglich eine folche bereits auf dem Haus; 
boden ftehen und wollten fich von der Innerſte am allerwenigften 
eine ſchenken laffen. Am fünfzehnten Dezember fam wieder 
Beſuch — unerwarteter Befuch — ein Gaft, der jet zum dritten 
Male einfehrte und im Februar verfprochen hatte, daß er erft 
zur Taufe wieder erfcheinen wolle; — um aber zu faufen, mußte 
doch erft das Kindlein vorhanden fein und die Wände befchreien ! 
Der Gaft aber fah gerade nicht danach aus, als ob er noch fehr zu 
dergleichen Feftivitäten und fonftigen häuslichen und öffentlichen 
Luſtbarkeiten aufgelegt fei. 


Der Korporal Jochen Brand fam mit wunden Füßen, halb 
verhungert, in Lumpen, daß es ein Abfchred war, und um 
allem die Krone aufjufegen, aus dem Gefängnis zu Wilde; 
mann. 


503 


„Wenn ich feit Torgau unter den Toten in der Grube gez 
legen hätte, fönnte ich mir felber nicht zum größeren Abſcheu fein !“ 
ächzte er, vor dem erftarrten, die Hände zufammenfchlagenden 
jungen Paare in der Mühle auf die Bank fallend. — 

Sie friegten einen guten Schreden durch die Art und Weife, 
wie er fich plößlich in ihrer durch die junge Hausfrau fo zierlich 
und teinlich gehaltenen Stube präfentierte. Der Frau Lieschen 
brach der Faden und fand das Spinnrad ftill, dem Meifter 
Albrecht fiel die Pfeife aus dem Munde, und Laudon, der Spitz⸗ 
hund, hatte noch nie einen Bettelmann fo außer fich und fo giftig 
angebellt als diefen zerfegten Wanderer. 

Mit Bonjour und Serviteur fam der Korporal diesmal nicht 
herein, und Gegenfragen des Befindens wegen legten ihm die 
Müllersleute auch fürs erfte nicht vor. Nachdem fie fich von dem 
erften Schreden erholt hatten, griffen fie um fo mwerftäfiger zu. 
Der Meifter faßte den erfrorenen und verhungerten Kameraden 
unter den Armen und fegte ihn bequemer zurecht. Die junge 
Frau fhürte haftig das Feuer im Dfen, und die alte Stein; 
frufe mit dem Weckauf, dem Nebeldrüder und dem Lerchen- 
trillee fam vor allem anderen fehnell in den Gebrauch, Der 
Korporal machte jedoch heute feine Iuftige Bemerkung darüber. 

Sie famen mit dem legten Schinken vom vorigen Jahre, der 
noch die Hochzeit überlebt hatte, und fie brachten die befte Wurſt 
vom letzten Schweinefchlachten. Dann aber famen fie mit einem 
Kübel warmen Waffers und warmen Tüchern, und dann — 
brachte der Müller Albrecht Bodenhagen feinen einftigen Unter; 
offigier zu Bert in einer warmen Kammer. 

Da lag der Korporal und fehlief vom Mittag bis zum Abend, 
worauf er erwachte und mit matter Stimme dem Meifter be; 
richtete, was er erlebt hatte fett feinem letzten Befuche im Auftrage 
ber Innerſte. 

So ſchwach und hinfällig hatte er in feinem ganzen Leben nicht 
von feinen Abenteuern erzählt, und der Meifter Bodenhagen 


504 


mußte fich oftmals tief zu ihm niederbeugen, um ihn verftehen 
zu fönnen. Wenn wir ihm Wort um Wort folgen wollten, fo 
dürften wie manches zu verzeichnen haben, was die fchmwärzefte 
Zinte gelb machte, und manchen Satz, der von der Leferin 
ficherlich nicht mit Bleiftift oder Stricknadel unterftrichen werden 
würde, auf daß die liebe Freundin ihn auch ohne Mühe auffinde, 
vorauslefe oder ihn gar ausfchreibe, 

Es gab in diefer Zeit wahrhaftig Spitäler die Hülle und 
Fülle auf deutſchem Boden. Der dritte fehlefifche Krieg wußte 
dafür zu forgen und war nicht blöde, zuzugreifen und Kirchen 
und Rathäufer zu nehmen, wo die Räumlichkeiten fonft nicht 
ausreichten. In Torgau und um Torgau her in den DOrtfchaften, 
die nicht in Flammen aufgegangen waren, lag’8 augenblidlich, 
das heiße feit dem dritten November, wieder einmal recht voll, 
und geflucht wurde dort ficherlich mehr als gebetet. Aber der 
Korporal Jochen Brand allein in feiner Eommoden Kammer in 
der Mühle leiftete das Seinige im erfteren vollauf, und den 
Nechtsherren im Harz mochten wohl die Ohren erklingen ob der 
Segensfprüche und ernftgemeinten Herzenswünfche, die ihnen da 
zugefendet wurden. 

Wir begnügen uns mit einem Auszuge der Relation des Korz 
porals; aber wir können einen Eid darauf ablegen, daß fich alles 
ſo verhielt, wie der Einarm dem früheren Kameraden erzählte, 
während die junge Frau drunten das Hauswefen verforgte, 

„sch hätte e8 fchon willen können, wie's mir ergehen würde, 
als mir der Feldfcherer in Minden den Laufpaß ſchrieb,“ feufzte 
der Invalide. „Aber als ich im Februar hier die Kameradfchaft 
grüßte, hing mit der Himmel doch noch voller Geigen, und ich 
meinte, fie müßten mir doch auf mein Heldentum ein weniges 
zugute tun. Proft Mahlzeit! Sch bin nach Haufe gefommen mit 
meinem leeren Ärmel nach Grund, und ich bin richtig zugrunde 
gegangen im Sumpfe, wie e8 Sitte ift feit den Feldzügen der 
Könige in der Bibel und des Generals Julius CAfar. Aber e8 


505 


geſchah mir fchon recht: weshalb ließ ich den Feldfcherer gewähren 
und mir den Stumpf verbinden? weshalb feßte ich mich auf 
Wafferfuppen und fonftige ſchmale Koft? Die Vetternfchaft hat 
mich nafürlich auf die legtgewohnte Verpflegung verwiefen, und 
aus dem Korpotal wurde der Landftreicher im Handumdrehen. 
Der Verwandtfchaft zu Grund möchte ich den Hals umdrehen; 
aber der Meifter Nadebreder ſoll leben: vivat hoch! — Mus; 
fetiee Bodenhagen, e8 wird Ihm fonderbar fein, e8 zu verneh⸗ 
men; aber zu ändern iſt's nicht mehr; Sein Bufchmüller dreht 
fih im Winde, wie der Wind will, und die Raben erluftieren fich 
an ihm nach ihrem Gefallen: wer follte ihm noch ein Vivat 
ausbringen, wenn ich’8 nicht täte — he?! — Philifter über dir! 
fie hatten ung alle feft, und ich faß an feinem Tifche, an feinem 
Dfen, und er traftierte wie ein braver Spisbube. Sie famen 
ung wie der Hadelberg über den Hals und nahmen ung allefamt 
mit und ließen felbft die Doris nicht zurüd, um das Haus zu 
hüten. Paarmweife ging’s zmifchen den Büchfen und Musketen 
ins Prifon, und die Innerfte ging mit! Du, Albrecht, bift immer; 
dar ein Kind gewefen und bleibft eins; aber ich war meinerzeit 
ein Mann und ein Kerl, wenn ich auch jeßo hier liege und alle 
Vier von mir ſtrecke. So machte ich mir wenig daraus und ging 
gutwillig mit den anderen: Gefangenkoft zwifchen vier dichten 
Wänden war immer noch nahrhafter und wärmer als Eicheln, 
Bucheder und Tannenzapfen in freier Luft; aber e8 wäre mir 
doch beinahe zu teuer zu ftehen gefommen, daß ich mich auf meine 
Unſchuld zu fefte verließ. Auf grünem Felde, und wenn ich den 
Feind dreißigtaufend Mann ſtark anmarfchieren fah, habe ich 
gelacht vor Fußvolk, Reitern und Gefhüg und mich auf mein 
Sponton verlaffen; aber vor dem grünen Tisch ift mir das Lachen 
doch bald vergangen, Wenn ich’8 der jungen Frau verzählen 
würde, was da von wegen der Bufchmühle zur Sprache fam, fo 
würde fie ihr Lebtage nicht wieder von Roſen, Goldlad und Vers 
gifmeinnicht träumen. Da Iob’ ich mir ein Kriegsgericht, damit 


506 


geht’8 doch wenigftens raſch: marfch zurüd in Neih und Glied 
oder marfch vor die neun Flintenläufe oder zwifchen die Spieß, 
ruten! So ging's zu Wildemann nicht. Da mußten fie alles zu 
Papier Haben und das meifte doppelt und dreifach, und was wir 
um unfere Sünden und — unfere Unfchuldigfeit da ausgeftanden 
haben, das haben wir an niemandem gefündigt. Die Doris ift 
die einzige gewefen, welche die Nafe hoch behalten hat. Als fie 
ihr mit der Tortur drohten, hat fie gelacht und fich wirklich davon 
weggelacht; vom Zuchthaufe aber hätte fie fich wohl nicht frei; 
gelacht, dazu mußte fie die Referven ins Feuer rufen, und, Mus; 
fetiee Bodenhagen, bei Gott — fie fliegt frei und kann Ihm 
jeden Augenblid die Hand auf die Türklinte legen. Der anderen 
hängen fech8 wie die Krammetsoögel im Dohnenftiege, und der 
Meifter Radebreder ald Galgenmajor in der Mitte, Ein halb 
Dugend haben fie in Eifen nach Celle transportieret; zwei haben 
fie noch figen im Gewahrfam, mich haben fie mit einem lateini; 
[hen Spruch laufen laffen, und — Seine Doris — fiße Er ftill, 
Kamerad! — die Innerſte hat fich felber ranzionieret. Am Tage 
vor dem Urtelfpruch, oder vielmehr in der ftihdunflen Winter; 
nacht, ift fie an der Feuerleiter am Turm heruntergeftiegen; und 
wenn ich meine Ahnung habe, wer von der Fägerfchaft zu Lauten⸗ 
thal ihr die Leiter ans Fenfter gelehnt und ihr die Feile zuge; 
ſchoben hat, fo will ich doch lieber auch noch den legten Arm dran; 
geben, als hier gegen Ritter und Fräulein den Angeber fpielen. 
In der Bufhmühle haben wir leider Gottes auch von dir ge; 
fprochen, Bodenhagen, und fo wahr ich wirklich und ohne Lüge 
meinerzeit der wilde Brand gewefen, fo wollt’ ich um dein arm, 
lieb, jung Weib, du wäreft ficher vor der Innerfte, Musfetier 
Albrecht Bodenhagen!“ — — 

Der Müller faß in feinem reinlichen weißen Müllerhabit am 
Bette des guten Kameraden, des tapferen und ehrlichen Soldaten, 
der fich aus aller Verruchtheit und Verwirrung der Zeiten folch 
ein braves, frei und fühnes Herze mitgebracht hatte nach Grund 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 33d 
⸗ 507 


in den Bettelftand. Und. der Müller fah wahrlich nicht aus, als 
ob man ihn jemals den wilden Bodenhagen genannt haben: 
fünne, Was Vater und Mutter nach feiner Heimkehr aus dem 
Kriege von dem alten Ydam an ihm übrig gelaffen haften, das 
hatte Jungfer Lieschen Papenberg von Papenbergs Hofe in 
Groß-Förfte geündlih ihm vom Rode abgebürftet. 

Nachdem der Korporal erzählt hatte, fprach oder ſtotterte der 
Musketier feinerfeits ein Langes und Breites über die Innerfte, 
die Buſchmühle, Nadebreders Tochter, Sungfer Doris Radebreder, 
und der Friegss, weg; und weltmüde Kamerad hörte ihn im 
Halbfchlafe an und murrte nur von Zeit zu Zeit ein beifällig 
Wort, Aber trotz Schlaf und Mattigkeit hatte der Müller Boden, 
hagen hier einen Beichtvater, wie er feinen gleichen weder- im 
Dom, noch zu Sankt Godehard und Sankt Michael in Hildes- 
heim gefunden haben würde, Mit beiden Armen umfaßte er 
zuleßt den freuen Freund und feinen waderen Unteroffizier 
und tief: 

„Jochen, wenn einer, feit er in der Welt ift, im Traume geht, 
fo bin ich das, Wenn einer fich nie zu ſchicken gewußt hat, fo bin 
ich’8, Was mein feliger Here Vater aus dir gemacht haben würde, 
kann ich nicht fagen; aus mir hat er das gemacht, was ich ges 
wefen bin. Aber mit dir Hab’ ich Hoch in mehr als einer Batallle 
und Scharmüßel Schulter an Schulter geftanden, und du kannſt 
mir das Teftimonium geben, Daß ich getan habe, was die anderen 
taten, und ein Mehreres prätendiert felbft unfer Herrgott im 
Himmel nicht von unfereinem,. Du bift mein Kriegsbruder 
und Korporal geweſen und haft auch das Deinige an mir ges 
tan —“ 

Hier Iachte der Mann im Bette trotz ſeiner Schwachheit; 
doch ber andere fuhr fort; 

„Und der Oberſt Eolignon hat doch zu Hunderten und Taufenz 
ben Bolt vom Dfen, von der Straße, von der Schulbanf, dem 
Handwerk und dem Schreibetifch weggeholt, was leichter wog 


508 


an 


als ich. Ach, Jochen Brand, wie viele Menfchen gehen auf Erben, 
die nichts von fich willen, und denen es erft die anderen fagen 
müſſen, was fie find. Und wenn die Zeiten ftill find, dann erfahren 
fie’8 wohl niemals und werden achtzig Jahre und bleiben, was 
fie waren, als fie zuerft ins Licht gudten. Aber anjeßo bei Krieg, 
Blut und Brand haben die, welche in die Welt kommen wie aus 
einem Schmiedeofen, gut lachen und die Nafen rümpfen. Ich 
aber wollte, mein Lieschen und ich, wir fäßen auf einer wüſten 
Inſel und wären mit uns allein und fein Zugang zu uns bis 
an unſer feliges Ende.” 

„Stoß Waffer rundum! Aber fchreien dürfte e8 nicht, wie die 
Innerſte fohreien kann,“ murmelte der Korporal, und der Müller 
fagte nur: 
ma 

Dann hörte man den leichten Tritt der jungen Frau frepps 
aufwärts fommen, und der Korporal brummte: 

„Jetzt laß mich erft ausfchlafen. Drei Tage brauche ich dazu. 
Schaff aber ven Laudon ab — den Mylord Sadville meine ich; 
er hält dir die Innerſte doch nicht vom Leibe mit feinem Gefläff. 
Heut weiß ich noch nicht, was. oben und was unten an mir ift; 
aber komme ich wieder auf die, Beine, fo will ich dir zum Danf 
für Quartier und Menage und um des lieben Herzens deiner 
Frau willen den Hofhund fpielen. An die Kette braucht ihr mich 
gerade nicht zu legen, denn davon hab’ ich fürs erfte genug gehabt 
im Turme gu Wildemann,” 


33* 


509 


Zwölftes Kapitel. 


m fünfzehnten Dezember war der Korporal in die Mühle 

eingerüdt, aber am zwanzigſten erft fand er wieder auf 

den Füßen, ohne fih an die Wand lehnen zu müſſen. Auch das 

hatte er einzig und allein dem Duartier zu danken; denn felten 

war ein Föniglich preußifcher einarmiger Unteroffizier fo trefflich 

verpflegt worden wie der brave Jochen Brand aus Grund von 
dem Müller Bodenhagen und feiner Frau Liefe. 

„sch wollte, mein Mütterchen könnte vom Himmel aus 
obfervieren, was Sie, junge Frau, an ihrem Jungen tut,” fagte 
der Kriegsmann jeden Tag mwenigftens ein halb Dutzend Male 
mit möglichft fefter und mannhafter Stimme „Wiffen aber 
möchte ich, was folch ein armer Bettelmann Ihr dafür wieder 
zugute fun fan, Frau Bodenhagen?” 

„Vorlieb foll Er nehmen, Korporal,” fagte dann die Müllerin. 
„Warte Er aber nur bis zum heiligen Chrift, da kann Er dann 
beim Kuchenbaden helfen, und wenn Er da Seine Sade fo gut 
macht wie bei Minden oder fonftivo, fo kann Er auch fonft noch 
Sein blaues Wunder erleben.” 

„Diefes glaube ich, ohne daß Sie es beſchwört, Lieschen; 
denn daß man eine Tanne aus dem Holge holt und mit Lichtern 
pußt und Weihnachten feiert, das ift mir durch den Krieg, als 
ob s vor taufend Jahren Mode gewefen wäre. Der König und 
die Kaiferin und die Franzofen, Nuffen und Schweden haben 
ſolches Pläſier gründlich abgefchafft, und felbft in den Winter, 
quartieren hat man feine Zeit dazu gehabt. Wenn mir aber mein 
leerer Armel es zuwege bringt, daß ich noch einmal die Feſttags⸗ 
gloden läuten Höre wie vordem, fo fehreibe ich einen Brief an 


510 


den franzöfifchen König Louis und bedanke mich noch gar ſchön 
für feine fafermentfche Kanonenfugel bei Minden. Übrigens 
ändert fich das Wetter wiederum. Der nichtsnugige Stummel 
brennt heute wieder zehnmal ärger als geftern.” — — 

Das Wetter änderte fich zum Froft, und wir haben zum 
hundertfien Mal ein Wort über die Innerfte zu fagen. 

Wenn nämlich der junge Müller vorhin meinte, daß er am 
liebften mit feiner jungen Frau von aller Welt abgefchnitten auf 
einer Infel im Waffer wohnen möchte, fo war fein Wunfch zu 
zwei Dritteln in Erfüllung gegangen, Die Innerfte ftand ihm 
auf zwei Seiten um das Haus, trat auf den Hof und über; 
ſchwemmte den Garten bis unter die Fenfter feiner Mühle. Noch 
eine Spanne höher, und fie flieg ihm in das Haus und machte 
ihm einen Befuch in der Stube, Seinem Wunfche zum Troß hatte 
der Meifter Albrecht große Sorge darob. 

Gegen Groß-Förfte zu war alles ein gelber Spiegel; in der 
Stadt Sarftedt war die Not ebenfo groß wie das Waffer, und in 
der Stadt Hannover, wo die Ihme und die Leine das Jhrige 
dazu taten, war, wie das landläufige und, genau befehen, fehr 
fchlimme Wort fagt, — Holland in Not! 

Den ganzen Zwanzigften über wartete die Hausgenoffenichaft 
mit Spannung auf der Schwelle die weitere Bosheit der Innerſte 
ab. Meifter Albrecht und feine beiden Knappen — er hatte fich 
jest zwei Gefellen ins Gewerk getan — legten alle Biertelftunde den 
Zollftod anz aber gegen Abend erwies fich des invaliden Gaftes 
Armſtumpf als ein Hauptfächlicher Prophet. Er wurde bitter kalt, 
und das Waſſer fiel. 

Die Innerſte zog fich wieder zurüd von dem Haufe, aus den 
Stallungen, vom Hofe und aus dem Garten gegen ihr gewohntes 
Bett. Auch die Wege nach der Stadt und den umliegenden Dör⸗ 
fern wurden allgemach wieder frei. In der Nacht vom Zwanzig⸗ 
ften auf den Einundzwanzigſten legte fich eine leichte Eisdede über 
den Fluß, und am Dreiundzswanzigften trug das Eis, wenn nicht 


511 


einen ausgewachfenen Mann, fo doch ein Kind. Es kam auch ein 
Kind, ein Heines Mädchen von Groß-Förſte herüber, beftellte 
einen fchönen Gruß und brachte die Borfchaft, daß die Leute von 
Papenbergs Hofe gern am erften Fefttage nach der Kirche zur 
Weihnachtsfeier fommen wollten; fonften aber follte das junge 
Ehepaar den heiligen Abend allein und für fich nach feinem 
Pläſier und Guſto feiern. 

„Wir find zu drei mit den Mägden und den Gefellen ung auch 
genug, Jochen,“ fagte der Müller, und der Korporal meinte: 
„Mir iſt's recht.“ 

Es war aber doch ein eigen Ding dieſe ganzen Tage durch mit 
dem Korporal. Er war nicht als der Alte vom Bette aufgeſtanden. 
Es „murxte“ etwas in ihm; was das ſei, wußte er freilich ſelber 
nicht. Still und nachdenklich, doch nicht unfröhlich fchlich er um⸗ 
ber, und am Dreiundgwanzigften holte er fich des feligen Meifter 
Chriftians große Bilderbibel vom Schranfe und faß faft den 
ganzen Tag darüber. 

Die junge Frau guckte ihm von Zeit zu Zeit über die Schulter, 
und dann fah er jedesmal ihe mit einem Kopffchütteln in die 
Haren, freundlichen Augen, und mehrmals fagte er auch ganz 
weihmütig: „Sp mwunderlich kurios ift mir noch nie zumute 
geweſen, Frau.“ 

„Das macht das Ungewohnte, Herr Kamerad,“ meinte die 
Müllerin. „Er hat diealten Bilder eben lange nicht umgeblättert. 
Wenn ich Zeit hätte, wollte ich mich wohl zu Ihm feren und mit 
Ihm die Hirten und Engel und die Propheten und die ausländi; 
fchen Kamele und Palmenbäume befehen. Als Mädchen hab’ ich 
mir in diefen Tagen immer ein Stündchen dazu übergeſpart. 
Es ift fo heimelig, wenn’s draußen fo Falt ift und in der Stube fo 
warm und der Kuchen durchs ganze Haus riecht. Es gehört alles 
zueinander und —“ 

„Sakerment!“ fehrie der Korporal, auf das alte Bilderbuch) 
ſchlagend, „und kein Menfch ſollt's für möglich halten, daß ber 


512 


Broglio heute noch in Kaffel fich verfchanzt halt! O Frau Liefe, 
Sie kann doch nicht fo darüber reden wie ich, der ich verſtümmelt 
aus dem Kriegsleben komme und alle großen Bataillen des 
Königs Friß und des Prinzen Ferdinand mitgemacht habe! Sie 
follte e8 probiert Haben im Spital zu Minden und dann unter 
der Berternfchaft zu Grund und dann in Nadebreders Mühle 
und zu guter Lebt im Prifon zu Wildemann und dann fich plöglich 
finden hier in der Friedlichfeit und GStilligkeit. Kos Blis, will 
Sie Ihr Tieblich Heimmefen beffer fennen als ich? Eins fage ich 
She: Feiner foll mir dran rühren — beim lebendigen Gott und 
fo wahr ich Jochen Brand heiße!“ 

Die junge Frau war fehr erfchredt vor der ungebührlichen 
Aufregung und dem Fluhen und Räfonnieren ihres Gaftes 
zurüdgefahren. 

„Nehme Sie es nicht übel, Lieschen. Ich wollte, ich könnte 
deutlicher fagen, was Ich im Sinn und Herzen habe,“ feufste der 
Korporal, „Aber da draußen Albrecht hat recht, und im diefer 
Minute abfolvier’ ich ihn ganz und gar, und er foll das Seinige 
behalten; niemand — nicht Mann und Weib foll ihn drin ver; 
ftören, fo lange ich’8 hindern kann.“ 

„Wie meint Er denn das, Korporal?” fragte die junge Frau 
ſcheu; doch plöglich griff fie fich an die Stirn und rief, ganz bleich 
werdend: „Jeſus, Jeſus — e8 ift ja wahr! Das Jahr geht zu 
Ende, und fie hat ihren Willen nicht gekriegt!“ 

Jetzt gibt Sie mir eine Nuß zum Knaden, Frau Meifterin !“ 
„Die Innerfte meine ich, Korporal Brand! An dem Tage, als 
die Mutter geftorben ift, hat fie gefchrieen, und diesmal habe 
auch ich mit meinen Ohren fie fchreien hören, fo wahr ich lebe!“ 

„Pu—u—uh!“ machte der Korporal und verfuchte noch eins 
mal fo auszufehen wie in früheren Tagen, wo er den Hut am 
liebften fchief auf dem Ohr trug. Es kam aber eine Vifage dabei 
heraus, die allzu fehr nach jenem Dftoberabend in Radebreders 
Mühle ausfah, um vergnüglich fein zu können. 


513 


„Mache Sie fich felber feine Dummheiten weis,” brummte er 
und fügte fonderbar mürrifch hinzu: „Übrigens aber, Frau 
Liefe, ift ein ſchwarzes Huhn im Notfall immer noch zu be; 
ſchaffen.“ 

„Ich kriege auch meinen Albrecht noch dran!“ rief die Mülle⸗ 
tin; dann aber wurde fie von einer eiligen Magd abgerufen, und 
der Korporal war wieder allein. 

„Bunderlich, wunderlich, wunderlich !” murmelte er, eine der 
Bildtafeln in der großen Bibel umfchlagend. „Sch habe aber mal 
im Lager bei Krefeld verzählen hören, daß auch der König Fride⸗ 
ricus folcherlei Anwandlungen habe, Na, vor Hochkirch hatte er 
aber feine dergleichen; alfo verlaffen Fann man ſich auch darauf 
nicht." — — 

Am Vierundswanzigften nachmittags drei Uhr war weißer 
Sand frifch geftreut in der Stube, und der Korporal wagte kaum 
noch aufzutreten, al8 er die Blumentöpfe im Fenfter ſcharf in 
Keihe und Glied rüdte. Als die Dammerung fam, ging ihm 
auch die Pfeife aus, und um fünf Uhr faß er ftill mit dem Müller 
— feinem früheren Musfetier — auf der Dfenbanf und blidte 
durch die Dämmerung mit einer Art von dreolligem Reſpekt auf 
die noch dunkle Weihnachtstanne, an deren Aufputz er felber mit 
geholfen hatte. Die junge Fran vernahm man in der Küche, und 
jeßt legte der Einarm dem Kameraden faft zärtlich die Hand aufs 
Knie und fagte: 

„Kerl, ich habe oft meinen Jokus an dir gehabt, aber diesmal 
iſt's mir Ernft mir die! Es ift eine Kriegswelt, und ohne deines; 
gleichen hätten wir anderen uns ſchon längft untereinander auf; 
gefreffen. Deshalb gibt's von deinesgleichen am mehrften auf 
Erden — der Herrgott hat’8 fo eingerichtet, und er muß Befcheid 
wiffen. Und weil dieſes fo ift, fo bleib bei deiner Natur, halte dein 
Haus rein, fei vergnügt mit deinem Meibe und kümmere dich 
nicht um Dinge, in die du hineingeraten bift wie der Efel in die 
Dragsnerremonte, Augenblidlich aber habe ich dir wie mir nichts 


514 


weiter zu wünfchen, als daß der Chriftabend zu Ende gehe, wie er 
jeßo angefangen hat.” 

Vergnügte Weihnachten! Eine Stunde fpäter war die ganze 
Bewohnerfchaft der Mühle um die lichterglängende Tanne ver; 
fammelt, und der Korporal Brand hielt der Abwechfelung wegen 
den leeren Armel mit den Zähnen; er hatte fih mit dem Auf; 
ſchlage die Augen gemifcht, und da er feit feinem Auferftehen 
vom Bett ganz und gar in einem Koftüm feines Kameraden und 
Wirtes ftak, fo wußte er mit den Knöpfen daran noch nicht fo gut 
Beſcheid wie mit jenem einzelnen Knopf, der ihm im Dftober von 
der Montur Seiner Majeftät des Königs Friedrich von Preußen 
allein übrig geblieben war. 


Arm in Arm ftanden Müller und Müllerin vor dem Tifch mit 
dem Tannenbaume, und ein jeder der zwei Mühlfnappen hatte 
feinen Arm um die Hüfte einer der beiden kichernden Mägde der 
Frau Lieschen Bodenhagen gelegt. Daß der Marfchall Broglio 
zu Kaffel lag und die Vorpoften der Franzofen über Göttingen 
und Einbed und bis in den Harz hineinftanden, kümmerte feinen 
in der Mühle bei Sarftedt an der Innerſte. Sie fahen die Licht; 
lein und goldenen Äpfel funfeln, fie fnadten ihre Nüffe wie die 
Eichhörnchen im Nefte, und dann faßen fie und fahen die Lichter 
an ihrem Weihnachtsbaum niederbrennen, und die drei Weiber 
fangen ein Weihnachtslied, in das die Mannsleute hinter ihren 
Tonpfeifen hineinfummten. 

„Die Welt ift im Krieg; wir aber gebrauchen die gute Stunde, 
Frau Meifterin!” rief der Korporal fröhlich. 

„Das fage ich auch,” fprach die Frau Meifterin. 

„Für das, was fonft kommen kann, haben wir ja auch die vier 
Büchfen geladen an der Wand, Jochen,” meinte der Müller. 
„Im vorigen Monat, als du ruhig im Turm lagft und der Frans 
508 bei Einbeck fich verfchanzte, ift das Gefindel oft genug an der 
Tür geweſen. Die Schereret reißt nicht ab,” 


515 


Die beiden Mühlfnappen gaben auch ihr Wort dazu; das letzte 
Lichtlein an der Tanne brannte herunter. 

„Heidi!“ rief der Korporal; und der Müllerin Heine Blech⸗ 
lampe lieferte wieder das einzige Licht für die Stube und Kum⸗ 
panei, Nun fohnurrten die Spinnräder wieder, die Männer 
ſchmauchten und tranfen und fprachen von allerlei Abenteuern, die 
fie erlebt hatten, jedoch mit „Modeftitär”, und daß auch das 
Frauenzimmer fein Behagen dran haben konnte. 

Um neun Uhr fing e8 an zu fehneien, und um zehn Uhr fiel 
der Schnee fehr dicht. Fluß und Land wurden von einer weißen 
reinlichen Dede überzogen, und nur Geſträuch und Gartenzaum, 
fowie das Gebüfh am jenfeitigen Ufer der Innerſte hoben fich 
ſchwaͤrzlich im Schneelicht ab. Vom Zieten im Bufch famen die 
Männer auf ein ander behend Gefchöpf im Bufch, und wie man 
das in Schlingen in der Hede fängt und fich einen billigen Braten 
im Schlafe fchenfen läßt. Grinfend Tegte der Meifter Albrecht den 
Finger auf den Mund und rief: 

„Halter die Mäuler, wir Haben fonft morgen benebft der Ver; 
wandtſchaft die ganze Sarftedter Förfterei Hier, um ung in die 
Töpfe zu riechen. Sie wilfen immer noch einen Hafen von einem 
Hammelviertel zu unterfcheiden.” 

Dabei ftand er auf, ging zum Fenfter, öffnete e8 und ſchob 
den Kopf hinaus, Kein Lüftchen rührte fich; das weiße Gewimmel 
fam wie im leichten Spiel vom dunklen Firmament herab, aber 
ziemlich hell ift e8 die ganze Nacht durch geblieben, denn der Voll; 
mond hat nicht nur im Kalender, fondern wirklich Hinter dem 
Gewölk geftanden. 

„Wenn das fo weiter geht, Lieschen, wie's angefangen hat, fo 
werden Vater und Mutter morgen auf ihrem Wege hierher die 
Beine hübſch Hoch heben müſſen. Wir wollen aber eine Wacht 
ftellen, daß fie fich nicht einfallen Taffen, fehon dem Eis zu frauen. 
Die Innerſte —“ 

Er brachte das, was er noch ſagen wollte, nicht heraus. Hell 


516 


und Har — ja unendlich melsdifch Hang ein Ruf durch die Nacht 
über die Innerſte her — ein fingender harzifcher Bergruf, und in 
demfelben Moment bliste und frachte ein Schuß aus dem Weis 
denbufch, und die Kugel fireifte dem Meifter Bodenhagen die 
Stirn, fuhr durch die Weihnachtstanne und fehlug in die Stuben; 
wand, Zu gleicher Zeit erfchütterten heftige Schläge die Tür der 
Mühle, und ein zweiter Schuß fehien in das Türfchloß abgefeuert 
worden zu fein. Die nächtlichen Angreifer waren im Haufe, ehe 
fich ein einziger in der Stube von dem plößlichen Schreden auf; 
gerafft hatte. Durch ein greulich Fluchen jauchzte die helle 
Stimme wieder, 

„Jeſus Chriftus, die Innerfte!” jammerte die Müllerin, und 
die beiden Mägde drüdten ſich mit Zetergefchrei in den Winkel. 
Bon allen zuerft hatte diesmal der Müller feine Sinne beifam; 
men. Schon hatte er eine der Flinten, von denen er vorhin 
ſprach, vom Nagel geriffen. 

„Die Marodebrüder! Db’8 mir geahnt hat?! Hang, Fris, 
die Büchfen herunter — Lieschen, unter die Bank — Courage!” 

„Courage!“ fchrie auch der Korporal, „Das Gefindel feg’ ich 
mit der Linfen vom Tiſch. Kriecht unter, Weibervolk — da find 
fie, und e8 ift auch nur ein Weihnachtsbefuch !“ 

Er hatte ein Handbeil aus der Ecke aufgegriffen und frat gegen 
die Stubentür: „Bon soir, messieurs!” 

Es waren drei Kerle, die in die Stube drangen; — Gefindel, 
wie e8 fich zwifchen den Heeren umtrieb, und wie der Bauer jener 
zeit e8 zu feinem Schreden und Schauder nur allzu gut feit 
Sahren kannte! Der Rod des fünfzehnten Ludwig neben der 
zerfeßten Uniform König Friedrichs des Zweiten ! Um den dritten 
Galgenſtrick aber zu foftümieren, mußte die ganze Neichsarmee 
Mann für Mann einen Fesen hergegeben haben, und e8 wäre 
wahrlich ein Kunftftüd gewefen, aus feiner äußeren Erfcheinung 
her beftimmet abzunehmen, welchem Heren er zuletzt falich ge; 
ſchworen hatte, 


517 


Was nun in der Mühle vorging, läßt fich ſchwer nacheinander 
erzählen. Befinnen und Bedenken war nicht am Drt. Der 
Meifter Müller, den fie einft den tollen Bodenhagen nannten, 
ſchoß zuerſt, und er fraf auch. Die Eindringlinge fenerten ihre 
Piftolen ab. 

