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Full text of "Sämtliche werke"

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http://www.archive.org/details/samtlichewerkeO9schiiala 


Schillers 


Sämtliche Werke 


Säkular⸗Ausgabe in 16 Bänden 


In Verbindung mit Richard Feſter, Guſtav Kettner, 

Albert Köſter, Jakob Minor, Julius Peterſen, 

Erich Schmidt, Oskar Walzel, Richard Weißenfels 
herausgegeben von Eduard von der Hellen 


Stuttgart und Berlin 
J. G. Cotta'ſche Buchhandlung Nachfolger 


Schillers 


Sämtliche Werke 


Säkular⸗Ausgabe 


Neunter Band 


Überſetzungen 


Mit Einleitungen und Anmerkungen von Albert Köſter 


Erſter Teil 


Stuttgart und Berlin 
J. G. Cotta'ſche Buchhandlung Nachfolger 


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Einleitung. 


Die Überſetzungen fremder Dichtungen, die der neunte 
und zehnte Band dieſer Ausgabe zuſammenſtellt, ver- 
danken ihre Entſtehung zum Teil jenem großen deutſchen 
Nationalbemühen des 18. Jahrhunderts, an dem alle 
bedeutenden Geiſter der Zeit beteiligt ſind, nämlich der 
Eingewinnung aller Schätze des klaſſiſchen Altertums; 
zum andern, und zwar größeren Teile ſind ſie durch die 
Bedürfniſſe des deutſchen, beſonders des weimariſchen 
Theaters hervorgerufen. Die vier Dramen im neunten 
Bande gehören der zweiten Gruppe an; ſie zeigen uns 
Schiller, wie er nach ſeiner Anſiedelung in Weimar ſich 
für die letzten Jahre ſeines Lebens künſtleriſch aufs engſte 
mit Goethe verbindet. In der Fürſorge für das Theater 
konnten ſich ja beide Dichter gegenſeitig am erfolgreichſten 
ergänzen. 

Als Goethe 1791 an die Spitze des weimariſchen 
Bühnenweſens getreten war, hatte er von vornherein die 
Abſicht, auch hier wie überall die tiefſten Erfahrungen, 
die er in Italien gewonnen, zur Geltung zu bringen 
und unter denen, die ſeiner Leitung unterſtellt waren, 
ein bewußtes Künſtlertum zu wecken und auszubilden. 


275099 


VI Einleitung 


Er wollte nicht länger den bequemen Naturalismus, 
die unveredelte Natürlichkeit und den unkünſtleriſchen 
Schlendrian dulden, der an den Konverſationsſtücken 
der Achtzigerjahre groß geworden war; noch weniger 
aber wollte er ohne genügende eigne Bühnenkennt⸗ 
niſſe von vornherein Geſetze geben oder Verſuche an⸗ 
ſtellen. Seine Abſicht war vielmehr hier, wie auf 
jedem andern Gebiet, Erfahrungen zu ſammeln: nicht 
eine Reihe von anſpruchsvollen berühmten Bühnengrößen 
für Weimar zu verpflichten, ſondern lieber mit bildungs⸗ 
fähigen jungen Anfängern von unten auf zu lernen und 
aus den täglichen Forderungen des Theaters erſt die 
Geſetze einer edlen Bühnendarſtellung abzuleiten. Be⸗ 
ſtärkt wurde er in ſeinem Glauben an eine ſzeniſche Kunſt, 
die ſich über alle ihre Mittel und Wirkungen Rechen⸗ 
ſchaft geben könne, vor allem im Jahre 1796 durch ein 
längeres Gaſtſpiel, das Iffland, der klug berechnende 
Mime, in Weimar gab, jenes Gaſtſpiel, für das Schiller 
bühnenkundig, aber grauſam zugreifend Goethes „Eg⸗ 
mont“ bearbeitete. Und indem nun Goethe fernerhin 
für das Bühnenbild die Forderungen aufſtellte, die ſich 
ihm ſelbſt für die Malerei und Plaſtik ergeben hatten, 
konnte er gegen Ende des Jahrhunderts einen neuen 
ſtrengen theatraliſchen Stil ausbilden, deſſen Elemente 
man, was das höhere Drama angeht, etwa dahin zu⸗ 
ſammenfaſſen kann: für die Geſamtheit ein harmoniſches 
Zuſammenſpiel aller, gipfelnd in ſchöner Gruppenbildung; 
für den einzelnen eine wohlgegliederte, die Alltagsrede 
ſtiliſierende Deklamation, in Einklang gebracht mit edler, 
ausdrucksvoller Poſe. Kein Zweifel, daß man in manchen 
Einzelheiten dieſes für Deutſchland neuen Stils Cigen- 
tümlichkeiten der franzöſiſchen Bühne wiederfindet. 


Einleitung VII 


Natürlich konnten Goethes Forderungen völlig be⸗ 
friedigt werden nur in Dramen mit obligater Deklama⸗ 
tion, d. h. in verſifizierten Stücken, deren die deutſche 
Bühne ſehr wenige beſaß. Und hier nun ſetzt Schillers 
Arbeit ein. Den neuen Stil durch ein ſtattliches Repertoire 
zu befeſtigen, dem jambiſchen Fünftakter das theatraliſche 
Bürgerrecht zu erkämpfen, dazu reichten der „Wallen⸗ 
ſtein“ und ſeine Geſchwiſterdramen nicht aus. Auch 
Leſſings „Nathan“ und Goethes „Iphigenie“, denen 
Schiller 1801 und 1802 ſein dramaturgiſches Bemühen zu⸗ 
wandte, konnten doch durchſchnittlich nur einmal im Jahre 
eine andächtige Zuhörerſchaft im Theater verſammeln. 
Man mußte ſchon beim Ausland Anleihen machen und das 
erborgte Gut natürlich den neuen Zwecken anpaſſen. Nur 
wenn man dieſe Lage der Dinge in Rechnung zieht, kann 
man über Schillers Bühnenbearbeitungen ein gerechtes 
und unbefangenes Urteil gewinnen. Sie traten gar nicht 
mit dem Ehrgeiz auf, ganzen Erſatz für die Urbilder 
zu gewähren; ſie wollten nicht der Ewigkeit, ſondern 
dem Tage dienen und nicht Erzeugniſſe von dauerndem 
literariſchen Wert, ſondern Hilfsmittel zur Erreichung 
weislich abgeſteckter Ziele ſein. Mit dieſen ihren be⸗ 
ſcheidenen Anſprüchen find fie, mannigfach untereinander 
abgeſtuft, für alle Zeiten Muſter einer konſequenten, 
künſtleriſch ernſten, dem Moment gehorchenden drama⸗ 
turgiſchen Tätigkeit. Die Einſeitigkeit, das ſtarre Weſen 
ihres Schöpfers, das Unvermögen, ſich dem ausländiſchen 
Vorbild anzubequemen, iſt für die Zeit ihres Entſtehens 
ein Verdienſt geweſen. Einen „Führer nur zum Beſſern“ 
kann man jede Schillerſche Bühnenbearbeitung nennen. 

Zeitlich voran ſchreitet der 


Vill Einleitung 


Macbeth. 


Er bedeutet gegenüber früheren Verſuchen, Shake⸗ 
ſpeare für die deutſche Bühne zu gewinnen, einen ganz 
außerordentlichen Fortſchritt. 

Jede ſtarke Beeinfluſſung einer Nationalliteratur durch 
eine große künſtleriſche Individualität des Auslandes iſt 
einem Impfprozeß zu vergleichen: der eingeführte Fremd⸗ 
körper wirkt anfangs Krankheit und Fieber erregend, bis 
der in Leidenſchaft gezogene Organismus in ſich ſelbſt 
das Heilmittel ausbildet, das ihn nun für die Folgezeit 
gegen ſchädliche Wirkungen von der gleichen Seite ſchützt. 
Dieſe Vorgänge zeigten ſich in Deutſchland, als Shake⸗ 
ſpeare gegen das Ende des 18. Jahrhunderts ſeine Macht 
zu äußern begann. Die Generation, die ihn zuerſt kennen 
lernte, war wie der Sinne beraubt; gar mancher iſt ge⸗ 
ſcheitert an Verſuchen, ihn zu erreichen, vielleicht gar zu 
überbieten. Dann folgten die Beſcheidenen, die ſich das 
Ziel tiefer ſteckten und Genüge daran fanden, ſeine Rieſen⸗ 
werke auf das Niveau deutſcher Familienſtücke herunter⸗ 
zuſchrauben. Aber auch das war noch eine Art Wett⸗ 
bewerb. Der hörte erſt auf, als Deutſchland im „Wallen⸗ 
ſtein“ etwas ganz Eigenartiges, in ſich Ruhendes dem 
Drama des Eliſabethaniſchen Zeitalters an die Seite 
ſtellen konnte. Und darum war es keine Pfuſcherei, keine 
Mißachtung fremder künſtleriſcher Rechte, wenn nun 
Schiller ohne jeden Gedanken an eine Rivalität an der 
Schwelle des Jahrhunderts eine Shakeſpeareſche Tragödie 
in ſeinen eignen neuen Stil übertrug. Es war ein An⸗ 
zeichen wiedergefundener Kraft und Geſundheit; ſchaden 
konnte der Brite nicht mehr, nur noch reine Bewunde⸗ 
rung einflößen und zu edelſtem Wetteifer anregen. 


Einleitung IX 


Daß Schiller gerade den „Maebeth“ wählte, hatte 
ſeinen guten Grund. Das Drama hatte ihn von Jugend⸗ 
tagen an begleitet, hatte in Gedichten ſeiner Jünglings⸗ 
zeit, in den „Räubern“, im „Fiesco“, im „Don Carlos“ 
Spuren hinterlaſſen und dann erſt kürzlich den „Wallen⸗ 
ſtein“ kräftig beeinflußt. Freilich war Schiller nicht 
immer bei der gleichen Auffaſſung von Macheths Charakter 
ſtehen geblieben. In den Achtzigerjahren war ihm der 
Königsmörder als bös und feige durch und durch, die 
Lady als wildes, blutdürſtiges Weib, als gemeine Ko⸗ 
mödiantin erſchienen, alſo etwa ſo wie Stephanie und 
Fiſcher in ihren entſtellenden Umdichtungen des Dramas 
das ſündige Ehepaar hingeſtellt hatten; in den Neunziger⸗ 
jahren bekehrte ſich Schiller dagegen zu der Vorſtellung, 
die durch Schröders und Bürgers Bühnenbearbeitungen 
Platz gegriffen hatte: von Macbeth dem edlen Feldherrn, 
der nur der Verſuchung der Hexen und ſeines Weibes 
erliegt. Beide Deutungen ſtehen, wie neuere Interpre⸗ 
tationen bewieſen haben, gleich weit entfernt von der 
wahren Meinung Shakeſpeares. 

Und nun fällt mitten hinein in die Ausführung der 
„Maria Stuart“ Schillers eigne Bearbeitung der gewal⸗ 
tigen engliſchen Tragödie. In der erſten Hälfte des 
Januar 1800 begann er das Unternehmen, das er in 
acht bis vierzehn Tagen zu beendigen hoffte, das ihn aber, 
da eine Krankheit Hinderniſſe bereitete, bis Anfang April 
in Atem hielt, ſo daß die erſte Aufführung nicht vor dem 
14. Mai ſtattfinden konnte, ſeltſamerweiſe mit der Rei⸗ 
chardtſchen Muſik, die für Schröders Maebeth-Bearbei⸗ 
tung und die quirligen Bürgerſchen Hexenſzenen kom⸗ 
poniert war. 

Schiller beherrſchte das Engliſche nur ſehr ſchlecht; 


= Einleitung 


er legte darum die beiden Überſetzungen ſeiner Arbeit zu 
Grunde, aus denen Deutſchland ſchon ſeit Jahrzehnten, 
mehr als aus dem Originaltext, ſeine Shakeſpeare⸗Kennt⸗ 
nis geſchöpft hatte. Von 1762 —66 hatte Wieland etwa zwei 
Drittel aller Dramen des Engländers in deutſche Proſa 
übertragen, nicht muſtergültig, nicht treu, nicht vollſtändig, 
ſtark beeinflußt durch den konjekturenreichen Text von 
Warburton, oft ohne rechte Zuverſicht zu ſeinen eignen 
Fähigkeiten, oft überempfindlich gegen die Roheiten des 
engliſchen Originals. Aber, ſoviel man im einzelnen ein⸗ 
wenden mag, und ſo wenig Wieland mit ſeinen franzöſi⸗ 
ſchen Tanzmeiſterſchrittchen dem Kothurngang des großen 
Tragikers folgen kann, — an manchen Stellen ſpürt man 
doch, daß hier ein Poet einen Poeten verdolmetſcht. Und 
das war's, was dieſe ſonſt ſo unzulängliche Überſetzung 
gerade den Dichtern jener Zeit, Leſſing, Goethe, Schiller, 
lieb machte und wert erhielt. 

Ganz andrer Art war das Unternehmen Eſchenburgs 
(1775 78), das fic) mit Unrecht als eine zweite Auflage 
des Wielandſchen Werkes bezeichnet“). Es iſt die ſolide, 
gründliche Arbeit eines gelehrten Shakeſpeare⸗Kenners, 
der aber zum Überſetzer dieſes Dichters nicht die geringſte 


*) Es iſt eine oft erörterte, im Grund aber ziemlich 
gleichgültige Frage, ob Schiller die echte Eſchenburgiſche 
Ausgabe oder den Eckertſchen Nachdruck benutzt habe. Die 
Antwort muß lauten: er hat ſich bisweilen an die eine, 
bisweilen an die andere Vorlage, wie ſie ihm gerade zur 
Hand war, gehalten. Für die Heranziehung von Eckerts 
Nachdruck zeugen die Verſe 407, 713, 2175; gegen ſeine Be⸗ 
nutzung ſprechen 681 ff., 1488. Zweifelhafte Stellen ſind 
zahlreich. — Auch H. L. Wagners Macbeth⸗Überſetzung hat 
Schiller bisweilen Hilfe gewährt; entſcheidend ſind die Verſe 
195, 395, 787, 896, 1350, 1700, 1731, 1963 f., 2235. 


Einleitung XI 


Begabung mitbrachte. Kein Wunder, daß Schiller an⸗ 
fangs dieſen „traurigen“ Philiſter verachtete und geneigt 
war, ihn beiſeite zu ſchieben. Aber während der Arbeit 
lernte er die anſpruchsloſe Treue und den Fleiß Eſchen⸗ 
burgs doch ſchätzen und gab ihm vom zweiten Aufzug 
an entſchieden den Vorzug vor Wielands freierer Über⸗ 
tragung. Ja endlich erkannte Schiller, daß er noch 
weiter, bis auf den Urtext, zurückgehen müſſe. Und ſo 
hat ſich für die zweite Hälſte der Arbeit und beſonders 
für die Reviſion des Ganzen eine Mtacheth-Wusgabe, die 
Frau von Stein herlieh, ein Wörterbuch der engliſchen 
Sprache, das Goethe am 16. Februar ſandte, und gewiß 
auch Lottens Hilfe dem Unternehmen nützlich erwieſen. 

Immer aber, trotz des zunehmenden Verſtändniſſes 
des engliſchen Textes, wollte und konnte Schiller nur 
eine freie Nachdichtung, keine treue Überſetzung geben. 
Es lag nicht in ſeiner Natur, ſich in eine fremde Indivi⸗ 
dualität bis zur Aufgabe ſeiner eignen einzuſchmiegen. 
Er hatte eben erſt am „Wallenſtein“ zu ſchwer um eine 
ihm allein angehörige Ausdrucksweiſe, um einen Stil 
gerungen, als daß er dieſen nun zu Gunſten eines andern 
ſofort wieder hätte aufgeben können. Und ſo geſchah es, 
daß er die wortkargſte Tragödie Shakeſpeares mit jener 
Rhetorik, jener von der Wirklichkeit abweichenden Breite 
der Rede ausſtattete, die wohl antiker Praxis entſpricht, 
in die engliſche Bühnenſprache des 16. Jahrhunderts aber 
ganz fremde Töne hineinträgt. Man leſe bei Schiller 
Versreihen wie 691 ff., 1047 ff., 1973 ff.; ſie ſind ſchön 
an ſich, aber allzu ſchmuckvoll und bauſchig. Auch kam 
hinzu, daß der Bearbeiter Bilder des Originals mit 
Rückſicht auf ſein Publikum veränderte und Shake⸗ 
ſpeares Härten und Ecken überall zu glätten und zu 


XII Einleitung 


runden ſuchte. Sogar dort, wo ſcheinbar volle Überein⸗ 
ſtimmung zwiſchen beiden Dichtern herrſchte, in der Wahl 
des Versmaßes, erkennt ein feineres Stilgefühl grund⸗ 
ſätzliche Unterſchiede. Auguſt Wilhelm Schlegel, der 
Meiſterüberſetzer, hat in mehreren Abhandlungen die 
Verskunſt Shakeſpeares dahin charakteriſiert, daß es 
dieſem Dichter nicht darauf ankomme, glatte, regelmäßige 
Verſe zu ſchreiben, ſondern daß er um jeden Preis aus⸗ 
drucksvoll ſein wolle, möge auch ſeine Sprache darüber 
zuzeiten, wenn es der Inhalt verlange, holperig, ſtockend 
und rauh werden. Wenn nun aber Schlegel vom Über⸗ 
ſetzer verlangte, er müſſe dieſen Stil nachbilden, ſo iſt 
das durchaus nicht Schillers Meinung; ihm iſt es viel⸗ 
mehr häufig genug Selbſtzweck, ſchöne Verſe zu dichten 
für die erſtrebte neue Kunſt der Bühnendeklamation. 
Die ganze Breite des Abſtands zwiſchen Shakeſpeares 
Drama und Schillers Nachdichtung erkennt man aber erſt, 
wenn man ins innere Gefüge des Stückes ſich vertieft. 
Aus dem von dämoniſcher Phantaſie und übermächtigem 
Ehrgeiz gequälten ſchottiſchen Heerführer, der zuerſt 
willenlos dahingeriſſen wird, weil er muß, und zu 
wollen, aber nur Böſes zu wollen erſt dann lernt, als es 
zu ſpät iſt, — aus ihm hat Schiller, beeinflußt von 
einer damals weitverbreiteten Auffaſſung, einen ſchuldlos⸗ 
edlen Helden gemacht, der als Verführter wohl Mitleid, 
aber kaum die ganze Fülle tragiſchen Mitleids für ſich 
in Anſpruch nehmen kann. Und aus Shakeſpeares Lady, 
in der erſt durch ihren Gatten der Ehrgeiz rege geworden 
iſt, die dann aber nach Weibes Art die in ſie hinein⸗ 
gepflanzte Aufgabe viel treuer zu hegen beginnt, als er 
es konnte, und viel zäher ſie durchzuführen trachtet, um 
endlich an ihr zu zerſchellen, — aus ihr iſt in der deut⸗ 


Einleitung XIII 


ſchen Bearbeitung eine Verkörperung alles Böſen, eine 
zweite Hekate, eine Megäre geworden. Weil nun aber 
Schiller bei dieſer Umgeſtaltung der Charaktere dem 
Hexengruß, der das Stück einleitet, viel größere Bedeu⸗ 
tung beilegte, ſo mußte auch die Art der drei Zauberſchwe⸗ 
ſtern ſich ändern. Bei Shakeſpeare ſind es drei Hexen nach 
mittelalterlicher Vorſtellung, Menſchenweiber, die im 
Bund mit der Hölle Zauberkünſte üben, Tränke brauen, 
beſchwören und weisſagen können, und die mit jedem 
neuen Übel, das ſie ſtiften, ihre Schadenfreude nähren. 
Schiller glaubte ihnen wegen ihrer Macht über Macheths 
Gemüt in den Eingangsſzenen höhere Würde verleihen zu 
müſſen und geſtaltete ſie, unter Nachwirkung antiker Vor⸗ 
ſtellungen, zu Botinnen eines hohen, unbegreiflichen Schick⸗ 
ſals um, zu Gehilfinnen von der Götter Neide, der jeden 
allzu glücklichen Sterblichen treffen und vernichten ſoll. 

Man kann wegen all dieſer inneren und äußeren 
Veränderungen heute, nach mehr als hundert Jahren, 
Schillers „Maebeth“ nicht mehr unmittelbar an dem eng⸗ 
liſchen Urbild meſſen. Als ein Werk von eigner Art, als 
erſter Verſuch, Shakeſpeare auch auf der Bühne ſein 
Versgewand wiederzugeben, hat das Stück den Zeit⸗ 
genoſſen Schillers volles Genüge getan und iſt über viele 
Bühnen gegangen. Aber zur Zeit ſeines Erſcheinens 
las man eine Reihe Shakeſpeareſcher Dramen ſchon in 
Schlegels Überſetzung. Und vor ihrer Feinfühligkeit und 
Treue hat denn allerdings die freie Weimarer Nachdich⸗ 
tung nicht auf die Dauer beſtehen können. 


Turandot. 


War es bei der Maebeth -Bearbeitung Schillers Ab⸗ 
ſicht geweſen, der deutſchen Bühne eines der großen 


XIV Einleitung 


Meiſterwerke der Weltliteratur zu gewinnen, ſo handelte 
es ſich bei der „Turandot“ um eine Gelegenheitsarbeit von 
minderem Gewicht, um eine Studie gleichſam von der 
Art, wie wenn ein Maler das Bild eines früheren Meiſters 
kopiert, um deſſen Technik experimentell nachzuprüfen. 
Daß auch hier wieder Schiller ſich nicht mit ſklaviſcher 
Wiedergabe begnügen konnte, ſondern es als ſein Recht 
und ſeine Aufgabe betrachtete, einige Züge des Originals, 
die er für Mängel anſah, zu verbeſſern, nimmt uns bei 
ſeiner herriſchen Natur nicht wunder. Es erklärt ſich 
ſein Verfahren überdies aus der beſondern Art und Ent⸗ 
ſtehungsgeſchichte des Urbildes. 

Der Dichter der „Turandot“, Graf Carlo Gozzi 
(1720-1806), war Italiener und Venezianer mit Leib 
und Seele. Ihn ſchmerzte es, zu ſehen, wie um die 
Mitte des 18. Jahrhunderts die alte ſzeniſche Kunſt ſeines 
Landes von franzöſiſcher Routine verdrängt wurde, wie 
Chiari in der Tragödie, Goldoni in der Komödie von 
den Parole gebenden Kreiſen der Geſellſchaft, Gozzis 
eigenen Standesgenoſſen, gefeiert wurden. Wozu dieſer 
erborgte Schmuck der martellianiſchen Verſe? fragte er 
ſich; wozu die ausländiſche erlernte Bühnentechnik? Er 
konnte die handlungsarme Stelzentragik unmöglich der 
ſtrahlenden Phantaſtik gleich achten, die man in den Tagen 
des Arioſt geſchätzt hatte, und in der verdünnten Luſtig⸗ 
keit der venezianiſchen Alltagskomödien keinen Erſatz ſehen 
für die ſaftige, täglich ſich erneuende Friſche des alten 
italieniſchen Stegreifſpiels, der commedia dell' arte. 

Weit entfernt aber, nur zu grollen oder zu ſpotten, 
verſuchte er praktiſch den Gegner zu beſiegen, indem er 
eine Reihe eigenartiger Stücke auf die Bühne brachte, 
die er Fiabe nannte, Dramen, in denen blühende Laune, 


Einleitung XV 


unumſchränkte Erfindungskraft ihr Spiel treiben und 
zugleich die kindliche Lachluſt der Italiener zu ihrem 
Recht kommen ſollte. Die dichteriſchen Geſtalten freilich 
eines Arioſt oder Taſſo waren ihm für dieſen Zweck zu 
gut; aber er fand Erſatz. Er griff in den großen Vorrat 
heimiſcher und orientaliſcher Märchen hinein, ließ ihre 
Helden über die Bühne ſchreiten und miſchte in dieſe 
Geſellſchaft keck und unbeſorgt die alten Lieblinge des 
Volkes, die ſtehenden Figuren des Maskenſpiels. Da⸗ 
durch ſind ſeltſame, geiſtreiche Zauberſtücke entſtanden, 
die mit Recht das Publikum eine Weile unterhielten, 
aber doch mit ihrem bunten Durcheinander weder für die 
Literatur noch für die Bühne einen bleibenden Gewinn 
brachten. Denn genau betrachtet kam doch keines der 
beiden Elemente zu voller Geltung: die Märchenhand⸗ 
lung, die den breiteſten Raum beanſpruchte, nahm Gozzi 
im Grunde ſelbſt nicht ernſt; und für die Perſonen der 
commedia dell' arte, die er wirklich ehrlich liebte, hatte 
er nur kleine Nebenrollen zu vergeben. Es zeigte ſich 
hier, was man ſo oft beobachtet: Miſchgattungen haben 
kurze Lebensdauer. 

Die vierte Fiaba der Zeitfolge nach iſt „Turandot“. 
Ihr liegt ein Märchen aus der Sammlung „Tauſend 
und ein Tag“ zu Grunde, die Erzählung von der ehe⸗ 
ſcheuen Prinzeſſin von China, die jeden Freier, der nicht 
ihre drei Rätſel löſt, hinrichten läßt und ſich ſelbſt dem 
Sieger nicht ergeben will, ſo daß dieſer ſich zu einem 
zweiten Wettkampf verſteht. In dieſem iſt aber das Spiel 
umgekehrt: er, der unbekannte Prinz, ſtellt das Rätſel 
und verlangt, daß die Prinzeſſin ihm ſeinen eignen ver⸗ 
borgenen Namen nenne. Mit Hilfe eines eigenſüchtigen 
Mädchens aus ihrem Serail, das dem Prinzen den Namen 


XVI Einleitung 


entlockt, ſiegt die Kaiſertochter, erwählt aber nach dieſem 
Triumph den ihr Verfallenen doch aus Laune zum Ge⸗ 
mahl. 

Aus dieſer Erzählung konnte ein Bühnenpraktikus 
wie Gozzi leicht ein wirkungsvolles Drama geſtalten. 
Ein exponierender Akt führte in tränenvollen Erzählungen 
die langen Irrfahrten des Prinzen Kalaf und das jammer⸗ 
reiche Schickſal ſeiner Eltern, ſowie die Verhältniſſe am 
Hofe von China vor; den beiden Rätſelkämpfen waren 
der zweite und fünfte Akt vorbehalten, den Zwiſchen⸗ 
raum zwiſchen ihnen füllten die Intrigen, die mit dem 
Unternehmen jener Serailſklavin zuſammenhingen. Für 
die Perſonen der commedia dell' arte blieben dann frei⸗ 
lich nur die untergeordneten Rollen des Sekretärs, Groß⸗ 
kanzlers, Pagenhofmeiſters und Eunuchenaufſehers am 
Hofe von Peking übrig. Ihre Rollen, die bei der Auf⸗ 
führung von den Mitgliedern der ausgezeichneten Truppe 
Sacchi aus dem Stegreif geſpielt wurden, brauchte Gozzi 
zum Teil nur zu ſkizzieren, während er die Partien der 
eigentlichen Märchenperſonen in den bekannten italieni⸗ 
ſchen elfſilbigen Verſen ausführte, reich an Pointen und 
Refrains, in prächtiger farbenreicher Sprache. Auf die 
Charakterzeichnung legte er dabei nicht viel Gewicht; es 
waren ja Märchengeſtalten, was brauchte man viel nach 
den Gründen für ihr Handeln zu fragen! So iſt denn 
Turandot genau ſo launiſch, Kalaf genau ſo unerklärlich 
verliebt, wie in der orientaliſchen Erzählung. Nur durch 
die geſchickt geführte, ſelten ſtillſtehende Handlung, die Leb⸗ 
haftigkeit der rhythmiſchen Dialoge und durch die bur⸗ 
lesken Zwiſchenſzenen feſſelte das Drama ſein Publikum. 

Freilich, wieder nicht für lange Zeit. Als 1762 
„Turandot“ zum erſten Male in Venedig gegeben wurde, 


Einleitung XVII 


ſtanden die Spiele Gozzis in höchſter Gunſt. Wenige 
Jahre ſpäter hatte ſich die ganze Gattung ſchon über⸗ 
lebt und verfiel der Vergeſſenheit um ſo ſchneller, als 
gerade damals die Sacchiſche Truppe ſich auflöſte. Es 
war doch nur eine ſchwache Genugtuung für den Undank 
der eignen Landsleute, daß der Dichter bald im Ausland 
eine treuere Anhängerſchaft finden ſollte. 

Für Deutſchland war Friedrich Auguſt Clemens 
Werthes der Vermittler, der die 1772 erſchienenen ge⸗ 
ſammelten Dramen Gozzis in den Jahren 1777 —79 ins 
Deutſche übertrug. Werthes, ein Schützling Wielands, 
ein Talent leichter Aneignung, war wegen ſeiner Sprach⸗ 
gewandtheit und ſeines Sinnes für Wohllaut zum Über⸗ 
ſetzer graziöſer Werke wohl tauglich. Es war allerdings 
ein Mißgriff, daß er Gozzi in Proſa übertrug; der Pomp 
der Sprache ging dabei ja ganz verloren. Davon abge⸗ 
ſehen iſt aber die überſetzung brav und ehrlich. Erwähnt 
man, daß Kalaf bei Werthes ein wenig zärtlicher, die 
Sklavin Zelima etwas ſchnippiſcher geworden iſt, ſo ſind 
alle Abweichungen aufgezählt, die ſich der Überſetzer, wohl 
ohne es zu überlegen, erlaubt hat. 

Schiller nun, der des Italieniſchen gar nicht mächtig 
war, kannte Gozzis Dramen nur aus dieſer nüchternen 
Verdeutſchung. Er konnte ſich daher wohl an den tech⸗ 
niſchen Vorzügen der Stücke erfreuen, fühlte aber deut⸗ 
lich heraus, wieviel ihnen durch die Übertragung in Proſa 
an Reiz genommen ſei. Als er nun nach ſeiner Dresdener 
Reiſe im Jahre 1801 den alten Plan einer Turandot⸗ 
Bearbeitung ausführte, der ihn vom Ende Oktober bis 
Ende Dezember beſchäftigte, da mußte ihm Art und Um⸗ 
fang ſeiner Aufgabe von vornherein klar ſein. An den 


Aufbau des Ganzen, den er zu rühmen wußte, erachtete 
Schillers Werke. IX. II 


XVIII Einleitung 


er ſich gebunden; nur im vierten Aufzug hat er an ein 
paar Stellen, die in unſern Anmerkungen berückſichtigt 
werden, leiſe nachgeholfen. Aber nach drei Seiten hin 
bewegte er ſich freier: er erſetzte das marionettenhafte 
Weſen der Märchenperſonen durch eine tiefere, auch 
menſchlich packende Charakteriſtik; er gab dem alles 
Schmuckes entkleideten Drama das Prachtgewand der 
Verſe wieder; und endlich führte er die Rollen der 
Maskenperſonen, von denen ſich bei Gozzi ja gelegent⸗ 
lich nur das Kanevas vorfand, in wirklichem Dialog aus. 

Ein pſychologiſches Intereſſe an der Handlung hatte 
Gozzi nicht erweckt; nicht der leiſeſte Verſuch war ge⸗ 
macht, das Tun der Prinzeſſin zu motivieren. Sie iſt 
grauſam von Natur und bleibt es bis ans Ende des 
Stückes; daß ſie den Prinzen zum Gemahl nimmt, iſt 
bare Willkür. Da ſie ſein Rätſel gelöſt oder die Löſung 
wenigſtens erſchlichen hat, ſo iſt jeder äußere Zwang, ihm 
die Hand zu reichen, beſeitigt; und ein innerer tritt bei 
Gozzi nicht an die Stelle. 

Dieſen inneren Zwang aber zu finden und glaubhaft 
zu machen, iſt Schillers Hauptbemühn geweſen. Er ge⸗ 
ſtaltet Turandot daher zu einer hoheitvollen Fürſtin, die 
aus berechtigtem, edlem Stolz eine Ehe einzugehn ſich 
weigert. Sie ſieht, wie in ganz Aſien das Weib zur 
Sklavin des Mannes entwürdigt wird; und dagegen 
bäumt ſich ihr Herz auf. Nicht aus Grauſamkeit, ſondern 
aus Notwehr braucht ſie ihren ſcharfen Geiſt gegen das 
herriſche Geſchlecht. Sie hat noch keinen Mann geſehen, 
dem gegenüber ſie ihr Tun bereut hätte. Kalaf iſt der 
erſte, der durch den Adel ſeines Weſens ſie wankend 
macht. Sein bloßes Auftreten ſchon entſcheidet. Turandot 
liebt ihn, ohne es ſich geſtehen zu wollen. Sie beharrt 


Einleitung XIX 


auf dem doppelten Rätſelkampf nur noch aus Stolz, um 
ihre Ehre zu retten; und daher darf ſie ſich am Schluß 
aus freier Neigung dem Prinzen verbinden und ihm ge⸗ 
ſtehen: „Mein Herz war Euer, gleich im erſten Augen⸗ 
blick, da ich Euch ſah.“ „Des Stolzes und der Liebe 
Streit“, ſo hat Schiller ſelbſt den Kampf in Turandots 
Seele genannt. 

Mit der Prinzeſſin wuchs auch Kalaf an innerem 
Wert. Ein vom Unglück Verfolgter iſt er, dem das Leben 
an ſich wertlos geworden iſt. Und er wird nun plötzlich 
vor die Gefahr des Rätſelkampfes geſtellt. Kein Wunder, 
daß ſolch ein Jüngling ſich leuchtenden Auges in das 
Wagnis ſtürzt, nicht aus Liebe zu der Tigerherzigen oder 
zu ihrem Bildnis, ſondern nur aus Luſt am Abenteuer. 
In der Gefahr ſelbſt reift er jedoch zum Mann; gegen⸗ 
über Turandots herber Größe fühlt er ſeinen Wert und 
kämpft jetzt um ſie nicht mehr aus Tollkühnheit, ſondern 
aus Liebe. So müſſen die Wege der beiden Fürſten⸗ 
kinder zuſammenführen. Man verfolge einmal bis ins 
einzelne, wie ſich das Rätſelturnier im zweiten Aufzug 
entwickelt; hier iſt alle tiefere Wirkung auf Schillers 
Anderungen zurückzuführen. 

Gleiche Sorgfalt konnte der Bearbeiter den Neben⸗ 
perſonen nicht widmen; doch ſind ſie alle gegenüber der 
Proſa von Werthes auf ein höheres Niveau gehoben 
durch die Verſifizierung. Die Jambenſprache, die Schiller 
am Ende des Jahres 1801 ſchon mit voller Leichtigkeit 
handhabte, ließ keiner Platitüde des Vorbildes Raum, 
duldete keine leeren Wiederholungen, keine brutalen und 
derben Ausdrücke, benutzte aber gern den Anlaß, eine 
ſchlichte Wendung in Werthes' Überſetzung zu einer reiz⸗ 
vollen Antitheſe oder ſonſt einer rhetoriſchen Figur aus⸗ 


XX Einleitung 


zubilden. Und ſo iſt es gekommen, daß Schiller, ohne 
den italieniſchen Text zu kennen, das Drama doch 
in den weſentlichen Szenen zu ſeinem Original zurück⸗ 
dichtete. 

In Einem freilich wollte und konnte er mit Gozzi 
nicht rivaliſieren: in der Ausführung der Rollen, die 
dieſer der commedia dell' arte entnommen hatte. Was 
waren dem Deutſchen die italieniſchen Maskenfiguren! 
Er hatte ihnen nichts Ahnliches an die Seite zu ſtellen. 
Hanswurſt war längſt von der Bühne verjagt worden; 
und eine wirkliche Kunſt des Improviſierens, die im 
Norden ſtets nur wenige beſeſſen hatten, war ebenfalls 
dahin. Es blieb Schiller alſo nichts übrig, als die 
Partien des Truffaldin und Brigella wie alle übrigen 
in jambiſchen Fünftaktern auszuführen. Das aber iſt kein 
Versmaß, um derbe Witze und Albernheiten zu ſagen. 
Höchſtens für den Ausdruck parodiſtiſcher Würde eignet 
es ſich. Und eben dieſe legte Schiller den beiden italieni⸗ 
ſchen Narren bei, eine etwas ſchwerfällige Komik, die das 
nordiſche Klima gezeitigt hat. 

Im ganzen leidet die Bearbeitung der „Turandot“ 
an einer gewiſſen Unentſchiedenheit. Es iſt nicht mehr 
das Original und doch auch kein neues Werk; die Haupt⸗ 
perſonen ſind menſchlich ernſt genommen, die Neben⸗ 
figuren faſt ganz als Puppen behandelt, die Masken mit 
einer allzu zahmen Komik ausgeſtattet. Inmitten dieſer 
wunderlichen Welt ſpielt beſonders der arme Kaiſer eine 
ganz unglückliche Rolle. Er, der zwiſchen ſeinen ſchnurri⸗ 
gen Räten wie ein rechter Operettenmonarch erſcheint, 
ſoll doch der Tochter gegenüber ganz ernſthaft als lie⸗ 
bender Vater gelten und dem Prinzen gar durch ſein 
ehrwürdiges graues Haupt Eindruck machen. Am beſten 


Einleitung XXI 


wird er wohl als ein ſchwacher Tropf dargeſtellt, der 
durch ſein Unglück etwas kindiſch geworden iſt. 

Ein wenig ausgeglichen ſind dieſe Unebenheiten aller⸗ 
dings durch die über alle Rollen ausgedehnte Verfifi- 
kation des Dialogs. Aber war ein ausgleichendes Ver⸗ 
fahren überhaupt am Platz? Soviel wußte ja Schiller 
auch ohne Kenntnis des Italieniſchen aus der überſetzten 
Vorrede zu Gozzis „Raben“, aus Goethes Erzählungen 
und mancher andern Quelle, daß im Original nur 
die Märchenperſonen in Verſen, die Masken in Proſa 
ſprechen. War es nicht vielleicht richtiger und beinahe 
ſtilvoller, dieſe Zwieſpältigkeit auch in der deutſchen Be⸗ 
arbeitung beizubehalten? Ganz gewiß. Und doch wie⸗ 
der nur unter einer Bedingung: wenn nämlich die Vers⸗ 
tiraden, wie bei Gozzi, einen ſo dicken grellen Farben⸗ 
auftrag erhielten, daß ſie die volkstümlich witzige Proſa 
faſt wie ein Gegengift herausforderten. Um Schillers 
maßvoll edle Rhythmen wäre es ſchade geweſen, wenn 
man ihre Wirkung durch das laute Gelächter der Narren 
unterbrochen hätte. Und darum, da er einmal mit Maß⸗ 
haltung begonnen hatte, mußte er ſie auch unter Preis⸗ 
gabe einer kräftigeren Wirkung bis zu Ende durchführen. 

Zurückhaltend und formſchön ſind endlich auch die 
Rätſel, die Schiller ſeiner Turandot in den Mund legte 
und die er bei jeder weiteren Aufführung des Stückes 
durch drei neue (vgl. Bd. 1, S. 277 ff. und 357 ff.) 
erſetzte. Am angemeſſenſten für das derbe Spiel wäre 
es wohl geweſen, wenn die Prinzeſſin Fragen geſtellt 
hätte, die unmöglich jemand beantworten kann und die 
dann der Prinz, verblüffend für alle Welt, dennoch auf⸗ 
gelöſt hätte. Annähernd ſo hat es Gozzi auch gemacht. 
Schiller dagegen ſetzte feine kleine fragende Gedichte an 


XXII Einleitung 


die Stelle, die nicht ſo ſehr den Scharfſinn als die Phan⸗ 
taſie beſchäftigen. Sie bereiten dem Ratenden nicht die 
geringſten Schwierigkeiten. Was Hebbel in ſeiner unter⸗ 
drückten Vorrede zur „Judith“ mißbilligend von Schillers 
ganzer Poeſie ſagt, nämlich daß ſie ſtatt des Rätſels, 
das uns allein intereſſiert, die nackte kahle Auflöſung 
liefert, das trifft in vollem Maße zu für die Fragen der 
Turandot. 

Repertoireſtück konnte das italieniſche Märchenſpiel 
in dieſer Bearbeitung nicht werden; doch hat man es, 
nachdem es am 30. Januar 1802 in Weimar die erſte 
Aufführung erlebt hatte, an vielen Bühnen gegeben, in 
Berlin, Hamburg, Dresden u. ſ. w. Überall machte es 
einen befremdlichen Eindruck, der ſich in gewundenem 
Lob oder verhülltem Tadel kundgab. Aber Einen Erfolg 
hatte es dennoch: es wies noch einmal nachdrücklich auf 
den bereits vergeſſenen italieniſchen Dichter hin und rief 
eine ganze Reihe von Werken ins Leben, die mit Gozzis 
Kunſt rivaliſieren oder ſie neu beleben wollten. 


Der „Paraſit“ und der „Neffe als Onkel“. 


Ganz andern Schlages ſind die beiden Luſtſpiele von 
dem Pariſer Theaterdirektor Louis⸗Benoit Picard (1769 
bis 1828), die Schiller übertrug, Durchſchnittsſtücke, wie 
ſie auch in Deutſchland von ſchriftſtelleriſch gewandten 
Schauſpielern maſſenhaft verfertigt wurden. In den 
ſchweren Leidenszeiten, die Schiller während ſeiner letzten 
Lebensjahre durchzukämpfen hatte, war er oft gezwungen, 
ſich mit allerleichteſter Lektüre die Zeit zu vertreiben. 
Es gewährt einen wehmütigen Anblick, wenn er, der in 
den Xenien ſo ſtrenges Gericht gehalten hatte, ſich nun 
im 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der Leihbibliothek⸗ 


Einleitung XXIII 


romane und der Werktagsdramen eine wenig beneidens⸗ 
werte Beleſenheit erwarb und, gleichſam um die auf⸗ 
gewandte Teilnahme zu entſchuldigen, an dieſen Erzeug⸗ 
niſſen doch immer einiges zu rühmen fand, in theatra⸗ 
liſchen Werken beſonders Eigenſchaften, die ihm ſelbſt 
abgingen: die müheloſe Erfindung, die geſchickte Führung 
einer Intrige, den leicht dahingleitenden Dialog. Er 
ſelbſt hätte ja gern, wie ſeine hinterlaſſenen Entwürfe 
beweiſen, einmal auf dem Gebiet des Luſtſpiels einen 


Erfolg errungen. Und ſo kann man ſeine Picard⸗Über⸗ 


ſetzungen recht wohl als Studien bezeichnen; denn den 
Vorteil, einem Kenner der Kuliſſenwelt ein Stückchen 
Routine abzugucken, hat er nicht gering geſchätzt. 

Das erſte der beiden Stücke, die Schiller, noch be⸗ 
ſonders beſtimmt durch einen Wunſch ſeines Herzogs, 
las und 1803 in Tagen halber Kraftentfaltung ver⸗ 
deutſchte, Médiocre et rampant (entftanden und zuerſt 
aufgeführt 1797), ift an und für ſich eine Leiſtung ge⸗ 
wöhnlicher Art. Der Paraſit, der Streber und Schleicher 
war auf der Luſtſpielbühne aller Kulturvölker längſt ein 
bewährter Typus; eine Handlung, bei der ſich die Tu⸗ 
gend zu Tiſch ſetzt, wenn ſich das Laſter erbricht, fand 
immer wieder Beifall. Aber hier an dem Picardſchen 
Drama intereſſierte Schiller, den eifrigen Leſer der fran⸗ 
zöſiſchen Journale, doch wohl noch etwas Beſonderes. 
Das Stück hat zum Hintergrund die Korruption der 
Pariſer Beamtenwelt und ſtellt ſich als einen, wenn 
auch nur ſchwachen Verſuch dar, das öffentliche Leben der 
Gegenwart im Spiegelbild auf die Bühne zu bringen, 
einen Verſuch alſo, wie ihn Schiller ſelbſt in ſeinem ge⸗ 
planten Luſtſpiel „Die Polizei“ ſo gern gemacht hätte. 

Die Pflicht des Überſetzers nahm Schiller nicht allzu 


XXIV Einleitung 


ſtreng. Daß er einige Namen veränderte, will wenig 
ſagen: der Miniſter heißt bei Picard Ariſte, ſeine Mutter 
Madame Dorlis, ſeine Tochter Laure, der Paraſit Dori⸗ 
val. Wohl aber ging der Charakter des Originals da⸗ 
durch verloren, daß die franzöſiſchen Alexandriner in 
deutſche Proſa verwandelt wurden. Kürzungen wie Er⸗ 
weiterungen kommen bei Schiller ſo zahlreich vor, daß 
oft nur das Weſentliche einer Rede frei wiedergegeben 
iſt. Beſaßen ſchon die franzöſiſchen Verſe große Leichtig⸗ 
keit und Natürlichkeit, fo ſuchte der Überſetzer den Ton 
der Unterhaltung noch mehr zu vereinfachen, ihn noch 
reichlicher mit vulgären Wendungen zu durchſetzen. Es 
wird in den Anmerkungen auf die wichtigſten Einzelheiten 
hingewieſen. 

So mündete das Luſtſpiel durch dieſe Übertragung 
in den Stil Ifflands ein; und es iſt kein Zufall, daß 
gerade dieſer Schauſpieler die Rolle des Selicour gern 
und unter lebhaftem Beifall darſtellte. Überhaupt erhielt 
ſich das Stück einige Jahre auf dem Spielplan von Wei⸗ 
mar, Berlin, Hamburg und andern Bühnen, ebenſo wie 
der „Neffe als Onkel“, bei dem ſich Schiller die Arbeit 
noch leichter machte. Hier war ſchon das Original in 
Proſa abgefaßt und forderte nur, daß auch in der Über⸗ 
tragung Alltagsrede durch Alltagsrede wiedergegeben 
wurde. Die Szenenführung ließ Schiller unberührt; erſt 
ein unbekannter Dramaturg in Hamburg hat eine hand⸗ 
ſchriftlich erhaltene Umarbeitung der zweiten Hälfte des 
dritten Aufzuges verfaßt, durch die es ermöglicht wurde, 
daß nunmehr der Neffe wie der Onkel bis zu Ende von 
Einem Schauſpieler gegeben werden konnten. 


Albert Köſter. 


Macbeth 


Ein Trauerſpiel von Shakeſpeare 


Schillers Werke. IX. 


Perſonen 


Duncan, König von Schottland. 


Malcolm, 
Donalbain, } ſeine Söhne. 


ae \ ſeine Feldherrn. 
Maeduff, 
Roſſe, 
Angus, 
Lenox, 
Fleance, Banquos Sohn. 

Seiward, Feldherr der Engelländer. 
Sein Sohn. 

Seyton, Macbeths Diener. 

Ein Arzt. 

Ein Pförtner. 

Ein alter Mann. 

Drei Mörder. 

Lady Maebeth. 

Ihre Kammerfrau. 

Hekate und drei Hexen. 

Lords. Offiziere. Soldaten. 
Banquos Geiſt und andre Erſcheinungen. 


ſchottiſche Edelleute. 


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10 


Erſter Aufzug 
Ein offener Platz. 
1. Auftritt 
Es donnert und blitzt. Die drei Hexen ſtehen da. 


Erſte Here. 
Wann kommen wir drei uns wieder entgegen, 
In Donner, in Blitzen oder in Regen? 


Zweite Here. 
Wann das Kriegsgetümmel ſchweigt, 
Wann die Schlacht den Sieger zeigt. 


Dritte Here. 
Alſo eh' der Tag ſich neigt. 
f Erſte Here. 
Wo der Ort? 
Zweite Here. 
Die Heide dort. 
Dritte Here. 
Dort führt Macbeth fein Heer zurück. 


Zweite Here. 
Dort verkünden wir ihm ſein Glück! 


Erſte Here. 
Aber die Meiſterin wird uns ſchelten, 
Wenn wir mit trüglichem Schickſalswort 


15 


20 


26 


Macbeth 


Ins Verderben führen den edeln Helden, 
Ihn verlocken zu Sünd und Mord. 


Dritte Here. 
Er kann es vollbringen, er kann es laſſen; 
Doch er iſt glücklich: wir müſſen ihn haſſen. 


Zweite Here. 
Wenn er ſein Herz nicht kann bewahren, 
Mag er des Teufels Macht erfahren. 


Dritte Here. 
Wir ſtreuen in die Bruſt die böſe Saat, 
Aber dem Menſchen gehört die Tat. 


Erſte Here. 
Er iſt tapfer, gerecht und gut, 
Warum verſuchen wir ſein Blut? 


Zweite und dritte Here. 
Strauchelt der Gute, und fällt der Gerechte, 
Dann jubilieren die hölliſchen Mächte. 

(Donner und Blitz.) 
Erſte Here. 
Ich höre die Geiſter! 


Zweite Here. 
Es ruft der Meiſter! 


Alle drei Heren. 
Padok ruft. Wir kommen! Wir kommen! 
Regen wechſle mit Sonnenſchein! 
Häßlich ſoll ſchön, ſchön häßlich ſein! 
Auf! durch die Luft den Weg genommen. 


(Sie verſchwinden unter Donner und Blitz.) 


PF ͤAIl.ldnn i lc 


80 


35 


40 


45 


50 


Erſter Aufzug. 2. Auftritt 7 


2. Auftritt 


Der König. Malcolm. Donalbain. Gefolge. Sie begegnen 
einem verwundeten Ritter, der von zwei Soldaten geführt wird. 


König. 
Hier bringt man einen Ritter aus der Schlacht, 
Jetzt werden wir des Treffens Ausſchlag hören. 


Malcolm. 
Es iſt derſelbe Ritter, ich erkenn' ihn, 
Der mich ohnlängſt aus Feindes Hand befreit. 
Willkommen, Kriegsgefährte! Sag' dem König, 
Wie ſtand das Treffen, als du es verließeſt? 


Ritter, 
Es wogte lange zweifelnd hin und her, 
Wie zweier Schwimmer Kampf, die an einander 
Geklammert Kunſt und Stärke ringend meſſen. 
Der wüt'ge Macdonall, wert, ein Rebell 
Zu ſein, führt' aus dem Weſten wider dich 
Die Kernen und die Galloglaſſen an, 
Und wie ein reißender Gewitterſtrom 
Durchbrach er würgend unſre Reihen, alles 
Unwiderſtehlich vor ſich nieder mähend. 
Verloren war die Schlacht, als Maebeth kam, 
Dein heldenmüt'ger Feldherr. Mit dem Schwert 
Durch das gedrängteſte Gewühl der Schlacht 
Macht' er ſich Bahn bis zum Rebellen, faßt' ihn, 
Mann gegen Mann, und wich nicht, bis er ihn 
Vom Wirbel bis zum Kinn entzweigeſpaltet 
Und des Verfluchten Haupt zum Siegeszeichen 
Vor unſrer aller Augen aufgeſteckt. 


König. 
O tapfrer Vetter! Heldenmüt'ger Than! 


65 


60 


65 


70 


Macbeth 


Ritter. 
Doch gleich wie von demſelben Often, wo 
Die Sonne ihre Strahlenbahn beginnt, 
Schiffbrechende Gewitter ſich erheben, 
So brach ein neues Schrecknis aus dem Schoße 
Des Siegs hervor. Vernimm es, großer König. 
Kaum wendeten die Kernen ſich zur Flucht, 
Wir zur Verfolgung, als mit neuem Volk 
Und hellgeſchliffnen Waffen König Sueno, 
Norwegens Herrſcher, auf den Kampfplatz trat, 
Den Zweifel des Gefechtes zu erneuern! 


König. 
Erſchreckte das nicht unſre Oberſten, 
Macbeth und Banquo? 


Ritter. 

Wohl! Wie Sperlinge 
Den Adler ſchrecken und das Reh den Löwen! 
Noch ehe ſie den Schweiß der erſten Schlacht 
Von ihrer Stirn gewiſcht, verſuchten ſie 
Das Glück in einem neuen Kampf, und hart 
Zuſammentreffend ließ ich beide Heere! 
Mehr weiß ich nicht zu ſagen, ich bin ganz 
Erſchöpft, und meine Wunden fordern Hilfe. 


König. 
Sie ſind dir rühmlich, Freund, wie deine Worte; 
Geht, holt den Wundarzt! Sieh! Wer naht ſich hier? 


P 


75 


80 


90 


Erſter Aufzug. 3. Auftritt 9 


3. Auftritt 
Vorige. Roſſe und Angus. 


Donalbain. 
Der würd'ge Than von off’! 


Malcolm. 
Und welche Haſt 
Aus ſeinen Augen blitzt! So blickt nur der, 
Der etwas Großes meldet. 


Rolfe. 
Gott erhalte den König! 
König. 
Von wannen kommt Ihr, ehrenvoller Than? 


Rolfe. 
Von Fife, mein König, wo Norwegens Fahnen, 
Vor wenig Tagen ſtolz noch ausgebreitet, 
Vor deiner Macht danieder liegen. König Sueno, 
Dem jener treuvergeßne Than von Cawdor, 
Der Reichsverräter, heimlich Vorſchub tat, 
Ergriff den Augenblick, wo dieſes Reich 
Von bürgerlichem Krieg zerrüttet war, 
Und überraſchte dein geſchwächtes Heer! 
Hartnäckig, grimmig war der Kampf, bis endlich 
Macbeth mit unbezwinglich tapferm Arm 
Des Norrmanns Stolz gedämpft — Mit einem Wort, 
Der Sieg iſt unſer. 

König. 

Nun! Gelobt ſei Gott! 


Rolfe. 
Nun bittet König Sueno dich um Frieden, 
Doch wir geſtatteten ihm nicht einmal 


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100 


105 


10 Macbeth 


Die Freiheit, ſeine Toten zu begraben, 
Bis er zehntauſend Pfund in deinen Schatz 
Bezahlt hat auf der Inſel Sankt Kolumbus. 


König. 
Nicht länger ſpotte dieſer eidvergeßne Than 


Von Cawdor unſers fürſtlichen Vertrauens! — Geht! 


Sprecht ihm das Todesurteil und begrüßt 
Macbeth mit ſeinem Titel. 


Noſſe. 
Ich gehorche. 


König. 
Was er verlor, gewann der edle Macbeth. 
(Sie gehen ab.) 


Eine Heide. 
4. Auftritt 


Die drei Hexen begegnen einander. 


Erſte Here. 
Schweſter, was haſt du geſchafft? Laß hören. 


Zweite Here. 
Schiffe trieb ich um auf den Meeren. 


Dritte Here (zur erſten). 

Schweſter! Was du? 

Erſte Here. 
Einen Fiſcher fand ich, zerlumpt und arm, 
Der flickte ſingend die Netze 
Und trieb ſein Handwerk ohne Harm, 
Als beſäß' er köſtliche Schätze, 
Und den Morgen und Abend, nimmer müd, 
Begrüßt' er mit ſeinem luſtigen Lied. 


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Erſter Aufzug. 4. Auftritt 11 


Mich verdroß des Bettlers froher Geſang, 

Ich hatt's ihm geſchworen ſchon lang' und lang' — 
Und als er wieder zu fiſchen war, 

Da ließ ich einen Schatz ihn finden: 

Im Netze da lag es blank und bar, 

Daß faſt ihm die Augen erblinden. 

Er nahm den hölliſchen Feind ins Haus, 

Mit ſeinem Geſange da war es aus. 


Die zwei andern Heren. 
Er nahm den hölliſchen Feind ins Haus, 
Mit ſeinem Geſange da war es aus! 


Erſte Here. 
Und lebte wie der verlorne Sohn, 
Ließ allem Gelüſten den Zügel, 
Und der falſche Mammon, er floh davon, 
Als hätt' er Gebeine und Flügel. 
Er vertraute, der Tor! auf Hexengold 
Und weiß nicht, daß es der Hölle zollt! 


Die zwei andern Heren. 
Er vertraute, der Tor, auf Hexengold 
Und weiß nicht, daß es der Hölle zollt! 


Erſte Here. 
Und als nun der bittere Mangel kam 
Und verſchwanden die Schmeichelfreunde, 
Da verließ ihn die Gnade, da wich die Scham, 
Er ergab ſich dem hölliſchen Feinde. 
Freiwillig bot er ihm Herz und Hand 
Und zog als Räuber durch das Land. 
Und als ich heut' will vorüber gehn, 
Wo der Schatz ihm ins Netz gegangen, 
Da ſah ich ihn heulend am Ufer ſtehn 
Mit bleich gehärmten Wangen 


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12 Macbeth 


Und hörte, wie er verzweifelnd ſprach: 
„Falſche Nixe, du haſt mich betrogen, 


Du gabſt mir das Gold, du ziehſt mich nach“ — 


Und ſtürzt ſich hinab in die Wogen. 
Die zwei andern Heren. 
Du gabſt mir das Gold, du ziehſt mich nach! 
Und ſtürzt ſich hinab in den wogenden Bach! 
Erſte Here. 
Trommeln! Trommeln! Macbeth kommt. 


Alle drei leinen Ring ſchließend). 
Die Schickſalsſchweſtern, Hand in Hand, 
Schwärmen über See und Land, 
Drehen ſo im Kreiſe ſich, 
Dreimal für dich 
Und dreimal für mich, 
Noch dreimal, daß es Neune macht — 
Halt! Der Zauber iſt vollbracht! 


5. Auftritt 


Macbeth und Banquo. Die drei Hexen. 


Macbeth. 
Solch einen Tag, ſo ſchön zugleich und häßlich, 
Sah ich noch nie. 

Banquo. 


Wie weit iſt's noch nuch Foris? 
— Sieh! Wer ſind dieſe da, ſo grau von Haaren, 


So rieſenhaft und ſchrecklich anzuſehn! 
Sie ſehen keinen Erdbewohnern gleich 


Und ſtehn doch hier. Sprecht! Lebt ihr, oder ſeid 


Ihr etwas, dem ein Sohn der Erde Fragen 
Vorlegen darf? Ihr ſcheint mich zu verſtehn, 


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Erſter Aufzug. 5. Auftritt 13 


Denn jede ſeh' ich den verkürzten Finger 

Bedeutend an die welken Lippen legen. 

Ihr ſolltet Weiber ſein, und doch verbietet 

Mir euer männiſch Anſehn, euch dafür zu halten. 
Macbeth. 

Sprecht, wenn ihr eine Sprache habt, wer ſeid ihr? 
Erſte Here. 

Heil dir, Macbeth! Heil dir, Than von Glamis. 


Zweite Here. 
Heil dir, Maebeth! Heil dir, Than von Cawdor! 


Dritte Here. a 
Heil dir, Macbeth, der einſt König fein wird! 


Bangus (gu Macbeth). 

Wie? Warum bebt Ihr ſo zurück und ſchaudert 
Vor einem Gruße, der ſo lieblich klingt? 

(Zu den Hexen.) 
Im Namen des Wahrhaftigen! 
Sprecht! Seid ihr Geiſter, oder ſeid ihr wirklich, 
Was ihr von außen ſcheint? 
Ihr grüßet meinen edeln Kriegsgefährten 
Mit gegenwärt'gem Glück und glänzender 
Verheißung künft'ger königlicher Größe! 
Mir ſagt ihr nichts. Vermögt ihr in die Saat 
Der Zeit zu ſchauen und vorher zu ſagen, 
Welch Samenkorn wird aufgehn, welches nicht, 
So ſprecht zu mir, der eure Gunſt nicht ſucht, 
Noch eure Abgunſt fürchtet. 

Erſte Here. 

Heil! 


Zweite Here. 
Heil! 


Dritte Here. 
Heil! 


185 


190 


195 


200 


14 Macbeth 
Erſte Here. 
So groß nicht, aber größer doch als Macbeth! 


Zweite Here. 
So glücklich nicht, und doch glückſeliger! 


Dritte Here. 
Du wirſt kein König ſein, doch Könige zeugen. 


Drum Heil euch beiden, Macbeth, Banquo, Heil euch! 


Erſte Here. 
Banquo und Macbeth, Heil euch! 


Macbeth. 
Bleibt, ihr geheimnisvollen Sprecherinnen, 
Und ſagt mir mehr! 
Ich weiß, durch Sinels, meines Vaters, Tod, 
Der dieſe Nacht verſchieden, bin ich Than 
Von Glamis! Aber wie von Cawdor? 
Der Than von Cawdor lebt, und lebt im Schoße 
Des Glücks, und daß ich König einſt ſein werde, 
Iſt ebenſo unglaublich, da dem Duncan 
Zwei Söhne leben! Sagt, von wannen kam euch 
Die wunderbare Wiſſenſchaft? Warum 
Verweilet ihr auf dieſer dürren Heide 
Durch ſolch prophetiſch Grüßen unſern Zug? 
Sprecht! Ich beſchwör' euch! 

(Die Hexen verſchwinden.) 

Bangus. 
Die Erde bildet Blaſen, wie das Waſſer, 
Und dieſe mögen davon ſein! 
Wo ſind ſie hingekommen? 

Macbeth. 

In die Luft, 

Und was uns Körper ſchien, zerfloß wie Atem 
In alle Winde — daß ſie noch da wären! 


205 


210 


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Erſter Aufzug. 6. Auftritt 15 


Banquo. 
Wie? Waren dieſe Dinge wirklich hier, 
Wovon wir reden, oder aßen wir 
Von jener tollen Wurzel, die die Sinne 


Betöret? 
Macbeth. 
Eure Kinder ſollen Könige werden. 


Bangus. 
Ihr ſelbſt ſollt König fein! 


Macbeth. 


Und Than von Cawdor 
Dazu! War's nicht ſo? 


Banquo. 
Wörtlich und buchſtäblich! 
Doch ſeht, wer kommt da? 


6. Auftritt 
Vorige. Roſſe. Angus 


Voſſe. 

Ruhmgekrönter Macbeth, 
Dem König kam die Freudenbotſchaft zu 
Von deinen Siegen, wie du die Rebellen 
Verjagt, den furchtbarn Macdonall beſiegt; 
Das ſchien ihm ſchon das Maß des ird'ſchen Ruhms. 
Doch ſeine Zunge überſtrömte noch 
Von deinem Lob, als er das Größre ſchon vernahm, 
Was du im Kampfe mit dem furchtbaren 
Norweger ausgeführt, wie du der Retter 
Des Reichs geworden; dicht wie Hagelſchläge 
Kam Poſt auf Poſt, jedwede ſchwer beladen 


225 


230 


235 


240 


16 Macbeth 


Mit deiner Taten Ruhm, und ſchüttete 
Dein Lob in ſein erſtauntes Ohr. 


Angus. 
Wir ſind 


Geſandt, dir ſeinen Dank zu überbringen, 
Als Herolde dich bei ihm aufzuführen, 
Dich zu belohnen nicht. 


Noſſe. 
Zum Pfande nur 
Der größern Ehren, die er dir beſtimmt, 
Befahl uns der Monarch, dich Than von Cawdor 
Zu grüßen, und in dieſem neuen Titel 
Heil dir, ruhmwürd'ger Cawdor, denn du biſt's! 


Banquo (für ſich). 
Wie? Sagt der Teufel wahr? 


Macbeth. f 
Der Than von Cawdor lebt: 
Wie kleidet ihr mich in geborgten Schmuck? 


Noſſe. 
Der einſtens Than geweſen, lebt, doch nur 
So lange, bis das Bluturteil an ihm 
Vollſtreckt iſt. Ob er mit dem Norrmann, ob 
Mit den Rebellen einverſtanden war, 
Ob er mit beiden ſich zum Untergang 
Des Reichs verſchworen, weiß ich nicht zu ſagen. 
Das iſt gewiß, daß Hochverrat, erwieſen 
Und von ihm ſelber eingeſtanden, ihn 
Geſtürzt. 
Macbeth. 

Glamis und Than von Cawdor! 

Das Größte ſteht noch aus! — Habt Dank, ihr Herren. 


245 


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Erſter Aufzug. 6. Auftritt 17 


(Zu Banquo.) 
Hofft Ihr nun nicht, daß Eure Kinder Könige 
Sein werden, da derſelbe Mund, der, mir 
Den Than von Cawdor gab, es Euch verhieß? 


Bangus. 
Hum! Stünd' es fo, möcht' es Euch leicht verleiten, 
Den Cawdor zu vergeſſen und die Krone 
Zu ſuchen. — Es iſt wunderbar! Und oft 
Lockt uns der Hölle ſchadenfrohe Macht 
Durch Wahrheit ſelbſt an des Verderbens Rand. 
Unſchuld'ge Kleinigkeiten dienen ihr, 
Uns zu Verbrechen fürchterlicher Art 
Und grauſenhafter Folgen hinzureißen! 

(Zu Roſſe und Angus.) 
Wo iſt der König? 
Angus. 
Auf dem Weg hieher. 


(Banquo ſpricht ſeitwärts mit beiden.) 


Macbeth (für ſich). 
Zwei Teile des Orakels ſind erfüllt, 
Ein hoffnungsvolles Pfand des höchſten Dritten! 
— Habt Dank, ihr Herren — Dieſe wunderbare 
Eröffnung kann nicht böſe ſein — ſie kann 
Nicht gut ſein. Wär' ſie böſe, warum fing 
Sie an mit einer Wahrheit? Ich bin Than 
Von Cawdor! Wär' ſie gut, warum 
Beſchleicht mich die entſetzliche Verſuchung, 
Die mir das Haar aufſträubt, mir in der Bruſt 
Das eiſenfeſte Männerherz erſchüttert? 
Die Handlung ſelbſt iſt minder grauſenvoll 
Als der Gedanke der geſchreckten Seele. 
Dies Bild, die bloße Mordtat des Gehirns, 


Regt meine innre Welt ſo heftig auf, 
Schillers Werke. IX. 


270 


275 


280 


285 


18 Macbeth 


Daß jede andre Lebensarbeit ruht 
Und mir nichts da iſt als das Weſenloſe. 


85 


Bangus (zu den andern). 
Bemerket doch, wie unſer Freund verzückt iſt! 


Macbeth. 
Will es das Schickſal, daß ich König fei, 
So kröne mich's, und ohne daß ich's ſuche! 


Banquo. 
Die neuen Ehren, die ihn ſchmücken, ſind 
Wie fremde Kleider, die uns nicht recht paſſen, 
Bis wir durch öfters Tragen ſie gewohnen. 


Macbeth (für ſich). 
Komme, was kommen mag! 
Die Stunde rennt auch durch den rauhſten Tag! 


Banquo (zu Macbeth). 
Mein edler Than, wir warten nur auf Euch. 


Macbeth. 
Vergebt, ihr Herren. Mein verſtörter Kopf 
War in vergangne Zeiten weggerückt. 
— Glaubt, edle Freunde! Eure Dienſte ſind 
In meinem dankbarn Herzen eingeſchrieben, 
Und jeden Tag durchblättr' ich meine Schuld. 


etzt zu dem König! 
3 6 3 8 (Zu Banquo.) 


Denkt des Vorgefallnen, 
Und wenn wir's reiflich bei uns ſelbſt bedacht, 
Dann laßt uns frei und offen davon reden. 


Banquo. 
Macbeth. 


Bis dahin gnug davon! — Kommt, Freunde! 
(Sie gehen ab.) 


Sehr gern. 


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295 


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305 


Erſter Aufzug. 8. Auftritt 


Königlicher Palaſt. 
7. Auftritt 


König. Malcolm. Donalbain. Macduff. Gefolge. 


N König. 
Iſt die Sentenz an Cawdor ſchon vollſtreckt? 
Sind, die wir abgeſandt, noch nicht zurück? 


Donalbain. 
Sie ſind noch nicht zurückgekehrt, mein König, 
Doch ſprach ich einen, der ihn ſterben ſah. 
Er habe ſeinen Hochverrat aufrichtig 
Bekannt und tiefe Reue blicken laſſen! 
Das Würdigſte in ſeinem ganzen Leben 
War der ergebne Sinn, womit er es 
Verließ! Er ſtarb wie einer, der aufs Sterben 
Studierte, und das koſtbarſte der Güter 
Warf er gleichgültig hin, als wär' es Staub. 


König. 
Es gibt noch keine Kunſt, die innerſte 
Geſtalt des Herzens im Geſicht zu leſen! 
Er war ein Mann, auf den ich alles baute! 


8. Auftritt 


Vorige. Maebeth. Banquo. Roſſe. Angus. 


König. 
O teurer Vetter! Stütze meines Reichs! 
Die Sünde meines Undanks laſtete 
So eben ſchwer auf mir! Du biſt ſo weit 
Voraus geeilt, daß dich der ſchnellſte Flug 
Der Dankbarkeit nicht mehr erreichen kann! 


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325 


Macbeth 


Faſt möcht' ich wünſchen, daß du weniger 

Verdient, damit mir's möglich wäre, dich 

Nach Würden zu belohnen! Jetzo bleibt mir nichts, 
Als zu bekennen, daß ich dir als Schuldner 
Verfallen bin mit meiner ganzen Habe. 


Macbeth. 
Was ich geleiſtet, Sire, belohnt ſich ſelbſt, 
Es iſt nicht mehr, als was ich ſchuldig war. 
Euch kommt es zu, mein königlicher Herr, 
Die Dienſte Eurer Knechte zu empfangen. 
Sie ſind des Thrones Kinder und des Staats 
Und Euch durch heil'ge Lehenspflicht verpfändet. 


König. 
Sei mir willkommen, edler, teurer Held. 
Ich habe angefangen, dich zu pflanzen, 
Und für dein Wachstum ſorg' ich — Edler Banquo, 
Du haſt nicht weniger verdient: es ſoll 
Vergolten werden. Laß mich dich umarmen 
Und an mein Herz dich drücken. (umarmt ihn.) 


Banquo. 
Wachſ' ich da 
So iſt die Ernte Euer. 0 : 


König. 

Meine Freude iſt 
So groß, daß ſie vom Kummer Tränen borgt, 
Sich zu entladen. Söhne! Vettern! Thans! 
Und die zunächſt an meinem Throne ſtehn! 
Wißt, daß wir Malcolm, unſern Alteſten, 
Zum künft'gen Erben unſers Reichs beſtimmt 
Und ihn zum Prinzen Cumberlands ernennen. 
Der einz'ge Vorzug ſoll ihn kennbar machen 


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Erſter Aufzug. 9. Auftritt 


Aus unſrer trefflichen Baronen Zahl, 

Die gleich Geſtirnen unſern Thron umſchimmern! 
(Zu Macbeth.) 

Jetzt, Vetter, nach Inverneß! Denn wir ſind 

Entſchloſſen, Euer Gaſt zu ſein heut' Abend. 


Macbeth. 
Ich ſelbſt will Eurer Ankunft Bote ſein 
Und meinem Weib den hohen Gaſt verkünden! 
Und ſo, mein König, nehm' ich meinen Urlaub! 


König (ihn umarmend). 


Mein würd'ger Cawdor! 
(Er geht ab mit dem Gefolge.) 


Macbeth (alein). 
Prinz von Cumberland! 

Das iſt ein Stein, der mir im Wege liegt, 
Den muß ich überſpringen, oder ich ſtürze! 
Verhüllet, Sterne, euer himmliſch Licht, 

Damit kein Tag in meinen Buſen falle — 
Das Auge ſelber ſoll die Hand nicht ſehen, 
Damit das Ungeheure kann geſchehen! (Ab.) 


Vorhalle in Macbeths Schloß. 
9. Auftritt 


Lady Maebeth allein, in einem Briefe leſend. 


„Ich traf ſie grade an dem Tag des Siegs, 

Und die Erfüllung ihres erſten Grußes 
Verbürgte mir, ſie wiſſen mehr als Menſchen. 
Da ich nach neuen Dingen forſchen wollte, 
Verſchwanden ſie. Ich ſtand noch voll Erſtaunen, 
Als Abgeordnete vom König kamen, 


21 


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Macbeth 


Die mich als Than von Cawdor grüßten, mit 

Demſelben Titel, den mir kurz zuvor 

Die Zauberſchweſtern gaben und worauf 

Der dritte königliche Gruß gefolgt! 

Dies eil' ich dir zu melden, teuerſte 

Genoſſin meiner Größe, daß du länger nicht 

Unwiſſend ſeieſt, welche Hoheit uns 

Erwartet. Leg' es an dein Herz. Leb' wohl!“ 
Glamis und Cawdor biſt du und ſollſt ſein, 

Was dir verheißen iſt — Und dennoch fürcht' ich 

Dein weichliches Gemüt — du biſt zu ſanft 

Geartet, um den nächſten Weg zu gehn. 

Du biſt nicht ohne Ehrgeiz, möchteſt gerne 

Groß ſein, doch dein Gewiſſen auch bewahren! 

Nicht abgeneigt biſt du vor ungerechtem 

Gewinn, doch widerſteht dir's, falſch zu ſpielen. 

Du möchteſt gern das haben, was dir zuruft: 

Das muß geſchehn, wenn man mich haben will! 

Und haſt doch nicht die Keckheit, es zu tun! 

O eile! Eile her! 

Damit ich meinen Geiſt in deinen gieße, 

Durch meine tapfre Zunge dieſe Zweifel 

Und Furchtgeſpenſter aus dem Felde ſchlage, 

Die dich wegſchrecken von dem goldnen Reif, 

Womit das Glück dich gern bekrönen möchte. 


10. Auftritt 
Lady Macbeth. Pförtner. 


Tady. 
Was bringt Ihr? 
Pförtner. 


Der König kommt auf dieſe Nacht hieher. 


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Erſter Aufzug. 10. Auftritt 


Lady. 
Du Lift nicht klug, wenn du das ſagſt — Iſt nicht 
Dein Herr bei ihm? und wär' es, wie du ſprichſt, 
Würd' er den Gaſt mir nicht verkündigt haben? 


Pförtner. 
Gebieterin, es iſt ſo, wie ich ſage! 
Der Than iſt unterwegs; ein Eilbot' ſprengte 
In vollem Lauf voraus, der hatte kaum 
Noch ſo viel Atem übrig, ſeines Auftrags 
Sich zu entled'gen. 

Tady. 

Pflegt ihn wohl! Er bringt 
Uns eine große Poſt. 

(Pförtner geht.) 

Der Rab' iſt heiſer, 

Der Duncans tödlichen Einzug in mein Haus 
Ankrächzen ſoll — Kommt jetzt, ihr Geiſter alle, 
Die in die Seele Mordgedanken ſä'n, 
Kommt und entweibt mich hier! Vom Wirbel bis 
Zur Zehe füllt mich an mit Tigers Grimm, 
Verdickt mein Blut, ſperrt jeden Weg der Reue, 
Damit kein Stich der wiederkehrenden Natur 
Erſchüttre meinen gräßlichen Entſchluß 
Und ihn verhindere, zur Tat zu werden. 
An meine Weibesbrüſte leget euch, 
Ihr Unglücksgeiſter, wo ihr auch, in welcher 
Geſtalt unſichtbar auf Verderben lauert, 
Und ſauget meine Milch anſtatt der Galle! 
Komm, dicke Nacht, in ſchwarzen Höllendampf 
Gehüllt, damit mein blinder Dolch nicht ſehe, 
Wohin er trifft, der Himmel nicht, den Vorhang 
Der Finſternis zerreißend, rufe: Halt! 
Halt inne! 


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24 Macbeth 


11. Auftritt 
Lady Macbeth. Macbeth. 


Tady. 
Großer Glamis! Würd'ger Cawdor, 
Und größer noch durch das prophetiſche 
„Heil dir, der einſt!“ — Dein Brief hat mich heraus 
Gerückt aus dieſer engen Gegenwart, 
Und trunken ſeh' ich ſchon das Künftige 
Verwirklicht! 
Macbeth. 
Teu'rſte Liebe! Duncan kommt 
Heut' Abend. 
Tady. 


Und wann geht er wieder? 


Macbeth. 
Endy. 


O nimmer fieht die Sonne dieſen Morgen! 
Dein Angeſicht, mein Than, iſt wie ein Buch, 
Worin Gefährliches geſchrieben ſteht. 

Laß deine Mienen ausſehn, wie die Zeit 

Es heiſchet, trage freundlichen Willkommen 
Auf deinen Lippen, deiner Hand! ſieh aus 
Wie die unſchuld'ge Blume, aber ſei 

Die Schlange unter ihr — Geh, denke jetzt 
Auf nichts, als deinen Gaſt wohl zu empfangen. 
Mein ſei die große Arbeit dieſer Nacht, 

Die allen unſern künft'gen Tag⸗ und Nächten 
Die königliche Freiheit ſoll erfechten! 


Macbeth. 
Wir ſprechen mehr davon. 


Morgen, denkt er. 


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Erſter Aufzug. 13. Auftritt 25 


Endy. 
Nur heiter, Sir! 
Denn wo die Züge ſchnell verändert wanken, 
Verrät ſich ſtets der Zweifel der Gedanken, 


In allem andern überlaß dich mir! 
(Sie gehen ab. Man hört blaſen.) 


12. Auftritt 


König. Malcolm. Donalbain. Banquo. Maeduff. Roſſe. 


Angus. Lenox. Mit Fackeln. 
König. 


Dies Schloß hat eine angenehme Lage, 


Leicht und erquicklich atmet ſich die Luft, 
Und ihre Milde ſchmeichelt unſern Sinnen. 


Bangus. 
Und dieſer Sommergaſt, die Mauerſchwalbe, 
Die gern der Kirchen heil'ges Dach bewohnt, 
Beweiſt durch ihre Liebe zu dem Ort, 
Daß hier des Himmels Atem lieblich ſchmeckt. 
Ich ſehe keine Frieſen, ſehe keine 
Verzahnung, kein vorſpringendes Gebälk, 
Wo dieſer Vogel nicht ſein hangend Bette 
Zur Wiege für die Jungen angebaut, 
Und immer fand ich eine mildre Luft, 
Wo dieſes fromme Tier zu niſten pflegt. 


13. Auftritt 
Vorige. Lady Maebeth. 
König. 
Ah! Sieh da unſre angenehme Wirtin! 
— Die Liebe, die uns folgt, beläſtigt oft, 


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Macbeth 


Doch danken wir ihr, weil es Liebe iſt. 
So wirſt auch du für dieſe Laſt und Müh, 
Die wir ins Haus dir bringen, Dank uns wiſſen. 


Tady. 
Sire! Alle unſre Dienſte, zwei- und dreifach 
In jedem Stück geleiſtet, blieben noch 
Zu arm, die große Ehre zu erkennen, 
Womit Ihr unſer Haus begnadiget. 
Nichts bleibt uns übrig, königlicher Herr, 
Als für die alten Gunſtbezeugungen, 
Wie für die neuen, die Ihr drauf gehäuft, 
Gleich armen Klausnern, nur an Wünſchen reich, 
Mit brünſtigen Gebeten Euch zu dienen. 


König. 
Wo iſt der Than von Cawdor? 
Wir ſind ihm auf den Ferſen nachgefolgt 
Und wollten ſeinen Haushofmeiſter machen. 
Doch er iſt raſch zu Pferd, und ſeine Liebe, 
Scharf wie ſein Sporn, gab ihm ſo ſchnelle Flügel, 
Daß er uns lang' zuvorkam — Schöne Lady, 
Wir werden Euer Gaſt ſein dieſe Nacht. 


Lady. 
Ihr feid in Eurem Eigentum, mein König, 
Wir geben nur, was wir von Euch empfingen. 


König. 
Kommt! Eure Hand, und führet mich hinein 
Zu meinem Wirt. Wir lieben ihn von Herzen, 
Und was wir ihm erzeigt, iſt nur ein Vorſpiel 
Der größern Gunſt, die wir ihm vorbehalten. 
— Erlaubt mir, meine angenehme Wirtin! 


(Er führt fie hinein. Die andern folgen. Eine Tafelmuſik wird gehört. 
Bediente gehen im Hintergrunde mit Speiſen über die Bühne. Nach 


einer Weile erſcheint Macbeth.) 


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— 


Erſter Aufzug. 14. Auftritt 


14. Auftritt 
Maebeth allein, gedankenvoll. 


Wär' es auch abgetan, wenn es getan iſt, 
470 Dann wär' es gut, es würde raſch getan! 
Wenn uns der Meuchelmord auch aller Folgen 
Entledigte, wenn mit dem Toten alles ruhte, 
Wenn dieſer Mordſtreich auch das Ende wäre, 
Das Ende nur für dieſe Zeitlichkeit — 
4s Wegſpringen wollt' ich übers künft'ge Leben! 
Doch ſolche Taten richten ſich ſchon hier, 
Die blut'ge Lehre, die wir andern geben, 
Fällt gern zurück auf des Erfinders Haupt, 
Und die gleichmeſſende Gerechtigkeit 
4360 Zdwingt uns, den eignen Giftkelch auszutrinken. 
— Er ſollte zweifach ſicher ſein. Einmal, 
Weil ich ſein Blutsfreund bin und ſein Vaſall — 
Zwei ſtarke Feſſeln, meinen Arm zu binden! 
Dann bin ich auch ſein Wirt, der ſeinem Mörder 
486 Die Tür verſchließen, nicht den Todesſtreich 
Selbſt führen ſollte. Über dieſes alles 
Hat dieſer Duncan ſo gelind regiert, 
Sein großes Amt ſo tadellos verwaltet, 
Daß wider dieſe ſchauderhafte Tat 
490 Sich ſeine Tugenden wie Cherubim 
Erheben werden mit Poſaunenzungen, 
Und Mitleid, wie ein neugebornes Kind, 
Hilflos und nackt, vom Himmel niederfahren, 
In jedes Auge heiße Tränen locken 
4s Und jedes Herz zur Wut entflammen wird — 
Ich habe keinen Antrieb als den Ehrgeiz, 
Die blinde Wut, die ſich in tollem Anlauf 
Selbſt überſtürzt und jenſeits ihres Ziels 
Hintaumelt — Nun! Wie ſteht es drinn? 


500 


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Macbeth 


15. Auftritt 


Macbeth. Lady Macbeth kommt. 


Lady. 


Er hat 
Gleich abgeſpeiſt. Warum verließet Ihr 
Das Zimmer? 
Macbeth. 
Fragte er nach mir? 
dy. 
sais Ich dachte, 


Man hätt' es Euch geſagt. 


Macbeth (nach einer Pauſe). 
Laß uns nicht weiter 

In dieſer Sache gehen, liebes Weib! 
Er hat mich kürzlich erſt mit neuen Ehren 
Gekrönt; ich habe goldne Meinungen 
Von Leuten aller Art mir eingekauft, 
Die erſt in ihrem vollen Glanz getragen, 
Nicht gleich beiſeit gelegt ſein wollen. 


Tady. 
Wie? 


War denn die Hoffnung trunken, die dich erſt 
So tapfer machte? Hat ſie ausgeſchlafen 

Und iſt nun wach geworden, um auf einmal 
Beim Anblick deſſen, was ſie mutig wollte, 
So bleich und ſchlaff und nüchtern auszuſehn? 
Von nun an weiß ich auch, wie Masebeth liebt. 
Du fürchteſt dich, in Kraft und Tat derſelbe 
Zu ſein, der du in deinen Wünſchen biſt! 

Du wagſt es, nach dem Höchſten aufzuſtreben, 
Und du erträgſt es, ſchwach und feig zu ſein? 


2. 


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530 


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Erſter Aufzug. 15. Auftritt 29 


„Ich möcht' es gerne, doch ich wag' es nicht“ — 
Kleinmütiger! 
Macbeth. 


Ich bitte dich, halt ein! 
Das wag' ich alles, was dem Manne ziemt — 
Wer mehr wagt, der iſt keiner! 


Lady. - 

War's denn etwa 
Ein Tier, das dich vorhin dazu getrieben? 
Als du das tateſt — da warſt du ein Mann! 
Und wenn du mehr wärſt, als du warſt, du würdeſt 
Um ſo viel mehr ein Mann ſein! Da du mir's 
Entdeckt, bot weder Ort noch Zeit ſich an, 
Du wollteſt beide machen — Beide haben ſich 
Von ſelbſt gemacht, dich haben ſie vernichtet. 
Ich habe Kinder aufgeſäugt und weiß, 
Wie allgewaltig Mutterliebe zwingt, 
Und dennoch — Ja, bei Gott, den Säugling ſelbſt 
An meinen eignen Brüſten wollt' ich morden, 
Hätt' ich's geſchworen, wie du jenes ſchwurſt. 


Macbeth. 
Wird uns der blut'ge Mord zum Ziele führen? 


Steht dieſer Cumberland nicht zwiſchen mir 

Und Schottlands Thron? Und lebt nicht Donalbain? 
Für Duncans Söhne nur und nicht für uns 
Arbeiten wir, wenn wir den König töten. 


Tady. 
Ich kenne dieſe Thans! Nie wird ihr Stolz 
Sich einem ſchwachen Knaben unterwerfen. 
Ein bürgerlicher Krieg entflammet ſich; 
Dann trittſt du auf, der Tapferſte, der Beſte, 
Der Nächſte an dem königlichen Stamm, 
Die Rechte deiner Mündel zu behaupten. 


30 Macbeth 


In ihrem Namen gründeſt du den Thron, 
Und ſteht er feſt, wer ſtürzte dich herab? 
Nicht in die ferne Zeit verliere dich, 

Den Augenblick ergreife, der iſt dein. 


Macbeth. 


650 Wenn wir's verfehlten — wenn der Streich mißlänge! 


Tady. 

Mißlingen! Führ' es aus mit Männermut 

Und feſter Hand, ſo kann es nicht mißlingen. 

— Wenn Duncan ſchläft — und dieſe ſtarke Reiſe 

Wird ſeinen Schlaf befördern — übernehm' ich's, 
555 Die beiden Kämmrer mit berauſchendem 

Getränk ſo anzufüllen, zu betäuben, 

Daß ihr Gedächtnis, des Gehirnes Wächter, 

Ein bloßer Dunſt fein ſoll! Und wenn fie nun 

In viehiſchem Schlafe wie im Tode liegen, 
560 Was können dann wir beide mit dem un⸗ 

Bewachten Duncan nicht beginnen, nicht 

Mit ſeinen überfüllten Kämmerern, 

Die unſers Mordes Sünde tragen ſollen? 


Macbeth. 
Gebier mir keine Töchter! Männer nur 
ses Soll mir dein unbezwinglich Herz erzeugen! 
Wird man nicht glauben, wenn wir jene beiden, 
Die in des Königs eignem Zimmer ſchlafen, 
Mit Blut beſtrichen, ihrer Dolche uns 
Zum Mord bedient, daß ſie die Tat getan? 


Lady. 
so Wer wird bei dem Gejammer, dem Geſchrei, 
Das wir erheben wollen, etwas anders 
Zu denken wagen? 


575 


680 


Zweiter Aufzug. 1. Auftritt 31 


Macbeth. 

Weib! Ich bin entſchloſſen, 
Und alle meine Sennen ſpannen ſich 
Zu dieſer Tat des Schreckens an. Komm, laß uns 
Den blut'gen Vorſatz mit der ſchönſten Larve 
Bedecken! Falſche Freundlichkeit verhehle 


Das ſchwarze Werk der heuchleriſchen Seele! 
(Beide gehen ab.) 


Zweiter Aufzug 


Zimmer. 


1. Auftritt 
Banquo. Fleance, der ihm eine Fackel vorträgt. 
Bangus. 
Wie ſpät iſt's, Burſche? 


Eleance. 


Herr, der Mond iſt unter, 
Die Glocke hab' ich nicht gehört! 


Banque. 
Er geht 
Um zwölf Uhr unter. 
Eleance. 
's iſt wohl ſpäter, Herr. 
Banquo. 


Da, nimm mein Schwert. Man iſt haushälteriſch im Himmel. 
Die Lichter find ſchon alle aus. Hier, nimm 
Auch das noch! Eine ſchwere Schlafluſt liegt 


585 


590 


595 


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32 Macbeth 


Wie Blei auf mir, doch möcht' ich nicht gern ſchlafen. 


Ihr guten Mächte, wehrt die ſträflichen 
Gedanken von mir, die dem Schlummernden 


So leicht ſich nahn! — Gib mir mein Schwert! Wer da? 


2. Auftritt 
Vorige. Maebeth, dem ein Bedienter leuchtet. 
Macbeth. 
Ein Freund. 
Bangus. 


Wie, edler Sir? Noch nicht zur Ruh? 


Der König ſchläft ſchon. Er war äußerſt fröhlich, 
Und Eure Diener hat er reich beſchenkt. 

Hier dieſen Demant ſchickt' er Eurer Lady 

Und grüßt ſie ſeine angenehme Wirtin. 

Er ging recht glücklich in ſein Schlafgemach. 


Macbeth. 
Da wir nicht vorbereitet waren, mußte 
Der gute Wille wohl dem Mangel dienen. 


Bangus. 
Es mangelte an nichts. Nun, Sir! Mir träumte 
Verwichne Nacht von den drei Zauberſchweſtern. 
Euch haben ſie doch etwas Wahres 


Geſagt. 

Macbeth. 

Ich denke gar nicht mehr an ſie. 

Indes, wenn's Euch bequem iſt, möcht' ich gern 
Ein Wort mit Euch von dieſer Sache ſprechen. 
Nennt nur die Zeit. 

Danquo. N 

Wie's Euch gelegen iſt. 


605 


Zweiter Aufzug. 3. Auftritt 33 


Macbeth. 
Wenn Banquo mein Beginnen unterſtützt 
Und es gelingt, ſo ſoll er Ehre davon haben. 


Danquo. 
Sofern ich ſie nicht in die Schanze ſchlage, 
Indem ich ſie zu mehren meine, noch 
Mein gut Gewiſſen und mein Herz dabei 
Gefährdet ſind, bin ich zu Euren Dienſten. 


Macbeth. 


Bangus, 
Ich dan? Euch. Schlafet wohl. 


(Banquo und Fleance gehen ab.) 


Gut' Nacht indes. 


Macbeth (sum Bedienten). 


Sag' deiner Lady, wenn mein Trank bereit, 


Soll ſie die Glocke ziehn. — Du geh zu Bette! 
(Bedienter geht ab.) 


3. Auftritt 
Macbeth allein. 


Iſt dies ein Dolch, was ich da vor mir ſehe? 

Den Griff mir zugewendet? Komm! Laß mich dich faſſen. 

Ich hab' dich nicht und ſehe dich doch immer. 

Furchtbares Bild! Biſt du ſo fühlbar nicht der Hand, 

Als du dem Auge ſichtbar biſt? Biſt du 

Nur ein Gedankendolch, ein Wahngebilde 

Des fieberhaft entzündeten Gehirns? 

Ich ſeh' dich immer, ſo leibhaftig wie 

Den Dolch, den ich in meiner Hand hier zücke. 

Du weiſeſt mir den Weg, den ich will gehn; 

Solch ein Gerät, wie du biſt, wollt' ich brauchen. 
Schillers Werke. IX. 3 


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Macbeth 


Entweder iſt mein Auge nur der Narr 

Der andern Sinne, oder mehr wert als ſie alle. 

— Noch immer ſeh' ich dich und Tropfen Bluts 

Auf deiner Klinge, die erſt nicht da waren. 

— Es iſt nichts Wirkliches. Mein blutiger 

Gedanke iſt's, der ſo heraustritt vor das Auge! 
Jetzt ſcheint die eine Erdenhälfte tot, 

Und böſe Träume ſchrecken hinterm Vorhang 

Den unbeſchützten Schlaf! Die Zauberei beginnt 

Den furchtbarn Dienſt der bleichen Hekate, 

Und aufgeſchreckt von ſeinem heulenden Wächter, 

Dem Wolf, gleich einem Nachtgeſpenſte, geht 

Mit groß — weit — ausgeholten Räuberſchritten 

Der Mord an ſein entſetzliches Geſchäft. 

Du ſichre, unbeweglich feſte Erde, 

Hör' meine Tritte nicht, wohin ſie gehn, 

Damit nicht deine ſtummen Steine ſelbſt 

Mein Werk ausſchreien und zuſammenklingend 

Dies tiefe Totenſchweigen unterbrechen, 

Das meinem Mordgeſchäft ſo günſtig iſt. 

Ich drohe hier, und drinnen lebt er noch! — 

(Man hört die Glocke.) 

Raſch vorwärts, Macbeth, und es ijt getan! 

Die Glocke ruft mir — Höre ſie nicht, Duncan! 

Es iſt die Glocke, die dich augenblicks 


Zum Himmel fordert, oder zu der Hölle. 
(Er geht ab.) 


4. Auftritt 
Lady Macbeth. Bald darauf Maebeth. 
Tady. 


Was ſie berauſchte, hat mich kühn gemacht, 
Was ihnen Feuer nahm, hat mir gegeben. 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 35 


Horch! Still! 

Die Eule war's, die ſchrie — der traurige 
Nachtwächter ſagt uns gräßlich gute Nacht. 
— Er ijt dabei. Die Kammertür iſt offen, 
Und die berauſchten Kämmerlinge ſpotten 
Mit Schnarchen ihres Wächteramts. 

So einen kräft'gen Schlaftrunk hab' ich ihnen 
Gemiſcht, daß Tod und Leben drüber rechten, 
Ob ſie noch atmen oder Leichen ſind. 


Macbeth (drinnen). 


Lady. 
O web! ich fürchte, fie find aufgewacht 
Und es iſt nicht geſchehen! Der Verſuch, 
Und nicht die Tat wird uns verderben — Horch! 
Die Dolche legt' ich ihm zurecht. Er mußte 
Sie finden auf den erſten Blick. Hätt' es mich nicht, 
Wie er ſo ſchlafend lag, an meinen Vater 
Gemahnt, ich hätt' es ſelbſt getan — Nun, mein Gemahl? 


Macbeth (tritt auf). 
Sie iſt getan, die Tat! Vernahmſt du kein 
Geräuſch? 
Eady. 


Die Eule hört' ich ſchreien und 
Die Grillen ſingen — Sagteſt du nicht was? 


Macbeth. 
Lady. 


Marbeth. 
Wie ich herunterkam? 


Lady. 


Wer ift da? He! 


Wann? 
Jetzt. 


Ja. 


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680 


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36 Macbeth 


Macbeth. 
f Horch! 
Wer liegt im zweiten Zimmer? 
Lady. 
Donalbain! 
Macbeth (beſieht ſeine Hände). 
Das iſt ein traur'ger Anblick! Oh! 
Lady. 
Ihr ſeid 
Nicht klug! Das nennt Ihr einen traur'gen Anblick! 
Macbeth. 


Der eine lacht' im Schlaf, der andere 

Schrie: Mord! daß ſie ſich wechſelsweiſe weckten. 
Ich ſtand und hörte zu, ſie aber ſprachen 

Ihr Nachtgebet und ſchliefen wieder ein. 


Lady. 
Es find dort ihrer zwei in einer Kammer. 


Macbeth. 
Genad' uns Gott! rief einer — Amen ſprach 
Der andere, als hätten ſie mich ſehen 
Mit dieſen Henkers Händen ſtehn und horchen 
Auf die Gebärden ihrer Furcht — Ich konnte 
Nicht Amen ſagen, als ſie ſchrien: Gott gnad' uns! 


Lady. 
Denkt ihm ſo tief nicht nach. 


Macbeth. 
Warum denn aber konnt' ich 
Nicht Amen ſagen! braucht' ich doch ſo ſehr 
Die Gnade Gottes in dem Augenblick, 
Und Amen wollte nicht aus meiner Kehle. 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 37 


Tady. 
Man muß dergleichen Taten hinterher 
Nicht ſo beſchaun. Das könnt' uns raſend machen. 


Macbeth. 
Es war, als hört' ich rufen: Schlaft nicht mehr! 
Den Schlaf ermordet Macbeth, den unſchuld'gen, 
Den arglos heil'gen Schlaf, den unbeſchützten, 
Den Schlaf, der den verworrnen Knäul der Sorgen 
Entwirrt, der jedes Tages Schmerz und Luſt 
Begräbt und wieder weckt zum neuen Morgen, 
Das friſche Bad der wundenvollen Bruſt, 
Das linde Ol für jede Herzensqual, 
Die beſte Speiſe an des Lebens Mahl! 


: Lady. 
Wie, Sir? Was ſoll das alles? 


Macbeth. 


Immer, immer, 
Im ganzen Hauſe rief es fort und fort: 
Schlaft nicht mehr! Glamis hat den Schlaf ermordet, 
Darum foll Cawdor nicht mehr ſchlafen, Macbeth 
Soll nicht mehr ſchlafen. 


Tady. 
Wie? Wer war's denn, der 

So rief? Mein teurer Than, was für Phantome 
Sind das, die deines Herzens edeln Mut 
So ganz entnerven! Geh! Nimm etwas Waſſer 
Und waſche dies verräteriſche Zeugnis 
Von deinen Händen — Warum brachteſt du 
Die Dolche mit heraus? Sie müſſen drin 
Gefunden werden. Trage ſie zurück, beſtreiche 
Die Kämmrer mit dem Blut — 


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38 Macbeth 


Macbeth. 
Ich geh' nicht wieder 
Hinein. Mir graut vor dem Gedanken, was ich tat — 
Geh du hinein. Ich wag's nicht. 


se Schwache Seele! 
Gib mir die Dolche. Schlafende und Tote 
Sind nur Gemälde; nur ein kindiſch Aug' 
Schreckt ein gemalter Teufel. Ich bepurpre 
Der Kämmerer Geſicht mit ſeinem Blut, 


Denn dieſe muß man für die Täter halten. 
(Sie geht hinein Man hört draußen klopfen.) 


Macbeth. 
Woher dies Klopfen? Wohin kam's mit mir, 
Daß jeder Laut mich aufſchreckt — Was für Hände! 
Sie reißen mir die Augen aus. — Weh! Wehel 
Kann der gewäſſerreiche Meergott ſelbſt . 
Mit ſeinen Fluten allen dieſes Blut 
Von meiner Hand abwaſchen? Eher färbten 
Sich alle Meere rot von dieſer Hand! 


Lady (zurückkommend). 
So iſt die blut'ge Tat von uns hinweg 
Gewälzt, und jene tragen unſre Schuld 
Auf ihren Händen und Geſichtern — Horch! 5 
— Ich hör' ein Klopfen an der Tür nach Süden, 
Gehn wir hinein. Ein wenig Waſſer reinigt uns 
Von dieſer Tat! Wie leicht iſt ſie alſo! 
Komm! Deine Stärke hat dich ganz verlaſſen. 
(Neues, ſtärkeres Pochen.) 
— Es klopft ſchon wieder! Wirf dein Nachtkleid über! 
Geſchwind, damit uns niemand überraſche 
Und ſeh', daß wir gewacht! — O ſei ein Mann! 
Verlier dich nicht ſo kläglich in Gedanken! 


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755 


Zweiter Aufzug. 5. Auftritt 


Macbeth. 
Mir dieſer Tat bewußt zu ſein! O beſſer, 


Mir ewig meiner ſelbſt nicht mehr bewußt ſein! 


(Das Klopfen wird ſtärker.) 
Poch' ihn nur auf aus ſeinem Todesſchlaf! 
Was gäb' ich drum, du könnteſt es! 


Lady (ihn fortziehend). 


39 


Kommt! Kommt! 


(Gehen hinein.) 


5. Auftritt 


Pförtner mit Schlüſſeln. Hernach Macduff und Roſſe. 


Pförtner (kommt ſingend). 
Verſchwunden iſt die finſtre Nacht, 
Die Lerche ſchlägt, der Tag erwacht, 
Die Sonne kommt mit Prangen 
Am Himmel aufgegangen. 

Sie ſcheint in Königs Prunkgemach, 


Sie ſcheinet durch des Bettlers Dach, 


Und was in Nacht verborgen war, 


Das macht ſie kund und offenbar. 
(Stärkeres Klopfen.) 


Poch! Poch! Geduld da draußen, wer's auch iſt! 
Den Pförtner laßt ſein Morgenlied vollenden. 


Ein guter Tag fängt an mit Gottes Preis, 


's iſt kein Geſchäft ſo eilig als das Beten. 
(Singt weiter.) 


Lob ſei dem Herrn und Dank gebracht, 


Der über dieſem Haus gewacht, 
Mit ſeinen heiligen Scharen 
Uns gnädig wollte bewahren. 


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776 


40 Macheth 


Wohl mancher ſchloß die Augen ſchwer 
Und öffnet ſie dem Licht nicht mehr; 
Drum freue ſich, wer neu belebt 


Den friſchen Blick zur Sonn' erhebt! 
(Er ſchließt auf. Macduff und Roſſe treten auf.) 


Roſſe. 
Nun, das muß wahr ſein, Freund! Ihr führet eine 
So helle Orgel in der Bruſt, daß Ihr damit 
Ganz Schottland könntet aus dem Schlaf poſaunen. 


Pförtner. 
Das kann ich auch, Herr, denn ich bin der Mann, 
Der Euch die Nacht ganz Schottland hat gehütet. 


No ſſe. 
Wie das, Freund Pförtner? 


Pförtner. 
Nun ſagt an! Wacht nicht 
Des Königs Auge für ſein Volk, und iſt's 
Der Pförtner nicht, der nachts den König hütet? 
Und alſo bin ich's, ſeht Ihr, der heut' Nacht 
Gewacht hat für ganz Schottland. 


Noſſe. 
Ihr habt Recht. 
Macduff. 


Den König hütet ſeine Gnad' und Milde. 
Er bringt dem Hauſe Schutz, das Haus nicht ihm: 
Denn Gottes Scharen wachen, wo er ſchläft. 


Noſſe. 
Sag', Pförtner! Iſt dein Herr ſchon bei der Hand? 
Sieh! Unſer Pochen hat ihn aufgeweckt, 
Da kommt er. 


— 


785 


Zweiter Aufzug. 6. Auftritt 41 


6. Auftritt 
Maebeth. Macduff. Roſſe. 


Noſſe. 
Guten Morgen, edler Sir! 


Macbeth. 
Den wünſch' ich beiden. 


Marduff. 
Iſt der König munter? 


Macbeth. 


Macduff. 
Er trug mir auf, ihn früh zu wecken; 
Ich habe die beſtimmte Stunde bald 
Verfehlt. 


Noch nicht. 


Macbeth. 
Ich führ' Euch zu ihm. 
Macduff. 
O ich weiß, 
Es wär' Euch eine angenehme Mühe, 
Doch iſt es eine Mühe. 


Macbeth. 
Eine Arbeit, 
Die uns Vergnügen macht, heilt ihre Müh. 
Hier iſt die Tür. 
Macduff. 
Ich bin fo dreiſt und rufe, 
Denn fo iſt mir befohlen. (Er geht hinein.) 


— 


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795 


800 


42 


Macbeth 


7. Auftritt 
Macbeth und Roſſe. 


Noſſe. 
Reiſt der König 
Heut' wieder ab? 


Macbeth. 
Ja, ſo beſtellte er's. 


N Noſſe. 
Sir! Das war eine ungeſtüme Nacht. 
Im Hauſe, wo wir ſchliefen, ward der Schlot 
Herabgeweht, und in der Luft will man 
Ein gräßlich Angſtgeſchrei vernommen haben, 
Geheul des Todes, gräßlich tönende 
Prophetenſtimmen, die Verkündiger 
Entſetzlicher Ereigniſſe, gewaltſamer 
Verwirrungen des Staats, davon die Zeit 
Entbunden ward in bangen Mutterwehen. 
Die Eule ſchrie die ganze Nacht; man ſagt, 
Die Erde habe fieberhaft gezittert! 

Macbeth. 
's war eine rauhe Nacht. 


Noſſe. 
Ich bin nicht alt 
Genug, mich einer gleichen zu erinnern. 


8. Auftritt 
Vorige. Macduff kömmt zurück. 
Macduff. 
Entſetzlich! Gräßlich! Gräßlich! O entſetzlich! 


Macbeth. 
Was iſt's? 


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810 


815 


Zweiter Aufzug. 8. Auftritt 43 


Rolfe. 
Was gibt es? 


Marduff. 
Grauſenvoll! Entſetzlich! 
Kein Herz kann's faſſen! Keine Zunge nennen! 


Macbeth. 


Marduff. 
Der Frevel hat ſein Argſtes 
Vollbracht! Der kirchenräuberiſche Mord 
Iſt in des Tempels Heiligtum gebrochen 
Und hat das Leben draus hinweg geſtohlen. 


Was iſt es denn? 


Macbeth. 
Das Leben! Wie verſteht Ihr das? 
Noſſe. 
Meint Ihr 
Den König? 
Marduff. 


Geht hinein! Geht und erſtarret 

Vor einer neuen gräßlichen Gorgona. 
Verlangt nicht, daß ich's nenne! Seht! und dann 
Sprecht ſelbſt. 

(Maebeth und Roſſe gehen ab.) 

Mar duff. 

Wacht auf! Wacht auf! Die Feuerglocke 
Geläutet! Mord und Hochverrat! Auf! Auf! 
Erwachet, Banquo! Malcolm! Donalbain! 
Werft dieſen flaumenweichen Schlaf von euch, 
Des Todes Scheinbild, und erblickt ihn ſelbſt. 
Auf, auf, und ſeht des Weltgerichtes Morgen! 
Malcolm und Banquo! Wie aus euern Gräbern 
Erhebt euch und wie Geiſter ſchreitet her, 
Das gräßlich Ungeheure anzuſchauen. 


44 | Macbeth 


9. Auftritt 


Macduff. Lady Macbeth. Gleich darauf Banquo mit Lenox 
und Angus, und nach dieſem Macbeth mit Roſſe. 


Lady. 
520 Was gibt's, daß ſolche gräßliche Trompete 
Die Schläfer dieſes Hauſes weckt! Sagt! Redet! 


Marduff. 
O zarte Lady! Es taugt nicht für Euch, 
Zu hören, was ich ſagen kann. Ein weiblich Ohr 
Damit zu ſchrecken, wär' ein zweiter Mord! 
(Auf Banquo, Lenox und Angus zueilend, die hereintreten.) 
526 O Banquo! Banquo! Unſer König iſt ermordet! 


Tady. 
Hilf Himmel! Was! In unſerm Haus! 


Bangus. 
Entſetzlich, 
Wo immer auch — Macduff! Ich bitte dich! 
Nimm es zurück und ſag', es ſei nicht ſo! 
(Macbeth kommt mit Roſſe zurück.) 


Macbeth. 
O wär' ich eine Stunde nur 
830 Vor dieſem Unfall aus der Welt gegangen, 
Ich wär' geſtorben als ein Glücklicher. 
Von nun an iſt nichts Schätzenswertes mehr 
Auf Erden! Tand iſt alles! Ehr' und Gnade 
Sind tot! Des Lebens Wein iſt abgezogen, 
828 Und nur die Hefe blieb der Welt zurück. 


840 


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850 


Zweiter Aufzug. 10. Auftritt 


10. Auftritt 
Vorige. Malcolm. Donalbain. 


Donalbain. 
Was iſt verloren — 


Macbeth. 
Ihr! Und wißt es nicht! 
(Zu Donalbain.) 
Der Brunnen deines Blutes iſt verſtopft, 


Ja ſeine Quelle ſelber iſt verſtopft. 


Marduff (zu Malcolm). 
Dein königlicher Vater iſt ermordet! 


Malcolm. 
O Gott! Von wem? 


Noſſe. 
Die Kämmerer ſind allem Anſehn nach 
Die Täter. Ihre Hände und Geſichter waren 
Voll Blut, auch ihre Dolche, welche wir 
Unabgewiſcht auf ihrem Kiſſen fanden. 
Sie ſahen wild aus, waren ganz von Sinnen, 
Und niemand wagte ſich an ſie heran. 


Macbeth. 
O jetzo reut mich's, daß ich ſie im Wahnſinn 
Der erſten Wut getötet. 


Marduff. 
Warum tatſt du das? 


Macbeth. 
Wer iſt im nämlichen Moment zugleich 
Gefaßt und wütend, ſinnlos und beſonnen, 
Rechtliebend und parteilos? Niemand iſt's! 
Die raſche Tat der heft'gen Liebe rannte 


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46 Macbeth 


Der zaudernden Vernunft zuvor. — Hier lag 
Duncan — Sein königlicher Leib von Dolchen 
Entſtellt, zerriſſen! Seine offnen Wunden 
Erſchienen wie ein Riß in der Natur, 

Wodurch der Tod den breiten Einzug nahm! 

Dort ſeine Mörder, in die Farbe ihres Handwerks 
Gekleidet, ihre Dolche frech bemalt mit Blut! 
Wer, der ein Herz für ſeinen König hatte 

Und Mut in dieſem Herzen, hätte da 

Sich halten und ſich ſelbſt gebieten können! 


Lady (ſtellt ſich, als ob fie ohnmächtig werde). 
Helft mir von hinnen — Oh! 


Marduff. 
Sorgt für die Lady! 
(Maeduff, Banquo, Roſſe und Angus find um ſie beſchäftigt.) 
Malcolm (zu Donalbain). 
Wir ſchweigen ſtill, die dieſer Trauerfall 
Am nächſten trifft? 
Donalbain. 
Was läßt ſich ſagen, hier, 
Wo unſer Feind, in unſichtbarer Spalte 
Verborgen, jeden Augenblick hervor 
Zu ſtürmen, auf uns herzufallen droht! 
Laß uns davon gehn, Bruder, unſre Tränen 
Sind noch nicht reif. 
Malcolm. 
Noch unſer heft'ger Schmerz 
Im ſtand, ſich von der Stelle zu bewegen. 


Banquo (zu denen, welche die Lady wegführen). 
Nehmt euch der Lady an! — Und wenn wir uns 
Von der Verwirrung unſers erſten Schreckens 
Erholt und unſre Blöße erſt bedeckt, 


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Zweiter Aufzug. 11. Auftritt 47 


Dann laßt uns hier aufs neu' zuſammenkommen 
Und dieſer ungeheuren Blutſchuld weiter 
Nachforſchen. Uns erſchüttern Furcht und Zweifel. 
Hier, in der großen Hand des Höchſten ſteh' ich, 
Und unter dieſem Schirme kämpf' ich jeder 
Beſchuldigung entgegen, die Verrat 

Und Bosheit wider mich erſinnen mögen! 


Macbeth. 


Marduff. 
Und ich. 
Noſſe, Angus und Tenor. 
Das tun wir alle. 
Macbeth. 
Jetzt werfen wir uns ſchnell in unſre Kleider 
Und kommen in der Halle dann zuſammen! 
Alle. 
Wir ſind's zufrieden. (Gehen ab.) 


Das tu' ich auch. 


11. Auftritt 


Malcolm. Donalbain. 


Malcolm. 
Was gedenkt Ihr, Bruder? 

Ich find' es nicht geraten, ihrer Treu 
Uns zu vertrauen. Einen Schmerz zu zeigen, 
Von dem das Herz nichts weiß, iſt eine Pflicht, 
Die dem Unredlichen nicht ſchwer ankommt. 
Ich geh' nach England. 

Donalbain. 


Ich nach Irland, 
Geratner iſt's für unſer beider Wohl, 


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48 Macbeth 


Wir trennen unſer Schickſal! Wo wir ſind, 
Seh' ich aus jedem Lächeln Dolche drohn — 
Je näher am Blut, ſo näher dem Verderben. 


Malcolm. 
Der Mörderpfeil, der unſern Vater traf, 
Fliegt noch, iſt noch zur Erde nicht gefallen! 
Das Beſte iſt, vom Ziel hinwegzugehn. 
Drum ſchnell zu Pferde! Keine Zeit verloren 
Mit Abſchiednehmen! Da iſt's wohl getan, 
Sich wegzuſtehlen, wo das kleinſte Weilen 
Tod und Verderben bringen kann! (Sie gehen ab.) 


12. Auftritt 


Roſſe. Ein alter Mann. 


Alter Mann. 
Ja, Herr! Von achtzig Jahren her beſinn' ich mich, 
Und in dem langen Zeitraum hab' ich Bittres 
Erlebt und Unglückſeliges erfahren. 
Doch dieſe Schreckensnacht hat all mein vorig Wiſſen 
Zum Kinderſpiel gemacht. 


Noſſe. 
Ach guter Vater! 
Du ſiehſt, wie ſelbſt der Himmel düſter bleich 
Auf dieſen blut'gen Schauplatz niederhängt, 
Wie von der Menſchen Greueltat empört! 
Der Glocke nach iſt's hoch am Tag, und doch 
Dämpft finſtre Nacht den Schein der Himmelslampe. 


Alter Mann. 
Es iſt ſo unnatürlich wie die Tat, 
Die wir erlebten. Neulich ward ein Falke, 


915 


920 


Zweiter Aufzug. 13. Auftritt 49 


Der triumphierend turmhoch in den Lüften 
Herſchwebete, von einer mauſenden 
Nachteule angefallen und getötet. 


Noſſe. 
Und Duncans Pferde — So verwunderſam 
Es klingt, ſo wahr iſt's! Dieſe ſchönen Tiere, 
Die Zierde ihrer Gattung, wurden toll 
Auf einmal, brachen wild aus ihren Ställen 
Und ſchoſſen wütend um ſich her, dem Ruf 
Des Führers ſtarr unbändig widerſtrebend, 
Als ob ſie Krieg ankündigten den Menſchen. 


Alter Mann. 
Man ſagt, daß ſie einander aufgefreſſen. 


Roffe. 
Das taten fie. Kaum traut' ich meinen Sinnen, 
Als ich es ſah. — Hier kommt der wackre Maeduff. 


13. Auftritt 


Vorige. Macduff. 


No ſſe. 
Nun, Sir! Wie geht die Welt? 


Macduff. 
Wie? Seht Ihr's nicht? 


- Roe. 
Weiß man, wer dieſe mehr als blut'ge Tat 
Verübte? 
Macduff. 
Sie, die Macbeth tötete. 
Schillers Werke. IX. 4 


935 


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50 


Macbeth 


Roe. 
Die Kämmerer! Gott! Und aus welchem Antrieb? 
Was bracht' es ihnen für Gewinn? 


Macduff. 
Sie waren 


Erkauft. Des Königs eigne Söhne, Malcolm 

Und Donalbain, ſind heimlich weggeflohn 

Und machten ſich dadurch der Tat verdächtig. 
Noſſe. 

O immer, immer wider die Natur! 

Unmäß'ge Herrſchſucht, die mit blinder Gier 

Sich ihre eignen Lebensſäfte raubt! 

— So wird die Krone wohl an Macbeth fallen? 


Marduff. 
Er iſt ſchon ausgerufen und nach Scone 
Zur Krönung abgegangen. 


Noſſe. 
Wo iſt Duncans Leiche? 


Macduff. 
Nach Colmeskill gebracht, der heil'gen Gruft, 
Wo die Gebeine ſeiner Väter ruhen. 


Roffe. 
Geht Ihr nach Scone? 


Macduff. 
— Nein! Ich gehe nach Fife. 


Noſſe. 
Gut! So will ich nach Scone. 


buff. 
asi Lebet wohl! 
Und mögt Ihr alles dort nach Wunſche finden! 


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Dritter Aufzug. 1. Auftritt 51 


Leicht möchten uns die alten Röcke beſſer 
Geſeſſen haben, fürcht' ich, als die neuen! 


Noſſe (zu dem Alten). 
Nun, alter Vater, lebet wohl! 


Alter Mann. 
Gott ſei 
Mit Euch und jedem, der es redlich meint, 


Das Böſe gut macht und den Feind zum Freund. 
(Sie gehen ab.) 


Dritter Aufzug 
Ein Zimmer. 
1. Auftritt 
Ban quo allein. 


Du haſt's nun! Glamis! Cawdor! König! Alles, 
Wie es die Zauberſchweſtern dir verhießen. 

Ich fürchte ſehr, du haſt ein ſchändlich Spiel 
Darum geſpielt. — Und doch ward prophezeit, 

Es ſollte nicht bei deinem Hauſe bleiben, 

Ich aber ſollte der beglückte Stifter, 

Die Wurzel eines Königſtammes ſein. 

Wenn Wahrheit kommen kann aus ſolchem Munde 
— Und der erfüllte Gruß an dich beweiſt's — 
Wie ſollten ſie nicht eben ſowohl mein 

Orakel ſein wie deins und mich zur Hoffnung 
Anfriſchen? Aber ſtill! Nichts mehr davon! 


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52 Macbeth 


2. Auftritt 


Trompeten. Macbeth als König. Lady Macbeth. Roſſe. Angus. 


Lenox. Banquo. Gefolge. 


Macbeth. 
Sieh da! Hier iſt der erſte unſrer Gäſte! 
Tady. 
Blieb er hinweg, ſo war gleichſam ein Riß 
In unſerm Feſte, und die Krone fehlt' ihm. 
Macbeth. 
Banquo! Wir geben dieſe Nacht ein feſtlich Mahl 
Und bitten Euch um Eure Gegenwart. 


Banquo. 
Nach meines Herrn Befehl, dem zu gehorchen 
Mir heil'ge Pflicht iſt. 4 
Macbeth. 
Ihr verreiſet heut'? 
Banquo. 
Ja, Sire! 
Macbeth. 


Sonſt hätten wir uns Euren Rat, 
Der ſtets ſo weiſ' als glücklich war, in heutiger 


Verſammlung ausgebeten. Doch das kann auch ruhn 


Bis morgen. Geht die Reiſe weit? 


Banquo. 
So weit, 
Daß alle Zeit von jetzt zum Abendeſſen 


Draufgehen wird. Tut nicht mein Pferd ſein Beſtes, 


Werd' ich der Nacht verſchuldet werden müſſen 
Für eine dunkle Stunde oder zween. 


Macbeth. 
Fehlt ja nicht bei dem Feſt! 


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Dritter Aufzug. 3. Auftritt 53 


Banquo. 
Gewißlich nicht. 


Macbeth. 
Wir hören, unſre blut'gen Vettern ſind 


Nach Engelland und Irland, leugnen dort 

Frech ihren greuelvollen Mord und füllen 

Mit ſeltſamen Erdichtungen die Welt. 

Doch hievon morgen nebſt dem andern, was 

Den Staat betrifft und unſre Sorgen heiſcht. 

Lebt wohl bis auf die Nacht! Geht Fleance mit Euch? 


Bangus. 
Ja, Sire! Wir können länger nicht verweilen — 


Macbeth. 
So wünſch' ich euren Pferden Schnelligkeit 
Und ſichre Füße! Lebet wohl! 
(Banquo geht ab. Zu den andern.) 
Bis Anbruch 


Der Nacht ſei jedermann Herr ſeiner Zeit. 
Die Freuden der Geſellſchaft deſto beſſer 
Zu ſchmecken, bleiben wir bis dahin ſelbſt 
Für uns allein! Und damit Gott befohlen. 
(Lady und Lords gehen ab.) 


3. Auftritt 
Maebeth zurückbleibend. 
Macbeth (zu einem Bedienten). 
Hört, Freund! Sind jene Männer bei der Hand? 


Bedienter. 
Ja, Sire! Sie warten draußen vor dem Schloßtor. 


Macbeth. 
Führ' fie herein. (Bedienter ab.) 


So weit ſein iſt noch nichts, 


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Macheth 


Doch es mit Sicherheit zu fein! 
Vor dieſem Banquo haben wir zu zittern. 
In ſeiner königlichen Seele herrſcht 
Dasjenige, was ſich gefürchtet macht. 
Vor nichts erſchrickt ſein Mut, und dieſer kecken 
Entſchloſſenheit wohnt eine Klugheit bei, 
Die ihm zum Führer dient und ſeine Schritte 
Verſichert. Ihn allein, ſonſt keinen fürcht' ich. 
Ihm gegenüber wird mein Geiſt gezüchtigt, 
Wie Mare Antons vor Cäſars Genius. 
Er ſchalt die Zauberſchweſtern, da ſie mich 
Zuerſt begrüßten mit dem Königstitel, 
Und forderte fie auf, zu ihm zu reden; 
Und darauf grüßten ſie prophetiſch ihn 
Den Vater einer königlichen Reihe! 
Auf meine Stirne ſetzten ſie 
Nur eine unfruchtbare Krone, gaben 
Mir einen dürren Zepter in die Hand, 
Damit er einſt von fremden Händen mir 
Entwunden werde! Iſt's an dem, ſo hab' ich 
Für Banquos Enkelkinder mein Gewiſſen 
Befleckt, für fie den gnadenreichen Duncan 
Erwürgt, für ſie — allein für ſie — auf ewig 
Den Frieden meiner Seele hingemordet 
Und mein unſterbliches Juwel dem all⸗ 
Gemeinen Feind der Menſchen hingeopfert, 
Um ſie zu Königen zu machen! Banquos 
Geſchlecht zu Königen! Eh' dies geſchieht, 
Eh' komme du, Verhängnis, in die Schranken 
Und laß uns kämpfen bis aufs Blut! 

(Bedienter kommt mit den Mördern.) 

Wer iſt da? 

Geh vor die Tür und warte, bis wir rufen. 


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— ere lS 


1030 


1035 


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1045 


Dritter Aufzug. 4. Auftritt f 55 


4. Auftritt 
Macbeth. Zwei Mörder. 


Marbeth. 
War es nicht geſtern, daß ich mit euch ſprach? 


Die Mörder. 
Ja, königlicher Herr! 
Macbeth. 
Nun? Habt ihr meinen Reden nachgedacht? 
Ihr wißt nun, daß es Banquo war, der euch 
In vor'gen Zeiten ſo im Weg geſtanden. 
Ihr gabet fälſchlich mir die Schuld! Doch aus 
Der letzten Unterredung, die wir führten, 
Habt ihr es ſonnenklar erkannt, wie ſchändlich 
Man euch betrog — 
Erſter Mörder. 
Ja, Herr! Ihr überzeugtet uns. 
acbeth. 
1 . Das tat ich. 
Nun auf den andern Punkt zu kommen. Sagt! 
Seid ihr ſo lämmerfromm, ſo taubenmäßig 
Geartet, daß ihr ſolches ungeahndet 
Könnt hingehn laſſen? So verſöhnlichen Gemüts, 
Daß ihr für dieſen Banquo beten könnt, 
Des ſchwere Hand euch und die Eurigen 
In Schande ſtürzte und zu Bettlern machte? 


Erſter Mörder. 
Mein König! Wir ſind Männer. 


Macbeth. 
Ja, ja, ihr lauft ſo auf der Liſte mit! 
Wie Dachs und Windſpiel alle Hunde heißen; 
Die eigne Raſſe aber unterſcheidet 


56 Macbeth 


Den ſchlauen Spürer, den getreuen Wächter, 

Den flücht'gen Jäger. So auch mit den Menſchen. 
100 Doch, wenn ihr wirklich Männer ſeid, und zwar 

An echter Mannheit nicht die allerletzten, 

So zeigt es jetzo! Rächet euch und mich 

An einem Feinde, der uns gleich verhaßt iſt. 


Erſter Mörder. 
Ich bin ein Mann, Sire, den die harten Stöße 
106 Der Welt ſo aufgebracht, daß ich bereit bin, 
Der Welt zum Trotze jegliches zu wagen. 


Zweiter Mörder. 
Und mir, mein König, hat das falſche Glück 
So grauſam mitgeſpielt, daß ich mein Schickſal 
Verbeſſern, oder gar nicht leben will. 


Macbeth. 
100 Ihr wiſſet alſo, euer Feind war Banquo. 


ie Mörder. 
Ja, Sire! sities 
Macbeth. 
Er ijt auch meiner, und er iſt's 
Mit ſolchem blutig unverſöhnten Haß, 
Daß jeder Augenblick, der ſeinem Leben 
Zuwächſt, das meine mir zu rauben droht. 
106 Zwar ſteht's in meiner königlichen Macht, 
Ihn ohne alle andre Rechenſchaft 
Als meinen Willen aus der Welt zu ſchaffen, 
Doch darf ich's nicht um ein'ger Freunde willen, 
Die auch die ſeinen ſind und deren Gunſt 
1070 Ich ungern in die Schanze ſchlüge! Ja! 
Die Klugheit will es, daß ich den beweine, 
Auf den ich ſelbſt den Streich geführt! Darum 
Bedarf ich eures Arms zu dieſer Tat, 


1075 


1080 


1085 


1090 


Dritter Aufzug. 4. Auftritt 57 


Die ich aus ganz beſonders wicht'gen Gründen 
Dem öffentlichen Aug' verbergen muß. 


Erſter Mörder. 
Mein König! Wir erwarten deinen Wink. 