„Sacre nom de dieu! En avant les autres!” 

Der Korporal Brand ſchlug für den Musfetier Bodenhagen 
zu, wie er vordem auf ihn gehauen hatte; und ob den beiden 
guten Knappen Hans und Frig würde dem Oberft Colignon das 
Waffer im Munde zufammengelaufen fein. E8 wurde ein Raufen, 
Heulen, Safermentieren und Üchzen im Dunfeln, denn der Tiſch 
flürgte um mit der Lampe und der Weihnachtstanne, und die 
weißen Müllerhabiter Hatten jeßo ihr Gutes; e8 war ihretwegen 
feine Not, daß Meifter, Gefell und Gaft aufeinander fehlugen. 
Der Schnee leuchtete ihnen aber auch von draußen. 

Sie trieben die Räuber bis auf die, welche zu Boden lagen, in 
den Hausgang zurüd und dann auch wieder aus dem Haufe hin; 
aus, Sie fonnten nur noch die Kolben gebrauchen, aber fie ges 
brauchten fie trefflich; daß die Not fie beten lehrte, fonnte man 
gerade nicht behaupten. Die Mühle wehrte fich tapfer, und die 
Srauenftimme, die fo melodifch das Zeichen zum Angriff gegeben 
hatte und immer von Zeit zu Zeit von neuem in den Lärm des 
Überfalls Hang, wurde immer greller, Freifchender, zorniger, 
giftiger! Die drei armen Weiber, die im Winkel am Dfen in ein 
sitternd Bündel zuſammengeduckt Enieten, vergingen am meiften 
vor diefer Stimme in Schauder und Ohnmacht. Seltfamermeife 
hatte nächft den Frauen der Korporal Jochen das feinfte Ohr für 
fie; der junge Meifter Albrecht Bodenhagen, fein Haus und Weib 
verteidigend, achtete kaum darauf. 

Es ging fharf — ſcharf um das Heimmefen des Müllers an 
ber Innerſte. Frig und Ferdinand, Soubife und Broglio waren 
mit ihren Armaden vertreten unter den dunklen Geftalten, die 
im Schneegeftöber aus dem Weidengebüfh am Fluß vorhufchten, 


518 


über das Eis glitten und über den Gartenzaun Fletterten, um 
die Mühle und ihre Bewohner in ihre Gewalt zu friegen; aber 
der wilde Bodenhagen und fein Haus hielten fich gut. Wenn es 
ein Glück war, daß die alte Frau diefe Nacht nicht erlebte, fo 
war e8 doch fohade, daß der alte Meifter Chriftian fein Söhnchen 
diesmal nicht bei der Arbeit fehen konnte. 

Sie verrammelten die eingeftoßene Pforte, fie Inden und 
[hoffen aus den Fenftern. Sie trafen dann und wann auch, und 
der einarmige Korporal meinte: 

„Wenn fie uns das Dach nicht über den Köpfen anfteden, 
halten wir ung bei Gott, bis Bürgermeifter und Rat aus Sar⸗ 
ftedt zum Suffurs fommen! Courage! Courage! — Uh, wer 
ftopft die MWeiberfehle da?“ 

Die lebte Frage hatte er zwifchen den Zähnen gemurmelt. 
Dicht unter dem zerfrümmerten Fenfter, an dem er mit feinem 
Beile ftand, war der fchrille Schrei erflungen, und wieder wurden 
zwei oder drei Schüffe in die Stube hinein abgefeuert. Ein 
durcchdringender Jammerlaut aus dem Ofenwinkel folgte fofort, 
und der eine der Knappen fchoß zurüd aus dem Fenfter und 
fraf, Die dunklen Geftalten im Garten Hufchten durcheinander 
und fluchten deutſch und franzöfifh. Das Weib rief ſcharf und 
ſpöttiſch drein; und noch einmal ftürzten fich die Angreifer auf 
die zerfrümmerte Haustür, deren Verrammelung von dem 
Meifter Albrecht und feinem zweiten Gefellen in Verzweiflung 
verteidigt wurde. 

„Hans Lages, willft du mit? In dem Dampf hier vergeht 
einem doch der Atem; — ich hab's mir verfprochen, und fo lang 
ich lebe, kriegt die Innerſte ihren Willen nicht!“ 

„Hops über, Here Unteroffizier, wir fpringen ihnen auf den 
Buckel!“ rief der tapfere Mühlknappe, und fie ſchwangen fich ein 
jeder aus einem der beiden Fenfter und fielen den nächtlichen 
Näubern wirklich in den Rüden, der eine mit feiner Handart, 
der andere mit dem Kolben. Wie nicht ganz felten in dergleichen 


519 


Fällen übertraf der Erfolg die Erwartung. Der Schnee fiel 
ftärfer denn je; die Marodebrüder hatten mehr als einen guten 
Mann verloren, und eine Panik fiel über fie. Sie wichen zurüd 
und gerieten, wie das dann gewöhnlich zu gefchehen pflegt, ing 
Saufen, Auch der Meifter Bodenhagen und der Knappe Frik 
fprangen jetzt hervor aus ihrer Verſchanzung, und es wurde eine 
Verfolgung durch den Garten gegen die Innerfte zu. Noch ein 
kurzes Ringen fand auf dem Windeife des übergefretenen Fluffes 
ftatt, und da ertönte zum legten Male, aber auch am markdurch⸗ 
dringendften, der fchlimme gefpenftifche Schrei: es ging ein 
Knattern durch das Eis — das Waffer befam doch feinen Willen 
in diefem Jahre Siebenzehnhundertfechzig: unter dem Eife weg 
trieb eine Weiberleiche abwärts gegen die Stadt Sarftedt zu, 
ift jedoch erft im März des nächften Jahres, als der Tauwind blieg, 
zutage gefommen. 

In Sarftedt wie in Groß⸗Förſte hatte man nun aber allge; 
mad) die Überzeugung gewonnen, daß das Flintenz und Büchfens 
feuer mitten in der Nacht irgendeinen Grund habe und zwar einen 
bedenflihen. Im Dorfe 309 man die Sturmglode, und von 
der Stadt her famen Bürgermeifter und Bürgerfchaft wirklich 
sum Suffurs, 

Man kam mit Laternen und Fadeln und allen möglichen Ges 
waffen und verwunderte ſich über die Net, in welcher die Mühle 
des Meifters Bodenhagen die Weihnachten hatte feiern müſſen. 
Drei Leichen und fünf mehr oder weniger ſchwer Verwundete 
ließen die Marodeurs vor der Mühle zurüd, und einen toten 
Raubvogel hob man im Hausgange auf, Die männlichen Bes 
wohner der Mühle biuteten ſämtlich, doch nur aus leichten Wun⸗ 
ben, big leider auf den tapferen Korporal Jochen Brand, den man 
am Rande der Innerfte unter dem Gartenzaun bewußtlos in 
feinem Blute liegend fand, Ein Mefferftoß hatte ihn in die Seite 
getroffen über der rechten Hüfte, und er Fam nur noch einmal zum 
Bewußtfein und zwar am folgenden Morgen, als in Dorf und 


520 


Stadt die Gloden zur Weihnachtsfrühfieche Täuteten und das 
Singen duch die Chriftenwelt anhub: dies est laetitiae, oder 
zu deutich: Der Tag, der ift fo freudenreich, wie es feit vielen, 
vielen hundert Jahren gefungen wird in den Kirchen. 


Da fprach der Korporal mit ſchwacher Stimme zu dem jungen 
Müller: 

„gebe wohl, adjes, Musketier Bodenhagen; du haft beine 
Sache gut gemacht, und ich Habe meine Luft an dir gehabt. Halte 
dich fernerhin gut und halte dein lieb Weib gut. Es war die 
Radebreckerſche; — es war — unfere Doris, mit der ich mich auf 
dem Eife zerrte! Sie ift immer fo gut gewefen mie ihre Wort; 
aber den Stoß hab’ ich doch eigentlich nicht von ihr verdient, denn 
ich war der einzige von allen Gäften der Buſchmühle, der's gut 
mit ihr meinte — beffer als nach ihren Meriten. Wer kann aber 
wider das wilde Waffer, und wo follte die arme Kreatur hin aus 
dem Turm in Wildemann? Ich bin zu dir und deiner Liefe ges 
fommen, aber für fie war feine Zuflucht als die Lagerfamerad; 
fchaft, der Krieg mit der Welt bis aufs Meffer und was dran 
hängt an dem Kriege! Adjes, Albrecht, ich mache mir nichts 
draus, und ich glaube, fie macht fich auch nichts draus, daß es 
zu Ende iſt.“ 

Der Müller weinte, und als dann die Müllerin in die Kammer 
fam, weinte fie gleichfalls, und beide mit vollem Rechte. 


„dies, Frau Liefe,” fagte der Korporal noch ſchwächer als 
zuvor. „Bor der Innerſte braucht Sie feine Furcht mehr zu 
haben, junge Franz fie hat ihr ſchwarz Huhn. Aber mit meiner 
Gevatterfchaft iſt's auch nichts; — e8 war kurios, aber ich habe 
mich die legten Tage über gar nicht mehr drauf gefreut. Gott 
heif’ euch durch die Zeit; — König Frigen geht's auch hart — 
vivat Fridericeus! Durch kommt er doch, und Friede wird auch; 
— ich habe den meinigen heute ſchon verfiegelt und bin ganz im 
Keinen. Ein unnüser invalider Vagabond war ich doch, und 


521 


der befte Kamerad wäre auf die Länge meiner überbräffig ger 
worden.” 

Durch fein Schluchzen wollte der Müller dem Sterbenden 
noch ein Wort dreinreden in fein letztes Wort; doch es iſt immer 
ein bedenflih Ding, das Dreinreden in ein letztes Wort. 

Wie gefagt, auch diefe Mühle an der Innerſte ſteht Heute nicht 
mehr; aber e8 haben nach dem Meifter Albrecht noch zwei Boden; 
hagen drauf geſeſſen. Erft feit dem Jahre 1803, als die Franz 
sofen unter Mortier im Hannoverfchen waren, ift fie allgemach 
nahrungslos geworden und endlich um das Jahr 1820 abge 
brochen. Die Innerfte ift reguliert worden wie die Ihme und die 
Seine; fie hat zwar auch jeßt noch ihre Nüden und Tüden und 
verlangt dann und wann wohl ein Lebendiges zum Fraß; aber 
daß fie danach fehreie, glaubt heute Fein Menfch mehr. 


522 


Vom alten Proteus. 
Eine Hochſommergeſchichte. 


Erſtes Kapitel. 


ie machen wir's nun, um unferm Leſer recht glaub; 
würdig zu erfcheinen? 

Da liegt die Studierftube des Philofophen, die Kinderftube 
des Dichters, das Schloß des Königs. Daran grenzt die Gaffe, 
der Markt oder der Garten. Dahinter dehnt fich die Stadt oder 
der Stadtpark aus, Es folgen einzelne Häufer: in dem einen 
prügelt ein Mann feine Frau; doch ein Haus weiter ſtirbt eine 
Frau, und der Mann hat fich in Verzweiflung über das Bett 
feines Weibes geworfen. Es folgt das Feld — ein Wald — eine 
Eifenbahnlinie — eine Landftraße, auf der ein einfamer Hund 
trabt, der feinen Herrn verloren hat. Wieder Felder und Dörfer 
— das Meer — die Inſel — die Gegend, die im Sonnenfchein 
liegt, und jene, über welche der Regenſturm fährt. Nächtliches 
Urwalddidicht mit einer Mohrenfchlacht bei Fadelbeleuchtung. 
Ein Sumpf im haushohen Schilf und eine frinfende Elefanten; 
herde — die Wüfte — wieder die See und fo weiter, fo weiter — 
rundum! Eifenbahnftation X. X. „Ein Billett nah Haufe!“ 
Das Schloß des Königs, die Kinderftube des Poeten, die Studier; 
fiube des Weltweifen und drin — ein Mann, der da denkt, feine 
Melt fei die Welt, der da meint, feine Erlebniffe, Gefühle, Hoff; 
nungen, Pläne, Vorfäge für — 

Nein, e8 geht wirklich und wahrhaftig fo nicht! Werfuchen 
wir e8 auf eine andere Weile. — — 


W. Raabe, Sämtliche Werfe. Serie II. 34 d 


523 


Das ift Athen! Athen, wie e8 wielleicht in Sebaftian Münfters 
Chronik ausfehen könnte. Da fließt der Iliſſus, Hort der Kephif; 
ſus; dort erhebt fih die Akropolis, und König ift — Theſeus, der 
Sohn des Ageus und der Athra. Und in vier Tagen ift Neu; 
mond, und dann wird Hochzeit gefeiert zu Athen. Hippolyta, 
die Königin der Amazonen, ift die Braut, 

Noch vier Nächte, dann wird man mit allen Kirchengloden 
läuten in Athen. Squenz, Schnod, Zettel, Flaut, Schnauz und 
Schluder haben fhon längft ihre Feſttagswämſer ausgebürftet 
und abgeflopft und gehen mit großen Dingen ſchwanger. Wie 
werden Die Kartaunen von der Burg donnern, wie werden 
die Hoboen, Zinfen, Hörner und Trompeten fohmettern und 
klingen! 

A long, a lively flourish! Trumpets, Sennet and Cornets! 
Und fie fommen in ritterlichen Baretts, das Schwert an ber 
Seite — fie fommen in fteifen Halskrauſen, im Reifrock der 
Königin Eliſabeth; — fie fommen aber auch auf dem Monden; 
fteahl, auf dem Weſtwinde reitend — fie wachen auf in den 
Glodenblumen im Walde, fie gleiten um Mitternacht hernieder 
vom Baum an dem Faden, an dem die grüne Naupe am Mittag 
fich niederließ. 

„Ohne die Mendelsfohnfhe Muſik wäre das verrüdte Zeug 
heute doc nicht mehr auszuhalten,” fagt das Publikum, das 
heißt fünf Sechftel des Publikums, und fie haben fich noch eine 
fchöne Redensart dafür und für fonft dergleichen Kunftgenüffe 
zurecht gemacht. 

„Auf den Zopf beißen wir nicht mehr an!“ fagen fie, und 
nachher — frage dann mal einer: 

„Sollte e8 fo gehen; oder müſſen wir e8 auf eine dritte Art 
verfuchen?” 

Nun, da und dort unter der Menge fit doch einer oder eine 
(manchmal fogar ein alter Herr, eine alte Fran, eine alte Jungs 
fer !), die Haben fich mit einem Male, ohne felber zu wiffen, wie’s 


524 


zuging, mit Lyſander und Hermia, mit Demetrius und Helena 
im Walde vor dem Tor von Athen verloren. 

„Esgehtdoch fo!” — Die Gaslichter erbleichen, es weht 
ein fühler Mondfcheinhauc her, der Tau blist auf dem Grafe, 
und feltfame Funken fohwirren durch die Luft. Der Mendelsfohn 
ift auch ſchuld daran, aber doch nicht allein; es ift noch eine 
Muſik, mit welcher Blech, Schafdärme und Geigenholz nichts zu 
fchaffen Haben — hörft du fie, liebe Kleine, dort oben auf der 
deitten Galerie? — — 

An den Stamm einer Buche gelehnt, fteht ein Mann in felt 
fam edlem Faltengewande und blidt lächelnd verftändnisvoll in 
den Feentanz von Windforforft. Es ift einer der legten Stämme 
des Waldes, auf den er die Hand fügt; man fieht weit hinaus 
über die blaunebelige Mondfcheinwiefe, wenn man fich wendet. 
Und der Mann im Chiton und Himation wendet fih und winkt 
ſchalkhaft zurück und fehreitet über die Wiefe — des Philippos 
Sohn Xriftophanes, Den Piräus fieht man nicht; aber die weiße 
Burg von Athen leuchtet aus der Ferne, und Zettel hat das 
Wort: 

„Wenn Sie dächten, ich käme hierher als ein Löwe, fo dauerte 
mich nur meine Haut, Nein, ich bin nichts dergleichen; ich bin ein 
Menfch wie andere auch; — und dann laßt ihn nur feinen Namen 
nennen und ihnen rund herausfagen, daß er Schnod, der 
Schreiner, iſt.“ 

Wirflih und wahrhaftig, es geht! — — 

D, man muß nur bei gefcheiten Leuten anfragen, um zu 
erfahren, wie etwas zu machen fei! 


x * 
* 


In einem großen Walde hatte ſich in Tagen, die der Leſer 
ſich nach Belieben nahe oder fern denken kann, ein Einſiedler 
niedergelaſſen und feſtgeſetzt. Keiner von der Sorte, die in den 
Geſchichten vorkommt, über welche Jean de Lafontaine fein 


34 * 


525 


Tiree de l’Arioste, fein Nouvelle tiree des cent nouvelles 
nouvelles, fein Tir&e des contes de la reine de Navarre oder gar 
Tir&e de Boccace ſchrieb, fondern ein braver, ein wirklicher, ein 
ordentlicher — kurz ein Einfiedler von jener geiftigen Neinlichfeit 
und Reinheit, die unfere Frauen, Tanten und Kinder unbedingt 
von ihm erwarten, wenn er in ihren Romanen und Bilderfibeln 
auftritt. Wie e8 mit feiner Eörperlichen Neinlichkeit befchaffen 
war, bleibe einer fpäteren Erörterung vorbehalten; ein braves 
deutfches Herz und Weib fieht feinen Einfiedleen da gottlob ſchon 
etwas nach und läßt einen wohlmeinenden Autor nicht mit feinem 
Eremiten ftehen, nachdem e8 ihnen den Rüden gewendet hat. 
Dagegen aber ftellt e8 auf der Stelle die Frage: 

„Sa, aber lieber Gott, wie kommt denn der Mann dazu, ein 
Eremit zu werden und eine Einfiedelei zu fliften? Weshalb 
heiratete er nicht und. gründete einen Hausftand?“ 

Worauf der Autor feinem Klausner, feinem Waldbruder, 
feinem Einödler zärtlich auf die Schulter Flopft, ihn einen Schritt 
weiter vorführt und antwortet: 

„Liebe Seele, das tft ja gerade die Gefhichte!“ 

Und nun, wenn jemand es beffer verfteht, auf deutfch ein 
Ding am rechten Zipfel anzufaflen, fo tue er's: ich Fann’s nicht 
beffer. — — 

In einem großen Walde alfo, nicht allgufern von einer großen 
Stadt, wohnte ein fonderbarer Menfch, von dem fo ziemlich die 
ganze Stadt gehört hatte, wenngleich nur wenige ihn perfünlich 
fannten. Wie alle in germanifchen Hiftorien auftretende Ein; 
fiedler, trug diefer Waldbruder natürlich einen langen, ehrwürdi⸗ 
gen, grauen Bart und eine ebenfalls lange, ehrwürdige, graue 
Kutte, die er mit einem Strid, weniger der Eleganz als der Bes 
quemlichkeit wegen, um die Hüften zufammenzog und hielt. 

„Der Menfch muß vor allen Dingen den Magen warm halten, 
vorzüglich bei einer Koft wie die meinige,“ pflegte er zu fagen, 
und im Winter Fleidete er fih aus ähnlichen Gründen wärmer, 


26 


das heißt er richtete fich nach feinem Wetterglafe und zog zwei, 
drei, ja vier Kutten übereinander und feste eine Pelzmütze auf. 
Dann glich er dem Weihnachtsmann wie ein Ei dem anderen 
und konnte in jeder Kinderftube als folcher auftreten. Ohne ihm 
fchmeicheln zu wollen, mit feinem Sad auf der Schulter und feinem 
langen, ehrwürdigen Stabe in der Hand genügte er für die Feſt— 
tagswundergefühle von groß und Heinz und wer ihm im Walde 
begegnete, fprach noch lange Zeit nachher zu Haufe von ihm und 
meiftens gut. Nur die wenigften hielten ihn für einen neuver; 
Heideten Kinderfänger von Hameln oder fonftigen Seelenfäufer 
oder Verkäufer. 

Mit einer Gelaffenheit, die an Stupidität grenze, nahm er 
jeden Tag, jedes Wetter und jeden Menfchen hin. Sein Name 
war Konftantius; ob er aber einmal anders geheißen hatte, 
werden wir fpäter erfahren. Das man jetzt alles auf einmal 
wiffen will, treibt ung feinen Zoll breit Weges vorwärts, und 
wir haben ung feft vorgenommen, ung in diefem Falle gleichfalls 
Konftantius zu nennen und eine an die Gelafienheit unferes 
Helden erinnernde Stupidität zu entwideln. Nachdem wir diefes 
feftgeftellt Haben, ftellen wir ihn, unfern Bruder im Leiden diefer 
Welt, beifeite, nachdem wir ihn eingeführt haben, und fagen 
ein weniges mehr von der Stadt, deren Türme von den legten 
Bäumen feines Waldes aus zu erbliden waren. 

Was num diefe Stadt anbetrifft, fo war fie voll von allerlei 
Volk, vom König abwärts bis zum Bettelmann und von der 
Königin bis zu der Bettlerin. Schlöffer, Kirchen, Mufeen, 
Spitäler, Gefängniffe, Schulen, Häufer, Hütten, Dachkammern 
und Kellerwohnungen mangelten ihr nicht. Die höchſte derzeitige 
Bildung und die tieffte allzeitige Unbildung waren in ihr ver; 
treten; ebenfo die Höchfte derzeitige Eleganz und Reinlichkeit 
und die tieffte allzeitige Verfunfenheit im und Unabgelöftheit vom 
Erdenftoff. Leben und Tod wechfelten in ihr, und wie überall 
und immer wollte niemand in ihr beim Pech und Unglück des 


527 


Nachbars an das alte mea agitur fabula, „ganz meine Gefchichte!” 
glauben. Aber ein jeglicher fürchte im eigenen Elend nach alt- 
hergebrachter Weife nach Troſt und Beruhigung und zwar feltener 
bei fich felber al8 bei den anderen; und wie gewöhnlich war dann 
der Troſt auch danach. 

War der Menfch gefund und vergnügt, fo fagte er: 

„Es ift Doch die befte Welt.“ 

Begegnete feinem Bekannten und guten Freunde eine Un; 
annehmlichkeit, fo tröftete er fich mit den Worten: 

„Es ift eben eine kurioſe Welt; und wir haben fie nicht 
gemacht.” 

Geriet er felber in Berdruß, fo fand er ein tertium compara- 
tionis, das freilich fehr ins Aſchgraue oder gar Schwarze fpielte, 
Eine Lieblingsredensart von ihm war in diefen Fällen: 

„Das kann doch nur mir paffieren.” 

Daß er fich dabei ungemein überhob und viel zu viel Wert auf 
ſich felber legte, merkte er durchaus nicht. Derer, die fich mit 
Humor kaput gehen fahen und ließen, waren wenige und im 
Grunde die einzigen, welche nicht in die allgemeine große Familie 
paßten, 

„In welche allgemeine große Familie?” 

Die der Piepenfchnieder, fchöne und gute Frau! Wer fucht 
nicht Hineinzufommen, und wenn er hineinheiraten müßte?! — — 

Es will alles in diefer Welt nach feiner Natur behandelt 
werden; das Feuer im Dfen und das Waffer, wie e8 den Berg 
hinunterläuft. Wer fich hierauf verfteht, der verfteht fich auch 
darauf, mit Menfchen umzugehen, und verdirbt fih nur felten 
duch Haft und Ungeduld fein Spiel, Hier faffen wir die praftis 
ſchen Leute, die wirklichen Philofophen in der Stadt, die fich jedoch 
für den zweiten Titel recht höflich bedankten und ihn kurz von fich 
wiefen. Diejenigen Leute, welche ihre Betrachtungen über folche 
Dinge zu Papier brachten, nannten fih dagegen felber Philo- 
fophen und hatten ihr Behagen an der Bezeichnung: es war fehr 


528 


häufig das einzige Behagen, das fie für ihre Bemühungen bins 
nahmen. Wenn e8 ihnen gelang, eine beftimmte Reihenfolge 
und Ordnung in ihren Obfervationen innezuhalten, fo nannte 
man das ein Syſtem, und dann kam es vor allem darauf an, 
ob das Buch einen Verleger und das Syſtem Anhänger und 
Schüler fand. Unterdeffen wechfelte, wie gefagt, Geburt und 
Tod und ſchickte oder Tief der Menfch nach dem Tifchler, um eine 
Wiege oder einen Sarg zu beftellen: beides fehr unphilofophiich, 
das heißt in erfledlicher Aufregung mit befchleunigtem Pulsſchlag 
und feuchendem Atem. Es gab freilich Piepenfchnieder, philos 
fophifche und unphilofophifche, die nichts aus der Faffung brachte, 
was felbft ihre nächften Familienmitglieder betraf. Leider waren 
fie die Allerkislichften in allem, was ihre eigene liebe Perfon 
anging, und fam hier einmal auch Not an den Mann, fo fand 
die Nachbarfchaft allen Grund, zu bemerken: 

„Mein Gott, wer fehreit denn da fo fürchterlich?“ 

Kam dann die Antwort: 

„Wiſſen Sie/s nicht? Es ift ja der Onkel Lump, der mit dem 
Kopf durch die Dede will!” fo pflegte die Nachbarſchaft fich ger 
wöhnlich verfiohlen die Hände zu reiben und vergnügt vor fich 
him zu niden. Klug jedoch tat fie, wenn fie die Augen offen be; 
hielt und auf ihre Türen acht gab, denn es gab Fälle, in denen 
der gute Onkel e8 ausgezeichnet verftand, feinen Schaden einem 
anderen zugufchieben oder gar ein damnum commune, einen 
allgemeinen Schaden, daraus zu machen. 

„Er ift doch ein fommuner Kerl!” fagte dann die Stadt; aber 
nun durfte fich der Onkel die Hände reiben und vergnügt hin⸗ 
nicken, denn e8 fand fich immer ein Bruchteil der Bevölkerung, der 
das Wort ins Deutfche überfegte und ihn einen „gemeinnützigen 
Bürger” nannte. 

Einen ſolchen Onkel haben wir gefannt, der noch um ein be; 
dentendes fefter an fich glaubte als feine Kollegen. Er hatte auch) 
etwas gelernt, wußte gut zu reden und frefflich, unübertrefflich 


529 


fich felber zu erflären und auf feine Bedeutung hinzuweiſen. Nie 
bat ein zweiter Märtyrer unferer Belanntfhaft in der Melan⸗ 
cholie des Verkanntſeins gleich tonlos gefchwelgt. Seine Ton; 
Iofigfeit können wir nicht wiedergeben; feine Worte aber über fich 
lauteten ungefähr: ' 

„Ein waderer Mann ift wie ein Granitblod im Felde — ein 
Findling, ein geologifher Findling, herabgerollt vom Urgipfel 
de8 Urgebirges des Menſchtums. Und fo findet man ihn auf 
dem Roggenader oder zwifchen den Zuderrüben und läßt ihn 
liegen, bis man ihn durch die Dynamitpatronen des Neides, des 
Haſſes, des Undankes Fein Friegt und entfernt. Aber Gott fei 
Dank, man kriegt ihm nicht immer Hein! Wie e8 um ihn her 
ftäubt, wie die Wirbel fich drehen, was für Staub auf ihn gemweht, 
getrieben und gehäuft wird, er bleibt liegen, und er liegt ruhig und 
feft. Der Sturm wird ihn von dem Schmutze wieder befreien, und 
die Sonne wird wieder auf ihn fiheinen. Wenn ihn aber der 
Schlamm der Gemwöhnlichfeit einmal ganz begraben follte, fo 
bleibt er auch unter diefem Schlamm immer derfelbige und wartet 
auf feine Zeit. Hauffe und Baiffe wechfeln auch in diefem Falle, 
das muß unfereiner wiffen; und die Augen, die fih an ung 
tröften, die Herzen, die fih an ung erheben follen, werden ung 
immer im richtigen Moment wieder zu Geficht und Gefühl be; 
fommen, verlaffen Sie fih darauf, Tiebfter Herr!” 

Und er hatte recht und fagte wahr bis unter den fiefften Dred 
hinunter: man hat ihn wiedergefehen und fich an ihm erhoben. 
Er hatte viele, viele, viele erquickt; die einen auf diefe Art, die 
anderen auf jene, Wirklich ergötzt hat er aber vielleicht nur Uns; 
denn nur wir wußten die breitbäuchige Volltönigkeit in Organ 
und Ausdruck, mit der er uns bei unferem erften Zuſammen⸗ 
treffen nach feiner Rehabilitierung begönnerte, ganz zu würdigen 
und in den feinften Abftimmungen zu genießen. — — 

Nun denkt man wohl, weil das beides fo wunderhübfch beis 
einander faß und lag, ich meine der Einfiedler und die Stadt, daß 


530 


fofort vom erften Gerücht der Niederlaffung des Klausners in 
der Wildnis an ein reger Verkehr zwifchen dem einzelnen und der 
Vielheit und umgekehrt flattgefunden habe. Dem war aber nicht 
fo; ganz abgefehen davon, daß der Vater Konftantius nicht des 
gefelligen Verkehrs wegen den Wald bezogen hatte. Auch die 
Stadt fümmerte ſich lange Jahre hindurch nicht im geringften 
um ihn; zumal da in einem fehr befuchten öffentlichen Garten eine 
Tufffteingrotte vorhanden war, in welcher ein automatifcher 
Eremit faß, der ein ziemliches Teil der Bewegungen eines wirk 
lichen ganz vortrefflich vermittelt des Räderwerkes in feinem 
Inneren nachmachte und dem Volke vollftändig für feine Bedürf; 
niffe in diefer Hinficht genügte. Diejenigen Piepenfchnieder, 
welche das Theater befuchten, hatten überdies noch die Eremiten 
des Schaufpiel8 und der Oper zur Dedung ihrer Waldeinfam; 
feitsgelüfte, und fo war e8 nichts als ein Zufall, daß ein bedrüdtes 
Menfchenkind, mitten im Gaffen; und Marftgetümmel den Ge; 
danken fallend, fich zu Hängen, fich in die Wildnis verfügte und 
den Vater Konftantius fand. Diefer, welcher gerade einen neuen 
Strid zum Gürtel für feine Kutte nötig hatte, nahm dem Lebens; 
müden den feinigen ab und ſchickte den Narren fo getröftet heim, 
daß er aus dem Walde auf der Stelle hinging, fich zum zweiten 
Male verehelichte und zehn Jahre hintereinander jedes Jahr ein 
Knäblein oder ein Mägdelein und einmal fogar ein Zwillings; 
paar taufen ließ: leßteres auf die Namen Konftantius und 
Konftanze. Sein Familienname war auch Piepenfchnieder, was 
einige unferer Lefer wahrfcheinlich bereits vermutet haben; — 
wie aber wünfchen im Verlaufe diefer Erzählung noch viele in den 
Stand zu feßen, zu fagen: 

„Das haben wir uns doch gleich gedacht !“ 

Wer den Einfiedler zuerft auffand, willen wir nunmehr; jeßt 
handelt e8 fich darum, wer ihn zuerft entdedte, und hoffen wir, 
daß nicht wenige ob des feinen Unterſchiedes fich und ung fragend 
anfehen werden: 


531 


„set ſoll's mich doc wundern, was da nun wieder heraus; 
fommen wird?“ 

Eine ganz einfache hiftorifche Tatfache natürlich. 

Der Erfte, der den Erdenmüden entdedte, war jemand, 
der weiter feinen irdifchen und himmlifchen Troft und Tröfter 
brauchte, als welchen er ftets felber bei fich trug in feiner Flafche, 
in die der Geift freilich weniger durch das Siegel des Ringes 
Salomonis als durch einen ganz gewöhnlichen Kork verftöpfelt 
und gebannt war. Oppermann war’s, ein durchaus. nicht guf 
angefchriebener rotnafiger Forftauffeher und Waldläufer, der 
denn auch fofort einen mündlichen Bericht über feine Ent; 
defung an die vorgefeßte Behörde abſtattete. 

„Richter er viel Schaden an, Oppermann?“ fragte die vor; 
gefeßte Behörde, 

„Bis dato noch nicht, Herr reitender Förfter, Sp viel Vers 
nunft hat er doch im fich behalten, daß er fich nicht in die jungen 
Schonungen hineingefegt hat. Ne, er hat feine Hütte auf einem 
Platz in einem Talwinkel aufgefchlagen, allwo ich kaum einen 
Fuchs⸗ oder Dachsbau vermuten durfte, und allwo auch ich zum 
allererſten Mal in meinem Leben den Fuß hingeſetzt habe, Herr 
reitender Förſter.“ 

Hierauf hatte der Herr reitende Forſter kopfſchüttelnd ſich 
feſter im Sattel auf ſeinem Dreibein vor dem Schreibtiſche geſetzt 
und einen ſchriftlichen Bericht bei feiner vorgeſetzten Behörde 
eingereicht. 

„Es hat fich befunden, daß ein unbekannter Menfch fich, wie 
peotofollarifch feftgeftellt worden ift ufw. uf.“ Kurz, wir wollen 
das Ding nicht durch den ganzen Inftanzengang verfolgen — 
e8 fammelte fich ein ziemlicher Aktenftoß über den wunderlichen 
Fall an. Diefer Aktenſtoß verftaubte; ein höheres Reſkript, den 
Squatter auszutreiben, blieb in einem Bureau hängen — blieb 
da liegen und wurde unter einem anderen Altenſtoß begraben, 
Oppermann aber fagte: 


532 


N — 


„Mich foll der Teufel holen, wenn ich da noch mal was an; 
rühre! Der Kerl ift ein Segen in der Einöde. Den Kerl hat mir 
der liebe Herrgoft eigens zum Troft in meiner Berlaffenheit in 
mein Revier gefchidt. Endlich doch mal eine anftändige, räſon⸗ 
nable Kumpanei in der Wüſte! Alle Hagel, da werd’ ich’8_ doch 
ſchon einzurichten wiffen, daß den guten Kameraden felbft eine 
fönigliche Jagd in feinem Pläfiervergnügen nicht verftören foll. 
Na, da kennen fie Oppermann nicht, und wenn fie ihm ſchon 
millionenmal mit dem Abfchied von wegen feines krankhaften 
Zuftandes, als was fie feine Verfoffenheit nennen, gedroht haben. 
Mit dem Kerl fchlafe ich Hundert Jahre in einem Bett, ohne ihn 
rauszuſchmeißen. Oppermann ift mein Name, Herr Oberförfter, 
und übrigeng —“ 

Wir folgen auch ihm nicht weiter! Oppermann war jeden; 
falls der erfte, der dann und wann in der Stadt von feiner Be; 
kanntſchaft im Walde redete und den Vater Konftantius unbes 
fannterweife, wie er fich ausdrüdte, ald Zeugen, ald Gewähr; 
mann aufrief, 


533 


Zweites Kapitel. 