Zweiter Mörder. 
Und wenn auch unſer Leben — 


Macbeth. 
Eure Kühnheit blitzt 

Aus euch hervor. Der Feind, von dem wir reden, 
Wird dieſen Abend hier zurück erwartet. 
Im nächſten Holze kann die Tat geſchehen, 
Doch etwas fern vom Schloß, verſteht ihr wohl, 
Daß kein Verdacht auf mich geleitet werde. 
Zugleich mit ihm muß, um nichts halb zu tun, 
Auch Fleance, ſein Sohn, der bei ihm iſt, 
An deſſen Untergange mir nicht minder 
Gelegen iſt als ſeinem eignen — hört ihr? — 
Das Schickſal dieſer finſtern Stunde teilen. 
Habt ihr verſtanden? 

Mörder. 

Wohl! Wir ſind entſchloſſen, 
Mein König! 

Macbeth. 

Nun, ſo geht auf euren Poſten! 
Vielleicht ſtößt noch der dritte Mann zu euch, 
Daß nichts dem Zufall überlaſſen bleibe! 
(Die Mörder gehen ab.) 

Beſchloſſen iſt's! Banquo, erwarteſt du, 
Zum Himmel einzugehn, fliegſt du ihm heut' noch zu! 


58 Macbeth 


5. Auftritt 


Macbeth. Lady Macbeth. 


Tady. 

Wie, mein Gemahl? Warum ſo viel allein? 
1095 Was kann es helfen, daß Ihr Eure Träume 

Zur traurigen Geſellſchaft wählt und mit 

Gedanken ſprecht, die dem, an den ſie denken, 

Ins nicht'ge Grab hinab gefolgt ſein ſollten? 

Auf Dinge, die nicht mehr zu ändern ſind, 
110 Muß auch kein Blick zurück mehr fallen! Was 

Geetan iſt, iſt getan und bleibt's. 


acbeth. 
1 Wir haben 


Die Schlange nur verwundet, nicht getötet; 
Sie wird zuheilen und dieſelbe ſein 
Aufs neue; unſer machtlos feiger Grimm 

105 Wird, nach wie vor, vor ihrem Zahn erzittern. 
Doch ehe ſoll der Dinge feſte Form 
Sich löſen, ehe mögen beide Welten 
Zuſammenbrechen, eh' wir unſer Brot 
Mit Zittern eſſen und uns fernerhin 

1110 In ängſtlich bangen Schreckensträumen wälzen. 
Weit beſſer wär' es, bei den Toten ſein, 
Die wir zur Ruh geſchickt, uns Platz zu machen, 
Als fort und fort in ruheloſer Qual 
Auf dieſer Folterbank der Todesfurcht 

1118 Zu liegen. — Duncan ijt in ſeinem Grabe, 
Sanft ſchläft er auf des Lebens Fieberangſt, 
Verräterbosheit hat ihr Außerſtes 
An ihm getan! Nun kann nicht Stahl noch Gift, 
Nicht Krieg von außen, nicht Verräterei 

1120 Von innen, nichts den Schläfer mehr berühren! 


1125 


1130 


1135 


1140 


Natur das Vorrecht der Unſterblichkeit. 


Dritter Aufzug. 5. Auftritt 59 


Lady. 
Kommt, kommt, mein König, mein geliebter Herr, 
Klärt Eure finſtern Blicke auf, ſeid heiter 
Und hell heut' Abend unter Euren Gäſten. 


Macbeth. 5 
Das will ich, liebes Weib! und ſei du's auch 
Und ſpare nicht die glatte Schmeichelrede. 
Noch heiſcht's die Zeit, daß wir uns unſers Ranges 
Entäußern, zu unwürdiger Liebkoſung 
Herunterſteigen, unſer Angeſicht 
Zur ſchönen Larve unſrer Herzen machen. 


Lady. 


Macbeth. 
O angefüllt mit Skorpionen 
Iſt meine Seele! Teures Weib! Du weißt 
Noch lebet Banquo und ſein Sohn! 


Tady. 


Laßt das! 


Doch keinem gab 


Macbeth. 
Das iſt mein Troſt, daß ſie zerſtörbar ſind! 
Drum gutes Muts! Eh' noch die Fledermaus 
Den ungeſell'gen Flug beginnt, eh' auf 
Den Ruf der bleichen Hekate der Käfer, 
Im hohlen Baum erzeugt, die müde Nacht 
Mit ſeinem ſchläfrigen Geſums einläutet, 
Soll eine Tat von furchtbarer Natur 
Vollzogen ſein. 
Lady. 
Was ſoll geſchehn? 


1145 


1150 


11565 


1160 


60 Macbeth 


Macbeth. 
Sei lieber ſchuldlos durch Unwiſſenheit, 
Mein trautes Weib, bis du der fert'gen Tat 
Zujauchzen kannſt. — Steig nieder, blinde Nacht, 
Des Tages zärtlich Auge ſchließe zu! 
Mit deiner unſichtbaren blut'gen Hand 
Durchſtreiche, reiß in Stücken dieſen großen 
Schuldbrief, der auf mir laſtend mich ſo bleicht! 
— Schon ſinkt der Abend, und die Krähe fliegt 
Dem dohlenwimmelnden Gehölze zu, 
Einnicken alle freudigen Geſchöpfe 
Des Tags, indes die ſchwarzen Hausgenoſſen 
Der traur'gen Nacht auf ihren Raub ausgehen. 
Du ſtaunſt ob meiner Rede! Doch ſei ruhig! 
Was blutig anfing, mit Verrat und Mord, 
Das ſetzt ſich nur durch blut'ge Taten fort! 
Damit laß dir genügen! Folge mir! (Sie gehen ab.) 


Unter Bäumen. 
6. Auftritt 


Drei Mörder treten auf. 


Erſter (zum dritten). 
Wer aber hieß dich zu uns ſtoßen? 


Dritter. 
Macbeth. 
Erſter (zum zweiten). 


Wie? Sind wir beide ihm nicht Manns genug, 

Daß er, beſorgt, uns den Gehilfen ſendet? 

Was meint Ihr? Dürfen wir ihm traun? 
Zweiter. 


Wir können's dreiſt. Die Zeichen treffen zu, 
Es iſt der Mann, von dem der König ſprach. 


n 


1165 


1170 


1176 


Dritter Aufzug. 7. Auftritt 61 


Erſter. 
So ſteh zu uns. Am abendlichen Himmel 
Verglimmt der letzte bleiche Tagesſchein. 
Der Wandrer, der ſich auf dem Weg verſpätet, 
Strengt ſeiner Schritte letzte Kraft noch an, 
Die Nachtherberge zeitig zu erreichen, 
Und der, auf den wir lauern, nähert ſich. 

Zweiter. 
Still! Horch! Ich höre Pferde. 

Bangus (hinter der Szene). 
Licht! He da! 

Erſter. 
Das iſt er! Denn die andern, die beim Gaſtmahl 
Erwartet wurden, ſind ſchon alle da. 


Zweiter. 
Die Pferde machen einen Umweg. 


Erſter. 
Wohl eine Viertelmeile. Aber er 
Pflegt, ſo wie jedermann, den Weg zum Schloß 
Durch dies Gehölz zu Fuß zurückzulegen, 
Weil es hier näher iſt und angenehmer. 


7. Auftritt 
Vorige. Banquo und Flean ee mit einer Fackel. 
Zweiter Mörder. 
Ein Licht! Ein Licht! 
Dritter. 
Er iſt es. 


Erſter Mörder. 
Macht euch fertig! 


62 Macbeth 


DBanquo (vorwärts kommend). 
Es wird heut' Nacht gewittern. 


Zweiter Mörder. 
Es ſchlägt ein. 
(Sie fallen über ihn her.) 
Bangus (indem er ſich wehrt). 
110 Verräterei! Flieh! Flieh, mein Sohn! Flieh! Flieh! 
Du kannſt mein Rächer ſein! — O Böſewicht! 


(Er ſinkt tödlich getroffen nieder. Fleance wirft die Fackel weg, erſter 
Mörder tritt darauf und löſcht ſie aus, jener entflieht.) 


Dritter Mörder. 
Wer löſcht das Licht? — 


Erſter Mörder. 
War es nicht wohl getan? 


Zweiter Mörder. 
Es liegt nur einer, 
Der Sohn entſprang. 
Erſter Mörder. 
Verdammt! Wir haben 
1185 Die beſte Hälfte unſers Werks verloren. 


Dritter Mörder. 


Gut! Laßt uns gehn und melden, was getan iſt! 
(Sie gehen ab.) 


Feſtlicher Saal, erleuchtet. Eine mit Speiſen beſetzte Tafel 
im Hintergrunde. 


8. Auftritt 


Macbeth. Lady Macbeth. Roſſe. Lenox. Angus und noch 
; ſechs andere Lords. 


Macbeth. 
Ihr kennet euern Rang. Setzt euch, ihr Herren. 
Vom Erſten bis zum Unterſten willkommen. 


1190 


1195 


1200 


1205 


Dritter Aufzug. 8. Auftritt 


RNoſſe. Angus. Tenor. 
Wir danken Eurer Majeſtät. 


Macbeth. 
Wir ſelber wollen uns bald hier bald dort 
In die Geſellſchaft miſchen und das Amt 
Des aufwartſamen Hauswirts übernehmen, 
Denn unſre Wirtin, ſeh' ich, iſt zu läſſig 
In ihrer Pflicht. Wir wollen ſie erſuchen, 
Geſchäftiger zu ſein um ihre Gäſte. 
(Alle ſetzen ſich außer Macbeth.) 


Tady. 
Tut das, mein König, und erinnert mich, 
Wofern ich was in meiner Pflicht verſäumte. 
Mein Herz zum wenigſten bewillkommt alle. 


Der erſte Mörder kommt an die Türe. 


Macbeth. 

Wie ihre Herzen dir entgegen wallen! 
Gut! Beide Seiten, ſeh' ich, ſind beſetzt, 
So will ich dort mich in die Mitte ſetzen. 
Nun überlaßt Euch ganz der Fröhlichkeit; 
Bald ſoll der Becher um die Tafel kreiſen. 

(Zu dem Mörder an der Tür.) 
Auf deinem Kleid iſt Blut. 


Erſter Mörder. 


So iſt es Banquos. 


Macbeth. 
Liegt er am Boden? 


Erſter Mörder. 


Herr! Die Kehl' iſt ihm 
Zerſchnitten! Dieſen Dienſt erwies ich ihm. 


63 


64 Macbeth 


Macbeth. ‘ 
Du biſt der erſte aller Kehlabſchneider! 
Doch gleiches Lob verdient, wer ſeinem Sohn 
Denſelben Dienſt getan! Biſt du der auch, 
1210 So ſuchſt du deines gleichen. 


Erſter Mörder. 
Gnäd'ger Herr! 
Fleance iſt entwiſcht! 


Macbeth. 


So kommt mein Fieber 
Zurück! Sonſt war ich ganz geſund, vollkommen 
Geneſen, feſt wie Marmor, wie ein Fels 
Gegründet, wie das freie Element, 
1215 Das uns umgibt, unendlich, allverbreitet. 
Jetzt bin ich wieder eingeengt, gebunden 
Und meinen alten Schreckniſſen aufs neu’ 
Zum Raub dahingegeben. — Aber Banquo iſt 
Doch ſicher? 
Erſter Mörder. 
Herr! Er liegt in einem Graben, 
1220 Mit zwanzig Hieben in dem Kopf, der kleinſte 
Schon eine Todeswunde. — 


Macbeth. 
Dank für das! 


Dort liegt ſie alſo, die erwachſne Schlange! 
Der Wurm, der floh, hat das Vermögen, einſt 
Gift zu erzeugen, doch für jetzt noch keine Zähne! 
125 Gut! Morgen wollen wir's noch einmal hören! 
(Mörder geht ab.) 


Tady. 
Mein König! Ihr verkürzet Eure Gäſte. 
Das reichſte Mahl iſt freudenleer, wenn nicht 
Des Wirtes Zuſpruch und Geſchäftigkeit 


1230 


1235 


1240 


1245 


Dritter Aufzug. 8. Auftritt 65 


Den Gäſten zeigt, daß ſie willkommen ſind. 
Satt eſſen kann ſich jeglicher zu Hauſe; 
Geſelliges Vergnügen, munteres 

Geſpräch muß einem Feſtmahl Würze geben. 


Banquos Gei ft fteigt empor und ſetzt fic zwiſchen Roſſe und Lenox an 
den Platz, der für Macbeth in der Mitte des Tiſches leer gelaſſen ijt. 


Macbeth. 
Willkommene Erinnerung — 
Gu den Lords.) 
Nun! Wohl 
Bekomm' es meinen vielgeliebten Gäſten! 
Vo ſſe. 
Gefällt es meinem König, Platz zu nehmen? 
Macbeth. 
Hier wären alle unſre Edlen nun, 
Die Zierden unſers Königreichs beiſammen, 
Wenn unſers Banquo ſchätzbare Perſon 
Zugegen wäre. — Möcht' ich ihn doch lieber 
Der Ungefälligkeit zu zeihen haben, 
Als eines Unfalls wegen zu beklagen! 


Noſſe. 
Sein Nichterſcheinen, Sire, ſchimpft ſein Verſprechen. 
Gefällt es meinem Könige, die Tafel 
Mit ſeiner hohen Gegenwart zu zieren? 


Macbeth 
(mit Entſetzen, indem er den Geiſt erblickt). 


Die Tafel iſt voll! 
Tenor (ganz gleichgültig auf den Geiſt deutend). 
Hier, Sire, iſt noch ein aufbehaltner Platz! 


Macbeth. 
Wo? 


Roffe (jo wie Lenox). 
Hier, mein König! — Was ſetzt Eure Hoheit 
So in Bewegung? 
Schillers Werke. IX. 5 


1250 


1255 


1260 


1265 


66 Macbeth 


Macbeth (ſchauervolh. 


Wer von euch hat das 
Getan? 
Roffe und Tenor. 


Was denn, mein königlicher Herr? 


Macbeth (zum Geiſte). 
Du kannſt nicht ſagen, ich war's! Schüttle 
Die blut'gen Locken nicht ſo gegen mich! 


Noſſe. 
Steht auf, ihr Herrn, dem König iſt nicht wohl. 


Tady. 
Bleibt ſitzen, meine Lords. Der König iſt 
Oft ſo und iſt's von Jugend auf geweſen; 
Ich bitt' euch drum, behaltet eure Plätze. 
Der Anſtoß währt nur einen Augenblick, 
In zwei Minuten iſt er wieder beſſer. 
Wenn ihr ſo ſcharf ihn anſeht, bringt ihr ihn 
Nur auf und macht ſein Übel länger dauern, 
Eßt fort und gebt nicht Acht auf ihn! 

(Heimlich zu Macbeth.) 

Seid Ihr ein Mann, Sir? 


Macbeth (immer ſtarr auf das Geſpenſt ſehend). 


Ja, und ein beherzter 


Dazu, der Mut hat, etwas anzuſchauen, 
Wovor der Teufel ſelbſt erblaſſen würde! 


Lady. 
O ſchön! Vortrefflich! Das find wieder 
Die Malereien deiner Furcht! Das iſt 
Der in der Luft gezückte Dolch, der, wie 
Du ſagteſt, dich zu Duncan hingeleitet! 
Wahrhaftig, dieſes Schaudern, dies Entſetzen, 
So ganz um nichts, um gar nichts, paßte gut 


1270 


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1290 


Dritter Aufzug. 8. Auftritt 67 


Zu einem Ammenmürchen, am Kamin 
Erzählt, wofür Großmutter Bürge wird. 

O ſchäme dich! Was zerrſt du für Geſichter? 
Am Ende ſiehſt du doch nicht weniger 

Noch mehr als einen Stuhl. 


Macbeth. 
Ich bitte dich! 
Schau dorthin! Dorthin ſchaue! Nun! Was ſagſt du? 
(Zum Geiſt.) 
Wie? Was ficht's mich an? Wenn du nicken kannſt, 
So red' auch. — Schickt das Beinhaus und die Gruft 
Uns die Begrabenen zurück, ſo ſoll 


Der Bauch der Geier unſer Grabmal werden. 
(Der Geiſt verſchwindet.) 


Tady. 
Iſt's möglich, Sir! So ganz unmännlich töricht? 
Macbeth. 
So wahr ich vor Euch ſteh'! Er war's. Ich ſah ihn. 
Lady. 
O ſchämet Euch! 
Macbeth. 


Es iſt von jeher Blut 
Vergoſſen worden, ſchon in alten Zeiten, 
Eh' menſchliche Geſetze noch die friedliche 
Gemeinheit ſäuberten. — Ja, auch hernach 
Geſchahen Morde gnug, zu grüößlich ſchon 
Dem Ohre. Sonſt, wenn einem das Gehirn 
Heraus war, ſtarb der Mann, und ſo war's aus. 
Jetzt ſteigen ſie mit zwanzig Todeswunden 
An ihrem Kopfe wieder aus dem Grab 
Und treiben uns von unſern Stühlen. — Das 
Iſt noch weit ſeltſamer als ſolch ein Mord. 


68 Macbeth 


Lady. 
Sire! Eure Gäſte warten — 


Macbeth. 
Ich vergaß mich! 

Kehrt euch an mich nicht, meine werten Freunde, 
1295 Ich bin mit einer wunderlichen Schwachheit 

Behaftet; wer mich kennt, gewöhnt ſich dran. 

Kommt! Kommt! Auf eure Freundſchaft und Geſundheit! 

Hernach will ich mich ſetzen! Gebt mir Wein! 

Voll eingeſchenkt! Ich trinke auf das Wohlſein 
1300 Der ganzen gegenwärtigen Verſammlung 

Und unſers teuern Freundes Banquo auch, 

Den wir vermiſſen. — Wär' er doch zugegen! 


Auf ſein und euer aller Wohlergehn! 
(Der Geiſt ſteht wieder da.) 


Roffe. Tenor. Angus. 


Wir danken untertänigſt. 


Marbeth (den Geiſt erblickend und heftig auffahrend). 
1308 Hinweg aus meinem Angeſicht! Laß dich 
Die Gruft verbergen. Dein Gebein iſt marklos! 
Dein Blut iſt kalt, du haſt nicht Kraft zu ſehn 
In dieſem Aug', mit dem du mich anſtarreſt! 


Lady, ‘ 
Verwundert euch nicht, meine edeln Thans, 
1310 Nehmt es für etwas ganz Gewöhnliches. 
Es iſt nichts weiter! Glaubt mir! Schade nur, 
Daß es die Freude dieſes Abends ſtört! 


Macbeth. 
Was einer wagt, das wag' ich auch — Komm du 
In der Geſtalt des rauhen Eisbärs auf mich an, 
1316 Des lib'ſchen Tigers, des geharniſchten 
Rhinozeros, in welcher andern Schreckens⸗ 


1320 


1325 


1330 


1335 


1340 


Dritter Aufzug. 8. Auftritt 69 


Geſtalt du immer willſt, nur nicht in dieſer, 
Und meine feſten Nerven ſollen nicht 
Erbeben — Oder lebe wieder auf 
Und fordre mich aufs Schwert in eine Wüſte. 
Wenn ich mich zitternd weigere, dann ſchilt 
Mich eine weib'ſche Memme! Weg! Hinweg! 
Furchtbarer Schatten! Weſenloſes Schreckbild! 

(Der Geiſt verſchwindet.) 
Ja — Nun — Sobald du fort biſt, bin ich wieder 
Ein Mann. 


(Zu den Gäſten, welche aufſtehen wollen.) 
Ich bitt' euch, Freunde! Bleibet ſitzen! 
Tady. 
Ihr habt durch dieſen fieberhaften Anſtoß 
Den Schrecken unter Eure edeln Gäſte 
Gebracht und alle Fröhlichkeit verbannt. 


Macbeth. 
Ich bitte dich! Kann man denn ſolche Dinge 
Wie eine Sommerwolke vor ſich weg 
Ziehn laſſen, ohne außer ſich zu ſein? 
Du machſt mich irr an meinem eignen Selbſt, 
Seh' ich, daß du dergleichen Furchterſcheinungen 
Anſchaun und den natürlichen Rubin 
Auf deinen Wangen kannſt behalten, wenn 
Die meinen das Entſetzen bleicht. 


Noſſe. 
Erſcheinungen, mein König? 
Tady. 
Redet nicht, 
Ich bitt' Euch! Es wird ſchlimmer ſtets und ſchlimmer. 
Viel Fragen bringt ihn vollends ganz von Sinnen. 


Gut' Nacht auf einmal allen! Wartet nicht 
Erſt auf Befehl zum Aufbruch! Geht zugleich! 


Was für 


1345 


1350 


1355 


70 Macbeth 


Noſſe. Angus. Tenor. 
Wir wünſchen unſerm König gute Nacht 
Und beſſere Geſundheit! 


Lady. 
Allerſeits gut’ Nacht! 
(Die Lords gehen ab, von der Lady begleitet.) 


9. Auftritt 
Maebeth. Gleich darauf Lady Maebeth. 


Macbeth. 
Es fordert Blut! Blut, ſagt man, fordert Blut! 
Man hat Erfahrungen, daß Steine ſich 
Gerührt, daß Bäume ſelbſt geredet haben! 
Wahrſager, die das tiefverborgne Band 
Der Dinge kennen, haben ſchon durch Krähen 
Und Dohlen die geheimſte Mördertat 
Ans Licht gebracht — Wie weit iſt's in der Nacht? 
Tady liſt indes zurückgekommen). 


So weit, daß Nacht und Morgen ſchon im Streit 
Begriffen, wer die Herrſchaft führen ſoll. 


Macbeth. 
Und Macduff, ſagſt du, weigert ſich, zu kommen? 


Lady. 
Haft du ihn laden laſſen? 


Macbeth. 
Nein, ich hört' es 
Nur vor der Hand, doch will ich nach ihm ſenden. 
Es iſt nicht einer unter dieſen Thans, 
In deſſen Haus ich meinen Horcher nicht 
Beſolde! — Morgen mit dem früheſten 
Such' ich die Zauberſchweſtern auf. Sie müſſen 


Vierter Aufzug. 1. Auftritt 71 


isco Mir mehr entdecken, denn ich muß nun ſchon 
Das Argſte wiſſen auf dem ärgſten Weg. 
Ich bin ſo tief in Blut hineingeſtiegen, 
Daß die Gefahr dieſelbe iſt, ich mag 
Zurücke ſchreiten oder vorwärts gehn. 

1305 — Seltſame Dinge wälzt mein Geiſt bei ſich 
Herum, die einen raſchen Arm erfordern 
Und Tat ſein müſſen, eh' ſie Worte ſind. 


Lady. 
Euch mangelt die Erquickung aller Weſen, 
Der Schlaf. 
Macbeth. 
Ja, komm! Wir wollen auch nun ſchlafen. 
1370 Mein Fehler ijt nur eines Neulings Furcht, 
Den die Gewohnheit noch nicht abgehärtet: 
Wir ſind in Taten dieſer Art noch Kinder. 
(Sie gehen ab.) 


Vierter Aufzug 
Ein freier Platz. 
1. Auftritt 


Roſſe und Lenox. 


Rolfe. 
Ich führe das nur an, Euch auf die Spur 
Zu bringen. Setzt's Euch ſelber nun zuſammen! 
1575 Der gnadenreiche Duncan ward von Macbeth 
Betrauert! Freilich wohl! Er war ja tot. 
Und der getreue biedre Banquo reiſte 


72 Macbeth 


Zu ſpät des Nachts. Wer Luſt hat, kann auch ſagen, 
Fleance hab' ihn umgebracht, denn Fleance entfloh. 
isso Man ſollte eben in fo ſpäter Nacht nicht reiſen. 
Wer dachte je, daß dieſer Donalbain 
Und Malcolm ſolche Ungeheuer wären, 
Den zärtlichſten der Väter zu ermorden! 
Verdammenswerte Tat! Wie ſchmerzte ſie nicht 
1386 Den frommen Macbeth! Würgt' er nicht ſogleich 
In heil'ger Wut die beiden Täter, die 
Von Wein und Schlummer überwältigt lagen! 
War das nicht brav von ihm! Gewiß, und weiſe 
Nicht minder! denn wer hätt' es ohne Grimm 
1300 Anhören können, wenn die Buben es 
Geleugnet! Alſo wie geſagt! Sehr klug! — 
Und ſeid gewiß, ſollt' er der Söhne Duncans 
Je habhaft werden — welches Gott verhüte! — 
Sie ſollten lernen, was es auf ſich hat, 
1395 Den Vater morden! Und das ſollt' auch Fleance! 
— Doch ſtill! Um ein'ger freien Worte willen, 
Und weil er von dem Gaſtmahl des Tyrannen 
Ausblieb, lud Maeduff ſeinen Zorn auf ſich. 
Könnt Ihr mir Nachricht geben, wo er jetzt 
140 Sich aufhält? 
Tenor. 
Malcolm, Duncans Alteſter, 
Dem der Tyrann das Erbreich vorenthält, 
Lebt an dem Hof des frommen Eduards, 
Geehrt, wie einem Könige geziemt, 
Und der Verbannung Bitterkeit vergeſſend. 
146 Dahin iſt nun auch Macduff abgegangen, 
Englands großmüt'gen König anzuflehn, 
Daß er den tapfern Seiward uns zum Beiſtand 
Herſende, der mit Gottes mächt'gem Schutz 
Die Tyrannei zerſtöre, unſern Nächten Schlaf 


1410 


1415 


1420 


1425 


1430 


1435 


Vierter Aufzug. 1. Auftritt 


Und unſern Tiſchen Speiſe wieder gebe, 

Den mörderiſchen Dolch von unſern Feſten 
Entferne, uns aufs neue um den Thron 

Des angeſtammten Königes verſammle, 

Damit wir ohne Niederträchtigkeit 

Zu Ehren kommen können — Darnach ſehnen wir 
Uns jetzt umſonſt. — Die Nachricht von dem allen 
Hat den Tyrannen ſo in Wut geſetzt, 

Daß er zum Kriege ſchleunig Anſtalt macht. 


Rolfe. 
So ſchickte er nach Macduff? 


Tenor. 
Ja. Und mit einem runden kurzen: Sir, 
Ich komme nicht! ward der Geſandte ab- 
Gefertigt, der mit einem finſtern Blick 
Den Rücken wendete, als wollt' er ſagen: 
Ihr werdet Euch die Stunde reuen laſſen, 
Da Ihr mit ſolcher Antwort mich entließt. 


No ſſe. 

Es ſei ihm eine Warnung, ſich ſo weit 

Als möglich zu entfernen. Irgend ein 
Wohltät'ger Cherub fliege vor ihm her 
Nach England und entfalte ſein Geſuch, 
Noch eh' er kommt, damit ein ſchneller Arm 
Zu Rettung dieſes Landes ſich bewaffne, 
Dem eine Teufelshand Verderben droht. 


Tenor. 


Vo ſſe. 
Ich will nach Fife, ſein Weib 
Zu tröſten und, vermag ich's, ſie zu ſchützen. 
Lebt wohl! (Gehen ab.) 


Wo geht Ihr hin? 


73 


1440 


1445 


1450 


1455 


74 


Macbeth 


Eine große und finſtre Höhle. Ein Keſſel ſteht in der Mitte 


über dem Feuer. 


2. Auftritt 
Hekate. Die drei Hexen. 


Erſte Here. 
Was iſt dir, hohe Meiſterin? 


Zweite und dritte. 
Was zürnet unſre Königin? 


Hekate. 

Und ſoll ich's nicht, da ihr vermeſſen 
Und ſchamlos eurer Pflicht vergeſſen 
Und eigenmächtig, ungefragt 
Mit Mtacheth ſolches Spiel gewagt, 
Mit Rätſeln ihn und Zauberworten 
Verſucht zu greuelvollen Morden? 
Und mich, die Göttin eurer Kraft, 
Die einzig alles Unheil ſchafft, 
Mich rieft ihr nicht, euch beizuſtehn 
Und eurer Kunſt Triumph zu ſehn? 
Und überdies, was ihr getan, 
Geſchah für einen ſchlechten Mann, 
Der eitel, ſtolz, wie's viele gibt, 
Nur ſeinen Ruhm, nicht euren liebt! 

Macht's wieder gut und den Betrug, 
Den ihr begannt, vollendet klug! 
Ich will unſichtbar um euch ſein 
Und ſelber meine Macht euch leihn. 
Denn eh' es noch beginnt zu tagen, 
Erſcheint er, das Geſchick zu fragen. 
Drum ſchnell ans Werk mit rüſt'gen Händen, 
Ich will euch meine Geiſter ſenden 


1460 


1465 


1470 


1475 


1480 


Vierter Aufzug. 3. Auftritt 


Und ſolche Truggebilde weben 
Und täuſchende Orakel geben, 
Daß Macbeth, von dem Blendwerk voll, 
Verwirrt und tollkühn werden ſoll! 
Dem Schickſal ſoll er trotzen kühn, 
Dem Tode blind entgegen fliehn, 
Nichts fürchten, ſinnlos alles wagen, 
Nach ſeinem eiteln Trugbild jagen. 
Den Sterblichen, das wißt ihr lange, 
Führt Sicherheit zum Untergange! 
(Sie verſinkt hinter dem Keſſel.) 


3. Auftritt 


Die drei Hexen, um den Keſſel tanzend. 


Erſte Here. 
Um den Keſſel ſchlingt den Reihn, 
Werft die Eingeweid' hinein. 
Kröte du, die Nacht und Tag 
Unterm kalten Steine lag, 
Monatlanges Gift ſog ein, 
In den Topf zuerſt hinein. 


Alle drei. 
Rüſtig, rüſtig! Nimmer müde! 
Feuer, brenne! Keſſel, ſiede! 


Erſte Here. 
Schlangen, die der Sumpf genährt, 
Kocht und ziſcht auf unſerm Herd. 
Froſchzehn tun wir auch daran, 
Fledermaushaar, Hundeszahn, 
Otterzungen, Stacheligel, 
Eidechspfoten, Eulenflügel, 


75 


76 Macbeth 


Zaubers halber, wert der Müh, 
1486 Sied' und koch' wie Höllenbrüh. 


Alle. 
Rüſtig, rüſtig! Nimmer müde! 
Feuer, brenne! Keſſel, ſiede! 


Erſte Here. 
Tut auch Drachenſchuppen dran, 
Hexenmumien, Wolfeszahn, 

1490 Des gefräß' gen Seehunds Schlund, 
Schierlingswurz, zur finſtern Stund 
Ausgegraben überall! 

Judenleber, Ziegengall. 
Eibenzweige, abgeriſſen 

1495 Bei des Mondes Finſterniſſen. 
Türkennaſen tut hinein, 
Tartarlippen, Fingerlein 
In Geburt erwürgter Knaben, 
Abgelegt in einem Graben! 

1500 Miſcht und rührt es, daß der Brei 
Tüchtig, dick und ſchleimicht ſei. 
Werft auch, dann wird's fertig ſein, 
Ein Gekrös vom Tiger drein. 


Alle. 
Rüſtig, rüſtig! Nimmer müde! 
1505 Feuer, brenne! Keſſel, fiede! 


Erſte Here. 
Kühlt's mit eines Säuglings Blut, 
Dann iſt der Zauber feſt und gut! 


Zweite Here. 
Geiſter, ſchwarz, weiß, blau und grau, 
Wie ihr euch auch nennt — 


Vierter Aufzug. 4. Auftritt 77 


1510 Rührt um, rührt um, rührt um, 


Was ihr rühren könnt! 
(Es erſcheinen zwerghafte Geiſter, welche in dem Keſſel rühren.) 


Dritte Here. 
Juckend ſagt mein Daumen mir: 
Etwas Böſes naht ſich hier! 
Nur herein! 
1515 Wer's mag fein! 


4. Auftritt 


Macbeth. Die drei Hexen. Nachher verſchiedene Erſcheinungen. 


Macbeth. 
Nun, ihr geheimnisvollen ſchwarzen Hexen, 
Was macht ihr da? 


Die drei Heren (zugleich). 
Ein namenloſes Werk. 


Macbeth. 
Bei eurer dunkeln Kunſt beſchwör' ich euch. 
Antwortet mir, durch welche Mittel ihr's 

1520 Auch mögt vollbringen! Müßtet ihr die Winde 
Entfeſſeln und mit Kirchen kämpfen laſſen; 
Mize’ auch das ſchäumend aufgeregte Meer 
Im allgemeinen Sturm die ganze Schiffahrt 
Verſchlingen, müßte finſtrer Hagelregen 

1625 Die Ernte niederſchlagen, feſte Schlöſſer 
Einſtürzen überm Haupte ihrer Hüter, 
Paläſte, Pyramiden ihren Gipfel 
Erſchüttert beugen bis zu ihrem Grunde! 
Ja, müßte gleich der Weltbau drüber brechen, 

1530 Antwortet mir auf das, was ich euch frage. 


78 Macbeth 


Erſte Here. 
Sprich! 


Frage! 


Zweite Here. 


Dritte Here. 
Dir ſoll Antwort werden. 


Erſte Here. 
Sprich! Willſt du ſie aus unſerm Munde lieber, 
Willſt du von unſern Meiſtern ſie vernehmen? 


Macbeth. 
Ruft ſie! Ich will ſie ſehn! 
Die drei Heren. 
1535 Groß oder klein, 
Erſchein! Erſchein! 
Und zeige dich 
Und deine Pflicht beſcheidentlich. 


Donner. Ein bewaffnetes Haupt erhebt ſich hinter dem Keſſel. 


Macbeth. 
Sag' mir, du unbekannte Macht — 


Erſte Here. 
1540 Was du denkſt, entgeht ihm nicht, 
Höre ſchweigend, was er ſpricht! 


Haupt. 
Macbeth! Macbeth! Macbeth! 
Fürchte Maeduffs kriegriſch Haupt,! 
Zittre vor dem Than zu Fife. 
1545 Laß mich! Mehr iſt nicht erlaubt. 
(Steigt hinunter.) 


Macbeth. 
Wer du auch ſeiſt, hab' Dank für dieſe Warnung, 
Du zeigeſt meiner ungewiſſen Furcht 
Das Ziel! Nur noch ein Wort — 


1550 


1555 


1560 


1565 


Vierter Aufzug. 4. Auftritt 79 


Erſte Here. 
Er läßt ſich nicht befehlen! 
Hier iſt ein andrer, mächtiger als jener! 


Donner. Erſcheinung von einem blutigen Kinde. 


Rind, 
Macheth! Maebeth! Macbeth! 
Macbeth. 
Hätt' ich drei Ohren, du erfüllteſt ſie. 
Kind. 


Sei keck und kühn und dürſte Blut, 
Verlache deiner Feinde Wut, 
Denn keiner, den ein Weib gebar, 
Bringt Macbeth je Gefahr. 

(Steigt hinunter.) 

Macbeth. 

So lebe Maeduff, immerhin! Was brauch' 
Ich dich zu fürchten — Aber nein! Ich will 
Die Sicherheit verdoppeln und ein Pfand 
Vom Schickſal nehmen — Du ſollſt ſterben, Macduff, 
Daß ich die Furcht zur Lügnerin kann machen 
Und ſorglos ſchlafen in des Sturmes Rachen. 


Ein gekröntes Kind mit einem Baumzweig. 
Was iſt's, das wie ein königlicher Sprößling 
Sich dort erhebt, um ſeine Kinderſtirn 
Den goldnen Reif der Herrſcherwürde tragend? 


Die drei Heren. 
Höre, aber rede nicht! 
Schweigend merke, was er ſpricht. 

Gekröntes Rind. 


Sei ein Löwe, keinen ſcheue, 
Wer auch murre, wer dir dräue! 


1570 


1575 


1580 


1585 


1590 


80 


Macbeth 


Wer ſich gegen dich verbunden! 


Macbeth bleibt unüberwunden, 
Bis der Birnamwald auf ihn heran 


Rückt zum Schloſſe Dunſinan! 
(Steigt hinunter.) 


Macbeth. 
Dahin kommt's niemals! Wer kann Bäume wie 
Soldaten preſſen, daß ſie ihre tief 
Verſchlungnen Wurzeln aus der Erd' entfeſſeln 
Und, die Bewegungsloſen, wandelnd nahn? 
Glückſelige Orakelſprüche! Wohl! 
Aufruhr, dein Haupt erhebſt du nicht, bis ſich 
Der Birnamwald erhebt von ſeiner Stelle. 
Masebeth wird leben bis ans Ziel der Zeit 
Und keinem andern ſeinen Hauch bezahlen 
Als dem gemeinen Los der Sterblichkeit. 
Und dennoch pocht mein Herz, nur eines noch 
Zu wiſſen. Sagt mir — wenn ſich eure Kunſt 
So weit erſtreckt — Wird Banquos Same je 
In dieſem Reich regieren? 


Die drei Heren. 


Forſche nichts mehr! 
Macbeth. 
Ich will befriedigt ſein. Verſagt mir das 
Und ſeid verflucht auf ewig! Laßt mich's wiſſen. 
Was ſinkt der Keſſel! Welch Getös iſt das? 


(Hoboen.) 
Erſte Here. 
Erſcheint! 
Zweite Here. 
Erſcheint! 


Dritte Here. 
Erſcheint! 


1695 


1600 


1605 


1610 


1615 


1620 


Vierter Aufzug. 4. Auftritt 81 


Alle drei. 
Erſcheint und macht ſein Herz nicht froh, 


Wie Schatten kommt und ſchwindet ſo. 


Acht Könige erſcheinen nacheinander und gehen mit langſamem Schritt 
an Macbeth vorbei. Banquo iſt der letzte und hat einen Spiegel in der 
Hand. 


Macbeth 


(indem die Erſcheinungen an ihm vorübergehen). 
Du gleichſt zu ſehr dem Geiſt des Banquo! Fort! 
Hinab mit dir! Die Kron' auf deinem Haupt 
Verwundet meine Augen! — Deine Miene, 
Du zweite goldumzogne Stirne, gleicht 
Der erſten — Fort! Ein Dritter, völlig wie 
Der vorige! — Verfluchte! Warum zeiget ihr mir das! 
Ein Vierter — O erſtarret, meine Augen! 
Was? Will das währen bis zum jüngſten Tag? 
Noch einer — Was? Ein Siebenter! 
Ich will nicht weiter hinſehn — Aber ſieh! 
Da kommt der Achte noch mit einem Spiegel, 
Worin er mir noch viele andre zeigt! 
Was ſeh' ich? Wie? Die Kronen, die Reichsäpfel 
Verdoppeln ſich, die Zepter werden dreifach! 
Abſcheuliches Geſicht! Ja, nun iſt's wahr! 
Ich ſeh' es, denn der blut'ge Banquo grinſt 
Mich an und zeigt auf ſie, wie auf die Seinen. 
— Was? Iſt es nicht ſo? 
Erſte Here. 

Alles iſt ſo, doch warum 
Steht der König ſtarr und ſtumm? 
Seine Seele zu erfreuen, 
Schweſtern, ſchlingt den Feenreihen! 
Kommt! Von unſern ſchönſten Feſten 
Gebt ihm einen Tanz zum beſten! 
Luft, du ſollſt bezaubert klingen, 
Wenn wir unſre Kreiſe ſchlingen! 

Schillers Werke. IX. 6 


1625 


1630 


82 Macbeth 


Daß der große König ſoll geſtehen, 
Ehre ſei ihm hier geſchehen. 


(Sie machen einen Tanz und verſchwinden.) 


Macbeth. 
Wo ſind ſie? Weg! Verflucht auf ewig ſtehe 
Die Unglücksſtunde im Kalender — Komm 
Herein, du draußen! 


5. Auftritt 
Macbeth. Lenox. 


Tenor. 
Was befiehlt mein König? 


Macbeth. 
Sahſt du die Zauberſchweſtern? 


Tenor. 


Macbeth. 
Sie kamen nicht bei dir vorbei? 


Tenor. 


Macbeth. 
Verpeſtet ſei die Luft, auf der ſie reiten! 
Verdammt ſei, wer den Lügnerinnen traut! 
Ich hörte Pferdgalopp. Wer kam vorbei? 


Tenor. 
Zwei oder drei, die Euch die Nachricht bringen, 
Daß Maeduff ſich nach Engelland geflüchtet. 


Macbeth. 
Nach Engelland geflüchtet? 


Nein, mein König. 


Nein, wirklich nicht. 


1636 


1640 


1645 


1650 


Vierter Aufzug. 6. Auftritt 83 
Tenor. 


Ja, mein König! 


Macbeth. 
O Zeit, du greifſt in meinen furchtbarn Plan! 
Der flücht'ge Vorſatz iſt nicht einzuholen, 
Es gehe denn die raſche Tat gleich mit. 
Von nun an ſei der Erſtling meines Herzens 
Auch gleich der Erſtling meiner Hand — Und jetzt, 
Gleich jetzt das Wort durch Tat zu krönen, ſei's 
Gedacht, getan. Ich überfalle Maeduffs Schloß, 
Erobre Fife im Sturme — Mutter, Kinder, alle 
Verlorne Seelen ſeines Unglücksſtamms 
Erwürgt mein Schwert, das iſt kein eitles Prahlen! 
Eh' der Entſchluß noch kalt iſt, ſei's getan! 
Doch keine Geiſter mehr! 


Wo ſind die Männer? Führe mich zu ihnen. 
(Gehen ab.) 


Die Szene iſt in einem Garten. 
6. Auftritt 


Malcolm und Maeduff. 


Malcolm. 
Komm! Laß uns irgend einen öden Schatten 
Aufſuchen, unſern Kummer auszuweinen. 


Macduff. 
Laß uns vielmehr das Todesſchwert feft halten 
Und über unſerm hingeſtürzten Rechte 
Als wackre Männer kämpfend ſtehn! 
Mit jedem neuen Morgen heulen neu 
Verlaßne Witwen, heulen neue Waiſen, 


84 Macbeth 


Schlägt neuer Jammer an den Himmel an, 
1655 Der klagend widertönt und bange Stimmen 
Des Schmerzens von ſich gibt, als ob er ſelbſt 
Mit Schottland litte. 
Malcolm. 
Was ich glaube, will ich 
Beweinen. Was ich weiß, das will ich glauben, 
Und was ich ändern kann, das will ich tun, 
1660 Wenn ich die Zeit zum Freunde haben werde. 
Es mag ſich ſo verhalten, wie du ſprichſt. 
— Dies Ungeheuer, deſſen bloßer Name 
Die Zungen lähmt, hieß einſt ein Biedermann, 
Du liebteſt ihn, und noch hat er dich nicht 
1666 Beleidigt — Ich bin jung — doch könnteſt du 
Durch mich dir ein Verdienſt um ihn erwerben, 
Und weislich gibt man ein unſchuldig Lamm 
Dem Meſſer hin, um einen zürnenden 
Gott zu verſöhnen. 


Macduff. 
Ich bin kein Verräter. 


Malcolm. 
1070 Doch Mtacheth iſt's — Und das Gebot des Herrſchers 
Kann auch den Beſten in Verſuchung führen! 
Vergib mir, Macduff, meinen Zweifelſinn. 
Du bleibſt derſelbe, der du biſt! Mein Denken 
Macht dich zu keinem andern! Engel glänzen 
1675 Noch immer, ob die glänzendſten auch fielen. 
Wenn alle böſen Dinge die Geſtalt 
Des Guten borgten, dennoch muß das Gute 
Stets dieſe nämliche Geſtalt behalten. 


Macduff. 


Ich habe meine Hoffnungen verloren. 


1680 


1685 


1690 


1700 


1705 


Vierter Aufzug. 6. Auftritt 


Malcolm. 
Da eben fand ich meine Zweifel — Wie? 
Du hätteſt deine Gattin, deine Kinder, 
Die heilig teuern Pfänder der Natur, 
So ſchnell im Stich gelaſſen ohne Abſchied? 
Vergib mir! Meine Vorſicht ſoll dich nicht 
Beleidigen, nur ſicher ſtellen ſoll 
Sie mich — Du bleibſt ein ehrenwerter Mann, 
Mag ich auch von dir denken, was ich will. 

Macduff. 
So blute, blute, armes Vaterland! 
Du, kecke Tyrannei, begründe feſt 
Und feſter deinen angemaßten Thron, 
Dich wagt Gerechtigkeit nicht zu erſchüttern! 
Du, Prinz, gehab' dich wohl! — Um alles Land, 
Das der Tyrann in ſeinen Klauen hält, 
Und um den reichen Oſt dazu möcht' ich 
Der Schändliche nicht ſein, für welchen du 
Mich anſiehſt. 

Malcolm. 

Zürne nicht. Mein Zweifel iſt 

Nicht eben Mißtraun. Unſer Vaterland 
Erliegt, ich denk' es, dem Tyrannenjoch; 
Es weint, es blutet; jeder neue Tag, 
Ich will es glauben, ſchlägt ihm neue Wunden. 
Auch zweifl' ich nicht, es würden Hände gnug 
Sich für mein Recht erheben, zeigt' ich mich! 
Und hier gleich bietet Englands Edelmut 
Mir deren viele tauſend an! — Jedoch, geſetzt, 
Ich träte ſiegend auf des Wütrichs Haupt, 


85 


Ich trüg's auf meinem Schwert — das arme Schottland 


Wird dann nur deſto ſchlimmer ſich befinden 
Und unter dem, der nach ihm kommen wird, 
Der Leiden mehr und härtere erdulden. 


86 Macbeth 


Marduff. 


Malcolm. 
Mich ſelber mein' ich — Mich, 

Dem aller Laſter mannigfache Keime 
So eingepfropft ſind, daß, wenn die Gewalt 
Sie nun entfaltet, dieſer ſchwarze Macbeth 
Schneeweiß daſtehen und der Wüterich, 

i716 Mit mir verglichen, als ein mildes Lamm 
Erſcheinen wird! 


1710 Wer wäre das? 


Marduff. 
Aus allen Höllenſchlünden ſteigt 
Kein teufliſcherer Teufel auf als Macbeth. 


Malcolm. 
Er iſt blutgierig, grauſam, ich geſteh's, 
Wollüſtig, geizig, falſch, veränderlich, 
1720 Betrügeriſch; ihn ſchändet jedes Laſter, 
Das einen Namen hat! — Doch meine Wolluſt 
Kennt keinen Zügel, keine Sättigung. 
Nicht Unſchuld, nicht der klöſterliche Schleier, 
Nichts Heiliges iſt meiner wilden Gier, 
1726 Die trotzig alle Schranken überſpringt. 
Nein, beſſer Macbeth herrſchet, denn ein ſolcher! 


Macduff. 
Unmäßigkeit iſt wohl auch Tyrannei, 
Hat manchen Thron frühzeitig leer gemacht 
Und viele Könige zum Fall geführt. 
170 Doch fürchte darum nicht, nach dem zu greifen, 
Was dein gehört! — Ein weites Feld eröffnet 
Die höchſte Würde deiner Lüſternheit. 
Du kannſt erhabne Herrſcherpflichten üben, 
Ein Gott ſein vor der Welt, wenn dein Palaſt 
176 Um deine Menſchlichkeiten weiß. 


1740 


1745 


1750 


1755 


1760 


Vierter Aufzug. 6. Auftritt 87 


Malcolm. 

Und dann 
Keimt unter meiner andern Laſter Zahl 
Auch ſolch ein Geiz und eine Habſucht auf, 
Daß, wär' ich unumſchränkter Herr, ich würgte 
Um ihrer Länder willen meine Edeln; 
Den tötete ſein Haus und den ſein Gold, 
Und kein Beſitztum machte je mich ſatt. 
Mein Reichtum ſelbſt wär' eine Würze nur, 
Des Habens Hunger heftiger zu ſtacheln, 
Und Streit erregt' ich allen Redlichen, 
Um mir das Ihre ſträflich zuzueignen. 


Macduff. 
Dies Laſter gräbt ſich tiefer ein und ſchlägt 
Verderblichere Wurzeln als die leicht 
Entflammte Luſt, die ſchnell ſich wieder kühlt. 
Geiz war das Schwert, das unſre Könige 
Erſchlagen, dennoch fürchte du dich nicht! 
Schottland iſt reich genug für deine wildeſten 
Begierden! Das iſt alles zu ertragen, 
Wenn es durch andre edle Tugenden 
Vergütet wird. 

Malcolm. 

Doch die beſitz' ich nicht. 

Von allen jenen königlichen Trieben: 
Gerechtigkeit, Wahrheit, Enthaltſamkeit, 
Geduld und Demut, Güte, Frömmigkeit, 
Herzhaftigkeit und Großmut, iſt kein Funke 
In mir — Dagegen überfließt mein Herz 
Von allen Laſtern, die zuſammen ſtreiten. 
Ja, ſtünd's in meiner Macht, ich ſchüttete 
Die ſüße Milch der Eintracht in die Hölle, 
Und allen Frieden bannt' ich aus der Welt. 


88 Macbeth ö 


Macduff. ; 
O Schottland! Schottland! . 


Malcolm. 
Iſt ein ſolcher fähig ; 
1705 Zu herrſchen? Sprich! Ich bin ſo, wie ich fagte. 
Macduff. 
Zu herrſchen! Nein, nicht würdig, daß er lebe. ‘ 
— O armes Vaterland, mit blut'gem Zepter 
Von einem Räuber unterdrückt, wann wirſt 
Du deine heitern Tage wiederſehn, 
1770 Da der gerechte Erbe deines Throns 
Sich ſelbſt das Urteil der Verwerfung ſpricht N 
Und läſtert ſeines Lebens reinen Quell. 
— Dein Vater war der beſte, heiligſte ö 
Der Könige — Und ſie, die dich gebar, 
1775 Weit öfter auf den Knieen als im Glanz, 
Sie ſtarb an jedem Tage, den ſie lebte. 
Gehab' dich wohl, Prinz! Eben dieſe Laſter, 
Die du dir beilegſt, haben mich aus Schottland 
Verbannt — O Herz! Hier endet deine Hoffnung! 


Malcolm. 

170 Macduff! Dies edle Ungeſtüm, das Kind 
Der Wahrheit, hat den Argwohn ausgelöſcht 
Aus meiner Seele und verſöhnt mein Herz 
Mit deiner Ehr' und Biederherzigkeit! 
Schon oft hat dieſer teufeliſche Macbeth 

17 Auf ſolchem Wege Netze mir geſtellt, 
Und nur beſcheidene Bedenklichkeit 
Verwahrte mich vor übereiltem Glauben. 
Doch, Gott ſei Zeuge zwiſchen mir und dir! 
Von nun an geb' ich mich in deine Hand 

170 Und widerrufe, was ich fälſchlich ſprach. 
Ab ſchwör' ich die Beſchuldigungen alle, 


1795 


1800 


1805 


1810 


Vierter Aufzug. 7. Auftritt 
Die ich verſtellter Weiſe auf mich ſelbſt 


89 


Gehäuft: mein Herz weiß nichts von jenen Laſtern. 


Rein hab' ich meine Unſchuld mir bewahrt, 
Nie maßt' ich fremdes Gut mir an, ja kaum 
Ließ ich des eignen Gutes mir gelüſten. 
Nie ſchwur ich falſch, nicht teurer iſt das Leben 
Mir als die Wahrheit; meine erſte Lüge 
War, was ich jetzo gegen mich geſprochen. 
Was ich in Tat und Wahrheit bin, iſt dein 
Und meinem armen Land! — Noch eh' du kamſt, 
Iſt ſchon der alte Seiward, wohlgerüſtet, 
Mit einem Heer nach Schottland aufgebrochen. 
Wir folgen ihm ſogleich, und möge nun 
Der Sieg an die Gerechtigkeit ſich heften! 
— Warum ſo ſtille? 
Marduff. 
So Willkommenes 
Und Schmerzliches läßt ſich nicht leicht vereinen. 


Malcolm. 
Gut! Nachher mehr davon! Sieh, wer da kommt! 


7. Auftritt. 


Vorige. Roſſe. 


Macduff. 


Ein Landsmann, ob ich gleich ihn noch nicht kenne. 


Malcolm. 
Willkommen, werter Vetter! 


Macduff. 
Jetzt erkenn' ich ihn. 
Entferne bald ein guter Engel, was 
Uns fremd macht für einander! 


1815 


1820 


1826 


90 Macbeth 


Noſſe. 
Amen, Sir! 
Macduff. 
Steht es um Schottland noch wie vor? 


Rolfe. 
Ach armes Land! 
Es ſchaudert vor ſich ſelbſt zurück. Nicht unſer 
Geburtsland, unſer Grab nur kann man's nennen, 
Wo niemand lächelt als das Wiegenkind, 
Wo Seufzer, Klagen und Geſchrei die Luft 
Zerreißt, und ohne daß man darauf achtet, 
Wo niemand bei der Sterbeglocke Klang 
Mehr fragen mag: wem gilt es? Wo das Leben 
Rechtſchaffner Leute ſchneller hin iſt als 
Der Strauß auf ihren Hüten, wo man ſtirbt, 
Eh' man erkrankt — 
Marcduff. 
O ſchreckliche Beſchreibung, 
Und doch nur allzuwahr! 


Malcolm. 
Was iſt denn jetzt 
Die neueſte Beſchwerde? 
Noſſe. 
Wer das Unglück 
Der vor'gen Stunde meldet, ſagt was Altes; 
Jedweder Augenblick gebiert ein neues. 


Macduff. 
Wie ſteht es um mein Weib? 


Noſſe. 
Wie? O ganz wohl! 


U 


1830 


1836 


1840 


1845 


Vierter Aufzug. 7. Auftritt 
Macduff. 
Und meine Kinder — 
Noſſe. 
Auch wohl. 
Macduff. 
Der Tyrann 
Hat ihre Ruh nicht angefochten? 
Rolfe. 
Nein! 
In Ruhe waren alle, da ich ging. 
Macduff. 
Seid nicht jo wortkarg. Sagt mir, wie es geht. 
Noſſe. 


Als ich mich eben auf den Weg gemacht, 

Um Euch die Zeitungen zu überbringen, 

Womit ich ſchwer beladen bin, ging ein Gerücht, 
Verſchiedne brave Leute ſeien kürzlich 

Ermordet — Was mir deſto glaublicher 
Erſchien, da ich die Völker des Tyrannen 
Ausrücken ſah. Nun iſt's die höchſte Zeit! 
Schon Euer bloßer Anblick würde Krieger 
Erſchaffen, Weiber ſelbſt zum Fechten treiben, 
So müd' iſt Schottland ſeiner langen Not. 


Malcolm. 
Laß es ſein Troſt ſein, daß wir ſchleunig nahn. 
Großmütig leiht uns England zehentauſend 
Streitfert'ge Männer, die der tapfre Seiward 
Anführt, der bravfte Held der Chriſtenheit. 


Roſſe. 
Daß ich dies Troſteswort mit einem gleichen 
Erwidern könnte! Doch ich habe Dinge 


91 


1850 


1855 


1860 


1865 


92 Macbeth 


Zu ſagen, die man lieber in die öde Luft 
Hinjammerte, wo ſie kein Ohr empfinge. 


Marduff. 
Wen treffen ſie? Das Ganze? Oder iſt's 
Ein eigner Schmerz für eine einz'ge Bruſt? 


Noſſe. 
Es iſt kein redlich Herz, das ihn nicht teilt, 
Obgleich das Ganze — nur für dich gehört. 


Macduff. 
Wenn es für mich iſt, ſo enthalte mir's 
Nicht länger vor, geſchwinde laß mich's haben. 


Noſſe. 
Sei meiner Stimme nicht auf ewig gram, 
Wenn ſie dir jetzt den allerbängſten Schall 
Angibt, der je dein Ohr durchdrungen. 


Marcduff. 
Ha! 


Ich ahn' es. 
Noſſe. 


Deine Burg iſt überfallen, 
Dein Weib und Kinder grauſam hingemordet. 
Die Art zu melden, wie's geſchah, das hieße 
Auf ihren Tod auch noch den deinen häufen. 


Malcolm. 
Barmherz'ger Gott! — Wie, Mann? Drück' deinen Hut 
Nicht ſo ins Aug'. Gib deinen Schmerzen Worte. 
Harm, der nicht ſpricht, erſtickt das volle Herz 
Und macht es brechen. 


Macduff. 
Meine Kinder auch? 


1870 


1875 


1880 


1885 


Ich ſagt' es. 


Vierter Aufzug. 7. Auftritt 93 


Roe. 
Weib, Kinder, Knechte, was zu finden war. 


Macduff. 
Und ich muß fern ſein! — Auch mein Weib getötet? 


Noſſe. 


Malcolm. 
Faſſe dich! Aus unſrer blut'gen Rache 

Laß uns für dieſen Todesſchmerz Arznei 
Bereiten. 

Macduff. 

Er hat keine Kinder! — Alle! 

Was? Meine zarten kleinen Engel alle! 
O hölliſcher Geier! Alle! — Mutter, Kinder 
Mit einem einz'gen Tigersgriff! 


Malrolm. 
Kämpf' deinem Schmerz entgegen wie ein Mann! 


Macduff. 
Ich will's, wenn ich als Mann ihn erſt gefühlt. 
Ich kann nicht daran denken, daß das lebte, 
Was mir das Teuerſte auf Erden war! 
Und konnteſt du das anſehn, Gott! und kein 
Erbarmen haben — Sündenvoller Macduff! 
Um deinetwillen wurden ſie erſchlagen! 
Nichtswürdiger, für deine Miſſetat, 
Nicht für die ihre büßten ihre Seelen! 
Geb' ihnen Gott nun ſeines Himmels Frieden! 


Malcolm. 
Laß das den Wetzſtein deines Schwertes ſein, 
Laß deinen Kummer ſich in Wut verwandeln. 
Erweiche nicht dein Herz, entzünd' es. 


94 Macbeth 
arduff. 
i Oh! 


Ich könnte weinen, wie ein Weib, und mit 

1800 Der Zunge toben — Aber ſchneide du, 
Gerechter Himmel, allen Aufſchub ab! 
Stirn gegen Stirn bring' dieſen Teufel Schottlands 
Und mich zuſammen — Nur auf Schwerteslänge 
Bring' ihn mir nahe, und entkömmt er, dann 

18995 Magſt du ihm auch vergeben! 


Malcolm. 


Das klingt männlich! 
Kommt! Gehen wir zum König. Alles iſt 
Bereit, wir brauchen Abſchied bloß zu nehmen. 
Macbeth iſt reif zum Schneiden, und die Mächte 
Dort oben ſetzen ſchon die Sichel an. 
100 Kommt, ſtärket euch zum Marſch und zum Gefechte: 


Die Nacht iſt lang, die niemals tagen kann. 
(Sie gehen ab.) 


Fünfter Aufzug 
Ein Zimmer. Es iſt Nacht. 
1. Auftritt 


Arzt. Kammerfrau. Gleich darauf Lady Maebeth. 


Arzt. 
Zwo Nächte hab' ich nun mit Euch durchwacht 
Und nichts entdeckt, was Eure ſeltſame Erzählung 
Beſtätigte. Wann war es, daß die Lady 
1s Zum letztenmal nachtwandelte? 


1910 


1915 


1920 


1925 


Fünfter Aufzug. 1. Auftritt 95 


Kammerfrau. 
Seitdem der König 
Zu Feld gezogen, hab' ich ſie geſehn, 
Daß ſie von ihrem Bette ſich erhob, 
Den Schlafrock überwarf, ihr Kabinett 
Aufſchloß, Papier herausnahm, darauf ſchrieb, 
Es las, zuſammenlegte, ſiegelte, 
Dann wiederum zu Bett ging — und das alles 
Im tiefſten Schlafe. 
Arzt. 

Eine große Störung 
In der Natur, zu gleicher Zeit die Wohltat 
Des Schlafs genießen und Geſchäfte 
Des Wachens tun! Doch außer dem Herumgehn, 
Und was ſie ſonſt noch vornahm, habt Ihr ſie 
In dieſem Zuſtand etwas reden hören? 


Kammerfrau. 
Nichts, was ich weiter ſagen möchte, Sir! 


a Arzt. 
Mir dürft Ihr's ſagen, und ich muß es wiſſen. 


Kammerfrau. 
Nicht Euch, noch irgend einem lebenden 
Geſchöpf werd' ich entdecken, was ich weiß, 
Da niemand iſt, der mir zum Zeugen diente! 
— Seht! Seht! Da kommt ſie! So pflegt ſie zu gehn, 
Und in dem tiefſten Schlaf, ſo wahr ich lebe! 


Gebt Acht auf ſie, doch machet kein Geräuſch! 
(Lady Macbeth kommt mit einem Lichte.) 


Arzt. 
Wie kam ſie aber zu dem Licht? 


1930 


1935 


1940 


1945 


96 Macbeth 


Kammerfrau. 
Es ſtand 


An ihrem Bette. Sie hat immer Licht 
Auf ihrem Nachttiſch. Das iſt ihr Befehl. 


Arzt. 
Ihr ſeht, ſie hat die Augen völlig offen. 


Kammerfrau. 
Ja! Aber die Empfindung iſt verſchloſſen! 


Arzt. 
Was macht ſie jetzt? Seht, wie ſie ſich die Hände reibt! 


Kammerfrau. 
Das bin ich ſchon von ihr gewohnt, daß ſie 
So tut, als ob ſie ſich die Hände wüſche. 
Ich hab' ſie wohl zu ganzen Viertelſtunden 
An einem fort nichts anders tun ſehn. 


Tady. 
Hier iſt doch noch ein Flecken. 
Arzt. 
Still! Sie redt! 
Ich will mir alles merken, was ſie ſagt, 
Damit ich nichts vergeſſe. 
Tady. 
Weg, du verdammter Flecken! Weg, ſag' ich! 
Eins! Zwei! — Nun, ſo iſt's hohe Zeit! — Die Hölle iſt 
Sehr dunkel — Pfui doch! Ein Soldat und feige! 
Laß es auch ruchtbar werden! Iſt doch niemand 
So mächtig, uns zur Rechenſchaft zu ziehen! 
Wer dacht' es aber, daß der alte Mann 
Noch ſo viel Blut in Adern hätte! 


t. 
a Hört Ihr? 


. 


1950 


1955 


1960 


Fünfter Aufzug. 1. Auftritt 97 


Lady. 
Der Than von Fife hatt' eine Frau — Wo iſt 
Sie nun? Was? Wollen dieſe Hände nimmer 
Rein werden? — Nichts mehr, mein Gemahl! — 
O nicht doch! Nicht doch! Ihr verderbet alles 
Mit dieſem ſtarren Hinſehn! 


Arzt. 
Gehet! Geht! 
Ihr wißt etwas, das Ihr nicht wiſſen ſolltet. 


Kammerfrau. 

Sie ſprach etwas, das ſie nicht ſprechen ſollte, 
Das iſt kein Zweifel! Weiß der Himmel, was 
Sie wiſſen mag! 

Tady. 

Das riecht noch immer fort 

Nach Blut! — Arabiens Wohlgerüche alle 
Verſüßen dieſe kleine Hand nicht mehr. 
Oh! Ohl 

Arzt. 

Hört! Hört! Was für ein Seufzer war das! 

O ſie hat etwas Schweres auf dem Herzen! 


Kammerfrau. 
Nicht für die ganze Hoheit ihres Standes 
Möcht' ich ihr Herz in meinem Buſen tragen. 
Arzt. 
Wohl! Wohl! 
Kammerfrau. 
Das gebe Gott, daß es ſo ſei! 


Arzt. 
Ich kann mich nicht in dieſe Krankheit finden, 


Doch kannt' ich mehr dergleichen, die im . 
Schillers Werke. IX. 


1965 


1970 


1975 


1980 


98 Macbeth 


Gewandelt und als gute Chriſten doch 
Auf ihrem Bette ſtarben. 


Tady. 
Waſcht die Hände! 
Den Schlafrock über! Sehet nicht ſo bleich aus. 
Ich ſag's Euch, Banquo liegt im Grab, er kann 
Aus ſeinem Grab nicht wiederkommen. 


Arzt. 


Tady. 
Zu Bett! Zu Bette! — An die Pforte wird 
Geklopft! Kommt! Kommt! Kommt! Gebt mir Eure Hand. 
Geſchehne Dinge ſind nicht mehr zu ändern. 
Zu Bett! Zu Bette! (Sie geht ab.) 


Arzt. 
Geht ſie nun zu Bette? 


Wirklich? 


Kammerfrau. 
Gerades Wegs. 


Arzt. 

Man raunt ſich Grauenvolles 
In die Ohren, unnatürlich ungeheure 
Verbrechen wecken unnatürliche 
Gewiſſensangſt, und die beladne Seele beichtet 
Dem tauben Kiſſen ihre Schuld — Ihr iſt 
Der Geiſtliche notwend'ger als der Arzt. 
Gott! Gott! vergib uns allen! — Sehet zu, 
Nehmt alles weg, womit ſie ſich ein Leides 
Tun könnte! Laßt ſie ja nicht aus den Augen! 
Nun gute Nacht! Mir iſt ganz ſchauerlich zu Mut. 


Ich denke, aber wage nicht zu reden. 
(Sie gehen ab.) 


1985 


1990 


1995 


2000 


2005 


Fünfter Aufzug. 2. Auftritt 99 


Offne Gegend. Proſpekt ein Wald. 
2. Auftritt 


Angus. Lenox. Lords und Soldaten im Hintergrund. 


Angus. 
Das Heer der Engelländer iſt im Anzug, 
Von Malcolm, unſerm Prinzen, angeführt, 
Von Seiward, ſeinem tapfern Ohm, und Macduff. 
Der Rache heilig Feuer treibt ſie an, 
Denn ſolche tödliche Beleidigungen, 
Als der Tyrann auf ſie gehäuft, entflammten 
Selbſt abgeſtorbne Büßende zur Wut 
Und ſtachelten ſie auf zu blut'gen Taten. 


Tenor. 
Dort iſt das Birnamer Gehölz. Sie ziehn 
Durch dieſen Wald; da können wir am beſten 
Zu ihrem Heere ſtoßen — Weiß jemand, 
Ob Donalbain bei ihnen iſt? 

Angus. 

Es iſt gewiß, 

Daß er bei dieſem Heer ſich nicht befindet. 
Ich habe ein Verzeichnis aller Edlen, 
Die Malcolms Fahnen folgen. Seiwards Sohn 
Iſt unter ihn en, nebſt noch vielen andern 
Unbärt'gen Knaben, die noch keine Schlacht 
Geſehn und ihres Mutes Erſtlinge 
In dieſem heil'gen Krieg beweiſen wollen. 


Tenor. 
Sie finden keinen würdigeren Kampf 
Und keine beßre Sache. Laßt uns eilen, 
Den Fahnen des Tyrannen, welchen Gott 
Verfluchte, zu entfliehn und an das Heer, 


2010 


2015 


100 Macbeth 


Bei dem der Sieg iſt, mutvoll uns zu ſchließen. 
Dort, wo das Recht, iſt unſer Vaterland. 


Angus. 
Auf, gegen Birnam! a 
(Man hört Trommeln in der Ferne.) 


Tenor. 
Hört Ihr jene Trommeln? 
Die brit'ſchen Völker nahen. Laßt ſie uns 
Mit unſern Trommeln kriegeriſch begrüßen! 
(Trommeln auf der Szene antworten denen hinter derſelben.) 


* a 


3. Auftritt 


Vorige. Malcolm. Seiward Vater und Sohn. Maeduff. Roſſe. 
Soldaten mit Fahnen, die im Hintergrund halten. 


Malcolm. 
Ich hoffe, Vettern, nah iſt nun der Tag, 
Wo Schlafgemächer wieder frei ſein werden. 


Noſſe. 


Wir zweifeln nicht daran. 


Seiward. 
Sieh! Wer ſind dieſe, 
Die ſich gewaffnet gegen uns bewegen? 


Malcolm. 
Macduff. 


Rolfe. 
Wer ſeid ihr? 


Tenor. 
Und Feinde des Tyrannen. 


Steht! 
Haltet an! 


Freunde Schottlands, 


Fünfter Aufzug. 3. Auftritt 101 


Roſſe. 
Jetzt, mein Feldherr, 
Erkenn' ich ſie. Es iſt der edle Than 
Von Lenox und von Angus. 


Malcolm. 
Seid willkommen! 
200 Was bringt ihr, ehrenvolle Thans? 


Tenor. 
Uns ſelbſt, 
Ein treues Herz und Schwert für unſern König! 


Angus. 
Wir kommen, unſre Treu und Dienſtespflicht 
Dahin zu tragen, wo ſie hingehört, 
Und ſuchen Schottland unter Englands Fahnen. 


Malcolm. 
202 Glückſel'ge Vorbedeutung! Frohes Pfand 
Des Siegs — Laßt euch umarmen, edle Freunde! 
Ja, unſre Waffen werden glücklich ſein, 
Da ſich die beſten Herzen zu uns wenden. 


Seiward. 
Womit geht der Tyrann jetzt um? Wir hören, 
200 Er liegt voll Zuverſicht in ſeiner Burg 
Und will dort die Belagerung erwarten? 


Angus. 
Er hat ſich in das Bergſchloß Dunſinan 
Geworfen, das er ſtark befeſtiget. 
Er ſoll von Sinnen ſein, ſagt man. Sein Anhang 
205 Nennt's eine kriegriſche Begeiſterung. 
Wohl mag er ſeiner ſelbſt nicht Meiſter bleiben 
In dieſem Kampf der Wut und der Verzweiflung. 


102 Macbeth 


Tenor. 

Nun ſchießt die Blutſaat, die er ausgeſät, 

Zur fürchterlichen Ernte rächend auf. 
2040 Jedweder Augenblick zeugt einen Abfall, 

Der ſeinen eignen Treubruch ihm vergilt; 

Die wenigen, die ihm noch treu geblieben, 

Knüpft Liebe nicht, nur Furcht an ſeine Fahnen; 

Wo nur ein Weg zur ſichern Flucht ſich zeigt, 
2045 Verläßt ihn Groß und Klein. 


Noſſe. 
Jetzt fühlt er, daß der angemaßte Purpur 
Der Majeſtät ſo ſchlotterig und loſe 
Um ihn herumhängt, wie des Rieſen Rock 
Um eines Zwerges Schultern, der ihn ſtahl. 


Marduff. 
2050 Laßt unſern Tadel, ſo gerecht er iſt, 
Bis nach dem Ausſchlag des Gefechtes ſchweigen, 
Und führen wir als Männer jetzt das Schwert! 


Seiward. 
Wie heißt der Wald hier vor uns? 


No ſſe. 


Seiward. 
Laßt jeden Mann ſich einen Aſt abhauen 
2055 Und vor ſich her ihn tragen. Wir beſchatten 
Dadurch die Anzahl unſres Heers und machen 
Die Kundſchaft des Tyrannen an uns irre. 


Alle. 


Birnamswald. 


Es ſoll geſchehen! 


(Sie zerſtreuen ſich nach dem Hintergrund, um die Zweige abzubrechen.) 


2060 


2065 


2070 


2075 


Fünfter Aufzug. 4. Auftritt 103 


Zimmer. 


4. Auftritt 


Macbeth. Der Arzt. Bediente. 


Macbeth. 
Verkündiget mir nichts mehr. Laßt ſie alle 
Zum Feind entfliehen! Bis der Birnamwald 
Sich in Bewegung ſetzt auf Dunſinan, 
Nicht eher kennt mein tapfres Herz die Furcht! 
Was iſt der Knabe Malcolm? Ward er nicht 
Von einem Weib geboren? Geiſter, die 
Die ganze Folge irdiſcher Geſchicke 
Durchſchauen, ſprachen dieſes Wort: 
„Sei furchtlos, Macbeth! Keiner, den ein Weib 
Gebar, hat über dich Gewalt!“ — So flieht! 
Flieht hin, ihr eidvergeßnen Thans, ſchließt euch 
An dieſe brit'ſchen Zärtlinge! Der Geiſt, 
Der mich beherrſcht, dies Herz, das in mir ſchlägt, 
Wird nicht von Furcht, von Zweifeln nicht bewegt. 


(Zu einem Bedienten, der hereintritt.) 
Daß dich der Teufel bräune, Milchgeſicht! 
Wie kommſt du zu dem gänſemäß'gen Anſehn? 


Bedienter lerſchrocken, atemlos). 
Zehntauſend — 
Macbeth. 
Gänſe, Schuft? 


Bedienter. 


Macbeth. 
Reib dein Geſicht und ſtreiche deine Furcht 
Erſt rot an, du milchlebrigter Geſelle! 
Was für Soldaten, Geck! Verdamm' dich Gott! 


Soldaten, Herr! 


104 Macbeth 


Dein weibiſch Anſehn ſteckt mir noch die andern 
2080 Mit Feigheit an — Was für Soldaten, Memme? 


Bedienter. 
Die engliſche Armee, wenn Ihr's erlaubt. 


Macbeth. 5 

Schaff dein Geſicht mir aus den Augen! — Seyton! 
— Ich kriege Herzweh, wenn ich's ſehe — Seyton! 
Das muß entſcheiden! Dieſer Stoß verſichert 

2085 Mein Glück auf immer, oder ſtürzt mich jetzt! 
— Ich habe lang' genug gelebt! Mein Frühling 
Sank bald ins Welken hin, in gelbes Laub, 
Und was das hohe Alter ſchmücken ſollte, 
Gehorſam, Liebe, Ehre, Freundestreu, 

2090 An alles das iſt nun gar nicht zu denken! 
Statt deſſen ſind mein Erbteil Haß und Flüche, 
Nicht laut, doch deſto inn'ger, Heuchelworte, 
Ein leerer Munddienſt, den das Herz mir gern 
Verweigerte, wenn es nur dürfte — Seyton! 


5. Auftritt 
Macbeth. Arzt. Seyton. 
; Seyton. 
2095 Was ift zu Eurem gnädigſten Befehl? 


Macbeth. 
Gibt's ſonſt was Neues? 


Seyton. 
N Herr, es hat ſich alles 
Beſtätigt, was erzählt ward. 


2100 


2105 


2110 


2115 


Fünfter Aufzug. 5. Auftritt 
Macbeth. 
Ich will fechten, 
Bis mir das Fleiſch von allen Knochen ab⸗ 
Gehackt iſt — Meine Rüſtung! 
Seyton. 
Herr, es eilt nicht. 
Macbeth. 


Ich will ſie anziehn. Schickt mehr Reiter aus, 
Durchſtreift das ganze Land, und an den Galgen, 
Wer von Gefahr ſpricht — Gib mir meine Rüſtung! 
— Wie ſteht's um unſre liebe Kranke, Doktor? 


Arzt. 
Krank nicht ſowohl, mein König, als beängſtigt 
Von Phantaſien, die ihr die Ruhe rauben. 


Macbeth. i 

So heile ſie davon. Kannſt du ein krankes 
Gemüt von ſeinem Grame nicht befrein, 
Ein tief gewurzelt quälendes Bewußtſein 
Nicht aus der Seele heilend ziehen, nicht 
Die tiefen Furchen des Gehirnes glätten, 
Nicht ſonſt mit irgend einem ſüßen Mohn 
Den Krampf auflöſen, der das Herz erſtickt? 


Arzt. 
Herr, darin muß die Kranke ſelbſt ſich raten. 


Macbeth. 
So fluch' ich deiner Kunſt, mir frommt ſie nicht. 
(Zu dem Diener.) 


Kommt! Meine Rüſtung! Gebt mir meinen Stab! 
(Indem er ſich waffnet.) - 
— Du, Seyton, ſchicke — Doktor! Mich verlaſſen 


105 


Die Than — Komm! Komm! Mach' Hurtig — Guter 


Doktor, 


106 Macbeth 


Wenn du die Krankheit meines Königreichs 
Ausſpähn, ſein ſcharfes Blut verſüßen, ihm 

212⁰ Das vor'ge Wohlſein könnteſt wiedergeben, 
Dann wollt' ich deiner Taten Herold ſein 
Und Echo ſelbſt mit deinem Lob ermüden. 
— Was für Rhabarber, Senna oder andre 
Purganzen möchten wohl dies brit'ſche Heer 

2125 Abführen? Sprich! Vernahmſt du nichts davon? 


Arzt. 
Ja, mein Gebieter. Eure kriegriſchen 
Anſtalten machen, daß wir davon hören. 


Macbeth. 
Laßt ſie heranziehn — Mich erſchreckt kein Feind, 
Bis Birnams Wald vor Dunſinan erſcheint. 


Arzt (ur ſich). 
2130 Wär' ich nur erſt mit ganzer Haut davon, 
Zurücke brächte mich kein Fürſtenlohn! 


Macbeth. 

Dies feſte Schloß trotzt der Belagerung! 

Laßt ſie da liegen, bis der Hunger ſie, 

Die Peſt ſie aufgerieben. Stünden ihnen 
2135 Nicht die Verräter bei, die uns verließen, 

Wir hätten ſie, Bart gegen Bart, empfangen 

Und heimgepeitſcht — 

(Hinter der Szene wird gerufen.) 


Was für ein Lärm iſt das? 
Seyton. 
Es ſind die Weiber, welche ſchrein, mein König. 
(Eilt hinaus mit dem Arzt.) 
Macbeth. 
Ich habe keinen Sinn mehr für die Furcht. 
2140 Sonſt gab es eine Zeit, wo mir der Schrei 


enen gotten =e 


2145 


2150 


2155 


2160 


Fünfter Aufzug. 6. Auftritt 107 


Der Eule Grauen machte, wo mein Haar 

Bei jedem Schrecknis in die Höhe ſtarrte, 

Als wäre Leben drin — Jetzt iſt es anders. 

Ich hab' zu Nacht gegeſſen mit Geſpenſtern, 

Und voll geſättigt bin ich von Entſetzen. 
(Seyton kömmt zurück.) 

Was gibt's? Was iſt geſchehn? 


6. Auftritt 


Macbeth. Seyton. 


Seyton. 
Die Königin 

Iſt tot! 

Macbeth (nach einem langen Stillſchweigen). 

Wär' ſie ein andermal geſtorben! 

Es wäre wohl einmal die Zeit gekommen 
Zu ſolcher Botſchaft! 

(Nachdem er gedankenvoll auf und ab gegangen.) 

Morgen, Morgen 

Und wieder Morgen kriecht in ſeinem kurzen Schritt 
Von einem Tag zum andern, bis zum letzten 
Buchſtaben der uns zugemeßnen Zeit, 
Und alle unſre Geſtern haben Narren 
Zum modervollen Grabe hingeleuchtet! 
— Aus, aus, du kleine Kerze! Was iſt Leben? 
Ein Schatte, der vorüberſtreicht! Ein armer Gaukler, 
Der ſeine Stunde lang ſich auf der Bühne 
Zerquält und tobt, dann hört man ihn nicht mehr. 
Ein Mürchen iſt es, das ein Tor erzählt, 
Voll Wortſchwall, und bedeutet nichts. 


2165 


2170 


2175 


108 Macbeth 


7. Auftritt 


Vorige. Ein Bote. 


Macbeth. 
Du kommſt, 
Die Zunge zu gebrauchen, faſſ' dich kurz. 
Bote. 


Herr! Ich — ich ſollte ſagen, was ich ſah, 
Und weiß nicht, wie ich's ſagen ſoll. 


Macbeth. 


Bote. 
Als ich auf meinem Poſten ſtand am Hügel, 
Sah ich nach Birnam, und da dauchte mir, 
Als ob der Wald anfing, ſich zu bewegen. 


Macbeth (faßt ihn wütend an). 
Du Lügner und verdammter Böſewicht! 


Bote. 
Herr, laßt mich Euren ganzen Grimm erfahren, 
Wenn's nicht ſo iſt. Auf Meilenweite könnt Ihr ihn 
Selbſt kommen ſehen. Wie ich ſage, Herr! 
Ein Wald, der wandelt. 


Macbeth. 

Menſch! Haſt du gelogen, 
So hängſt du lebend an dem nächſten Baum, 
Bis dich der Hunger ausgedorrt. Sagſt du 
Die Wahrheit, nun ſo frag' ich nichts darnach, 
Ob du mit mir das gleiche tuſt — Mein Glaube 
Beginnt zu wanken, mir entweicht der Mut. 
Ich fürchte einen Doppelſinn des Teufels, 
Der Lügen ſagt wie Wahrheit — Fürchte nichts, 


Gut! Sag' es! 


2180 


2185 


2190 


2195 


Fünfter Aufzug. 8. Auftritt 109 


Bis Birnams Wald auf Dunſinan heranrückt! 
Und jetzo kommt ein Wald auf Dunſinan! 

Die Waffen an! Die Waffen und hinaus! 

Verhält ſich's wirklich alſo, wie er ſagt, 

So iſt kein Bleiben hier, ſo hilft kein Flüchten. 

Ich fange an, der Sonne müd zu ſein, 

Könnt' ich mit mir die ganze Welt vernichten! 
Schlagt Lärmen! Winde, ſtürmet! Brich herein, 
Zerſtörung! Will das Schickſal mit uns enden, 

So fallen wir, die Waffen in den Händen. (Ab.) 


Ein freier Platz vor der Feſtung, vorn Gebäude, in der 
Ferne Landſchaft, die ganze Tiefe des Theaters wird zu 
dieſer Szene genommen. 


8. Auftritt 


Malcolm. Seiward. Seiward Sohn. Maeduff. Roſſe. Angus. 

Lenox. Soldaten. Alle rücken aus der hinterſten Tiefe des Theaters 

mit langſamen Schritten vorwärts, die Zweige vor ſich her und über dem 
Haupte tragend. 


Malcolm 
(nachdem der Zug bis in die Mitte der Szene vorgerückt). 


Nun ſind wir nahe gnug — Werft eure grünen Schilde 
Hinweg und zeigt euch, wie ihr ſeid! — Ihr führt 
Das erſte Treffen an, mein würd' ger Oheim, 
Nebſt Eurem edeln Sohn — Indeſſen wir 
Und dieſer würd' ge Held (auf Macduff zeigend) 

nach unſerm Plan 
Das übrige beſorgen. 


(Die vordern Soldaten geben ihre Zweige an die hintern, von Glied zu 
Glied, ſo daß das Theater davon leer wird.) 
Seiward. 
Lebet wohl! 
Und finden wir den Feind noch vor der Nacht, 
So ſieht der Morgen die geſchlagne Schlacht. 


110 Macbeth 


Macduff. 
Gebt Atem allen kriegriſchen Trompeten, 


Den Herolden zum Morden und zum Töten. 
(Kriegriſche Muſik. Schlacht im Hintergrunde.) 


9. Auftritt 


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Macbeth. Dann der junge Seiward. 


Macbeth. 
Sie haben mich an einen Pfoſten angebunden, 
2200 Entfliehen kann ich nicht. Ich muß mein Leben 
Verteidigen, wie ein gehetzter Bär! 
Wer iſt der, den kein Weib gebar! Ihn hab' ich 
Zu fürchten, keinen ſonſt. 


f 


Junger Seiward (tritt auf). 
Wie iſt dein Name? 


Macbeth. 
Hör' ihn und zittre! 
Junger Seiward. 
Zittern werd' ich nicht, 
22005 Und gäbſt du dir auch einen heißern Namen 
Als einer in der Höll'. 


Macbeth. 
Mein Nam' iſt Macbeth. 


Junger Seiward. 
Der Satan ſelbſt kann keinen ſcheußlichern mir nennen. 


, Macbeth. 


Und keinen furchtbarern! 


2210 


2215 


2220 


2225 


Fünfter Aufzug. 11. Auftritt 111 


Junger Seiward. 
Du lügſt, verworfner 
Tyrann! Mit meinem Schwert will ich beweiſen, 


Daß du das lügſt! 
(Sie fechten. Der junge Seiward fällt.) 


Macbeth. 
Dich hat ein Weib geboren! 
Der Schwerter lach' ich, die von Sterblichen 


Geſchwungen werden, die ein Weib gebar! 
(Er geht ab. Die Schlacht dauert fort.) 


10. Auftritt 


Maeduff tritt auf. 


Der Lärm iſt dorthin! — Zeige dich, Tyrann! 
Fällſt du von einer andern Hand als meiner, 

So plagen mich die Geiſter meines Weibes 

Und meiner Kinder ruhelos. Ich kann 

Das Schwert nicht ziehen gegen jene Kernen, 

Die man gedungen hat, den Speer zu tragen. 

Du biſt es, Macbeth — oder ungebraucht 

Steck' ich mein Schwert zurück in ſeine Scheide. 
Dort mußt du ſein — Der große Lärm und Drang 
Macht einen Krieger kund vom erſten Rang, 

Laß mich ihn finden, Glück! Ich will nicht mehr. (Ab.) 


11. Auftritt 


Seiward und Malcolm treten auf. 


Seiward. 


Hieher, mein Prinz — Das Schloß hat ſich ergeben, 
Die Völker des Tyrannen weichen ſchon; 


112 Macbeth 


Die edeln Thane fechten tapfer, nur 
Noch wen'ge Arbeit, und der Tag iſt unſer! 


Malcolm. 
Wir haben es mit Feinden, deren Streiche 
An uns vorbeigehn! 
Seiward. 
Folgt mir in die Feſtung. (Ab.) 


N Sg IS 


12. Auftritt 
Macbeth. Gleich darauf Maeduff. 


Macbeth. 
220 Warum ſoll ich den röm'ſchen Narren ſpielen 
Und in das eigne Schwert mich ſtürzen? Nein, 
So lang' ich Lebende noch um mich ſehe, 
Wend' ich es beſſer an! 
(Indem er abgehn will, kömmt Macduff auf die Szene.) 


Macduff. 
Steh, Höllenhund! 


Macbeth. 
Du biſt der einzige von allen Menſchen, 
22385 Den ich vermied — Geh! Meine Seele iſt 
Genug beladen ſchon mit deinem Blut. 


Macduff. 
Ich hab' nicht Worte, meine Stimme iſt 
In meinem Schwert — Du Böswicht, blutiger, 


Als Worte es beſchreiben. 
Er dringt wütend auf ihn ein, ſie fechten eine Zeitlang ohne Entſcheidung.) 


Macbeth linnehaltend). 
Du verlierſt die Müh. 
2210 So leicht vermöchteſt du die geiſt'ge Luft 


Fünfter Aufzug. 12. Auftritt 


Mit deines Schwertes Schneide zu verletzen, 

Als Macbeth bluten machen! Laß dein Eiſen 

Auf Schädel fallen, die verwundbar ſind; 

In meiner Bruſt wohnt ein bezaubert Leben, 
2245 Das keinem weichet, den ein Weib gebar. 


Marduff. 
Nun ſo verzweifle denn an deinem Zauber 
Und laß den Teufel dir, dem du von je 
Gedient, kund tun, daß Maeduff vor der Zeit 
Aus ſeiner Mutter Leib geſchnitten iſt. 


Macbeth. 

2250 Die Zunge ſei verflucht, die mir das ſagt! 
Sie hat das Beſte meiner Männerkraft 
Entnervt! Verflucht, wer dieſen gaukelnden 
Dämonen ferner traut, die hinterliſtig 
Mit Doppelſinn uns täuſchen, unſerm Ohr 

2255 Wort halten, unſre Hoffnung hintergehn! 
— Ich will nicht mit dir fechten. 


Macduff. 


113 


So ergib dich, Memme, 


Und lebe, um die Fabel und das Schauſpiel 
Der Zeit zu ſein. Wir wollen dich, wie irgend 
Ein ſeltnes Ungeheuer, abgemalt 

2260 Auf einer Stange tragen und darunter ſchreiben: 
Hier iſt zu ſehen der Tyrann! 


Macbeth. 
Ich will 

Mich nicht ergeben, um vor dieſem Knaben 

Malcolm zu knieen und den Staub zu küſſen 

Und eures Pöbels Fluch ein Ziel zu ſein; 
2205 Iſt gleich der Birnam-Wald auf Dunfinan 

Herangerückt, biſt du, mein Gegner, gleich 

Schillers Werke. IX. 


114 Macheth 


Vom Weibe nicht geboren, dennoch fei 
Das Außerſte verſucht! Hier halt' ich 
Den kriegeriſchen Schild vor meinen Leib, 
2270 Fall aus, triff, und verdammt fei, wer zuerſt 
Ruft: Halt, genug! 
(Sie gehen fechtend ab.) 


13. Auftritt 


Man bläſt zum Abzug. Malcolm. Seiward. Roſſe. Angus. 


Lenox. Soldaten. 


Malcolm. 
Möcht' ich die edeln Freunde, die wir miſſen, 
Doch wohlerhalten wiederſehn! 


Seiward. 
Prinz! Ein'ge müſſen ſchon das Opfer werden, 
2275 Und wie ich ſeh', iſt dieſer große Tag 
Wohlfeil genug erkauft. 


Malcolm. 
Macduff und Euren edelmüt'gen Sohn 
Vermißt man. 
Voſſe. 


Euer edler Sohn, mein Feldherr, 
Bezahlte als ein Krieger ſeine Schuld, 
2280 Und nicht ſobald hatt' er ſein tapfres Herz 
Im Kampf bewährt, ſo ſtarb er als ein Mann. 


Seiward. 


Rolfe. 

Vom Schlachtfeld ſchon getragen. 

Meßt Euren Schmerz nicht ab nach ſeinem Wert, 
Sonſt wär' er grenzenlos. 


So iſt er tot? 


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2285 


2290 


2295 


2300 


Fünfter Aufzug. 14. Auftritt 115 


Seiward. 
Hat er die Wunden vorn? 


Rolfe. 
Ja, auf der Stirn. 


Seiward. 
Nun denn! So ſei er Gottes Mann! Hätt' ich 
So viel der Söhne, als ich Haare habe, 
Ich wünſchte keinem einen ſchönern Tod. 
Sein Grablied iſt geſungen. 


Malcolm. 
Ihm gebührt 
Ein größer Leid; das ſoll ihm werden. 


Seiward. 
Ihm 
Gebührt nicht mehr. Sie ſagen, er ſchied wohl 
Und zahlte ſeine Zeche. Gott mit ihm! 
— Da kommt uns neuer Troſt! 


Letzter Auftritt 
Vorige. Macduff mit der Rüſtung und Krone Macebeths. 


Macduff. 
Heil dir, o König, denn du biſt's! Im Staube 
Liegt der Tyrann, und hier iſt ſeine Beute. 
Die Zeit iſt wieder frei, ich ſehe dich 
Umgeben von den Edeln deines Reichs, 
Sie ſprechen meinen Gruß im Herzen nach, 
Und ihre Stimmen miſchen ſich mit meiner: 
Heil Schottlands König! 


Alle. 
Heil dem König Schottlands! 


(Trompetenſtoß.) 


116 Macbeth 


Malcolm. 

Wir wollen keinen Augenblick verlieren, 

Mit euer aller Liebe Abrechnung 

Zu halten und mit jedem quitt zu werden. 

Ruhmvolle Thans und Vettern, ihr ſeid Grafen 
2305 Von heute an: die erften, welche Schottland 

Mit dieſem Ehrennamen grüßt — Was nun 

Die erſte Sorge unſers Regiments 

Sein muß, die Rückberufung der Verbannten, 

Die vor der Tyrannei geflohen, die Beſtrafung 
2310 Der blut'gen Diener dieſes toten Schlächters 

Und ſeiner teufeliſchen Königin, 

Die, wie man ſagt, gewaltſam blut'ge Hand 

Gelegt hat an ſich ſelbſt, dies, und was ſonſt 

Noch not tut, wollen wir mit Gottes Gnade 
2315 Nach Maß und Ort und Zeit zu Ende bringen. 

Und ſomit danken wir auf einmal allen 

Und laden euch nach Scone zu unſrer Krönung. 


Turandot, Prinzeſſin von China 


Ein tragikomiſches Märchen nach Gozzi 


Perſonen 


Altoum, fabelhafter Kaiſer von China. 
Turandot, ſeine Tochter. 

Adelma, eine tartariſche Prinzeſſin, ihre Sklavin. 
Zelima, eine andre Sklavin der Turandot. 
Skirina, Mutter der Zelima. 

Barak, ihr Gatte, ehmals Hofmeiſter des 
Kalaf, Prinzen von Aſtrachan. 

Timur, vertriebener König von Aſtrachan. 
Ismael, Begleiter des Prinzen von Samarkand. 
Tartaglia, Miniſter. 

Pantalon, Kanzler. 

Truffaldin, Aufſeher der Verſchnittenen. 
Brigella, Hauptmann der Wache. 

Doktoren des Divans. 

Sklaven und Sklavinnen des Serails. 


Erſter Aufzug 


Vorſtadt von Peckin. 


Proſpekt eines Stadttors. Eiſerne Stäbe ragen über demſelben 

hervor, worauf mehrere geſchorne, mit türkiſchen Schöpfen 

verſehene Köpfe als Masken und ſo, daß ſie als eine Zierat 
erſcheinen können, ſymmetriſch aufgepflanzt ſind. 


1. Auftritt 


Prinz Kalaf, in tartariſchem Geſchmack, etwas phantaſtiſch gekleidet, 
tritt aus einem Hauſe. Gleich darauf Barak, aus der Stadt kommend. 


Kalaf. 
Habt Dank, ihr Götter! Auch zu Peckin ſollt' ich 
Eine gute Seele finden! 


Barak 
(in perſiſcher Tracht, tritt auf, erblickt ihn und fährt erſtaunt zurück). 


Seh' ich recht? 
Prinz Kalaf! Wie? Er lebt nod! 


Kalaf lerkennt ihn). 
Barak! 


Barak (auf ihn zueilend). 
a Herr! 


Dich find' ich hier! 
Barak, 
Euch ſeh' ich lebend wieder! 


Und hier zu Peckin! 


122 Turandot, Pringeffin von China 


Kalaf. 
Schweig. Verrat mich nicht! 
Beim großen Lama! Sprich! Wie biſt du hier? 


Barak. 
Durch ein Geſchick der Götter, muß ich glauben, 


10 


15 


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25 


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35 


Da es mich hier mit Euch zuſammenführt. 
An jenem Tag des Unglücks, als ich ſah, 
Daß unſre Völker flohen, der Tyrann 
Von Tefflis unaufhaltſam in das Reich 
Eindrang, floh ich nach Aſtrachan zurück, 


Bedeckt mit ſchweren Wunden. Hier vernahm ich, 


Daß Ihr und König Timur, Euer Vater, 
Im Treffen umgekommen. Meinen Schmerz 
Erzähl' ich nicht, verloren gab ich alles. 

Und ſinnlos eilt' ich zum Palaſte nun, 
Elmazen, Eure königliche Mutter, 

Zu retten, doch ich ſuchte ſie vergebens! 
Schon zog der Sieger ein zu Aſtrachan, 


Und in Verzweiflung eilt' ich aus den Toren. 


Von Land zu Lande irrt' ich flüchtig nun 
Drei Jahre lang umher, ein Obdach ſuchend, 
Bis ich zuletzt nach Peckin mich gefunden. 
Hier unterm Namen Haſſan glückte mir's, 
Durch treue Dienſte einer Witwe Gunſt 
Mir zu erwerben, und ſie ward mein Weib; 
Sie kennt mich nicht, ein Perſer bin ich ihr. 
Hier leb' ich nun, obwohl gering und arm 
Nach meinem vor'gen Los, doch überreich 
In dieſem Augenblicke, da ich Euch, 

Den Prinzen Kalaf, meines Königs Sohn, 
Den ich erzogen, den ich Jahre lang 

Für tot beweint, im Leben wiederſehe! 

— Wie aber lebend? Wie in Peckin hier? 


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5 


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40 


45 


50 


55 


60 


65 


Erſter Aufzug. 1. Auftritt 
Kalaf. 


Nenne mich nicht. Nach jener unglückſel'gen Schlacht 


Bei Aſtrachan, die uns das Reich gekoſtet, 
Eilt' ich mit meinem Vater zum Palaſt; 
Schnell rafften wir das Koſtbarſte zuſammen, 
Was ſich an Edelſteinen fand, und flohn. 

In Bauertracht verhüllt durchkreuzten wir, 
Der König und Elmaze, meine Mutter, 

Die Wüſten und das felſigte Gebirg. 

Gott! Was erlitten wir nicht da! Am Fuß 
Des Kaukaſus raubt' eine wilde Horde 

Von Malandrinen uns die Schätze; nur 

Das nackte Leben blieb uns zum Gewinn. 

Wir mußten kämpfen mit des Hungers Qualen 
Und jedes Elends mannigfacher Not. 

Den Vater trug ich bald und bald die Mutter 
Auf meinen Schultern, eine teure Laſt. 

Kaum wehrt' ich ſeiner wütenden Verzweiflung, 
Daß er den Dolch nicht auf ſein Leben zuckte; 
Die Mutter hielt ich kaum, daß ſie, von Gram 
Erſchöpft, nicht niederſank! So kamen wir 
Nach Jaik endlich, der Tartarenſtadt, 

Und hier, an der Moſcheen Tor, mußt' ich 
Ein Bettler flehen um die magre Koſt, 

Der teuren Eltern Leben zu erhalten. 

— Ein neues Unglück! Unſer grimm'ger Feind, 
Der Chan von Tefflis, voll Tyrannenfurcht, 
Mißtrauend dem Gerücht von unſerm Tode, 
Er ließ durch alle Länder uns verfolgen. 
Vorausgeeilt fon war uns fein Befehl, 

Der alle kleinen Könige ſeiner Herrſchaft 
Aufbot, uns nachzuſpähn. Nur ſchnelle Flucht 
Entzog uns ſeiner Spürer Wachſamkeit — 
Ach wo verbärg' ſich ein gefallner König! 


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124 Turandot, Prinzeſſin von China 


Barak. 
O nichts mehr! Eure Worte ſpalten mir 
Das Herz! Ein großer Fürſt in ſolchem Elend! 
Doch ſagt! Lebt mein Gebieter noch, und lebt 
Elmaze, meine Königin? 


Aalaf. 

Sie leben. 
Und wiſſe, Barak! In der Not allein 
Bewähret ſich der Adel großer Seelen. 
— Wir kamen in der Karazanen Land; 
Dort in den Gärten König Keikobads 
Mußt' ich zu Knechtes Dienſten mich bequemen, 
Dem bittern Hungertode zu entfliehn. 
Mich ſah Adelma dort, des Königs Tochter, 
Mein Anblick rührte ſie, es ſchien ihr Herz 
Von zärtlichern Gefühlen als des Mitleids 
Sich für den fremden Gärtner zu bewegen. 
Scharf ſieht die Liebe, nimmer glaubte ſie 
Mich zu dem Los, wo ſie mich fand, geboren. 


— Doch weiß ich nicht, welch böſen Sternes Macht 


Der Karazanen König Keikobad 

Verblendete, den mächt'gen Altoum, 

Den Großchan der Chineſen, zu bekriegen. 
Das Volk erzählte Seltſames davon. 

Was ich berichten kann, iſt dies: beſiegt 
Ward Keikobad, ſein ganzer Stamm vertilgt, 
Adelma ſelbſt mit ſieben andern Töchtern 
Des Königs ward ertränkt in einem Strome. 
— Wir aber flohen in ein andres Land, 

So kamen wir nach langen Irren endlich 
Zu Berlas an — Was bleibt mir noch zu ſagen? 
Vier Jahre lang ſchafft' ich den Eltern Brot, 
Daß ich um dürft'ges Taglohn Laſten trug. 


ee = 


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Erſter Aufzug. 1. Auftritt 125 


Barak. 
Nicht weiter, Prinz. Vergeſſen wir das Elend, 
Da ich Euch jetzt in kriegeriſchem Schmuck 
Und Heldenſtaat erblicke. Sagt, wie endlich 
Das Glück Euch günſtig ward? 
Kalaf. 
Mir günſtig! Höre! 

Dem Chan von Berlas war ein edler Sperber 
Entwiſcht, den er in hohem Werte hielt. 
Ich fand den Sperber, überbracht' ihn ſelbſt 
Dem König — Dieſer fragt nach meinem Namen; 
Ich gebe mich für einen Elenden, 
Der ſeine Eltern nährt mit Laſtentragen. 
Drauf ließ der Chan den Vater und die Mutter 
Im Hoſpital verſorgen. 

(Er hält inne.) 

Barak! Dort, 

Im Aufenthalt des allerhöchſten Elends, 
Dort iſt dein König — deine Königin. 
Auch dort nicht ſicher, dort noch in Gefahr, 
Erkannt zu werden und getötet! 


Barak. 


Ralaf. 
Mir ließ der Kaiſer dieſe Börſe reichen, 
Ein ſchönes Pferd und dieſes Ritterkleid. 
Den greiſen Eltern ſag' ich Lebewohl; 
„Ich gehe“, rief ich, „mein Geſchick zu ändern, 
Wo nicht, dies traur'ge Leben zu verlieren!“ 
Was taten ſie nicht, mich zurückzuhalten 
Und, da ich ſtandhaft blieb, mich zu begleiten! 
Verhüt' es Gott, daß ſie, von Angſt gequält, 
Nicht wirklich meinen Spuren nachgefolgt! 
Hier bin ich nun, zu Peckin, unerkannt, 


Gott! 


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126 Turandot, Prinzeſſin von China 


Viel hundert Meilen weit von meiner Heimat; 
Entſchloſſen komm' ich her, dem großen Chan 
Vom Lande China als Soldat zu dienen, 
Ob mir vielleicht die Sterne günſtig ſind, 
Durch tapfre Tat mein Schickſal zu verbeſſern. 
— Ich weiß nicht, welche Feſtlichkeit die Stadt 
Mit Fremden füllt, daß kein Karvanſerai 
Mich aufnahm — dort in jener ſchlechten Hütte 
Gab eine Frau aus gutem Herzen mir 
Herberge. 
Barak, 
Prinz, das iſt mein Weib. 


Kalaf. 
Dein Weib? 
Preiſe dein Glück, daß es ein fühlend Herz 
Zur Gattin dir gegeben! 
(Er reicht ihm die Hand.) 
Jetzt leb' wohl. 
Ich geh' zur Stadt. Mich treibt's, die Feſtlichkeit 
Zu ſehn, die ſo viel Menſchen dort verſammelt. 
Dann zeig' ich mich dem großen Chan und bitt' 
Ihn um die Gunſt, in ſeinem Heer zu dienen. 
(Er will fort. Barak hält ihn zurück.) 
Barak. 
Bleibt, Prinz! Wo wollt Ihr hin? — Mögt Ihr das Aug' 
An einem grauſenvollen Schauſpiel weiden? 
O wiſſet, edler Prinz — Ihr kamt hieher 
Auf einen Schauplatz unerhörter Taten. 
Kalaf. 
Wie ſo? Was meinſt du? 
ö Barak. 
Wie, Ihr wißt es nicht, 
Daß Turandot, des Kaiſers einz'ge Tochter, 
Das ganze Reich in Leid verſenkt und Tränen? 


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Erſter Aufzug. 1. Auftritt 127 
Kalaf. 


Ja, ſchon vorlängſt im Karazanenland 

Hört' ich dergleichen — und die Rede ging, 

Es ſei der Prinz des Königs Keikobad 

Auf eine ſeltſam jammervolle Art 

Zu Peckin umgekommen — Eben dies 

Hab' jenes Kriegesfeuer angeflammt, 

Das mit dem Falle ſeines Reichs geendigt. 

Doch manches glaubt und ſchwatzt ein dummer Pöbel, 
Worüber der Verſtänd'ge lacht — darum 

Sag' an, wie ſich's verhält mit dieſer Sache. 


Barak. 
Des Großchans einz'ge Tochter, Turandot, 
Durch ihren Geiſt berühmt und ihre Schönheit, 
Die keines Malers Pinſel noch erreicht, | 
Wie viele Bildniſſe von ihr auch in der Welt 
Herumgehn, hegt ſo übermüt'gen Sinn, 
So großen Abſcheu vor der Ehe Banden, 
Daß ſich die größten Könige umſonſt 
Um ihre Hand bemüht — 


Kalaf. 
Das alte Märchen 
Vernahm ich ſchon am Hofe Keikobads 
Und lachte drob — Doch fahre weiter fort. 


Barak. 
Es iſt kein Märchen. Oft ſchon wollte ſie 
Der Chan, als einz'ge Erbin ſeines Reichs, 
Mit Söhnen großer Könige vermählen — 
Stets widerſetzte ſich die ſtolze Tochter, 
Und ach! zu blind iſt ſeine Vaterliebe, 
Als daß er Zwang zu brauchen ſich erkühnte. 
Viel ſchwere Kriege ſchon erregte ſie 
Dem Vater, und obgleich noch immer Sieger 


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128 Turandot, Prinzeſſin von China 


In jedem Kampf, ſo iſt er doch ein Greis, 

Und unbeerbt wankt er dem Grabe zu. 

Drum ſprach er einsmals ernſt und wohlbedächtlich 
Zu ihr die ſtrengen Worte: „Störrig Kind! 
Entſchließe dich einmal, dich zu vermählen. 

Wo nicht, ſo ſinn' ein ander Mittel aus, 

Dem Reich die ew'gen Kriege zu erſparen; 
Denn ich bin alt; zu viele Könige ſchon 

Hab' ich zu Feinden, die dein Stolz verſchmähte. 
Drum nenne mir ein Mittel, wie ich mich 

Der wiederholten Werbungen erwehre, 

Und leb' hernach und ſtirb, wie dir's gefällt.“ — 
Erſchüttert ward von dieſem ernſten Wort 

Die Stolze, rang umſonſt, ſich loszuwinden, 

Die Kunſt der Tränen und der Bitten Macht 
Erſchöpfte ſie, den Vater zu bewegen; 

Doch unerbittlich blieb der Chan — Zuletzt 
Verlangt ſie von dem unglückſel'gen Vater, 
Verlangt — Hört, was die Furie verlangte! 


Kalaf. 
Ich hab's gehört. Das abgeſchmackte Märchen 
Hab' ich ſchon oft belacht — Hör', ob ich's weiß! 
Sie fordert' ein Edikt von ihrem Vater, 
Daß jedem Prinzen königlichen Stamms 
Vergönnt ſein ſoll', um ihre Hand zu werben. 
Doch dieſes ſollte die Bedingung ſein: 
Im öffentlichen Divan, vor dem Kaiſer 
Und ſeinen Räten allen wollte ſie 
Drei Rätſel ihm vorlegen. Löſte ſie 
Der Freier auf, ſo mög' er ihre Hand 
Und mit derſelben Kron' und Reich empfangen. 
Löſt er ſie nicht, ſo ſoll der Kaiſer ſich 
Durch einen heil'gen Schwur auf ſeine Götter 


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Erſter Aufzug. 1. Auftritt 129 


Verpflichten, den Unglücklichen enthaupten 
Zu laſſen. — Sprich, iſt's nicht ſo? Nun vollende 
Dein Märchen, wenn du's kannſt für langer Weile. 


Barak. 
Mein Märchen? Wollte Gott! — Der Kaiſer zwar 
Empört' ſich erſt dagegen, doch die Schlange 
Verſtand es, bald mit Schmeichelbitten, bald 
Mit liſt'ger Redekunſt das furchtbare 
Geſetz dem ſchwachen Alten zu entlocken. 
„Was iſt's dann auch?“ ſprach ſie mit arger Liſt, 
„Kein Prinz der Erde wird ſo töricht ſein, 
In ſolchem blut'gen Spiel ſein Haupt zu wagen! 
Der Freier Schwarm zieht ſich geſchreckt zurück, 
Ich werd' in Frieden leben. Wagt es dennoch 
Ein Raſender, ſo iſt's auf ſeine eigne 
Gefahr, und meinen Vater trifft kein Tadel, 
Wenn er ein heiliges Geſetz vollzieht!“ — 
Beſchworen ward das unnatürliche 


Geſetz und kund gemacht in allen Landen. 
(Da Kalaf den Kopf ſchüttelt.) 


— Ich wünſchte, daß ich Märchen nur erzählte 
Und ſagen dürfte: alles war ein Traum! 


Kalaf. 
Weil du's erzählſt, ſo glaub' ich das Geſetz. 
Doch ſicher war kein Prinz wahnſinnig gnug, 
Sein Haupt daran zu ſetzen. 


Barak (zeigt nach dem Stadttor). 
Sehet, Prinz! 
Die Köpfe alle, die dort auf den Toren 
Zu ſehen ſind, gehörten Prinzen an, 
Die toll genug das Abenteuer wagten 


Und kläglich ihren Untergang drin fanden, 
Schillers Werke. IX. 


130 Turandot, Pringeffin von China 


235 Weil ſie die Rätſel dieſer Sphinx zu löſen 
Nicht fähig waren. 
Kalaf. 
Grauſenvoller Anblick! 
Und lebt ein ſolcher Tor, der ſeinen Kopf 
Wagt, um ein Ungeheuer zu beſitzen! 
Barak. 
Nein! Sagt das nicht. Wer nur ihr Konterfei 
24⁰ Erblickt, das man ſich zeigt in allen Ländern, 
Fühlt ſich bewegt von ſolcher Zaubermacht, 
Daß er ſich blind dem Tod entgegen ſtürzt, 
Das göttergleiche Urbild zu beſitzen. 


Kalaf. 


Barak. 
Nein wahrlich! Auch der Klügſte. 

25 Heut' ijt der Zulauf hier, weil man den Prinzen 

Von Samarkandga, den verſtändigſten, 

Den je die Welt geſehn, enthaupten wird. 

Der Chan beſeufzt die fürchterliche Pflicht, 

Doch ungerührt frohlockt die ſtolze Schöne. 

(Man hört in der Ferne den Schall von gedämpften Trommeln.) 
250 Hört! Hört Ihr! dieſer dumpfe Trommelklang 

Verkündet, daß der Todesſtreich geſchieht; 

Ihn nicht zu ſehen, wich ich aus der Stadt. 


Kalaf. 
Barak, du ſagſt mir unerhörte Dinge. 
Was? Konnte die Natur ein weibliches 
25 Geſchöpf wie dieſe Turandot erzeugen, 
So ganz an Liebe leer und Menſchlichkeit? 


Barak. 
Mein Weib hat eine Tochter, die im Harem 
Als Sklavin dient und uns Unglaubliches 


Irgend ein Geck. 


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Erſter Aufzug. 2. Auftritt 131 


Von ihrer ſchönen Königin berichtet. 

Ein Tiger iſt ſie, dieſe Turandot, 

Doch gegen Männer nur, die um ſie werben. 
Sonſt iſt ſie gütig gegen alle Welt: 

Stolz iſt das einz'ge Laſter, das ſie ſchändet. 


Kalaf. 
Zur Hölle, in den tiefſten Schlund hinab 
Mit dieſen Ungeheuern der Natur, 
Die kalt und herzlos nur ſich ſelber lieben! 
Wär' ich ihr Vater, Flammen ſollten ſie 
Verzehren. 

Barak. 

Hier kommt Ismael, der Freund 

Des Prinzen, der ſein Leben jetzt verloren. 
Er kommt voll Tränen — Ismael! 


2. Auftritt 
Ismael zu den Vorigen. 


Ismael (reicht dem Barak die Hand, heftig weinend). 
Er hat 
Gelebt — Der Streich des Todes iſt gefallen. 
Ach! Warum fiel er nicht auf dieſes Haupt! 


Barak. 
Barmherz'ger Himmel! — Doch warum ließt Ihr 
Geſchehn, daß er im Divan der Gefahr 
Sich bloßgeſtellt? 

Asmael. 

Mein Unglück braucht noch Vorwurf. 

Gewarnt hab' ich, beſchworen und gefleht, 
Wie es mein Herz, wie's meine Pflicht mich lehrte — 


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800 


Beruhigt Euch. 


132 Turandot, Prinzeſſin von China 


Umſonſt! Des Freundes Stimme wurde nicht 
Gehört, die Macht der Götter riß ihn fort. 


Barak. 


Ismael, 
Beruhigen? Niemals! Niemals! 
Ich hab' ihn ſterben ſehen. Sein Gefährte 
War ich in ſeinem letzten Augenblick, 
Und ſeine Abſchiedsworte gruben ſich 
Wie ſpitz'ge Dolche mir ins tiefſte Herz. 
„Weine nicht!“ ſprach er. „Gern und freudig ſterb' ich, 
Da ich die Liebſte nicht beſitzen kann. 
Mag es mein teurer Vater mir vergeben, 
Daß ich ohn' Abſchied von ihm ging. Ach, nie 
Hätt' er die Todesreiſe mir geſtattet! 
Zeig' ihm dies Bildnis! 

(Er zieht ein kleines Porträt an einem Band aus dem Buſen.) 
Wenn er dieſe Schönheit 

Erblickt, wird er den Sohn entſchuldigen.“ 
Und an die Lippen drückt' er jetzt, lautſchluchzend, 
Mit heft'gen Küſſen dies verhaßte Bild, 
Als könnt' er, ſterbend ſelbſt, nicht davon ſcheiden; 
Drauf kniet' er nieder, und — mit einem Streich — 
Noch zittert mir das Mark in den Gebeinen — 
Sah ich Blut ſpritzen, ſah den Rumpf hinfallen 
Und hoch in Henkers Hand das teure Haupt; 
Entſetzt und troſtlos riß ich mich von dannen. 

(Wirft das Bild in heftigem Unwillen auf den Boden.) 
Verhaßtes, ewig fluchenswertes Bild! 
Liege du hier, zertreten, in dem Staub! 
Könnt' ich ſie ſelbſt, die Tigerherzige, 
Mit dieſem Fußtritt ſo wie dich zermalmen! 
Daß ich dich meinem König überbrächte! 


Erſter Aufzug. 3. Auftritt 133 


30s Nein, mich ſoll Samarkand nicht wieder ſehn. 


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In eine Wüſte will ich fliehn und dort, 
Wo mich kein menſchlich Ohr vernimmt, auf ewig 
Um meinen vielgeliebten Prinzen weinen. (Geht ab.) 


3. Auftritt 
Kalaf und Barak. 


Barak (nach einer Pauſe). 
Prinz Kalaf, habt Ihr's nun gehört? 


Ralaf. 
Ich ſtehe 
Ganz voll Verwirrung, Schrecken und Erſtaunen. 
Wie aber mag dies unbeſeelte Bild, 


Das Werk des Malers ſolchen Zauber wirken? 
(Er will das Bildnis von der Erde nehmen.) 


Barak leilt auf ihn zu und hält ihn zurück). 
Was macht Ihr! — Große Götter! 
Kalaf (lächelnd). 
Nun! Ein Bildnis 
Nehm' ich vom Boden auf. Ich will ſie doch 
Betrachten, dieſe mörderiſche Schönheit. 
(Greift nach dem Bildnis und hebt es von der Erde auf.) 
Barak (ihn haltend). 
Euch wäre beſſer, der Meduſa Haupt 
Als dieſe tödliche Geſtalt zu ſehn. 
Weg! Weg damit! Ich kann es nicht geſtatten. 


Ralaf. 
Du biſt nicht klug. Wenn du ſo ſchwach dich fühlſt, 
Ich bin es nicht. Des Weibes Reiz hat nie 
Mein Aug' gerührt, auch nur auf Augenblicke, 


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134 Turandot, Prinzeſſin von China 


Viel weniger mein Herz beſiegt. Und was 
Lebend'ge Schönheit nie bei mir vermocht, 
Das ſollten tote Pinſelſtriche wirken? 
Unnütze Sorgfalt, Barak — Mir liegt andres 
Am Herzen als der Liebe Narrenſpiel. 
(Will das Bildnis anſchauen.) 
Barak. 
Dennoch, mein Pring — Ich warn’ Euch — Tut es nicht. 
Kalaf (ungeduldig). 
Zum Henker, Einfalt! Du beleidigſt mich. 
(Stößt ihn zurück, ſieht das Bild Ais 21 gerät in Erſtaunen. Nach einer 
auſe. 
Was ſeh' ich! 


Barak (ringt verzweifelnd die Hände). 
Weh mir! Welches Unglück! 


Kalaf (faßt ihn lebhaft bei der Hand). 


Barak! 


(Will reden, ſieht aber wieder auf das Bild und betrachtet es mit Ent⸗ 
zücken.) 


Barak (vor ſich). 
Seid Zeugen, Götter — Ich, ich bin nicht ſchuld, 
Ich hab' es nicht verhindern können. 


Kalaf. 
Barak! 
— In dieſen holden Augen, dieſer ſüßen 
Geſtalt, in dieſen ſanften Zügen kann 
Das harte Herz, wovon du ſprichſt, nicht wohnen! 


Barak. 
Unglücklicher, was hör' ich? Schöner noch 
Unendlichmal, als dieſes Bildnis zeigt, 
Iſt Turandot, ſie ſelbſt! Nie hat die Kunſt 
Des Pinſels ihren ganzen Reiz erreicht, 
Doch ihres Herzens Stolz und Grauſamkeit 


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Erſter Aufzug. 3. Auftritt 135 


Kann keine Sprache, keine Zunge nennen. 
O werft es von Euch, dies unſelige 
Verwünſchte Bildnis! Euer Auge ſauge 
Kein tödlich Gift aus dieſer Mordgeſtalt! 


Aalaf. 

Hinweg! Vergebens ſuchſt du mich zu ſchrecken! 
— Himmliſche Anmut! Warme glühende Lippen! 
Augen der Liebesgöttin! Welcher Himmel, 

Die Fülle dieſer Reize zu beſitzen! 


(Er ſteht in den Anblick des Bildes verloren, plötzlich wendet er ſich zu 


Barak und ergreift ſeine Hand.) 
Barak! Verrat mich nicht — Jetzt oder nie! 
Dies iſt der Augenblick, mein Glück zu wagen. 
Wozu dies Leben ſparen, das ich haſſe? 
— Ich muß auf einen Zug die ſchönſte Frau 
Der Erde und ein Kaiſertum mit ihr 
Gewinnen, oder dies verhaßte Leben 
Auf einen Zug verlieren — Schönſtes Werk! 
Pfand meines Glücks und meine ſüße Hoffnung! 
Ein neues Opfer iſt für dich bereit 
Und drängt ſich wagend zu der furchtbarn Probe. 
Sei gütig gegen mich — Doch, Barak, ſprich! 
Ich werde doch im Divan, eh' ich ſterbe, 
Das Urbild ſelbſt von dieſen Reizen ſehn? 


(Indem ſieht man die fürchterliche Larve eines Nachrichters ſich über dem 
Stadttor erheben und einen neuen Kopf über demſelben aufpflanzen — 
der vorige Schall verſtimmter Trommeln begleitet dieſe Handlung.) 


Barak. 
Ach fehet! ſehet, teurer Prinz, und ſchaudert! 
Dies iſt das Haupt des unglückſel'gen Jünglings — 
Wie es Euch anſtarrt! Und dieſelben Hände, 
Die es dort aufgepflanzt, erwarten Euch. 
O kehret um! kehrt um! Nicht möglich iſt's, 
Die Rätſel dieſer Löwin aufzulöſen. 


136 Turandot, Pringeffin von China 


Ich ſeh' im Geiſt ſchon Euer teures Haupt, 
Ein Warnungszeichen allen Jünglingen, 
In dieſer furchtbarn Reihe ſich erheben. 


Ralaf 
chat das aufgeſteckte Haupt mit Nachdenken und Rührung betrachtet). 


870 Verlorner Jüngling! Welche dunkle Macht 
Reißt mich geheimnisvoll, unwiderſtehlich 
Hinauf in deine tödliche Geſellſchaft? 
(Er bleibt nachſinnend ſtehen, dann wendet er ſich zu Barak.) 
— Wozu die Tränen, Barak? Haſt du mich 
Nicht einmal ſchon für tot beweint? Komm! Komm! 
876 Entdecke keiner Seele, wer ich bin. 
Vielleicht — wer weiß, ob nicht der Himmel, ſatt, 
Mich zu verfolgen, mein Beginnen ſegnet 
Und meinen armen Eltern Troſt verleiht. 
Wo nicht — was hat ein Elender zu wagen? 
380 Für deine Liebe will ich dankbar ſein, 


Wenn ich die Rütſel löſe — Lebe wohl! 
(Er will gehen, Barak hält ihn zurück, unterdeſſen kommt Skirina, Baraks 


Weib, aus dem Hauſe.) 
Barak. 
Nein, nimmermehr! Komm mir zu Hilfe, Frau! 
Laß ihn nicht weg — Er geht, er iſt verloren, 
Der teure Fremdling geht, er will es wagen, 
86 Die Rätſel dieſer Furie zu löſen. 


4. Auftritt 


Skirina zu den Vorigen. 


Kkirina (tritt ihm in den Weg). 
O weh! Was hör' ich? Seid Ihr nicht mein Gaſt? 
Was treibt den zarten Jüngling in den Tod? 


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Erſter Aufzug. 5. Auftritt 137 


Kalaf. 
Hier, gute Mutter! Dieſes Götterbild 


Ruft mich zu meinem Schickſal. 
(Beigt ihr das Bildnis.) 


Skirina. 
Wehe mir! 
Wie kam das höll'ſche Bild in ſeine Hand? 


Barak, 
Durch bloßen Zufall. 


Kalaf (tritt zwiſchen beide). 

Haſſan! gute Frau! 
Zum Dank für eure Gaſtfreundſchaft behaltet 
Mein Pferd, auch dieſe Börſe nehmet hin, 
Sie iſt mein ganzer Reichtum — Ich — ich brauche 
Fortan nichts weiter — denn ich komm' entweder 
Reich wie ein Kaiſer, oder — nie zurück! 
— Wollt ihr, ſo opfert einen Teil davon 
Den ew'gen Göttern, teilt den Armen aus, 
Damit fie Glück auf mich herab erflehen; 
Lebt wohl — Ich muß in mein Verhängnis gehen! 

(Er eilt in die Stadt.) 


5. Auftritt 
Barak und Skirina. 


Bar ak (will ihm folgen). 
Mein Herr! Mein armer Herr! Umſonſt! Er geht! 
Er hört mich nicht. 
Skirina (neugierig). 
Dein Herr? Du kennſt ihn alſo? 
O ſprich, wer iſt der edelherz'ge Fremdling, 
Der ſich dem Tode weiht? 


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138 Turandot, Pringeffin von China 


Barak. 

Laß dieſe Neugier. 
Er iſt geboren mit ſo hohem Geiſt, 
Daß ich nicht ganz an dem Erfolg verzweifle. 
— Komm, Skirina. All dieſes Gold laß uns 
Und alles, was wir eigenes beſitzen, = 
Dem Fohi opfern und den Armen ſpenden: 
Gebete ſollen ſie für ihn gen Himmel ſenden 
Und ſollen wund ſich knien an den Altären, 


Bis die erweichten Götter ſie erhören! 
(Sie gehen nach ihrem Hauſe.) 


Zweiter Aufzug 


Großer Saal des Divans mit zwei Pforten, davon die eine 
zu den Zimmern des Kaiſers, die andere ins Serail der 
Prinzeſſin Turandot führt. 


1. Auftritt 


Truffaldin als Anführer der Verſchnittenen ſteht gravitätiſch in der 
Mitte der Szene und befiehlt ſeinen Schwarzen, welche beſchäftigt ſind, 
den Saal in Ordnung zu bringen. Bald darauf Brigella. 


Truffaldin. 
Friſch an das Werk! Rührt euch! Gleich wird der Divan 
Beiſammen ſein. — Die Teppiche gelegt, 
Die Throne aufgerichtet! Hier zur Rechten 
Kommt kaiſerliche Majeſtät, links meine 
Scharmante Hoheit die Prinzeß zu ſitzen! 


Brigella (kommt und fieht ſich verwundernd um). 
Mein! Sagt mir, Truffaldin, was gibt's denn Neues, 
Daß man den Divan ſchmückt in ſolcher Eile? 


Zweiter Aufzug. 1. Auftritt 139 
Truffaldin 


(ohne auf ihn zu hören, zu den Schwarzen). 

420 Acht Seſſel dorthin für die Herrn Doktoren! 

Sie haben hier zwar nicht viel zu dozieren, 

Doch müſſen ſie, weil's was Gelehrtes gibt, 
Mit ihren langen Bärten figurieren. 


Brigella. 
So redet doch! Warum, wozu das alles? 


Truffaldin. 
46 Warum? Wozu? Weil ſich die Majeſtät 
Und meine ſchöne Königin, mit ſamt 
Den acht Doktoren und den Exzellenzen, 
Sogleich im Divan hier verſammeln werden. 
's hat ſich ein neuer, friſcher Prinz gemeldet, 
430 Den's jückt, um einen Kopf ſich zu verkürzen. 


Brigella. 
Was? Nicht drei Stunden ſind's, daß man den letzten 


Hat abgetan — 
Truffaldin. 