De wir, Gott ſei Preis und Dank, nicht zu „denen Gelehrten, 
welche eg nicht können von fich geben,” gehören, fo wollen 
wir num dem Hüpf⸗, Brütz und Lebenspunkt im Ei diefer Hiftorie 
näher gehen. Diefes machen wir fo, liebe Gevattern, daß wir 
ung aus allem Volk ein Pärlein — ein Männlein und ein Fräu⸗ 
fein felbftverftändlich — auslefen, der Jungfrau den rechten Arm, 
dem Jüngling den linken bieten und fie über die Planke an Bord 
unferer, dag heißt ihrer Arche führen, Von einer Sintflut, die 
den Reſt verfchlingt, kann und wird übrigens nicht die Rede fein. 
Die ganze Menfchheit ift ja mit allem Eifer bei Tag und Nacht 
beim Kiellegen oder Bewimpeln ihrer Rettungsſchiffe; und wir 
laffen jedermann fein Fahrzeug nach feinem Gefhmad und Ver; 
ftändnis zimmern und ausftatten. Was unfern eigenen Kahn 
anbetrifft, fo find wir eben im Begriff, denfelben von neuem fo 
gut als möglich feetüchtig zu machen. Nach mehr als einer tollen 
Fahrt rund um die Welt hat er’s fehr nötig, einmal von Grund 
aus verpicht zu werden, und das dazu nötige Pech ift auch vor⸗ 
handen. — Über die wilden Waffer des Lebens in verhältnis; 
mäßiger Sicherheit zu fahren, wird dem Menfchen nicht fo Teicht 
gemacht, als er es fich in feinen jungen Tagen vorftellt. 

Und fo erfuhren das Hllarion und Ernefta und zwar leider 
nicht bloß zu Ihrer Verwunderung. 

Hilarion und Ernefta hießen nämlich die beiden guten Kinder, 
dte in einer holden Mondfcheinnacht, wie fich das von felbit ver; 
fteht, über den Namen ihrer Rettungsbarfe fich Klar geworden 


534 


waren. Er aus ber auch weit verbreiteten Familie Abwarter, fie 
eine Piepenfchnieder, überboten einander in jener füßen Nacht 
an lieblichen Vorfchlägen. 

Er fohlug vor: „Der Himmel auf Erden.” 

Sie (naiv): „Die gute Hoffnung.“ 

Er: „Die ewige Treue.” 

Sie: „Das holde Glüd.” 

Er hielt das Kürzefte für das Paffendfte und fchlug vor: „Die 
Liebe.“ 

Sie gab nach und flüfterte: „Ja!“ fügte jedoch nach einer 
langen, atemlofen Pauſe hinzu: „Bis übers Grab!” 

Und dabei blieb e8, was den Namen anbetrifft. In einem 
neuen langen, langen Kuffe durch den Zaun und vermittelft vier 
im Mondlicht flimmernder Wonnetränen wurde die Taufe voll; 
sogen; die Arche hieß: „Liebe bis übers Grab.“ 

In der Tat eine recht wohlklingende Devife für den heim; 
tüdifchen Weltozean; vorausgeſetzt, daß e8 nicht einmal in einem 
Seeberichte hieß: 

„Schiff ‚Liebe bis übers Grab‘, Kapitän Hymen, in Ladung 
mit Pottafche vom Anfang der Welt nach Havre de Grace; led, 
maftenlos angefprochen bei Kap Finisterrae; gefunfen uſw. 
uf. uſw.!“ 

Denken wir nicht daran! Malen wir es ung beileibe nicht aus! 
Weshalb auch wollten wir ung das fo fehr Unwahrfcheinliche vor 
die Phantafie rüden? 

Auf die Mondfheinnacht folgte im natürlichen Laufe der 
zeit ein Morgen, auf diefen ein zweiter und fo fort. Und dann 
gab e8 eines Tages einen Auflauf auf der Werft ob deg neuen 
Bauunternehmens, und die Leute liefen zufammen: die einen, 
um ihren Beifall, die anderen, um ihre Mißbilligung auszu⸗ 
fprechen. Alle aber fagten: 

„Mein, fo was!“ 

Die Eltern Erneftas jedoch fagten noch einiges mehr, und bei 


535 


“ der nächften verfiohlenen Zuſammenkunft der beiden jungen 
Liebenden flüfterte die junge Dame: 

„O Gott, Hilarion, ich habe fo viel Verdruß um unfere Liebe, 
daß ich e8 gar nicht ausdrüden kann. Seit fie dahinter gekom⸗ 
men find, bin ich wie verraten und verkauft. Du machft dir feinen 
Begriff davon, wie fein fie find, um mich elend zu machen. D, 
bitte, bitte, tue e8 nicht wieder, fieh nicht wieder mit dem Opern; 
glafe nach unferer Loge wie neulich in Romeo und Julie! Gegen 
dag, was ich nachher im Wagen beim Nachhaufefahren von 
Mama anzuhören hatte, und meine Gefühle dabei, war das 
ganze Trauerfpiel nichts, nichts, gar nichts! Und was Papa 
bemerkte, da8 war aus dem Leben gegriffen, und der alte Capulet 
hätte fich dreift ihn zum Mufter nehmen können feiner unglück⸗ 
lichen Tochter gegenüber, O Hllarion, ich Bin unglüdlich, und 
was Daraus werden foll, weiß ich nicht, und wenn du mic tot⸗ 
füßteft! Bitte, laß e8 jet einmal und gib mir einen vernünf: 
tigen Rat.” 

Das war viel verlangt; aber der junge Schiffsbauer machte 
wenigftens den Verſuch: 

„Haſt du nicht mich, mein Herz, und habe ich nicht dich, du 
Süße, Süße? Was will die ganze übrige Welt uns anhaben?” 

Ernefta trug ihren Namen nicht umſonſt; — fie konnte fich 
leider nicht fanft aus den Armen des Geliebten losmachen; aber 
fie fagte, indem fie ihm durch dag zierliche, wenn auch folide eiferne 
Gartengitter die Hand leicht und doch feft auf das Herz, dag heißt 
auf die in der Brufttafche über demfelben ruhende Zigarren, 
tafche legte: 

„Leider Gottes, fehr viel! Sie kennt deine Umftände nur zu 
genau und fagt mir über deinen Charakter Sachen, die ich gott⸗ 
lob für unwahr halte, an denen ich aber fterben würde, wenn * 
wahr wären.“ 

„Nun, das muß ich ſagen!“ rief der Geliebte. reis ich vers 
fihere —" 


536 


„O, tue daß nicht! Sieh, ich weiß ja, daß fie lügen, und ich 
weiß auch, aus welchen Gründen, und wenn fie auch ſtets be; 
haupten, daß es nut gefchehe, weil fie e8 wohl mit mir meinen —“ 

„Der Teufel foll fie holen! Alle miteinander! Ernefta, liebe, 
liebe Ernefta, meinen Charakter, mein Herz kennſt ja nur du 
allein! Herrgott, ich bin ein guter Menfch, aber in diefem Augen; 
blid und nach dem, was du mir da eben mitteilft, möchte ich 
doch am Tiebften dem Univerfum den Schädel einfchlagen !“ 

„Mir dann mit? Mir auch?“ flüfterte die Geliebte. „O, bitte, 
bitte, tue e8 nicht. Ich weiß ja, daß fie die Unwahrheit fagen, 
und daß der Onfel —“ 

„Puh, der Onkel!” ächzte der Geliebte unter dem fo plößlich 
auf ihn gehäuften Gebirge der Verleumdung hervor und fchloß, 
mühſam nach Luft ringend, ohne irgendwie abzufchließen, „der 
Onkel, der Onkel! Puh, der Onkel Pa—terih! — U—h !Y — — 

Dem jungen Manne gingen taufend unheimliche Bilder duch 
den Kopf, und alle betrafen das Faktum, daß die Hinterfenfter 
des alten Barons auf feine — Hilarions — Vorderfenfter blidten, 
und daß der würdige alte Here wahrfcheinlich nicht felten aus 
feinem Kammerfenfter fah. 

„Ja, ja,“ ſchluchzte Ernefta, „er hat den Eltern kurzweg er; 
Härt, daß er, wenn ich nicht, wie fie ihm verfprochen hätten, feinem 
guten Freunde Magerftedt meine Hand geben würde, feinem 
Teftament ein Ko— Ko — Ko— wie nennt ihr Juriſten das doch? 
In den Luftfpielen kommt es öfters vor, und man lacht darüber; 
aber im Leben foll e8 etwas Entfegliches fein!“ 

„Ein Kodizilf will er feinem Teftament anhängen, wenn du 
feinen guten Freund Magerftedt nicht heirateft?” ſtammelte 
Hlarion. „Uh, die beiden alten verhuzzelten, nichtsnußigen 
Uhus! Mädchen, daß der Weg zu dir nur über meine Leiche geht, 
weißt du; aber dem Heren von Magerftedt breche ich felbft als 
Leiche noch den Hals. Den werde ich zum Stolpern bringen! 
Und — Erneſta, Ernefta, was des Ontels Teftament anbetrifft, 


537 


fo habe ich da meine ganz eigenen Anfichten. Wenn man mir 
nur Glauben ſchenken würde, wenn ich nur die Beweife beibringen 
könnte, daß dem ein Kodizill weder aufs noch niederhilft, fo würde 
ich heute abend noch — jetzt auf der Stelle mit deinem Papa 
und deiner Mama reden, um den bodenlofen alten Heuchler zu 
entlarven. Aber fie glauben, fie glauben mir ja nicht!“ 

„Und außerdem ift dir ja unfer Haus von jetzt an auf ewige 
Zeiten verboten!” fchluchzte Ernefta. „Sie fteden mich in ein 
Klofter, fie machen mich zur barmherzigen Schwefter, fie ſchicken 
nich zurück nach Laufanne zur Madame Septehaines und laffen 
mich noch mal drei Jahre lang dort erziehen. Sie haben e8 mir 
feft und heilig verfprochen, daß fie noch viel gräßlichere Pläne 
mir mit im Sinne haben, wenn ich Dich noch ein einziges Mal 
fehen würde. O Gott, o Gott, was foll ich tun? Sage es mir 
doch nur, was ich fun und was ich laſſen foll!“ 

In diefem Moment rief man vom Haufe her: 

„Erneſta! Ernefta, wo ſteckſt du?“ 

Und auf der einen Seite fuhr die junge Dame, auf der anderen 
der junge Mann von dem Gitterwerf zurüd, 

„Hier, Mama!“ flötete die Geliebte, echt weiblich merkwürdig 
gefchieft gleich den unbefangenften Ton findend. 

„Ich erbroffele den Onkel Püterich!“ ächzte Hilarion, den 
leichten Strohhut vom Kopfe ſtoßend, als er fich verzweiflungs⸗ 
voll und ratlos in den jugendlich lockigen Haarwuchs griff. Ganz 
mechanifch brannte er wohl eine Zigarre aus dem Beſteck, auf dem 
vorhin die Hand der Geliebten ruhte, an, aber fie ging ihm wieder 
aus, Sie fchien fo wenig Luft zu Haben wie er felber, und noch nie 
war ihm ein lauer Sommerabend fo ſchwül vorgefommen, und 
ein Glüd war’8 nur, daß ihm des alten Barons guter alter Freund 
Magerftedt nicht auf feinem Wege begegnete. Eine Szene auf 
öffentlicher Promenade hat ihre Unannehmlichkeiten für alle 
Beteiligten außer den Zuſchauern, und auch die werden nicht 
felten nachher als Zeugen vom Gericht vorgeladen. 


538 


Drittes Kapitel. 


p 9 ſteckſt du, Erneſta?“ 

Tief, tief im Sammer der Welt und zwar mit ihrem Ver; 
Iobten, wie fie meinte; und wir wenden ung jeßt zu dem Onfel 
Püterich und erfahren, worin der eigentlich ſteckte. 

Ohne Zweifel in feiner Haut; aber wenn man die dreift eine 
alte nennen durfte, fo war man leider nicht in demfelbigen Maße 
berechtigt, fie als eine gute zu bezeichnen. 

Ihn eine alte gute Haut zu nennen, wäre dag Non plus ultra 
phantaftifch übertreibenden Wohlwollens geweſen. Es fiel diefes 
der Menfchheit aber auch gar nicht ein; ebenfomwenig, wie fie ihm 
aufs Wort glaubte, daß er nur deshalb fo eilig feine Nichte mit 
feinem Freunde verheitaten wolle, weil er das brennendfte Be; 
dürfnis fühle, zwei Menfchen fo fehnell als möglich fo glüdlih 
als möglich zu machen. 

Und doch war dem fo! Und der erfte der beiden war er felber 
(daß er dann noch einmal kam und alfo im Grunde auch der zweite 
war, rechnen wir nicht); der andere war freilich fein Freund, der 
Herr von Magerftedt! Den legteren hätte übrigens vielleicht auch 
die Welt, und wenn nur am Hochzeitstage, einen glüdlichen alten 
Sünder genannt. — — 

Ziemlich in der Mitte der Stadt lag ein von den Zeiten ange 
ſchmauchtes und benagtes, ein in feiner Würde verwitterndes 
Patrisierhaug, in welchem Jahrhunderte durch die Püteriche als 
angefehene Befiger gefchaltet und gewaltet Hatten, und in welchem 
der Onkel Püterich auch heute noch wohnte als der legte Träger 
des Familiennamens, wenn auch nicht mehr als freier Eigens 


W. Raabe, Sämtliche Werte. Serie IL 35d 539 


tümer der anftaunenswerten Gebäudesufammenhäufung, ges 
nannt der Püterichshof. Der Onkel wohnte zur Miete drin und 
fein Freund, der Herr von Magerftedt, auch. Jetzige Befigerin 
des „Kompleres” war die große, weit über die Meere berühmte 
Firma Aldenberger und Kompagnie, die nur ein folches oder 
ähnliches Haus für ihr umfangreiches Speditionsgefchäft ge; 
brauchen Fonnte, jedoch ihre überzsähligen Räumlichkeiten gern 
an allerlei zahlungsfähiges Volk vermietete und den Onkel, den 
Freund und fonderbarerweife auch unferen Freund Hllarion 
dazu rechnete. Der lettere freilich wohnte im Hintergebäude — 
wie fehon bemerkt, mit der Ausficht über den Hof auf die Hinter; 
fenfter des Barons, wobei aber als Glüdsfall für ihn zu notieren 
ift, daß die große Firma Aldenberger & Co. nichts von dem Genuß 
ahnte, den ihm diefe Ausficht gewährte. Daß fie ihn andernfalls 
nicht gefteigert hätte, ift nicht anzunehmen, 

Das Haus oder die Villa der Eltern der jungen heimtückiſch 
Verlobten lag im Grünen an der äußerften Grenze des eleganz 
teften Teiles der Stadt. Das Gitter, da8 darum herum ging, 
fennen wir bereits; aber auch die Nachtigallen fangen um die 
Villa her; von fernen Wiejen kam fogar dann und wann ein 
Heugeruch: ber junge nichtswürdige Verlobte nahm von dem 
Gartengitter ftets einen Hauch der Idylle mit nach Haufe, und 
das alles — tut felten viel zur Sache und in vorliegendem Falle 
gar nichts; wir verfügen ung eben in die Wohnung des Onfels 
Piüterich im weiland Pürerichshofe. Heu wird da zwar auch ges 
macht, aber wahrlich nicht bloß, um es zu riechen! 

Es war am Nachmittag, und die Sonne lag auf den Fenftern, 
doch der alte Baron hatte die Gardinen niedergelaffen. Aus den 
Gaffen tönte das mannigfaltige Geräufch des gefchäftigen Men; 
fchengetriebes in das weite, bis zu halber Mannshöhe mit alters, 
ſchwarzem Eichenhols getäfelte Zimmer, welchem dann eine alte 
fchwarzblaue Lebertapete auch weiter feine Heiterkeit verlieh, 
was dagegen nad) Kräften eine wunderliche Bildergalerie farbiger 


540 


Kupferftiche des 18. Jahrhunderts (gerade nicht von der Degen; 
teften Art) tat. Der fonftige Hausrat ſtammte wohl aus dem 
19. Säkulo, jedoch fehr aus dem Anfang desfelben, Er hatte 
etwas „Griechiſches“ an fih, fo wie das franzöftfche Direktorium 
und noch mehr das franzöfifche Kaifertum fich eben diefes 
„Klaſſiſche“ dachte. 

Etwas Griechiſches hatten die beiden würdigen Herren, die 
da mit einem Schachbrett zwiſchen fih und ihre Schnupftabaks⸗ 
dofen neben fich an dem Tifchchen mit den drei gefchweiften Bocks⸗ 
beinen und Löwentatzen faßen, nicht an ſich; aber Klaffiker in ihrer 
Art waren fie. Sokrates, Plato, Ariſtoteles und Perikles Hätten 
ihnen darin kaum einen Bauer, geſchweige denn einen Turm vor; 
geben dürfen. 

Wenn der Onkel Püterich einen grünen Pappſchirm über den 
Augen trug, fo geſchah das nur, weil er als antiker abgefeimtefter 
Weltweifer zu fcharf fah; und wenn der Here von Magerftedt, fein 
Freund, in einem froß der Hundstage fehr dick gefütterten Schlaf; 
tod die Treppe zu feinem Freunde emporgeftiegen war, fo hatte 
da8 feinen Grund einfach darin, daß er fo viel als möglich von 
den Trümmern einer alfibiadeifchen Welt von liebenswürdigfter 
Perfönlichkeit für eine junge Frau zu fonfervieren wünſchte. Zu 
präfumieren ift, daß Alkibiades in feinem — des Herrn von 
Magerſtedts — Alter und mit den Rheumatismen desfelben 
behaftet auch wohl einen flanellgefütterten Schlafrod getragen 
haben würde, 

„Schach!“ 

„Hm, die Geſchichte ſteht übel für mich,“ fagte der Baron 
verdrießlih. „Uber ein kluger Mann findet immer noch Kat. 
Da! — jeßt wahre dich, mon cher.“ 

„Rod einmal Schach, mein Beſter!“ 

„am, hm!“ 

„Ich glaube, mein Befter, ich darf matt hinzufügen; aber ich 
laffe dir mit Vergnügen Zeit, auf einen Ausweg gu finnen.“ 


Ss 541 


Er nahm eine Prife, Ficherte ftillvergnügt und fügte Hinzu: „Sch 
meine, du kennſt mich in der Beziehung.” 

Der Baron nahm ebenfalls eine Prife, immerfort die Elfen; 
beinfiguren im Auge behaltend. 

„am, hm, hm; — ja, ich Ferine dich, mon bon. Alſo feine 
Kettung? Na, übrigens haft du den jeßigen Sieg nur meiner 
zZerftreutheit zu danken. Hätteft du mich vorhin den fatalen 
Zug mit dem Läufer, wie ich dich bat, zurücknehmen laffen, ſo —“ 

„So hätte ich eine größere Dummheit begangen als du. Alter 
Freund, ich glaube, wir find beide in der Lebenskunſt fo weit 
fortgefohritten, daß wir niemanden eine Sottife revocieren oder 
redreffieren laffen, wenn fie ung von Nutzen iſt. Was ich nicht 
glaube, ift, daß du dich des Falles erinnerft, in welchem du deiner; 
ſeits mich einen leichtfinnigen Zug zurücktun ließeſt. He, Püte⸗ 
rich?” 

Sie fiherten num beide und wechfelten die Dofen miteinander, 
dag heißt fie boten den inhalt derfelben einander an. Obwohl 
fie Gaftfreunde waren, wußte Glaufos in diefem Falle fih wohl 
davor zu hüten, 


— — — — — — — „daß er ohne Beſinnung 
Gegen den Held Diomedes die Rüſtungen, goldne mit ehrnen, 
Wechſelte, hundert Farren ſie wert, neun Farren die andren.“ 


Der Freund Magerftedt führte nämlich eine goldene Doſe, 
und der Freund Püterich eine filberne, und fo dumm wie Hundert; 
undneun Dehfen ift doch nicht immer ein Freund, Wie zwifchen 
Gaftfreunden, fo ift zwifchen Schnupfern ein derartiger Taufch 
ungemein felten. In der Ilias kommt der Fall nur ein einziges 
Mal vor und in diefem vorliegenden Opus und Epos gar nicht. 

Mit voller Befinnung, die freilich von einem anderen Stand; 
punkt aus genommen an das Gegenteil grenzte, fragte jet ber 
Herr von Magerftedt: 

„Run, wie ift es?“ 


542 


„Du meinft eine neue Partie?” 

„Mein!“ fagte der Freund, alle die das bunte diplomatifche 
und friegerifche Spiel der Menfchen bedeutenden Püppchen zu; 
fommenfchiebend und fie, drei Hände voll, in ihrem Käftchen auf; 
häufend. „Nein und ja, mon vieux! Eine — die neue Partie; — 
aber nicht auf diefem Brett. Du verftehft mich?“ 

Der alte Baron verftand ihn auf der Stelle und erwiderte 
eifrig, haftig ſtotternd: 

„Sa fo! D, da fei nur ganz ruhig. Du kriegſt fie, und fie 
nimmt dich. Ich habe dir mein Wort gegeben, und Kavalier; 
parole ift mir immer noch heilig, der erbärmlichen Krämerwelt, 
in der wir zu leben haben, zum Trotz. Haft du nicht mein Wort, 
Magerſtedt?“ 

„Jawohl, dein Wort beſitze ich, Püterich, aber ſchon ſeit 
längerer Zeit; und jetzt iſt wiederum ein Jahr hingegangen, ohne 
daß du es eingelöſt haſt. Bedenke, Püterich, daß du auch von mir 
allerlei in Beſitz haſt — wir wollen mal fagen leihweiſe. Und bes 
denfe, daß auch das liebe Mädchen, meine gute Heine Ernefta, 
immer älter wird. Man wird nicht jünger, Püterich! — Püterich, 
man wird nicht jünger!” 

Auf das Wort von dem Ülterwerden des lieben Mädchens 
hatte der Baron den grünen Augenfchirm mit einem Rud in die 
Höhe gefchoben, der alles fagte. Eine geraume Zeit flarrte er 
wortlos den Freund im wattierten Schlafrod an, aber feine Miene, 
fein Zug in der dürren gelben Viſage ihm gegenüber deutete 
darauf hin, daß der Haffiiche Hüftler einen antifen Scherz mache, 
Und der Herr von Magerftedt machte auch durchaus feinen Scherz. 
Es war ihm bitterer Ernft, und dem Onfel Püterich blieb nichts 
übrig, als noch mehr zu erftaunen und dann zu ſtottern: 

„Das Kind — mei—ne Nichte iſt — achtzehn — höchſtens 
neunzehn Jahre!“ 

„Und wird zwanzig! Bleibt feine achtzehn oder neunzehn!“ 
erwiderte mit wahrhaft ungeheuerlicher, dumpfznachdrüdlicher 


543 


Überzeugtheit der andere der lichtſcheuen Euleriche. „Püterich, 
man wird nicht jünger! — Man wird nicht jünger, lieber Püte⸗ 
rich!” Noch nahdrüdlichrdumpfer fehte er dann Hinzu: „Auch 
verleiht man feine Kapitalien und feinen Kredit nicht bloß, um 
einem alten Freunde einen Gefallen zu tun. Seinen eigenen 
- Kredit wünfcht man mwenigftens gleichfalls dadurch zu erhöhen, 
und wenn e8 auch nur vor dem eigenen guten Herzen wäre.” 

Was der Baron von dem Herzen feines Freundes hielt, wollen 
wir dahingeftellt fein laſſen. Seit der Teßtere mit feinen An; 
fpielungen auf Kredit und Kapital herausgerüdt war, hatte der 
Baron ein unruhig Hinz und Herrüden auf feinem Site begonnen; 
jest feßte er fich wieder fefter, Hopfte mit der Dofe auf den Tiſch 
und tief: 

„Du haft fie innerhalb eines Vierteljahres — parole d’hon- 
neur! Bor acht Tagen ſchon habe ich meinen Trumpf ausgefpielt 
und an ber betreffenden Stelle die Nadel am Figlichften Punkt 
eingebohrt. Sch habe den guten Eltern unferes lieben Kindes 
ihren Standpunft in bezug auf meine Erbfchaft Har gemacht —“ 

„De, be, he, du Taufendfafa !” 

„Lache nicht, Magerftedt. Du haft mir nicht umfonft deinen 
Kredit geliehen. Papa und Mama haben mit felbft mich über; 
tafchender Eile Vernunft angenommen; unferem — unferem 
jungen Nachbar jenfeits des Hofes iſt das Haus verboten worden. 
Morgen ift Sonntag, das Wetterglas fteigt immer noch; ohne 
eine Erfältung fürchten zu dürfen, gehen wir im Frack hin und 
machen unfere Aufwartung. Du follft dir das Jawort der Kleinen 
holen — das der beiden Alten haft du; und meinefwegen — 
magft du — am Montag — Hochzeit — halten!” 

„Montag wird nicht wochenalt,” Ficherte der Herr von Mager; 
ftedt, fi die Hände reibend. „Wir werden fehen, wir werden 
fehen! Aber ein Tenfelskerichen bift du und bleibft du, Püterich. 
Wir find beide Tenfelsterichen. Aber fiehft du, daß ich mit dem 
Kredit recht hatte! Wenn ich als dein Freund, dein einziger, wirk, 


544 


licher, wahrer Freund nicht wüßte, was du wert bift, fo möchte 
ih ſchon aus alter Anhänglichkeit die Gefichter nicht fehen, 
die dir die Stadt fehneiden würde. Da haft du abermals meine 
Hand darauf, ich werde dich noch höher in der Achtung der Welt 
fteigen Taffen. Sch werde noch um ein bedeutendes von dir beffer 
reden. Dein Kredit — dein Kredit! Deine Erbfehaft — deine 
Erbſchaft! Es ift zu himmliſch, zu originell!“ 

Der Baron hatte wieder wie vorhin feine Ruhe auf feinem 
Siße, aber nicht aus innerlichftem Behagen. Er verfuchte es zwar, 
auch in das Freifchende Lachen des Freundes einzuftimmen, aber 
e8 kam blechern, merfwürdig blechern heraus, und er gab’8 auf 
und fagte: 

„Der größeren Sicherheit und Vorſicht halber werde ich 
jedoch, wenn du nichts dagegen haft, noch einen Beſuch in der 
Billa machen.“ 

„Dagegen haft? Nicht das geringfte Habe ich einzuwenden. 
Ganz im Gegenteil werde ich dir mit Vergnügen in den Überrod 
helfen und dir eine Drofchke beforgen. Eile, mein Söhnchen! Ich 
habe ihr das Stübchen nach dem Hofe, wie du weißt, eingerichtet, 
daß eine Prinzeffin dein fich behaglich fühlen müßte. Das Neftchen 
ift zwar ein wenig dunkel, und die Ausficht geht gerade nicht ing 
Grüne, allein was braucht fie auch ing Grüne zu guden. Auf 
mich foll fie fehen, und fie wird e8 um fo zärtlicher tun, je weniger 
—— ſie von ihrer Aufgabe, mich glücklich zu machen, 

zieht.“ 

„Aber die Fenſter deines Hinterſtübchens korreſpondieren mit 
denen des Aſſeſſors!“ warf der Baron ein. „Auch der junge 
Mann gehört zur Außenwelt und in deiner Stelle —“ 

„Da ich ihm leider nicht in die Unterwelt befördern kann, fo 
babe ich längft mit Aldenberger und Kompagnie gefprochen. Er 
sieht aus, ehe mein füßes junges Weibchen einzieht. Hielteft du 
mich wirklich für fo dumm, Püterich?“ 

„Seht bleibst nichts weiter übrig: ib muß 


545 


mich zeigen!“ fagte das Geſpenſtdes Hauſes. „Es 
iſt zwar ganz gegen meine Natur, aber es geht nicht anders. 
Du erſparſt mir auch das nicht, Philibert, un d ich werde 
mich — an deuten!“ 

Ein Nagel löſte ſich plötzlich ohne alle äußere Einwirkung aus 
der Wand los, und ein Bild — das Bruſtbild einer vor fünfund⸗ 
zwanzig bis dreißig Jahren in mehr als einer Beziehung bes 
rühmten Künftlerin der Föniglihen Bühne fiel herab. Das 
Glas zerfplitterte, der Rahmen zerbrach und verfireute Wurm; 
mehl über den Boden. Die beiden frefflichen alten Knaben fuhren 
im jäheften Schreden in die Höhe. 

„zum Henker, wie Fam denn das?“ fragte der Baron Philibert 
Püterich, unter feinem grünen Augenfchiem hervor die Trümmer 
überblinzelnd. 

„Ganz natürlich; in einem ſolchen alten Kaſten von Gebäude 
hält zuletzt nichts mehr!” meckerte der Freund, feinem Nerven; 
foftem durch die Nafe, das heißt durch eine von ung nicht gezählte 
Reihenfolge von Prifen zu Hülfe kommend. 


546 


PViertes Kapitel. 


o, was man fo nennt — fo ganz natürlich war das Ding 

denn Doch nicht zugegangen; wir, der Yutor, geheßt mit allen 
Hunden der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts, willen das 
und geben den Nerven der beiden alten Herren recht und nicht dem 
Faflungsvermögen ihrer Iogifchen Denffähigfeit; wobei wir ung 
die Anmerkung geftatten, daß die erfteren immer eine Realität 
find, während das leßtere dann und wann eine fchöne Redensart 
ift und auch bleibt, 

Es war Rofa von Krippens Geift oder Schatten, der feit 
einem Menfchenalter hinter der Tapete im Wohngemache des 
Barons Püterih im Püterichshofe Hlebte, und dem der Nagel, 
welcher das Bild der fehönen Sünderin Innocentia an der Wand 
befeftigte, gerade durch das Schattenherz ging. Wie ein aufge; 
fpießter Gefpenfterfchmetterling haftete Roſa von Krippens 
Schemen zwifchen der Mauer und dem aufgekleifterten Tapeten; 
leder und hatte alles anzuhören und anzufehen, was in dem 
Gemache des Baron gefprochen und getan wurde. 

Und Rofa war um den Baron am gebrochenen Herzen ges 
ftorben und Hebte zur Strafe und Sühne dafür hinter der Tapete; 
und der Nagel, der fie anheftete und zugleich das Bild der ſchönen 
böfen Innocentia hielt, hatte auch feine mehr als fombolifche 
Bedeutung. Noch nie, feit e8 Gefpenftergefchichten gibt, war die 
geiftige Duinteffenz eines Menfchenmwefens auf gleiche wirfungs; 
voll begründete Weife zum Dableiben, Zuhören und Beobachten 
im Erdentreiben genötigt worden. Noch nie war ein jungfräulich- 
neroössschüchtern Erdennärcchen in gleicher Art wie hier Fräu; 


547 


lein Rofa in die Ede geftellt worden mit dem uralten Erziehungs; 
wort: 

„Stier ftehft du fo lange, bis ich die Überzeugung gewonnen 
habe, daß du es nicht wieder fun wirft.“ 

Und länger als dreißig lange Jahre hatte Roſa von Krippen, 
unbefchreiblih dünn ausgebreitet, Hinter der Tapete gehafter 
und den Geliebten dreißig Jahre älter werden fehen und Gelegen⸗ 
heit gehabt, während diefer Zeit Dinge von ihm und an ihm zu 
fehen, von denen fie vor dreißig Jahren — keine Ahnung gehabt 
hatte! — — 

Die naturhiftorifche Gefellfchaft fehr platter Tierchen, die mit 
ihr ihren Aufenthaltsort hinter der Tapete feilte, konnte bei ihren 
fonftigen Gefühlen nicht im geringften in Betracht kommen. 
Mas diefer feinfühligen Mädchenfeele auferlegt worden war, 
war etwas; — und ein jahrhundertelanges Als⸗feuriger⸗Mann⸗ 
Herumgehen” der Grenzverrücker, der Schäßeverfcharrer, der 
unentdeckten Moritätler war nichts — dagegen! gar nichts!! 

Daß ein Mann den Urtels; oder Bannfpruch gefprochen hatte, 
lag Har am Tage oder vielmehr hinter der Tapete, und daß ein 
weiblicher Gerichtsbeifiger bei manchem mündlichen und ſchrift⸗ 
lichen, öffentlichen und geheimen Nechtsverfahren in weiblichen 
Angelegenheiten fehr am Plate wäre, Tiegt uns Har am Tage 
und der holden, aber, wie wir vorausfegen, augenblicich Höchft 
entrüfteten Leferin ficherlich auch. 

„Bah — am gebrochenen Herzen fterben! Mir follte einer 
noch mal damit kommen!“ ruft die leßtere; unbedingt jedoch das 
Verdienft eines Mannes — aber eines gefrenen Eckarts in diefem 
Fall — nämlich das Verdienft des Autors iſt's, fie auf die mög⸗ 
lichen, ja fogar wahrfeheinlichen Folgen aufmerffam gemacht zu 
haben, was bei einer künftigen neuen Regelung der gefellfchafts 
lichen und fittlihen Verhältniffe zwifchen den zwei: Gefchlechtern 
auch in Berüdfichtigung zu nehmen fein wird, 

„So?“ fragt die Leferin, und infolge diefes Heinen Frage 


548 


wörtchens bleibt alles fürs erſte (wenigſtens im alten Deutfch; 
land) beim alten. — — 

„Das ift doch ganz kurios!“ meinte der Baron, mit dem 
Nagel und dem Bilde in der Hand. „Ein Erdbeben hat nicht 
ftattgefunden, und wir beide, Magerftedt, Haben ung auch nicht 
außergewöhnlich lebhaft bewegt. War e8 dir nicht auch, als ob 
das Porträt wie durch einen Stoß von der Wand gefchleudert 
worden fei?“ 

„Ich habe nicht darauf acht gegeben,“ brummte der andere. 
„Ich habe jüngere Dinge im Kopfe als die Bilder der Weiber 
unferer Vergangenheit. Und was dieſe da im befonderen be; 
trifft, ſo —⸗ 

„So ſtandeſt du nie mit ihr auf einem beſonders guten Fuße!“ 
kicherte der Onkel Püterich. „Gott, wie ſolch ein Zufall die vers 
fioffene Zeit in einem rege machen fann: Innocentia! — ah!“ 

„Und Rofa — Rofa von Krippen, Püterich?!“ fchnurrte der 
Herr von Magerftedt boshaft grämlich. „Eija, eija, es iſt eine 
lang verfunfene Welt; aber — gottlob! — wir find noch vorhan⸗ 
den, und das iſt doch die Hauptſache.“ 

„Freilich — o gewiß!” murmelte der Baron, in ein immer 
tieferes Nachdenken verfinfend, 

Der liebenswürdige Freund hielt fich währenddem wieder an 
feine Dofe, bis ihm die Gefchichte zu langweilig wurde und er 
den Onkel dadurch aus feinen Träumen erweckte, daß er fich empor; 
hob und ihm auf die Schulter klopfte: 

„Alſo du hältſt dich an unfere Verabredungen. Ich vers 
laffe mich ganz auf dich und dulde Feine ferneren Ausflüchte und 
Verzögerungen mehr.” 

„Verlaſſe dich darauf, Morgen früh fahren wir zuſammen 
vor, und heute abend mache ich noch dem Nichtchen und ihren 
braven Eltern eine Viſite.“ 

Er lehnte das Bild Innocentiag gegen die Wand, von der e8 
beruntergefallen war, und die beiden Euleriche nahmen für dies; 


549 


mal Abfchied voneinander — zärtlich, gerührt, bewegt können 
wir denfelben jedoch nicht nennen. Außerdem, daß fie wußten, 
was fie voneinander zu halten hatten, wußten fie ja auch, daß fie 
nahe beifammen — der eine unter dem andern — wohnten, und 
daß fie fich recht bald wiederfehen würden, 

In der angenehmen Abendfühle erſchien der Onfel Püterich 
in der Billa der Eltern Erneftas, und um Mitternacht erfchien 
der Geift Rofa von Krippens dem Affefior bei der Regierung 
Abwarter, dem Geliebten und verfiohlen Verlobten Erneftas. 

Alte Gebäuderumpeleien zu fehildern und unfere Stimmung 
daher zu nehmen, ift ung zwar fonft ein Vergnügen, aber dennoch 
laffen wir diesmal den Püterichshof ruhig beftehen, wie er fteht, 
und verfeßen ung ganz und gar in die Gefühle der Seele Fräulein 
Roſa von Krippens, nachdem der Nagel heraus war, der fie 
dreißig Jahre lang hinter der Tapete ihres einftigen Geliebten 
und ftadtfundig vor Eltern, fonfligen Verwandten, Freunden 
und Freundinnen Verlobten feftgehalten hatte. Daraus faugen 
wir unfere Stimmung und bringen hoffentlich allen unferen 
geferinnen einen Hauch der Befreiung mit. 

„Uh,“ hauchte vor allen Dingen der Geift Roſas, fich zum 
erften Male feit dreißig Jahren frei zufammenziehend und wieder 
ausbreitend. „Barmherziger Gott, bift du fo gut? Iſt e8 denn 
möglich?! Iſt e8 wahr?!!!!“ 

Es ift wahr! Die naturhiftorifche Gefellfehaft Acanthia im 
Kleifter fing an unruhig zu werden, weil e8 möglich, weil e8 wahr 
war: der Geift Roſas durfte zum erften Mal wieder die Stellung 
verändern, den Plaß wechfeln! Was Nofa von Krippen im Leben 
nie zu tun gewagt hatte, das tat ihre Seele jetzt nach nahezu 
oollendeter Buße: fie redte und dehnte fih natürlih — fie 
fchüttelte fich fogar. Sie wendete fich fhaudernd von der Aus; 
ficht in dem Zimmer des Onkels Püterich ab; — mit dem Geficht 
gegen die Wand, mit der Rückſeite gegen die Hinterfeite der 
Tapete gedreht, fuhr fie auf und ab an der Mauer; Innocentia, 


550 


die Tänzerin, hätte ihr ihre Schattenfprünge nicht nachge⸗ 
maht — — — 

Meine Damen, man muß dreißig Jahre lang felber als prüde, 
prätentiöfe deutfche Jungfrau hinter der Tapete geklebt —* 
um ihr dieſe Gefühle nachempfinden zu können — — — — — 
Was uns, den Gewährsmann, angeht, fo entnehmen wir, ir 
gefagt, nur unfere gegenwärtige Stimmung daraus, Unfer Ge; 
fchiet bewahre ung gnädig davor, in ähnlicher Weife feftgenagelt 
zu werden. Wenn ung der Nagel nicht durch das Herz geht, fo 
wird er ung ficherlich durch die Stirn getrieben werden; aber, bei 
den Unfterblichen, es gelüftet ung nichtsdeftoweniger, zu willen, 
für weſſen Bild er durch die Tapete und unfer Hirnin die 
Mauer gefhlagen werden wird! 

„Steden Sie fich doch gefälligft Hinter die Tapete,“ wird die 
freundliche Leferin Lächelnd raten; und wir brechen ab, das heißt 
wir fahren anlautend fort, den Gefühlen Fräulein Roſas weiter 
Folge zu geben. 

„Es iſt mir im Leben fchwer geworden, mich zu äußern, wie ich 
empfand,“ hauchte der gelöfte Geift; „jet möchte ich fehreien 
fünnen, um zu fagen, wie ich mich fühle! Ich Habe mich immer 
nur ahnen laffen wollen und habe in Verdrießlichkeit und trüb⸗ 
feligem Schmollen meine Tage verbracht, wenn meine Um; 
gebung nicht fähig war, mich zu fallen. O Gott, frei, frei, frei 
von der Wand! Frei von diefem fürchterlihen Nagel! Ah! — 
ah! — oh!” 

Und Rofas Geift fah den Onkel Püterich Toilette machen, ſah 
ihn feine beffere Perüde auflegen, fah ihn nach feinem Hut und 
Stock ſuchen und fah ihn abziehen. Er hörte ihn die Treppen 
hinunterhuften (ift e8 nicht feltfam, daß wir von Roſas innerftem 
MWefen als einem Er reden müffen?), und er hörte die Drofchke 
forteollen, die den einftigen Geliebten zur Villa Piepenfohnieder 
führte. Er zögerte noch ein Weilchen, dann wagte er's bangend 
und ftredfte die Zehenfpige durch die Tapete (unfichtbar natürlich, 


551 


da e8 noch Tag war!), das Knie folgte, eine Hand folgte, es 
folgte die andere — der Nafenfpise folgte der Reſt des Gefichtes 
und fonfligen Körpers: Roſa von Krippen ſtand mit einem 
Geifterfprung inmitten des Gemaches Philibert Püterichs! 

„Ah!“ — 

Wenn wir auch einmal die Wohligfeit einer folchen oder ähn⸗ 
lichen Erlöfung gefoftet haben werden, find wir vielleicht imftande, 
den Zuftand ganz genau zu fehildern, und finden auch vielleicht 
jemand, dem wir ihn in die Feder diktieren können. Was wir 
heute angeben fünnen, ift nur ein verhältnismäßig Außerliches: 
Roſas Geift drehte fich drei Minuten mit der Geſchwindigkeit 
eines Kreiſels um die eigene Achſe; Roſas Geift hob die linke 
Fußfpige gegen die Dede und hob die rechte, Roſas Geift hüpfte 
auf und drehte fich von neuem ein halb Dutzend Mal in der Luft 
um fich felber. Roſas Geift war eben im Begriff, fih auf den 
Kopf zu ftellen, was felbft Innocentia in ihrem Erdendafein nur 
in ihrer Eindlichften Jugend öffentlich getan hatte, als leider Gottes 
jemand — vielleicht der Briefträger — an die Tür pochte, 
und — er (Rofas Geift) in’ einem jähen Nüdfall in die alte 
Erdenfchüchternheit fih Blisfchnell zurüd Hinter die Tapete 
rettete. Der Pochende marfchierte, da niemand ihm öffnete, 
verdrießlich wieder ab; aber Roſa von Krippen fühlte e8 durch 
ihren ganzen Schatten, daß fie fich von dem Schreden zu erholen 
habe, blieb bis Mitternacht an der Stelle, wo fie dreißig Jahre 
lang gemwefen war, und wagte fih dann erft zum zweiten Mal 
hervor, ihrerfeits den Leuten zum erfien Mal im Verlaufe ihres 
Banns einen Schreden einzujagen. An dem Herausfliegen des 
Nageld und dem Herunterfallen der Lithographie vorhin war 
fie ja nicht fehuld, — durchaus nicht! — aber die Sünderin 
Annocentia kann vielleicht Auskunft darüber geben; — fie will 
aber vielleicht nicht, 

Es ift jet für uns Mitternacht. Am anderen Ende der Stadt 
ſchlummern in der Billa Piepenfchnieder Papa und Mama 


552 


— —— 


fänftiglih, Die Dienerfchaft fchläft, Teife raufchen die dunkeln 
Bäume und Büfche um das Haus, Die Nofen duften auch in 
der Nacht, und der Springbrunnen vor Erneftas Fenfter treibt 
gleichfalls im Dunkeln fein munter Spiel weiter, In der Villa 
Piepenfchnieder, in ihrem Kämmerlein fist nur das Fräulein 
des Hauſes wach in ihrem Bette, Eine Viertelftunde nach Ans 
funft des guten Onkels hat man fie aus dem Garten in den 
Salon zitiert, und fie hat fchöne Dinge zu hören befommen. 
Um Mitternacht überlegt Ernefta immer noch diefe Dinge und 
fucht vergeblich fich in fie zu finden. 

Um Mitternacht fchläft im Pürerichshofe der Onkel Püterich 
den Schlaf des Gerechten, der irgendeinen, ihm felbft recht Löblich 
erfcheinenden Vorſatz wieder einmal zur Ausführung gebracht 
bat. Er ſchnarcht, und Roſas Geift Hört ihn durch drei Wände 
hindurch ſchnarchen. Die zwölf feierlichen Schläge find eben ver; 
hallt, und — Roſas Geift wagt e8 zum zweiten Mal, aus ber 
Tapete hervorzutreten. Aber er muß durch des Onfels und einfti; 
sen Geliebten Schlafgemach, um in die Wohnung des Affeffors 
bei der Regierung Hllarion zu gelangen, und er zittert auf der 
Wand, wie jeder andere Schatten hinter einem fladernden Lichte. 

Er muß! er fühlt e8, daß er muß, und er nimmt alle feine 
Energie zufammen! Er wagt e8 — er geht durch die drei Wände, 
die ihn von dem fhlummernden Baron trennen — ſchreckhaft 
gleitet er an dem Lager desfelben vorüber. Er hoffte eben, unbe; 
merkt ducchsugelangen, und — er irrte fih: die Stunde ber 
Sühne war da — war auch für den alten Sünder Püterich da! 
der graue höhnifchkalte Heimtüder und Baron follte den 
Geift der Geliebten fehen, und — er fah ihn! 

Er ſaß mit einem Mal aufrecht im Bert, auf beide Hände 
frampfig fich frügend, und ſtarrte auf den zarten, ihm einft fo 
särtlichen Spuk, Die Haare konnten ihm nicht emporfteigen, 
denn feine Perüde hing über dem Perüdenftod auf dem Tifche 
neben feinem Bette, aber was er noch an Zähnen befaß, Flapperte 


553 


sufammen, und fein Blut foagulierte, und fein Gefchüttel machte 
e8 ihm für den Neft des Tages wieder flüffig. 
„Allbarmherziger! — was iſt? — Rofa !” 

Mit beiden Schemenhänden abmwehrend, zog fich die Erſchei⸗ 
nung gegen die nächfte Wand. Bon ihr den Rüden gededt, fah 
fie noch einmal ftumm mit den Gefpenfteraugen auf den gänzlich 
unzurechnungsfähigen alten Verbrecher, und dann — dann hatte 
noch nie, feitdem tote Geliebte den freulofen Liebhabern erfchienen 
find, eine Grabesbraut mit folcher Heftigfeit und ſolchem 
fchaudernden Widermwillen ihre Schleier und fonftigen Gewänder 
bis aufs Hemd zufammengefaßt, um durch die Mauer zu ver; 
fhwinden. Kein lieblich Erdenfind, fein Fräulein der befferen 
Stände entflatterte, von einem Befuch im fiefften Neglige er; 
tappt, jemals fchredhafter durch die Tür, wie in dieſem Augen, 
bli der Geift Rofas durch den Kleiderſchrank ihres Philiberts. 

Philibert aber fiel hin, wie am Nachmittag das Bild Inno⸗ 
centias. Es war fünf Minuten und drei und eine halbe Sefunde 
nach zwölf Uhr, und um zehn Uhr morgens lag er noch immer. 
E8 war eines der größten Mirafel, daß er überhaupt je wieder 
aufftand, und e8 zeugte jedenfalls von feiner guten Konftitution; 
denn mancher andere in feinem Alter wäre nach einem folchen 
Schrecken in alle Emigfeit liegen geblieben. 


554 


Fünftes Kapitel. 


De ein Geiſt Uh oder Huh ſchreit, iſt nichts Unerhörtes, Un; 
gewöhnliches; aber Roſas Geiſt, wiederum durch drei 
Mauern ſich ſtürzend, ſtieß einen zwiſchen Ueh und Eh die Mitte 
haltenden Laut aus, nur Geiſterohren vernehmbar! Wir bitten 
demnach um den dumpferen, wenn auch lauteren Ton, wenn es 
uns beſchieden ſein ſollte, einmal derartig in der Stille der Nacht 
angeächzt zu werden. Wir hören fein, und leider iſt das nur 
in ſeltenen Fällen ein wünſchenswertes, angenehmes Geſchenk 
der Götter. 

In einer vierten Wand ſammelte ſich die gute, aber nerven⸗ 
ſchwache Seele. Dann ging ſie, etwas gefaßter, weiter um, und 
zwar um die Halbſeite des Häuſervierecks des Püterichshofes. 
Wie ein leiſer Luftzug fuhr ſie durch Stuben und Kammern, 
durch einen Teil der Magazine von Aldenberger und Kompagnie, 
über Kaffeeſäcke und lfäſſer, über die Bettchen ſchlafender Kinder 
und vorbei an den Betten der Eltern diefer Kinder. Jetzt kreuzte 
fie einen Korridor, der fich vor der Stubentür Hilarions hinzog; 
— noch einmal hielt fie inne, fchwebte, fuchte fich felber zu be; 
ruhigen. Mit einem legten Entfchluß führte fie ihr Vorhaben aus 
und — erfchien dem jungen Aſſeſſor bei der Regierung! 

Ein folcher jugendlicher Aſſeſſor mit der Ausficht, dereinft 
Geheimer Rat zu werden, verliebt, geliebt, im geheimen verlobt 
und dazu mit äfthetifchen Neigungen behaftet, ift eins der glück⸗ 
feligften Geſchöpfe in diefer Welt, 

Se unglüdlicher er fich fühlt, defto wohler ift ihm, und Hllarion 
fühlte fich in diefer Nacht, wo felbft zu allem übrigen noch die 
Geifterwelt ihre Hand fegnend auf fein Haupt legen follte, über 
alle Schilderung felig in feinem Elend. 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 36d 


555 


Der Herr Aſſeſſor Abwarter malte ein wenig, und zwar ganz 
allerliebft Blumen; und Fruchtftüde mit flatternden Schmetter; 
lingen und friechenden Käfern in Wafferfarben. Der Herr Aſſeſſor 
trieb ein wenig Mufif, und ein Pianino war vorhanden und 
ftand aufgeklappt im bleichen Mondenftrahl. Man wollte willen, 
daß der Here Aſſeſſor Abwarter fich fogar dann und wann in 
feinen Bureauftunden mit den fchönen Wiffenfchaften abgebe, 
— daß er in feinen Nebenftunden dichte, wußte man ganz gewiß. 

Hlarion war durchweg ein Tiebenswürdiger Menfch, ob er 
Aquarell malte, auf dem Flügel phantafierte, den Pegafus 
sügelte oder Protokoll führte, Roſas Geift hatte durchaus feinen 
Grund, fih vor ihm zu fürchten, zumal da er ihn ſelbſtverſtänd⸗ 
lich vollftändig angefleidet, wenn auch im Schlafrod, traf. 

Wie hätte Hilarion fchlafen können? In Tagen — und 
Nähten wie diefe? — Noch nad) fünfzigiähriger Dienftzeit, als 
Geheimer Kat, Schwiegervater und Großvater hätte er's fih 
nicht vergeben. 

Er faß natürlich wach in feinem Kämmerlein im Pürerichshof, 
wie Ernefta in dem ihrigen in der Behauſung ihrer Eltern, in der 
Billa Piepenfchnieder. 

Er aber verdichtete die Stunden,. welche beide gute Kinder 
von Rechts wegen dem traumlofen Schlummer hätten widmen 
follen ! 

Die Billa Piepenfchnieder Tag, wie wir angemerkt haben, im 
tiefften nächtlichen Dunkel; der Piüterichshof jedoch im Mond- 
fchein — wahrfcheinlich eben der Poefie wegen; denn ſoviel das 
uns, den Protokollführer im gegenwärtigen Fall, angeht, fo 
wiſſen wir uns ganz und gar unfehuldig an der Holden Beleuch⸗ 
tung; wir haben feit längerer Zeit unfere Arbeitsftunden in den 
hellen Tag, zwifchen das Frühftüd und das Mittagseffen verlegt. 
Mir machen feit längeren Jahren keinen Anfpruch mehr darauf, 
poetifch zu fein, 

Keder Johanniswurm übertrifft ung in der Fähigkeit, 


556 


fobald e8 dämmerig wird, fein Licht der Umgebung mitzsu; 
teilen, — — 

Hilarion faß vor feinem Tiſch beim Mondenfchein und beim 
Scheine feiner Lampe. Er hielt in allen Dingen, foweit e8 feinen 
Mitteln möglich war, auf Zierlichfeit und Anmut in feinen Zus 
behörden. Er liebte nicht nur fein Ernefichen, fondern auch 
bronzene Briefbefchwerer, kriſtallene Tintenfchalen, elegante 
Federhalter und feines Poftpapier.. Auch feine Akten hätte er am 
liebften auf letzterem gefchrieben; feine Liebesbriefe und feine 
Gedichte legte er immer in hHübfchefter Handfchrift daranf nieder. 
Wenn er dabei nicht an die Ewigkeit, die Unfterblichkeit dachte, 
fo war auch dag, wenigftens was die Gedichte betraf, ein Hübfcher 
Zug von ihm. 

Augenblicklich fchrieb er auf einem zart violett gefärbten 
Blatte, das heißt er fiarrte darüber weg und hinein in das bläu; 
liche Silberlicht vor dem offenen Fenfter. Fünf Minuten lang 
ftand Roſas Geift hinter ihm und fah ihm über die Schulter, 
und dann — — als der Aſſeſſor bei der Regierung ſeufzte, lächelte 
wehmäütig Roſa von Krippen! zum erftien Mal feit Mitternacht, 
zum zweiten Mal, feitdem fie Innocentias Lithographie von der 
Schattenbruft losgeworden war. 

Sp hätte Rofa von Krippen von ihrem Philibert — dem 
jeßigen Onkel Püterich — in der Zeit ihrer und feiner Jugend, 
in der Zeit ihrer beiderfeitigen jungen Liebe angedichtet worden 
fein mögen! — 

„Ja, dann wäre alles ganz anders gekommen!” hauchte diefe 
verwunfchene Mädchenfeele, und ein neuer Schauer ob des 
dreißisjährigen Aufenthalts hinter der Tapete und in der natur⸗ 
hiſtoriſchen Gefellfchaft Tief ihr durch den Schatten, vom Wirbel 
bis zur Zehe. Ach, die erſte Mufe, die bei dem Onfel Pürerich 
Gevatter feht, ift die unferige! — 

Der Aſſeſſor Hilarion griff fich durch das Iodige Haar und 
feufjte noch einmal, Zugleich wurde e8 ihm merkwürdig fühl im 


= 557 


Rüden, er fchob es auf das offene Fenfter, und da er noch in 
diefem Moment feinen auf das Wort „Wunfch” paffenden Reim 
fand, erhob er fich, um den Flügel zu fehließen ; — wir aber möchten 
jetzt Mondfchein, Lampenfohimmer, Blumenduft, Geifterhauch 
und Rheumatismus zu gleicher Zeit fein, um ihm, uns und 
unferem Publikum gerecht zu werden in dem Moment, als er fich 
wendete — 

„Rofa von Krippen hieß ich im Leben!” fagte die Duftgeftalt, 
die er an feiner Statt fehemenhaft an feinem Plate in feinem 
Seffel vor feinem Schreibtifche figen fah. 

„Engel und Boten Gottes, fteht ung bei!” Hauchte der Aſſeſſor 
bei der Regierung. 

„Mein eigen Schiefal fendet mich, guter Jüngling,“ flüfterte 
die Erfcheinung. „Ein Menfchenalter haftete ich hin — nein, das 
Entfegliche ift nicht auszufprechen! Dein Ohr würde das Furcht; 
bare nicht fragen! und ich ſchweige.“ 

„Sprich — zu — mir! Sei du ein Geift des Segens, fei ein 
Kobold, aber — fprich zu mir!” 

„Sie fprachen von dir heute genug drüben im Vorderhaus,“ 
hauchte der Geift. „Sie haben Schlimmes — Arges mit dir im 
Sinn! mit dir und deiner Geliebten !“ 

„Der Onkel Püterich?” ſtammelte Hilarion, ben Falten Schweiß 
von der Stirn wifchend. 

„Der Baron Philibert Püterich und fein Freund!” 

„Sein Freund Magerftedt?” 

Die Erſcheinung ließ das Haupt finfen: 

„Sehe zu Konſtantius.“ 

„Zu Konſtantius?!“ 

„Er leidet ſeit vorgeſtern an Zahnweh, und du wirſt ihn mor⸗ 
gen daheim in ſeiner Zelle treffen. Führe deine Braut mit dir 
zu ihm und ſage ihm, ich habe euch geſendet.“ 

„Du?“ 

„Roſa von Krippen! Wundern wird er ſich wohl ein wenig!“ 


558 


„In feiner Zelle? Großer Gott, doch nicht vor dem ***tor, 
in der Provinzialfteafanftalt?“ 

„Tief — tief im Walde! Grüße ihn; fage ihm: dreißig Jahre 
habe Rofa von Krippen hinter der Tapete im Püterichshofe ge; 
ſteckt und — fende dich, daß er dir helfe,“ fprach die Erfcheinung 
verblaffend — immer mehr verfchießend. 

Er — Hilarion — wollte ein Wort fagen; aber da fland der 
Stuhl vor feinem Tifche und feinem Manuffript wieder leer. 
Er riß die Uhr hervor, — fie mußte unbedingt richtig gehen! es 
war Eins in der Nacht. Wäre fie unrichtig gegangen, fo hätte 
er fie unbedingt in Ermangelung der Sonne nad Roſas Geift 
ftellen dürfen. — Er 509 einen zweiten Seffel an den Tiſch und 
faß nieder, die Uhr in der Hand behaltend; nicht um eine Präſi—⸗ 
dentenftelle hätte er den Platz einzunehmen gewagt, den fein 
Befuch eben verlaffen hatte. Was das Zubettgehen anbetraf, fo 
fam er gar nicht dazu, die Möglichkeit davon in den Sinn zu fallen, 
und wir geben ihm recht! felbft der abgehärtetfte Staatsanwalt 
würde nach einer folchen Vifite die Hofen anbehalten, ja die Stie; 
feln wieder angesogen haben. 

Dem Inrifchen Aſſeſſor war das Piden feiner Taſchenuhr das 
einzige, was ihn innerhalb der Grenzen feiner fünf Sinne 
fefthielt. 

„Rofa von Krippen! Roſas Geift! — der Onkel Püterih — 
Konſtantius — Herr von Magerftedt — Zahnweh feit drei Tagen! 
— dreißig Jahre hinter der Tapete, Konſtantius! — Rofa von 
Krippen? — Wer war, wer ift Nofa von Krippen? Es war ein 
Traum, oder ich befomme ein Nervenfieber! — Nein, e8 war fein 
Traum — ich habe das nicht gedichte!” 

Er überflog ſcheu mit ſchiefen Blicken das violette Blatt von 
ferne, ohne e8 aufzunehmen: 

„Da knie ich vor des Lebens höchſtem Wunſch!“ 

Er fohüttelte das junge Haupt: 

„Keine Ahnung, feine Idee von Rofa von Krippen! — 


559 


Wunsch! Wunfch?” und feltfamerweife fand er num plöglich den 
lange gefuchten Reim auf Wunſch. 

„Punſch!“ murmelte er und fügte fofort gellend Hinzu: 
„Dein, nein, bei den unfterblichen Göttern, nein und wieder nein! 
Gänzlih unanwendbar! Ganz außer aller Frage! Und was 
da8 andere — die holde Erſcheinung — nein, und dreimal nein! 
Sold ein ätherifch Bild war nicht imftande, dem ruchlofen Ge; 
bräu des Kollegen Wintenthin zu entfleigen! Übrigens bin ich ja 
auch geftern abend vor zehn Uhr, vor der zweiten Bowle kummer⸗ 
voll aus der Gefellfchaft fortgefchlichen und Habe mein Stübchen 
aufgefucht! Ein Menfch in meiner Lage ift doch wahrlich nicht in 
der Stimmung, den frivolen Schergen und den Wigen und 
Schnurren — indogermanifhen Vrfprungs natürlich — eines 
halben Dusend durch geiftiges Getränk belebter Meidinger, das 
heißt feiner beften guten Freunde, Gefhmad abzugewinnen !? — 
Mein Kind! Mein Herz, meine Ernefta! D Gott, wenn e8 Doch 
Morgen werden wollte, damit e8 doch wieder Abend werden 
fönnte und ich fie am Gartengitter fprechen dürfte!” 

Der erfte diefer Wünfche ging bereits in Erfüllung. Der 
Himmel machte felbft den Reim darauf und färbte fih purpurrot 
im Dften. Die Sonne fam, flieg immer höher und fand zu einer 
außergewöhnlich frühen Stunde den jungen verftörten Rechts; 
fundigen Hilarion in dem Zentralpoligeigebäude, allwo er fich, 
„plaufible Gründe” anführend, bei dem Kollegen und Punſch⸗ 
brauer Winfenthin erfundigte, ob je eine Familie von Krippen 
in der Stadt eriftiert habe, und ob e8 möglich ſei, daß vor dreißig 
Jahren ein weibliches Mitglied diefer Familie Rofa geheißen habe? 

„Das wollen wir gleich heraus haben,” fprach der etwas über, 
wacht dreinfchauende Kollege. „Sp raſch makuliert die Sicher; 
heitsbehörde ihre Akten nicht.“ 

Sie gingen dann beide ans Werk, fuchten in den Büchern der 
Vergangenheit und famen richtig zum Zweck. 

Sie fanden fowohl die Familie wie das Fräulein; wir aber 


560 


geftatten ung wehmütig und vollftändig abgeführt die Bemer; 
fung: 

„Da bringe nun einmal einer heute noch einen Geift unter die 
Leute!” 

Wir glaubten, wir hofften, mit Roſa hinter der Tapete 
fehauerlich zu wirken, und wir machten uns nur der Polizei 
gegenüber lächerlich, und — wenn ung unfere Erfahrung nicht 
täuscht, nicht allein der Polizei gegenüber. Unfer Gefühl freilich 
täuſcht ung fröhlich weiter; und fo halten wir ung an den uralten 
Droſt, daß e8 dann und wann auch ein Feines Verdienft ift, fich 
mit Verftändnis lächerlich zu machen, und daß alles Herventum 
mit einer Wurzel auch da hinunterhängt. 

Einen giftigeren, ärgerlicheren Freund als den Freund Mager; 
ftedt, da er am Sonntagmorgen im Frad bei dem Onkel Püterich 
erfchien und diefen nicht imftande fand, den am geftrigen Nach⸗ 
mittag verabredeten Plan auszuführen, hatte der Püterichshof 
noch niemals gefehen. 

Sein nächtlich Spufgeficht wagte der gute Onkel nicht als 
Entfehuldigungsgrund geltend zu machen; feine körperliche Zer⸗ 
fchlagenheit, fein gänzliches Unvermögen, heute einen verftäns 
digen Gedanken zu faſſen, wollte aber der liebe Freund nicht gelten 
laſſen. 

„Finten und Flauſen! nichts als Flauſen und Finten!“ zeterte 
der Herr von Magerſtedt. „O ich kenne deine Art, Ausflüchte zu 
ſuchen und zu finden, du alter Wechſelreiter. He, he, he, ſoll ich 
wirklich einmal an die Seifenblaſe deines guten Rufs — deines 
Kredits bei den Leuten mit dem Zeigefinger tippen? Ei, werden ſie 
ſich wundern in der Stadt und in der Villa Piepenſchnieder, 
wenn ihnen das ſchillernde Ding vor der Naſe zerſpringt. Püte⸗ 
rich, wenn ich jegt allein eine Vifite in der Villa mache, fo iſt es 
mit deiner Erbonfelei, dem beften Platz und Biffen bei Tifche, 
dem weichen Rückenkiſſen, der Fußbant uſw. uſw. in alle Ewigkeit 
vorbei, Und wenn das Publitum Wind davon friegt, wie du 


561 


deinen Ruf in allen Regenbogenfarben aufgeblafen haft, und wie's 
doch nur Seifenfhaum war, ſo — gratuliere ich dir zu den ange; 
nehmen Zitationen uſw., die dir das königliche Stadfgericht in 
den Brieffaften ſchieben wird,” 

„O Magerftedt — fieh mich doch nur an, Magerftedt !” 

„Mit höchſtem Widerwillen tue ich dag bereits feit einer halben 
Stunde, Püterich; und jet rede ich mein letztes Wort zu dir —“ 

Er kam nicht dazu, denn der Baron kniff plöglich die Augen zu 
und fperrfe den Mund auf, legte fich zurüd in der Sofaede und 
fingierte eine vollftändige Bewußtloſigkeit Höchft geſchickt, und 
zwar aus dem einfachen Grunde, weil er einer folchen in der Tat 
ziemlich nahe war. 

Selbft die befte Natur hält's auf die Dauer nicht aus, daß 
alles auf fie eindringt, die Geifterwelt und die Körperlichkeit, und 
beide in der „eminenteften” Weife. Wir, zum Erempel, rühmen 
ung auch einer guten Natur; aber das längere Zufammenfein mit 
diefen zwei ehrwürdigen Greifen halten wir gleichfalls nicht länger 
aus, Wir entfernen ung eiligft, tragen aber gottlob das Bewußt⸗ 
fein oder die Gewißheit mit ung fort, daß der Freund Magerftedt 
unfere Heine Ernefta heute noch nicht als Braut heimführt, und 
fie alfo auch morgen noch nicht als junge Fran in das idyllifche 
Hinterftübchen mit der Ausficht in den Püterichshof hermetiſch 
verfchließen kann, Als die Dämmerung diefes Sonntags kam, 
ſuchte der Onkel Philibert nach dem Gefangbuche feiner feligen 
Mutter in feiner gerade nicht fehr reichhaltigen Bibliothek, und 
je dunkler e8 wurde, defto weniger vermochte er es, fich felbft zu 
überreden, daß er das verftaubte Buch mit den filbernen Beſchlä⸗ 
gen und Klammern nur des Scherzes wegen auf feinen Nachttifch 
gelegt habe. 

Was Freund Magerftedt fich zur anmutigen Lektüre während 
der fchlaflofen nächtlichen Stunden bereithielt, wiffen wir, teilen 
e8 jedoch nicht mit. An den Orten, wo diefes intereffieren würde, 
fennt man das doch ſchon. 


562 


Sechstes Kapitel. 


un ift e8 wieder füße Ubenddämmerung mitten im fohönen 
Sommer, und wieder hat Ernefta fih auf das Recht der 
Sahreszeit und der Natur geftellt und allen ihren Verpflichtungen 
gegen die lieben Eltern ein Schnippehen gefchlagen. Die lieben 
Eltern wollen e8 ja nicht anders, und fo ift dag gute Mädchen bei 
finfender Nacht hinter den eindringlichften VBermahnungen, Ge; 
und Verboten von Papa und Mama weggefchlichen und hinter 
den Büfchen zu dem zierlichen Gartengitter gefehlüpft, an deffen 
Außenſeite der Geliebte in aller Verwirrung, Unruhe und Auf; 
tegung des Dafeins gleichfalls hinter dem Bufche harrte. 

Unter Umftänden foll ein verftohlener Kuß durchs Gitter 
föftlicher fein als Hundert von fünfzig Tanten genehmigte vor 
vollftändig verfammelter Verwandtfchaft. Hllarion und Ernefta 
aber fanden das heute abend noch weniger als am geftrigen und 
vorgeftrigen, Ernefta hatte eine entfegliche Angft, und der Aſſeſſor 
bei der Regierung hatte einen Geift gefehen und der Geliebten 
Mitteilung davon zu machen. 

Und er hatte die Gefchichte, das wunderbare, wunderfame 
Erlebnis dreimal vorzutragen, ehe er imftande war, feine Ver; 
lobte zu der Überzeugung zu bringen, daß er ihr nichts vorlüge. 
In der Beziehung war e8 jammerfchade, daß er den Onfel Püterich 
nicht mit als anderen Zeugen an das Gartengitter führen 
fonnte; ihm hätte die Geliebte vielleicht auf das erſte Wort 
geglaubt. 