Ja, Gott ſei Dank. Es geht 
Von ſtatten, die Geſchäfte gehen gut. 


Brigella. ° 
Und dabei könnt Ihr ſcherzen, roher Kerl! 
435 Euch freut wohl das barbariſche Gemetzel? 


Truffaldin. 

Warum ſoll mich's nicht freuen? Setzt doch immer 
Für meinen Schnabel was, wenn ſo ein Neuer 
Die große Reiſe macht — denn jedesmal, 
Daß meine Hoheit an der Hochzeitklippe 

440 Vorbeiſchifft, gibt's im Harem Hochzeitkuchen. 
Das iſt einmal der Brauch, wir tun's nicht anders: 
So viele Köpfe, ſo viel Feiertage! 


140 Turandot, Prinzeſſin von China 


Brigella. 
Das ſind mir heillos niederträchtige 
Geſinnungen, ſo ſchwarz wie Eure Larve. 

445 Man ſieht's Euch an, daß Ihr ein Halbmann ſeid, 
Ein ſchmutziger Eunuch! — Ein Menſch, ich meine 
Einer, der ganz iſt, hat ein menſchlich Herz 
Im Leib und fühlt Erbarmen. 


Truffaldin. 
Was! Erbarmen! 

Es heißt kein Menſch die Prinzen ihren Hals 
40 Nach Peckin tragen, niemand ruft fie her. 

Sind ſie freiwillig ſolche Tollhausnarren, 

Mögen ſie's haben! Auf dem Stadttor ſteht's 

Mit blut'gen Köpfen leſerlich geſchrieben, 

Was hier zu holen iſt — Wir nehmen keinem 
456 Den Kopf, der einen mitgebracht. Der hat 

Ihn ſchon verloren, längſt, der ihn hier ſetzt! 


Brigella. 
Ein ſaubrer Einfall, den galanten Prinzen, 
Die ihr die Ehr' antun und um ſie werben, 
Drei Rätſel aufzugeben und, wenn's einer 
40 Nicht auf der Stelle trifft, ihn abzuſchlachten! 


Truffaldin. 

Mit nichten, Freund! Das iſt ein prächtiger, 

Exzellenter Einfall! — Werben kann ein jeder, 

Es iſt nichts leichter als aufs Freien reiſen. 

Man lebt auf fremde Koſten, tut ſich gütlich, 
4 Legt fic) dem künft'gen Schwäher in das Haus, 

Und mancher jüngre Sohn und Krippenreiter, 

Der alle ſeine Staaten mit ſich führt 

Im Mantelſack, lebt bloß vom Körbeholen. 

Es war nicht anders hier als wie ein großes 


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Zweiter Aufzug. 1. Auftritt 141 


Wirtshaus von Prinzen und von Abenteurern, 
Die um die reiche Kaiſertochter freiten, 

Denn auch der Schlechtſte dünkt ſich gut genug, 
Die Hände nach der Schönſten auszuſtrecken. 
Es war wie eine Freikomödie, 

Wo alles kommt, bis meine Königin 

Auf den ſcharmanten Einfall kam, das Haus 
In vier und zwanzig Stunden rein zu machen. 
— Eine andre hätte ihre Liebeswerber 

Auf blutig ſchwere Abenteuer aus 

Geſendet, ſich mit Rieſen 'rum zu ſchlagen, 
Dem Schach zu Babel, wenn er Tafel hält, 
Drei Backenzähne höflich auszuziehen, 

Das tanzende Waſſer und den ſingenden Baum 
Zu holen und den Vogel, welcher redet — 
Nichts von dem allen! Rätſel haben ihr 
Beliebt! Drei zierlich wohlgeſetzte Fragen! 
Man kann dabei bequem und ſäuberlich 

In warmer Stube ſitzen, und kein Schuh 
Wird naß! Der Degen kommt nicht aus der Scheide, 
Der Witz, der Scharfſinn aber muß heraus. 

— Brigella, die verſteht's! die hat's gefunden, 
Wie man die Narren ſich vom Leibe hält! 


Brigelia. 
's kann einer ein rechtſchaffner Kavalier 
Und Ehmann ſein und doch die ſpitz'gen Dinger, 
Die Rätſel juſt nicht handzuhaben wiſſen. 


Truffaldin. 
Da ſiehſt du, Kamerad, wie gut und ehrlich 
Es die Prinzeß mit ihrem Freier meint, 
Daß ſie die Rätſel vor der Hochzeit aufgibt. 
Nachher wär's noch viel ſchlimmer. Löſt er ſie 
Jetzt nicht, ei nun, ſo kommt er ſchnell und kurz 


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142 Turandot, Prinzeſſin von China 


Mit einem friſchen Gnadenhieb davon. 
Doch wer die ſtachelichten Rätſel nicht 
Auflöſt, die ſeine Frau ihm in der Eh' 
Aufgibt, der iſt verleſen und verloren! 


Brigella. 
Ihr feid ein Narr, mit Euch iſt nicht zu reden. 
— So mögen's denn meintwegen Rätſel ſein, 
Wenn ſie einmal die Wut hat, ihren Witz 
Zu zeigen — Aber muß ſie denn die Prinzen 
Juſt köpfen laſſen, die nicht ſinnreich gnug 
Für ihre Rätſel ſind — Das iſt ja ganz 
Barbariſch, raſend toll und unvernünftig. 
Wo hat man je gehört, daß man den Leuten 
Den Hals abſchneidet, weil ſie ſchwer begreifen? 


Truffaldin. 
Und wie, du Schafskopf, will ſie ſich der Narren 
Erwehren, die ſich klug zu ſein bedünken, 
Wenn weiter nichts dabei zu wagen iſt, 
Als einmal ſich im Divan zu beſchimpfen? 
Auf die Gefahr hin, ſich zu proſtituieren 
Mit heiler Haut, läuft jeder auf dem Eis. 
Wer fürchtet ſich vor Rätſeln? Rätſel ſind's 
Gerad, was man fürs Leben gern mag hören. 
Das hieß den Köder ſtatt des Popanz's brauchen. 
Und wäre man auch wegen der Prinzeſſin 
Und ihres vielen Gelds daheim geblieben, 
So würde man der Rätſel wegen kommen. 
Denn jedem iſt ſein Scharfſinn und ſein Witz 
Am Ende lieber als die ſchönſte Frau! 


Brigella. 
Was aber kommt bei dieſem ganzen Spiel 
Heraus, als daß ſie ſitzen bleibt? Kein Mann, 


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Zweiter Aufzug. 2. Auftritt 143 


Der ſeine Ruh liebt und bei Sinnen iſt, 
Wird ſo ein ſpitz'ges Nadelkiſſen nehmen. 


Truffaldin. 
Das große Unglück, keinen Mann zu kriegen! 
(Man hört einen Marſch in der Ferne.) 


Brigella. 
Der Kaiſer kommt. 
Truffaldin. 


Marſch ihr in eure Küche! 


Ich gehe, meine Hoheit herzuholen. 
(Gehen ab zu verſchiedenen Seiten.) 


2. Auftritt 


Ein Zug von Soldaten und Spielleuten. Darauf acht Doktoren, 
pedantiſch herausſtaffiert; alsdann Pantalon und Tartaglia, beide in 
Charaktermasken. Zuletzt der Großchan Altoum, in chineſiſchem Geſchmack 
mit einiger Übertreibung gekleidet. Pantalon und Tartaglia ſtellen ſich 
dem kaiſerlichen Thron gegenüber, die acht Doktoren in den Hintergrund, 
das übrige Gefolge auf die Seite, wo der kaiſerliche Thron iſt. Beim 
Eintritt des Kaiſers werfen ſich alle mit ihren Stirnen auf die Erde und 
verharren in dieſer Stellung, bis er den Thron beſtiegen hat. Die Dok⸗ 
toren nehmen auf ihren Stühlen Platz. Auf einen Wink, den Pantalon 
gibt, ſchweigt der Marſch. 
Altoum. 

Wann, treue Diener, wird mein Jammer enden? 

Kaum iſt der edle Prinz von Samarkand 

Begraben, unſre Tränen fließen noch, 

Und ſchon ein neues Todesopfer naht, 

Mein blutend Herz von neuem zu verwunden. 

Grauſame Tochter! Mir zur Qual geboren! 

Was hilft's, daß ich den Augenblick verfluche, 

Da ich auf das barbariſche Geſetz 

Dem furchtbaren Fohi den Schwur getan. 

Nicht brechen darf ich meinen Schwur, nicht rühren 

Läßt ſich die Tochter, nicht zu ſchrecken ſind 

Die Freier! Nirgends Rat in meinem Unglück! 


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144 Turandot, Prinzeſſin von China 


Pantalon. 
Rat, Majeſtät? Hat ſich da was zu raten! 
Bei mir zu Hauſe, in der Chriſten Land, 
In meiner lieben Vaterſtadt Venedig, 
Schwört man auf ſolche Mordgeſetze nicht, 
Man weiß nichts von ſo närriſchen Mandaten. 
Da hat man gar kein Beiſpiel und Exempel, 
Daß ſich die Herrn in Bilderchen vergafft 
Und ihren Hals gewagt für ihre Mädchen. 
Kein Frauensmenſch bei uns geboren wird, 
Wie Dame Kieſelſtein, die alle Männer 
Verſchworen hätte — Gott ſoll uns bewahren! 
Das fiel uns auch im Traum nicht ein. Als ich 
Daheim noch war, in meinen jungen Jahren, 
Eh' mich die Ehrenſache, wie Ihr wißt, 
Von Hauſe trieb und meine guten Sterne 
An meines Kaiſers Hof hieher geführt, 
Wo ich als Kanzler mich jetzt wohl befinde, 
Da wußt' ich nichts von China, als es ſei 
Ein trefflichs Pulver gegens kalte Fieber. 
Und jetzt erſtaun' ich über alle Maßen, 
Daß ich ſo kuriöſe Bräuche hier 
Vorfinde, ſo kurjoſe Schwüre und Geſetze 
Und ſo kurjoſe Fraun und Herrn. 
Erzählt' ich in Europa dieſe Sachen, 
Sie würden mir unter die Naſe lachen. 


Altoum. N 
Tartaglia, habt Ihr den neuen Wagehals 
Beſuchtꝰ 
Tartaglia. 
Ja, Majeſtät. Er hat den Flügel 
Des Kaiſerſchloſſes inn', den man gewöhnlich 
Den fremden Prinzen anzuweiſen pflegt. 


Zweiter Aufzug. 2. Auftritt 145 


Ich bin entzückt von ſeiner angenehmen 
Geſtalt und ſeinen prinzlichen Manieren — 
's iſt jammerſchade um das junge Blut, 
Daß man es auf die Schlachtbank führen ſoll. 
sso s Herz bricht mir! Ein fo angenehmes Prinzchen! 
Ich bin verliebt in ihn. Weiß Gott! Ich ſah 
In meinem Leben keinen hübſchern Buben! 


Altoum. 
Unſeliges Geſetz! Verhaßter Schwur! 
— Die Opfer ſind dem Fohi doch gebracht, 
585 Daß er dem Unglückſeligen fein Licht 
Verleihe, dieſe Rätſel zu ergründen? 
Ach, nimmer geb' ich dieſer Hoffnung Raum! 


Pantalon. 
An Opfern, Majeſtät, ward nichts geſpart. 
Dreihundert fette Ochſen haben wir 
50 Dem Tien dargebracht, dreihundert Pferde 
Der Sonne, und dem Mond dreihundert Schweine. 


Altoum. 
So ruft ihn denn vor unſer Angeſicht! 
(Ein Teil des Gefolges entfernt ſich.) 
— Man ſuch' ihm ſeinen Vorſatz auszureden. 
Und ihr, gelehrte Lichter meines Divans, 
595 Kommt mir zu Hilfe, nehmt das Wort für mich, 
Laßt's nicht an Gründen fehlen, wenn mir ſelbſt 
Der Schmerz die Zunge bindet. 


Pantalon. 
Majeſtät! 
Wir werden unſern alten Witz nicht ſparen, 
Den wir in langen Jahren eingebracht. 
600 Was hilft's? Wir predigen und ſprechen uns 

Die Lungen heiſer, und er läßt ſich eben 

Den Hals abſtechen, wie ein welſches Huhn. 
Schillers Werke. IX. 10 


146 Turandot, Prinzeſſin von China 


Tartaglia. 
Mit Eurer Gunſt, Herr Kanzler Pantalon! 
Ich habe Scharfſinn und Verſtand bei ihm 
cos Bemerkt, wer weiß! — Ich will nicht ganz verzagen. 


Pantalon. 
Die Rätſel dieſer Schlange ſollt' er löſen? 
Nein! Nimmermehr! 


3. Auftritt 


Die Vorigen. Kalaf, von einer Wache begleitet. Er kniet vor dem 
Kaiſer nieder, die Hand auf der Stirn. 


Altoum (nachdem er ihn eine Zeitlang betrachtet). 
Steh auf, unkluger Jüngling. 
(Kalaf ſteht auf und ſtellt ſich mit edelm Anſtand in die Mitte des Divans.) 
— Die reizende Geſtalt! der edle Anſtand! 
Wie mir's ans Herz greift! — Sprich, Unglücklicher. 
610 Wer biſt du? Welches Land gab dir das Leben? 


Ralaf 


(ſchweigt einen Augenblick verlegen, dann mit einer edeln Verbeugung). 
Monarch, vergönne, daß ich meinen Namen 
Verſchweige. 

Altoum. 
Wie? Mit welcher Stirn darfſt du, 
Ein unbekannter Fremdling, namenlos, 
Um unſre kaiſerliche Tochter werben? 


Aalaf. 
eis Ich bin von königlichem Blut, ein Prinz geboren. 
Verhängt der Himmel meinen Tod, ſo ſoll 
Mein Name, mein Geſchlecht, mein Vaterland 
Kund werden, eh' ich ſterbe, daß die Welt 
Erfahre, nicht unwürdig hab' ich mich 


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Zweiter Aufzug. 3. Auftritt 147 


Des Bundes angemaßt mit deiner Tochter. 
Für jetzt geruhe meines Kaiſers Gnade 
Mich unerkannt zu laſſen. 


Altoum. 
Welcher Adel 
In ſeinen Worten! Wie beklag' ich ihn! 
— Doch wie, wenn du die Rätſel nun gelöſt, 
Und nicht von würd' ger Herkunft — 


Kalaf. 
Das Geſetz, 

Monarch, iſt nur für Könige geſchrieben. 
Verleihe mir der Himmel, daß ich ſiege, 
Und dann, wenn ich unköniglichen Stamms 
Erfunden werde, ſoll mein fallend Haupt 
Die Schuld der kühnen Anmaßung bezahlen; 
Und unbeerdigt liege mein Gebein, 
Der Krähen Beute und der wilden Tiere. 
Schon eine Seele lebt in dieſer Stadt, 
Die meinen Stand und Namen kann bezeugen. 
Für jetzt geruhe meines Kaiſers Gnade 
Mich unerkannt zu laſſen. 


Altoum. 

Wohl! C3 fei! 
Dem Adel deiner Mienen, deiner Worte, 
Holdſel'ger Jüngling, kann ich Glauben nicht, 
Gewährung nicht verſagen — Mögſt auch du 
Geneigt ſein, einem Kaiſer zu willfahren, 
Der hoch von ſeinem Thron herab dich fleht! 
Entweiche, o entweiche der Gefahr, 
Der du verblendet willſt entgegenſtürzen, 
Steh ab und fordre meines Reiches Hälfte. 
So mächtig ſpricht's für dich in meiner Bruſt, 
Daß ich dir gleichen Teil an meinem Thron 


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148 Turandot, Pringefjin von China 


Auch ohne meiner Tochter Hand verſpreche. 
O zwinge du mich nicht, Tyrann zu ſein! 
Schon ſchwer genug drückt mich der Völker Fluch, 
Das Blut der Prinzen, die ich hingeopfert; 
Drum, wenn das eigne Unglück dich nicht rührt, 
Laß meines dich erbarmen! Spare mir 

Den Jammer, deine Leiche zu beweinen, 

Die Tochter zu verfluchen und mich ſelbſt, 

Der die Verderbliche gezeugt, die Plage 

Der Welt, die bittre Quelle meiner Tränen! 


Kalaf. 
Beruhige dich, Sire. Der Himmel weiß, 
Wie ich im tiefſten Herzen dich beklage. 
Nicht wahrlich von ſo mildgeſinntem Vater 
Hat Turandot Unmenſchlichkeit geerbt. 
Du haſt nicht Schuld, es wäre denn Verbrechen, 
Sein Kind zu lieben und das Götterbild, 
Das uns bezaubert und uns ſelbſt entrückt, 
Der Welt geſchenkt zu haben — Deine Großmut 
Spar' einem Glücklicheren auf. Ich bin 
Nicht würdig, Sire, dein Reich mit dir zu teilen. 
Entweder iſt's der Götter Schluß und Rat, 
Durch den Beſitz der himmliſchen Prinzeſſin 
Mich zu beglücken — oder enden ſoll 
Dies Leben, ohne ſie mir eine Laſt! 
Tod oder Turandot. Es gibt kein Drittes. 


Pantalon. 
Ei ſagt mir, liebe Hoheit! Habt Ihr Euch 
Die Köpfe überm Stadttor wohl beſehn? 
Mehr ſag' ich nicht. Was, Herr, in aller Welt 
Treibt Euch, aus fernen Landen herzukommen 


Und Euch friſch weg, wie Ihr vom Pferd geſtiegen, 


Mir nichts, dir nichts, wie einen Ziegenbock 


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Zweiter Aufzug. 3. Auftritt 149 


Abtun zu laſſen? Dame Turandot, 
Das ſeid gewiß, dreht Euch drei Rätſelchen, 
Daran die ſieben Weiſen Griechenlands 
Mit ſamt den ſiebenzig Dolmetſchern ſich 
Die Nägel Jahre lang umſonſt zerkauten. 
Wir ſelbſt, fo alte Practiei und grau 
Geworden übern Büchern, haben Not, 
Das Tiefe dieſer Rätſel zu ergründen. 
Es ſind nicht Rätſel aus dem Kinderfreund, 
Nicht ſolches Zeug, wie das: 
„Wer's ſieht, für den iſt's nicht beſtellt, 
Wer's braucht, der zahlt dafür kein Geld, 
Wer's macht, der will's nicht ſelbſt ausfüllen, 
Wer's bewohnt, der tut es nicht mit Willen.“ 
Nein, es ſind Rätſel von dem neuſten Schnitt 
Und ſind verfluchte Nüſſe aufzuknacken. 
Und wenn die Antwort nicht zum guten Glück 
Auf dem Papier, das man drei Herrn Doktoren 
Verſiegelt übergibt, geſchrieben ſtünde, 
Sie möchten's Euch mit allem ihrem Witz 
In einem Säkulum nicht ausſtudieren. 
Darum, Herr Milchbart, zieht in Frieden heim. 
Ihr jammert mich, ſeid ein ſo junges Blut, 
Und ſchade wär's um Eure ſchönen Haare. 
Beharrt Ihr aber drauf, ſo ſteht ein Rettich 
Des Gärtners feſter, Herr, als Euer Kopf. 


Kalaf. 
Ihr ſprecht verlorne Worte, guter Alter. 
Tod oder Turandot! 


Tartaglia (ſtotternd). . 
Tu — Turandot! 


Zum Henker! Welcher Steifſinn und Verblendung! 
Hier ſpielt man nicht um welſche Nüſſe, Herr, 


150 Turandot, Pringefjin von China 


Noch um Kaſtanien — 's iſt um den Kopf 
Zu tun — den Kopf — Bedenkt das wohl. Ich will 
710 Sonſt keinen Grund anführen als den einen. 
Er iſt nicht klein — den Kopf! Es gilt den Kopf. 
Die Majeſtät höchſtſelbſt, auf ihrem Thron, 
Läßt ſich herab, Euch väterlich zu warnen 
Und abzuraten — dreihundert Pferde ſind 
m5 Der Sonne dargebracht, dreihundert Ochſen 
Dem höchſten Himmelsgott, dreihundert Kühe 
Den Sternen, und dem Mond dreihundert Schweine, 
Und Ihr ſeid ſtörrig gnug und undankbar, 
Das kaiſerliche Herz ſo zu betrüben? 
7220 Wär überall auch keine andre Dame 
Mehr in der Welt als dieſe Turandot, 
Blieb's immer doch ein loſer Streich von Euch, 
Nehmt mir's nicht übel, junger Herr. Es iſt, 
Weiß Gott! die pure Liebe und Erbarmnis, 
725 Die mich ſo frei läßt von der Leber ſprechen. 
Den Kopf verlieren! Wißt Ihr, was das heißt? 
Es iſt nicht möglich — 
Kalaf. 
So in Wind zu reden! 
Ihr habt in Wind geſprochen, alter Meiſter. 
Tod oder Turandot! 
Altoum. 
Nun denn, ſo hab' es! 


730 Verderbe dich, und mich ſtürz' in Verzweiflung. 
(Zu der Wache.) 
Man geh' und rufe meine Tochter her. 
(Wache geht hinaus.) 
Sie kann ſich heut' am zweiten Opfer weiden. 


Kalaf (gegen die Tür gewendet, in heftiger Bewegung). 
Sie kommt! Ich ſoll ſie ſehen! Ew'ge Mächte! 
Das iſt der große Augenblick! o ſtärket 


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— Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 151 


Mein Herz, daß mich der Anblick nicht verwirre, 
Des Geiſtes Helle nicht mit Nacht umgebe: 

Ich fürchte keine als der Schönheit Macht, 

Ihr Götter! Gebt, daß ich mir ſelbſt nicht fehle! 
Ihr ſeht es, meine Seele wankt, Erwartung 
Durchzittert mein Gebein und ſchnürt das Herz 
Mir in der Bruſt zuſammen. — Weiſe Richter 
Des Divans! Richter über meine Tage! 

O zeiht mich nicht ſtrafbaren Übermuts, 

Daß ich das Schickſal zu verſuchen wage! 
Bedauert mich! Beweint den Unglücksvollen! 
Ich habe hier kein Wählen und kein Wollen! 
Unwiderſtehlich zwingend reißt es mich 

Von hinnen, es iſt mächtiger als ich. 


4. Auftritt 


Man hört einen Marſch. Truffald in tritt auf, den Säbel an der Schulter, 
die Schwarzen hinter ihm; darauf mehrere Sklavinnen, die zu den 
Trommeln gecompagnieren. Nach diefen Adelma und Zelima, jene in 
tartariſchem Anzug, beide verſchleiert. Zelima trägt eine Schüſſel mit ver⸗ 
ſiegelten Papieren. Truffaldin und ſeine Schwarzen werfen ſich im Vor- 
beiziehen vor dem Kaiſer mit der Stirn auf die Erde und ſtehen ſogleich 
wieder auf; die Sklavinnen knieen nieder mit der Hand auf der Stirn. 
Zuletzt erſcheint Turandot, verſchleiert, in reicher chineſiſcher Kleidung, 
majeſtätiſch und ſtolz. Die Räte und Doktoren werfen ſich vor ihr mit dem 
Angeſicht auf die Erde; Altoum ſteht auf, die Prinzeſſin macht ihm, die 
Hand auf der Stirn, eine abgemeſſene Verbeugung, ſteigt dann auf 
ihren Thron und ſetzt ſich, Zelima und Adelma nehmen zu ihren beiden 
Seiten Platz, und die letztere den Zuſchauern am nächſten. Truffaldin 
nimmt der Zelima die Schüſſel ab und verteilt unter lächerlichen Zere⸗ 
monien die Zettel unter die acht Doktoren. Darauf entfernt er ſich mit 
denſelben Verbeugungen wie am Anfang, und der Marſch hört auf. 


Turandot (nach einer langen Pauſe). 
Wer iſt's, der ſich aufs neu vermeſſen ſchmeichelt, 
Nach ſo viel kläglich warnender Erfahrung, 
In meine tiefen Rätſel einzudringen! 
Der, ſeines eignen Lebens Feind, die Zahl 
Der Todesopfer zu vermehren kommt! 


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152 Turandot, Pringeffin von China 


Altoum 
(zeigt auf Kalaf, der erſtaunt in der Mitte des Divans ſteht). 


Der iſt es, Tochter — würdig wohl iſt er's, 
Daß du freiwillig zum Gemahl ihn whleſt, 
Ohn' ihn der furchtbarn Probe auszuſetzen 
Und neue Trauer dieſem Land, dem Herzen 
Des Vaters neue Stacheln zu bereiten. 


Turandot 
(nachdem fie ihn eine Zeitlang betrachtet, leiſe zur Zelima). 


O Himmel! Wie geſchieht mir, Zelima! 
Zelima. 
Was iſt dir, Königin? 
Turandot. 
Noch keiner trat 
Im Divan auf, der dieſes Herz zu rühren 
Verſtanden hätte. Dieſer weiß die Kunſt. 


Zelima. 
Drei leichte Rätſel denn, und — Stolz, fahr hin! 


Turandot. 
Was ſagſt du? Wie, Verwegne? Meine Ehre? 


Adelma 
(bat während dieſer Reden den wor ic 5 höchſtem Erſtaunen betrachtet, 
vor ſich). 


Täuſcht mich ein Traum? Was ſeh' ich, große Götter! 
Er iſt's! der ſchöne Jüngling iſt's, den ich 
Am Hofe meines Vaters Keikobad 
Als niedern Knecht geſehn! — Er war ein Prinz! 
Ein Königsſohn! Wohl ſagte mir's mein Herz, 
O meine Ahnung hat mich nicht betrogen. 

Turandot. 
Prinz! Noch iſt's Zeit. Gebt das verwegene 
Beginnen auf! Gebt's auf! Weicht aus dem Divan. 
Der Himmel weiß, daß jene Zungen lügen, 
Die mich der Härte zeihn und Grauſamkeit. 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 153 


— Ich bin nicht grauſam. Frei nur will ich leben. 
Bloß keines andern will ich ſein; dies Recht, 
Das auch dem Allerniedrigſten der Menſchen 
Im Leib der Mutter anerſchaffen iſt, 
Will ich behaupten, eine Kaiſerstochter. 
Ich ſehe durch ganz Aſien das Weib 
Erniedrigt und zum Sklavenjoch verdammt, 
Und rächen will ich mein beleidigtes Geſchlecht 
An dieſem ſtolzen Männervolke, dem 
Kein andrer Vorzug vor dem zärtern Weibe 
Als rohe Stärke ward. Zur Waffe gab 
Natur mir den erfindenden Verſtand 
Und Scharfſinn, meine Freiheit zu beſchützen. 
— Ich will nun einmal von dem Mann nichts wiſſen, 
Ich haſſ' ihn, ich verachte ſeinen Stolz 
Und Übermut — Nach allem Köſtlichen 
Streckt er begehrlich ſeine Hände aus; 
Was ſeinem Sinn gefällt, will er beſitzen. 
Hat die Natur mit Reizen mich geſchmückt, 
Mit Geiſt begabt — warum iſt's denn das Los 
Des Edeln in der Welt, daß es allein 
Des Jägers wilde Jagd nur reizt, wenn das Gemeine 
In ſeinem Unwert ruhig ſich verbirgt? 
Muß denn die Schönheit eine Beute ſein 
Für einen? Sie iſt frei ſo wie die Sonne, 
Die allbeglückend herrliche am Himmel, 
Der Quell des Lichts, die Freude aller Augen, 
Doch keines Sklavin und Leibeigentum. 
Kalaf. 
So hoher Sinn, ſo ſeltner Geiſtesadel 
In dieſer göttlichen Geſtalt! Wer darf 
Den Jüngling ſchelten, der ſein Leben 
Für ſolchen Kampfpreis freudig ſetzt! — Wagt doch 
Der Kaufmann, um geringe Güter, Schiff 


154 Turandot, Prinzeſſin von China 


Und Mannſchaft an ein wildes Element, 
Es jagt der Held dem Schattenbild des Ruhms 
810 Durchs blut'ge Feld des Todes nach — Und nur 
Die Schönheit wär' gefahrlos zu erwerben, 
Die aller Güter erſtes, höchſtes iſt? 
Ich alſo zeih' Euch keiner Grauſamkeit, 
Doch nennt auch Ihr den Jüngling nicht verwegen 
sis Und haßt ihn nicht, weil er mit glühnder Seele 
Nach dem Unſchätzbaren zu ſtreben wagt! 
Ihr ſelber habt ihm ſeinen Preis geſetzt, 
Womit es zu erkaufen iſt — die Schranken 
Sind offen für den Würdigen — Ich bin 
820 Ein Prinz, ich hab' ein Leben dran zu wagen. 
Kein Leben zwar des Glücks, doch iſt's mein Alles, 
Und hätt' ich's tauſendmal, ich gäb' es hin. 


Zelima (leiſe zu Turandot). 
Hört Ihr, Prinzeſſin? Um der Götter willen! 
Drei leichte Rätſel! Er verdient's. 


Adelma. 
sx Wie edel! Welche Liebenswürdigkeit! 
O daß er mein ſein könnte! Hätt' ich damals 
Gewußt, daß er ein Prinz geboren ſei, 
Als ich der ſüßen Freiheit mich noch freute! 
— O welche Liebe flammt in meiner Bruſt, 
830 Seitdem ich ihn mir ebenbürtig weiß. 
— Mut, Mut, mein Herz. Ich muß ihn noch beſitzen. 
(Zu Turandot.) 
Prinzeſſin! Ihr verwirret Euch! Ihr ſchweigt! 
Bedenket Euren Ruhm! Es gilt die Ehre! 
Turandot. 
Und er allein riß mich zum Mitleid hin! 


83s Nein, Turandot! Du mußt dich ſelbſt beſiegen. 
— Verwegener, wohlan! Macht Euch bereit! 


840 


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850 


Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 155 


Altoum. 
Prinz, Ihr beharrt noch? 


Aalaf. 
Sire! Ich wiederhol' es: 
Tod oder Turandot! 
(Pantalon und Tartaglia gebärden ſich ungeduldig.) 


Altoum. 
So leſe man 


Das blutige Mandat. Er hör's und zittre! 


(Tartaglia nimmt das Geſetzbuch aus dem Buſen, küßt es, legt es ſich auf 
die Bruſt, hernach auf die Stirn, dann überreicht er's dem Pantalon.) 


Pantalon 
(empfängt das Geſetzbuch, nachdem er ſich mit der Stirn auf die Erde ge⸗ 
worfen, ſteht auf und lieſt dann mit lauter Stimme). 


„Es kann ſich jeder Prinz um Turandot bewerben, 
Doch erſt drei Rätſel legt die Königin ihm vor. 

Löſt er ſie nicht, muß er vom Beile ſterben, 

Und ſchaugetragen wird ſein Haupt auf Peckins Tor. 
Löſt er die Rätſel auf, hat er die Braut gewonnen. 


So lautet das Geſetz. Wir ſchwören's bei der Sonnen.“ 


(Nach geendigter Vorleſung küßt er das Buch, legt es ſich auf die Bruſt 
und Stirn und überreicht es dem Tartaglia, der ſich mit der Stirn auf 
die Erde wirft, es empfängt und dem Altoum präſentiert.) 


Altoum 
hebt die rechte Hand empor und legt fie auf das Buch). 
O Blutgeſetz! du meine Qual und Pein! 

Ich ſchwör's bei Fohis Haupt, du ſollſt vollzogen ſein. 
(Tartaglia ſteckt das Buch wieder in den Buſen, es herrſcht eine lange 
Stille.) 

Turandot (in deklamatoriſchem Ton, aufſtehend). 

Der Baum, auf dem die Kinder 
Der Sterblichen verblühn, 
Steinalt, nichts deſto minder 
Stets wieder jung und grün, 

Er kehrt auf einer Seite 
Die Blätter zu dem Licht, 


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156 Turandot, Prinzeſſin von China 


Doch kohlſchwarz iſt die zweite 
Und ſieht die Sonne nicht. 


Er ſetzet neue Ringe, 
So oft er blühet, an; 
Das Alter aller Dinge 
Zeigt er den Menſchen an; 
In ſeine grüne Rinden 
Drückt ſich ein Name leicht, 
Der nicht mehr iſt zu finden, 
Wenn ſie verdorrt und bleicht. 
So ſprich, kannſt du's ergründen, 


Was dieſem Baume gleicht? 
(Sie ſetzt ſich wieder.) 


Kalaf 
(nachdem er eine Zeitlang nachdenkend in die Höhe geſehn, verbeugt er ſich 
gegen die Prinzeſſin). 


Zu glücklich, Königin, iſt Euer Sklav, 

Wenn keine dunklern Rätſel auf ihn warten. 

Dieſer alte Baum, der immer ſich erneut, 

Auf dem die Menſchen wachſen und verblühen, 

Und deſſen Blätter auf der einen Seite 

Die Sonne ſuchen, auf der andern fliehen, 

In deſſen Rinde ſich ſo mancher Name ſchreibt, 

Der nur, ſo lang' ſie grün iſt, bleibt: 

— Er iſt — das Jahr mit ſeinen Tagen und Nächten. 


Pantalon (freudig). 
Tartaglia! Getroffen! 
Tartaglia. 
Auf ein Haar! 
Doktoren erbrechen ihre Zettel). 
Optime! Optime! Optime! das Jahr, 


Das Jahr, das Jahr, es iſt das Jahr. 
(Muſik fällt ein.) 


885 


900 


Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 157 


Altoum (freudig). 
Der Götter Gnade ſei mit dir, mein Sohn, 
Und helfe dir auch durch die andern Rätſel! 


Zelima (beiſeite). 
O Himmel, ſchütz' ihn! 


Adelma (gegen die Zuſchauer). 
Himmel, ſchütz' ihn nicht! 
Laß nicht geſchehn, daß ihn die Grauſame 
Gewinne und die Liebende verliere! 


Turandot lentrüſtet vor ſich). 
Er ſollte ſiegen? Mir den Ruhm entreißen? 
Nein, bei den Göttern! 
(Zu Kalaf.) 
Selbſtzufriedner Tor! 
Frohlocke nicht zu früh! Merk' auf und löſe! 
(Steht wieder auf und fährt in deklamatoriſchem Tone fort.) 
Kennſt du das Bild auf zartem Grunde? 
Es gibt ſich ſelber Licht und Glanz, 
Ein andres iſt's zu jeder Stunde, 
Und immer iſt es friſch und ganz. 
Im engſten Raum iſt's ausgeführet, 
Der kleinſte Rahmen faßt es ein, 
Doch alle Größe, die dich rühret, 
Kennſt du durch dieſes Bild allein. 


Und kannſt du den Kriſtall mir nennen? 
Ihm gleicht an Wert kein Edelſtein, 
Er leuchtet, ohne je zu brennen, 
Das ganze Weltall ſaugt er ein, 
Der Himmel ſelbſt iſt abgemalet 
In ſeinem wundervollen Ring. 
Und doch iſt, was er von ſich ſtrahlet, 
Oft ſchöner, als was er empfing. 


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158 Turandot, Prinzeſſin von China 


Kalaf 
(nach einem kurzen Nachdenken ſich gegen die Prinzeſſin verbeugend). 


Zürnt nicht, erhabne Schöne, daß ich mich 
Erdreiſte, Eure Rätſel aufzulöſen. 

— Dies zarte Bild, das, in den kleinſten Rahmen 
Gefaßt, das Unermeßliche uns zeigt, 

Und der Kriſtall, in dem dies Bild ſich malt 

Und der noch Schönres von ſich ſtrahlt — 

Er iſt — das Aug', in das die Welt ſich drückt, 
Dein Auge iſt's, wenn es mir Liebe blickt. 


Pantalon (springt freudig auf). 
Tartaglia! Mein' Seel! Ins ſchwarze Fleck 
Geſchoſſen. 
Tartaglia. 


Mitten hinein, ſo wahr ich lebe! 


Doktoren (haben die Zettel eröffnet). 
Optime! Optime! Optime! Das Auge, das Auge, 
Es iſt das Auge. 
(Muſik fällt ein.) 
Altoum. 
Welch unverhofftes Glück! Ihr güt'gen Götter! 
O laßt ihn auch das letzte Ziel noch treffen! 


Zelima (beiſeite). 
O wäre dies das letzte! 


Adelma (gegen die Zuſchauer). 
Weh mir! Er ſiegt! Er iſt für mich verloren. 
(Zu Turandot.) 
Prinzeſſin, Euer Ruhm iſt hin! Könnt Ihr's 
Ertragen? Eure vor'gen Siege alle 
Verſchlingt ein einz'ger Augenblick. 
Turandot (ſteht auf in heftigem Zorn). 
Eh' ſoll 
Die Welt zu Grunde gehn! Verwegner, wiſſe! 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 159 


Ich haſſe dich nur deſto mehr, je mehr 
Du hoffſt, mich zu beſiegen, zu beſitzen. 
Erwarte nicht das letzte Rätſel! Flieh! 
Weich aus dem Divan! Rette deine Seele! 


Kalaf. 
Nur Euer Haß iſt's, angebetete 
Prinzeſſin, was mich ſchreckt und ängſtiget. 
Dies unglückſel'ge Haupt ſink' in den Staub, 
Wenn es nicht wert war, Euer Herz zu rühren. 


Altoum. 
Steh ab, geliebter Sohn. Verſuche nicht 
Die Götter, die dir zweimal günſtig waren. 
Jetzt kannſt du dein gerettet Leben noch, 
Gekrönt mit Ehre, aus dem Divan tragen. 
Nichts helfen dir zwei Siege, wenn der dritte 
Dir, der entſcheidende, mißlingt — je näher 
Dem Gipfel, deſto ſchwerer iſt der Fall. 
— Und du — laß es genug ſein, meine Tochter, 
Steh ab, ihm neue Rätſel vorzulegen. 
Er hat geleiſtet, was kein andrer Prinz 
Vor ihm. Gib ihm die Hand, er iſt ſie wert, 
Und endige die Proben. 


(Zelima macht flehende, Adelma drohende Gebärden gegen Turandot.) 


Turandot. 
Ihm die Hand? 
Die Proben ihm erlaſſen? Nein, drei Rätſel 
Sagt das Geſetz. Es habe ſeinen Lauf. 
Kalaf. 
Es habe ſeinen Lauf. Mein Schickſal liegt 
In Götterhand. Tod oder Turandot! 


Turandot. 
Tod alſo! Tod! Hörſt du's? 
(Sie ſteht auf und fährt auf die vorige Art zu deklamieren fort.) 


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160 Turandot, Prinzeſſin von China 


Wie heißt das Ding, das wen'ge ſchätzen, 
Doch ziert's des größten Kaiſers Hand? 
Es iſt gemacht, um zu verletzen, 

Am nächſten iſt's dem Schwert verwandt. 

Kein Blut vergießt's und macht doch tauſend Wunden, 

Niemand beraubt's und macht doch reich, 

Es hat den Erdkreis überwunden, 

Es macht das Leben ſanft und gleich. 

Die größten Reiche hat's gegründet, 

Die ältſten Städte hat's erbaut, 

Doch niemals hat es Krieg entzündet, 

Und Heil dem Volk, das ihm vertraut. 

Fremdling, kannſt du das Ding nicht raten, 

So weich aus dieſen blühenden Staaten! 

(Mit den letzten Worten reißt ſie ſich ihren Schleier ab.) 

Sieh her und bleibe deiner Sinne Meiſter! 


Stirb oder nenne mir das Ding! 


Kalaf (auger ſich, hält die Hand vor die Augen). 
O Himmelsglanz! O Schönheit, die mich blendet! 


Altoum. 
Gott, er verwirrt ſich, er iſt außer ſich. 
Faſſ' dich, mein Sohn! O ſammle deine Sinne! 


Zelima (vor ſich). 
Mir bebt das Herz. 


Adelma (gegen die Zuſchauer). 
Mein biſt du, teurer Fremdling. 
Ich rette dich, die Liebe wird mich's lehren. 


Pantalon (zu Kalaf). 
Um Gottes willen! Nicht den Kopf verloren. 
Nehmt Euch zuſammen. Herz gefaßt, mein Prinz! 
O weh, o weh! Ich fürcht', er iſt geliefert. 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 161 


Tartaglia (gravitätiſch vor ſich). 
Ließ' es die Würde zu, wir gingen ſelbſt zur Küche 
Nach einem Eſſigglas. 
Turandot 


(hat den Prinzen, der noch immer außer Faſſung daſteht, unverwandt be⸗ 


trachtet). : 
Unglücklicher! 
Du wollteſt dein Verderben. Hab' es nun! 


Ralaf 


(hat ſich gefaßt und verbeugt fid mit einem ruhigen Lächeln gegen Turandot). 


Nur Eure Schönheit, himmliſche Prinzeſſin, 

Die mich auf einmal überraſchend, blendend 
Umleuchtete, hat mir auf Augenblicke 

Den Sinn geraubt. Ich bin nicht überwunden. 
Dies Ding von Eiſen, das nur wen'ge ſchätzen, 
Das Chinas Kaiſer ſelbſt in ſeiner Hand 

Zu Ehren bringt am erſten Tag des Jahrs, 

Dies Werkzeug, das, unſchuld'ger als das Schwert, 
Dem frommen Fleiß den Erdkreis unterworfen — 
Wer träte aus den öden wüſten Steppen 

Der Tartarei, wo nur der Jäger ſchwärmt, 

Der Hirte weidet, in dies blühende Land 

Und ſähe rings die Saatgefilde grünen 

Und hundert volkbelebte Städte ſteigen, 

Von friedlichen Geſetzen ſtill beglückt, 

Und ehrte nicht das köſtliche Geräte, 

Das allen dieſen Segen ſchuf — den Pflug? 


Pantalon. 
O ſei gebenedeit! Laß dich umhalſen. 
Ich halte mich nicht mehr für Freud' und Jubel. 


Tartaglia. 
Gott ſegne Eure Majeſtät. Es iſt 


Vorbei, und aller Jammer hat ein Ende. 
Schillers Werke. IX. 11 


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162 Turandot, Pringefjin von China 


Doktoren (haben die Zettel geöffnet). 
Der Pflug! Der Pflug! Es iſt der Pflug! 
(Alle Inſtrumente fallen ein mit großem Geräuſch. Turandot iſt auf 
ihrem Thron in Ohnmacht geſunken.) 
Belima (um Turandot beſchäftigt). 
Blickt auf, Prinzeſſin! Faſſet Euch. Der Sieg 
Iſt ſein, der ſchöne Prinz hat überwunden. 


Adelma lan die Zuſchauer). 

Der Sieg iſt ſein! er iſt für mich verloren. 
— Nein, nicht verloren! Hoffe noch, mein Herz! 
(Altoum iſt voll Freude, bedient von Pantalon und Tartaglia, vom Throne 
geſtiegen. Die Doktoren erheben ſich alle von ihren Sitzen und ziehen 
ſich nach dem Hintergrund. Alle Türen werden geöffnet. Man erblickt 

Volk. Alles dies geſchieht, während die Muſik fortdauert.) 

Altoum (zu Turandot). 

Nun hörſt du auf, mein Alter zu betrüben, 
Grauſames Kind! Genug iſt dem Geſetz 
Geſchehen, alles Unglück hat ein Ende. 
— Kommt an mein Herz, geliebter Prinz, mit Freuden 
Begrüß' ich Euch als Eidam! 


Turandot 
(ift wieder zu ſich gekommen und ſtürzt in ſinnloſer Wut von ihrem Throne, 
zwiſchen beide ſich werfend). 


Haltet ein! 
Er hoffe nicht, mein Ehgemahl zu werden. 
Die Probe war zu leicht. Er muß aufs neu' 
Im Divan mir drei andre Rätſel löſen. 
Man überraſchte mich. Mir ward nicht Zeit 
Vergönnt, mich zu bereiten, wie ich ſollte. 


Altoum. 
Grauſame Tochter! deine Friſt iſt um! 
Nicht hoffe mehr, uns liſtig zu beſchwatzen. 
Erfüllt iſt die Bedingung des Geſetzes, 
Mein ganzer Divan ſoll den Ausſpruch tun. 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 163 


Pantalon. 
Mit Eurer Gunſt, Prinzeſſin Kieſelherzl 
Es braucht nicht neue Rätſel zuzuſpitzen 
Und neue Köpfe abzuhacken — Da! 
Hier ſteht der Mann! der hat's erraten! Kurz: 
Das Geſetz hat ſeine Endſchaft, und das Eſſen 
Steht auf dem Tiſch — Was ſagt der Herr Kollega? 


Tartaglia. 
Das Geſetz iſt aus. Ganz aus, und damit Punktum. 
Was ſagen Ihre Würden, die Doktoren? 


Doktoren. 
Das Geſetz iſt aus. Das Köpfen hat ein Ende. 
Auf Leid folgt Freud. Man gebe ſich die Hände. 


Altoum. 
So trete man den Zug zum Tempel an. 
Der Fremde nenne ſich, und auf der Stelle 
Vollziehe man die Trauung — 


Turandot (wirft ſich ihm in den Weg). 


Aufſchub, Vater! 
Um aller Götter willen! 


Altoum. 
Keinen Aufſchub! 

Ich bin entſchloſſen. Undankbares Kind! 
Schon allzulang' zu meiner Schmach und Pein 
Willfahr' ich deinem grauſamen Begehren. 
Dein Urteil iſt geſprochen; mit dem Blut 
Von zehen Todesopfern iſt's geſchrieben, 
Die ich um deinetwillen morden ließ. 
Mein Wort hab' ich gelöſt, nun löſe du 
Das deine, oder bei dem furchtbarn Haupt 
Des Fohi ſei's geſchworen — 


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164 Turandot, Prinzeſſin von China 


Turandot (wirft ſich zu ſeinen Füßen). 
O mein Vater! 
Nur einen neuen Tag vergönnt mir — 


Altoum. 
Nichts! 
Ich will nichts weiter hören. Fort zum Tempel. 


Turandot (außer ſich). 
So werde mir der Tempel denn zum Grab! 
Ich kann und will nicht ſeine Gattin ſein, 
Ich kann es nicht. Eh' tauſend Tode ſterben, 
Als dieſem ſtolzen Mann mich unterwerfen. 
Der bloße Name ſchon, ſchon der Gedanke, 
Ihm untertan zu ſein, vernichtet mich. 


Kalaf. 

Grauſame! Unerbittliche, ſteht auf! 
Wer könnte Euren Tränen widerſtehn? 

(Zu Altoum.) 
Laßt Euch erbitten, Sire. Ich flehe ſelbſt 
Darum. Gönnt ihr den Aufſchub, den ſie fordert. 
Wie könnt' ich glücklich ſein, wenn ſie mich haßt. 
Zu zärtlich lieb' ich ſie — Ich kann's nicht tragen, 
Ihr Leiden, ihren Schmerz zu ſehn — Fühlloſe! 
Wenn dich des treuſten Herzens treue Liebe 
Nicht rühren kann, wohlan, ſo triumphiere! 
Ich werde nie dein Gatte ſein mit Zwang. 
O ſäheſt du in dies zerrißne Herz, 
Gewiß, du fühlteſt Mitleid — dich gelüſtet 
Nach meinem Blut? Es fei darum. Verſtattet, 
Die Probe zu erneuern, Sire — Willkommen 
Iſt mir der Tod. Ich wünſche nicht zu leben. 


Altoum. 
Nichts. Nichts. Es iſt beſchloſſen. Fort zum Tempel. 
Kein anderer Verſuch — Unkluger Jüngling! 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 165 


Turandot (fährt raſend auf). 


Zum Tempel denn! Doch am Altar wird Eure Tochter 
Zu ſterben wiſſen. 
(Sie zieht einen Dolch und will gehen.) 


Kalaf. 

Sterben! Große Götter! 
Nein, eh' es dahin kommt — Hört mich, mein Kaiſer! 
Gönn' Eure Gnade mir die einz'ge Gunſt. 
— Zum zweiten Male will ich ihr im Divan, 
Ich — ihr, ein Rätſel aufzulöſen geben. 
Und dieſes iſt: Wes Stamms und Namens iſt 
Der Prinz, der, um das Leben zu erhalten, 
Gezwungen ward, als niedrer Knecht zu dienen 
Und Laſten um geringen Lohn zu tragen; 
Der endlich auf dem Gipfel ſeiner Hoffnung 
Noch unglückſel'ger iſt als je zuvor? 
— Grauſame Seele! Morgen früh im Divan 
Nennt mir des Vaters Namen und des Prinzen. 
Vermögt Ihr's nicht, ſo laßt mein Leiden enden 
Und ſchenkt mir dieſe teure Hand. Nennt Ihr 
Die Namen mir, ſo mag mein Haupt zum Opfer fallen. 


Turandot. 
Ich bin's zufrieden, Prinz. Auf die Bedingung 
Bin ich die Eurige. 
Zelima (vor ſich). 
Ich ſoll von neuem zittern! 


Adelma (feitwarts). 
Ich darf von neuem hoffen! 


Altoum. 
Ich bin's nicht 
Zufrieden. Nichts geſtatt' ich. Das Geſetz 
Will ich vollzogen wiſſen. 


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166 Turandot, Prinzeſſin von China 


Kalaf (fäut ihm zu Füßen). 

Mächt'ger Kaiſer! 
Wenn Bitten dich bewegen — wenn du mein, 
Wenn du der Tochter Leben liebſt, ſo duld' es! 
Bewahren mich die Götter vor der Schuld, 
Daß ſich ihr Geiſt nicht ſättige. Er weide 
Mit Wolluſt ſich an meinem Blut — Sie löſe 
Im Divan, wenn ſie Scharfſinn hat, mein Rätſel! 


Turandot (vor ſich). 
Er ſpottet meiner noch, wagt's, mir zu trotzen! 


Altoum (zu Kalaß). 
Unſinniger! Ihr wißt nicht, was Ihr fordert, 
Wißt nicht, welch einen Geiſt ſie in ſich hat; 
Das Tiefſte auch verſteht ſie zu ergründen. 
— Sei's denn! Die neue Probe ſei verſtattet! 
Sie ſei des Bandes mit Euch los, kann ſie 
Im Divan morgen uns die Namen nennen. 
Doch eines neuen Mordes Trauerſpiel 
Geſtatt' ich nicht — Errät ſie, was ſie ſoll, 
So zieht in Frieden Euren Weg — Genug 
Des Blutes iſt gefloſſen. Folgt mir, Prinz! 
— Unkluger Jüngling! Was habt Ihr getan? 


(Der Marſch wird wieder gehört. Altoum geht gravitätiſch mit dem 
Prinzen, Pantalon, Tartaglia, den Doktoren und der Leibwache durch die 
Pforte ab, durch die er gekommen. Turandot, Adelma, Zelima, Sklavinnen 
und Truffaldin mit den Verſchnittenen entfernen ſich durch die andere 


Pforte, ihren erſten Marſch wiederholend.) 


Dritter Aufzug 


Ein Zimmer im Serail. 


1. Auftritt 
Adelma allein. 


Jetzt oder nie entſpring' ich dieſen Banden. 
Fünf Jahre trag' ich ſchon den glühnden Haß 
In meiner Bruſt verſchloſſen, heuchle Freundſchaft 
1105 Und Treue für die Grauſame, die mir 
Den Bruder raubte, die mein ganz Geſchlecht 
Vertilgte, mich zu dieſem Sklavenlos 
Herunter ſtieß — In dieſen Adern rinnt, 
Wie in den ihren, königliches Blut, 
1110 Ich achte mich, wie ſie, zum Thron geboren. 
Und dienen ſoll ich ihr, mein Knie ihr beugen, 
Die meines ganzen Hauſes Mörderin, 
Die meines Falles blut'ge Urſach iſt. 
Nicht länger duld' ich den verhaßten Zwang, 
1116 Erſchöpft iſt mir die Kraft, ich unterliege 
Der lang' getragnen Bürde der Verſtellung. 
Der Augenblick iſt da, mich zu befrein, 
Die Liebe ſoll den Rettungsweg mir bahnen. 
All meine Künſte biet' ich auf — Entweder 
110 Entdeck' ich ſein Geheimnis oder ſchreck' ihn 
Durch Liſt aus dieſen Mauern weg — Verhaßte! 
Du ſollſt ihn nicht beſitzen! Dieſen Dienſt 
Will ich, aus falſchem Herzen, dir noch leiſten. 
Mir ſelber dien' ich, ſüße Rache üb' ich, 
1126 Dein Herz zerreiß' ich, da ich deinem Stolz 
Verrätriſch diene — ich durchſchaute dich! 
Du liebſt ihn, aber darfſt es nicht geſtehn. 


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168 Turandot, Prinzeſſin von China 


Du mußt ihn von dir ſtoßen und verwerfen, 
Wider dich ſelber mußt du töricht wüten, 

Den lächerlichen Ruhm dir zu bewahren — 
Doch ewig bleibt der Pfeil in deiner Bruſt, 

Ich kenn' ihn, nie vernarben ſeine Wunden. 

— Dein Frieden iſt vorbei! Du haſt empfunden! 


(Turandot erſcheint im Hintergrund, auf Zelima gelehnt, welche beſchäftigt 


iſt, ſie zu beruhigen.) 
Sie kommt, ſie iſt's! Verzehrt von Scham und Wut 
Und von des Stolzes und der Liebe Streit! 
Wie lab' ich mich an ihrer Seele Pein! 
— Sie nähert ſich — Laß hören, was ſie ſpricht! 


2. Auftritt 


Turandot im Geſpräch mit Zelima. Adelma, anfangs ungeſehen. 


Turandot. 
Hilf, rat mir, Zelima. Ich kann's nicht tragen, 
Mich vor dem ganzen Divan überwunden 
Zu geben! — Der Gedanke tötet mich. 


Zelima. 
Iſt's möglich, Königin? Ein ſo edler Prinz, 
So liebeatmend und ſo liebenswert, 
Kann nichts als Haß und Abſcheu — 


Turandot. 
Abſcheu! Haß! 
(Sie beſinnt ſich.) 
— Ich haſſ' ihn, ja. Abſcheulich iſt er mir! 
Er hat im Divan meinen Ruhm vernichtet. 
In allen Landen wird man meine Schande 
Erfahren, meiner Niederlage ſpotten. 


1150 


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1160 


1165 


1170 


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Dritter Aufzug. 2. Auftritt 169 


O rette mich — In aller Frühe, will 

Mein Vater, ſoll der Divan ſich verſammeln, 
Und löſ' ich nicht die aufgegebne Frage, 

So ſoll in gleichem Augenblick das Band 
Geflochten ſein — — „Wes Stamms und Namens iſt 
Der Prinz, der, um ſein Leben zu erhalten, 
Gezwungen ward, als niedrer Knecht zu dienen 
Und Laſten um geringen Preis zu tragen; 

Der endlich auf dem Gipfel ſeiner Hoffnung 
Noch unglückſel'ger iſt als je zuvor?“ — 

— Daß dieſer Prinz er ſelbſt iſt, ſeh' ich leicht. 
Wie aber ſeinen Namen und Geſchlecht 
Entdecken, da ihn niemand kennt, der Kaiſer 
Ihm ſelbſt verſtattet, unerkannt zu bleiben? 
Geängſtigt, wie ich war, geſchreckt, gedrängt, 
Ging ich die Wette unbedachtſam ein. 

Ich wollte Friſt gewinnen — Aber wo 

Die Möglichkeit, es zu erraten? Sprich! 

Wo eine Spur, die zu ihm leiten könnte? 


Zelima. 
Es gibt hier kluge Frauen, Königin, 
Die aus dem Tee und Kaffeeſatz wahrſagen — 


Turandot. 
Du ſpotteſt meiner! Dahin kam's mit mir! 


Zelima. 
Wozu auch überall der fremden Künſte? 
— O ſeht ihn vor Euch ſtehn, den ſchönen Prinzen! 
Wie rührend ſeine Klage war! Wie zärtlich 
Er aus zerrißnem Herzen zu Euch flehte! 
Wie edelmütig er, ſein ſelbſt vergeſſend, 
Zu Eures Vaters Füßen für Euch bat, 
Für Euch, die kein Erbarmen mit ihm trug, 


170 Turandot, Pringeffin von China 


Zum zweitenmal ſein kaum gerettet Leben 
Darbot, um Eure Wünſche zu vergnügen! 


Turandot (weggewendet). 
Still, ſtill davon! 
Zelima. 
Ihr kehrt Euch von mir ab! 
1180 Ihr ſeid gerührt! Ja! Ja! Verbergt es nicht! 
Und eine Träne glänzt in Eurem Auge — 
O ſchämt Euch nicht der zarten Menſchlichkeit! 
Nie ſah ich Euer Angeſicht ſo ſchön. 
O macht ein Ende. Kommt — 


(Adelma iſt im Begriff, hervorzutreten). 


Turandot. 
Nichts mehr von ihm. 
uss Er ijt ein Mann. Ich half’ ihn, muß ihn haſſen. 
Ich weiß, daß alle Männer treulos ſind, 
Nichts lieben können als ſich ſelbſt; hinweg 
Geworfen iſt an dies verrätriſche Geſchlecht 
Die ſchöne Neigung und die ſchöne Treue. 
1190 Geſchmeid'ge Sklaven, wenn ſie um uns werben, 
Sind ſie Tyrannen, gleich, wo ſie beſitzen. 
Das blinde Wollen, den gereizten Stolz, 
Das eigenſinnig heftige Begehren, 
Das nennen ſie ihr Lieben und Verehren. 
1195 Das reißt fie blind zu unerhörter Tat, 
Das treibt ſie ſelber auf den Todespfad; 
Das Weib allein kennt wahre Liebestreue. 
— Nicht weiter, ſag' ich dir. Gewinnt er morgen, 
Iſt mir der Tod nicht ſchrecklicher als er. 
1200 Mich ſäh' die Welt, die mir gehäſſig iſt, 
Zu dem gemeinen Los herabgewürdigt, 
An eines Mannes und Gebieters Hand! 
Nein, nein! So tief ſoll Turandot nicht ſinken! 


1205 


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1230 


Dritter Aufzug. 2. Auftritt 171 


— Ich ſeine Braut! Eh' in das offne Grab 


Mich ſtürzen als in eines Mannes Arme! 
(Adelma hat ſich wieder zurückgezogen.) 


Zelima. 
Wohl mag's Euch koſten, Königin, ich glaub' es, 
Von Eurer ſtolzen Höh herabzuſteigen, 
Auf der die Welt Euch ſtaunend hat geſehn. 
Was iſt der eitle Ruhm, wenn Liebe ſpricht? 
Geſteht es! Eure Stunde iſt gekommen! 
Weg mit dem Stolze! Weicht der ſtärkeren 
Gewalt — Ihr haßt ihn nicht, könnt ihn nicht haſſen. 
Warum dem eignen Herzen widerſtreben? 
Ergebt Euch dem geliebten Mann, und mag 
Alsdann die Welt die Glückliche verhöhnen! 


Adelman 
(ift horchend nach und nach näher gekommen und tritt jetzt hervor). 


Wer von geringem Stand geboren iſt, 

Dem ſteht es an, wie Zelima zu denken. 

Ein königliches Herz fühlt königlich. 

— Vergib mir, Zelima! Dir iſt es nicht gegeben, 
An einer Fürſtin Platz dich zu verſetzen, 

Die ſich ſo hoch wie unſre Königin 

Geſtellt und jetzt, vor aller Menſchen Augen, 
Im Divan ſo herunter ſteigen ſoll, 

Von einem ſchlechten Fremdling überwunden. 
Mit meinen Augen ſah ich den Triumph, 

Den ſtolzen Hohn in aller Männer Blicken, 
Als er die Rätſel unſrer Königin, 

Als wären's Kinderfragen, ſpielend löſte, 

Der überlegnen Einſicht ſtolz bewußt. 

O in die Erde hätt' ich ſinken mögen 

Für Scham und Wut — Ich liebe meine ſchöne 
Gebieterin, ihr Ruhm liegt mir am Herzen. 


172 Turandot, Pringeffin von China 


— Sie, die dem ganzen Volk der Männer Hohn 
Geſprochen, dieſes Mannes Frau! 


Turandot. 
Erbittre mich 
1235 Nicht mehr! 
Belin. 
Das große Unglück, Frau zu werden! 
Adelma. 


Schweig, Zelima. Man will von dir nicht wiſſen, 
Wodurch ein edles Herz beleidigt wird. 
Ich kann nicht ſchmeicheln. Grauſam wär' es, hier 
Zu ſchonen und die Wahrheit zu verhehlen. 
1240 Iſt es ſchon hart genug, daß wir den Mann, 
Den übermütigen, zum Herrn uns geben, 
So liegt doch Troſt darin, daß wir uns ſelbſt 
Mit freier Wahl und Gunſt an ihn verſchenken, 
Und ſeine Großmut feſſelt ſeinen Stolz. 
12s Doch welches Los trifft unſre Königin, 
Wie hat ſie ſelbſt ſich ihr Geſchick verſchlimmert! 
Nicht ihrer freien Gunſt und Zärtlichkeit, 
Sich ſelbſt nur, ſeinem ſiegenden Verſtand 
Wird ſie der Stolze zu verdanken haben. 
1250 Als ſeine Beute führt er fie davon — 
Wird er ſie achten, Großmut an ihr üben, 
Die keine gegen ihn bewies, auf Tod 
Und Leben ihn um ſie zu kämpfen zwang, 
Ihm nur als Preis des Sieges heimgefallen? 
1265 Wird er beſcheiden ſeines Rechtes brauchen, 
Das er nur ſeinem Recht verdankt? 


Turandot (in der heftigſten Bewegung). 
Adelma, wiſſe! 
Find' ich die Namen nicht, mitten im Tempel 
Durchſtoß' ich dieſe Bruſt mit einem Dolch. 


1260 


1265 


1270 


1275 


1280 


Dritter Aufzug. 2. Auftritt 173 


Adelma. 
Faßt Mut, Gebieterin. Verzweifelt nicht! 
Kunſt oder Liſt muß uns das Rätſel löſen. 


Zelima. 
Gut. Wenn Adelma mehr verſteht als ich 
Und Euch ſo zugetan iſt, wie ſie ſagt, 
So helfe ſie und ſchaffe Rat. 
Turandot. 
Adelma! 
Geliebte Freundin! Hilf mir, ſchaffe Rat! 