Der Geliebten erſtes Wort war natürlich: 


563 


„Hilarion?!“ 

Worauf der Geliebte in fliegender, ſich überſtürzender Haſt 
erwiderte: 

„Ich habe in Leipzig, Bonn und Berlin ſtudiert; ich war heute 
morgen auf dem Polizeibureau und ließ mir die Bevölkerungs⸗ 
regifter nachfchlagen. Sch habe auch Feine Ahnung gehabt, daß 
Rofa von Krippen eriftiert hat: Ernefta, e8 gibt doch mehr Dinge 
zwifchen Himmel und Erde, als fich unfere Schulweisheit träumen 
läge!“ 

Nomina sunt odiosa, aber Zitate find oft noch viel odiofer: 
fein Gott hilft ung davon, das von neuem druden laffen zu 
müſſen, was die Hügften Leute immer wieder als etwas Frifches 
beibringen! Crambe bis cocta, zweimal gefochter Kohl, kann 
etwas ganz Delifates fein; aber wenn Ernefta, nachdem fie zum 
deitten Mal den Geliebten hat ausreden laffen, flüftert: „Alſo 
auch die Geifterwelt Hält ihre fchügende Hand über uns!“ fo 
glauben wir auch das ſchon häufiger als zweimal in einem Buche 
gelefen zu haben, ftänden ung jedoch felber nicht wenig im Lichte 
oder vielmehr vor dem Löffel, wenn wir durch diefe Bemerkung 
irgend jemand den Appetit verdorben hätten. 

„Sch möchte mich hier hinwerfen und die Erde mit meinen 
Nägeln aufreißen, wenn ich mir vorftelle, daß diefes in Fleiſch 
und Blut umher hinkende Gefpenft, deines Onkels Freund, in 
diefem Augenblick fih den Tisch in feinem Hinterftübchen hat 
deden laffen !” ftöhnte Hilarion. „Stelle e8 dir vor, daß er dabei 
nur in der Ausficht fchwelgt, dich demnächſt als Gegenüber bei 
feiner Hafergrüge zu haben! Stelle dir mich, ftelle die meine 
Yusfiht dann aus meinen Fenftern auf dich vor und fage mir, 
was wir fun follen, um das abzuwenden?“ 

Er hatte fich mit beiden Händen in die Haare gegriffen, und 
mit beiden armen Kleinen Händchen hielt fich Ernefta an den 
eleganten Eifenftangen, die fie von dem Geliebten trennten. 

„Entfeglih wäre es!“ flüfterte fie fehaudernd. „Iſt diefer 


564 


Einfiedler im tiefen Walde wirklich feine Fabel, fein Märchen, 
Hilarion?“ 

Der Aſſeſſor zog die eine Hand aus den Locken zurück, jedoch 
nur, um ſich mit ihr vor die Stirn zu ſchlagen. 

„Himmel, wie dumm, wie vergeßlich, wie verwirrt der Menſch 
iſt! Hätte ich mich nicht gleich auch danach auf der Polizei er; 
fundigen können? Daß er eriftiert, weiß ich freilich. Darin hatte 
die Erfcheinung, hatte — Nofas Geift recht.“ 

„Herz, fo will ich all meinen Mut zufammennehmen, und wir 
wollen e8 darauf ankommen laffen. Wo willſt du mich mit der 
Droſchke erwarten? und zu welcher Stunde ift e8 dir am paflend- 
fien? Was mich hier erwartet, weiß ich, und es ift das Schred; 
lichfte, wa8 mir begegnen kann. Was haben wir fonft noch zu 
fürchten, gefet den Fall, du habeſt dich geirrt und nur wunderlich 
geträumt?! Ich meine, morgen nah Mittag, wenn Papa und 
Mama Mittagsruhe halten, ift die gelegenfte Zeit. Erwarte mich 
hier mit einem Wagen und hilf mir über das Gitter. Wir fahren 
zu deinem Einfiedler, und die Geifterwelt mag fernerhin ſchützend 
ihre Hand über ung halten.” 

„Senefta! Ernefta! wo ftedft du?” rief man in diefem 
Moment zum zweiten Mal in diefer wahrhaftigen Gefchichte vom 
Haufe her, und wiederum flötete das liebe Kind zurüd: 

„Hier, Mama!” 

„Punkt vier Uhr morgen nachmittag!” flüfterte Hllarion tief, 
tief aus dem Jammer der Welt hervor, und Ernefta eilte nach einem 
frampfigen Händedrud der Villa gu. Bis morgen nachmittag um 
vier Uhr wiffen wir mit feiner Seele in diefer Hiftorie das ges 
tingfte anzufangen und füllen daher die ung fich aufdringenden 
Mupeftunden fo gut wie möglich aus, Der Narr rechnet nad 
Sahren, der Kluge nach Tagen, der Weife nach Minuten, und wir, 
die wir das alles durcheinander find, wir nehmen den Hut vom 
Nagel und machen einen Spaziergang durch den Aprilabend, 
Nicht di und fert mit den Gefühlen eines Philifters, der das 


565 


fettefte Schwein in der Gemeinde gefchlachtet hat; auch nicht mit 
den Gefühlen des Genius, der da fagt: „Heute habe ich aber mal 
wieder das Dafein von hundert Individualitäten in meiner eige; 
nen durchgefoftet und theatrum mundi mag nun meinefwegen 
einfallen!” — fondern ganz ſchmächtig und befcheiden, als des 
hohen Dichters entfernter armer Vetter oder vielmehr Halb- 
bruder, wie die Afthetifer fagen, der den Tag über wieder einmal 
faß und allerhand Rauchbilder des Lebens auf den Teller kritzelte. 
Unferen Lefern und Leferinnen wünfchen wir auf ihre Teller ein 
nahrhafteres Gericht, und dieſer Wunfch kommt gewißlich aus 
einem guten Herzen; denn wir finden in unferer Befanntfchaft 
nur einen einzigen Menfchen, der fich Tächelnd ob feiner Behaglichz 
feit beneiden läßt, und diefer feltene Glüdliche gründet fein Wohl; 
fein einzig und allein in dem Schmunzeln, mit dem er fein Teller; 
fuch auf den Knieen ausbreitet und ächzt: 

„Ha, das ift einmal wieder ein Effen, das einen für viel 
geiftigen Kummer entſchädigt!“ 

Der Mann Hat recht! der Mann ift glüdlich, während der 
große Genius, der vorhin erwähnte Poet ſich's ausmalt, wie 
Homeros den König Wlerander den Großen zwang, um das 
Grabmal des Achilleus zu laufen, — und fich den Kopf darüber 
zerbricht, wie num er e8 anfangen foll, einen künftigen Heros zu 
bewegen, fich feines Opus wegen außer Atem zu bringen und in 
Schweiß zu feßen. Daß das feine Schwierigkeiten hat, weiß er, 
und daß, zum Erempel, Kaifer Wilhelm und Bismard fich nicht 
darauf einlaffen würden, weiß er auch. Zu Tifche kann er mit der 
Gewißheit ja auch gehen; aber ob auch ihn das Effen für feinen 
geiftigen Kummer entfchädigt, ift eine andere Frage. Unſere 
tägliche Selbfttäufhung gib ung heute! 

Und Papa und Mama hielten ihre Siefta, und der Aſſeſſor 
Abwarter hielt mit feiner Droſchke an der verabredeten Stelle. 
Ernefta ließ nur zehn Minuten über die verabredete Zeit auf fich 


566 


warten; dafür aber brachte fie denn auch den Schlüffel zu einem 
Hinterpförtchen des väterlichen Gartens mit. Sie war unge 
mein bänglich erregt, faßte fich aber um defto rafcher in dem Ge; 
danfen, Daß e8 eben nicht anders gehe, und daß die Eltern e8 ja fo 
gewollt hatten. 

„Was ich tue, fo tue ich immer eine Sünde!” fchluchzte fie, 
als fie fih von dem Geliebten in den Wagen heben ließ. 

„Du bleibft immer gut! und alles, was du tuſt, tue ich mit,“ 
flüfterte der Affeflor, neben ihr Platz nehmend. Die Gäule zogen 
an, e8 gab einen Ruck, infolgedeffen Mund und Mund fich fo 
nahe zufammenfanden, daß — nun, wir fchreiben feine Ab; 
handlung über die Sünde, und was die Erbfünde anbetrifft, ſo — 
kurz, fie ftedten beide, Süngling und Jungfrau, im Jammer der 
Melt, die Drofchke rollte in der vorgefchriebenen Richtung fort, 
und e8 war einer der heißeften Julitage im Jahr. 

Nah fünf Minuten fagte die Jungfrau, ein wenig freier 
atmend: 

„Beſter Hilli, du haft doch die Gartentür wieder zugefchloffen? 
Sch wollte e8 dir noch fagen, daß du es fun und den Schlüffel 
dann über das Stafet auf den Sandweg werfen follteft, habe es 
aber in der Aufregung natürlich ganz vergeffen. Alle Diebe und 
Böfewichte, die dem Papa feine Blumen wegholen, fchleichen fich 
von diefer Seite ein.“ 

Der unvorfichtige Aſſeſſor hatte ebenfo natürlich in der Auf: 
regung am diefes auch nicht gedacht. Die Tür fiand offen, der 
Schlüffel ftedte im Schloß, und noch einmal den Kutfcher um; 
wenden zu laffen, war doch nicht rätlih. Sie fuhren eine halbe 
Stunde Weges um die äußerften Barrieren der Stadt; dann in 
- einer Pappelallee wieder eine halbe Stunde lang; dann bog 
der Wagen in einen Kommunalweg — fie befanden fich im freien 
Felde und erblidten den Wald auf einer fanft anfteigenden Höhe 
vor ſich. 


„O Gott, o Gott, was werden wir erleben?“ feufjte Ernefta, 
567 


und der Affeffor wußte feine Antwort darauf; aber ein Troft; 
wort fand er leicht. 

Der Kutfcher auf feinem Kutſchbock pfiff melancholifeh die 
Meife: D Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün find deine 
Blätter; — punkt ſechs Uhr abends erreichten fie die erften in 
da8 fonnige Feld ihren Schatten werfenden Bäume der Wildnis; 
die Droſchke hielt, der Kutfcher ſtieg ab, öffnete den Schlag 
und fah mit einem fragenden Blick auf feine Fahrgäfte nach feiner 
Uhr. 

„Wir nehmen Sie auf Zeit, lieber Mann,“ ſprach Hilarion. 
„Sie warten hier ſo lange, bis wir zurückkehren.“ 

„Ganz, wie's den Herrſchaften gefällig iſt,“ erwiderte der 
Kerl, und der Geliebte führte die Geliebte unter den niedrigen 
Hainbuchen fort, durch das Haſelgebüſch auf einem engen Pfade 
dem Hochwalde zu. Solange es ihm möglich war, ſah ihnen der 
Kutſcher nach; dann wendete er ſich zu ſeinen zwei mageren Gäu⸗ 
len und forderte fie durch einen ſtummen, aber unbeſchreiblich 
ausdrudsuollen Geftus auf, feine Anficht von der Sache zu teilen; 
und bitten wir unfere Lefer, einmal von neuem mit ung zu erken⸗ 
nen, daß eine wahrhaftige Gefchichte immer wahr Bleibt, und 
wenn fie auch vor hundert und mehr Jahren erzählt worden 
fein follte, 

Die zwei abgeraderten, faum in Haut und Knochen zuſam⸗ 
menhängenden Houyhnhmus ſchüttelten mit dem guten, freuen 
Blick ihres edlen Gefchlechtes die Köpfe. Was aber die Yahoos 
anbetrifft, fo find die fett Dr. Jonathan Swifts und Lemuel 
Gullivers Zeiten in Bildung und Feinheit und Genußfähigkeit 
weit vorgefchritten: fie haben jeßo auch eine Kunft und Literatur! 
Dem deutſchen, edeln Volke den Rat zu geben, fich einmal auch in 
diefer Yahooliteratur umzuſehen, ift Teider nicht notwendig. Es 
hat ſich ſchon Tängft darin umgefehen, weiß merkwürdig genau 
darin Befcheid, vergnügt fich ungemein dabei und — geftattet 
ung die Bemerkung, daß das rofigfte Fleifch, allem andern Fleifch 


568 


zum Trotz, doch nur ein frifch gewafchen Ferkel aufzuweiſen hat, 
dag über frifch gefallenen Schnee zu Markte getrieben wird. — — 

Sie gingen Hand in Hand auf dem lieblichen Waldpfade nach 
der ſchwülen, weinerlich-bänglichen, fieberhaften Fahrt von der 
heißen Stadt herauf. Die Sonne ging erft nach ein Viertel auf 
neun Uhr am Abend unter, und e8 war für das Liebespaar alfo 
noch Zeit für alles — Lichtgedanfen, Dämmerungsgefühle und 
dag, was die Nacht in der Menfchen Seelen wachzurufen verfteht. 
Folgen wir ihm! 


569 


Siebentes Kapitel. 


er fchmale Pfad verlor fih immer mehr in das fröhliche 
Märchen. Schon feit einiger Zeit Eonnten Hilarion und 
Ernefta nicht mehr Hand in Hand gehen; fie wanden fich hinter⸗ 
einander Durch das verwachfene Gezweig. Hllarion bahnte den 
Weg, und Ernefta folgte, Sie litten beide an einer füßen Einge; 
nommenheit aller Sinne, die fie unfähig machte, nochmals über 
fich, ihr feltfames Unterfangen und die kurioſen Dämonen, denen 
fie fih anvertraut hatten, nachzudenken. Die Vögel rund umher 
fangen ſo aufmunternd in ihre Betäubung hinein, daß fie 
für jedes Mirafel, welches ihnen begegnen mochte, bereit waren. 

Zuerft aber begegnete ihnen fein anderer al8 Freund Opper⸗ 
mann, und zwar gang im richtigen Moment, nämlich in dem 
Yugenblid, wo fie zum erften Mal ftillftanden und fih umfahen, 
Der Wald war fehr umfangreich, erſtreckte fich meilenweit nach 
allen Richtungen hin; aber e8 lebte nur Ein Einfiedler Konftan; 
tius dein, und der war alfo, wenn das Glüd und der Zufall nicht 
halfen, gerade fo ſchwer zu finden wie die befannte Nähnadel im 
Heuwagen. 

„Du haſt dich hoffentlich nach dem Wege erkundigt, Hilli?“ 
fragte die Geliebte, und kleinlaut mußte der Geliebte geſtehen, 
daß er weder bei Roſa von Krippen noch auf der Polizei danach 
angefragt habe. 

„Das iſt aber höchſt fatal,” rief Erneſta. „Was fangen wir 
denn nun an, Herz? Ich glaube, dieſer Weg verläuft ſich immer 


570 


mehr in die vollftändige Wildnis. O Hilarion, du haft mich 
hergeführt, und ich verlaffe mich ganz und gar auf dich!” 

„Das follft du auch können, Liebfte, Befte,“ fagte der Aſſeſſor. 
„Bon welcher Seite find wir denn aber eigentlich hergefommen?“ 

„Ich meine von dort!” 

„Nein, das meine ich nicht; denn bei unferem Eintritt in den 
Wald hatten wir die Sonne zur Rechten.” 

„Sollteſt du dich da nicht irren, befter Hilli?“ 

„Sewiß nicht! Aber warte nur; es führen alle Wege doc 
irgend wohin, und fo muß doch auch diefer feine Richtung haben. 
Laß ung nur noch ein Stredchen weiter gehen, wir gelangen 
ficherlich bald auf einen gebahnteren Pfad.“ 

Sie wanden fich noch ein Stredehen weiter durch das Unter, 
holz, und der Jungfrau wurde e8 immer unbehaglicher zumute, 
Möglich ftand fie von neuem jtill und fagte ein wenig vorwurfs; 
voll: 

„Siehft du, diefer Weg führt nirgends hin! O Gott, was foll 
daraus werden, wenn e8 Abend, wenn es Nacht wird und wir 
hier noch immer in der Irre herumlaufen. Der Kutfcher wird 
nicht warten bis morgen früh; er wird nad Haufe fahren. Wir 
werden den Einfiedler Konftantius nicht finden. Du haft doc 
nur geträumt, und ich habe mich viel zu fchnell zu diefer geäßlichen 
Unbefonnenheit verführen laſſen!“ 

„Mein liebes Kind —“ 

„O, du trägft alle Verantwortung! Du haft mich hier in die 
Angſt, in die Verwirrung gebracht. D Gott, o Gott, was werden 
Papa und Mama und der Onkel Püterich fagen? Was wird die 
ganze Stadt fagen? D Gott, da will ich doch tauſendmal lieber 
bier in der Wildnis umkommen und mich von den wilden Tieren 
freffen laffen, al8d nach der Stadt zurüdfommen und die Leute 
und Papa und Mama reden hören! D, o, ob, hätte ich mich doch 
auf der Stelle nach Laufanne zu Madame Septchaines zurück⸗ 
bringen laffen !“ 


W. Raabe, Sämtliche Werfe. Serie IL, 37d 
571 


„Erneſta?!“ rief der Geliebte vorwurfsvoll. 

„sa, ja, Hllarion! Mit taufend Freuden wollte ich da meine 
Erziehung von neuem anfangen laffen! und auf morgen abend 
find wir gu Erbachers zum Gartenfeft, Konzert und Ball gebeten. 
Meiner Mama Pate, der junge Herr Richard, ift aus Paris 
zurückgekommen!“ fchluchzte jet fohon das gute Kind, obgleich 
die Sonne noch immer hell und freudig am Himmel fand und 
die Vögel Iuftiger und lebensmutiger denn je zwitfcherten und 
pfiffen. Gerade jeßt aber vernahmen fie — Er und Sie — ein 
Kichern neben ſich — vor fich, hinter ſich — über fi; fie mußten 
felber nicht, woher e8 kam. — 

„Was war das?“ fragten fie beide; Oppermann, den ihnen 
ihr Schiefal jegt zu Rat und Teoft herfendete, war e8 jeden; 
falls nicht. 

Der raſchelte, Huftete, fluchte und fehnaufte Höchft menschlich 
und deutlich zu ihrer Linken im Buſch. 

„Gottlob, da kommt ein Menfch !” ſeufzte der Aſſeſſor bei der 
Regierung aus etwas befreiterer Bruſt; er hatte fich felten in 
feinem Leben fo fehr nach irgendeinem Menfchen, den jungen 
Herrn von Erbacher vielleicht ausgenommen, gefehnt. Er, der 
in feinem Umgange fonft außerordentlich wählerifch war, machte 
in diefem Augenblide die allerbefcheidenften Anfprüche, und 
Dppermann genügte denfelben vollftändig. 

Er war natürlich betrunfen, und jünger und hübfcher war er 
feit dem Tage, an welchem er den Eremiten zuerft in feinem 
Revier entdedte, auch nicht geworden. Als er aus dem Buſch⸗ 
werk heroorbrach und taumelte, ſtieß Ernefta einen Angftruf 
aus und Hammerte fich wieder fefter an den Geliebten, Opper⸗ 
mann aber legte die Hand über die ſchwimmenden Auglein, griff 
militärifch, fo gut e8 ging, zum Gruße an die Müse, ſchwankte 
noch drei Schritte näher und grüßte zum zweiten Mal mit einem 
unbeholfenen Kragfuß fehr zutunlich und, wie es ſchien, gleich, 
falls recht erfreut über die angenehme Begegnung. 


572 


„Herrje, Herrje,” ftammelte er grinfend, „da — find wir — - 
die jungen Herrfchaften ja fchon wieder! Mit Verlaub — Fräu; 
lein, was — haben Sie denn bei ung geftern vergeffen?“ 

„Geſtern?“ fragte das Fräulein, und: - 

„Seftern?!” wiederholte Hilarion ebenfo verwundert wie 
fein Bräutchen. 

„Mit VBerlaub, ich hab’ Sie beide doch geftern nachmittag erft 
aus dem Walde herausgedigerieret. Zwanzig Silbergrofehen 
Douceur — der junge Herr hätte auch wohl einen Taler draus 
machen können.” 

„giebfter Mann,” rief der Affeifor dem immer vergnüglicher 
blingelnden Oppermann zu, „geftern waren wir, ich und das 
Fräulein, nicht hier in Eurem verherten Walde, und Ihr habt ung 
alfo auch nicht wieder hinausdirigieren können. Aber einen Taler 
zahle ich Euch mit Freuden, wenn Ihr ung jett noch tiefer hinein; 
führt, das heißt zu dem Heren Konftantius, der hier in der Gegend 
wohnen ſoll.“ 

Der Alte hatte fich gludfend an einen Baum gelehnt und 
fchüttelte bedenklich den Kopf. 

„Mit Berlaub, Sie waren e8 nicht, die geftern ſchon bei Herrn 
Konftantius um Nat waren?” 

„Gewiß nicht; auf Ehre!” 

„Na,“ rief der muntere Greis nidend, „hören Sie, dann fängt 
e8 aber allnachgerade an, von Ihnen hier im Revier zu wimmeln, 
und der Ba—ter — Konflan—ti—us hat recht.“ 

„Worin hat der Vater Konftantius recht?“ 

„Darin — nämlich, daß, es ihm zu viel wird und er aus; 
ziehen will,“ 

„Sütiger Himmel!” flüfterte Ernefta; aber ihr kluger Hilli war 
mit feinen Überredungskünften glüdlicherweife noch nicht zu Ende. 

„Hören Sie, alter Freund,” fagte er zutraulich, „es foll mir 
auch auf zwei Taler nicht ankommen, wenn Sie ung diesmal noch) 
den Weg zu Ihrem Einfiedler führen.” 


37° 


573 


„om!“ murmelte der Alte, vor einem durch das Gezweig 
bligenden Strahl der finfenden Sonne niefend und dann die 
Nafe mit dem Knöchel des rechten Zeigefingers reibend. 

„Ne!“ brummte er, einen Entfchluß herausreibend. „Sch tu’ 
es nicht! Er ift feit dreißig Jahren mein eingigfter Kumpan und 
Troſt in der Eindde, und er will feine unglüdlichen Liebespaare 
mehr. Er will fich nicht mehr überlaufen laffen. Weshalb find 
Sie e8 geftern nicht gewefen? Geftern wären Sie die Allerlegten 
gewefen, die er vor fich gelaſſen hat.“ 

„Siehft du, Hilarion?“ fchluchzte Ernefta, „o Gott, gib ihm 
nur fohnell ein Trinkgeld, und laß ihn ung zu unferer Drofchfe 
zurückbringen!“ 

„Erneſta?!“ ſtammelte Hilarion nun wirklich ein wenig vor⸗ 
wurfsvoll; doch glücklicherweiſe hatte Oppermann der Brave das 
bängliche Wort des armen Kindes überhört und ergriff feiner; 
feit8 von neuem mit immer dickerer Zunge ffammelnd das Wort: 

„Wiffen Sie, was ich tun will für die zwei Taler? Ich will 
Ihnen die Direktion angeben, und wenn Sie hernach Ihren 
Weg allein finden, fo ift ung allen geholfen. Wollen Sie?“ 

„Gewiß, Sie alter —“ fehrie der Affelfor bei der Regierung, 
das Hauptwort im Sabe verſchluckend. 

„Ra, dann verlaffen Sie ſich nur auf Oppermann; Sie fein 
die erften nicht, denen er die Direktion angegeben hat. Sie halten 
ſich alfo zuerft —“ 

Und er fuhr fort, wir aber fahren nicht in diefer Richtung fort, 
ihm zu folgen, denn eine umftändlichere Wegbefchreibung hatten 
Hlarion und Ernefta noch nimmer in ihrem Leben erhalten; es 
war unter allen Umftänden ein Sammer, daß er — der Vater 
Konſtantius — noch in feinem Neifebuch fand, und daß weder 
Herr Bädefer noch Herr von Berlepſch ihn in feiner Wildnis auf; 
gefunden und fouriftengerecht gemacht hatten ! 

Den Schluß von Oppermanns Nat und Andeutung dürfen 
wir jedoch unferen Lefern nicht vorenthalten, denn er war in mehr 


574 


als einer Hinficht von Wichtigkeit und in jeder ungemein merk; 
würdig. 

„Ohne meinen Dorft hätten Sie lange fuchen follen, Tiebfte 
junge Herrſchaft! Das Trinkgeld ift vedlich verdient, da verlaffen 
Sie fich auf Oppermann. Aber eines will ich Sie noch in den 
Handel geben, Fräulein; nämlich zweierlei. Als wie erfteng, wenn. 
Ihnen etwas Abfonderliches begegnen follte auf dem Wege, fo er; 
fchreden Sie mich nicht zu arg. Es meint's nicht böfe, und e8 tut 
Ihnen nichts, und mehr darf ich nicht fagen. Einige fagen, e8 ift 
ein Spuf, andere fagen, es ift eine Dummheit; aber Opper⸗ 
mann fagt, alle find fie Efel und kennen den Wald nicht und was 
fein Wefen in ihm hat bei Tag und Nacht, bei Sturm und Sonne, 
bei Winters und Sommerzeit. Paffen Sie nur auf! wenn Es 
ſich meldet, fo denken Sie an Oppermann. Es fennt mich, und 
wenn E8 hinter mir lacht, fo denf’ ih nur: Na, na! — und wenn 
Es mir als ein Funken, Vogel oder als eine nadte Jungfer in 
Spinneweb fommt, dann fage ih auch: Na, nal — und Es 
fennt Oppermann auch, und E8 ift e8 und nicht das Echo, das 
lacht: Aber Oppermann, Oppermann! und auch fein Pläfier 
an mir hat —“ 

„Allmächtiger, Hilarion!“ rief Ernefta in heller Angft, „bat 
e8 nicht vorhin fehon gelacht, und wir wußten nicht, was es 
war?“ 

„Sehen Sie, Fräulein!” fprach der Alte, fich fefter auf den 
Füßen ftellend und mit dem Zeigefinger auf das angftvolle Kind 
einbohrend — „Das ift E8 ſchon gewefen! Das war Es! und 
nachher kommen die Leute und fagen, Oppermann hat wieder 
mal nen Raufch gehabt, welches ich von Ihnen doch nicht denfen 
fann, liebes Fräulein.” 

„Hm!“ murmelte der Aſſeſſor, an die Stirn greifend, und: 

„Wie wollen umkehren! ich will zu Papa und Mama!“ rief 
dag Liebchen. 

„Bir wollen weiter — wir müffen und wollen weiter!” rief 


575 


der Liebhaber, den Arm um das zitternde Mädchen legend, 
und Oppermann meinte, ganz väterlich begütigend und be; 
ruhigend: 

„Sa, gehen Ste nur ruhig zu! Es tut Ihnen nichts, Fräulein; 
gar nichts! Lachen Ste wieder, wenn Es lacht; das hat Es am 
liebften, und womit ich zu meinem zweiten Punkt komme, 
nämlich zu dem Heren Konſtantius, wenn Sie ihn zuerft zu Ges 
ficht kriegen werden, daß Ste denn nicht erft recht erfchreden und 
mit Recht. Schauderhaft! fchauderhaft, fage ich Ihnen! Mit 
Erlaubnis, haben Sie in Ihrem Leben fchon früher einmal einen 
Einfiedler gefehen?“ 

„Nein — big jeßt noch nicht,“ ſtotterten Hllarion und Ernefta, 
worauf Oppermann, mit der Hand rechts abwinkend, während 
er das Haupt gegen links neigte, ftöhnte: 

„Ra, denn gratuliere ich.” 

„Wozu?“ rief Hllarion, allmählich auch immer verftörter 
um fich blickend. 

„Dazu, daß Sie wahrfcheinlich erft bei einbrechender Nacht die 
Bekanntſchaft machen. Scheußlich, fchauderhaft, gräßlih! — 
Bor dreißig Jahren ging e8 noch an; aber dreißig Jahre lang 
ungefämmt und ungewafchen ift eine ſchöne lange Zeit. Sch bin 
fein Freund; aber wenn ich ihn nicht fennte, fo brauchte ich länger 
als einen Tag, um ihn anfehen zu lernen. Uh, und wenn Sie 
feinen Einfiedler kennen, fo kennen Sie auch feinen Einfiedler, 
der ein Stüd von einer Eichel vom vorigen Jahre in feinem legten 
Badenzahn fteden hat —“ 

„Stehft du, Ernefta!” fehrie Hilarion, „o Roſa! o, du guter 
Geiſt — o Rofa! — Ernefta! fiehft du, es war fein Traum, ich 
habe dich nicht getäufcht — er hat Zahnweh — wir finden ihn zu 
Haufe, und alles, alles wird gut, mein Herz, mein Lieb, mein 
liebes, armes, liebes Mädchen, und nun komme mir nicht wieder 
mit deinem Gartenfeft morgen abend und dem verruchten Laffen, 
Monfiene Richard d’Erbacher, deiner Mama Patenkind! ich 


576 


halte e8 nicht aus! Da haben Sie meine ganze Börfe, Opper⸗ 
mann! und jeßt fomm, mein Herz; wir finden den Weg, wir 
finden den Vater Konftantius, und alles, alles wird gut, — 
fomm, komm!” 

Er zog die Geliebte faft heftig hinter fich drein; Oppermann 
aber, den Geldbeutel des entzüdten Jünglings in der harten, 
knochigen, haarigen Tage, fprach ſchwankend das tieffinnige 
Wort: 

„Mund nachher — foll ich — denn immer allein überquer gehen 
und Dinge fehen und hören — die fein anderer fieht — und die 
Dberforftbehörde — am wenigſten. Na, laß fie nur gehen, Opperz 
mann; wir beide fennen ung, — und der Herr Konftantius fennt 
uns auch,“ 


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Achtes Kapitel. 


E⸗ war eine Luft, eine Beleuchtung und ein Weg, die das 
miſanthropiſchſte Menſchenkind lockend aufforderten, immer 
tiefer hereinzukommen in den Wald und ſich niederzulaſſen in 
der ſüßen Einſamkeit fern des Lärms der Städte, aber — als 
Zweiſiedler! ein Männlein und ein Fräulein in Einem Birken⸗ 
hüttchen ! 

Der refflihe Oppermann war felig feines Weges weiter; 
geftolpert, in Erneftens Herzchen wurde es allmählich wieder 
ruhiger, und Hllarion zerdrüdte eine Träne in jedem Auge; er 
hatte fich noch nie fo ganz als Dichter und fo ganz und gar nicht 
als Affeffor bei der Regierung empfunden. 

Sie gingen auch immer weiter hinein in die Wildnis, wie die 
gute Stunde fie lodte, Die Villa Piepenfchnieder und Papa und 
Mama, der Püterichshof mit dem Onfel Püterich und dem Herrn 
von Magerftedt, die da draußen vor dem Walde fie erwartende 
Drofchte famt dem mürrifhen Kutfeher wurden zu vor langen, 
langen Jahren in einem Märchen belächelten Unwirklichfeiten 
und Vater Konftantius mit und ohne feine Eichel im hohlen 
Badenzahn die einzige Realität in der ganzen weiten Welt, 

Da kicherte e8 zum zweiten Mal, doch diesmal ganz zweifellos 
dicht vor ihnen, und — Es zeigte fih! Die beiden jungen Leute 
ftanden fill — fie erblidten E8, und wir — wenn wir Es unfern 
Leſern und vor allen der Leferin zeigen Fönnten, würden auf der 
Stelle unfere Feder ausfprigen und unfer Tintenfaß aus dem 
Fenfter gießen: wir hätten abfolut nichts mehr zu fagen, nichts 
mehr zu fehreiben, nichts mehr zu befehreiben! Innocentia 
würde uns all und jeder Verpflichtung und Verantwortlichkeit 
entledigen! — — — 


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Da lag im der jett in röteres Licht fich Heidenden Abendfonne 
vor dem jungen Paare das, was das Volk eine Untiefe oder 
Grundlofe nennt; nämlich ein ftehend Gewäſſer von geringem 
Umfange, aber einer nicht ausgemeffenen Tiefe. Der Bufch, aus 
dem fie, die Liebenden, hervortraten, zog fich dicht heran, doch der 
Hochwald umzirkelte das ftille Waffer erft in einer Entfernung 
von dreißig bis vierzig Fuß und ließ infolge eines alten Wind; 
bruchs, gegen Weften zu, der finfenden roten Sonne fogar einen 
ganz freien Raum zu einem legten Blick in den gründunflen 
Spiegel. Bon Sumpfpflanzen, Wafferfpinnen und Wafferfäfern 
haben an folchen feuchten Stellen und bei folhen Gelegenheiten 
andere geredef: wir erzählen, was Hllarion und Ernefta fahen. 

Ein einzelner knorriger Weidenftamm lehnte fich von der weft; 
lichen Seite her über das Waldwaffer und ftredte weithin feine 
wunderlichen Zweige und hing fie faft bis gu dem fühlen Spiegel 
hinunter; und auf einem diefer Zweige fehaufelte fich ein Wefen, 
das jeglichem Anfpruch an eine Geifter; oder HeiligensErfeheinung 
Genüge Teiftete, nur nicht durch die Bekleidung. 

Unbefchreiblich Tieblich von Miene und Figur, aus Minne, 
Luft und Duft gewoben und von der roten Sonne durchleuchtet 
— ein Zauber — ein Spuf fondergleichen! ein lächelnd Nymph⸗ 
chen und — vollftändig im vergeiftigten Koftüm einer erften 
Tänzerin der königlichen Bühne, wie fie vor einem Menfchenalter 
in dem damals neueften Ballett vor den Augen und Opern; 
gläfern des damaligen entzüdten Publikums umherfchwebte! 

Innocentia — in diefe alte Weide in der Waldwildnis ge; 
bannt zur Strafe ihrer Sünden, wie Roſa von Krippen wegen der 
ihrigen hinter die Tapete im Zimmer des Baron und Onkels 
Püterich im Püterichshofe! — „D, es gibt noch eine ewige Ge; 
rechtigfeit I” dürften dreift ſämtliche Moraliften und Moraliftinnen 
des Weltalls ausrufen. — 

Die zwei Liebenden im Fleifeh, Hilarion und Ernefta, fanden 


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aneinander gedrüdt, zurücweichend und doch nicht im mindeften 
ob des Anblids fchaudernd, 

„O Hilli!“ hauchte die Jungfrau, und der Affeffor flüfterte: 

„Still, Herz! Wir wären nicht auf dem Wege zum Vater 
Konftantins, wenn wir nicht alles für möglich hielten!” 

„Es lebt! Sieh doch, e8 winkt!” flüfterte wieder die Jungfrau 
atemlos, und der Aſſeſſor flüfterte feinerfeits: 

„Und Es winkt ung!“ 

„Uns !” hauchte Ernefta. „D Himmel, Es will ung doch nicht 
in den Sumpf Ioden?” 

In diefem Augenblick lachte Innocentia; und der Wald, das 
ftille Waffer im Walde, die Sonne in dem Waffer, die Sonne an 
den hohen Stämmen des Hochwaldes lachten alle mit, wenngleich 
unhörbar; wäre Oppermann noch vorhanden gemefen, fo würde 
der gleichfalls mit gelacht haben, jedoch aus vollem Halfe. 

„Ich bin die gute Seele — die verfannte gute Seele! Ich bin 
der Welt Fröhlichkeit, und recht ift mir gefchehen !“ fang ber lieb; 
lihe Spuf, „Ich habe mein Erdenherz an einen Narren gehängt 
und bin in eine hohle Weide zu meiner Befferung gefperrt worden, 
und mein Narr hat heut ein Stüd von einer Eichel in einem 
hohlen Zahn! Willlommen in der Einfamfeit, Hilarion und 
Ernefta I” 

„Rofa von Krippen fendet ung, Madonna!” ftammelte der 
junge Mann, den Steohhut in der Hand; und der reisende Spuf 
erhob beide durchfihtige Hände, legte die eine dann an die Stirn, 
bie andere auf den Bufen und hatte alle Mühe, fih auf VORAN 
Zweige im Gleichgewicht zu halten vor Lachen: 

„Rofa von Krippen! — Rofa hinter der Tapete?!” 

„In dem Püterihshofe!” rief Htlarion, 

„Wo der Onkel Püterich wohnt,” fegte Ernefta, immer mutiger 
werdend, hinzu, 

„Dann ift uns beiden die Erlöfung nahe!” fang die Erz 
fheinung in der Weide, „So iſt die Zeit der Prüfung vorüber — 


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willfommen im Walde, junges Volk! Es ift gut fein im Walde 
felbft in der Verbannung, Hilarion und Ernefta! und wenn ihr 
fündigt, fündigt aus einem guten Herzen, auf daß ihr auch in 
den Wald, in eine hohle Weide gefperrt werdet, und nicht hinter 
eine Tapete im Püterichshofe! Arme Rofa! arme Rofa! arme 
Roſa Hinter der Tapete! Ach hätte es lieber taufend Jahre hier 
ausgehalten als einen Tag an ihrer Stelle!“ 

„za Konftantius, dem Einfiedler, ſchickt uns Fräulein von — 
ſchickt uns Roſas — Geift,“ feotterte der Aſſeſſor bei der Regie; 
rung; aber er hatte fich im hellen Schreden platt an die Böſchung 
der Grundlofe in das hohe Gras geſetzt und feine Braut mit fich 
niedergegogen, denn Innocentias Geift tat bei feinen Worten 
auch einen Sprung der Überrafchung auf dem Weidenbaum und 
fchwebte faft eine Minute lang, Kopf unten, ungefähr ſechs Fuß 
hoch über dem höchften Zweige in der ftillen warmen Abendluft. 
Ein Anblid, wiederum gar nicht zu befchreiben ! 

Wenn junge Mädchen in freudigem Entzüden lachen, fo Hingt 
das ungemein lieblich; aber der filberne Klang der Luft, der jeßt 
durch den Wald zitterte, war mit feinem Laut einer Menfchen; 
ſtimme, auch der Tieblichften nicht, zu vergleichen. Und die Wirz 
fung auf die zwei jungen Leute war um fo größer, als in dem 
nämlichen Augenblick die Sonne hinter dem Horizonte, das heißt 
dem Walde im Weſten verfanf, der rotgelbe Schein aus den 
Wipfeln und von den höchften Stämmen des Forftes forthüpfte, 
und hier auf einen fehönen Tag ein womöglich noch fehönerer 
Abend folgte. Das freie Land draußen lag natürlich noch längere 
zeit in den roten Strahlen. 

Die Erfoheinung über der alten Weide war verfhwunden; 
aber das vibrierende Kichern in der ftillen Luft dauerte noch einige 
Sefunden fort. 

Dann Hang es geifterhaft melodifch und ſeltſamerweiſe ein 
wenig fpöttifch: 

„Konſtantius! Konftantius! — Bitte, grüßen Sie Kon; 


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ftantius!” und nun war alles ftill, und die ſchöne Wildnis war 
von neuem bereit, ruhig jede Bemerkung, jedes Fuge Wort, aber 
auch jede Dummheit anzuhören, in denen, ihrer erneuten Ver; 
wunderung Luft zu machen, die zwei armen Kinder, Ernefta und 
Hilarion, fih gedrängt fühlen mochten. 

„Oh!“ feufste Ernefta, ohne fähig zu fein, ſich eine weitere 
Bemerkung zu geftatten. Zu letzterer war Hilarion imftande; ja 
ihm als dem flärferen Mann gelang e8 ſogar, alle feine Geiftes; 
fähigfeiten allen Gefichten und Klängen aus Dfehinniften zum 
Trog zufammenzuraffen und vermittelft einer Dummheit von 
neuem in der Wirklichkeit feften Fuß zu fallen. 

„Es tft verſchwunden!“ fagte er, und das war die Bemerkung, 

„Bir find wieder unter ung allein!” fügte er hinzu, und dag 
war die Dummheit. 


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Neuntes Kapitel. 


„Scheußlich! Ichauderhaft! gräßlich!” Hatte Oppermann, der 

doch wahrfcheinlich auch in diefer Beziehung viel vertragen 
fonnte, gefagt, und e8 verhielt fich ganz fo, wie er fagte: der Vater 
Konftanting, der Waldbruder, war ein Anblid zum NRüdüber; 
fallen. Verſuchen wir e8 nunmehr, ung ihm zu nahen, ohne die 
Yugen zuzufneifen, wie ein Kind, das überredet worden ift, 
einen gel anzurühren. 

Auch wir haben einen Igel anzurühren und überlaffen es der 
Leferin, in ihren naturhiftorifchen Schulerinnerungen nachzu⸗ 
blättern und fich ins Gedächtnis zurüczurufen, daß e8 mehrere 
Arten von Igeln gibt, und darunter eine, vielleicht dann und 
warn auch von ihr, der liebenswürdigen, reinlichen Leferin, bild- 
lich verwendete, fehr bedenkliche Sorte. 

Der Bater Konftantius faß vor der Tür feiner Hütte, ſtrickend 
an einem blaumollenen Strumpf. Einen zweiten Strumpf, 
ebenfalls von Wolle, aber von graubrauner Farbe, hatte er ſich 
vermittelft eines rotbraunen und außerdem mit dem Porträt des 
regierenden Landesheren gefhmüdten Tafchentuches auf die 
sefchwollene Bade gebunden, und wer da weiß, wie unter 
folhen Umftänden der ehrwürdigfte Langbart ſich präfentiert 
und zu einem Schrednis wird, und wer dabei auf feine äußere 
Erfeheinung etwas hält, der geht fofort hin und läßt fich das 
gierlichfte Bärtchen glatt wegraſieren. Auch wir find dann und 
wann Heiligenmaler gewefen, auch wir können idealifieren, wir 
fönnten fogar den Vater Konſtantius idealifieren; aber wir tun 


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es nicht! Wir malen ihn nach der Natur, die nach einem alten 
befannten Liede in jedem Kleide fchön fein foll: Einen gibt e8 ja 
vielleicht doch wohl unter den vorbeiziehenden Gefchlechtern der 
Menſchen, der mit der Hand grüßend winkt und dabei lächelt, wie 
wir uns es wünſchen! — dem Einen oder der Einen werden wir 
dann felbft den Teufel nicht zu ſchwarz malen. — 

Da der Bater Konftantius gezwungen war, feine Wäſche 
im Waldbache felber zu befsrgen, und er überdem feine Gabe 
dafür hatte, fo übertraf fein Weißzeug manches Schwärzliche an 
Düfterheit. Seine, wie ſchon zu Anfang bemerkt, durch einen 
Strid um den Leib zufammengehaltene Kutte war arg geflidt 
und nicht von einer Hand, die gefchickt mit der Nadel umzugehen 
wußte, Wenn auch er nach Art der Eremiten Sandalen frug, fo 
ftedten heute doch, feines Unwohlſeins halber, feine Füße in zwei 
umfangreichen Filsfchuhen. 

Er fang fein Abendlied, Fein weißes Täubchen faß ihm zärtlich 
auf der Schulter; er fütterte Fein frommes Neh mit frommer 
Hand; — er hatte auf eine zu harte Eichel gebiffen, er hatte fürch- 
terliches Zahnweh, er hatte feinen Freund Oppermann mit dem 
ſtrengſten Befehl fortgefchickt, ihm wenigſtens heute feine Men; 
fchenfeele auf dreitaufend Schritte nahe kommen zu laffen, und — 
das einzige Glüd war momentan, daß — Hilarion und Ernefta 
nicht drei oder mehr Monate nach ihrer Hochzeit um Nat, Troft 
und Hülfe zu ihm geſchickt worden waren. 

Das würde dann vielleicht auch eine fehöne Geſchichte ge; 
worden fein; aber wahrlich feine wie die, welche wir jeßt ers 
zählen! — — — — — — — — — — — — — — — — 

Es ſoll möglich fein, ein heftiges Zahnweh in reinem Duell; 
waſſer zu verteinfen; ung ift e8 noch nicht gelungen. Man foll 
auch ein Zahnweh verftriden können; diefes haben wir big jeßt 
noch nicht probiert; der Vater Konftantius aber fehien eben den 
Berfuch zu machen. 

Er ſtrickte mit einer fehler wütenden Verbiffenheit an feinem 


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Winterſtrumpf; er ftrickte wie wahnfinnig; — weder bei Zahnweh 
noch bei irgendeinem anderen Weh haben wir mit einer derartigen 
dumpfig verftörten Ingrimmigfeit an einer Novelle weiter ge 
fchrieben ! 

Er fah nicht auf, als e8 feinen Maßregeln und feiner Verab; 
redung mit Oppermann zum Troß doch wieder im Bufch und im 
welfen Laube von Teitten näher fommender Menfchen raufchte. 
Er hatte fich freilich auch die Ohren verbunden; und empor fchaute 
er erſt ob des fchrillen Schreieg, den Ernefta ausſtieß, als fie feiner 
anfichtig wurde, 

Ihrer und ihres jungen hübfchen Begleiters anfichtig werden 
und, Steumpf, Nadeln und Wollentnäuel in die Tafche feiner 
Kutte zwängend, auffpringen, die Kapuze über Schädel, Stien 
und Nafe herunterreißen und den Rückzug gegen feine Tür an; 
freten, war dem Eremiten — eins, Mit kaninchenhafter, dachs⸗ 
artiger Haft fuchte er unterzufchlüpfen. Er ftürzte fich Hals über 
Kopf in feine Hütte hinein; — noch) ein Moment, und e8 wäre ihm 
gelungen, die Tür zugufchlagen und den Riegel vorzufchieben, 
als Hilarion, feinerfeits gleichfalls mit aller Haft zufpringend, 
ihn hinten am Gürtelfteid ergriff, fein Entweichen verhinderte, 
den Fuß zwifchen die Tür der Klaufe klemmend, die Verbarri; 
fadierung der leßteren unmöglich machte und dem ſcheuen Greife 
flehentlich zufchrie: 

„Nur auf ein kürzeſtes Wort, ehrwürdiger Vater!“ 

„Pax vobiscum — alle Hagel — 9, es ift nicht auszuhalten ! 
— Man laffe mich ungefchoren I” Ereifchte der Heilige, faſt geifernd 
in Verdruß und nervöſeſter Wildheit, „Ich will nichts willen ! 
nichts Hören! nichts fehen ! nichts, nichts riechen! Nichts, nichts, 
nichts!“ 

Mit der Schulter feitwärts vordrängend, fuchte er den jungen 
troſtſuchenden Hausfriedenbrecher wieder über die Schwelle feiner 
Wohnung zurücdzufchieben; und bangend die Hände ringend, fah 
Ernefta diefem Konflikt zwifchen der Welt und der Weltabgefchies 


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denheit zır, ohne etwas anderes dazu geben zu fünnen als ihre 
Tränen und ihre Angft. 

Ihr Geliebter aber, während er im Innerſten feiner Seele 
ächzte: „Das ift ja in der Tat ein unausftehlicher, ein ganz gräß— 
licher Kerl!” blieb nach außen hin, abgeſehen von feinem hart; 
nädigen Standhalten auf der Schwelle, die Höflichkeit und liebens⸗ 
würdige Zutraulichfeit felber. 

„Nur auf drei ganz Fürzefte Wörtchen, Hochwürdigſter!“ 
flehte er. „Sch bitte ganz gehorfamft — Ernefta, Liebe, bitte mit! 
— Er muß uns hören! es ift feine heilige Pflicht, ung anzu; 
hören!” 

Dabei padte er den zappelnden Waldbruder aber immer fefter; 
und diefer, nachdem er fich überzeugt hatte, daß fein Drängen der 
jugendlichen Kraft des Eindringlings nichts abrang, fehlen dag, 
was Hllarion eben noch feine heilige Pflicht genannt hatte, 
nochmals anders aufzufafien. 

Möglich fich mit einem legten Ruck Iosreißend, frat er drei 
Schritte zurüd in das Innere feiner Klaufe, fenkte ſodann dag 
befapuzte Haupt und war eben im Begriff, e8 als einen Sturm; 
bock zu gebrauchen und im heftigen, unvermuteten Anfprung 
den fberleidigen Gaft Eopfüber, Eopfunter wieder in die freie 
Natur hinaus zu fchleudern, als Hilarion rief: 

„sch bringe ja nur einen Gruß! Die Geifterwelt fendet ung! 
Fräulein von Krippen und Signora Innocentia fohiden uns! 
Wir —“ 

Statt zu fpringen, feßte fich der Vater Konftantius, und zwar 
auf die platte Erde, Mit beiden Händen auf den Boden fich 
ftüßend, fah er empor zu dem Jüngling. Die Kapuze war ihm 
surüdgefallen, und fein Mustelfpiel feines in der höchften Über; 
raſchung aufgefpannten Gefichts blieb dem Affeffor und der von 
neuem zitternd an ben Geliebten fich fohmiegenden Jungfrau 
verborgen. Beide aber, Hilarion wie Ernefta, gaben ihm in der 
Beziehung im vollen Maße zurüd, was fie empfingen. 


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Mehrere Minuten hindurch ſtarrte man fich wortlos an; und 
dann, als der ehrwürdige Greis noch immer feine Anftalt machte, 
fich wieder zu erheben, überwand Hilarion die legten Negungen 
feines Schauders. Er griff dem Alten unter die Arme, und voll; 
ftändig traftabel geworden, ließ fich der Einfiedler emporziehen 
und auf den einzigen Stuhl feiner Behanfung, den ihm Ernefta 
zufchob, hinſetzen. Es dauerte aber noch eine geraume Zeit, ehe 
er die Sprache wiedergewann und fein Stupor fich löfte in dem 
langgedehnten Seufzer: 

„Innocentia!“ 

„Und Roſa von Krippen!” fügte Hilarion hinzu. 

„Iſt e8 denn möglich?” ſtammelte der Alte, „Habe ich den 
Schlag vor den Kopf wirklich noch verdient nach einer dreißig: 
jährigen Buße in der Wildnis?“ 

Wieder nach einer Weile ſtöhnte er: 

„O liebes Fräulein, würden Sie wohl die Güte haben, mir 
einen Topf voll Waffer aus dem Duell nebenan zu holen? 
ch würde felber gehen, aber die Beine find mir wie abgefchlagen.“ 

Ernefta ging mit dem Topf, und der Vater Konſtantius 
fammelte immer noch an feinen Geiftes; und Körperfräften, als 
fie mit dem Haren, fühlen Trank zurückkam und ihm denfelben, 
ohne daß fie fich fagen konnte, woher ihr der Mut dazu kam, an 
die Lippen hielt. 

„Siegen Sie ihn mir gefälligft über den Kopf!“ ächzte der 
Eremit, und Hilarion, den Krug am Henfel ergreifend, führte aus, 
was man von feiner Braut verlangte, 

„Huh — pre — ah — prrr— uh! Ariston men hydor !“ 
freifchte der Einfiedler, fich fhüttelnd, und dann mit einem Male 
frifh emporfpringend und beide Hände gegen die Dede feiner 
Waldhütte emporftredend, ſchrie er: 

„Wenn die Toten in der Weife zurückehren, fo fomme ich 
auch zurück. Meine lieben, teuren jungen Freunde, bitte, nehmen 
Sie Mas und erzählen Sie mir das Nähere. Mein gutes, ſchönes 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 38d 
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Fräulein, ich bitte Sie inftändigft um Verzeihung wegen meiner 
Aufführung — ich meine wegen bes unhöflichen Empfangs fo 
werter Säfte. Aber ich verfichere Sie, liebes Fräulein, Sie haben 
feine Ahnung davon, wie man von den Leuten hier in der Eins 
famfeit überlaufen wird. Schöne Einfamfeit — wahrhaftig! 
Wenn ich hier eine Waldwirtfchaft mit einem Schilde ‚Zum Ein; 
fiedler‘ eingerichtet hätte, fo Fönnte e8 rundum im Holze nicht 
lebhafter zugehen! Wenn ich ein Heiratsbureau in den Zeitungen 
angekündigt hätte, könnten nicht mehr ratlofe Hülfsbedürftige 
meine VBermittelung in Anfpruch nehmen wollen. Sie fommen 
nun wahrfcheinlich nebenbei auch mit der Abſicht; aber mit 
Ihnen ift das in diefem Falle ganz etwas anderes. NRofa! — 
Innocentia! — ich beſchwöre Sie, junger Herr, erzählen Sie, 
berichten Sie, laſſen Sie nichts aus! Erzählen Sie mir alles vom 
Anfang an; — ich bin ganz Ohr!“ 

Daß wir nun auch noch einmal alles vom Anfang an erzählen, 
fann und wird niemand von uns verlangen. Ein dahin bezüg⸗ 
licher vereinzelter Wunſch gereichte ung felber zwar zur großen 
Ehre, aber der großen Mehrheit unferer Lefer gewiß nicht zum 
Vergnügen, Wir erzählen deshalb nur weiter, 

Der Eremit war nicht nur ganz Ohr, fondern auch ganz 
Queckſilber während des Berichtes feines Beſuchs. Es zuckte ihm 
in den Yemen und in den Beinen; e8 zuckte ihm durch alle Glieder, 
und er fprang nur auf, um fich von neuem zu fegen, er ſetzte fich 
nur, um von neuem aufzufpringen. 

Anfangs ein wenig befangen und der eigenen Relation nicht 
frauend, trug der Aſſeſſor Hilarion die Geheimmiffe diefer und der 
andern Welt, foweit fie ihm zwiſchen geftern und heute befannt 
geworden, nach und nach immer fließender vor. Liebe und Geift 
war das Thema. — Die Villa Piepenfohnieder, das Garten, 
gitter und die Geltebte; — die hartherzigen Eltern, der fehlimme 
Onkel und Baron Püterich, der Widerwärtigfte aller Sterblichen 
(wie Ernefta drein warf), der Herr von Magerftedt; — das Jungs 


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gefellenftübchen im Pürerichshof, die Mondnacht und Roſa von 
Krippens Erfeheinung, — die Drofchfe vor dem Walde, Opper⸗ 
mann und dag liebliche Phantasma am Weiher im Walde — 

„Halt,“ rief der Vater Konſtantius, „das iſt die Hauptfache! 
Das übrige war Ihre Gefchichte, meine jungen, armen, guten 
Freunde, — hier aber beginnt die meinige! Laffen Sie fich jedoch 
nicht unterbrechen, erzählen Sie weiter; e8 dreht fich alles um 
mich her, und dazwifchen begreife ich Dinge, die mir bisher voll; 
fommen unbegreiflich bier in der Wildnis gemwefen find. O 
Innocentia, Innocentia, fohöne Sünderin! Du warft es, 
matronis detestata, die hier vor meine Tür gebannt war, 
deiner Buße wegen, und um dich Iuftig über mich machen zu 
fönnen? — Großer Gott, und die andere hat ihre dreißig 
Jahre hinter der Tapete, hinter Philiberts Sofawand abfigen 
müſſen?! Kinder, Kinder, wenn ihr mit eurem Bericht fertig 
feid, will ich euch meinesteils alles, alles Har machen! Gütiger 
Himmel, mir felber ift es fo klar, daß der Verftand mir ſtill fteht, 
das Zwifchenreich für mich beginnt und ich in jedem beliebigen 
Augenblid von meinem Bürgerrecht in Dfchinniften Gebrauch 
machen kann!“ 

„Wir find zu Ende, — nicht wahr, Ernefta?” fragte Hilarion. 

„Und wir wollten nur bitten, ung jeßt zu fagen, was wir fun 
follen; — es wird fo fehr Dämmerung !” fügte die Jungfrau ſcheu 
hinzu. 

„Davon fpäter,“ rief der Einfiedler. „Wir fommen glüdlich 
wieder aus dem Walde heraus! Nehmen Sie Pla, da, feßen Sie 
fich auf den Rand meines Lagers, Laffen Sie e8 ruhig Damme; 
rung, laflen Sie e8 Duntelheit, laſſen Sie e8 Finfternis werden, 
aber laffen Sie auch mich jet zum Worte! Ich kenne den Wald 
durch und durch, ich führe Sie auf einem Nichteweg zu Ihrem 
Wagen, und morgen — komme ich in die Stadt und fpreche mit 
Papa und Mama, und alles wird gut werden; aber augenblidlich 
muß ich mir Luft machen! Die Wände in der Stadt und die 


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Bäume im Walde haben Zungen befommen; und wenn die 
Wände und die Bäume anfangen zu reden, fo will und muß ich 
auch fprechen! Setzen Sie fi und hören Sie zu und nehmen 
Sie fih ein Erempel dran.” 

Hilarion und Ernefta ließen fih auf dem ihnen angemwiefenen 
Plage nieder, und der Einfiedler, Vater Konſtantius, entänßerte 
fich feiner Hiftorie. 

Und was fam zum VBorfchein? 

Alle Glieder fliegen auch ung, und bitterer Zweifel beſtürmt 
ung, ob je die Menfchheit fich fomweit bezwingen wird, Vernunft 
anzunehmen, 

Nichts anderes Fam natürlich heraus als die Trivialitas 
trivialitatum, die uralte, abſchmeckige Gefchichte, daß ihn, den 
Waldbruder, die eine liebte, daß er die andere liebte, daß diefe 
andere einen Dritten liebte, und daß diefer Dritte, nämlich der 
Baron Püterich, der einzige Verftändige unter der ganzen Ges 
fellfehaft war, da er nur fich felber liebte, jedoch fein Vergnügen 
nahm, wie er es fand, und wo er es fand! 

Wir verfhweigen an diefer Stelle diesmal den Familien; 
namen des Baters Konftantiug, da Diefer Name fonft noch exiſtiert. 
Sonderbare Erfahrungen haben ung in der Hinficht vorfichtig 
gemacht, und wir laffen unfern Eremiten hin und her hüpfen in 
feiner Klaufe und feine Beichte hervorſtoßen, ohne ung die Finger 
zu verbrennen. 

„Daß ich einer der eleganteften Gardeoffiziere in der Armee, 
zugleich ein Weifer und ein Held, war, fehen Sie mir nicht an, 
Fräulein; aber e8 verhielt fich fo, und daß ich immer ein Menfch 
von meiner eigenen Faffon war, mögen Sie dreift daraus ab; 
nehmen, daß ich feit dreißig Jahren hier fige und mich lächerlich 
mache und mich von Innocentias Geifte neden laffe. D, mir 
gefchieht fehon recht! Wenn ich daran denfe, wieviel Politik, 
Karriere, Wiffenfchaft und Kunft ich während diefer Zeit verfäumt 
habe, fo möchte ich auf der Stelle rafend werden! Und Rofa, 


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Püterichs Verlobte und meine Geliebte, hinter der Tapete! und 
Innocentia — fie, der Stern in den Nächten von hunderttaufend 
Narren von einer andern Art als ich, Innocentia in dem Weiden; 
baum am Froſchpfuhl! — Und die Süße, die Lichtglängende, die 
Arme hat meinetwegen ihrerfeitS ihre Karriere verfehlt! Sie 
hätte als Prinzeffin TE fterben können, und fie ift meiner Dumm; 
heit wegen am gebrochenen Herzen geftorben! Du Tiebfter Him⸗ 
mel, unglaublich ift e8; aber die Bäume fprechen, die Wände 
reden, und wenn mir die Ohren nach meinem Verdienft wüchfen, 
würden fie fofort da8 Dach mir über dem Kopfe durchftoßen! 
Das alfo Hat mich gezupft? Das alfo hat mir über alle Pfade 
geglänzt? Das alfo hat auf allen Wegen durch diefe Langweilerei 
hinter mir drein gelacht? — O Innocentia, und um was für 
eine gefchraubte und verfchrobene Gans habe ich das fehönfte 
Glück des Lebens nicht aus deinen Händen und deinem Herzen 
annehmen wollen?” 

„Siehft du, fo muß man fein, wenn man wirklich liebt, Hilli!“ 
flüfterte das Fräulein dem Affeffor zu, doch diefer hatte Feine Zeit, 
acht darauf zu geben. Mit offenem Munde fah er auf die 
Sprünge und horchte auf die Worte des Einfiedlers. 

Auch diefer auf nichts, als was er felber hervorfprudelte, 
achtgebend, fchrie weiter: 

„And Püterich lebt noch! und Püterich fühlt fich noch immer 
wohl in feiner Haut! Er, dem Roſa — meine Rofa mit ihrer 
ganzen Seele fih hingegeben hatte! — Dreißig Jahre hinter 
feiner Tapete! es ift nicht auszudenfen; — man fängt an, an 
allem zu zweifeln; an Kant, an Hegel, an Schopenhauer! Zwei⸗ 
mal zwei ift fünf, und Humboldts Kosmos ift entweder gar nicht 
gefchrieben oder ift vom Freund Magerftedt, den die Kameraden 
wegen Wechfelreiterei, Wucher und lachete aus dem Negiment 
fließen! Nathan der Weife ift ein Produkt des Patriarchen von 
Serufalem; Goethes Werke find Wagners Erzeugniffe, und 
Schiller — Schiller ift auf feinem Sterbebett zum Katholisismug 


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übergetreten! Sch felber bin gleichfalls nur das Erzeugnis einer 
aus Rand und Band geratenen Phantafie, und der letzte Net; 
tungsanfer, den ich ausmwerfen Fann, ift einzig und allein, daß ich 
morgen in die Stadt fomme und mit Erbacher, meinem Bankier, 
fpreche. Mit meinem Bankier und VBermögensmandatar —“ 

„Und mit Papa und Mama!” flüfterte Ernefta verfchämt. 
„Unferetwegen!” fügte fie noch verfehämter hinzu. 

„Gewiß! mit dem größten Vergnügen! Alles werde ich fun, 
was in meinen Kräften fieht !” rief der Einfiedler, und der Aſſeſſor 
Hilarion Abwarter fprach zu feiner Verlobten gewendet: 

„Siehft du, die Geifterwelt hielt nicht umfonft ihre Hand über 
uns! Er hat einen Bankier! der Herr von Erbacher ift fein Ver; 
mögensverwalter! Alles, alles wird gut, und der Onkel Püterich 
und fein Freund Magerftedt feen ihren nichtswürdigen Willen 
nicht durch. Roſa von Krippen wollte e8 nicht, und Innocentia 
hat uns lachend im Walde begrüßt.” 

„Wozu fie nach allen Richtungen hin die Berechtigung hatte!“ 
ſchloß der Bater Konftantius, von neuem mit beiden Händen nach 
dem Kopfe greifend. „Bei allem, was den Menfchen zuſam⸗ 
menhält, ich denfe, wir reden von etwas anderm; — was 
fann ich Ihnen zur Erfrifhung vorfeßen, meine lieben jungen 
Freunde?” 

Zu den Eicheln des vergangenen Jahres riet er felber nicht, 
und was er fonft noch feinen Gäften anzubieten hatte, wird leider 
für immer ein ungelöftes Rätfel bleiben und zwar durch die Schuld 
Hilarions und Erneſtas. Beide dankten eifrig und herzlich für 
alles, Es war jegt in der Tat vollftändig Dämmerung geworden, 
und der Abendwind fing bedenklich an, im Malde rund um die 
Hütte des Klausners zu rauſchen. Ste hatten es alle nicht ger 
merft, doch num blicten fie alle in demfelben Moment empor und 
fahen, daß die Nacht gefommen war, 

„Bas werden Papa und Mama fagen, und was foll ich ihnen 
fagen?” wiederholte das Fräulein, ihre Hände zufammenlegend. 


592 


„Grüßen Sie beide von dem Vater Konftantius und fün; 
digen Sie ihnen meinen Beſuch an, liebes Kind,“ tröſtete der 
Eremit; und dann führte er fie auf feinem „Richtewege“ durch 
die Wildnis, die Tiebliche, kühle, lifpelnde, raufchende Waldnacht, 
bis wieder unter die legten Bäume des Forftes; und die Droſchke 
hielt wirklich noch an der früheren Stelle. Der Kutfcher hatte 
feine jungen Fahrgäfte nicht verloren gegeben. Er hatte feines, 
teils gleichfalls mit Oppermann gefprochen, und Oppermann als 
ein verftändiger, nachdenkender Menfch hatte gefagt: 

„Berfluchter Kerl, für die Hälfte des Trinfgeldes, das bir 
Grobian in diefem Kaſu beusrfteht, wartete ich Bis ans Morgen; 
rot, wie's im Drgelliede ftehet. Und wenn Lenore, oder wie die 
hübfche Heine Mamfell fonft Heißt, erſt um Mittag fahren wollte, 
ſo wär's mir auch recht. Mein Name ift Oppermann, Herr 
DOberförfter.” 

Das hatte dem Kutfcher eingeleuchtet, und er riß den Wagen; 
ſchlag jeßt mit einer Dienftbefliffenheit auf, die wir begründen 
mußten, um fie glaublich zu machen. Der Aſſeſſor hob das 
Sräulein in das Gefährt, der Einfiedler ſchob den Aſſeſſor hinein, 
und zu dem Vater Konftantius fprach der Roſſelenker: 

„Ste fteigen wohl lieber zu mir auf den Bock?“ Profeffor der 
Philofophie war der Burfche nicht, aber er hätte e8 in jedem 
Augenblid werden können; und wenn wir je in der Philofophie 
diefer unferer Gefchichte fteden bleiben, wenn ung durch einen 
fehnöden Zufall die vorliegenden Dokumente vernichtet werden 
follten, fo würden wir ung zur Wiedervervollftändigung des 
Materials dreift und ruhig an ihn wenden können, zumal da er 
feiner Frage hinzulog: 

„Ra, drei Fuhrbeftellungen habe ich aber der Herrfchaften 
wegen in den legten drei Stunden verabfäumen müſſen.“ — — 

Die Sterne vom Himmel, und ein Trinkgeld für das nächfte 
Bedürfnis! 


593 


Zehntes Kapitel. 


5 Bir ich es noch?“ fragte ſich der Waldbruder, als er eine 

Stunde ſpäter wieder einſam und allein am Tiſche in ſeiner 
Hütte ſaß und in das Licht ſeiner Ollampe ſtarrte. Er dachte zehn 
Minuten über die Frage nach und löſte fie nicht. Wer löſt über; 
haupt ſolche Fragen? 

„Jedenfalls bin ich ein ſchöner, ein recht netter Konftantius!” 
murmelte der Alte. „Blafen mir diefe beiden Kinder auf meine 
dreißig Jahre weiſeſter MWeltabgefchiedenheit, nennen mir einen 
Namen und erzählen mir eine Gefchichte, die fie wahrfcheinlich 
felber nicht glauben, und — hier fiße ich und möchte mich felbft 
in die Nafe beißen, um den Glauben an meine Eriftenz im 808; 
mos wiederzugewinnen! — Innocentia! — Alles diefes fieht 
ihe doch fo ganz ähnlich! So machte fie eg im Leben! fo führte 
fie ung alle an der Nafe! — Und wohin, wozu wollte fie mich, 
als wir alle noch jung waren, führen, ziehen? — Wie glänzt und 
lächelt das Tieblich durch die Nacht der Zeiten! — Und fie hatte 
einen fo üblen Ruf und war doch die Schönfte, die Befte, die 
Unfchuldigfte von ihnen allen! — Innocentia! Wie haben wir 
uns fo grimmig lächerlich gemacht, wenn wir über ihren füßen 
Namen lachten und fchlechte Wite drüber riffen! — Uh, nun 
bat fie dreißig Fahre lang hier im Walde über mich gelacht, 
und vecht ift mir gefehehen! D du mein Heiland, was für Wige 
werden fie und ihre Genoffen und Genoffinnen in Bufch und 
Baum, im Bach und Sonnenftrahl, im Wind und Regen über 
mich gemacht haben? Und dann die andere! — dreißig Jahre hin; 
ter ber Tapete? es iſt nicht auszudenken, aber ähnlich fieht es 


594 





ihe auch! — O Püterich, Püterich, Philibert Püterich, ich habe 
freilich die MWbficht, dich morgen meine ganze Verachtung fühlen 
zu laffen; aber eins hat mir die Einfamfeit verliehen — Selbft; 
erfenntnis! und der größte Narr von ung zweien bift du nicht 
gewefen. Und diefer Magerftedt! — o du mein Leben, wie diefe 
Kerle fich amüfiert haben werden, derweilen ich hier als ein 
Schuhuh faß — uh!“ 

Der hohle Badenzahn und das Stüd von der anachoretifchen 
Frucht des Eichbaums drin, die big jetzt geſchwiegen hatten, mel 
deten fich auch von neuem, und zwar ald müßten fie viel Ver; 
faumtes nachholen. 