Ich kenn' ihn nicht, weiß nicht, woher er kommt — 
Wie kann ich ſein Geſchlecht und Namen wiſſen? 
Adelma (nachſinnend). 

Laß ſehn — Ich hab' es — Hörte man ihn nicht 
Im Divan ſagen, hier in dieſer Stadt, 

In Peckin lebe jemand, der ihn kenne? 

Man muß nachſpüren, muß die ganze Stadt 
Umkehren, weder Gold noch Schätze ſparen — 


Turandot. 
Nimm Gold und Edelſteine, ſpare nichts. 
Kein Schatz iſt mir zu groß, nur daß ich's wiſſe! 

Zelima. 

An wen uns damit wenden? Wo uns Rats 
Erholen? — Und geſetzt wir fänden wirklich 
Auf dieſem Wege ſeinen Stand und Namen, 
Wird es verborgen bleiben, daß Beſtechung, 
Nicht ihre Kunſt das Rätſel uns verraten? 


Adelma. 
Wird Zelima wohl der Verräter ſein? 

Zelima. 
Das geht zu weit — Spart Euer Gold, Prinzeſſin! 
Ich ſchwieg, ich hoffte Euer Herz zu rühren, 


174 Turandot, Prinzeſſin von China 


Euch zu bewegen, dieſen würdigſten 

Von allen Prinzen, den Ihr ſelbſt nicht haſſet, 

Freiwillig zu belohnen — Doch Ihr wollt es! 
1285 So ſiege meine Pflicht und mein Gehorſam. 

— Wißt alſo! Meine Mutter Skirina 

War eben bei mir, war entzückt zu hören, 

Daß dieſer Prinz die Rätſel aufgelöſt, 

Und, von dem neuen Wettſtreit noch nichts wiſſend, 
120 Verriet ſie mir in ihrer erſten Freude, 

Daß dieſer Prinz in ihrem Haus geherbergt, 

Daß Haſſan ihn, ihr Gatte, ſehr wohl kenne, 

Wie ſeinen Herrn und lieben Freund ihn ehre. 

Ich fragte nun nach ſeinem Stand und Namen, 
125 Doch dies ſei noch ein Rätſel für ſie ſelbſt, 

Spricht fie, das Haſſan ſtandhaft ihr verberge; 

Doch hofft ſie noch, es endlich zu ergründen. 

— Verdien' ich es nun noch, ſo zweifle meine 


Gebieterin an meiner Treu und Liebe! 
(Geht ab mit Empfindlichkeit.) 


Turandot (ihr nacheilend). 
1300 Bleib, Zelima. Biſt du beleidigt? — Bleib! 
Vergib der Freundin! 


Adelma (halt fie zurück). 
Laſſen wir ſie ziehen! 
Prinzeſſin, auf die Spur hat Zelima 
Geholfen; unſre Sache iſt es nun, 
Mit Klugheit die Entdeckung zu verfolgen. 
1305 Denn Torheit wär's, zu hoffen, daß uns Haſſan 
Gutwillig das Geheimnis beichten werde, 
Nun er den ganzen Wert desſelben kennt. 
Verſchlagne Liſt, ja, wenn die Liſt nicht hilft, 
Gewalt muß das Geſtändnis ihm entreißen; 
1310 Drum ſchnell — Kein Augenblick iſt zu verlieren. 


1315 


1320 


1825 


Dritter Aufzug. 3. Auftritt 175 


Herbei mit dieſem Haſſan ins Serail, 
Eh' er gewarnt ſich unſerm Arm entzieht. 
Kommt! Wo ſind Eure Sklaven? 


Turandot (fäut ihr um den Hals). 
Wie du willſt, 
Adelma! Freundin! Ich genehm'ge alles, 
Nur daß der Fremde nicht den Sieg erhalte! (Geht ab.) 


Adelma. 
Jetzt, Liebe, ſteh mir bei! Dich ruf' ich an, 
Du Mächtige, die alles kann bezwingen! 
Laß mich entzückt der Sklaverei entſpringen, 
Der Stolz der Feindin öffne mir die Bahn. 
Hilf die Verhaßte liſtig mir betrügen, 
Den Freund gewinnen und mein Herz vergnügen! (Geht ab.) 


Vorhalle des Palaſtes. 
3. Auftritt 


Kalaf und Barak kommen im Geſpräch. 


Ralaf. 
Wenn aber niemand lebt in dieſer Stadt, 
Der Kundſchaft von mir hat als du allein, 
Du treue Seele — Wenn mein väterliches Reich 
Viel hundert Meilen weit von hier entlegen 
Und ſchon acht Jahre lang verloren ijt. 
— Indeſſen, weißt du, lebten wir verborgen, 
Und das Gerücht verbreitet unſern Tod — 
Ach Barak! Wer in Unglück fällt, verliert 


1330 Sich leicht aus der Erinnerung der Menſchen! 


176 Turandot, Prinzeſſin von China 


Barak. 
Nein, es war unbedacht gehandelt, Prinz. 
Vergebt mir. Der Unglückliche muß auch 
Unmöglichs fürchten. Gegen ihn erheben 
Die ſtummen Steine ſelber ſich als Zeugen, 
1333 Die Wand hat Ohren, Mauern find Verräter. 
Ich kann, ich kann mich nicht zufrieden geben! 
Das Glück begünſtigt Euch, das ſchönſte Weib 
Gewinnt Ihr wider Hoffen und Erwarten, 
Gewinnt mit ihr ein großes Königreich, 
1340 Und Eure weib'ſche Zärtlichkeit raubt Euch 
Auf einmal alles wieder! 


Kalaf. 
Hätteſt du 
Ihr Leiden, ihren wilden Schmerz geſehn! 


Barak. 
Auf Eurer Eltern Schmerz, die Ihr zu Berlas 
Troſtlos verlaſſen, hättet Ihr, und nicht 
1345 Auf eines Weibes Tränen achten ſollen! 


Kalaf. 
Schilt meine Liebe nicht. Ich wollt' ihr gerne 
Gefällig ſein. Vielleicht, daß meine Großmut 
Sie rührt, daß Dankbarkeit in ihrem Herzen — 


Barak. 

Im Herzen dieſer Schlange Dankbarkeit? 
1350 Das hoffet nie. 
Kalaf. 
Entgehn kann ſie mir nicht. 

Wie fände ſie mein Rätſel aus? Du, Barak, 
Nicht wahr? Du haſt mich nicht verraten? Nicht? 
Vielleicht, daß du im ſtillen deinem Weibe 
Vertraut haſt, wer ich ſei? 


1355 


1360 


1365 


| 1870 
4 


Dritter Aufzug. 4. Auftritt 177 


Barak. 
Ich? Keine Silbe. 
Barak weiß Euren Winken zu gehorchen. 
Doch weiß ich nicht, welch ſchwarze Ahnung mir 
Den Sinn umnachtet und das Herz beklemmt! 


4. Auftritt 
Die Vorigen. Pantalon. Tartaglia und Brigella mit Soldaten. 


Pantalon. 
Sieh! Sieh! Da iſt er ja! Potz Element, 
Wo ſteckt Ihr, Prinz? Was habt Ihr hier zu ſchaffen? 
(Den Barak mit den Augen muſternd.) 
Und wer ijt dieſer Mann, mit dem Ihr ſchwatzt? 


Barak (vor ſich). 
Weh uns! Was wird das? 


Tartaglia. 
Sprecht! Wer iſt der Mann? 
Kalaf. 
Ich kenn' ihn nicht. Ich fand ihn hier nur ſo 


»Von ohngefähr, und weil ich müßig war, 


Fragt' ich ihn um die Stadt und ihre Bräuche. 


Tartaglia. 
Haltet zu Gnaden, Prinz. Ihr ſeid zu grad 
Für dieſe falſche Welt; das gute Herz 
Rennt mit dem Kopf davon — Heut' früh im Divan! 
Wie Teufel kamt Ihr zu dem Narrenſtreich, 
Den Vogel wieder aus der Hand zu laſſen! 


Pantalon. 
Laßt's gut ſein. Was geſchehn iſt, iſt geſchehn. 
Ihr wißt nicht, lieber junger Prinz, wie tief Ihr 
Im Waſſer ſteht, wie Euch von allen Seiten 
Schillers Werke. IX. 12 


1375 


1380 


1885 


1390 


1395 


178 Turandot, Prinzeſſin von China 


Betrug umlauert und Verräterſtricke 
Umgeben — Laſſen wir Euch aus den Augen, 
So richtet man Euch ab, wie einen Star. 
(Zu Barat.) 
Herr Nachbar Naſeweis, ſteckt Eure Naſe 
Wo anders hin — Beliebt es Eurer Hoheit, 
Ins Haus herein zu gehn — He da, Soldaten! 
Nehmt ihn in eure Mitte! — Ihr, Brigella, 
Wißt Eure Pflicht — Bewachet ſeine Tür 
Bis morgen frühe zu des Divans Stunde. 
Kein Menſch darf zu ihm ein! So will's der Kaiſer. 
(Zu Kalaf.) 
Merkt Ihr? Er iſt verliebt in Euch und fürchtet, 
Es möchte noch ein Unheil zwiſchen kommen. 
Seid Ihr bis morgen nicht ſein Schwiegerſohn, 
So fürcht' ich, tragen wir den alten Herrn 
Zu Grabe — Nichts für ungut, Prinz! Doch das 
Von heute Morgen war — mit Eurer Gunſt — 
Ein Narrenſtreich! — Ums Himmels willen! Gebt Euch 
Nicht bloß, laßt Euch den Namen nicht entlocken! 
(Ihm ins Ohr zutraulich.) 
Doch wollt Ihr ihn dem alten Pantalon 
Ganz ſachtchen, ſachtchen in die Ohren wiſpern, 
So wird er ſich gar ſchön dafür bedanken. 
Bekommt er dieſe Rekompens? 
Kalaf. 

Wie, Alter? 

Gehorcht Ihr ſo dem Kaiſer, Euerm Herrn? 


Pantalon. 
Bravo! Scharmant! — Nun marſch! Voran, Brigella! 
Habt Ihr's gehört? Was ſteht Ihr hier und gaffet? 


Brigelia. 
Beliebet nur das Plaudern einzuſtellen, 
So werd' ich tun, was meines Amtes iſt. 


1400 


1405 


1410 


1415 


Dritter Aufzug. 4. Auftritt 179 


Tartaglia. 
Paßt ja wohl auf. Der Kopf ſteht drauf, Brigella. 


Brigella. 
Ich habe meinen Kopf ſo lieb als Ihr 
Den Euren, Herr! 's braucht der Ermahnung nicht. 


Tartaglia. 
Es juckt und brennt mich nach dem Namen — Uh! 
Geruhtet Ihr, ihn mir zu ſagen, Hoheit, 
Recht wie ein Kleinod wollt' ich ihn bei mir 
Vergraben und bewahren — Ja, das wollt' ich! 


Kalaf. 
Umſonſt verſucht Ihr mich. Am nächſten Morgen 
Erfahrt Ihr ihn, erfährt ihn alle Welt. 


Tartaglia. 
Bravo! Braviſſimo! Hol' mich der Teufel! 


Pantalon. 
Nun, Gott befohlen, Prinz! 
(Zu Barak.) 
Und Ihr, Herr Schlingel! 
Ihr tätet beſſer, Eurer Arbeit nach 
Zu gehn, als im Palaſt hier aufzupaſſen, 
Verſteht Ihr mich? (Geht ab.) 
Tartaglia (ſieht ihn ſcheel an). 
Ja wohl! Ja wohl! Ihr habt mir 
So ein gewiſſes Anſehn — eine Miene, 
Die mir nicht außerordentlich gefällt. 
Ich rat' Euch Gutes, geht! 
(Folgt dem Pantalon.) 
Brigella (zu Kalaß). 
Erlaubt mir, Prinz, 
Daß ich dem, der befehlen kann, gehorche. 
Laßt's Euch gefallen, in dies Haus zu gehn. 


180 Turandot, Prinzeſſin von China 


Kalaf. 
Das will ich gerne. 
(Zu Barak, leiſe.) 


Freund, auf Wiederſehn! 
1420 Zu beſſerer Gelegenheit! Leb’ wohl. 
Barak. 
Herr, ich bin Euer Sklav! 


Brigella. 
Nur fort! Nur fort! 


Und macht den Zeremonien ein Ende. 
(Kalaf folgt den Soldaten, die ihn in ihre Mitte nehmen; Timur tritt von 


der entgegengeſetzten Seite auf, bemerkt ihn und macht Gebärden des 
Schreckens und Erſtaunens.) 
Barak (ihm nachſehend). 
Der Himmel ſteh' dir bei, treuherz'ge Unſchuld! 
Was mich betrifft, ich hüte meine Zunge. 


5. Auftritt 


Timur, ein Greis in dürftiger Kleidung. Barak. 


: Timur lentſetzt vor fig). 

1425 Weh mir! Mein Sohn! Soldaten führen ihn 
Gefangen fort! Sie führen ihn zum Tode! 
Gewiß, gewiß, daß der Tyrann von Tefflis, 
Der Räuber meines Reichs, ihn bis nach Peckin 
Verfolgen ließ und ſeine Rache ſättigt! 

1430 Doch mit ihm will ich fterben! 

(Eilt ihm nach und ruft laut.) 
Kalaf! Kalaf! 
Barak 
(tritt ihm in den Weg und hält ihm das Schwert auf die Bruſt). 
Halt ein, Unglücklicher! Du biſt des Todes! 


(Pauſe. Beide ſehen einander erſtaunt an. Unterdeſſen hat ſich Kalaf 
mit den Soldaten entfernt.) 


Wer biſt du, Alter? Woher kommſt du, ſprich, 
Daß du den Namen dieſes Jünglings weißt? 


aS 


1436 


1440 


14486 


1450 


1455 


Dritter Aufzug. 5. Auftritt 181 


Timur. 
Was ſeh' ich? Gott! Du, Barak! Du in Peckin! 
Du ſein Verräter? Ein Rebell? Und zückſt 
Das Schwert auf deinen König? 


Barak (läßt erſtaunt das Schwert ſinken). 
Große Götter! 
Iſt's möglich? — Timur? 
Timur. 
Ja, Verräter! 

Ich bin es, dein unglücklicher Monarch, 
Von aller Welt, nun auch von dir verraten! 
Was zögerſt du? Nimm dieſes Leben hin, 
Verhaßt iſt mir's, da ich die treuſten Diener 
Um ſchnöden Vorteils willen undankbar 
Und meinen Sohn dem Tod geopfert ſehe! 


Barak. 
Herr! — Herr! — O Gott! das iſt mein Fürſt, mein 
a König! 
Er iſt's! Nur allzuwohl erkenn' ich ihn. 
(Fällt ihm zu Füßen.) 
In dieſem Staub! In dieſer Niedrigkeit! 
Ihr Götter! Muß mein Auge dies erleben! 
— Verzeiht, Gebieter, meiner blinden Wut! 
Die Liebe iſt's zu Eurem Sohn, die Angſt, 
Die treue Sorge, die mich hingeriſſen. 
So lieb Euch Eures Sohnes Heil, ſo komme 
Der Name Kalaf nie aus Eurem Munde! 
— Ich nenne mich hier Haſſan, nicht mehr Barak — 
— Ach weh mir! Wenn uns jemand hier behorchte! — 
Sagt, ob Elmaze, meine Königin, 
Sich auch mit Euch in dieſer Stadt befindet? 


Timur. 
Still, Barak, ſtill! O ſprich mir nicht von ihr! 
In unſerm traur'gen Aufenthalt zu Berlas 


1460 


1465 


1470 


1475 


1480 


182 Turandot, Prinzeſſin von China 


Verzehrte ſie der Gram um unſern Sohn, 
— Sie ſtarb in dieſen lebensmüden Armen. 


Barak. 
O die Bejammernswürdige! 


Timur. 
Ich floh! 

Ich konnt' es, einſam, dort nicht mehr ertragen. 
Des Sohnes Spuren folgend frag' ich mich 
Von Land zu Land, von einer Stadt zur andern. 
Und jetzt, da mich nach langem Irren endlich 
Der Götter Hand hieher geleitet, iſt 
Mein erſter Anblick der gefangne Sohn, 
Den man zum Tode führt. 


Barak. 
Kommt, kommt, mein König! 
Befürchtet nichts für Euren Sohn! Vielleicht 
Daß ihn, eh' noch der nächſte Tag verlaufen, 
Das höchſte Glück belohnt und Euch mit ihm! 
Nur daß ſein Name nicht, noch auch der Eure 
Von Euern Lippen komme — Merkt Euch das! 
Ich nenne mich hier Haſſan, nicht mehr Barak. 


Timur. 
Was für Geheimniſſe — Erklär' mir doch! 


Barak. 
Kommt! Hier iſt nicht der Ort, davon zu reden! 
Folgt mir nach meiner Wohnung — Doch was ſeh' ich? 
(Skirina tritt aus dem Palaſt.) 
Mein Weib aus dem Serail! O wehe mir! 
Wir ſind entdeckt! 
(Zu Skirina heftig.) 


Was haſt du hier zu ſuchen? 
Unglückliche! Wo kommſt du her? 


Dritter Aufzug. 6. Auftritt 183 


6. Auftritt 
Skirina zu den Vorigen. 


Skirina. 
Nun! Nun! 


Aus dem Serail komm' ich, von meiner Tochter. 

Die Freude trieb mich hin, daß unſer Gaſt, 

Der fremde Prinz, den Sieg davon getragen. 

Die Neugier auch — Nun ja — ich wollte ſehn, 
uss Wie dieſer männerſcheuen Unholdin 

Der Brautſtand läßt — und freute mich darüber 

Mit meiner Tochter Zel'ma. 


Barak. 
Dacht' ich's doch! 
Weib! Weib! Du weißt nicht alles, und geſchwätzig 
Wie eine Elſter läufſt du ins Serail; 
1490 Ich ſuchte dich, es dir zu unterſagen. 
Umſonſt! Zu ſpät! Des Weibes Unverſtand 
Rennt immer vor des Mannes weiſem Rat 
Voraus — Was iſt nicht alles dort geträtſcht, 
Geplaudert worden! Nur heraus! Mir iſt, 
1495 Ich höre dich in deiner albernen 
Entzückung ſagen: Dieſer Unbekannte 
Iſt unſer Gaſt, er wohnt bei uns, mein Mann 
Kennt ihn und hält ihn hoch in Ehren — Sprich! 
Haſt du's geſagt? 
Skirina. 
Und wenn ich nun? Was wär's? 


Barak. 
1500 Nein, nein, gefteh es nur. Haft du's geſagt? 


Skirina. 
Ich hab's geſagt. Warum ſollt' ich's verbergen? 


1505 


1510 


1515 


1520 


184 Turandot, Prinzeſſin von China 


Sie wollten auch den Namen von mir wiſſen, 
Und — daß ich's nur geſtehe — ich verſprach's. 


Barak. 


Weh mir! Wir ſind verloren! — Raſende! — 
(Zu Timur ſich wendend.) 
Wir müſſen fort. Wir müſſen fliehn! 


Timur. 
So ſag' mir doch, was für Geheimniſſe — 


Barak. 


Fort! Fort aus Pein! Keine Zeit verloren! 
(Truffaldin zeigt ſich im Hintergrund mit ſeinen Schwarzen.) 
— Weh uns! Es iſt zu ſpät. Sie kommen ſchon! 
Sie ſuchen mich, die Schwarzen, die Verſchnittnen 

Der fürchterlichen Turandot — Sinnloſe! 
In welchen Jammer ſtürzt uns deine Zunge! 


(Truffaldin hat ihn bemerkt und bedeutet den Verſchnittenen durch Ge⸗ 


bärden, daß ſie ſich ſeiner bemächtigen ſollen.) 
Ich kann nicht mehr entfliehen — Fliehe du, 
Verbirg dich, rette dich und dieſen Alten! 


Timur. 
So ſag' mir doch! 

Barak. 

Fort! Keine Widerrede! 

Ich bin entdeckt! — Verſchloſſen wie das Grab 
Sei Euer Mund! Nie komme Euer Name, 
Nie, nie der ſeine über Eure Lippen! 
— Und du, Unglückliche, wenn du das Übel, 
Das deine Zunge über uns gebracht, 
Gut machen willſt, verbirg dich, nicht in deiner, 
In einer fremden Wohnung, halte dieſen 
Verborgen, bis der nächſte Tag zur Hälfte 
Verſtrichen iſt — 


1526 


1530 


1535 


Dritter Aufzug. 7. Auftritt 185 


Skirina. 
Willſt du mir denn nicht ſagen? 


Timur. 


Willſt du nicht mit uns fliehn? 


Barak. 
Tut, was ich fage! 
Werde mit mir, was will, wenn Ihr Euch rettet. 


Skirina. 
Sprich, Haſſan! Worin hab' ich denn gefehlt? 


Timur. 
Erklär' mir dieſe Rätſel! 


Barak (heftig). 
Welche Marter! 
Um aller Götter willen, fort, und fragt 
Nicht weiter! Sie umringen uns, es iſt 
Zu ſpät, und alle Flucht iſt jetzt vergebens. 
— Die Namen, alter Mann, die Namen nur 
Verſchweigt, und alles kann noch glücklich enden! 


7. Auftritt 
Vorige. Truffaldin mit den Verſchnittenen. 


Truffaldin 


(iſt nach und nach näher gekommen, hat die Ausgänge beſetzt und tritt 
nun hervor, mit übertriebenen Gebärden ihm den Degen auf die Bruſt 


haltend). 
Halt an und ſteht! Nicht von der Stelle! Nicht 
Gemuckſt! Der iſt des Todes, der ſich rührt. 


Skirina. 
O wehe mir! 


186 Turandot, Prinzeſſin von China 


Barak. 
Ich weiß, Ihr ſucht den Haſſan. 
Hier bin ich, führt mich fort. 
Truffaldin. 
Bſt! Keinen Lärmen! 
's iſt gut gemeint. Es ſoll Euch eine ganz 
Abſonderliche Gnad' und Ehr' geſchehn. 


Barak. 
Ja, ins Serail wollt Ihr mich führen, kommt! 


Truffaldin. 
1640 Gemach! Gemach! Ei ſeht doch, welche Gunſt 
Euch widerfährt! Ins Harem! Ins Serail 
Der Königin — Ihr glückliche Perſon! 
's kommt keine Fliege ins Serail, ſie wird 
Erſt wohl beſichtigt und beſchaut, ob ſie 
1845 Ein Männchen oder Weib, und iſt's ein Männchen, 
Wird's ohne Gnad' gekreuzigt und gepfählt. 
— Wer iſt der Alte da? 


Barak. 
Ein armer Bettler, 
Den ich nicht kenne — Kommt und laßt uns gehn. 


Truffaldin 
(betrachtet den Timur mit lächerlicher Genauigkeit). 


Gemach! Gemach! Ein armer Bettler! Ei! 
1850 — Wir haben uns großmütig vorgeſetzt, 
Auch dieſes armen Bettlers Glück zu machen. 
(Bemerkt und betrachtet die Skirina.) ; 
— Wer iſt die Weibsperſon? 
Barak. 
Was zögerſt du? 
Ich weiß, daß deine Königin mich erwartet. 
Laß dieſen Greis; das Weibsbild kenn' ich nicht, 
1866 Hab's nie geſehn und weiß nicht, wer ſie iſt. 


1560 


1565 


1570 


Dritter Aufzug. 7. Auftritt 


Truffaldin (zornig). 

Du kennſt ſie nicht? Du haſt ſie nie geſehn? 
Verdammte Lüge! Was! Kenn' ich ſie nicht 
Als deine Frau und als die Mutter nicht 
Der Sklavin Zelima? Hab' ich ſie nicht 
Zu hundertmalen im Serail geſehn, 
Wenn fie der Tochter weiße Wäſche brachte? 

(Mit komiſcher Gravität zu den Verſchnittenen.) 
Merkt, Sklaven, den Befehl, den ich euch gebe! 
Die drei Perſonen hier nehmt in Verwahrung, 
Bewacht ſie wohl, hört ihr, laßt ſie mit keiner 
Lebend'gen Seele reden, und bei Nacht, 
Sobald es ſtill iſt, führt ſie ins Serail. 


Timur. 
O Gott! Was wird aus mir! 


Skirina. 


Ich faſſ' es nicht. 


Barak (zu Timur). 
Was aus dir werden ſoll, und was aus mir? 
Ich werde alles leiden. Leid' auch du! 
Vergiß nicht, was ich dir empfahl — Und, was 
Dir auch begegne, hüte deine Zunge! 
— Jetzt haſt du, töricht Weib, was du gewollt. 


Skirina. 
Gott ſteh' uns bei! 


Truffaldin (zu den Schwarzen). 


187 


Ergreift ſie! Fort mit ihnen! (Gehen ab.) 


1675 


1580 


1585 


1590 


188 Turandot, Prinzeſſin von China 


Vierter Aufzug 


Vorhof mit Säulen. In der Mitte eine Tafel mit einem 
mächtig großen Becken, voll von Goldſtücken. 


1. Auftritt 


Turandot. Zelima. Skirina. Timur. Barak. 


(Barak und Timur ſtehen, jeder an einer Säule, einander gegenüber, die 

Verſchnittenen um ſie herum, alle mit entblößten Säbeln und Dolchen. 

Zelima und Skirina ſtehen weinend auf der einen, Turandot drohend und 
ſtreng auf der andern Seite.) 


Turandot. 

Noch iſt es Zeit. Noch laſſ' ich mich herab, 
Zu bitten — Dieſer aufgehäufte Berg 
Von Gold iſt euer, wenn ihr mir in gutem 
Des Unbekannten Stand und Namen nennt. 
Beſteht ihr aber drauf, ihn zu verſchweigen, 
So ſollen dieſe Dolche, die ihr hier 
Auf euch gezückt ſeht, euer Herz durchbohren! 
He da ihr Sklaven! Machet euch bereit. 

(Die Verſchnittenen halten ihnen ihre Dolche auf die Bruſt.) 


Barak (zu Skirina). 
Nun, heillos Weib, nun ſiehſt du, Skirina, 
Wohin uns deine Plauderhaftigkeit geführt. 
— Prinzeſſin, ſättigt Eure Wut. Ich biete 
Den Martern Trotz, die Ihr erſinnen könnt, 
Ich bin bereit, den herbſten Tod zu leiden. 
— Herbei, ihr Schwarzen! Auf, ihr Marterknechte, 
Tyranniſche Werkzeuge der Tyrannin, 
Zerfleiſcht mich, tötet mich, ich will es dulden. 
— Sie hat ganz Recht, ich kenne dieſen Prinzen 
Und ſeinen Vater, beider Namen weiß ich, 
Doch keine Marter preßt ſie von mir aus, 


1595 


1600 


1606 


1610 


Vierter Aufzug. 1. Auftritt 189 


Kein Gold verführt mich: weniger als Staub, 
Als ſchlechte Erde acht' ich dieſe Schätze! 

Du, meine Gattin, jammre nicht um mich, 

Für dieſen Alten ſpare deine Tränen, 

Für ihn erweiche dieſes Felſenherz, 

Daß der Unſchuldige gerettet werde. 

Sein ganz Verbrechen iſt, mein Freund zu ſein. 


Skirina (flehend zu Turandot). 
O Königin, Erbarmen! 


Timur. 
Niemand kümmre ſich 
Um einen ſchwachen Alten, den die Götter 
Im Zorn verfolgen, dem der Tod Erlöſung, 
Das Leben eine Marter iſt. Ich will 
Dich retten, Freund, und ſterben. Wiſſe denn, 
Du Grauſame — 


Barak (unterbricht ihn). 
Um aller Götter willen! Schweigt! 
Der Name komme nicht aus Eurem Munde. 


Turandot (neugierig). 
Du weißt ihn alſo, Greis? 


Timur. 
Ob ich ihn weiß? 
Unmenſchliche! — Freund, ſag' mir das Geheimnis, 
Warum darf ich die Namen nicht entdecken? 
Barak. 
Ihr tötet ihn und uns, wenn Ihr ſie nennt. 


Turandot. 
Er will dich ſchrecken, Alter, fürchte nichts. 


Herbei, ihr Sklaven, züchtigt den Verwegnen! 
(Die Verſchnittenen umgeben den Barak.) 


1615 


1620 


1625 


1630 


1635 


190 Turandot, Prinzeſſin von China 


Akirina. 
Ihr Götter, helft! Mein Mann! Mein Mann! 


Timur (tritt dazwiſchen). 
Halt! Haltet! 

Was ſoll ich tun! Ihr Götter, welche Marter! 
— Prinzeſſin, ſchwört mir's zu bei Eurem Haupt, 
Bei Euren Göttern ſchwört mir, daß ſein Leben 
Und dieſes Fremdlings Leben ungefährdet 
Sein ſoll — Mein eignes acht' ich nichts und will 
Es freudig Eurer Wut zum Opfer geben — 
Schwört mir das zu, und Ihr ſollt alles wiſſen. 


Turandot. 
Bei meinem Haupt, zum furchtbarn Fohi ſchwör' ich, 
Daß weder ſeinem Leben, noch des Prinzen, 
Noch irgend eines hier Gefährde droht — 


Barak (unterbricht fie). 
Halt, Lügnerin — Nicht weiter — Glaubt ihr nicht! 
Verräterei lauſcht hinter dieſem Schwur. 
— Schwört, Turandot, ſchwört, daß der Unbekannte 
Euer Gatte werden ſoll, im Augenblick, 
Da wir die Namen Euch entdeckt, wie recht 
Und billig iſt, Ihr wißt es, Undankbare! 
Schwört, wenn Ihr könnt und dürft, daß er, verſchmäht 
Von Euch, nicht in Verzweiflung ſterben wird 
Durch ſeine eigne Hand — Und ſchwört uns zu, 
Daß, wenn wir Euch die Namen nun entdeckt, 
Für unſer Leben nichts zu fürchten ſei, 
Noch daß ein ew'ger Kerker uns lebendig 
Begraben und der Welt verbergen ſoll — 
Dies ſchwört uns, und der erſte bin ich ſelbſt, 
Der Euch die beiden Namen nennt! 


1640 


1645 


1650 


Vierter Aufzug. 1. Auftritt 191 


Timur. 
Was für Geheimniſſe ſind dies! Ihr Götter, 
Nehmt dieſe Qual und Herzensangſt von mir! 


Turandot. 
Ich bin der Worte müd — Ergreift ſie, Sklaven! 
Durchbohret ſie! 

Skirina. 


O Königin! Erbarmen! 
(Die Verſchnittenen ſind im Begriff, zu gehorchen, aber Skirina und Ze⸗ 


lima werfen ſich dazwiſchen.) 
Barak. 
Nun ſiehſt du, Greis, das Herz der Tigerin! 


Timur (niedergeworfen). 
Mein Sohn! Dir weih' ich freudig dieſes Leben. 
Die Mutter ging voran, ihr folg' ich nach. 


Turandot (betroffen, wehrt den Sklaven). 
Sein Sohn! Was hör' ich! Haltet! — Du ein Prinz? 
Ein König? Du des Unbekannten Vater? 


Timur. 
Ja, Grauſame! Ich bin ein König — bin 
Ein Vater, den der Jammer niederdrückt! 


Barak. 
O König! Was habt Ihr getan! 


Skirina. 
Ein König! 
In ſolchem Elend! 
Zelima. 


Allgerechte Götter! 


Turandot 
(in tiefes Staunen verloren, nicht ohne Rührung). 


Ein König und in ſolcher Schmach! — Sein Vater! 
Des unglückſel'gen Jünglings, den ich mich 


192 Turandot, Pringeffin von China 


Zu haſſen zwinge und nicht haſſen kann! 

1685 — O der Bejammernswürdige — Wie wird mir! 
Das Herz im tiefſten Buſen wendet ſich! 
Sein Vater! — Und er ſelbſt — Sagt er nicht ſo? 
Genötiget, als niedrer Knecht zu dienen 
Und Laſten um geringen Sold zu tragen! 

100 O Menſchlichkeit! O Schickſal! 


Barak. 
Turandot! 


Dies iſt ein König! Scheuet Euch und ſchaudert 
Zurück, die heil'gen Glieder zu verletzen! 
Wenn ſolches Jammers Größe Euch nicht rührt, 
Euch nicht das Mitleid, nicht die Menſchlichkeit 
1666 Entwaffnen kann, laßt Euch die Scham beſiegen. 
Ehrt Eures eignen greiſen Vaters Haupt 
In dieſem Greis — O ſchändet Euch nicht ſelbſt 
Durch eine Tat, die Euer Blut entehrte! 
Genug, daß Ihr die Jünglinge gemordet, 
1670 Schonet das Alter, das unmächtige, 
Das auch die Götter zum Erbarmen zwingt! 


Zelima (wirft ſich zu ihren Füßen). 
Ihr ſeid bewegt, Ihr könnt nicht widerſtehn. 
O gebt dem Mitleid und der Gnade Raum, 
Laßt Euch die Größe dieſes Jammers rühren. 


2. Auftritt 


Adelma zu den Vorigen. 


Turandot lihr entgegen). 
1675 Kommſt du, Adelma? Hilf mir! O ſchaff' Rat! 
Ich bin entwaffnet — Ich bin außer mir! 
Dies iſt ſein Vater, ein Monarch und König! 


1680 


1686 


1690 


1695 


Vierter Aufzug. 2. Auftritt 


Adelma. 
Ich hörte alles. Fort mit dieſen beiden, 
Schafft dieſes Gold hinweg, der Kaiſer naht! 


Turandot. 
Mein Vater? Wie? 
Adelma. 


Iſt auf dem Weg hieher. 
(Zu den Schwarzen.) 
Fort, eh' wir überfallen werden! Sklaven, 
Führt dieſe beiden in die unterſten 
Gewölbe des Serails, dort haltet ſie 


Verborgen, bis auf weitere Befehle! 
(Zur Turandot.) 


Es iſt umſonſt. Wir müſſen der Gewalt 
Entſagen. Nichts kann retten als die Liſt. 
— Ich habe einen Anſchlag — Skirina, 
Ihr bleibt zurück. Auch Zelima ſoll bleiben. 


Barak (zu Timur). 
Weh uns, mein Fürſt! Die Götter mögen wiſſen, 
Welch neues Schrecknis ausgebrütet wird! 
— Weib! Tochter! Seid getreu, o haltet feſt, 
Laßt euch von dieſen Schlangen nicht verführen! 


Turandot (zu den Schwarzen). 
Ihr wiſſet den Befehl. Fort, fort mit ihnen 
In des Serails verborgenſte Gewölbe! 


Timur. 
Fall' Eure ganze Rache auf mein Haupt! 
Nur ihm, nur meinem Sohn erzeiget Mitleid. 
Barak. 
Mitleid in dieſer Furie! Verraten 
Iſt Euer Sohn, und uns, ich ſeh' es klar, 


Wird ew'ge Nacht dem Aug' der Welt verbergen. 
Schillers Werke. IX. 13 


193 


194 Turandot, Prinzeſſin von China 


1700 Man führt uns aus dem Angeſicht der Menſchen, 
Wohin kein Lichtſtrahl und kein Auge dringt 
Und unſer Schmerz kein fühlend Ohr erreicht! 

(Zur Prinzeſſin.) 

Die Welt kannſt du, der Menſchen Auge blenden, 
Doch zittre vor der Götter Rachgericht! 

175 Magſt du im Schlund der Erde ſie verſtecken, 
Laß tauſend Totengrüfte ſie bedecken, 


Sie bringen deine Übeltat ans Licht. 


(Er folgt mit Timur den Verſchnittenen, welche zugleich die Tafel und 
das Becken mit den Goldſtücken hinwegtragen.) 


3. Auftritt 
Turandot. Adelma. Zelima und Skirina. 


Turandot (zu Adelma). 
Auf dich verlaſſ' ich mich, du einz'ge Freundin! 
O ſage, ſprich, wie du mich retten willſt. 


Adelma. 

1710 Die Wachen, die auf Altoums Befehl 
Des Prinzen Zimmer hüten, ſind gewonnen. 
Man kann zu ihm hineingehn, mit ihm ſprechen — 
Und was iſt dann nicht möglich, wenn wir klug 
Die Furcht, die Überredung ſpielen laſſen. 

1718 Denn arglos iſt fein Herz und gibt ſich leicht 

Der Schmeichelſtimme des Verräters hin. 

Wenn Skirina, wenn Zelima mir nur 
Behilflich ſind und ihre Rolle ſpielen, 
So zweifelt nicht, mein Anſchlag ſoll gelingen. 


Turandot (zu Skirina). 
1720 So lieb dir Haſſans Leben, Skirina! 
Er iſt in meiner Macht, ich kann ihn töten. 


1725 


1730 


1735 


1740 


Vierter Aufzug. 4. Auftritt 195 


Skirina. 
Was Ihr befehlt, ich bin bereit zu allem, 
Wenn ich nur meines Haſſans Leben rette. 


Turandot (gu Zelima). 
So wert dir meine Gunſt ift, Zelima — 


Zelima. 
Auf meinen Eifer zählt und meine Treue! 


Adelma. 
So kommt. Kein Augenblick iſt zu verlieren. (Sie gehen ab.) 


Turandot. 
Geht! Geht! Tut, was ſie ſagt. 


4. Auftritt 
Turandot allein. 


Was ſinnt Adelma? 
Wird ſie mich retten? Götter, ſteht ihr bei! 
Kann ich mich noch mit dieſem Siege krönen, 
Wes Name wird dann größer ſein als meiner? 
Wer wird es wagen, ſich in Geiſteskraft 
Mit Turandot zu meſſen? — Welche Luſt, 
Im Divan, vor der wartenden Verſammlung, 
Die Namen ihm ins Angeſicht zu werfen 
Und ihn beſchämt von meinem Thron zu weiſen! 
— Und doch iſt mir's, als würd' es mich betrüben! 
Mir iſt, als ſäh' ich ihn, verzweiflungsvoll, 
Zu meinen Füßen ſeinen Geiſt verhauchen, 
Und dieſer Anblick dringt mir an das Herz. 
— Wie, Turandot? Wo iſt der edle Stolz 
Der großen Seele? Hat's ihn auch gekränkt, 
Im Divan über dich zu triumphieren? 


196 Turandot, Prinzeſſin von China 


Was wird dein Anteil ſein, wenn er auch hier 

Den Sieg dir abgewinnt? — Recht hat Adelma! 
17s Zu weit iſt es gekommen! Umkehr iſt 

Nicht möglich! — Du mußt ſiegen oder fallen! 

Beſiegt von einem iſt beſiegt von allen. 


5. Auftritt 


Turandot. Altoum. Pantalon und Tartaglia folgen ihm in 
einiger Entfernung nach. 


Altoum 
(in einem Briefe leſend und in tiefen Gedanken, vor ſich). 

So mußte dieſer blutige Tyrann 

Von Tefflis enden! Kalaf, Timurs Sohn, 
170 Aus ſeiner Väter Reich vertrieben, flüchtig 

Von Land zu Lande ſchweifend, muß hieher 

Nach Peckin kommen und durch ſeltſame 

Verkettung der Geſchicke glücklich werden! 

So führt das Schickſal an verborgnem Band 
176 Den Menſchen auf geheimnisvollen Pfaden; 

Doch über ihm wacht eine Götterhand, 

Und wunderbar entwirret ſich der Faden. 


Pantalon (leiſe zu Tartaglia). 
Rappelt's der Majeſtät? Was kömmt ſie an, 
Daß ſie in Verſen mit ſich ſelber ſpricht? 


Tartaglia (teiſe zu Pantalon). 
1760 Still! Still! Es iſt ein Bote angelangt 
Aus fernen Landen — Was er brachte, mag 
Der Teufel wiſſen! 


Altoum 
(ſteckt den Brief in den Buſen und wendet ſich zu ſeiner Tochter). 


Turandot! Die Stunden 
Entfliehen, die Entſcheidung rückt heran, 
Und ſchlaflos irrſt du im Serail umher, 


1765 


1770 


1776 


1780 


1786 


Vierter Aufzug. 6. Auftritt 197 


Zerquälſt dich, das Unmögliche zu wiſſen. 

— Vergebens quälſt du dich. Es iſt umſonſt, 

Ich aber hab' es ohne Müh erfahren. 

— Sieh dieſen Brief. Hier ſtehen beide Namen 

Und alles, was ſie kenntlich macht. Soeben 

Bringt ihn ein Bote mir aus fernen Landen. 

Ich halt' ihn wohl verſchloſſen und bewacht, 

Bis dieſer nächſte Tag vorüber iſt. 

Der unbekannte Prinz iſt wirklich König 

Und eines Königs Sohn — Es iſt unmöglich, 

Daß du errateſt, wer ſie beide ſeien. 

Ihr Reich liegt allzufern von hier, der Name 

Iſt kaum zu Peckin ausgeſprochen worden. 

— Doch ſieh, weil ich's als Vater mit dir meine, 

Komm' ich in ſpäter Nacht noch her — Kann es 

Dir Freude machen, dich zum zweitenmal 

Im Divan dem Gelächter bloßzuſtellen, 

Dem Hohn des Pöbels, der mit Ungeduld 

Drauf wartet, deinen Stolz gebeugt zu ſehn? 

Denn abgeſinnt, du weißt's, iſt dir das Volk, 

Kaum werd' ich ſeiner Wut gebieten können, 

Wenn du im Divan nun verſtummen mußt. 

— Sieh, liebes Kind, dies führte mich hieher. 
(Zu Pantalon und Tartaglia.) 

Laßt uns allein. 


(Jene entfernen ſich ungern und zaudernd. 


6. Auftritt 
Turandot und Altoum. 


Altoum 


(nachdem jene weg ſind, nähert er ſich ihr und faßt ſie vertraulich bei der 
Hand). 


8 Ich komme, deine Ehre 
u retten. 


1790 


1795 


1800 


1805 


1810 


198 Turandot, Prinzeſſin von China 


Turandot. 
Meine Ehre, Sire? Spart Euch 

Die Müh! Nicht Rettung brauch' ich meiner Ehre — 
Ich werde mir im Divan morgen ſelbſt 
Zu helfen wiſſen. 

Altoum. 

Ach, du ſchmeichelſt dir 

Mit eitler Hoffnung. Glaube mir's, mein Kind, 
Unmöglich iſt's, zu wiſſen, was du hoffſt. 
Ich leſ' in deinen Augen, deinen wild 
Verwirrten Zügen deine Qual und Angſt. 
Ich bin dein Vater, ſieh, ich hab' dich lieb. 
— Wir ſind allein — Sei offen gegen mich! 
Bekenn' es frei — weißt du die beiden Namen? 


Turandot. 
Ob ich ſie weiß, wird man im Divan hören. 


Altoum. 
Nein, Kind! du weißt ſie nicht, kannſt ſie nicht wiſſen. 
Wenn du ſie weißt, ſo ſag' mir's im Vertrauen. 
Ich laſſe dann den Unglückſel'gen wiſſen, 
Daß er verraten iſt, und laſſ' ihn ſtill 
Aus meinen Staaten ziehn; ſo meideſt du 
Den Haß des Volks, und mit dem Sieg zugleich 
Trägſt du den Ruhm der Großmut noch davon, 
Daß du dem Überwundenen die Schmach 
Der öffentlichen Niederlage ſparteſt. 
— Um dieſes Einz'ge bitt' ich dich, mein Kind, 
Wirſt du's dem Vater, der dich liebt, verſagen? 


Turandot. 
Ich weiß die Namen oder weiß ſie nicht, 
Genug! Hat er im Divan meiner nicht 
Geſchont, brauch' ich auch ſeiner nicht zu ſchonen. 


1815 


1820 


1825 


1830 


1836 


1840 


1845 


Vierter Aufzug. 6. Auftritt 199 


Gerechtigkeit geſchehe. Offentlich, 
Wenn ich ſie weiß, ſoll man die Namen hören. 


Altoum 


(will ungeduldig werden, zwingt ſich aber und fährt mit Mäßigung und 


Milde fort). 

Durft' er dich ſchonen? Galt es nicht ſein Leben? 
Galt es nicht, was ihm mehr war, deine Hand? 
Dich zu gewinnen und ſich ſelbſt zu retten, 
Mußt' er den Sieg im Divan dir entreißen. 
— Nur einen Augenblick leg' deinen Zorn 
Bei Seite, Kind — Gib Raum der Überlegung! 
Sieh, dieſes Haupt ſetz' ich zum Pfand, du weißt 
Die Namen nicht — Ich aber weiß ſie — hier 

(auf den Brief zeigend) 
Stehn ſie geſchrieben, und ich ſag' ſie dir. 
— Der Divan ſoll ſich in der Früh verſammeln, 
Der Unbekannte öffentlich erſcheinen, 
Mit ſeinem Namen redeſt du ihn an; 
Er ſoll beſchämt, vom Blitz getroffen, ſtehen, 
Verzweifelnd jammern und für Schmerz vergehen, 
Vollkommen ſei ſein Fall und dein Triumph. 
— Doch nun, wenn du ſo tief ihn haſt gebeugt, 
Erheb' ihn wieder! Frei, aus eigner Wahl 
Reich' ihm die Hand und endige ſein Leiden. 
— Komm, meine Tochter, ſchwöre mir, daß du 
Das tun willſt, und ſogleich — wir ſind allein — 
Sollſt du die Namen wiſſen. Das Geheimnis, 
Ich ſchwöre dir, ſoll mit uns beiden ſterben. 
So löſt der Knote ſich erfreulich auf, 
Du kröneſt dich mit neuem Siegesruhm, 
Verſöhneſt dir durch ſchöne Edeltat 
Die Herzen meines Volks, gewinnſt dir ſelbſt 
Den Würdigſten der Erde zum Gemahl, 
Erfreueſt, tröſteſt nach ſo langem Gram 
In ſeinem hohen Alter deinen Vater. 


1850 


1855 


1860 


1865 


1870 


200 Turandot, Prinzeſſin von China 


Turandot 
(iſt während dieſer Rede in eine immer zunehmende Bewegung geraten). 


Ach! Wie viel arge Liſt gebraucht mein Vater! 

— Was ſoll ich tun? Mich auf Adelmas Wort 

Verlaſſen und dem ungewiſſen Glück 

Vertraun? Soll ich vom Vater mir die Namen 

Entdecken laſſen und den Nacken beugen 

In das verhaßte Joch? — Furchtbare Wahl! 
(Sie ſteht unentſchloſſen in heftigem Kampfe mit ſich ſelbſt.) 

Herunter, ſtolzes Herz! Bequeme dich! 


Dem Vater nachzugeben iſt nicht Schande! 
(Indem ſie einige Schritte gegen Altoum macht, ſteht ſie plötzlich wieder 
till.) 


Doch wenn Adelma — Sie verſprach ſo kühn, 
So zuverſichtlich — Wenn ſie's nun erforſchte, 
Und übereilt hätt' ich den Schwur getan? 
Altoum. 
Was ſinneſt du und ſchwankeſt, meine Tochter, 
In zweifelnden Gedanken hin und her? 
Soll etwa dieſe Angſt mich überreden, 
Daß du des Sieges dich verſichert halteſt? 
O Kind, gib deines Vaters Bitte nach — 
Turandot. 
Es ſei. Ich wag' es drauf. Ich will Adelma 
Erwarten — So gar dringend iſt mein Vater? 
Ein ſichres Zeichen, daß es möglich iſt, 
Ich könne, was er fürchtet, durch mich ſelbſt 
Erfahren — Er verſteht ſich mit dem Prinzen! 
Nicht anders! Von ihm ſelbſt hat er die Namen, 
Es iſt ein abgeredet Spiel, ich bin 
Verraten, und man ſpottet meiner! 
Altoum. 
Nun? 
Was zauderſt du? Hör' auf, dich ſelbſt zu quälen, 
Entſchließe dich. 


1875 


1880 


1885 


1890 


Vierter Aufzug. 6. Auftritt 201 


Turandot. 
Ich bin entſchloſſen — Morgen 
In aller Früh verſammle ſich der Divan. 


Altoum. 
Du biſt entſchloſſen, es aufs Außerſte, 
Auf öffentliche Schande hin zu wagen? 


Turandot. 
Entſchloſſen, Sire, die Probe zu beſtehen. 


Altoum (in heftigem Zorn). 
Unſinnige! Verſtockte! Blindes Herz! 
Noch blinder als die Albernſte des Pöbels! 
Ich bin gewiß, wie meines eignen Haupts, 
Daß du dich öffentlich beſchimpfſt, daß dir's 
Unmöglich iſt, das Rätſel aufzulöſen. 
Wohlan! Der Divan ſoll verſammelt werden, 
Und in der Nähe gleich ſei der Altar; 
Der Prieſter halte ſich bereit, im Augenblick, 
Da du verſtummſt, beim lauten Hohngelächter 
Des Volks die Trauung zu vollziehn. Du haſt 
Den Vater nicht gehört, da er dich flehte. 
Leb' oder ſtirb! Er wird dich auch nicht hören. (er geht ab.) 


Turandot. 
Adelma! Freundin! Retterin! Wo biſt du? 
Verlaſſen bin ich von der ganzen Welt. 
Mein Vater hat im Zorn mich aufgegeben, 


Von dir allein erwart' ich Heil und Leben. 
(Entfernt ſich von der andern Seite.) 


1895 


1900 


1905 


202 Turandot, Prinzeſſin von China 


Die Szene verwandelt ſich in ein prächtiges Gemach mit 
mehreren Ausgängen. Im Hintergrund ſteht ein orienta⸗ 
liſches Ruhebette für Kalaf. Es iſt finſtre Nacht. 


7. Auftritt 


Kalaf. Brigella mit einer Fackel. 


(Kalaf geht in tiefen Gedanken auf und ab, Brigella betrachtet ihn mit 
Kopfſchütteln.) 


Brigella. 
's hat eben Drei geſchlagen, Prinz, und Ihr 
Seid nun genau dreihundertſechzigmal 
In dieſem Zimmer auf und ab ſpaziert. 
Verzeiht! Mir liegt der Schlaf in allen Gliedern, 
Und wenn Ihr ſelbſt ein wenig ruhen wolltet, 
Es könnt' nicht ſchaden. 
Kalaf. 
Du haſt Recht, Brigella. 
Mein ſorgenvoller Geiſt treibt mich umher, 
Doch du magſt gehen und dich ſchlafen legen. 
Brigella (geht, kommt aber gleich wieder zurück). 
Ein Wort zur Nachricht, Hoheit — Wenn Euch hier 
Von ohngefähr ſo was erſcheinen ſollte — 
Macht Eure Sache gut — Ihr ſeid gewarnt! 


Aalaf. 
Erſcheinungen? Wie ſo? An dieſem Ort? 
(Muſtert mit unruhigen Blicken das Zimmer.) 
Brigella. 
Du lieber Himmel! Uns iſt zwar verboten 
Bei Lebensſtrafe, niemand einzulaſſen. 
Doch — arme Diener! Herr, Ihr wißt ja wohl! 
Der Kaiſer iſt der Kaiſer, die Prinzeß 
Iſt, ſo zu ſagen, Kaiſerin — und was 
Die in den Kopf ſich ſetzt, das muß geſchehn! 


— es eee 


1910 


1915 


1920 


1926 


1930 


Vierter Aufzug. 7. Auftritt 203 


's wird einem ſauer, Hoheit, zwiſchen zwei 
Dachtraufen trocknen Kleides durchzukommen. 

— Verſteht mich wohl. Man möchte ſeine Pflicht 
Gern ehrlich tun — Doch man erübrigte 

Auch gern etwas für ſeine alten Tage. 

Herr, unſereins iſt halter übel dran! 


Kalaf. 
Wie? Sollte man mir gar ans Leben wollen? 
Brigella, rede! 

Brigelia. 

Gott foll mich bewahren! 

Allein bedenkt die Neugier, die man hat, 
Zu wiſſen, wer Ihr ſeid. Es könnte ſich 
Zum Beiſpiel fügen, daß — durchs Schlüſſelloch — 
Ein Geiſt — ein Unhold — eine Hexe käme, 
Euch zu verſuchen — Gnug! Ihr ſeid gewarnt! 
Verſteht mich — Arme Diener, arme Schelme! 


Kalaf (lächelnd). 
Sei außer Sorgen. Ich verſtehe dich 
Und werde mich in Acht zu nehmen wiſſen. 


Brigella. 
Tut das, und ſomit Gott befohlen, Herr. 
Ums Himmels willen, bringt mich nicht ins Unglück! 
(Gegen die Zuſchauer.) 
Es kann geſchehen, daß man einen Beutel 
Mit Golde ausſchlägt — Möglich iſt's! Was mich betrifft, 
Ich tat mein Beſtes, und ich konnt' es nicht. (er geht ab.) 


Kalaf. 
Er hat mir Argwohn in mein Herz gepflanzt. 
Wer könnte mich hier überfallen wollen? 
Und laß die Teufel aus der Hölle ſelbſt 


Ankommen, dieſes Herz wird ſtandhaft bleiben. 
(Er tritt ans Fenſter.) 


204 Turandot, Prinzeſſin von China 


1933 Der Tag iſt nicht mehr weit, ich werde nun 
Nicht lange mehr auf dieſer Folter liegen. 
Indes verſuch' ich es, ob ich vielleicht 
Den Schlaf auf dieſe Augen locken kann. 


(Indem er ſich auf das Ruhebette niederlaſſen will, öffnet ſich eine von den 
Türen.) 


8. Auftritt 


Kalaf. Skirina in männlicher Kleidung und mit einer Maske vor dem 
Geſicht. 
Skirina (furchtſam ſich nähernd). 
Mein lieber Herr — Herr — O wie zittert mir 
1040 Das Herz! 
Kalaf (auffabrend). 
Wer biſt du, und was ſuchſt du hier? 


Skirina (nimmt die Maske vom Geſicht). 

Kennt Ihr mich nicht? Ich bin ja Skirina, 

Des armen Haſſans Weib und Eure Wirtin. 

Verkleidet hab' ich durch die Wachen mich 

Herein geſtohlen — Ach! Was hab' ich Euch 
1948 Nicht alles zu erzählen — Doch die Angſt 

Erſtickt mich, und die Kniee zittern mir, 

Ich kann für Tränen nicht zu Worte kommen. 


Half. 

Sprecht, gute Frau. Was habt Ihr mir zu ſagen? 

Skirina (ſich immer ſchüchtern umſehend). 

Mein armer Mann hält ſich verſteckt. Es ward 
1950 Der Turandot geſagt, daß er Euch kenne. 

Nun wird ihm nachgeſpürt an allen Orten, 

Ihn ins Serail zu ſchleppen und ihm dort 

Gewaltſam Euren Namen abzupreſſen. 

Wird er entdeckt, ſo iſt's um ihn geſchehn, 


1955 


1960 


1965 


1970 


1975 


Vierter Aufzug. 8. Auftritt 205 


Denn eher will er unter Martern fterben 
Als Euch verraten. 
Kalaf. 
Treuer, wackrer Diener! 
— Ach die Unmenſchliche! 


Skirina. 
Ihr habt noch mehr 
Von mir zu hören — Euer Vater iſt 
In meinem Haus. 
Kalaf. 
Was ſagſt du? Große Götter! 


Skirina. 
Von Eurer Mutter zum troſtloſen Witwer 
Gemacht — 

Aalaf. 


O meine Mutter! 


Skirina. 
Hört mich weiter. 


Er weiß, daß man Euch hier bewacht, er zittert 
Für Euer Leben, er iſt außer ſich, 

Er will verzweifelnd vor den Kaiſer dringen, 
Sich ihm entdecken, koſt' es, was es wolle; 

Mit meinem Sohne, ruft er, will ich ſterben! 
Vergebens ſuch' ich ihn zurück zu halten, 

Sein Ohr iſt taub, er hört nur ſeinen Schmerz. 
Nur das Verſprechen, das ich ihm getan, 

Ein tröſtend Schreiben ihm von Eurer Hand 
Mit Eures Namens Unterſchrift zu bringen, 
Das ihm Verſichrung gibt von Eurem Leben, 
Hielt ihn vom Außerſten zurück! So hab' ich mich 
Hieher gewagt und in Gefahr geſetzt, 

Dem kummervollen Greiſe Troſt zu bringen. 


206 Turandot, Prinzeſſin von China 


Kalaf. 
Mein Vater hier in Peckin! Meine Mutter 
Im Grab! — Du hintergehſt mich, Skirina! 


Skirina. 
Mich ſtrafe Fohi, wenn ich Euch das lüge! 


Kalaf. 


Bejammernswerter Vater! Arme Mutter! 


Skirina (dringend). 
1980 Kein Augenblick ijt zu verlieren! Kommt! 
Bedenkt Euch nicht, ſchreibt dieſe wen'gen Worte. 
Fehlt euch das Nötige, ich bracht' es mit. 
(Sie zieht eine Schreibtafel hervor.) 
Genug, wenn dieſer kummervolle Greis 
Zwei Zeilen nur von Eurer Hand erhält, 
1986 Daß Ihr noch lebt und daß Ihr Gutes hofft. 
Sonſt treibt ihn die Verzweiflung an den Hof, 
Er nennt ſich dort, und alles iſt verloren. 


Ralaf. 
Ja! Gib mir dieſe Tafel. 
(Er iſt im Begriff, zu ſchreiben, hält aber plötzlich inne und ſieht ſie for⸗ 


ſchend an.) 
Skirina! 
Haſt du nicht eine Tochter im Serail? 
1990 — Ja, ja, ganz recht. Sie dient als Sklavin dort 
Der Turandot, dein Mann hat mir's geſagt. 
Skirina. 
Nun ja! Wie kommt Ihr darauf? 
Kalaf. 


Skirina! 
Geh nur zurück und ſage meinem Vater 
Von meinetwegen, daß er ohne Furcht 
1995 Geheimen Zutritt bei dem Kaiſer fordre 


van 


2000 


2005 


2010 


2015 


Vierter Aufzug. 8. Auftritt 207 


Und ihm entdecke, was ſein Herz ihn heißt. 
Ich bin's zufrieden. 
Skirina (betroffen). 


Ihr verweigert mir 
Den Brief? Ein Wort von Eurer Hand genügt. 


Kalaf. 
Nein, Skirina, ich ſchreibe nicht. Erſt morgen 
Erfährt man, wer ich bin — Ich wundre mich, 
Daß Haſſans Weib mich zu verraten ſucht. 


Skirina. 

Ich Euch verraten! Guter Gott! 
(Vor ſich.) 

Adelma mag denn ſelbſt ihr Spiel vollenden. 
(Zu Kalaf.) 


Wohl, Prinz! Wie's Euch beliebt! Ich geh' nach Hauſe, 
Ich richte Eure Botſchaft aus, doch glaubt' ich nicht, 
Nach ſo viel übernommener Gefahr 
Und Mühe Euren Argwohn zu verdienen. 

(Im Abgehen.) 
Adelma wacht, und dieſer ſchlummert nicht. 

(Entfernt ſich.) 


Ralaf. 
Erſcheinungen! — Du ſagteſt recht, Brigella! 
Doch daß mein Vater hier in Peckin ſei 

Und meine Mutter tot, hat dieſes Weib 

Mit einem heil' gen Eide mir bekräftigt! 
Kommt doch das Unglück nie allein! Ach nur 


Zu glaubhaft iſt der Mund, der Böſes meldet! 
(Die entgegengeſetzte Türe öffnet ſich.) 
Noch ein Geſpenſt! Laß ſehen, was es will! 


210 Turandot, Pringeffin von China 


Ralaf 
(ſieht ihr ſcharf ins Geſicht, mit einem bittern Lächeln). 


Hier, Sklavin, haſt du den gewohnten Schluß 
Der Rede weggelaſſen. 


Zelima. 
Welchen Schluß? 


Kalaf. 
2005 Die Erde öffne ſich und ſchlinge mich 
Hinab, wenn ich Unwahres Euch berichte. 


Zelima. 
So glaubt Ihr, Prinz, daß ich Euch Lügen ſage? 


Kalaf. 
Ich glaub' es faſt — und glaub' es ſo gewiß, 
Daß ich in dein Begehren nimmermehr 
2070 Kann willigen. Rehr’ um zu der Prinzeſſin! 
Sag' ihr, mein einz'ger Ehrgeiz fei ihr Herz, 
Und meiner glühnden Liebe möge ſie 
Verzeihn, daß ich die Bitte muß verſagen. 
Zelima. 
Bedachtet Ihr, was dieſer Eigenſinn 
20 Euch koſten kann? 
Kalaf. 


Mag er mein Leben koſten! 


Zelima. 
Es bleibt dabei, er wird's Euch koſten, Prinz. 
— Beharrt Ihr drauf, mir nichts zu offenbaren? 


Kalaf. 


Zelima. 


Nichts. 


Lebet wohl! 
(Im Abgehen.) 


Die Mühe konnt' ich ſparen! 


2080 


2085 


2090 


2095 


2100 


Vierter Aufzug. 10. Auftritt 211 


Kalaf (allein). 

Geht, weſenloſe Larven! Meinen Sinn 
Macht ihr nicht wankend. Andre Sorgen ſind's, 
Die mir das Herz beklemmen — Skirinas 
Bericht iſt's, was mich ängſtiget — Mein Vater 
In Peckin! Meine Mutter tot! — Mut, Mut, mein Herz! 
In wenig Stunden iſt das Los geworfen. 
Könnt' ich den kurzen Zwiſchenraum im Arm 
Des Schlafs verträumen! Der gequälte Geiſt 
Sucht Ruhe, und mich deucht, ich fühle ſchon 
Den Gott die ſanften Flügel um mich breiten. 

(Er legt ſich auf das Ruhebette und ſchläft ein.) 


10. Auftritt 


Adelma tritt auf, das Geſicht verſchleiert, eine Wachskerze in der Hand. 
Kalaf ſchlafend. 


Adelma. 

Nicht alles ſoll mißlingen — Hab' ich gleich 
Vergebens alle Künſte des Betrugs 
Verſchwendet, ihm die Namen zu entlocken, 
So werd' ich doch nicht eben ſo umſonſt 
Verſuchen, ihn aus Peckin wegzuführen 
Und mit dem ſchönen Raube zu entfliehn! 
— O heißerflehter Augenblick! Jetzt, Liebe! 
Die mir bisher den kühnen Mut verliehn, 
So manche Schranke mir ſchon überſtiegen, 
Dein Feuer laß auf meinen Lippen glühn, 
Hilf mir in dieſem ſchwerſten Kampfe ſiegen! 