Mit beiden Händen an der Bade, ächzte der Einfiedler um 
feinen Tifch herum, 

„Das fommt nun auch alles zufammen !” ftöhnte er. „Und 
dabei foll man dann feine Befchaulichfeit unverftört erhalten. 
Aber ich habe e8 mir lange gedacht, daß diefer Ort für meine 
Konſtitution zu feucht ſei. Was bin ich hier anders geweſen als 

ein Trodenwohner für Fuchs, Luchs, Dachs und Eule? Da hat 
felbft fie e8 angenehmer gehabt bei ihren Wangen, meine — Rofe, 
Roſa von Krippen! Ich kenne das alte Gebäude, — die Jahr; 
hunderte haben dran gefrodnet. D Innocentia, Innocentia! — 
ich Taffe mir ihn ausziehen, und — bei allen Dämonen in allen 
Elementen — ich ziehe felber aus, Morgen mit dem früheften 
bin ich auf dem Wege zum Zahnarzt — das ift wenigfteng ein 
plaufiblee Grund für einen Charaftermenfchen, um feinen 
fefteften VBorfag zu ändern! Nebenbei werde ich dann ja auch wohl 
erfahren, was an der Kindergefehichte, die mir da das junge Volf 
der Gegenwart vorhin vorgetragen hat, Wahres ift, Eines fteht 
feft: weder zu diefem greulichen Ziehen in der Kinnlade noch zu 
den Wundern, die dies unglüdlich verliebte Pärchen mir aus der 
Stadt und aus dem Walde zutrug, braucht die eigene Phantafie 
das geringfte hinzuzutun.“ 

Damit feßte er fich wieder oder fiel vielmehr erfchöpft auf 


595 


feinen Stuhl zurüd, Er nahm die heiße Stirn in die Hand und 
heulte dumpf vor Schmerz und in der Erinnerung früherer Tage, 
Am andern Morgen aber finden wir ihn fonderbarerweife noch 
am Leben. — 

Der andere Morgen fand feinerfeits die Heine Ernefta, in 
Tränen und Verzweiflung aufgelöft, in ihrem Kämmerlein in der 
Billa ihrer guten, forglichen Eltern ficher Hinter Schloß und Riegel, 
und machen wir Papa und Mama durchaus Feine Vorwürfe 
deshalb. Wir würden unfer Töchterlein unter den obwaltenden 
Umftänden gleicherweife hinter Schloß und Riegel verwahrt 
haben. 

Wie die junge Sonne den Aſſeſſor Hilarion fand? — Wir 
geben Stift, Pinfel und Farbentöpfe in die Hand der Leferin 
und überlaffen ihr die Ausmalung; fie wird ficherlich das richtige 
Kolorit treffen. 

Der Here von Magerftedt machte erſt gegen Mittag Toilette, 
und auch dabei find wir nicht gern zugegen. Aber der Onfel 
Püterich?! 

Er hörte den Freund im Stodwerfe unter ſich bei feiner 
morgendlichen Verfchönerungsarbeit fummen und huften und 
befam mehrfachen Befuch von verfchledenen Gläubigern, die fich 
heute, wie fie fih ausdrüdten, zum allerlegten Mal zum Narren 
halten lleßen. Außer dem jungen Tage hielten zwei Geifteraugen 
den Onkel, hinter der Tapete hervor, fcharf im Blick; — o fünnten 
wir ihm doch auch mit diefen Geifteraugen, mit den Augen Roſa 
von Keippens, fehen! Da wir e8 nicht vermögen, da wir nicht 
den leifeften Funken einer gefpenftifchen Liebesflamme gegen ihn 
in ung zu erweden imftande find, fo bleibt ung nichts übrig, als 
uns ſchaudernd abzuwenden: 

„Brrrr!“ — — — — 

Friſche Luft iſt uns wieder einmal das erſte aller Bedürfniſſe 
geworden, und es zu befriedigen, liegt gottlob in unſerem Ver; 
mögen, — 


596 


nie 2 ee 





Der große Wald ſchüttelte im Sonnenfchein den Nachttau ab, 
und der Einfiedler, Vater Konftantiug, verließ den Wald, um fich 
nach dreißig in der Abgefchiedenheit von der Welt zugebrachten 
Fahren zum erften Mal wieder in die Stadt zu verfügen und mit 
feinem Bankier zu fprechen. — 

„Ah Pen — 

O wie der Wald hinter ihm drein gelacht und gekichert, o wie 
Innocentia ſich über ihn amüſiert hatte! Über ihn, ſeinen ver⸗ 
bundenen Kopf, den Strick um ſeine Hüften und den dicken Prügel, 
den er zu feinem Schuß und Troſt aus feiner Sammlung von 
Knitteln zur Begleitung ausgewählt hatte, Bis unter die legten 
Bäume hatte ihn der feine, der zierliche, der Iuftigliebliche Spuk, 
der nicht hinter der Tapete geſteckt hatte, begleitet, und dann — 
war feit Erfehaffung der Erde noch nie eine Lerche fo hoch in die 
blaue Luft geftiegen als die, welche bei dem Austritt des Alten 
aus dem jungen Gebüfch über feinem Haupte hing und zwitſchernd 
aus Voltaire tirelierte: 

„C’est le triomphe de la raison, de bien vi, vi, vi, vivre 
avec les gens, qui n’en ont pas!“ 

„Und dreißig Jahre lang hab’ ich mit mir felber gelebt!” 
ftöhnte der Vater Konftantius in demfelben Moment, wo der 
Heine Huge Vogel aus dem blaueften Ather zurückfiel in die Acker⸗ 
furche zwifchen die hohen Halme des MWeizenfeldes, 

„Konſtantius!“ rief es noch einmal ſpöttiſch⸗zärtlich im Walde; 
doch der Alte zog den Kopf zwifchen die Schultern und flapfte 
weiter, von der frifhen Höhe hinab, der Dunftwolfe gu, welche die 
Stadt überhing. Die Geifterwelt muß wohl mit einem ausgebil, 
deten Sinn für innere geiftige Schönheit begabt fein; wir in 
Innocentias Stelle würden dem grauen Biedermann ganz etwas 
anderes nachgerufen haben. — 

Er rannte zu. In einem kurzen Trabe nahm er den ung be; 
reits befannten Weg zur Stadt unter die Füße. Erft fünfzig 
Schritte von der erften Vogelfcheuche im Felde, die gleich ihm mit 


597 


einem dien Prügel bewaffnet war und auch fonft ihm ungemein 
ähnlich fah, fiel er in einen gemäßigteren Gang. Er hatte diefe 
Bogelfcheuche aus der Ferne für den erften lebendigen Menfchen 
auf dem Pfade zu den übrigen Millionen feiner Brüder und 
Schweftern gehalten, und er atmete befreit auf, als er fah, daß 
er fich geirrt habe. 

Der erfte wirklich lebendige Menfch, der ihm begegnete, war 
ein altes Weiblein, das feinerfeits ihn anfangs für eine Vogel; 
fcheuche genommen zu haben fehien und hell auffreifchte, als es 
feinerfeits fah, daß e8 fich gleichfalls geirrt hatte. 

Mit gefalteten Händen fiotterte die Alte ein Stoßgebet. 

„Friede fei mit Euch! guten Morgen — ein angenehmer — 
Morgen, Mütterchen !” fprach der Eremit, den der Eindrud, wel 
chen er hervorbrachte, beinahe noch einmal zur Umkehr bewogen 
hätte. Aber ein neues fcharfes Zuden durch den Zahn machte ihn 
zum Heren feiner fonfligen Empfindungen. Er fohritt weiter und 
traf auf den zweiten Lebendigen, einen reitenden Wächter der 
öffentlichen Sicherheit, der nicht auffreifchte, fondern feinen 
Dienftgaul anhielt und den Vater Konſtantius nach feiner Legi⸗ 
timation fragte. 

Der Geftellte hatte zu antworten, und diesmal wäre er 
beinahe umgekehrt worden, und er entging dieſem Schickſal nur 
mit genauer Not. 

Papiere konnte er nicht aufweiſen; die idealfte Yuffaffung von 
Welt und Leben Fam dem Mann mit dem Helm und Säbel nicht 
nur „verflucht kurios”, fondern auch „verteufelt verdächtig” vor; 
— Dppermann aber half. 

In feiner höchften Verlegenheit berief fich der Alte auf feinen 
Freund Oppermann, und der Dragoner fprach: 

„Dem Seiner find Sie? Nun, das hätten Sie ja gleich fagen 
können, Here! — Zum Zahnarzt wollen Sie? Diefes konnte ich 
Ahnen doch nicht anfühlen; — das haben wir alle Tage, daß wir 
fol einen Bagabunden von einem falfchen Gebreften kurieren. 


598 


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3 
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Aber da Sie Oppermann Seiner find, fo ift dag freilich eine andere 
Sache; wir haben dann ſchon manchmal zufammen über Sie 
disfuriert, und fo marfchieren Sie nur zu und verfuchen Sie’s 
felber drunten, ob man Sie durch die Barriere läßt. In der 
Stadt mögen Sie dann meinetwegen ausfehen, wie Sie wollen.” 

„Ich empfehle mich, Herr MWachtmeifter,“ fprach der Ein, 
fiedler, und der Landdragoner, an den Helm greifend, ſah ihm 
noch eine geraume Weile Eopfichüttelnd nach. 

„Wenn der nicht ins Naturalienkabinett gehört, fo will ich 
mich famt meinem Pferde ausftopfen und zum öffentlichen 
Nutzen und Pläfier drin aufftellen laſſen!“ brummte er, ehe er 
weiter trabte. „Uber e8 hat mich doch gefreut, endlich den Kerl 
einmal gefehen zu haben.” 

In der Pappelallee war ſchon ein bunteres Leben,’ und der 
Vater Konftantius wünfchte fih eine Tarnfappe, um ungefehen 
die Stadt zu erreichen. Jede ihre Dafein auf die Verwunderung 
der Menge gründende öffentliche Perfönlichkeit hätte ihn um das 
Auffehen, welches er erregte, beneiden können. 

„Hurrjeſes!“ ſtaunte dag gemeine Volk. 

„Über ift e8 denn möglich? Gibt e8 dergleichen wirklich noch?” 
fragten fich die Gebildeten; und der Waldbruder zog flatt der 
mangelnden Tarnkappe die Kapuze über die Nafe und wendete fich 
in äußerfter Bekllemmung am erften Tore feitwärts. Er wagte 
e8 hier noch nicht, einzutreten; ſcheu fchlich er über die Promenade 
zum zweiten Tor, und — da erft wagte er es. 

Zu feinem Glück wurde gerade inmitten des befannten groß; 
ſtädtiſchen Getümmels ein Betrunkener auf die Wache geführt. 

„Dppermann!“ murmelte der Eremit. „Sch feße ihm eine 
lebenslängliche Rente dafür aus!” fügte er. hinzu, und mit drei 
weiten Schritten befand er fich gleichfalls inmitten des Gewühls 
und war geborgen. Fünf Minuten fpäter fand er im Schatten 
eines öffentlichen Monuments, ſchwindelnd, aber doch gefaßter. 
Letzteres hinderte freilich durchaus nicht, daß er wie ein Vers 


599 


zückter um fich ſtarrte; er hatte e8 gang und gar vergeffen, wie viele 
Menfchen und wie viele Dinge fonft noch e8 auf Erden gab. 
Jeder Rippenftoß, den er erhielt, war ihm eine neue Offenbarung; 
und wieder eine Viertelftunde fpäter ftellte er, auf einem Eckſtein 
an einem weiten, fonnigen, wimmelnden Marftplage figend, 
felber an fich die Frage: 

„ber ift e8 denn möglich? Gibt e8 — mich denn noch in der 
Melt?! — — 

Da fich jeßt niemand mehr um ihn kümmerte als ein altes 
Fiſchweib, das ihn recht freundlich grüßte, und da ihn fogar die 
Polizei vollftändig ignorierte, fo wurde es ihm allgemach ganz 
vergnüglich zumute. Sein Zahnmeh war ob der Aufregung auf 
einmal wieder wie weggeblafen, und er fing an, Hunger zu ver; 
fpüren, und fah fih nach einer Gelegenheit um, denfelben zu 
befriedigen. 

In einer Spelunfe niedrigften Ranges fpeifte er zu Mittag 
und zwar feit langen Jahren zum erften Male warm. In einer 
Reſtauration höherer Art würde ihn fein Kellner etwas Anderen 
als eines Rufes nach dem nächften Schumann gewürdigt haben; 
aber bei der irdenen Schüffel und dem Blechlöffel fand er Ge, 
fellen, mit denen er auf gleichem Fuße ftand; das Getränk war 
auch zu loben; und höchlichft geftärkt — „als ein ganz anderer 
Menſch!“ — erhob er fich von der Bank, um von neuem in die 
heiße Mittagsfonne hinauszutreten. 

Das Intereffe an den immer wechfelnden Bildern um ihn her 
wuchs dergeftalt, daß er nach und nach ganz vergaß, weshalb er 
eigentlich hergefommen fei. Die Straßen auf und ab wandelnd, 
widmete er den Schauläden ein ſtets fteigendes Intereffe. Vor 
den Fenftern der Buchhändler widmete er den Titeln der neueften 
Bücher das intenfiofte Anftarren. Wir könnten mehr als einen 
Kollegen an diefer Stelle glüdlich machen, indem wie durch die 
fpezielle Erwähnung des Titels feiner Bücher an feiner Unfterb- 
lichfeit mitarbeiteten, aber — 


600 


es N a 2 er 


En 


Der Vater Konftantius reißt ung nad) der anderen Seite der 
Gaſſe hinüber. Hier, vor einem Schneiderladen ftehend, vergleicht 
er fein jeßiges Koftüm mit dem, was er vor dreißig Jahren abs 
legte, und diefes wieder mit dem, was heute Mode ift; und dreis 
mal mit dem Heinen Finger der rechten Hand die Stirn berühren, 
murmelt er: 

„som“ 

Kopfihüttelnd Freuste er von neuem die Gaffe und fand 
wieder eine Weile vor dem Fenfter des Buchhändlers. 

„Sonderbar !” fagte er und dann nach einem längeren Nach⸗ 
denfen: „Der Kerl ift ficherlich im Befiß eines Spiegels!“ 

Nun wendete er fich, feinen Weißdornfnittel hoch hebend: 


„Bei allen Geiftern in der freien Natur und hinter der Tapete, 
daß ich den Leuten kurios vorfomme, und daß ich aus der Mode 
bin, weiß ich; aber wiffen will ich jegt, zum Henker, wie ich eigent⸗ 
lich ausfehe!“ 

Und feinen Stab weit hin unter das erftaunte, lächelnde Volt 
fehlendernd, griff er erft im feinen Bart und dann in feinen 
Bufen: 

„Es geht nicht anders! Ich muß mich fehen! Vom Kopf big 
zu den Füßen muß ich mich endlich einmal wieder ſehen!“ 

Yuch der maitre tailleur würde fofort nach der Polizei ges 
rufen haben, wenn nicht der feltfame, wie außer fich in feinen 
Salon hereinftürzende Kunde ihn augenblidlich in der Sprache 
des Erbfeindes angerufen hätte: 

„Un moment, monsieur! Je m’expliquerai en deux mots! 
Nur drei Worte, mein Beſter!“ 

Drei Worte und der Wurf einer alten abgegriffenen Leder; 
brieftafche auf das Bureau des Künftlers genügten vollfommen. 
Der Vater Konftantins erpligierte fih auf eine Weife, die den 
Gentleman-taylor mit offenem Munde laufchen Tieß und ihn 
ungemein höflich machte. 


601 


„Disposez de moi!” fiammelte er. „Je ferai tout pour 
vous obliger, monsieur le baron!“ 

„ber Zeit Habe ich nicht!” ſchrie der Einfiedler. 

„sch glaube, den Herren Baron auf der Stelle und ganz nad) 
feinen Intentionen bedienen zu fünnen, und es wird mir eine 
fehr große Ehre fein,“ fiotterte der Schneider, in aller Verdutzung 
und Betäubung mit den ungeheucheltftien Büdlingen ſich die 
Hände reibend. So etwas war ihm felbft in London und Paris 
nicht vorgefommen! 


Elftes Kapitel. 


F er Püterichshof lag ſchwül in der hundstäglichen Spät; 

nachmittagsfonne, fo weit diefelbe ihn abreichen fonnte, da. 
Es war dazu ein eifriger Gefchäftstag der Firma Aldenberger 
und Kompagnie, und ein faft wildes Getreibe herrfchte vor den 
Torwölbungen, in den Höfen, Magazinen und auf den Speichern 
des alten Patrizierhaufes. Laftwagen und Rollwagen fuhren ab 
und zu; Fäffer wurden gerollt, in Keller verfenft und aus Kellern 
emporgewunden; Ballen und Kiften lagen hoch aufgetürmt oder 
ſchwebten an den Windefeilen von den Dachlufen herab oder zu 
ihnen empor. Auf und Ablader, Kommis, Buchhalter und 
Prinzipale befanden fich in brennendfter Tätigkeit. Niemand 
fehlen für irgend etwas Zeit zu haben, und ein ältlicher, höchſt 
anftändiger Here von fehr fomfortablem Außeren, der ſich im 
Getümmel des Hoftaumes nach einigen Miersbewohnern des 
Gebäudes erfundigte, hatte feine Fragen mehrfach zu wieder; 
holen, ehe er eine befriedigende Antwort erhielt, 

„Baron Püterich? — Vorderhaus, linker Flügel, dritter 
Stock! — Herr von Magerftedt? — Zweites Stodwerf, eben dort! 
— Aſſeſſor Abwarter? — Hintergebäude, drei Treppen hoch, dort 
in die Tür!” 

„Sch danke gehorfamft,” fprach der alte Herr mit dem rund⸗ 
lichen Bäuchlein und dem fpanifchen Rohr mit Goldfnopf. Dabei 
rieb er fich dag glattrafierte Kinn und zupfte an der Kravatte wie 
jemand, der fich nur mit einiger Mühe in einer ihm fremden Um; 
gebung orientiert. 

„Werde ich die Herren wohl zu Haufe treffen?” fragte er noch 
einmal und hatte fih mit der Antwort zu begnügen: 

W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie II. 394 603 


„Darüber führen wir nicht Buch. Erkundigen Sie fih, Herr.“ 

Der alte Gentleman ftieß ein wenig entrüftet fein fpanifch 
Rohr auf den Boden und brummte etwas nicht ganz Verſtänd⸗ 
liches vor fich Hinz Dann aber fchritt er würdig der Tür und dem 
Hintergebäude zu, die, wie man ihm angegeben hatte, zur Woh⸗ 
nung des Aſſeſſors emporführte, 

„Im Ende habe ich e8 noch für einen Troſt zu nehmen, wenn 
ich den jungen Menfchen auf feiner Stube finde!” murmelte er 
und flieg ein wenig mühfam die fteilen Treppen empor. 

Die Abendfonne vergoldete die Fenfter des jungen Menfchen, 
die Photographie feiner Geliebten auf der Miniaturftaffelei 
swifchen den Papieren des Schreibtifches und — mit einem legten 
lächelnden Blick den jungen Menfchen felber. Er aber lag auf dem 
Sofa, beide Hände unter dem wirren Haupte und vorläufig total 
unfähig, einen zureichenden Grund für fein längeres Atemholen, 
Aetenfchreiben und Reimefuchen zu finden. In einer unbeſchreib⸗ 
lihen Stimmung, daß heißt in einer feelifchen und körperlichen 
Abfpannung, die leichter als fonft irgend etwas in der Welt 
nachzufühlen fein wird, lag er da. Die Schiefale der Menfchen 
um ihn her gingen ihren Lauf, fein eigenes Schieffal aber ſchien 
ftill zur ftehen. Rundum war die Welt in lebhaftefter Bewegung, 
und er hatte ftill zu figen oder vielmehr dazuliegen und alleg, 
den Gefchäftslärm der Firma Aldenberger und Kompagnie nicht 
ausgefchloffen, auf feine Nerven wirken zu laffen. Eine Nafe 
von feinem Vorgeſetzten, Geſchäftsverſäumnis betreffend, die er 
geftern abend nach feiner Heimkehr aus dem Walde auf feinem 
Tiſche fand, hatte das Siegel auf feine heutigen Zuftände gedrückt; 
wenn wir fagen wollten, daß die Hölle in feinem Buſen wüte, fo 
würde diefes nur fehr wenig übertrieben fein. | 

„Und wie figt fie?” ftöhnte er. „Ste haben fie zwiſchen fich 
auf dem Sofa, wenn fie fie nicht gar an den Loden durch den 
Salon Hinz und herziehen! Ich male e8 mir! Schreien möchte 
ich da: anch’ io sono pittore, Und was ift das Monitum des 


604 


alten Tribulationsrates, meines Herrn Chefs, gegen dag, 
was Papa und Mama ihr anzuhören geben werden? Und das 
geinfende Scheufal, der Magerftedt, ift mir vorhin, als ich zur 
Table d'hote mich fchleppte, in der Gaffe begegnet — uh, folchen 
Appetit wie den meinigen heute dürfte der Wirt im Deutfchen 
Haufe dreift und ehrlich allen feinen Tifchgäften wünfhen; — 
ein reicher Mann könnte er dabei werden. Und diefer Ein—fiedler ! 
Diefer Ba—ter Konftantius! Unfer Weg zu ihm war nichts als 
ein Holzweg. Er ein Anachoret? — Ein Anahronismus und 
weiter nichts ift er! — Und Roſa von Krippen war ebenfalls 
nur ein Erzeugnis des Kollegen, des Polizeiaffeffors, und feines 
ſchlechten Punſches.“ 

Er deckte von neuem beide Hände auf die Augen, und von 
neuem führte ihn ſeine fiebernde Phantaſie in den Wald voll 
Abendſonne und Vogelſang. Er ſtand mit der Geliebten aber⸗ 
mals an dem magiſchen Weiher und hörte von der hohlen Weide 
her das liebliche Kichern, und darüber überhörte er das Pochen 
an ſeiner Stubentür zum erſten Male. 

Er überhörte es noch einmal. 

„Wenn er wirklich noch, was ich aber nicht glaube, fein Ver; 
fprechen hält und in dieStadt kommt, um mit dem Onkel Püterich, 
Papa und Mama und — feinem Bankier zu fprechen, fo — fenne 
ich die Menfchheit: er zieht niht wieder hinaus! 
Dann fteht feine Birfenhütte leer, und Ernefta und ich können —“ 

Zum dritten Male Hlopfte der Beſucher nicht; er öffnete, ohne 
dazu eingeladen worden zu fein, und erſchien auf der Schwelle, 
wie wir ihn im Hofe des Pürerichshofes fahen, ein ältlicher, 
glattrafierter, glatköpfiger Herr von wohlwollend behaglicher 
Miene und Komplerion, der fich, den Stod unter dem Arme, mit 
dem weißen Sadtuch die fchweißglängende Stirn trocknete und 
freundlich fragte: 

„Richt wahr, da bin ich? Und ich komme hoffentlich immer 
noch recht und auch noch zur rechten Zeit?” 


39* 605 


Überrafcht von feinem Sofa auffpringend und alle Wintel 
feines Gedächtniffes mit möglichfter Schnelligkeit, aber vergeblich 
durchftöbernd, ftotterte der junge Mann, daß — er nicht bie 
Ehre habe, um fodann die höfliche Frage dran zu knüpfen — mit 
wem er die Ehre habe? 

Und Hut, Stod und Handfchuhe ablegend, nannte fich der 
lächelnde Greis, indem er hinzufügte: 

„Sp, wie ihr geftern mich fandet, konnte ich mich Doch unmögz 
lih vor einem anftändigen Menfchen fehen laffen !“ 

„Ernefta? !” rief Hilarion, als ob er fchon feit Monaten mit ihr 
verheiratet fei und fie jeßt nur aus dem nächften Gemache herbei; 
rufe, damit fie außer allem übrigen auch fein augenblidliches Er; 
ftaunen und feine Erſtarrung mit ihm feile, 

„O Here — mein verehrter — mein teuerfter Herr, das ift in 
der Tat — ift e8 denn möglich? — eine Überrafehung! — Bitte, 
nehmen Sie Platz — ich weiß nicht, wo mir der Kopf flieht — 
was würde, was wird mein armes Kind, meine Ernefta, dazu 
fagen? !” 

„Diefes wollen wir den nächften Stunden anheimftellen,“ 
erwiderte ruhig der Vater Konſtantius. „Wie mich deucht, werde 
ich jedenfalls dem guten Mädchen heute weniger abftoßend er; 
ſcheinen als geftern. Geftern fehien ich ihr, wie mir heute fcheint, 
einen nicht ganz unbegründeten Schauder und Abfchen einzu; 
flößen; heute war ich beim Schneider, Haarfchneider und Zahn: 
arzt. Doc laffen wir dag fürs erfte auf fich beruhen, und gehen 
wir jetzt — man fit nicht dreißig Jahre lang unbelehrt in der 
Einſamkeit! — gehen wir fo rafch und fachgemäß als möglich zur 
Löfung aller vorliegenden Fragen und Berwidelungen vor, 
Was alfo die Nachtfeite der Natur betrifft, fo bitte ich um eine 
kurze Auskunft. Aus welcher Wand trat die von Ihnen erblicte 
Erfeheinung hervor?“ 

„Aus welcher Wand, mein teurer Here? Ich faß da, dort an 
meinem Schreibtifch in — in Kummer und Sorgen; da ftand das 


606 


weiße — zarte Bild, das heißt als ich aufgeftanden war, das 
Fenfter zu fehließen, faß e8 da auf meinem Stuhle.“ 

Der Vater Konftantius befah den Stuhl und murmelte: 

„Da? Ha!“ 

„Es ging auch nicht durch die Wand fort, e8 Löfte fich auf, ohne 
daß ich fagen kann, wie.” 

Der Vater Konftantiug murmelte etwas von Speftralanalnfe 
und überflog mit lang ausgeredtem Halfe die Papiere auf dem 
Arbeitstifche des Aſſeſſors. 

„Sie haben häufiger die Gabe, zwifchen Ihren Akten allerlei 
Geifter zu fehen, junger Freund?” fragte er dann. „Sie pflegen 
zu poetifieren — dann und wann?“ 

Hilarion konnte bei vorliegenden corporibus delicti die Tat; 
fache nicht leugnen, gab fie aber nur vermittelft längerer Ausein⸗ 
anderfeßung zu, während welcher der Vater Konftantius ſtumm 
und Eopfichüttelnd an allen vier Wänden des Zimmers entlang ging 
und von Zeit zu Zeit mit dem Knöchel anpochte. 

Als der Aſſeſſor mit feiner Schugrede zu Ende war, war auch 
der Ereremit mit feiner Unterfuchung fertig und äußerte fich 
feinerfeitg: 

„Hohl klingt e8 überall, aber nirgends gefpenftifch. Ich werde 
nicht Flug daraus, höchftens klüger. Von Geift feine Spur! 
Statten wir, wenn Sie ſich ganz wieder dem realen Leben ge; 
wachfen fühlen, dem Heren Onkel Püterich einen Befuch ab.“ 

Zu fich felber gewendet, fügte er hinzu: 

„Es war merkwürdig, ift merkwürdig und bleibt merkwürdig, 
wie nahe zuſammen ſtets das alles wohnte und wohnt!” 

Der Affeffor, der dem Gebaren feines Gaftes ſtumm und wie 
hülflos zugefehen hatte, fuhr faft erfchroden zurüd, als der Alte, 
aus dem elegifchmelancholifchen Ton feiner letzten Bemerkung 
in den vollfommenen Gegenfag fallend, ihn ſchnarrend anz 
ſchnauzte: 

„Nun, ich meine, Sie haben es eilig mit Ihrer Hochzeit? 


607 


Dder wollen Sie mich etwa in Schlafrod und Pantoffeln zu 
meinem Freunde Püterich begleiten?” 

„zu dem Heren Baron?” ftammelte Hilarion. „Gewiß, ge 
wiß! Aber ich glaubte — ich dachte, wir gingen zuerſt —“ 

„za den Eltern der jungen Perfon? — Raſch in die Stiefeln, 
junger Mann! Ich glaube, Sie find imftande, fich einzubilden, 
daß nur Sie allein in der Welt dag Herz treibt? Aber Sie irren 
fih, — auch mich treibt das meinige, und ich wünſche jegt vor 
allen Dingen dem Onkel Püterich meine Viſite zu machen. Die 
Welt hat fich doch nicht im geringften verändert während meiner 
Abweſenheit. D Innocentia! Wo nehmen wir heute abend nach 
abgemwidelten VBerwidelungen das Souper ein? irgend etwas 
Gebratenem, einem guten Glas Wein, einem italienifchen Salat 
und einer verftändigen Bowle würde ich mich nicht ungern 
einmal wieder gegenüber finden.” 

Für einen Einfiedler, der dreißig Jahre lang nichts als Die 
ſchmalſte Waldkoſt genoffen hatte, fprach der Vater Konftantius 
fehr vernünftig. Daß ihm act Tage hindurch ein Stüd 
von einer Eichel im hohlen Badenzahn geftedt hatte, merkte 
man ihm auch nicht mehr an, und — wieim Traume fuhr Hilarion 
in Rod und Stiefeln, wie im Traum begleitete er feinen Anacho⸗ 
teten zu der Pforte des Barons Philibert Püterich, und wie im 
Traum vernahm er das augenblicklich Tetste Wort des Klausners: 

„Erwarten Sie ung drüben in der Konditorei; ein Viertel⸗ 
ftündchen wünfche ich mit ihm allein zu fein.“ 

„Daß ich Roſa von Krippen erblict habe, daß wir — die 
andere im Walde fahen, ift gar nichts !” ächzte der Aſſeſſor bei der 
Regierung Hilarion Abwarter, gänzlich gebrochen fi an dem 
Geländer der Treppe im Vordergebäude des Piüterichshofes 
herniedertaftend; — — — — wir fagen: ob einem eine Putz⸗ 
machermamfell oder die höchftfelige Majeftät von Dänemarf, 
Hamlet der Erfte, — Mamfell Rasmuffen oder König Friedrich 
ber Siebente erfcheint, ift ganz einerlei. Es kommt immer nur 


608 


darauf an, wie man fich zu den Erfcheinungen in diefer Welt zu 
ftellen weiß. — — 

Wenn man num hier und da in eine Dichtung hineingeht gleich 
wie in ein Naturalienkfabinett oder eine Wltertümerfammlung und 
mit einem Gewirr von mouches volantes vor den Augen und 
einem intenfiven Gefühl von Steifigkeit im Naden wieder heraus; 
fommt, fo ift in unferer Gefchichte an diefer Stelle dem nicht fo. 
Es ift nicht nur von Rechts wegen unfere Schuldigfeit, die Lefer 
und Leferinnen zu erfuchen, mit dem Geliebten Erneftag drüben in 
der Konditorei zu warten, fondern wir dürfen fie auch dreift auf; 
fordern, mit dem Vater Konftantius bei dem Onkel Püterich ein; 
zufreten und dem erfreulichen Wiederfinden und Wiederfehen 
anzuwohnen. Wenn wir nicht ganz und gar eine Bürgfchaft gegen 
ein geiftiges Mücdenfehen übernehmen können, fo liegt die Schuld 
nicht auf unferer Seite, 

Der Vater Konſtantius Hopfte an, und der Onkel Püterich 
tief herein. Der Vater Konftantiug, in der Meinung, daß in der 
Ferne eine fchlecht geölte Tür gefnarrt habe, Hopfte auch hier 
zum zweiten Male, und der Onkel Püterich rief wieder herein. 

„Ein fonderbares Organ!“ fprach der Ereinfiedler und öffnete, 
um fich einem noch fonderbareren Anblide gegenüber zu finden: 
dem Jugendfreunde in feinen alten Tagen nämlich. | 

Der Vater Konftantiug ließ den Hut aus der Linken fallen, 
um ſich mit beiden Händen auf den Stodfnopf ftügen zu können. 
Er faltete die Hände über diefem Stodfnopf, fehlug die Augen zur 
Dede empor und murmelte mit einem tief aus der Bruft ges 
holten Atemzuge: 

„O du meine Güte — Pi—te— rich?!“ 

Der Onkel und Geifterfeher im Flanell-⸗Schafpelzſchlafrock, 
Philibert nervös, der Baron Püterich mit Roſa von Krippen 
hinter feinem Lehnftuhl in der Wand, war in der Tat ein Spek—⸗ 
tafel, bei welhem man die eigene Güte und die des Himmels 
aneufen durfte, 


609 


„Du erinnerft dich meiner wohl nicht mehr, mon cher?” 
fragte der Waldbruder. „Da ich meinesteils längere Zeit ger 
braucht habe, um dich zu vergeffen, fo werde ich dir hierüber 
feinen Vorwurf machen. Mein Name ift —“ 


Er nannte den Namen, und der Baron, aus feinem Lehnftuhl 
emporfchnellend, ftieß einen quietfchenden Laut aus, gleich einer 
gefangenen Fledermaus, und fegte fich wieder mit einem ſo 
gläfernen Bli auf den Befucher, daß diefer einen Schlasfluß, 
wenn nicht befürchtete, fo doch recht wohl für möglich hielt. 

Doch es Fam anders! 


Yuch der Baron nannte nad) einer Weile den richtigen Namen 
des Einfiedlers, den wir, wie gefagt, Tieber nicht gebrauchen 
werden, und fügte hinzu: 

„Was ift das nun wieder für eine neue Niederfrächtigfeit? 
Hat man denn feinen Yugenblid in feinem Leben für fih?! — 
Mein Herr, der Herr, für den Sie fich auszugeben die Frechheit 
haben, ift bereits vor zwanzig Jahren in türfifchen Dienften als 
Diogenes⸗Bey zu Sinope an der Peft geftorben, und ich werde 
fofort nach der hiefigen Polizei ſchicken!“ 

„Püterich?!“ fagte der Vater Konftanting, feinen Hut ruhig 
aufhebend und ihn famt feinem fpanifchen Rohr auf den Tiſch 
legend, „Püterich? !“ rief er, 09 einen Stuhl an den Lehnftuhl des 
Barons, ſetzte fich gleichfalls, Hopfte dem Jugendfreunde auf 
das magere Knie und fprach beruhigend: 


„Püterich, die Gefpenfter kommen von Zeit zu Zeit doch auch 
bei Tage zum Vorſchein. Püterich, Philibert, in einem faft 
dreißigjährigen Eremitenleben ift e8 mir gelungen, mich für dich 
mit zu faffen; du wirft mich genau anfehen und nicht nach der 
Polizei ſchicken, ſondern nach unferm beiderfeitigen Freunde 
Magerftedt. Er wohnt ja bier in diefem Haufe ein Stodwerf 
unter bir, und ich habe auch mit ihm ein weniges zu verhan⸗ 
deln.” 