(Sie betrachtet den Schlafenden.) 
Der Liebſte ſchläft. Sei ruhig, pochend Herz, 
Erzittre nicht! Nicht gern, ihr holden Augen, 


2065 


2070 


2075 


210 Turandot, Prinzeſſin von China 


Kalaf 
(ſieht ihr ſcharf ins Geſicht, mit einem bittern Lächeln). 


Hier, Sklavin, haſt du den gewohnten Schluß 
Der Rede weggelaſſen. 


Zelima. 
Welchen Schluß? 


Ralof. 
Die Erde öffne ſich und ſchlinge mich 
Hinab, wenn ich Unwahres Euch berichte. 


Zelima. 
So glaubt Ihr, Prinz, daß ich Euch Lügen ſage? 


Aalaf. 
Ich glaub' es faſt — und glaub' es ſo gewiß, 
Daß ich in dein Begehren nimmermehr 
Kann willigen. Kehr' um zu der Prinzeſſin! 
Sag' ihr, mein einz'ger Ehrgeiz ſei ihr Herz, 
Und meiner glühnden Liebe möge ſie 
Verzeihn, daß ich die Bitte muß verſagen. 
Zelima. 
Bedachtet Ihr, was dieſer Eigenſinn 
Euch koſten kann? 
Ralaf. 
Mag er mein Leben koſten! 
Zelima. 
Es bleibt dabei, er wird's Euch koſten, Prinz. 
— Beharrt Ihr drauf, mir nichts zu offenbaren? 


Kalaf. 


Zelima. 


Nichts. 


Lebet wohl! 
(Im Abgehen.) 


Die Mühe konnt' ich ſparen! 


2080 


2085 


2090 


2095 


2100 


Vierter Aufzug. 10. Auftritt 211 


Nalaf (allein). 

Geht, weſenloſe Larven! Meinen Sinn 
Macht ihr nicht wankend. Andre Sorgen ſind's, 
Die mir das Herz beklemmen — Skirinas 
Bericht iſt's, was mich ängſtiget — Mein Vater 
In Peckin! Meine Mutter tot! — Mut, Mut, mein Herz! 
In wenig Stunden iſt das Los geworfen. 
Könnt' ich den kurzen Zwiſchenraum im Arm 
Des Schlafs verträumen! Der gequälte Geiſt 
Sucht Ruhe, und mich deucht, ich fühle ſchon 
Den Gott die ſanften Flügel um mich breiten. 

(Er legt ſich auf das Ruhebette und ſchläft ein.) 


10. Auftritt 


Adelma tritt auf, das Geſicht verſchleiert, eine Wachskerze in der Hand. 
Kalaf ſchlafend. 


Adelma. 

Nicht alles ſoll mißlingen — Hab' ich gleich 
Vergebens alle Künſte des Betrugs 
Verſchwendet, ihm die Namen zu entlocken, 
So werd' ich doch nicht eben ſo umſonſt 
Verſuchen, ihn aus Peckin wegzuführen 
Und mit dem ſchönen Raube zu entfliehn! 
— O heißerflehter Augenblick! Jetzt, Liebe! 
Die mir bisher den kühnen Mut verliehn, 
So manche Schranke mir ſchon überſtiegen, 
Dein Feuer laß auf meinen Lippen glühn, 
Hilf mir in dieſem ſchwerſten Kampfe ſiegen! 

(Sie betrachtet den Schlafenden.) 
Der Liebſte ſchläft. Sei ruhig, pochend Herz, 
Erzittre nicht! Nicht gern, ihr holden Augen, 


212 Turandot, Pringefjin von China 


Scheuch' ich den goldnen Schlummer von euch weg; 
Doch ſchon ergraut der Tag, ich darf nicht ſäumen. 
(Sie nähert ſich ihm und berührt ihn ſanft.) 

Prinz! Wachet auf! 
Kalaf lerwachend). 
Wer ſtöret meinen Schlummer? 
Ein neues Trugbild? Nachtgeſpenſt, verſchwinde! 
Wird mir kein Augenblick der Ruh vergönnt? 
Adelma. 
Warum ſo heftig, Prinz? Was fürchtet Ihr? 
Nicht eine Feindin iſt's, die vor Euch ſteht; 
Nicht Euern Namen will ich Euch entlocken. 
Kalaf. 
2110 Iſt dies dein Zweck, ſo ſpare deine Müh. 
Ich ſag' es dir voraus, du wirſt mich nicht betrügen. 
Adelma. 
Betrügen? Ich? Verdien' ich den Verdacht? 
Sagt an! War hier nicht Skirina bei Euch, 
Mit einem Brief Euch liſtig zu verſuchen? 


Kalaf. 


Adelma. 
Doch hat ſie nichts erlangt? 
Kalaf. 
Daß ich ein ſolcher Tor geweſen wäre! 
Adelina. 


Gott ſei's gedankt! — War eine Sklavin hier, 
Mit trüglicher Vorſpieglung Euch zu blenden? 


Kalaf. 
Solch eine Sklavin war in Wahrheit hier, 
2120 Doch zog ſie leer ab — wie auch du wirſt gehn. 


2105 


2118s Wohl war ſie hier. 


2126 


2130 


2135 


2140 


Vierter Aufzug. 10. Auftritt 213 


Adelma. 
Der Argwohn ſchmerzt, doch leicht verzeih' ich ihn. 
Lernt mich erſt kennen. Setzt Euch. Hört mich an, 


Und dann verdammt mich als Betrügerin! 
Sie ſetzt ſich, er folgt.) 


Kalaf. 
So redet dann und ſagt, was ich Euch ſoll. 


Adelma. 
Erſt ſeht mich näher an — Beſchaut mich wohl! 
Wer denkt Ihr, daß ich ſei? 

Kalaf. 

Dies hohe Weſen, 

Der edle Anſtand zwingt mir Ehrfurcht ab. 
Das Kleid bezeichnet eine niedre Sklavin, 
Die ich, wo ich nicht irre, ſchon im Divan 
Geſehen und ihr Los beklagt. 


Adelma. 

Auch ich 
Hab' Euch — die Götter wiſſen es, wie innig — 
Bejammert, Prinz, es ſind fünf Jahre nun, 
Da ich, noch ſelber eine Günſtlingin 
Des Glücks, in niederm Sklavenſtand Euch ſah. 
Schon damals ſagte mir's mein Herz, daß Euch 
Geburt zu einem beſſern Los berufen. 
Ich weiß, daß ich getan, was ich gekonnt, 
Euch ein unwürdig Schickſal zu erleichtern, 
Weiß, daß mein Aug' ſich Euch verſtändlich machte, 
Soweit es einer Königstochter ziemte. 

(Sie entſchleiert ſich.) 

Seht her, mein Prinz, und ſagt mir: dies Geſicht, 
Habt Ihr es nie geſehn in Eurem Leben? 


Kalaf. 
Adelma! Ew'ge Götter, ſeh' ich recht? 


214 Turandot, Prinzeſſin von China 


Adelma. 
Ihr ſehet in unwürd'gen Sklavenbanden 
2143 Die Tochter Keikobads, des Königes 
Der Karazanen, einſt zum Thron beſtimmt, 
Jetzt zu der Knechtſchaft Schmach herabgeſtoßen. 


Ralof. 
Die Welt hat Euch für tot beweint. In welcher 
Geſtalt, weh mir, muß ich Euch wiederfinden! 
210 Euch hier als eine Sklavin des Serails, 
Die Königin, die edle Fürſtentochterl 


Adelma. 

Und als die Sklavin dieſer Turandot, 

Der grauſamen Urſache meines Falles! 

Vernehmt mein ganzes Unglück, Prinz. Mir lebte 
21595 Ein Bruder, ein geliebter teurer Jüngling, 

Den dieſe ſtolze Turandot wie Euch 

Bezauberte — Er wagte ſich im Divan. 

(Sie hält inne, von Schluchzen und Tränen unterbrochen.) 

Unter den Häuptern, die man auf dem Tore 

Zu Peckin ſieht — entſetzensvoller Anblick! — 
210 Erblicktet Ihr auch das geliebte Haupt 

Des teuren Bruders, den ich noch beweine. 


Kalaf. 
Unglückliche! So log die Sage nicht! 
So iſt ſie wahr, die klägliche Geſchichte, 
Die ich für eine Fabel nur gehalten! 


Adelma. 
215 Mein Vater Keikobad, ein kühner Mann, 
Nur ſeinem Schmerz gehorchend, überzog 
Die Staaten Altoums mit Heeresmacht, 
Des Sohnes Mord zu rächen — Ach! das Glück 
War ihm nicht günſtig! Männlich fechtend fiel er 
270 Mitt allen ſeinen Söhnen in der Schlacht. 


2175 


_ 2180 


2185 


2190 


2195 


2200 


Vierter Aufzug. 10. Auftritt 215 


Ich ſelbſt, mit meiner Mutter, meinen Schweſtern, 
Ward auf Befehl des wütenden Veſirs, 

Der unſern Stamm verfolgte, in den Strom 
Geworfen. Jene kamen um, nur mich 

Errettete die Menſchlichkeit des Kaiſers, 

Der in dem Augenblick ans Ufer kam. 

Er ſchalt die Greueltat und ließ im Strom 

Nach meinem jammervollen Leben fiſchen. 

Schon halb entſeelt werd' ich zum Strand gezogen, 
Man ruft ins Leben mich zurück; ich werde 

Der Turandot als Sklavin übergeben, 

Zu glücklich noch, das Leben als Geſchenk 

Von eines Feindes Großmut zu empfangen. 

O lebt in Eurem Buſen menſchliches Gefühl, 

So laßt mein Schickſal Euch zu Herzen gehn! 
Denkt, was ich leide! Denkt, wie es ins Herz 
Mir ſchneidet, ſie, die meinen ganzen Stamm 
Vertilgt, als eine Sklavin zu bedienen. 


Kalaf. 
Mich jammert Euer Unglück. Ja, Prinzeſſin, 
Aufricht'ge Tränen zoll' ich Eurem Leiden — 
Doch Euer grauſam Los, nicht Turandot 
Klagt an — Eu'r Bruder fiel durch eigne Schuld, 
Euer Vater ſtürzte ſich und ſein Geſchlecht 
Durch übereilten Ratſchluß ins Verderben. 
Sagt! Was kann ich, ſelbſt ein Unglücklicher, 
Ein Ball der Schickſalsmächte, für Euch tun? 
Erſteig' ich morgen meiner Wünſche Gipfel, 
So ſollt Ihr frei und glücklich ſein — Doch jetzt 
Kann Euer Unglück nichts als meins vermehren. 


Adelma. 
Der Unbekannten konntet Ihr mißtrauen. 
Ihr kennt mich nun — Der Fürſtin werdet Ihr, 


216 Turandot, Prinzeſſin von China 


Der Königstochter glauben, was ſie Euch 
Aus Mitleid ſagen muß und lieber noch 
Aus Zärtlichkeit, aus Liebe ſagen möchte. 
2005 — O möchte dies befangne Herz mir trauen, 
Wenn ich jetzt wider die Geliebte zeuge! 


Kalaf. 
Adelma, ſprecht, was habt Ihr mir zu ſagen? 


Adelma. 
Wißt alſo, Prinz — Doch nein, Ihr werdet glauben, 
Ich ſei gekommen Euch zu täuſchen, werdet 
2210 Mit jenen feilen Seelen mich verwechſeln, 
Die für das Sklavenjoch geboren ſind. 


Kalaf. 
Quält mich nicht länger, ich beſchwör' Euch, ſprecht! 
Was iſt's? Was habt Ihr mir von ihr zu ſagen, 
Die meines Lebens einz'ge Göttin iſt? 


Adelma (Geifeite). 
2215 Gib, Himmel, daß ich jetzt ihn überredel 
(Zu Kalaf ſich wendend.) 
Prinz, dieſe Turandot, die ſchändliche, 
Herzloſe, falſche, hat Befehl gegeben, 
Euch heut' am frühen Morgen zu ermorden! 
— Dies iſt die Liebe Eurer Lebensgöttin! 


Kalaf. 
2220 Mich zu ermorden? 
Adelina. 
Ja, Euch zu ermorden! 
Beim erſten Schritt aus dieſem Zimmer tauchen 
Sich zwanzig Degenſpitzen Euch ins Herz, 
So hat es die Unmenſchliche befohlen. 


2225 


2230 


2235 


2240 


2245 


Vierter Aufzug. 10. Auftritt 217 


Kalaf (ſteht ſchnell auf und geht gegen die Türe). 
Ich will die Wache unterrichten. 


Adelma (hält ihn zurück). 
Bleibt! 

Wo wollt Ihr hin? Ihr hofft noch, Euch zu retten? 
Unglücklicher, Ihr wißt nicht, wo Ihr ſeid, 
Daß Euch des Mordes Netze rings umgeben! 
Dieſelben Wachen, die der Kaiſer Euch 
Zu Hütern Eures Lebens gab, ſie ſind — 
Gedingt von ſeiner Tochter, Euch zu töten. 


Kalaf 
(außer ſich, laut und heftig mit dem Ausdruck des innigſten Leidens) 


O Timur! Timur! Unglückſel'ger Vater! 
So muß dein Kalaf endigen! — Du mußt 
Nach Peckin kommen, auf ſein Grab zu weinen! 
Das iſt der Troſt, den dir dein Sohn verſprach! 
— Furchtbares Schickſal! 

(Er verhüllt ſein Geſicht, ganz ſeinem Schmerz hingegeben.) 


Adelma (vor ſich, mit frohem Erſtaunen). 
Kalaf! Timurs Sohn! 
Glückſel'ger Fund! — Fall' es nun, wie es wolle! 
Entgeh' er meinen Schlingen auch, ich trage 
Mit dieſen Namen ſein Geſchick in Händen. 


; Kalaf. 
So bin ich mitten unter den Soldaten, 
Die man zum Schutz mir an die Seite gab, 
Verraten! Ach, wohl ſagte mir's vorhin 
Der feilen Sklaven einer, daß Beſtechung 
Und Furcht des Mächtigen das ſchwere Band 
Der Treue löſen — Leben, fahre hin! 
Vergeblich iſt's, dem grauſamen Geſtirn, 


218 Turandot, Prinzeſſin von China 


Das uns verfolgt, zu widerſtehn — Du ſollſt 
Den Willen haben, Grauſame — dein Aug' 

An meinem Blute weiden. Süßes Leben, 

Fahr hin! Nicht zu entfliehen iſt dem Schickſal. 


Adelma (mit Feuer). 

2250 Prinz, zum Entfliehen zeig' ich Euch die Wege, 
Nicht müß'ge Tränen bloß hab' ich für Euch. 
Gewacht hab' ich indes, geſorgt, gehandelt, 

Kein Gold geſpart, die Hüter zu beſtechen. 
Der Weg iſt offen. Folgt mir. Euch vom Tode, 

2255 Mich aus den Banden zu befreien, komm' ich. 
Die Pferde warten, die Gefährten ſind 
Bereit. Laßt uns aus dieſen Mauern fliehen, 
Worauf der Fluch der Götter liegt. Der Chan 
Von Berlas iſt mein Freund, iſt mir durch Bande 

2260 Des Bluts verknüpft und heilige Verträge. 

Er wird uns ſchützen, ſeine Staaten öffnen, 
Uns Waffen leihen, meiner Väter Reich 
Zurück zu nehmen, daß ich's mit Euch teile, 
Wenn Ihr der Liebe Opfer nicht verſchmäht. 

2265 Verſchmäht Ihr's aber und verachtet mich, 
So iſt die Tartarei noch reich genug 
An Fürſtentöchtern, dieſer Turandot 
An Schönheit gleich und zärtlicher als ſie. 
Aus ihnen wählt Euch eine würdige 

2270 Gemahlin aus. Ich — will mein Herz befiegen. 
Nur rettet, rettet dieſes teure Leben! 


(Sie ſpricht das folgende mit immer ſteigender Lebhaftigkeit, indem ſie 
ihn bei der Hand ergreift und mit ſich fortzureißen ſucht.) 


O kommt! Die Zeit entflieht, indem wir ſprechen, 

Die Hähne krähn, ſchon regt ſich's im Palaſt, 

Todbringend ſteigt der Morgen ſchon herauf — 
2275 Fort, eh' der Rettung Pforten ſich verſchließen! 


Vierter Aufzug. 10. Auftritt 219 


Ralaf. 

Großmütige Adelma! Einz'ge Freundin! 
Wie ſchmerzt es mich, daß ich nach Berlas Euch 
Nicht folgen, nicht der Freiheit ſüß Geſchenk, 
Nicht Euer väterliches Reich zurück 

220 Euch geben kann — Was würde Altoum 
Zu dieſer heimlichen Entweichung ſagen? 
Macht' ich nicht ſchändlichen Verrats mich ſchuldig, 
Wenn ich, des Gaſtrechts heilige Gebräuche 
Verletzend, aus dem innerſten Serail 

2285 Die wertgehaltne Sklavin ihm entführte? 
— Mein Herz iſt nicht mehr mein, Adelma. Selbſt 
Der Tod, den jene Stolze mir bereitet, 
Wird mir willkommen ſein von ihrer Hand. 
— Flieht ohne mich, flieht, und geleiten Euch 

220 Die Götter! Ich erwarte hier mein Schickſal. 
Noch tröſtlich iſt's, für Turandot zu ſterben, 
Wenn ich nicht leben kann für ſie — Lebt wohl! 


Adelma. 
Sinnloſer! Ihr beharrt? Ihr ſeid entſchloſſen? 


Kalaf. 
Zu bleiben und den Mordſtreich zu erwarten. 


Adelma. 
2295 Ha, Undankbarer! Nicht die Liebe iſt's, 
Die Euch zurückhält — Ihr verachtet mich! 
Ihr wählt den Tod, um nur nicht mir zu folgen. 
Verſchmähet meine Hand, verachtet mich, 
Nur flieht, nur rettet, rettet Euer Leben! 


Ralaf. 
2300 Verſchwendet Eure Worte nicht vergebens, 
Ich bleibe und erwarte mein Geſchick. 


2305 


2310 


2315 


2320 


220 Turandot, Prinzeſſin von China 


Adelina. 
So bleibet denn. Auch ich will Sklavin bleiben, 
Ohn' Euch verſchmäh' ich auch der Freiheit Glück. 
Laß ſehn, wer von uns beiden, wenn es gilt, 


Dem Tode kühner trotzt! 
(Von ihm wegtretend.) 
Wär' ich die erſte, 
Die durch Beſtändigkeit ans Ziel gelangte? 
(Vor ſich, mit Accent.) 
Kalaf! Sohn Timurs! 
(Verneigt ſich, ſpottend.) 
Unbekannter Prinz! 
Lebt wohl! (Geht ab.) 
Kalaf (allein). 
Wird dieſe Schreckensnacht nicht enden? 
Wer hat auf ſolcher Folter je gezittert? 
Und endet ſie, welch neues größres Schrecknis 
Bereitet mir der Tag! Aus welchen Händen! 
Hat meine edelmütig treue Liebe 
Solches um dich verdient, tyranniſch Herz! 
— Wohlan! Den Himmel färbt das Morgenrot! 
Die Sonne ſteigt herauf, und allen Weſen 
Bringt ſie das Leben — mir bringt ſie den Tod! 
Geduld, mein Herz! Dein Schickſal wird ſich löſen! 


11. Auftritt 
Brigella. Kalaf. 
Brigelia. 


Der Divan wird verſammelt, Herr. Die Stunde 
Iſt da. Macht Euch bereit. 


Kalaf (mißt ioe mit wilden ſcheuen Blicken). 
Biſt du das Werkzeug? 
Wo haſt du deinen Dolch verſteckt? Mach's kurz, 


2325 


2330 


2335 


Vierter Aufzug. 11. Auftritt 221 


Vollziehe die Befehle, die du haſt, 
Du raubſt mir nichts, worauf ich Wert noch legte. 


Brigella. 
Was für Befehle, Herr? Ich habe keinen 
Befehl, als Euch zum Divan zu begleiten, 
Wo alles ſchon verſammelt iſt. 


Kalaf (nach einigem Nachſinnen, refigniert). 
Laß uns denn gehn! 
Ich weiß, daß ich den Divan lebend nicht 
Erreichen werde — Sieh, ob ich dem Tod 
Beherzt entgegentreten kann. 


Brigella (ſieht ihn erſtaunt an). 
Was Teufel ſchwatzt er da von Tod und Sterben! 
Verwünſchtes Weibervolk! Sie haben ihn 
In dieſer ganzen Nacht nicht ſchlafen laſſen, 
Nun iſt er gar im Kopf verrückt! 


Kalaf (wirft das Schwert auf den Boden). 

Da liegt 

Mein Schwert. Ich will mich nicht zur Wehre ſetzen. 
Die Grauſame erfahre wenigſtens, 

Daß ich die unbeſchützte Bruſt von ſelbſt 

Dem Streich des Todes dargeboten habe! 


(Er geht ab und wird, ſowie er hinaustritt, von kriegeriſchem Spiel 


empfangen.) 


2340 


2345 


2350 


222 Turandot, Prinzeſſin von China 


Fünfter Aufzug 
Die Szene ift die vom zweiten Aufzug. 


Im Hintergrund des Divans ſteht ein Altar mit einer 

chineſiſchen Gottheit und zwei Prieſtern, welche nach Auf⸗ 

ziehung eines Vorhanges ſichtbar werden. — Bei Eröffnung 

des Akts ſitzt Altoum auf ſeinem Throne. Pantalon und Tar⸗ 

taglia ſtehen zu ſeinen beiden Seiten; die acht Doktoren an 
ihrem Platze, die Wache unter dem Gewehre. 


1. Auftritt 


Altoum. Pantalon. Tartaglia. Doktoren. Wache. Gleich 
darauf Kalaf. 


Ralaf 
(tritt mit einer ſtürmiſchen Bewegung in den Saal, voll Argwohn hinter 
ſich ſchauend. In der Mitte der Szene verbeugt er ſich gegen den Kaiſer, 
dann vor fid). 


Wie? Ich bin lebend hier — Mit jedem Schritt 
Erwartet' ich die zwanzig Schwerter in der Bruſt 
Zu fühlen, und von niemand angefallen 

Hab' ich den ganzen Weg zurückgelegt? 

So hätte mir Adelma falſche Botſchaft 

Verkündet — oder Turandot entdeckte 

Die Namen, und mein Unglück iſt gewiß! 


Altoum. 
Mein Sohn! Ich ſehe deinen Blick umwölkt, 
Dich quälen Furcht und Zweifel — Fürchte nichts mehr, 
Bald werd' ich deine Stirn erheitert ſehn, 
In wenig Stunden endet deine Prüfung. 
— Geheimniſſe von freudenreichem Inhalt 
Hab' ich für dich — Noch will ich ſie im Buſen 
Verſchließen, teurer Jüngling, bis dein Herz, 


2355 


2360 


2365 


2370 


2375 


2380 


Fünfter Aufzug. 1. Auftritt 223 


Der Freude offen, ſie vernehmen kann. 

— Doch merke dir: Nie kommt das Glück allein; 
Es folgt ihm ſtets, mit reicher Gaben Fülle 
Beladen, die Begleitung nach — Du biſt 

Mein Sohn, mein Eidam! Turandot iſt dein! 
Dreimal hat ſie in dieſer Nacht zu mir 
Geſendet, mich beſchworen und gefleht, 

Sie von der furchtbarn Probe loszuſprechen. 
Daraus erkenne, ob du Urſach haſt, 

Sie mit getroſtem Herzen zu erwarten. 


Pantalon (zuverſichtlich). 
Das könnt Ihr, Hoheit! Auf mein Wort! Was das 
Betrifft, damit hat's ſeine Richtigkeit! 
Nehmt meinen Glückwunſch an, heut' iſt die Hochzeit. 
Zweimal ward ich in dieſer Nacht zu ihr 
Geholt; fie hatt' es gar zu eilig, kaum 
Ließ ſie mir Zeit, den Fuß in die Pantoffel 
Zu ſtecken; ungefrühſtückt ging ich hin; 
Es war ſo grimmig kalt, daß mir der Bart 
Noch zittert — Aufſchub ſollt' ich ihr verſchaffen, 
Rat ſchaffen ſollt' ich — Bei der Majeſtät 
Fürſprach einlegen — Ja was ſollt' ich nicht! 
's war mir ein rechtes Gaudium und Labſal, 
Ich leugn' es nicht, ſie deſperat zu ſehn. 


Tartaglia. 
Ich ward um ſechs Uhr zu ihr hin beſchieden; 
Der Tag brach eben an, ſie hatte nicht 
Geſchlafen und ſah aus wie eine Eule. 
Wohl eine halbe Stunde bat ſie mich, 
Gab mir die ſchönſten Worte, doch umſonſt! 
Ich glaube gar, ich hab' ihr bittre Dinge 
Geſagt, für Ungeduld und grimm'ger Kälte. 


224 Turandot, Prinzeſſin von China 


Altoum. 

Seht, wie ſie bis zum letzten Augenblick 

Noch zaudert! Doch ſie ſperret ſich umſonſt. 

Gemeſſene Befehle ſind gegeben, 

Daß ſie durchaus im Divan muß erſcheinen, 
2385 Und iſt's mit Güte nicht, fo iſt's mit Zwang. 

Sie ſelbſt hat mich durch ihren Eigenſinn 

Berechtigt, dieſe Strenge zu gebrauchen. 

Erfahre ſie die Schande nun, die ich 

Umſonſt ihr ſparen wollte — Freue dich, 
230 Mein Sohn! Nun iſt's an dir, zu triumphieren! 


Kalaf. 
Ich dank' Euch, Sire. Mich freuen kann ich nicht. 
Zu ſchmerzlich leid' ich ſelbſt, daß der Geliebten 
Um meinetwillen Zwang geſchehen ſoll. 
Viel lieber wollt' ich — Ach ich könnte nicht! 
2305 Was wäre Leben ohne fie? — Vielleicht 
Gelingt es endlich meiner zärtlichen 
Bewerbung, ihren Abſcheu zu beſiegen, 
Ihn einſt vielleicht in Liebe zu verwandeln. 
Mein ganzes Wollen ſoll ihr Sklave ſein 
2400 Und all mein höchſtes Wünſchen ihre Liebe. 
Wer eine Gunſt bei mir erlangen will, 
Wird keines andern Fürſprachs nötig haben 
Als eines Winks aus ihrem ſchönen Aug g. 
Kein Nein aus meinem Munde ſoll ſie kränken, 
2405 So lang' die Parze meinen Faden ſpinnt; 
So weit die Welle meines Lebens rinnt, 
Soll ſie mein einzig Träumen ſein und Denken! 


Altoum. 
Auf denn! Man zögre länger nicht. Der Divan 
Werde zum Tempel. Man erhebe den Altar, 
210 Der Prieſter halte ſich bereit. Sie ſoll 


2415 


2420 


2425 


Fünfter Aufzug. 2. Auftritt 225 


Bei ihrem Eintritt gleich ihr Schickſal leſen 
Und ſoll erfahren, daß ich wollen kann, 
Was ich ihr ſchwur. 


(Der hintere Vorhang wird aufgezogen; man erblickt den chineſiſchen 
Götzen, den Altar und die Prieſter, alles mit Kerzen beleuchtet.) 


Man öffne alle Pforten, 
Das ganze Volk ſoll freien Eingang haben. 
Zeit iſt's, daß dieſes undankbare Kind 
Den tauſendfachen Kummer uns bezahle, 
Den ſie auf unſer greiſes Haupt gehäuft. 
(Man hört einen lugubren Marſch mit gedämpften Trommeln. Bald 
darauf zeigt ſich Truffaldin mit Verſchnittenen, hinter ihnen die Sklavinnen, 
darauf Turandot; alle in ſchwarzen Flören, die Frauen in ſchwarzen 
Schleiern.) 
Pantalon. 
Sie kommt! Sie kommt! Still! Welche Klagmuſik! 
— Welch trauriges Gepräng! Ein Hochzeitmarſch, 
Der völlig einem Leichenzuge gleicht! 


(Der Aufzug erfolgt ganz auf dieſelbe Weiſe und mit denſelben Zere⸗ 
monien wie im zweiten Akt.) 


2. Auftritt 


Vorige. Turandot. Adelma. Zelima. Ihre Sklavinnen und 
Verſchnittenen.) 


Turandot 


(nachdem ſie ihren Thron beſtiegen und eine allgemeine Stille erfolgt, zu 
Kalaf). 


Dies Trauergepränge, unbekannter Prinz, 
Und dieſer Schmerz, den mein Gefolge zeigt, 
Ich weiß, iſt Eurem Auge ſüße Weide. 

Ich ſehe den Altar geſchmückt, den Prieſter 

Zu meiner Trauung ſchon bereit, ich leſe 

Den Hohn in jedem Blick und möchte weinen. 
Was Kunſt und tiefe Wiſſenſchaft nur immer 
Vermochten, hab' ich angewandt, den Sieg 
Euch zu entreißen, dieſem Augenblick, 

Schillers Werke. IX. 15 


226 Turandot, Prinzeſſin von China 


240 Der meinen Ruhm vernichtet, zu entfliehen, 
Doch endlich muß ich meinem Schickſal weichen. 


Kalaf. 
O läſe Turandot in meinem Herzen, 
Wie ihre Trauer meine Freude dämpft, 
Gewiß, es würde ihren Zorn entwaffnen. 
245 War's ein Vergehn, nach ſolchem Gut zu ſtreben, 
Ein Frevel wär's, es zaghaft aufzugeben! 


Altoum. 
Prinz, der Herablaſſung iſt ſie nicht wert, 
An ihr iſt's jetzo, ſich herabzugeben! 
Kann ſie's mit edelm Auſtand nicht, mag fie 
2440 Sich darein finden, wie fie kann — Man ſchreite 
Zum Werk! Der Inſtrumente froher Schall 
Verkünde laut — 


Turandot. 
Gemach! Damit iſt's noch zu früh! 
(Aufſtehend und zu Kalaf ſich wendend.) 
Vollkommner konnte mein Triumph nicht ſein, 
Als dein getäuſchtes Herz in ſüße Hoffnung 
2443 Erſt einzuwiegen und mit einemmal 
Nun in den Abgrund nieder dich zu ſchleudern. 


(Langſam und mit erhobener Stimme.) 
Hör', Kalaf, Timurs Sohn! Verlaß den Divan! 
Die beiden Namen hat mein Geiſt gefunden. 
Such' eine andre Braut — Weh dir und allen, 
240 Die ſich im Kampf mit Turandot verſuchen! 


alaf. 
O ich Unglücklicher! 


Altoum. 
Iſt's möglich? Götter! 


2466 


2460 


2465 


2470 


Fünfter Aufzug. 2. Auftritt 227 


Pantalon. 


Heil'ge Katharina! 
(Zu Tartaglia.) 
Geht heim! Laßt Euch den Bart auszwicken, Doktor! 


Tartaglia. 
Allerhöchſter Tien! Mein Verſtand ſteht ſtill! 


Ralaf. 

Alles verloren! Alle Hoffnung tot! 
— Wer ſteht mir bei? Ach mir kann niemand helfen, 
Ich bin mein eigner Mörder; meine Liebe 
Verlier' ich, weil ich allzuſehr geliebt! 
— Warum hab' ich die Rätſel geſtern nicht 
Mit Fleiß verfehlt, ſo läge dieſes Haupt 
Jetzt ruhig in dem ew'gen Schlaf des Todes, 
Und meine bange Seele hätte Luft. 
Warum, zu güt'ger Kaiſer, mußtet Ihr 
Das Blutgeſetz zu meinem Vorteil mildern, 
Daß ich mit meinem Haupt dafür bezahlte, 
Wenn ſie mein Rätſel aufgelöſt — So wäre 
Ihr Sieg vollkommen und ihr Herz befriedigt! 

(Ein unwilliges Gemurmel entſteht im Hintergrund.) 


Altaum. 
Kalaf! Mein Alter unterliegt dem Schmerz, 
Der unverſehne Blitzſtrahl ſchlägt mich nieder. 


Turandot (beiſeite zu Zelima). 
Sein tiefer Jammer rührt mich, Zelima; 
Ich weiß mein Herz nicht mehr vor ihm zu ſchützen. 


Zelima (leiſe zu Turandot). 
O ſo ergebt Euch einmal. Macht ein Ende! 
Ihr ſeht! Ihr hört! Das Volk wird ungeduldig! 


2475 


2485 


2490 


228 Turandot, Prinzeſſin von China 


Adelma (vor ſich). 
An dieſem Augenblick hängt Tod und Leben! 


Kalaf. 
Und braucht's denn des Geſetzes Schwert, ein Leben 
Zu endigen, das länger mir zu tragen 
Unmöglich iſt? 
(Er tritt an den Thron der Turandot.) 
Ja, Unverſöhnliche! 
Sieh hier den Kalaf, den du kennſt — den du 
Als einen namenloſen Fremdling haßteſt, 
Den du jetzt kennſt und fortfährſt zu verſchmähn. 
Verlohnte ſich's, ein Daſein zu verlängern, 
Das ſo ganz wertlos iſt vor deinen Augen? 
Du ſollſt befriedigt werden, Grauſame. 
Nicht länger ſoll mein Anblick dieſe Sonne 
Beleidigen — Zu deinen Füßen — 
(Er zieht einen Dolch und will ſich durchſtechen. In demſelben Augenblick 


macht Adelma eine Bewegung, ihn zurückzuhalten, und Turandot ſtürzt 
von ihrem Thron.) 


Turandot 
(ihm in den Arm fallend, mit dem Ausdruck des Schreckens und der Liebe). 


Kalaf! 
(Beide ſehen einander mit unverwandten Blicken an und bleiben eine Zeit⸗ 
lang unbeweglich in dieſer Stellung.) 


Altoum. 

Was ſeh' ich! 

Kalaf (nach einer Pauſe). 

Du? Du hinderſt meinen Tod? 
Iſt das dein Mitleid, daß ich leben ſoll, 
Ein Leben ohne Hoffnung, ohne Liebe? 
Meiner Verzweiflung denkſt du zu gebieten? 
— Hier endet deine Macht. Du kannſt mich töten, 
Doch mich zum Leben zwingen kannſt du nicht. 
Laß mich, und wenn noch Mitleid in dir glimmt, 
So zeig' es meinem jammervollen Vater. 


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2500 


2505 


2510 


2515 


Fünfter Aufzug. 2. Auftritt 229 


Er iſt zu Peckin, er bedarf des Troſtes, 
Denn auch des Alters letzte Stütze noch, 
Den teuren, einz'gen Sohn raubt ihm das Schickſal. 

Er will ſich töten.) 

Turandot (wirft ſich ihm in die Arme). 
Lebt, Kalaf! Leben ſollt Ihr — und für mich! 
Ich bin beſiegt. Ich will mein Herz nicht mehr 
Verbergen — Eile, Zelima, den beiden 
Verlaſſenen, du kennſt ſie, Troſt zu bringen, 
Freiheit und Freude zu verkünden — Eile! 
Zelima. 

Ach und wie gerne! 

(Sie eilt hinaus.) 

Adelma (vor ſich). 


Es iſt Zeit, zu ſterben. 
Die Hoffnung iſt verloren. 


Kalaf. 
Träum' ich, Götter? 


Turandot. 
Ich will mich keines Ruhms anmaßen, Prinz, 
Der mir nicht zukommt. Wiſſet denn; es wiſſ' 
Es alle Welt! Nicht meiner Wiſſenſchaft, 
Dem Zufall, Eurer eignen Übereilung 
Verdank' ich das Geheimnis Eures Namens. 
Ihr ſelbſt, Ihr ließet gegen meine Sklavin 
Adelma beide Namen Euch entſchlüpfen. 
Durch ſie bin ich dazu gelangt — Ihr alſo habt 
Geſiegt, nicht ich, und Euer iſt der Preis. 
— Doch nicht bloß, um Gerechtigkeit zu üben 
Und dem Geſetz genug zu tun — Nein, Prinz! 
Um meinem eignen Herzen zu gehorchen, 
Schenk ich mich Euch — Ach, es war Euer, gleich 
Im erſten Augenblick, da ich Euch ſah! 


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2530 


2535 


230 Turandot, Pringeffin von China 


Adelina, 
O nie gefühlte Darter! 


Kalaf 
(der dieſe ganze Zeit über wie ein Träumender geſtanden, ſcheint jetzt erſt 
zu ſich ſelbſt zu kommen und ſchließt die Prinzeſſin mit Entzückung in ſeine 
Arme). 


Ihr die Meine? 
O töte mich nicht, Übermaß der Wonne! 


Altoum. 
Die Götter ſegnen dich, geliebte Tochter, 
Daß du mein Alter endlich willſt erfreun. 
Verziehen ſei dir jedes vor'ge Leid, 
Der Augenblick heilt jede Herzenswunde. 


Pantalon. 
Hochzeit! Hochzeit! Macht Platz, ihr Herrn Doktoren! 


Tartaglia. 
Platz! Platz! Der Bund ſei alſogleich beſchworen! 


Adelma. N 
Ja, lebe, Grauſamer, und lebe glücklich 
Mit ihr, die meine Seele haßt! 
(Zu Turandot.) 
Ja, wiſſe, 
Daß ich dich nie geliebt, daß ich dich haſſe 
Und nur aus Haß gehandelt, wie ich tat. 
Die Namen ſagt' ich dir, um den Geliebten 
Aus deinem Arm zu reißen und mit ihm, 
Der meine Liebe war, eh' du ihn ſahſt, 
In glücklichere Länder mich zu flüchten. 
Noch dieſe Nacht, da ich zu deinem Dienſt 
Geſchäftig ſchien, verſucht' ich alle Liſten, 
Selbſt die Verleumdung ſpart' ich nicht, zur Flucht 
Mit mir ihn zu bereden — doch umſonſt! 


Fünfter Aufzug. 2. Auftritt 231 


In ſeinem Schmerz entſchlüpften ihm die Namen, 
Und ich verriet ſie dir: du ſollteſt ſiegen, 
240 Verbannt von deinem Angeſicht ſollt' er 
In meinen Arm ſich werfen — Eitle Hoffnung! 
Zu innig liebt' er dich und wählte lieber, 
Durch dich zu ſterben, als für mich zu leben! 
Verloren hab' ich alle meine Mühen, 
25s Nur eins ſteht noch in meiner Macht. Ich ſtamme 
Wie du von königlichem Blut und muß erröten, 
Daß ich ſo lange Sklavenfeſſeln trug. 
In dir muß ich die blut'ge Feindin haſſen, 
Du haſt mir Vater, Mutter, Brüder, Schweſtern, 
2550 Mir alles, was mir teuer war, geraubt, 
Und nun auch den Geliebten raubſt du mir. 
So nimm auch noch die Letzte meines Stammes, 


Mich ſelbſt zum Raube hin — Ich will nicht leben! 
(Sie hebt den Dolch, welchen Turandot dem Kalaf entriſſen, von der Erde 
auf.) 


Verzweiflung zückte dieſen Dolch; er hat 
ass Das Herz gefunden, das er ſpalten ſoll. 
(Sie will ſich erſtechen.) 


Kalaf (fat ihr in den Arm). 
Faßt Euch, Adelma. 


Adelma. 
Laß mich, Undankbarer! 
In ihrem Arm dich ſehen? Nimmermehr! 


Kalaf. 
Ihr ſollt nicht ſterben. Eurem glücklichen 
Verrate dank ich's, daß dies ſchöne Herz, 
260 Dem Zwange feind, mich edelmütig frei 
Beglücken konnte — Gütiger Monarch, 
Wenn meine heißen Bitten was vermögen, 
So habe ſie die Freiheit zum Geſchenk, 


232 Turandot, Prinzeſſin von China 


Und unſers Glückes erſtes Unterpfand 
2565 Sei eine Glückliche! 
Turandot. 
Auch ich, mein Vater, 
Vereinige mein Bitten mit dem ſeinen. 
Zu haſſenswert, ich fühl' es, muß ich ihr 
Erſcheinen; mir verzeihen kann ſie nie 
Und könnte nie an mein Verzeihen glauben. 
2570 Sie werde frei, und ijt ein größer Glück 
Für ſie noch übrig, ſo gewährt es ihr: 
Wir haben viele Tränen fließen machen 
Und müſſen eilen, Freude zu verbreiten. 


Pantalon. 
Ums Himmels willen, Sire, ſchreibt ihr den Laufpaß, 
2575 So ſchnell Ihr könnt, und gebt ihr, wenn ſie's fordert, 
Ein ganzes Königreich noch auf den Weg. 
Mir iſt ganz weh und bang, daß unſre Freude 
In Rauch aufgeh', ſo lang' ein wütend Weib 
Sich unter einem Dach mit Euch befindet. 


Altoum (zu Turandot). 
2680 An ſolchem Freudentag, den du mir ſchenkſt, 
Soll meine Milde keine Grenzen kennen. 
Nicht bloß die Freiheit ſchenk' ich ihr. Sie nehme 
Die väterlichen Staaten auch zurück 
Und teile ſie mit einem würd'gen Gatten, 
2588 Der klug ſei und den Mächtigen nicht reize. 


Adelina. 
Sire — Königin — Ich bin beſchämt, verwirrt, 
So große Huld und Milde drückt mich nieder. 
Die Zeit vielleicht, die alle Wunden heilt, 
Wird meinen Kummer lindern — Jetzt vergönnt mir 
2690 Zu ſchweigen und von Eurem Angeſicht 


Fünfter Aufzug. 3. Auftritt 233 


Zu gehn — Denn nur der Tränen bin ich fähig, 


Die unaufhaltſam dieſem Aug' entſtrömen! 


(Sie geht ab mit verhülltem Geſicht, noch einen glühenden Blick auf Kalaf 
werfend, eh' ſie ſcheidet.) 


Letzter Auftritt 


Die Vorigen ohne Adelma. Gegen das Ende Timur, Barak 
Skirina und Zelima. N 


Kalaf. 

Mein Vater, o wo find' ich dich, wo biſt du, 

Daß ich die Fülle meines Glücks in deinen Buſen 
2595 Ausgieße? 
Turandot (verlegen und beſchämt). 
! Kalaf, Euer edler Vater iſt 
Bei mir, iſt hier — In dieſem Augenblicke 
Fühlt er ſein Glück — Verlangt nicht mehr zu wiſſen, 
Nicht ein Geſtändnis, das mich ſchamrot macht, 
Vor allen dieſen Zeugen zu vernehmen. 


Altoum. 
2600 Timur bei dir? Wo iſt er? — Freue dich, 
g Mein Sohn! Dies Kaiſerreich haſt du gewonnen, 


Auch dein verlornes Reich iſt wieder dein. 
Ermordet iſt der grauſame Tyrann, 

| Der dich beraubte! Deines Volkes Stimme 

2605 Ruft dich zurück auf deiner Väter Thron, 

Den dir ein treuer Diener aufbewahrt. 

ö Durch alle Länder hat dich ſeine Botſchaft 

Geſucht, und ſelbſt zu mir iſt ſie gedrungen 

— Dies Blatt enthält das Ende deines Unglücks. 

(Überreicht ihm einen Brief.) 


234 Turandot, Prinzeſſin von China 


Kalaf 
(wirft einen Blick hinein und ſteht eine Zeitlang in ſprachloſer Rührung). 


2610 Götter des Himmels! Mein Entzücken iſt 


Droben bei euch, die Lippe iſt verſiegelt. 
(In dieſem Augenblick öffnet ſich der Saal, Timur und Barak treten 
herein, von Zelima und ihrer Mutter begleitet. Wie Kalaf ſeinen Vater 
erblickt, eilt er ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen. Barak ſinkt zu 
Kalafs Füßen, indem ſich Zelima und ihre Mutter vor der Turandot 
niederwerfen, welche ſie gütig aufhebt. Altoum, Pantalon und Tartaglia 
ſtehen gerührt. Unter dieſen Bewegungen fällt der Vorhang.) 


Der Paraſit 
oder 


Die Kunſt ſein Glück zu machen 


Ein Luſtſpiel in fünf Aufzügen 


Nach dem Franzöſiſchen des Picard 


Perſonen 


Narbonne, Miniſter. 

Madame Belmont, ſeine Mutter. 

Charlotte, ſeine Tochter. 

Selicour, 

La Roche, Subalternen des Miniſters. 
Firmin, 

Karl Firmin, des letztern Sohn, Leutnant. 
Michel, Kammerdiener des Miniſters. 
Robineau, ein junger Bauer, Selicours Vetter. 


Die Szene iſt zu Paris in einem Vorgemach des Miniſters. 


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Erſter Aufzug 
1. Auftritt 


Firm in der Vater und Karl Firmin. 


Karl. Welch glücklicher Zufall — denken Sie doch, 
Vater! — 

Firmin. Was iſt's? 

Karl. Ich habe ſie wiedergefunden. 

Firmin. Wen? 

Karl. Charlotten. Seitdem ich in Paris bin, ſuchte 
ich ſie an allen öffentlichen Plätzen vergebens — und das 
erſte Mal, daß ich zu Ihnen aufs Bureau komme, führt 
mein Glücksſtern ſie mir entgegen. 

Firmin. Aber wie denn? — 

Karl. Denken Sie doch nur! Dieſes herrliche Mäd⸗ 
chen, das ich zu Colmar im Haus ihrer Tante beſuchte — 
dieſe Charlotte, die ich liebe und ewig lieben werde — ſie 
iſt die Tochter — 

Firmin. Weſſen? 

Karl. Ihres Prinzipals, des neuen Miniſters. — 
Ich kannte ſie immer nur unter dem Namen Charlotte. 

Firmin. Sie iſt die Tochter? 

Karl. Des Herrn von Narbonne. 

Firmin. Und du liebſt ſie noch? 

Karl. Mehr als jemals, mein Vater! — Sie hat 
mich nicht erkannt, glaub' ich; ich wollte ihr eben meine 


240 Der Paraſit 


Verbeugung machen, als Sie hereintraten. — Und gut, 
daß Sie mich ſtörten! denn was hätte ich ihr ſagen 
können! Meine Verwirrung mußte ihr ſichtbar werden 
und meine Gefühle verraten! — Ich beherrſche mich 
nicht mehr. Seit den ſechs Monaten, daß ich von ihr 
getrennt bin, iſt ſie mein einziger Gedanke — ſie iſt der 
Inhalt, die Seele meiner Gedichte — der Beifall, den 
man mir gezollt, ihr allein gebührt er; denn meine Liebe 
iſt der Gott, der mich begeiſtert. 

Firmin. Ein Poet und ein Verliebter überredet ſich 
vieles, wenn er zwanzig Jahr alt iſt. — Auch ich habe 
in deinen Jahren meine Verſe und meine Zeit ver⸗ 
loren. — Schade, daß über dem ſchönen Wahn des Lebens 
beſte Hälfte dahingeht. — Und wenn doch nur wenigſtens 
einige Hoffnung bei dieſer Liebe wäre — Aber nach 
etwas zu ſtreben, was man niemals erreichen kann! — 
Charlotte Narbonne iſt eines reichen und vornehmen 
Mannes Tochter — Unſer ganzer Reichtum iſt meine 
Stelle und deine Leutnantsgage. 

Karl. Aber iſt das nicht ein wenig Ihre eigene 
Schuld, mein Vater? Verzeihen Sie! Mit Ihren Fähig⸗ 
keiten, wornach könnten Sie nicht ſtreben! Wollten Sie 
Ihren Wert geltend machen, Sie wären vielleicht ſelbſt 
Miniſter, anſtatt ſein Commis zu ſein, und Ihr Sohn 
dürfte ungeſcheut ſeine Anſprüche zu Charlotten erheben. 

Firmin. Dein Vater iſt das größte Genie, wenn 
man dich hört! Laß gut ſein, mein Sohn, ich weiß beſſer, 
was ich wert bin! Ich habe einige Übung und bin zu 
brauchen — aber wie viele ganz andere Männer, als ich 
bin, bleiben im Dunkeln und ſehen ſich von unverſchämten 
Glückspilzen verdrängt — Nein, mein Sohn! Laß uns 
nicht zu hoch hinaus wollen! 

Karl. Aber auch nicht zu wenig auf uns halten. 
Wie? Sollten Sie nicht unendlich mehr wert ſein als 


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Erſter Aufzug. 1. Auftritt 241 


dieſer Selicour, Ihr Vorgeſetzter — dieſer aufgeblaſene 
Hohlkopf, der unter dem vorigen Miniſter alles machte, 
der ſich durch Niederträchtigkeiten in ſeine Gunſt ein⸗ 
ſchmeichelte, Stellen vergab, Penſionen erſchlich, und der 
jetzt auch ſchon bei dem neuen Miniſter alles gilt, wie 
ich höre? 

Firmin. Was haſt du gegen dieſen Selicour? Wird 
ſein Geſchäft nicht getan, wie es ſein ſoll? 

Karl. Ja, weil Sie ihm helfen. — Sie können 
nicht leugnen, daß Sie drei Vierteile ſeiner Arbeit ver⸗ 
richten. 

Eirmin. Man muß einander wechſelſeitig zu Gefallen 
ſein. Verſeh' ich ſeine Stelle, ſo verſieht er auch oft die 
meinige. 

Karl. Ganz recht, darum ſollten Sie an ſeinem 
Platze ſtehen, und er an dem Ihren. 

Firmin. Ich will keinen andern aus ſeinem Platze 
verdrängen und bin gern da, wo ich ſtehe, in der 
Dunkelheit. 

Karl. Sie ſollten ſo hoch ſtreben, als Sie reichen 
können. — Daß Sie unter dem vorigen Miniſter ſich in 
der Entfernung hielten, machte Ihrer Denkungsart Ehre, 
und ich bewunderte Sie darum nur deſto mehr. — Sie 
fühlten ſich zu edel, um durch die Gunſt erlangen zu 
wollen, was Ihrem Verdienſt gebührte. Aber Narbonne, 
ſagt man, iſt ein vortrefflicher Mann, der das Verdienſt 
aufſucht, der das Gute will. Warum wollen Sie aus 
übertriebener Beſcheidenheit auch jetzt noch der Unfähig⸗ 
keit und Intrige das Feld überlaſſen? 

Eirmin. Deine Leidenſchaft verführt dich, Selicours 
Fehler und mein Verdienſt zu übertreiben. — Sei es 
auch, daß Selicour für ſein mittelmäßiges Talent zu 
hoch hinaus will, er iſt redlich und meint es gut. Mag 


er ſeine Arbeit tun oder durch einen andern tun laſſen — 
Schillers Werke. IX. 16 


242 Der Paraſit 


wenn ſie nur getan wird! — Und geſetzt, er taugte 
weniger, tauge ich um deſſentwillen mehr? Wächſt mir 
ein Verdienſt zu aus ſeinem Unwert? Ich habe mir 
bisher in meiner Verborgenheit ganz wohl gefallen und 
nach keinem höhern Ziel geſtrebt. Soll ich in meinem 
Alter meine Geſinnung ändern? — Mein Platz ſei zu 
ſchlecht für mich! Immerhin! Weit beſſer, als wenn ich 
zu ſchlecht für meine Stelle wäre! 
Karl. Und ich müßte alſo Charlotten entſagen! 


2. Auftritt 
La Roche. Beide Firmin. 


Eirmin. Kommt da nicht La Roche? 

Ta Noche (niedergeſchlagen). Er ſelbſt. 

Firmin. So ſchwermütig? Was ijt Ihnen begegnet? 

Ta Noche. Sie gehen aufs Bureau! Wie glücklich 
ſind Sie! — Ich — ich will den angenehmen Morgen 
genießen und auf dem Wall promenieren. 

Zirmin, La Roche! Was ijt das? Sollten Sie nicht 
mehr — 

Ta Noche Guckt die Achſeln). Nicht mehr. — Mein Platz 
iſt vergeben. Seit geſtern Abend hab' ich meinen Lauf⸗ 
paß erhalten. 

Karl. Um Gottes willen! 

Ta Rote. Meine Frau weiß noch nichts davon. 
Laſſen Sie ſich ja nichts gegen ſie merken. Sie iſt krank, 
ſie würde den Tod davon haben. 

Karl. Sorgen Sie nicht. Von uns ſoll ſie nichts 
erfahren. 

Eirmin. Aber ſagen Sie mir, La Roche, wie — 

Ta Boche. Hat man mir das Geringſte vorzuwerfen? 
Ich will mich nicht ſelbſt loben, aber ich kann ein Re⸗ 


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Erſter Aufzug. 2. Auftritt 243 


giſter halten, meine Korreſpondenz führen, denk' ich, ſo 
gut als ein anderer. Ich habe keine Schulden, gegen 
meine Sitten iſt nichts zu ſagen. — Auf dem Bureau 
bin ich der erſte, der kommt, und der letzte, der abgeht, 
und doch verabſchiedet! 

Tirmin. Wer Sie kennt, muß Ihnen das Zeugnis 
geben — 

Karl. Aber wer kann Ihnen dieſen ſchlimmen Dienſt 
geleiſtet haben? 

Ta Noche. Wer? Es ijt ein Freundſchaftsdienſt von 
dem Selicour. 

Karl. Iſt's möglich? 

Ta Noche. Ich hab' es von guter Hand. 

Eirmin. Aber wie? — f 

Ta Roche. Der Selicour ijt aus meinem Ort, wie 
Sie wiſſen. Wir haben beide gleiches Alter. Sein bißchen 
Schreiben hat er von mir gelernt, denn mein Vater war 
Kantor in unſerm Dorf. Ich hab' ihn in die Geſchäfte 
eingeführt. Zum Dank dafür ſchickt er mich jetzt fort, 
um ich weiß nicht welchen Vetter von dem Kammerdiener 
unſers neuen Miniſters in meinen Platz einzuſchieben. 

Karl. Ein ſaubres Plänchen! 

Eirmin. Aber wäre da nicht noch Rat zu ſchaffen? 

Ta Noche. Den erwart' ich von Ihnen, Herr Firmin! 
— Zu Ihnen wollt' ich mich eben wenden. — Sie denken 
rechtſchaffen. — Hören Sie! Um meine Stelle iſt mir's 
nicht zu tun, aber rächen will ich mich. Dieſer unver⸗ 
ſchämte Bube, der gegen ſeine Obern ſo geſchmeidig, ſo 
kriechend iſt, glaubt einem armen Schlucker, wie ich bin, 
ungeſtraft ein Bein unterſchlagen zu können. — Aber 
nimm dich in Acht, Freund Selicour! — Der verachtete 
Gegner ſoll dir ſehr ernſthafte Händel anrichten! — Und 
ſollt' es mir meine Stelle, meine Verſorgung auf immer 
koſten — ich muß Rache haben! Für meine Freunde 


244 Der Paraſit 


gehe ich ins Feuer, aber meine Feinde mögen an mich 
denken. 

Firmin. Nicht doch, lieber La Roche! — Vergeben 
und vergeſſen iſt die Rache des braven Mannes. 

Ta Rote. Keine Barmherzigkeit, Herr, mit den 
Schelmen! Schlechte Burſche zu entlarven iſt ein gutes, 
ein verdienſtliches Werk. — Seine Stelle, das wiſſen Sie 
recht gut, gebührt von Gott und Rechtswegen Ihnen — 
und das aus mehr als einem Grund. Aber arbeitet, 
zerſchwitzt Euch, laßt's Euch ſauer werden, Ihr habt doch 
nur Zeit und Mühe umſonſt vergeudet! Wer fragt nach 
Eurem Verdienſte? Wer bekümmert ſich darum? — Kriecht, 
ſchmeichelt, macht den Krummpuckel, ſtreicht den Katzen⸗ 
ſchwanz, das empfiehlt ſeinen Mann! Das iſt der Weg 
zum Glück und zur Ehre! — So hat's dieſer Selicour 
gemacht, und Ihr ſeht, wie wohl er ſich dabei befindet! 

Tirmin. Aber tun Sie dem guten Manne nicht Un⸗ 
recht, lieber La Roche? 

Ta Noche. Ich ihm Unrecht! Nun, nun — ich will 
mich eben für keinen tiefen Menſchenkenner geben, aber 
dieſen Selicour, den ſeh' ich durch! den hab' ich — ich 
kenne mich ſelbſt nicht ſo gut, als ich den kenne. — 
Schon in der Schule ſah man, welch Früchtchen das geben 
würde! Das ſchwänzelte um den Lehrmeiſter herum und 
horchte und ſchmeichelte und wußte ſich fremdes Verdienſt 
zuzueignen und ſeine Eier in fremde Neſter zu legen. 
Das erſchrak vor keiner Niederträchtigkeit, um ſich ein⸗ 
zuſchmeicheln, einzuniſten. Als er älter ward, ging das 
alles ins Große. Bald ſpielte er den Heuchler, bald den 
Spaßmacher, wie's die Zeit heiſchte; mit jedem Winde 
wußte er zu ſegeln. Denken Sie nicht, daß ich ihn ver⸗ 
leumde! Man weiß, wie es unter dem vorigen Miniſter 
zuging. — Nun, er iſt tot — ich will ihm nichts Böſes 
nachreden. — Aber wie wußte dieſer Selicour ſeinen 


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Erſter Aufzug. 2. Auftritt 245 


Schwächen, ſeinen Laſtern durch die ſchändlichſten Kuppler⸗ 
dienſte zu ſchmeicheln! — Und kaum fällt der Miniſter, 
ſo iſt er der erſte, der ihn verläßt, der ihn verleugnet. 

Karl. Aber wie kann er ſich bei dem neuen Herrn 
behaupten, der ein ſo würdiger Mann iſt? 

Ta Roche. Wie? Mit Heucheln. Der weiß ſich nach 
ſeinen Leuten zu richten und ſeinen Charakter nach den 
Umſtänden zu verändern. — Auch auf eine gute Hand⸗ 
lung kommt's ihm nicht an, wenn dabei etwas zu ge- 
winnen iſt, ſo wenig als auf ein Bubenſtück, wenn es 
zum Zwecke führt. 

Karl. Aber Herr Narbonne hat einen durchdringen⸗ 
den Geiſt und wird ſeinen Mann bald ausgefunden haben. 

Ta Noche. Das iſt's eben, was er fürchtet. — Aber 
fo leer ſein Kopf an allen nützlichen Kenntniſſen iſt, fo 
reich iſt er an Kniffen. — So, zum Beiſpiel, ſpielt er 
den Überhäuften, den Geſchäftvollen und weiß dadurch 
jeder gründlichen Unterredung zu entſchlüpfen, wo ſeine 
Unwiſſenheit ans Licht kommen könnte. — Übrigens trägt 
er ſich mit keinen kleinen Projekten; ich kenne ſie recht 
gut, ob er ſie gleich tief zu verbergen glaubt. 

Firmin. Wie fo? Was find das für Projekte? 

Ta Noche. Narbonne, der bei dem Gouvernement 
jetzt ſehr viel zu ſagen hat, ſucht eine fähige Perſon zu 
einem großen Geſandtſchaftspoſten. Er hat die Prä⸗ 
ſentation; wen er dazu empfiehlt, der iſt's. Nun hat 
dieſer Narbonne auch eine einzige Tochter, ſiebzehn Jahre 
alt, ſchön und liebenswürdig und von unermeßlichem 
Vermögen. — Gelingt's nun dem Selicour, in einem 
ſo hohen Poſten aus dem Land und dem hellſehenden 
Miniſter aus den Augen zu kommen, ſo kann er mit Hilfe 
eines geſchickten und diskreten Sekretärs ſeine Hohlköpfig⸗ 
keit lange verbergen. — Kommt ſie aber auch endlich 
an den Tag, wie es nicht fehlen kann, was tut das als⸗ 


246 Der Parafit 


dann dem Schwiegerſohn des Miniſters? Der Miniſter 
muß alſo zuerſt gewonnen werden, und da gibt man ſich 
nun die Miene eines geübten Diplomatikers. — Die 
Mutter des Miniſters iſt eine gute ſchwatzhafte Alte, die 
eine Kennerin ſein will und ſich viel mit der Muſik weiß. 
— Bei dieſer Alten hat er ſich eingeniſtet, hat ihr Cha⸗ 
raden und Sonette vorgeſagt, ja und der Stümper hat 
die Dreiſtigkeit, ihr des Abends Arien und Lieder auf 
der Gitarre vorzuklimpern. — Das Fräulein hat Ro⸗ 
mane geleſen, bei ihr macht er den Empfindſamen, den 
Verliebten, und ſo iſt er der Liebling des ganzen Hauſes, 
von der Mutter gehätſchelt, von der Tochter geſchätzt. 
Die Geſandtſchaft iſt ihm ſo gut als ſchon gewiß, 
und nächſtens wird er um die Hand der Tochter an⸗ 
halten. 

Karl. Was hör' ich! Er ſollte die Kühnheit haben, 
ſich um Charlotten zu bewerben? 

Ta Rote. Die hat er, das können Sie mir glauben. 

Karl. Charlotten, die ich liebe! die ich anbete! 

Ta Noche. Sie lieben fie? Sie? 

Eirmin. Er iſt ein Narr! Er iſt nicht bei Sinnen! 
Hören Sie ihn nicht an! 

Ta Noche. Was hör' ich! Iſt's möglich? — Nein, 
nein, Herr Firmin! Dieſe Liebe iſt ganz und gar keine 
Narrheit — wart' — wart' — die kann uns zu etwas 
führen. — Dieſe Liebe kommt mir erwünſcht — die paßt 
ganz in meine Projekte! 

Karl. Was träumt er? 

Ta Noche. Dieſer Selicour iſt in die Luft geſprengt! 
In die Luft, ſag' ich. — Rein verloren! — In ſeinem 
Ehrgeiz ſoll ihn der Vater, in ſeiner Liebe ſoll ihn der 
Sohn aus dem Sattel heben. 

Zirmin. Aber ich bitte Sie — 

Ta Noche. Laßt nur mich machen! Laßt mich machen, 


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Erſter Aufzug. 2. Auftritt 247 


ſag' ich! Und über kurz oder lang ſind Sie Ambaſſadeur, 
und Karl heiratet Fräulein Charlotten. 

Karl. Ich Charlotten heiraten! 

Firmin. Ich Ambaſſadeur! 

Ta Roche. Nun! Nun! Warum nicht? Sie verdienten 
es beſſer, ſollt' ich meinen, als dieſer Selicour. 