610 


„Auch der Schuft?!” ächzte der Onkel, und plöglich, in aller 
Friſche und Kraft der Wut und Verzweiflung aufhüpfend, krähte 
er: „Mir mag noch paffieren, was da will, ich glaube an alles, 
aber auf nichts, nichts, nichts laſſe ich mich mehr ein. Ich habe 
das Meinige genofien und bin mwenigftens Fein blöder Efel ges 
wefen, und Sie, Herr, feien Sie, wer Sie wollen — tun Sie, was 
Sie wollen — rufen Sie, wen Sie wollen; mir ift alles gleich- 
gültig, alles einerlei — ich bin und bleibe der, welcher ich war und 
welcher ich fein werde — mein Name ift Püterich, und jegt feien 
Sie und heißen Sie meinetwegen, wie e8 Ihnen beliebt.“ 

„Bravo, Püterich! Braviſſimo, alter, guter, lieber Freund!” 
fhrillte e8, als ob ein Nattenfönig menfchliche Stimme und 
menfchlihen Ausdrud erhalten habe, um feinen Beifall fund zu 
geben. 

Da ftand der Herr von Magerftedt gleichfalls im Zimmer, 
auch in weichen Pantoffeln und im Schlafrod, mit einer Mappe 
voll Höchft bedenklich ausfehender Papiere unter dem Arme. 

„Ich nehme an, daß der Herr auch einer deiner verehrten 
Kreditoren ift, und lege mir deshalb feinen Zwang auf, befter 
Philibert. Du weißt, daß ich ein Mann der Drönung war, bin 
und bleibe, und fo habe ich mir bei unferem legten Abfchied über; 
legt, daß diefe Stunde mir und dir die paffendfte fein werde, 
einmal freundfchaftlich diefe Dokumente zu überfliegen. Sie find 
meiftens alle von deiner Hand gezeichnet; wenn e8 dir alfo ge; 
fällig ift und du mich diefem Heren befannt gemacht haft, fo 
fönnen wir —“ 

Der Einfiedler hatte fich gefeßt; aber der Baron Philibert 
Püterich war aufgefprungen und fprang hin und her mit einer 
Behendigkeit und Bodfüßigkeit, die ung eine gehörige Dofis 
von Gift, Wut und Galle allen Ärzten der Welt als das befte 
Kordiale anempfehlen läßt. Er verlor den einen feiner pelsge; 
fütterten Filsfchuhe, und er verlor den anderen. Die Müse ſchleu⸗ 
derte er felber gegen die Dede, und mit einem Male auf den Vater 


611 


Konſtantius fih ftürzend, ihn an den Schultern padend und 
ſchüttelnd, fohrie er: 

„Bitte, jeßt fieh ihn dir an! Sch glaube alles, was du mit 
vorgetragen haft, Menfch; aber fieh ihn die an und bevenfe, daß 
ich dreißig Jahre lang mit ihm wie — in einem Bett gefchlafen 
habe; daß er meine Nichte heiraten will, daß mir Rofa — Roſa 
von Krippen — — uh, wenn diefes alte Haus, das Haus meiner 
Ahnen, ihm, ihre, mir und dir, Konftantius, über dem Kopfe 
zufammenfiele, fo wäre vielleicht ung allen geholfen, mir aber 
jedenfalls! Es ift fein Lumpenftreich, zu dem mich der Kerl da 
nicht vermittelft feiner Mappe unter feinem Arme bringen kann, 
zu welchem er mich nicht gebracht hat. Mein Gemüt kennſt du ja 
und weißt von Jugend auf, wie leicht fich mit mir verfehren läßt. 
D, wenn ich ihm nur über feine Mappe weg ein einziges Mal an 
die Gurgel könnte!“ 

„He, he, he,” Ficherte Herr von Magerftedt. 

Doch wir, feft ung im Gedächtnis haltend, daß Fräulein Roſa 
immer noch hinter der Tapete zwifchen den Bettwanzen haftet 
und alles fieht und Hört, was im Gemache vorgeht, wir wenden 
ung zu dem Vater Konftantius, dem Ereremiten. 

Er hatte die Wefte aufgefnöpft und faß am Tifche, den Kopf 
mit der Hand ſtützend. Er hatte oft in feiner Waldhütte gefeflen 
und nichts von dem Sturme draußen vor der Tür vernommen, 
doch nie fo mweltabgezogen, fo nur mit fich felber befchäftigt wie 
jet, im lebendigften Mittelpunfte der Stadt, die Freunde 
feiner $ugend neben fich, die Tiebliche Freundin hinter der Wand; 
fapete, 

Politik, Kunft, Wiſſenſchaft, Staatsleben, Liebe, Freund; 
fchaft und Verwandtfchaft? 

O Innocentia!“ ſeufzte er, und dann dachte er an feinen 
Wald im Frühling mit Pulmonaria officinalis, Hepatica nobilis, 
Anemone nemorosa, fowie silvatica und vor allen anderen 
Primula veris in Blüte und Sonnenfohein. Nicht mit der Spiße 


612 


des Fleinen Fingers fippte er fich, fondern mit der Fauft Flopfte 
er fich vor die Stirn, während die zwei Spufgeftalten des Tages 
aufeinander einzeterten. Er fah fih am Winterabend, während 
die Kartoffeln in der Aſche des niedergefunfenen Kaminfeuers 
brieten, mit — Oppermann im traulichen Verkehr und — — griff 
nach feinem Hut und Stod. 

„Mit dieſem Gefindel foll ich mich noch einmal herumfchlagen?” 
murmelte er, „Nicht um die Glorie aller drei Schlefifchen Kriege, 
nicht um den ganzen Ruhm des alten Fri!“ fohrie er und hieb 
dabei mit folhem Ingrimm auf den Tifch, daß des Barons 
Teegeſchirr (er trank Kamillentee) hinunterhüpfte, daß der Baron 
felber fich ftatt auf das Sofa daneben auf den Teppich feßte und 
der Herr von Magerftedt feine Dofumentenmappe zur Erde fallen 
ließ. „Laffen Sie ſich von dem da fagen, wer ich bin, Magerftedt ! 
Ob Sie mich dann auch zu Ihren Gläubigern zählen werden, ift 
mir ganz gleichgültig. Machen Sie Ihre Gefchäfte ruhig weiter 
unser ſich ab, zu den meinigen habe ich Sie nicht weiter nötig. 
Ih empfehle mich,“ 

Er empfahl fich in der Tat durch diefe Art Abfchied zu nehmen 
mehr als durch irgend etwas Anderes, was er im Verlaufe diefer 
Hiftoria fagte oder tat. Aus der Wand hervor drang ein ſchwirren⸗ 
der, zirpender Ton; aber der liebe Himmel bewahre jedermann 
vor einem derartigen Heimchen am häuslichen Herde. 

„O, werde du mir nur erft ganz zum Geift, Philibert!“ Ficherte 
Roſa hinter der Tapete; — ja, fie Ficherte diesmal auch, jedoch 
auf eine ganz andere Weife als der holdfelige Spuf im Walde. 

Der Einfiedler ging bereits die Treppe hinunter, als der 
Freund Magerftedt an den Onkel Püterich fehr verblüfft die 
Frage ftellte: 

„Werde ich e8 vielleicht erfahren, wer diefer rohe Patron mit 
diefer fo ungemein gefunden Lunge und plebejerhaften Fauft 
war?” 

Der Onkel nannte faum vernehmbar den Namen, und der 


613 


Herr von Magerftedt nahm Plag in dem Lehnftuhle feines 
Freundes, ohne fürs erfte imftande zu fein, feine Schuldverfchreiz 
bungen auf dem Fußboden zufammenzulefen. In dem Augen; 
blicke jedoch, als der Vater Konſtantius drüben jenſeits der Gaſſe 
die Tür der Konditorei aufdrücdte, hatte er fich bereits wieder 
gefaßt und fprach: 

„Kennft du das Trauerfpiel Herzog Theodor von Gothland 
vom Yuditene Grabbe in Detmold, Püterich?“ 

Der Onkel mußte e8 verneinen. 

„Nun, du warft immer ein unliterarifcher fenfueller Burſche, 
Philibert; während ich ſtets meine höchften Genüffe in Aftheticis 
fuchte und fand. Nun fieh, in jener anmutigen Tragödie fchleppt 
der Herzog feinen Todfeind, den Mohren Berdoa, in eine 
düftere graufenvolle Höhle mit den aufmunternd traulichen 
Worten: 

— — — — — Von keinem Fuß 

Wird ſie betreten, und ununterbrochen iſt's 
In ihren Räumen ſtille wie ein Grab! Dort 
Sind wir allein! Dort will ich dich morden! 


Püterich, hier in deiner Höhle ſind wir jetzt auch allein, hier will 
ich dich morden. Die kleine Piepenſchniederin kriege ich weder auf 
deinen noch meinen Kredit mehr. Zwanzig Jahre lang haſt du 
auf meine Koſten gelebt, und heute befinden ſich meine Finanzen 
in einer ebenſo totalen Auflöſung wie die deinigen. Die Sonne 
ſinkt, 

An deinem ganzen Körper ſehe ich 

Kein einzges Glied, das mich nicht ſchwer 

Beleidigt hätte; ſchmeichle dir nicht, daß 

Du eher ſtirbſt, als bis ein jegliches 

Die Schuld gebüßt hat; — 


| nimm Pas und laß uns abrechnen. Menfch, du kannſt dich gar 
nicht feßen, ohne daß ich mir wütend fage, daß ich allein es bin, 


614 


der die Fähigkeit dazu diefe ganzen Jahre hindurch an dir weiter 
gefüttert hat! He, he, und fol ein Zufammentreffen — ftoßen 
wie da eben, foll einen wohl gar noch milde ffimmen? D ja, der 
fehlte mir auch gerade noch zum heutigen Abend und — zum — 
Abend — unferes — Lebens — mein guter Püterih! Sonft 
aber mag er fich doch ja nicht einbilden, daß er überhaupt noch 
für mich eriftiert !” 


615 


Zwölftes Kapitel. 


0 ie in ihrem füßen Fach doch an manche ſchöne Leiftung ge; 

wöhnte junge Dame hinter dem Büfett hatte eine folche 
wie die des Aſſeſſors Hilarion innerhalb der halben Stunde feines 
Aufenthalts in ihrem Lofal nie erlebt. 

Selbft fie, die den großartigften Kuchenefferinnen und Paſteten⸗ 
und Likörkonſumiſten der Stadt ruhig zufah, fagte fich mit immer 
fteigendem Erftaunen: 

„Wenn dies aber gut geht, fo will ich eg Toben!” 

Nie hatte ein aufgeregter Verliebter in der Angſt und Dual 
feiner Seele derartig in Süßigfeiten gewütet wie jeßt unfer 
junger Freund. Zuder, Schlagfahne und Obftfäfte floffen ihm 
um Lippen und Kiny; alles, was ihm in die Hand fiel, ſchien ihm recht 
zu fommen. Eine Säule abgeleerter Kriftallteller und Tellerchen 
türmte fih auf dem Seitentifchchen neben feinem Ellbogen auf, 
und mit einer Atemnot ringend, feßte er einen Maraschino auf 
einen Rofoglio, und nicht bloß das, fondern im fteten Wechfel 
gelangte er gänzlich ungurechnungsfähig von Plaisir des dames 
über Parfait amour zu Lait de vieillesse, al8 ob nie etwas 
Natürlicheres für ihn je einem Wieſen⸗ oder Waldborn ent; 
fprudelt fei. 

Dabei behielt er natürlich ftieren Blickes durch die Glastür 
des Konditors die hohe gewölbte Pforte des Püterichshofes 
brüben mit den zwei altersfchwachen bärbeißigen Karyatiden fort; 
während im Auge. 

„Hier ſoll ich auf ihn — fie — wen — warten? E8 iſt ein 
Fegefeuer — eine Hölle!” ftöhnte er und ſchlang und fehlürfte 
halb bewußtlos weiter, 


616 


„Wenn er noch eine Mama — wenn er eine Braut. hat, fo 
fann er e8 eigentlich nicht verantworten!” flüfterte das Fräulein 
hinter ihren Glasglocken, jet vollftändig ängftlich die Hände auf 
ihrem weißen Schürgchen zufammenlegend. „So bange hat mir 
noch kein Kunde gemacht; — — oh — da, hab’ ich es mir nicht 
gedacht?! Da haben wir es ſchon!“ 

Es hatte wohl fo ungefähr den Anfchein. Bleich, an einer 
legten Paftete würgend und ein Stück Obftkuchen in der Hand, 
hatte fich der Affeffor plöglich in dem roten Sammerfeffel zurück⸗ 
gelehnt. Er fah den Vater Konftantius vom Püterichshofe her 
über die Gaffe ſtürzen und zwar allein. 

„Wie ich e8 mir gedacht habe!” ftöhnte er. „ES war noch ein 
Steohhalm der Hoffnung, daß er etwas bei dem alten Ungeheuer, 
dem — Onkel — Philibert ausrichte, aber da bricht auch er. D, 
er kannte eben den Onkel Püterich und feinen Freund Magerftedt 
nicht!” 

Aber in den Konditorladen ſtürzend, fehrie der Einfiedler: 

„Sind Sie noch) da, Abwarter? — Einen Moment! — Fräus 
lein, einen Abſynth! — Noch einen — und — noch einen! — 
Ah, oh! Ah, das war die legte Rettung, Hilarion, mein Sohn! 
Die ganze Seele wollte durch die Kehle! So — ah! — D mein 
Sohn, mein Sohn, ich hatte in der Tat völlig vergeffen, wie es 
in der Welt ausfieht, und wie die Menfchen drin ausfehen; aber 
jetzt weiß ich e8 wieder — gottlob! Geben Sie mir einen Stuhl, 
Fräulein, und geben Sie mir — noch einen Wermut!“ 

Er fette fih, und Hilarion flierte ihn an und wagte es erft 
nach einer geraumen Weile zu ſtammeln: 

„Und Ernefta?” 

Der Bater Konſtantius ftierte ihn feinerfeits an, rieb fich 
dann die Stirn, ſchnäuzte fich und fprach gedehnt: 

„Ernefta? — Ja fo! Hm, ei — ei freilich. Die hatte ich 
meinerfeits eben auch ganz aus dem Gedächtniffe verloren.” 

„aber ich nicht! Sch, ich, ich, ich nicht!” rief der Jüngling außer 


617 


fih vor Schmerz, Verdruß, Wehmut und fonftigem Unbehagen. 
„Es ift feine Sekunde, in welcher fie mir nicht in ihrem Elend vor 
Augen fteht, und jet wird e8 wiederum bald Nacht, und wiederum 
ift fie Hülflos allen Snfinuationen von Papa und Mama und 
allem eigenen Sammer um mich und fich anheimgegeben. Und 
num kommen Sie, mein Herr, der Sie behaupteten, dreißig Jahre 
lang einer unglüdlichen Liebe wegen in der Wildnis gefeffen zu 
haben, der Sie mich hier eben noch eine Stunde lang auf den 
Folterftuhl fpannten, und haben nicht einmal an mich und mein 
armes Mädchen gedacht !?” 

„Vergeſſen hab’ ich euch nur auf einen Moment,“ brummte 
der Waldbruder. „Unglüdliche Liebe? Ach was, dummes Zeug! 
Dreißig Jahre lang habe ich in Frieden gelebt und die ganze Welt 
vergeffen! Verlange nicht zu viel von einem fterblichen Menfchen, 
mein Sohn Hilarion! Übrigens haben wir noch zu allem Zeit. 
Für einen erften Befuch bei anftändigen Leuten ift zwar die Stunde 
ein wenig vorgerüdt; allein ich bin ein Menfch des Ausnahme; 
zuftandes, und du, mein Kind, befindeft dich wenigftens augen; 
blielich in einem ähnlichen Zuftande. Was kümmert uns der 
Dntel Püterich? Gib mir deinen Arm und laß ung nach der Ville 
Piepenfchnieder fahren. Meinetwegen !“ 

Der Aſſeſſor zahlte in fliegender Haft; der Einfiedler fehr ber 
dächtig. Was aber den Konfum Hilarions anbetraf, fo machte es 
der jungen Dame hinter dem Ladentifch einige Mühe, die Poften 
sufammenzurechnen, und der Vater Konftantins meinte nachher 
in der Gaffe mit einem gleichfalls höchſt beforglichen Blick erft 
auf die Konfituren im Schaufenfter und dann auf den jungen 
Freund: 

„Mein Sohn, wir wollen lieber nicht fahren, fondern gehen. 
Ein längerer Fußweg wird Ihnen wahrfcheinlich fehr wohl tun.“ 

Und fie gingen; — der Alte diesmal weniger mit der Harfe 
als mit dem fpanifchen Rohr; troß aller Seelenunruhe und Kör⸗ 
peranftrengung des Tages aber firad und helläugig; der Junge 


618 


diesmal durchaus nicht frifch und blühend, wohl aber wie gebeugt 
unter der Laft eines imaginären Leierfaftens und dazu zwar mit 
viel Mufik in fich felber, aber einer Höchft Iugubren und unheim; 
lichen Trauermufif. 

Sp durchkreuzten fie einen bedeutenden Teil der Stadt und 
gelangten wiederum auf die volfswimmelnde Promenade. 

„O, vermöchteft du e8 doch, dich wenigfteng teilweife in meine 
Gefühle und Stimmungen zu verfegen !” rief der Bater Konftanz 
tius. „Es würde dich ficherlich zerſtreuen. Ich bitte dich um 
Gotteswillen, mein Kind, wandele ich hier nicht als ein lebendiges 
Kompendium aller Philofophie der Welt dir zur Seite? — Hm, 
ift das nicht Sankt Jokoſi Kirchhof, Hilarion?“ 

Er war ftehen geblieben und deutete mit feinem Stabe auf ein 
hohes ſchwarzes Gitter. 

„Er ift e8,” ſeufzte der Aſſeſſor; „man läßt ihn jedoch feit 
einigen Jahren eingehen.“ 

„am,“ murmelte der Vater Konftantius, „treten wir einen 
Augenblid ein.” 

„Mein verehrtefter Herr, ich fühle mih —“ 

„Sei fill! Sch weiß, wie du dich fühlft. Sch habe mich zu 
feiner Zeit ähnlich, ja vielleicht wohl noch tiefer empfunden als 
du Dich jetzt. Auch ich war eine fenfitive Natur und klappte meine 
Blütenblätter bei der leifeften Berührung von außen fofort zu; 
fammen. D Innocentia! o Rofa von Krippen! o Püterich, 
Püterich, Püterich! Komm herein, Hilarion, vielleicht kann ich dir 
noch zeigen, wo man fie zur ewigen Ruhe niedergelegt hat — 
wenn du mir auch dann noch dein Ehrenwort darauf gibft, daß 
du immer noch an deine Halluzinationen ſowohl in deinem Jung⸗ 
‚gefellenftübchen wie auch am Weiher in meinem Walde glaubft, fo 
will ich dir auch glauben! Was Leben? Was Tod? — Vielleicht 
finden wir auch zwei Steine mit den Namen Magerftedt und Püte; 
rich; und dann habe auch ich mich heute nachmittag im Püterichs⸗ 
hofe geirrt und der Welt Scheinbilder für ihre Wefenheit genom; 


W. Raabe, Sämtliche Werke. Serie IL 404 61 9 


men. Nachher Haben wir ja wohl kaum noch fünfhundert Schritte 
zu dem Dache deiner Geliebten oder vielmehr dem Befigtum 
ihrer Eltern?” 

„Mir ift fehr weh zumute!“ ſtöhnte der Aſſeſſor, aber der 
Einfiedler verficherte nicht von neuem, daß er ihm das auch ohne 
fein Wort glaube, Er zog ihn mit fich hinein in die Düftere Pforte, 
und dann fuchten fie, 

Sie fuchten lange zwifchen den Leuten, die man bereits vor 
dreißig Sahren hier begraben hatte, und die Dammerung half 
ihnen durchaus nicht Dabei. Endlich wieg fie ein alter Nachbar 
des Friedhofes von einem Neubau aus über die Hede zu dem 
rechten Sahrgang, und der Vater Konftantius fand, was er 
geſucht hatte, 

Eine geraume Zeitlang fagte er gar nichts; dann aber 
fprach er: 

„Nenne e8, wie du willft, junger Menfch — nenne e8 eine 
Herzensroheit fondergleichen; aber ich werde mich, ich kann mich 
nicht zu Boden legen wie geftern, als du mir den Gruß von diefem 
Nase her ausrichteteſt. Wir wiffen nichts, und was wir erfahren, 
fühlen und empfinden, hat ung big jeßt noch nicht klüger gemacht. 
Du fiehft nach der Uhr? — Du fiehft immer ungeduldiger nach der 
Uhr? Sp fomm, du Träumer im Traum der Welt — weden fann 
ich Dich nicht, fo wenig, als du vor dreißig Jahren mich geweckt 
haben würdeft. — Wirf, da die Reihe an dir iſt!“ 

Nach einem Dauertrab von fünf Minuten fanden fie richtig 
am Tor der Billa Piepenfchnieder und ſchöpften Atem. Dann zog 
der Vater Konftantius die Glode, und es dauerte eine ziemliche 
Meile, ehe durch die warme Abenddämmerung einer der Diener 
beranfchlenderte, um fich nach ihren Wünfchen zu erkundigen. 

„Der Herr Kommerzienrat zu fprechen, Jean?” fragte Hilarion 
unendlich höflich und fuchte vergeblich fein Herzklopfen dadurch 
zu bändigen, daß er die Hand auf die bewegte feuchende Bruft 
brüdte, 


620 


„Bedaure, Here Affeffor. Der Herr, die gnädige Frau und 
das Fräulein find gerade vor einer WViertelftunde zum Herren 
von Erbacher gefahren —” 

„Fräulein — Fräulein Ernefta auch?“ ftammelte Hilarion. 

„Fräulein auch,“ verficherte der Diener ruhig. „Die Herr; 
fchaften haben fich von unferer Herrfchaft die Ehre ausgebeten zu 
einem Gartenfeft und Geburtstagsfeft des jungen Heren und 
sum Duartett im Freien.“ 

„Siehft du, mein Sohn!” fprach der Eremit. „Morgen ift fie 
die Deinige oder — du bift der Meinige.“ 

„Ih würde mein Herzblut darum geben, wenn ich jeßt drei 
Worte mit ihr reden könnte!” ächzte der Aſſeſſor, die Hände 
ringend. | 

„Der Herr von Erbacher ift zwar auch mein Bankier und Ver; 
mögensverwalter, wir würden ficherlich ihm bei feinem Garten, 
feft, Geburtstagsfeft und Quartett hHöchlichft willlommen fein, 
allein, mein Kind, ich meine doch, wir rufen ruhig die erfte Drofchke 
an und fahren zurück nach dem Püterichshofe. Dein Wunfch er; 
fcheint mir töricht: erhalten wir ung unfere Illuſionen folange 
als möglich! Gib deine Karte ab, Hilarion, und notiere meinen 
Namen mit Bleiftift darauf; — — und nun laß ung gehen; ich 
ſchlafe diefe Nacht auf deinem Sofa. Vielleicht erfcheint auch mir 
dein Geift noch einmal, um mir ein wenig deutlicher mitzuteilen, 
weshalb eigentlich er dich und dein Liebehen geftern gu mir in den 
Wald ſchickte.“ 

In der letzteren Hoffnung irrte er ſich. Sie gelangten erſt gegen 
zehn Uhr nach Hauſe, und gegen halb zehn Uhr bereits hatte ſich 
in dem Gemache des Onkels Püterich, gerade als der Herr von 
Magerſtedt dem Baron ganz programmäßig moraliſch auf der 
Seele kniete und körperlich ohne alle Moral ihn vollſtändig 
gerädert hatte, ein höchſt wunderbarer Duft verbreitet. 

Es roch da auf einmal ganz merkwürdig nach Lilien, und 
Freund Magerftedt ſog den Geruch ein, ohne ſich im geringſten 


* 621 


erklären zu fünnen, woher er komme. Er hatte feine Ahnung 
davon, daß Rofa von Krippen in diefem Duft ihre Erlöfung fand. 

„Bon dir geht er nicht aus, Püterich!“ fprach er. „Auf meine 
Rechnung hin ftehft du nicht mehr im guten Geruche!“ ſchrie er. 
„Bus und zu Ende ift e8 damit!“ fehrie er gellend, — — 

„Sütiger Himmel, ein Stiefelfnecht! Wie hätte ich e8 mir 
geftern vorftellen können, daß ich mich Doch noch einmal eines 
Stiefelfnechtes bedienen würde?” lallte der Vater Konſtantius auf 
dem Sofa feines jungen Freundes, „Ah, aber ich ſetze ihn dafür 
auch zu meinem Erben ein.” 

Es ift ein Glüd, daß wir wiffen, wen er meinte; aus feinen 
fchlafteunfenen Worten ging's nicht Flar hervor. 

„Er foll heiraten, wen er will, Auch fein allerliebftes, rares, 
nettes Piepenfchniederchen! — Ah, oh, fo häufig find die großen 
Sünderinnen und die überfchwenglichen Engel in diefer Alltags; 
welt nicht, daß auf jeden braven Tropf eine fallt, um das Herz 
für ihn zu brechen, Ja, er foll heiraten, und ich — werde Gevatter 
ftehen: fo ſummt dag Lied und dag Leben weiter, und der Wald, 
der Püterichshof und Sankt Jokoſi Kirchhof halten's nicht auf.“ 

Yus der Kammer nebenan und von dem Lager des Aſſeſſors 
Hang fortwährend ſchweres Gefeufze und angſtvolles Geftöhn her. 

„Das arme Kind!” ſeufzte auch der Eremit, ſich noch einmal 
auf dem Ellbogen emporrichtend. „ES hat fich gründlich den 
Magen verdorben.” 

Fünf Minuten fpäter fchlief er fanft und ruhig, wie eben nur 
ein Einfiedler, der dreißig Jahre lang in der Wildnis und Einöde 
nicht nur fein Gewiffen, fondern auch feine Konftitution im guten 
Zuftande erhielt, zu fchlafen vermag, felbft wenn e8 feinem Neben; 
menfchen nebenan fchlecht geht und es demfelben herzlich übel zu 
Sinne iſt. 

Aber einen Traum hatte er doch gegen Morgen, als die Sonne 
aufging. 

Er befand fich im Walde, in feinem Walde, und ftand in der 


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en. 


Morgenfonne an dem Weiher und laufchte nach der alten hohlen 
Weide hinüber. 

„Es ſoll mich doch wundern, ob ich nicht auch zu Gefichte be; 
fomme, was fich dem jungen Volk auf feinem Wege zu mir fund 
gab und mich grüßen ließ,“ brummte er; und dann lachte 
die ganze ſchöne Wildnis und dazwifchen Hang ein lieblich Ge; 
ficher: 

„Ach, Konftantius, wenn das eine Strafe fein follte, fo habe 
ich fie mit Vergnügen getragen. Himmlifch habe ich mich diefe 
dreißig Jahre hindurch unterhalten vor deiner Tür. Du warft zu 
deollig, mio caro; doch nun — lebe wohl! Du bift immer ein 
Gelehrter gewefen, alfo wird e8 dich freuen, wenn ich dir fage: 
der Vater Taufendfünftler, der alte Proteus, ruft, und Pfamothe, 
mein Mütterchen, wird ungeduldig. Nun tanzen wir wieder 
zwifchen Rhodus und Kreta auf den lichten Waffern, vielgeftaltig, 
ewig ung wandelnd, dem Papa beim NRobbenhüten helfend. 
Addio, Constantio!” 

Und er fah eine liebe lichte Geftalt im Morgenglanze fi 
verflüchtigen. Er fah eine zierlihe Hand, die ihm eine gelbe Roſe 
an die Nafe warf, und er griff nach diefer Roſe, faßte feine Nafe 
und erwachte, 

Wir aber erwachen gleichfalls; der alte Proteus entſchlüpft 
wieder einmal unſeren haltenden Armen: er behält nur zu gern 
all ſein Wiſſen des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünfti⸗ 
gen für ſich allein. 


623 





NCBeDeseseseseneneneneseses: 


Berlagsanjtalt für Litteratur und Kunſt 
Hermann Klemm Berlin- Grunewald 


Felir Dahn 


Gejammelte Werke 


Erzählende und poetiſche Schriften 


Neue wohlfeile Gefamtausgabe mit 50 Vollbildern in Duplerdruck. 


Zwei Serien zu je 8 elegant gebundenen Bänden. Preis jeder Serie 
in Leinwand geb. M.32.—. Ausgabe in Halbfranz geb. M. 44.—. 


Dieje neue wohlfeile Gejamtausgabe enthält jämtlihe Romane, Erzählungen, 
Dichtungen, Schaujpiele und Balladen des beliebten Schriftitellers. 


— Sebde Serie ift einzeln käuflih. — 

Jeder Band hat einen Umfang von zirka 600 Seiten. 
Die Illuftrationen jtammen von den bekannten zeitgenöfj. Künftlern 9. £. Braune, 
©. Ad. Cloß, Johs. Gehrts, H. Grobet, Ferd. Leeke und Hans W. Schmidt. 


Am 3. Januar 1912 ift Felix Dahn, der Dichter des „Kampf um Rom“, nad) 
faſt 78 jähriger Erdenwanderung eingezogen in Walhall, das er in vielen feiner 
zahlreihen Schöpfungen mit heißer Poetenjehnjuht umwarb. — Mit feinem 
Namen wird für immer unlösbar verknüpft bleiben die Erinnerung an eine von 
dichteriſchem Geifte verklärte Erjchliekung der gewaltigen Schäße, die das alt- 
germaniihe Volkstum uns hinterlafjen hat. Der feinerzeit 


beifpielloje Erfolg jeines Romans „Ein Rampfum Rom“, 


dieſes Lieblingsbuches unferes größten Deutihen: Bismard, begeijterte den taten- 
frohen Dichter zu der ftattlichen Reihe Iciner weiteren Romane aus der wechjel- 
vollen Zeit der Völterwanderung. — Über feinem Lebenswerfe, das ihn ein 
gütiges Schidjal vollenden lieh, jtand als heller Leititern 


die Baterlandsliebe, welche keiner 
reiner und größer empfand als er. 
Das Kommen und Gehen ganzer Völker, ihr gewaltiges Kämpfen und Ringen um 
Exiftenz und Herrihgewalt, ihr heroiſches, falt titanenhaftes Trogen, mit dem fie 
lieber jubelnd und begeiftert in den Tod gegangen, als dem verhakten Sieger ſich zu 
unterwerfen, hat nie ein Dichter mit joldy impofjanter Kraft der Anſchauung und jo 
binreißender Wucht der Empfindung vor die Seele des Lejers geführt, wie Felix Dahn. 
Felix Dahns weltbekannte hiftorifhe Romane bilden 
eine unvergleichlich genußreiche Lektüre. Hunderttaufen- 
den Deutjchen iſt er zum Lieblingsdichter geworden. 
War der bisherige teure Preis feiner Werke für die meiften jeiner Bewunderer 
ein Hindernis zur Anjhaffung, jo wird dieſe von den Deutjchen in allen 
Landen mit Sehnjucht erwartete wohlfeile und dennoch jhön und vor— 


nehm ausgejtattete reich illuftrierte Ausgabe überall, wo die deutiche 
Zunge Elingt, um jo mehr mit Freuden begrüßt werden. 








Berlagsanftalt für Litteratur und Kunſt 
ermann Klemm Berlin- Grunewald 


Neues 
MWilhelm Bufch - Album 











Sammlung Iuftiger Bildergefhichten mit 1500 zum Teil farbigen 
Bildern und acht Kunjtblättern in Vierfarbendruck ſowie einer 
Gravüre mit dem Bildnis des Meifters nad) einem unveröffent- 
lihten Originale 


Franz von Lenbachs 
Breis hochelegant in Leinwand gebunden M. 20.— 


dem Bujhalbum „Humoriftiicher Hausjchag“ enthalten find und. 
ferner eine große Zahl bisher noch nirgends veröffentlichter Bilder 
und Bildergefhichten des beliebten Humorijten. 


Wilhelm Buſch 
ift einer der volksſtümlichſten Namen in deutſchen Landen. 


Überall, bei hoch und niedrig, bei jung und alt, find feine Bee Bildergeihichten 
mit den drolligen, ——— Verſen bekannt und beliebt. Millionen Menſchen 
erfreuen Rn immer wieder an ihrem Föftlihen Humor oder ihrer ſcharfen Satire 

ch ihrem unwiderftehlihen Zauber hin, der das Zwergfell erjchüttert 
zu homerijhem Gelächter, der auch den mürriihen Griesgram zum Lächeln 
zwingt. Sein Humor ijt von einer höheren Wirklichkeit, von grandiojer Phantaftit 
und Wahrheit, Humor, der mit den Unzulänglichteiten des Lebens |pielt, Humor, 

der uns zu lautem Laden zwingt. ! 


Seine Bücher werben nie veralten und viele Jahrzehnte noch wird er verehrt 
und geliebt bleiben. Buſch ift es, dem die lachende Menſchheit die Köftlichiten 
Stunden verdankt. 


Das neue Wilhelm Bufh-Album enthält u. a. 


Der heilige Antonius von Pabua / Hans Huckebein, ber Unglücsrabe / 
Das Bufterohr / Das Bad am Samstag Abend / Die Kühne Müllerstochter / 
Der Schreihals / Die Prife / Schnurrdiburr oder Die Bienen / Schnaken und 
Scnurren / BufheBilberbogen / Kunterbunt / Hernach / Schein und Sein. 


In einem ftattlihen Band, der fih in Format und Wusitattung dem 

„Humoriftiihen Hausihak“ anichliekt, mit einem Umfang von 512 Drudieiten 

und 1500 Bildern, darunter eine Anzahl in den Farben der Originale, find die 

oben genannten unfterblihen Werte mit vielen anderen bisher unbelannten 
Bildern und Bildergeihichten des Meifters zufammengeftellt. 


und geben 


£urusausgabe in Halbleder gebunden M. 35.— 
Enthält nur folhe Werke von Wilhelm Buch, die nicht in 
0 





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2, 


KR 
In 


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Pe Raabe, Wilhelm Karl 
2451 Sämtliche Werke 





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