Firmin. Lieber La Roche! Ch’ Sie uns andern jo 
große Stellen verſchaffen, dächte ich, Sie ſorgten, Ihre 
eigne wieder zu erhalten. 

Karl. Das gleicht unſerm Freund! So iſt er! 
Immer unternehmend, immer Plane ſchmiedend! Aber 
damit langt man nicht aus! Es braucht Gewandtheit und 
Klugheit zur Ausführung — und daß der Freund es 
ſo leicht nimmt, das hat ihm ſchon ſchwere Händel an⸗ 
gerichtet! 

Ta Rothe. Es mag ſein, ich verſpreche vielleicht 
mehr, als ich halten kann. Aber alles, was ich ſehe, 
belebt meine Hoffnung, und der Verſuch kann nichts 
ſchaden. — Für mich ſelbſt möchte ich um keinen Preis 
eine Intrige ſpielen — aber dieſen Selicour in die 
Luft zu ſprengen, meinen Freunden einen Dienſt zu leiſten 
— das iſt löblich, das iſt köſtlich, das macht mir ein 
himmliſches Vergnügen — und an dem Erfolg — an 
dem iſt gar nicht zu zweifeln. 

Firmin. Nicht zu zweifeln? So haben Sie Ihren 
Plan ſchon in Ordnung — 

Ta Noche. In Ordnung — Wie? — Ich habe noch 
gar nicht daran gedacht, aber das wird ſich finden, wird 
ſich finden. 

Eirmin. Ei! — Ei! Dieſer gefährliche Plan iſt noch 
nicht weit gediehen, wie ich ſehe. 

Ta Noche. Sorgen Sie nicht — ich werde mich mit 
Ehren herausziehn: dieſer Selicour ſoll es mir nicht ab⸗ 
gewinnen, das ſoll er nicht, dafür ſteh' ich. — Was 


248 Der Paraſit 


braucht's der Umwege? Ich gehe gerade zu, ich melde 
mich bei dem Miniſter, es iſt nicht ſchwer, bei ihm vor⸗ 
zukommen; er liebt Gerechtigkeit, er kann die Wahrheit 
vertragen. 0 

Firmin. Wie? Was? Sie hätten die Kühnheit — 

Ta Roche. Ei was! Ich bin nicht furchtſam. — Ich 
fürchte niemand. — Kurz und gut. — Ich — ſpreche den 
Miniſter — ich öffne ihm die Augen. — Er ſieht, wie 
ſchändlich er betrogen iſt — das iſt das Werk einer 
halben Stunde — der Selicour muß fort, fort — mit 
Schimpf und Schande fort, und ich genieße den voll⸗ 
kommenſten Triumph. — Ja, ich ſtehe nicht dafür, daß 
mich der arme Teufel nicht dauert, wenn er ſo mit 
Schande aus dem Hauſe muß. 

Karl. Was Sie tun, lieber La Roche — Mich und 
meine Liebe laſſen Sie auf jeden Fall aus dem Spiel! Ich 
hoffe nichts. — Ich darf meine Wünſche nicht ſo hoch er⸗ 
heben! — Aber für meinen Vater können Sie nie zu viel tun. 

Firmin. Laß du mich für mich ſelbſt antworten, 
mein Freund! — Sie meinen es gut, lieber La Roche, 
aber der gute Wille geht mit der überlegung durch. 
Was für ein luftiges Projekt iſt's, das Sie ſich ausge⸗ 
ſonnen haben! Ein leeres Hirngeſpinſt! — Und wäre 
der Erfolg ebenſo ſicher, als er es nicht iſt, ſo würde ich 
doch nie meine Stimme dazu geben. Dieſe glänzenden 
Stellen find nicht für mich, und ich bin nicht für fie; 
Neigung und Schickſal haben mir eine beſcheidenere 
Sphäre angewieſen. Warum ſoll ich mich verändern, 
wenn ich mich wohl befinde? Ich hoffe, der Staat wird 
mich nicht ſuchen, und ich bin zu ſtolz, um ein Amt zu 
betteln — noch viel mehr aber, um einen andern für 
mich betteln zu laſſen. — Sorgen Sie alſo nur für ſich 
ſelbſt! Sie haben Freunde genug, es wird ſich jeder 
gern für Sie verwenden. 


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Erſter Aufzug. 3. Auftritt 249 


Ta Noche. Ihr wollt alſo beide meine Dienſte 
nicht? — Liegt nichts dran! Ich mache euer Glück, ihr 
mögt es wollen oder nicht! (er geht ab.) 

Firmin. Er ijt ein Narr. Aber ein guter, und ſein 
Unfall geht mir zu Herzen. 

Karl. Auch mich bedauern Sie, mein Vater! Ich 
bin unglücklicher als er! Ich werde meine Charlotte 
verlieren! 

Tirmin. Ich höre kommen — Es iſt der Miniſter 
mit ſeiner Mutter — Laß uns gehen! — Ich will auch 
den Schein vermeiden, als ob ich mich ihm in den Weg 
geſtellt hätte. (Gehen ab.) 


3. Auftritt 
Narbonne. Madame Belmont. 


Mad. Belmont. War Herr Selicour ſchon bei dir? 

Narbonne. Ich hab' ihn heute noch nicht geſehen! 

Mad. Belmont. Das mußt du doch geſtehen, mein 
Sohn, daß du einen wahren Schatz in dieſem Manne 
beſitzeſt. 

Narbonne. Er ſcheint ſehr brav in ſeinem Fach! 
Und da ich mich einmal von meinem ländlichen Aufent- 
halt in dieſe große Stadt und in einen ſo ſchwierigen 
Poſten verſetzt ſehe, wo es mit der Bücherweisheit keines⸗ 
wegs getan iſt, ſo muß ich's für ein großes Glück achten, 
daß ich einem Manne wie Selicour begegnete. 

Mad. Belmont. Der alles verſteht — dem nichts 
fremd iſt! Geſchmack und Kenntnis — die geiſtreichſte 
Unterhaltung, die angenehmſten Talente. — Muſik, 
Malerei, Verſe — man frage, wonach man will, er iſt in 
allem zu Hauſe. 

Narbonne. Nun, und meine Tochter? 


250 Der Paraſit 


Mad. Belmont. Gut, daß du mich darauf bringſt. 
Sie hat ihre ſiebzehn Jahre, fie hat Augen, dieſer Seli⸗ 
cour hat ſo viele Vorzüge. — Und er iſt galant! Sein 
Ausdruck belebt ſich in ihrer Gegenwart. — O es iſt 
mir nicht entgangen! Dieſe Delikateſſe, dieſe zarten Auf⸗ 
merkſamkeiten, die er ihr beweiſt, ſind nur einen kleinen 
Schritt weit von der Liebe! 

Narbonne. Nun, es wäre keine üble Partie für 
unſer Kind! Ich ſehe nicht auf die zufälligen Vorzüge 
der Geburt — hab' ich nicht ſelbſt meinen Weg von unten 
auf gemacht? und dieſer Selicour kann es mit ſeinem 
Geiſt, ſeinen Kenntniſſen, ſeiner Rechtſchaffenheit noch 
weit bringen. Ich habe ſelbſt ſchon bei einem ehren⸗ 
vollen Poſten, wozu man einen tüchtigen und würdigen 
Mann ſucht, an ihn gedacht. — Nun! Ich will ſeine 
Fähigkeiten prüfen — zeigt er ſich, wie ich nicht zweifle, 
eines ſolchen Poſtens würdig, und weiß er meiner Tochter 
zu gefallen, ſo werde ich ihn mit Freuden zu meinem 
Sohn annehmen. 

Mad. Belmont. Das iſt mein einziger Wunſch! Er 
iſt ein gar zu artiger, gefälliger, allerliebſter Mann! 


4. Auftritt 
Vorige. Charlotte. 


Charlotte. Guten Morgen, lieber Vater! 

Narbonne. Sieh da, mein Mädchen! — Nun, wie 
gefällt dir die große Stadt? 

Charlotte. Ach, ich wünſche mich doch wieder aufs 
Land hinaus — Denn hier muß ich die Zeit abpaſſen, um 
meinen Vater zu ſehen. 

Narbonne. Ja, ich ſelbſt vermiſſe meine redlichen 
Landleute. Mit ihnen ſcherzte ich und war fröhlich — 


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Erſter Aufzug. 5. Auftritt 251 


doch das hoffe ich auch hier zu bleiben. — Mein Poſten 
ſoll meine Gemütsart nicht verändern: man kann ein 
Geſchäftsmann ſein und doch ſeine gute Laune behalten. 
Mad. Belmont. Mich entzückt dieſer Aufenthalt. Ich 
s — ich bin hier wie im Himmel. Mit aller Welt ſchon 
bin ich bekannt — alles kommt mir entgegen — und 
Herr Selicour wollte mich bei dem Lycée abonnieren. 
Charlotte. Denken Sie, Großmama, wen ich heute 
geglaubt habe zu ſehen! 
10 Mad. Belmont. Wen denn? 
Charlotte. Den jungen Offizier — 
Mad. Belmont. Welchen Offizier? 
Charlotte. Den jungen Karl Firmin — 
Mad. Zelmont. Der zu Colmar alle Abende zu 
1s deiner Tante kam 
Charlotte. Der ſich immer mit Ihnen unterhielt. 
Mad. gelmont. Ein artiger junger Menſch! 
Charlotte. Nicht wahr, Großmama? 
Mad. Belmont. Der auch jo hübſche Verſe machte? 
20 Charlotte. Ja, ja, der! 
Mad. Belmont. Mun, da ev hier ijt, wird er ſich 
auch wohl bei uns melden. 
Narbonne. Wo doch der Selicour bleibt? Er läßt 
diesmal auf ſich warten! 
25 Mad. Belmont. Da kommt er eben! 


5. Auftritt 


Selicour zu den Vorigen. 


Selicour (alles betomplimentierend). Ganz zum Entzücken 
find' ich Sie alle hier beiſammen! 

Narbonne. Guten Morgen, lieber Selicour! 

Selicour (zu Narbonne, Papiere übergebend). Hier über⸗ 


252 Der Paraſit 


bringe ich den bewußten Aufſatz — ich hielt's für dienlich, 
ein paar Zeilen zur Erläuterung beizufügen. 

Narbonne. Vortrefflich! 

Selicour (der Madame ein Billet übergebend). Der gnädigen 
Frau habe ich für das neue Stück eine Loge beſprochen. 

Mad. Belmont. Allerliebſt! 

Selicour. Dem gnädigen Fräulein bring’ ich dieſen 
moraliſchen Roman. 

Charlotte. Sie haben ihn doch geleſen, Herr Seli⸗ 
cour? 

Selicour. Das erſte Bändchen, ja, hab' ich flüchtig 
durchgeblättert. 

Charlotte. Nun, und — 

Selicour. Sie werden eine rührende Szene darin 
finden. — Ein unglücklicher Vater — eine ausgeartete 
Tochter! — Eltern hilflos, im Stich gelaſſen von un⸗ 
dankbaren Kindern! — Greuel, die ich nicht faſſe — 
davon ich mir keinen Begriff machen kann! — Denn 
wiegt wohl die ganze Dankbarkeit unſers Lebens die 
Sorgen auf, die ſie unſrer hilfloſen Kindheit beweiſen? 

Mad. Belmont. In alles, was er ſagt, meiß der 
würdige Mann doch etwas Delikates zu legen! 

Selicour (zu Narbonne). In unſern Bureaus iſt eben jetzt 
ein Chef nötig. — Der Platz iſt von Bedeutung, und 
viele bewerben ſich darum. 

Narbonne. Auf Sie verlaſſ' ich mich! Sie werden 
die Anſprüche eines jeden zu prüfen wiſſen — die Dienſt⸗ 
jahre, der Eifer, die Fähigkeit und vor allen die Recht⸗ 
ſchaffenheit ſind in Betrachtung zu ziehen. — Aber ich 
vergeſſe, daß ich zu unterzeichnen habe. Ich gehe! 

Selicour. Und ich will auch gleich an meine Ge- 
ſchäfte! 

Narbonne. Ich bitte Sie recht ſehr, erwarten Sie 
mich hier, wir haben mit einander zu reden! 


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Erſter Aufzug. 6. Auftritt 253 


Selicour. Aber ich hätte vor Tiſche noch fo mancherlei 
auszufertigen. 

Narbonne. Bleiben Sie, oder kommen Sie ſchleunigſt 
wieder! Ich habe Ihre Gegenwart nötig! Ein Mann 
von Ihrer Kenntnis, von Ihrer Rechtſchaffenheit iſt's, 
was ich gerade brauche! Kommen Sie ja bald zurück! — 
Ich hab' es gut mit Ihnen vor. (er geht ab.) 


6. Auftritt 
Vorige ohne Narbonne. 


Mad. Belmont. Sie können es ſich gar nicht vor- 
ſtellen, Herr Selicour, wie große Stücke mein Sohn auf 
Sie hält! — Aber ich hätte zu tun, dächt' ich. — Unſre 
Verwandten, unſre Freunde ſpeiſen dieſen Abend hier. — 
Wird man Sie auch ſehen, Herr Selicour? 

Gelicour. Wenn anders meine vielen Geſchäfte — 

Mad. Belmont. Daß Sie nur ja nicht ausbleiben, 
ſonſt würde unſerm Feſt ſeine Krone fehlen. Sie ſind 
die Seele unſrer Geſellſchaft! — Und Charlotte, wollte 
ich wohl wetten, würde es recht ſehr übel nehmen, wenn 
Sie nicht kämen. 

Charlotte. Ich, Mama? Nun ja! Ihre und Papas 
Freunde ſind mir immer herzlich willkommen! 

Mad. Belmont. Schon gut! Schon gut! — Jetzt 
zieh dich an! Es iſt die höchſte Zeit! — Sie müſſen 
wiſſen, Herr Selicour, daß ich bei dem Putz präſidiere. 

Selicour. So kommt die ſchöne Kunſt noch der ſchönen 
Natur zu Hilfe — wer könnte da widerſtehen? 

Mad. Belmont. Er iſt ſcharmant! ſcharmant iſt er! 
Nicht den Mund öffnet er, ohne etwas Geiſtreiches und 
Galantes zu ſagen. (Geht mit Charlotten.) 


254 Der Paraſit 


7. Auftritt 
Selicour. Michel. 


Michel (im Hereintreten). Endlich iſt fie fort! — Nun 
kann ich mein Wort anbringen! — Hab' ich die Ehre 
mit Herrn Selicour — 

Selicour (grob und verdrießlich). Das ijt mein Name! 

Michel. Vergönnen Sie, mein Herr! — 

Selicour. Muß ich auch hier beläſtigt werden? Was 
will man von mir? 

Michel. Mein Herr! — 

Selicour. Gewiß eine Bettelei — ein Anliegen. — 
Ich kann nicht dienen. 

Michel. Erlauben Sie, mein Herr! 

Selicour. Nichts! Hier ijt der Ort nicht — in 
meinem Kabinett mag man einmal wieder anfragen! 

Michel. Einen ſo üblen Empfang glaubte ich nicht — 

Selicour. Was beliebt? 

Michel. Ich komme ja gar nicht, um etwas zu bitten 
— ich komme, dem Herrn Selicour meine gehorſame 
Dankſagung abzuſtatten! 

Selicour. Dankſagung? Wofür? 

Michel. Daß Sie meinem Neffen die Stelle verſchafft 
haben. 

Selicour. Was? Wie? 

Michel. Ich bin erſt ſeit geſtern hier im Hauſe, weil 
mich mein Herr auf dem Lande zurückließ. Als ich Ihnen 
ſchrieb, hatte ich nicht die Ehre, Sie von Perſon zu 
kennen. . 

Selicour. Was Sie jagen, mein Werteſter! Sie 
wären im Dienſt des Miniſters? 

Michel. Sein Kammerdiener, Ihnen zu dienen! 

Selicour. Mein Gott, welcher Irrtum! Monſieur 


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Erſter Aufzug. 7. Auftritt 255 


Michel, Kammerdiener, Leibdiener, Vertrauter des Herrn 
Miniſters. — Bitte tauſendmal um Verzeihung, Monſieur 
Michel! — Wahrhaftig, ich ſchäme mich — ich bin un⸗ 
tröſtlich, daß ich Sie ſo barſch angelaſſen. Auf Ehre, 
Monſieur Michel! — Ich hielt Sie für einen Commis. 

Michel. Und wenn ich es auch wäre! 

Selicour. Man wird von ſo vielen Zudringlichen 
belagert! Man kann es nicht allen Leuten am Rock 
anſehen. 

Michel. Aber gegen alle kann man höflich ſein, 
dächt' ich! 

Selicour. Freilich! Freilich! Es war eine unglück⸗ 
liche Zerſtreuung! 

Michel. Eine ſehr unangenehme für mich, Herr 
Selicour! 

Selicour. Es tut mir leid, ſehr leid — ich kann 
mir's in Ewigkeit nicht vergeben. 

Michel. Laſſen wir's gut ſein! 

Selicour. Nun! Nun! — Ich habe Ihnen meinen 
Eifer bewieſen — der liebe, liebe Neffel der wäre denn 
nun verſorgt! 

Michel. Eben komm' ich von ihm her! Er iſt nicht 
auf den Kopf gefallen, der Burſch! 

Selicour. Der junge Mann wird ſeinen Weg machen. 
Zählen Sie auf mich. 

Michel. Schreibt er nicht ſeine ſaubre Hand? 

Selicour. Er ſchreibt gar nicht übel! 

Michel. Und die Orthographie — 

Selicour. Ja! Das iſt das Weſen! 

Michel. Hören Sie, Herr Selicour! Von meinem 
Briefe an Sie laſſen Sie ſich gegen den gnädigen Herrn 
nichts merken. Er hat uns, da er zur Stadt reiſte, ſtreng 
anbefohlen, um nichts zu ſollizitieren. — Er iſt ſo etwas 
wunderlich, der Herr! 


256 Der Paraſit 


Selicour. Iſt er das? So! So! — Sie kennen ihn 
wohl ſehr gut, den Herrn Miniſter? 

Michel. Da er auf einem vertrauten Fuß mit ſeiner 
Dienerſchaft umgeht, ſo weiß ich ihn auswendig — und 
kann Ihnen, wenn Sie wollen, völlige Auskunft über 
ihn geben. 

Selicour. Ich glaub's! Ich glaub's! Aber ich bin 
eben nicht neugierig, ganz und gar nicht! Sehn Sie, 
Monſieur Michel! Mein Grundſatz iſt: Handle recht, 
ſcheue niemand. 

Michel. Schön geſagt! 

Selicour. Nun, alſo weiter! Fahren Sie nur fort, 
Monſieur Michel! — Der gute Herr iſt alſo ein wenig 
eigen, ſagen Sie? 

Michel. Er iſt wunderlich, aber gut. Sein Herz iſt 
lauter, wie Gold! 

Selicour. Er iſt reich, er iſt ein Witwer, ein an⸗ 
genehmer Mann und noch in ſeinen beſten Jahren. — 
Geſtehen Sie's nur — er haßt die Weiber nicht, der 
liebe, würdige Mann. 

Michel. Er hat ein gefühlvolles Herz. 

Selicour (lächelt fein). He! He! So einige kleine Lieb⸗ 
ſchaften, nicht wahr? 

Michel. Mag wohl ſein! Aber er iſt über dieſen 
Punkt — 

Selicour. Verſtehe, verſtehe, Monſieur Michel! Sie 
ſind beſcheiden und wiſſen zu ſchweigen. — Ich frage in 
der beſten Abſicht von der Welt, denn ich bin gewiß, 
man kann nichts erfahren, als was ihm Ehre bringt. 

Michel. Ja! Hören Sie! In einer von den Vor⸗ 
ſtädten ſucht er ein Quartier. 

Selicour. Ein Quartier, und für wen? 

Michel. Das will ich ſchon noch herausbringen. — 
Aber laſſen Sie ſich ja nichts verlauten, hören Sie? 


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Erſter Aufzug. 7. Auftritt 257 


Selicour. Bewahre Gott! 

Michel. Galant war er in der Jugend. 

Selicour. Und da glauben Sie, daß er jetzt noch 
ſein Liebchen — 

Michel. Das eben nicht! Aber — 

Selicour. Sei's, was es will! Als ein treuer Diener 
des würdigen Herrn müſſen Sie einen chriſtlichen Mantel 
auf ſeine Schwachheit werfen. Und warum könnte es 
nicht eine heimliche Wohltat ſein? Warum das nicht, Herr 
Michel? — Ich haſſe die ſchlechten Auslegungen. — In 
den Tod haſſe ich, was einer übeln Nachrede gleicht. — 


Man muß immer das Beſte von ſeinen Wohltätern 


denken. — Nun! Nun! Nun wir ſehen uns wieder, 
Monſieur Michel! — Sie haben mir doch meinen trockenen 
Empfang verziehen? Haben Sie? — Auf Ehre! Ich bin 
noch ganz ſchamrot darüber! (Gibt ihm die Hand.) 

Michel (weigert ſich). O nicht doch, nicht doch, Herr 
Selicour! Ich kenne meinen Platz und weiß mich zu 
beſcheiden. 

Selicour. Ohne Umſtände! Zählen Sie mich unter 
Ihre Freunde! — Ich bitte mir das aus, Monſieur 
Michel! 

Michel. Das werd' ich mich nimmer unterſtehen — 
ich bin nur ein Bedienter. 

Selicour. Mein Freund! mein Freund! Kein Unter⸗ 
ſchied zwiſchen uns. Ich bitte mir's recht aus, Monſieur 
Michel! — (nndem fic) beide bekomplimentieren, fällt der Vorhang.) 


Schillers Werke. IX. 17 


258 Der Paraſit 


Zweiter Aufzug 
1. Auftritt 


Narbonne und Selicour ſitzen. 


Narbonne. Sind wir endlich allein? 

Selicour (unbehaglich). — Ja! 

Narbonne. Es liegt mir ſehr viel an dieſer Unter⸗ 
redung. — Ich habe ſchon eine ſehr gute Meinung von 
Ihnen, Herr Selicour, und bin gewiß, ſie wird ſich um 


ein Großes vermehren, ehe wir aus einander gehen. Zur 


Sache alſo, und die falſche Beſcheidenheit bei Seite. Sie 
ſollen in der Diplomatik und im Staatsrecht ſehr be⸗ 
wandert ſein, ſagt man? 

Selicour. Ich habe viel darin gearbeitet, und vielleicht 
nicht ganz ohne Frucht. Aber für ſehr kundig möchte ich 
mich denn darum doch nicht — 

Narbonne. Gut! Gut! Fürs erſte alſo laſſen Sie 
hören — Welches halten Sie für die erſten Erforderniſſe 
zu einem guten Geſandten? 


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Selicour (ſtockend). Vor allen Dingen habe er eine 


Gewandtheit in Geſchäften. 

Narbonne. Eine Gewandtheit, ja, aber die immer 
mit der ſtrengſten Redlichkeit beſtehe. 

Selicour. So mein’ ich's. 

Narbonne. Weiter. 

Selicour. An dem fremden Hofe, wo er ſich aufhält, 
ſuche er ſich beliebt zu machen. 

Narbonne. Ja! Aber ohne ſeiner Würde etwas zu 
vergeben. Er behaupte die Ehre des Staats, den er vor⸗ 
ſtellt, und erwerbe ihm Achtung durch ſein Betragen. 

Selicour. Das iſt's, was ich ſagen wollte. Er laſſe 
ſich nichts bieten und wiſſe ſich ein Anſehen zu geben. 


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Zweiter Aufzug. 1. Auftritt 259 


Narbonne. Ein Anſehen, ja, aber ohne Anmaßung. 

Selicour. So mein’ ich's. 

Narbonne. Er habe ein wachſames Auge auf alles, 
was — 

Selicour (unterbricht ihn). Überall habe er die Augen, 
er wiſſe das Verborgenſte auszuſpüren — 

Narbonne. Ohne den Aufpaſſer zu machen. 

Selicour. So mein' ich's. — Ohne eine ängſtliche 
Neugierde zu verraten. 

Narbonne. Ohne ſie zu haben. — Er wiſſe zu 
ſchweigen und eine beſcheidene Zurückhaltung — 

Selicour (raſch). Sein Geſicht fei ein verſiegelter 
Brief. 

Narbonne. Ohne den Geheimniskrämer zu machen. 

Selicour. So mein’ ich's. 

Narbonne. Er beſitze einen Geiſt des Friedens und 
ſuche jeder gefährlichen Mißhelligkeit — 

Selicour. Möglichſt vorzubeugen. 

Narbonne. Ganz recht. Er habe eine genaue Kennt⸗ 

is von der Volksmenge der verſchiedenen Länder — 

Selicour. Von ihrer Lage — ihren Erzeugniſſen — 
ihrer Ein⸗ und Ausfuhr — ihrer Handelsbilance — 

Narbonne. Ganz recht. 

Selicour (im Fluß der Rede). Ihren Verfaſſungen — 
ihren Bündniſſen — ihren Hilfsquellen — ihrer bewaff⸗ 
neten Macht — 

Narbonne. Zum Beiſpiel: Angenommen alſo, es wäre 
Schweden oder Rußland, wohin man Sie verſchickte — 
ſo würden Sie wohl von dieſen Staaten vorläufig die 
nötige Kunde haben. 

Selicour (verlegen). Ich — muß geſtehen, daß — Ich 
habe mich mehr mit Italien beſchäftigt. Den Norden 
kenn' ich weniger. 

Narbonne. So! Hm! 


260 Der Paraſit 


Selicour. Aber ich bin jetzt eben daran, ihn zu 
ſtudieren. 

Narbonne. Von Italien alſo! 

Selicour. Das Land der Cäſaren feſſelte billig meine 
Aufmerkſamkeit zuerſt. Hier war die Wiege der Künſte, 
das Vaterland der Helden, der Schauplatz der erhabenſten 
Tugend! Welche rührende Erinnerungen für ein Herz, 
das empfindet! 

Narbonne. Wohl! Wohl! Aber auf unſer Thema 
zurückzukommen — 

Selicour. Wie Sie befehlen! Ach, die ſchönen Künſte 
haben ſo viel Anziehendes! Es läßt ſich ſo vieles dabei 
denken! 

Narbonne. Venedig iſt's, was mir zunächſt einfällt. 

Selicour. Venedig! — Recht! Gerade über Venedig 
habe ich einen Aufſatz angefangen, worin ich mich über 
alles ausführlich verbreite. — Ich eile ihn herzu⸗ 
holen — Steht auf.) 

Narbonne. Nicht doch! Nicht doch! Eine kleine 
Geduld! 


2. Auftritt 
Vorige. Michel. 


Michel. Es iſt jemand draußen, der in einer dringen⸗ 
den Angelegenheit ein geheimes Gehör verlangt. 

Selicour (ſehr eilig). Ich will nicht ſtören. 

Narbonne. Nein! Bleiben Sie, Selicour! Dieſer 
Jemand wird ſich ja wohl einen Augenblick gedulden. 

Selicour, Aber — wenn es dringend — 

Narbonne. Das Dringendfte iſt mir jetzt unſre Unter⸗ 
redung. 

Selicour. Erlauben Sie, aber — 


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Zweiter Aufzug. 3. Auftritt 261 


Michel. Es ſei in ein paar Minuten geſchehen, ſagt 
der Herr, und habe gar große Eile. Selicour eilt ab.) 

Narbonne. Kommen Sie ja gleich wieder, ich bitte 
Sie, wenn der Beſuch fort iſt. 

Selicour. Ich werde ganz zu Ihren Befehlen ſein. 

Narbonne (zu Michel). Laßt ihn eintreten. 


3. Auftritt 
Narbonne. La Roche. 


Ta Noche (mit vielen Bücklingen). Ich bin wohl — ich 
vermute — es iſt des Herrn Miniſters Exzellenz, vor 
dem ich — 

Narbonne. Ich bin der Miniſter. Treten Sie immer 
näher! 

Ta Voche. Bitte ſehr um Vergebung — ich — ich 
komme — Es iſt — Ich ſollte — Ich bin wirklich in 
einiger Verwirrung — der große Reſpekt — 

Narbonne. Ei, ſo laſſen Sie den Reſpekt und kom⸗ 
men zur Sache! Was führt Sie her? 

Ta Noche. Meine Pflicht, mein Gewiſſen, die Liebe 
für mein Land! — Ich komme, Ihnen einen bedeutenden 
Wink zu geben. 

Narbonne. Reden Sie! 

Ta Noche. Sie haben Ihr Vertrauen einem Manne 
geſchenkt, der weder Fähigkeit noch Gewiſſen hat. 

Narbonne. Und wer iſt dieſer Mann? 

Ta Noche. Selicour heißt er. 

Narbonne. Was? Sel — 

Ta Noche. Gerade heraus. Dieſer Selicour ijt eben 
ſo unwiſſend, als er niederträchtig iſt. Erlauben Sie, 
daß ich Ihnen eine kleine Schilderung von ihm mache, 


262 Der Paraſit 


Narbonne. Eine kleine Geduld! (etingelt. — Michel 
kommt.) Ruft Herrn Selicour! 

Ta Rode. Mit nichten, Ihr Exzellenz! — Er iſt 
uns bei dieſem Geſpräche keineswegs nötig. 

Narbonne. Nicht für Sie, das glaub’ ich, aber das 
iſt nun einmal meine Weiſe. Ich nehme keine Anklage 
wider Leute an, die ſich nicht verteidigen können. — 
Wenn er Ihnen gegenüberſteht, mögen Sie Ihre Schil⸗ 
derung anfangen. 

Ta Rote. Es ijt aber doch mißlich, jemand ins 
Angeſicht — 

Narbonne. Wenn man keine Beweiſe hat, aller⸗ 
dings — Iſt das Ihr Fall — 

Ta Rote. Ich hatte nicht darauf gerechnet, es ihm 
gerade unter die Augen zu ſagen. — Er iſt ein feiner 
Schelm, ein beſonnener Spitzbube. — Ei nun! Meinet⸗ 
wegen auch ins Angeſicht. — Zum Henker, ich fürchte 
mich nicht vor ihm. — Er mag kommen! Sie ſollen 
ſehen, daß ich mich ganz und gar nicht vor ihm fürchte. 

Narbonne. Wohl! Wohl! Das wird ſich gleich zeigen. 
Da kommt er! 


4. Auftritt 


Vorige. Selicour. 


Narbonne. Kennen Sie dieſen Herrn? 

Selicour (ſehr verlegen). Es iſt Herr La Roche. 

Narbonne. Ich habe Sie rufen laſſen, ſich gegen 
ihn zu verteidigen. Er kommt, Sie anzuklagen. Nun, 
reden Sie! 

Ta Voche (nachdem er gehuſtet ). Ich muß Ihnen alſo 
ſagen, daß wir Schulkameraden zuſammen waren, daß 
er mir vielleicht einige Dankbarkeit ſchuldig iſt. Wir 
fingen beide unſern Weg zugleich an — es ſind jetzt 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 263 


fünfzehn Jahre — und traten beide in dem nämlichen 
Bureau als Schreiber ein. Herr Selicour aber machte 
einen glänzenden Weg, ich — ſitze noch da, wo ich aus⸗ 
gelaufen bin. Daß er den armen Teufel, der ſein Jugend⸗ 
freund war, ſeit vielen Jahren vergeſſen, das mag ſein! 
Ich habe nichts dagegen. Aber nach einer ſo langen Ver⸗ 
geſſenheit an ſeinen alten Jugendfreund nur darum zu 
denken, um ihn unverdienterweiſe aus ſeinem Brot zu 
treiben, wie er getan hat, das iſt hart, das muß mich 
aufbringen! Er kann nicht das geringſte Böſe wider 
mich ſagen; ich aber ſage von ihm und behaupte dreiſt, 
daß dieſer Herr Selicour, der jetzt gegen Euer Exzellenz 
den redlichen Mann ſpielt, einen rechten Spitzbuben 
machte, da die Zeit dazu war. Jetzt hilft er Ihnen das 
Gute ausführen; Ihrem Vorgänger, weiß ich gewiß, 
hat er bei ſeinen ſchlechten Stückchen redlich beigeſtanden. 
Wie ein ſpitzbübiſcher Lakai weiß der Heuchler mit der 
Livree auch jedesmal den Ton ſeines Herrn anzunehmen. 
Ein Schmeichler iſt er, ein Lügner, ein Großprahler, ein 
übermütiger Geſell! Niederträchtig, wenn er etwas ſucht, 
und hochmütig, unverſchämt gegen alle, die das Unglück 
haben, ihn zu brauchen. Als Knabe hatte er noch etwas 
Gutmütiges, aber über dieſe menſchliche Schwachheit iſt 
er jetzt weit hinaus. — Nun hat er ſich in eine prächtige 
Stelle eingeſchlichen, und ich bin überzeugt, daß er ihr 
nicht gewachſen iſt. Auf ſich allein zieht er die Augen 
ſeines Chefs, und Leute von Fähigkeiten, von Genie, 
Männer, wie Herr Firmin, läßt er nicht aufkommen. 

Narbonne. Firmin! Wie? — Iſt Herr Firmin in 
unſern Bureaus? 

Ta Voche. Ein trefflicher Kopf, das können Sie mir 


glauben. 


Narbonne. Ich weiß von ihm. — Ein ganz vorzüg⸗ 
licher Geſchäftsmann! 


264 Der Paraſit 


Ta Noche. Und Vater einer Familie! Sein Sohn 
machte in Colmar die Bekanntſchaft Ihrer Tochter. 

Narbonne. Karl Firmin! Ja! Ja, ganz richtig! 

Ta Noche. Ein talentvoller junger Mann! 

Narbonne. — Fahren Sie fort! 

Ta Noche. Nun, das wär' es! Ich habe genug ge⸗ 
ſagt, denk' ich! 

Narbonne (zu Selicour). Verantworten Sie ſich! 

Selicour. Des Undanks zeiht man mich. — Mich 
des Undanks! Ich hätte gedacht, mein Freund La Roche 
ſollte mich beſſer kennen! — An meinem Einfluß und 
nicht an meinem guten Willen fehlte es, wenn er ſo 
lange in der Dunkelheit geblieben. — Welche harte Be⸗ 
ſchuldigungen gegen einen Mann, den er ſeit zwanzig 
Jahren treu gefunden hat! Mit ſeinem Verdacht ſo 
raſch zuzufahren, meine Handlungen aufs ſchlimmſte 
auszulegen und mich mit dieſer Hitze, dieſer Galle zu 
verfolgen! — Zum Beweis, wie ſehr ich ſein Freund 
bin — 

Ta Voche. Er mein Freund! Hält er mich für einen 
Dummkopf? — Und welche Proben hat er mir davon 
gegeben! 

Narbonne. Er hat Sie ausreden laſſen! 

Ta Rowe. So werde ich Unrecht behalten! 

Selicour. Man hat einem andern ſeine Stelle ge⸗ 
geben, das iſt wahr, und keiner verdiente dieſe Zurück- 
ſetzung weniger als er. Aber ich hätte gehofft, mein 
Freund La Roche, anſtatt mich wie ein Feind anzuklagen, 
würde als Freund zu mir aufs Zimmer kommen und 
eine Erklärung von mir fordern. Darauf, ich geſtehe es, 
hatte ich gewartet und mich ſchon im voraus der ange⸗ 
nehmen Überraſchung gefreut, die ich ihm bereitete. Welche 
ſüße Freude für mich, ihn über alle Erwartung glücklich 
zu machen! Eben zu jenem Chef, wovon ich Euer Exzellenz 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 265 


heut' ſagte, hatte ich meinen alten Freund La Roche vor⸗ 
zuſchlagen. 

Ta Noche. Mich zum Chef! Großen Dank, Herr 
Selicour! — Ein Schreiber bin ich und kein Geſchäfts⸗ 
mann! Meine Feder und nicht mein Kopf muß mich 
empfehlen, und ich bin keiner von denen, die eine Laſt 
auf ſich nehmen, der ſie nicht gewachſen ſind, um ſie 
einem andern heimlich aufzuladen und ſich ſelbſt das 
Verdienſt zuzueignen. 

Selicour. Die Stelle ſchickt ſich für dich, Kamerad, 
glaub' mir, der dich beſſer kennt als du ſelbſt. Zu Nar⸗ 
bonne.) — Er iſt ein trefflicher Arbeiter, genau, unermüd⸗ 
lich, voll geſunden Verſtands; er verdient den Vorzug 
vor allen ſeinen Mitbewerbern. — Ich laſſe Männer 
von Genie nicht aufkommen, gibt er mir ſchuld, und Herr 
Firmin iſt's, den er anführt. — Das Beiſpiel iſt nicht 
gut gewählt, ſo trefflich auch der Mann iſt. — Erſtlich 
iſt ſeine jetzige Stelle nicht ſchlecht — aber ihm gebührt 
allerdings eine beßre, und fie ijt auch ſchon gefunden — 
denn eben Herrn Firmin wollte ich Euer Exzellenz zu 
meinem Nachfolger empfehlen, wenn ich in jenen Poſten 
verſetzt werden ſollte, den mir mein gütiger Gönner be⸗ 
ſtimmt. — Ich ſei meinem jetzigen Amte nicht gewachſen, 
behauptet man. — Ich weiß wohl, daß ich nur mittel⸗ 
mäßige Gaben beſitze. — Aber man ſollte bedenken, daß 
dieſe Anklage mehr meinen Gönner trifft als mich ſelbſt! 
— Bin ich meinem Amte in der Tat nicht gewachſen, ſo 
iſt der Chef zu tadeln, der es mir anvertraut und mit 
meinem ſchwachen Talent jo oft ſeine Zufriedenheit be- 
zeugt. — Ich ſoll endlich der Mitſchuldige des vorigen 
Miniſters geweſen ſein! — Die Stimme der Wahrheit 
habe ich ihn hören laſſen; die Sprache des redlichen 
Mannes habe ich kühnlich zu einer Zeit geredet, wo ſich 
meine Ankläger vielleicht im Staube vor ihm krümmten. 


266 Der Paraſit 


— Zwanzigmal wollte ich dieſem unfähigen Miniſter den 
Dienſt aufkündigen; nichts hielt mich zurück als die Hoff⸗ 
nung, meinem Vaterlande nützlich zu ſein. Welche ſüße 
Belohnung für mein Herz, wenn ich hier etwas Böſes 
verhindern, dort etwas Gutes wirken konnte! — Seiner 
Macht habe ich getrotzt; die gute Sache habe ich gegen 
ihn verfochten, da er noch im Anſehen war! Er fiel, 
und ich zollte ſeinem Unglück das herzlichſte Mitleid. 
Iſt das ein Verbrechen, ich bin ſtolz darauf und rühme 
mich desſelben. — Es iſt hart, ſehr hart für mich, lieber 
La Roche, daß ich dich unter meinen Feinden ſehe — 
daß ich genötigt bin, mich gegen einen Mann zu vertei⸗ 
digen, den ich ſchätze und liebe! — Aber komm! Laß 
uns Frieden machen, ſchenke mir deine Freundſchaft 
wieder, und alles ſei vergeſſen! 

Ta Noche. Der Spitzbube! — Rührt er mich doch 
faſt ſelbſt! 

Narbonne. Nun, was haben Sie darauf zu ant⸗ 
worten? 5 

Ta Noche. Ich? — Nichts! Der verwünſchte Schelm 
bringt mich ganz aus dem Konzepte. 

Narbonne. Herr La Roche! Es iſt brav und löblich, 
einen Böſewicht, wo er auch ſtehe, furchtlos anzugreifen 
und ohne Schonung zu verfolgen — aber auf einem 
ungerechten Haß eigenſinnig beſtehen, zeigt ein verderbtes 
Herz. 

Selicour. Er haßt mich nicht! Ganz und gar nicht! 
Mein Freund La Roche hat das beſte Herz von der 
Welt! Ich kenne ihn — aber er iſt hitzig vor der Stirn 
— er lebt von ſeiner Stelle — das entſchuldigt ihn! 
Er glaubte ſein Brot zu verlieren! Ich habe auch gefehlt 
— ich geſteh' es — Komm! Komm, laß dich umarmen, 
alles ſei vergeſſen! 

Ta Rote. Ich ihn umarmen! In Ewigkeit nicht. 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 267 


— Zwar, wie er's anſtellt, weiß ich nicht, um mich ſelbſt 
— um Euer Exzellenz zu betrügen — aber kurz! Ich 
bleibe bei meiner Anklage. — Kein Friede zwiſchen uns, 
bis ich ihn entlarvt, ihn in ſeiner ganzen Blöße darge⸗ 
ſtellt habe! 

Narbonne. Ich bin von ſeiner Unſchuld überzeugt 
— wenn nicht Tatſachen, vollwichtige Beweiſe mich eines 
anderen überführen. 

Ta Noche. Tatſachen! Beweiſe! Tauſend für einen! 

Narbonne. Heraus damit! 

Ta Rote. Beweiſe genug — die Menge — Aber 
das iſt's eben — ich kann nichts damit beweiſen! Solchen 
abgefeimten Schelmen läßt ſich nichts beweiſen. — 
Vormals war er jo arm wie ich; jetzt ſitzt er im Über⸗ 
fluß! Sagt' ich Ihnen, daß er ſeinen vorigen Einfluß 
zu Geld gemacht, daß ſich ſein ganzer Reichtum davon 
herſchreibt — ſo kann ich das zwar nicht, wie man ſagt, 
mit Brief und Siegel belegen — aber Gott weiß es, 
die Wahrheit iſt's, ich will darauf leben und ſterben. 

Selicour. Dieſe Anklage ijt von zu niedriger Art, 
um mich zu treffen — übrigens unterwerf' ich mich der 
ſtrengſten Unterſuchung! — Was ich beſitze, iſt die Frucht 
eines fünfzehnjährigen Fleißes; ich habe es mit ſaurem 
Schweiß und Nachtwachen erworben, und ich glaub' es 
nicht unedel zu verwenden. Es ernährt meine armen 
Verwandten, es friſtet das Leben meiner dürftigen Mutter! 

Ta Noche. Erlogen! Erlogen! Ich kann es freilich 
nicht beweiſen! Aber gelogen, unverſchämt gelogen! 

Narbonne. Mäßigen Sie ſich! 

Selicour. Mein Gott! Was erleb' ich! Mein Freund 
La Roche iſt's, der ſo hart mit mir umgeht. — Was 
für ein Wahnſinn hat dich ergriffen? Ich weiß nicht, 
ſoll ich über dieſe Wut lachen oder böſe werden. — Aber 
lachen auf Koſten eines Freundes, der ſich für beleidigt 


268 Der Paraſit 


hält — Nein, das kann ich nicht! das iſt zu ernſthaft! — 
Deinen alten Freund ſo zu verkennen! — Komm doch 
zu dir ſelbſt, lieber La Roche, und bringe dich wenigſtens 
nicht aus übel angebrachtem Trotz um eine ſo treffliche 
Stelle, als ich dir zugedacht habe! 

Narbonne. Die Wahrheit zu ſagen, Herr La Roche, 
dieſe Halsſtarrigkeit gibt mir keine gute Meinung von 
Ihnen. — Muß auch ich Sie bitten, gegen ihren Freund 
gerecht zu ſein? — Auf Ehre! Der arme Herr Selicour 
dauert mich von Herzen! 

Ta Noche. Ich will das wohl glauben, gnädiger 
Herr! Hat er mich doch faſt ſelbſt, trotz meines gerechten 
Unwillens, auf einen Augenblick irre gemacht — aber 
nein, nein! ich kenne ihn zu gut — zu gewiß bin ich 
meiner Sache. — Krieg, Krieg zwiſchen uns und keine 
Verſöhnung! Hier, ſehe ich, würde alles weitre Reden 
vergeblich ſein! Aber wiewohl der Spitzbube mich aufs 
Außerſte treibt, lieber tauſendmal Hungers ſterben, als 
ihm mein Brot verdanken. Ich empfehle mich zu Gna⸗ 
den! (Ab.) 


5. Auftritt 


Narbonne. Selicour. 


Narbonne. Begreifen Sie dieſe hartnäckige Verſtockt⸗ 
heit — 

Selicour. Hat nichts zu ſagen! Er iſt ein guter 
Narr! Ich will ihn bald wieder beſänftigen. 

Narbonne. Er ijt raſch und unbeſonnen, aber im 
Grunde mag er ein guter Mann ſein. 

Selicour. Ein ſeelenguter Mann, dafür ſteh' ich — 
dem aber der Kopf ein wenig verſchoben iſt. — Es kann 
auch ſein, daß ihn ſonſt jemand gegen mich aufhetzt. 

Narbonne. Meinen Sie? 


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Zweiter Aufzug. 5. Auftritt 269 


Selicour. Es mag ſo etwas dahinter ſtecken. — Wer 
weiß? irgend ein heimlicher Feind und Neider — denn 
dieſer arme Teufel iſt nur eine Maſchine. 

Narbonne. Wer ſollte aber — 

Selicour. Es gibt fo viele, die meinen Untergang 
wünſchen! 

Narbonne. Haben Sie vielleicht einen Verdacht? 

Selicour. Ich unterdrücke ihn! denn daß ich ſo 
etwas von Herrn Firmin denken ſollte — Pfui! Pfui! 
das wäre ſchändlich! das iſt nicht möglich! 

Narbonne. So denk' ich auch! Der Mann ſcheint 
mir dazu viel zu rechtlich und zu beſcheiden. 

Selicour. Beſcheiden, ja, das iſt er! 

Narbonne. Sie kennen ihn alſo? 

Selicour. Wir find Freunde. 

Narbonne. Nun, was halten Sie von dem Manne? 

Selicour. Herr Firmin, muß ich ſagen, ijt ein Mann, 
wie man ſich ihn für das Bureau eigentlich wünſcht — 
wenn auch eben kein Kopf, doch ein geſchickter Arbeiter. 
— Nicht zwar, als ob es ihm an Verſtand und Kennt⸗ 
niſſen fehlte — Keineswegs! Er mag viel wiſſen, aber 
man ſieht's ihm nicht an. 

Narbonne. Sie machen mich neugierig, ihn zu kennen. 

Selicour. Ich hab' ihm ſchon längſt darum ange⸗ 
legen, ſich zu zeigen — aber vielleicht fühlt er ſich für 
eine ſubalterne Rolle und für die Dunkelheit geboren. 
Ich will ihn indeſſen — 

Narbonne. Bemühen Sie ſich nicht. — Gegen einen 
Mann von Verdienſten kann unſer einer unbeſchadet 
ſeines Rangs die erſten Schritte tun. — Ich ſelbſt will 
Herrn Firmin aufſuchen. — Aber jetzt wieder auf unſer 
voriges Thema zurückzukommen, das dieſer La Roche 
unterbrochen hat — 

Selicour (verlegen). Es iſt ſchon etwas ſpät — 


270 Der Paraſit 


Narbonne. Hat nichts zu ſagen. 

Selicour. Es wird auch jetzt die Zeit zur Audienz ſein. 

Narbonne (ſieht nach der uhr). Ja, wahrhaftig. 

Selicour. Wir können es ja auf morgen — 

Narbonne. Gut! Auch das! 

Selicour. Ich will alſo — 

Narbonne. Noch ein Wort — 

Selicour. Was beliebt? 

Narbonne. Ein Geſchäft kann ich Ihnen wenig⸗ 
ſtens noch auftragen, das zugleich Fähigkeit und Mut 
erfordert. 

Selicour. Befehlen Sie! 

Narbonne. Mein Vorgänger hat durch ſeine üble 
Verwaltung ein Heer von Mißbräuchen einreißen laſſen, 
die trotz aller unſrer Bemühungen noch nicht abgeſtellt 
ſind. Es wäre daher ein Memoire aufzuſetzen, worin 
man alle Gebrechen aufdeckte und der Regents ſelbſt 
ohne Schonung die Wahrheit ſagte. 

Selicour. Erlauben aber Euer Exzellenz — eine 
ſolche Schrift könnte für ihren Verfaſſer, könnte für Sie 
ſelbſt bedenkliche Folgen haben. 

Narbonne. Das kümmert uns nicht — Keine Ge⸗ 
fahr, keine perſönliche Rückſicht darf in Anſchlag kommen, 
wo die Pflicht gebietet. 

Selicour. Das iſt würdig gedacht! 

Narbonne. Sie find der Mann zu dieſem Werk — 
Ich brauche Ihnen weiter nichts darüber zu ſagen. — 
Sie kennen das Übel ſo gut und beſſer noch als ich 
ſelbſt. 

Selicour. Und ich bin, hoffe ich, mit Ihnen darüber 
einerlei Meinung. 

Narbonne. Ohne Zweifel. Dies Geſchäft hat Eile; 
ich verlaſſe Sie, verlieren Sie keine Zeit, es iſt gerade 
jetzt der günſtige Augenblick — ich möchte es wo möglich 


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Zweiter Aufzug. 6. Auftritt 271 


noch heute an die Behörde abſenden. — Kurz und bündig 
— es kann mit wenigem viel geſagt werden! Leben Sie 
wohl! Gehen Sie ja gleich an die Arbeit! (er gebt ab.) 


6. Auftritt 
Selicour. Madame Belmont. 


Mad. Belmont. Sind Sie allein, Herr Selicour? 
s Ich wollte erwarten, bis er weggegangen wäre — er 
darf nichts davon wiſſen. 
Selicour. Wovon iſt die Rede, Madame? 
Mad. Belmont. Wir wollen heute Abend ein kleines 
Konzert geben, und meine Charlotte ſoll ſich dabei hören 
10 laſſen. 
Selicour. Sie ſingt fo ſchön! 
Mad. Belmont. Sie geben ſich auch zuweilen mit 
Verſen ab? Nicht wahr? 
Selicour. Wer macht nicht einmal in ſeinem Leben 
15 Verſe! 
Mad. Belmont. Nun, ſo machen Sie uns ein Lied 
oder ſo etwas für heute Abend! 
Selicour. Eine Romanze meinen Sie? 
Mad. Belmont. Gut, die Romanzen lieben wir be⸗ 
20 ſonders! f 
Selicour. Wenn der Eifer den Mangel des Genies 
erſetzen könnte — 
Mad. Belmont. Schon gut! Schon gut! Ich verſtehe. 
Selicour. Und ich brauchte allerdings ſo ein leichtes 
2% Spielwerk zu meiner Erholung! — Ich bin die ganze 
Nacht aufgeweſen, um Akten durchzugehen und Rechnungen 
zu korrigieren — 
Mad. Belmont. Eine niederträchtige Beſchäftigung! 
Selicour. Daß ich mich wirklich ein wenig ange⸗ 


272 Der Paraſit 


griffen fühle. — Wer weiß! Die Blume der Dichtkunſt 
erquickt mich vielleicht mit ihrem lieblichen Hauch, und 
du, Balſam der Herzen, heilige Freundſchaft! 


7. Auftritt 


Vorige. Robineau. 


Robinenu (hinter der Szene). Nu! Nu! Wenn er drin 
ijt, wird mir's wohl auch erlaubt fein, denk' ich — 

Mad. Belmont. Was gibt's da? 

No bineau (im Eintreten). Dieſes Bedientenpack bildet 
ſich mehr ein als ſeine Herrſchaft. — Ich will den Herrn 
Selicour ſprechen. 

Selicour. Ich bin's. 

Robineau. Das will ich bald ſehen. — Ja, mein 
Seel, das iſt er! — leibhaftig — Ich ſeh' ihn noch, wie 
er ſich im Dorf mit den Jungens herumjagte. — Nun 
ſeh' Er jetzt auch mal mich an — betracht' Er mich wohl. 
Ich bin wohl ein bißchen verändert — Kennt Er mich? 

Selicour. Nein! 

Nobineau. Ei, ei, ich bin ja des Robineaus Chriſtoph, 
des Winzers, der die dicke Madelon heiratete, Seines 
Großvaters Muhme, Herr Selicour! 

Selicour. Ach ſo! 

Robinenu. Nun — Vetter pflegen ſich ſonſt zu um⸗ 
armen, denk' ich. 

Selicour. Mit Vergnügen. — Seid mir willkommen, 
Vetter! 

Robineau. Großen Dank, Vetter! 

Selicour. Aber laßt uns auf mein Zimmer gehen 
— ich bin hier nicht zu Hauſe. 

Mad. Belmont. Laſſen Sie ſich nicht ſtören, Herr 
Selicour! Tun Sie, als wenn ich gar nicht da wäre. 


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Zweiter Aufzug. 7. Auftritt 273 


Selicour. Mit Ihrer Erlaubnis, Madame, Sie find 
gar zu gütig! Man muß ihm ſein ſchlichtes Weſen zu 
gute halten; er iſt ein guter ehrlicher Landmann und 
ein Vetter, den ich ſehr lieb habe. 

Mad. Belmont. Das ſieht Ihnen ähnlich, Herr 
Selicour! 

Robinenu. Ich komme foeben an, Herr Vetter! 

Selicour. So — und woher denn? 

Robineau. Ei, woher ſonſt als von unſerm Dorf. 
— Dieſes Paris iſt aber auch wie zwanzig Dörfer. — 
Schon über zwei Stunden, daß ich aus dem Poſtwagen 
geſtiegen, treib' ich mich herum, um Ihn und den La 
Roche aufzuſuchen, Er weiß ja, Seinen Nachbar und 
Schulkameraden. — Nun, da find' ich Ihn ja endlich, 
und nun mag's gut ſein! 

Gelicour, Er kommt in Geſchäften nach Paris, 
Better? 

Robineau. In Geſchäften! Hat ſich wohl! Cin Ge- 
ſchäft hab' ich freilich — 

Gelicour, Und welches denn? — 

Robineau. J nun — mein Glück hier zu machen, 
Vetter! 

Selicour. Ha! Ha! 

Robineau. Nun, das Geſchäft iſt wichtig genug, 
denk ich. 

Selicour (zu Madame Belmont). Excuſieren Sie! 

Mad. Belmont. Er beluſtigt mich. 

Selicour. Er ijt ſehr kurzweilig. 

Robineau. Peter, der Kärrner, meinte, der Vetter 
habe ſich in Paris ſeine Pfeifen gut geſchnitten. — Als 
er noch klein war, der Vetter, da ſei er ein loſer Schelm 
geweſen, da hätt's geheißen: der verdirbt nicht — der 
wird ſeinen Weg ſchon machen! — Wir hatten auch ſchon 
von Ihm gehört, aber die Nachrichten lauteten gar zu 

Schillers Werke. IX. 18 


274 Der Paraſit 


ſchön, als daß wir ſie hätten glauben können. Wie wir 
aber nicht länger daran zweifeln konnten, ſagte mein 
Vater zu mir: Geh hin, Chriſtoph! ſuche den Vetter 
Selicour in Paris auf, die Reiſe wird dich nicht reuen 
— vielleicht machſt du dein Glück mit einer guten Heirat. 
— Ich, gleich auf den Weg, und da bin ich nun! — 
Nehmen Sie mir's nicht übel, Madam! Die Robineaus 
gehen gerade aus; was das Herz denkt, muß die Zunge 
ſagen — und wie ich den lieben Herrn Vetter da ſo vor 
mir ſah, ſehen Sie, ſo ging mir das Herz auf. 

Mad. Belmont. Ei, das iſt ganz natürlich. 

Robineau. Hiv’ Er, Vetter, ich möchte herzlich gern 
auch mein Glück machen! Er weiß das Geheimnis, wie 
man's anfängt; teil' Er mir's doch mit. 

Selicour. Sei immer rechtſchaffen, wahr und be⸗ 
ſcheiden! Das iſt mein ganzes Geheimnis, Vetter, weiter 
hab' ich keins. — Es iſt doch alles wohl zu Hauſe? 

Nobineau. Zum Preis Gottes, ja! Die Familie 
gedeiht. Der Bertrand hat ſeine Suſanne geheiratet; 
ſie wird bald niederkommen und hofft, der Herr Vetter 
wird zu Gevatter ſtehen. Es iſt alles in guten Umſtänden 
bis auf Seine arme Mutter. — Die meint, es wär' doch 
hart, daß ſie notleiden müſſe und einen ſo ſteinreichen 
Sohn in der Stadt habe. 

Selicour (leiſe). Halt 's Maul, Dummkopf! 

Mad. Belmont. Was ſagt er von der Mutter? 

Selicour (laut). Iſt's möglich? Die tauſend Taler, 
die ich ihr geſchickt, ſind alſo nicht angekommen? — Das 
tut mir in der Seele weh! — Was das doch für ſchlechte 
Anſtalten ſind auf dieſen Poſten — Die arme gute 
Mutter! Was mag ſie ausgeſtanden haben! 

Mad. Belmont. Ja wohl! Man muß ihr helfen. 

Selicour. Das verſteht ſich! Sogleich bitte ich den 
Miniſter um Urlaub — es iſt eine gerechte Forderung. 


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Zweiter Aufzug. 8. Auftritt 275 


Ich kann darauf beſtehen — Die Pflicht der Natur geht 
allen andern vor — Ich eile nach meinem Ort — in 
acht Tagen iſt alles abgetan! — Sie hat ſich nicht in 
Paris niederlaſſen wollen, wie ſehr ich ſie auch darum 


bat! Die liebe alte Mutter hängt gar zu ſehr an ihrem 


Geburtsort. 

Nobineau. So kann ich gar nicht aus ihr klug 
werden, denn zu uns ſagte ſie, ſie wäre gern nach Paris 
gekommen, aber der Vetter habe es durchaus nicht haben 
wollen! 

Selicour. Die gute Frau weiß ſelbſt nicht immer, 
was ſie will! — Aber ſie notleidend zu wiſſen — Ach 
Gott! das jammert mich und ſchneidet mir ins Herz. 

Mad. Belmont. Ich glaub's Ihnen wohl, Herr Seli⸗ 
cour! — Aber Sie werden bald Rat geſchafft haben. Ich 
gehe jetzt und laſſe Sie mit Ihrem Vetter allein. — Glück⸗ 
lich iſt die Gattin, die Sie einſt beſitzen wird. Ein ſo 
pflichtvoller Sohn wird gewiß auch ein zärtlicher Gatte 
werden! (Ab.) 


8. Auftritt 


Selicour und Robineau. 


Robineau. Meiner Treu, Herr Vetter, ich bin ganz 
verwundert über Ihn — eine ſo herzliche Aufnahme hätt' 
ich mir gar nicht von Ihm erwartet. Der iſt gar ſtolz 
und hochmütig, hieß es, der wird dich gar nicht mehr 
erkennen! 

Selicour (nachdem er wohl nachgeſehen, ob Madame Belmont auch 
fort iff). Sage mir, du Eſel! Was fällt dir ein, daß du 
mir hier ſo zur Unzeit über den Hals kommſt! 

Robineuu. Nun, nun! Wie ich Ihm ſchon ſagte, 
ich komme, mein Glück zu machen! 

Selicour. Dein Glück zu machen! Der Schafskopf! 


276 Der Paraſit 


Robineau. Ei, ei, Vetter! Wie Er mit mir umgeht 
— Ich laſſe mir nicht ſo begegnen. 

Selicour, Du tuft wohl gar empfindlich — Schade 
um deinen Zorn — Von ſeinem Dorf weg nach Paris 
zu laufen! Der Tagdieb! 

Robineau. Aber was das auf einmal für ein Be⸗ 
tragen iſt, Herr Vetter! — Erſt der freundliche Empfang 
und jetzt dieſen barſchen Ton mit mir! — Das iſt nicht 
ehrlich und gerade gehandelt, nehm' Er mir's nicht übel, 
das iſt falſch — und wenn ich das weiter erzählte, wie 
Er mit mir umgeht — 's würde Ihm ſchlechte Ehre 
bringen! Ja, das würd' es! 

Selicour lerſchrocken). Weiter erzählen! Was? 

Robineau. Ja, ja, Vetter! 

Selicour. Unterſteh dich, Bube! — Ich will dich 
unterbringen — ich will für die Mutter ſorgen. Sei 
ruhig, ich ſchaffe dir einen Platz, verlaß dich darauf. 

Nobineau. Nun, wenn Er das — 

Selicour. Aber hier können wir nicht davon reden! 
Fort! Auf mein Zimmer! 

Robinenu. Ja, hör' Er, Vetter! Ich möchte fo gern 
ein recht ruhiges und bequemes Brot. Wenn Er mich ſo 
bei der Aceiſe unterbringen könnte. 

Selicour. Verlaß dich drauf, ich ſchaffe dich an den 
rechten Platz. — Ins Dorf mit dem dummen Dorfteufel 
über Hals und Kopf — (Ab.) 


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Dritter Aufzug 


1. Auftritt 


La Roche und Karl Firmin begegnen einander. 


Ta Rote. Ich ſuchte Sie ſchon längſt. — Hören 
Sie! — Nun, ich habe Wort gehalten — ich hab' ihn dem 
Miniſter abgeſchildert, dieſen Selicour. 

Karl. Wirklich? Und es iſt alſo vorbei mit ihm? 
Ganz vorbei? 

Ta Noche. Das nun eben nicht! — noch nicht ganz 
— denn ich muß Ihnen ſagen, er hat ſich herausgelogen, 
daß ich daſtand wie ein rechter Dummkopf — Der Heuch- 
ler ſtellte ſich gerührt, er ſpielte den zärtlichen Freund, 
den Großmütigen mit mir, er überhäufte mich mit Freund⸗ 
ſchaftsverſicherungen und will mich bei dem Bureau als 
Chef anſtellen. ö 

Karl. Wie? Was? Das iſt ja ganz vortrefflich! Da 
wünſche ich Glück. 

Ta Roche. Für einen Glücksjäger hielt ich ihn, ich 
hatte geglaubt, daß es ihm nur um Stellen und um 
Geld zu tun wäre — für ſo falſch und verräteriſch hätte 
ich ihn nie gehalten. Der Heuchler mit ſeinem ſüßen 
Geſchwätz! Ich war aber ſein Narr nicht und hab' es 
rundweg ausgeſchlagen! 

Karl. Und ſo find wir noch, wo wir waren? Und 
mein Vater iſt nicht beſſer daran als vorher? 

Za Roche. Wohl wahr — aber laſſen Sie mich nur 
machen! Laſſen Sie mich machen! 

Karl. Ich bin auch nicht weiter. In den Garten 
hab' ich mich geſchlichen, ob ich dort vielleicht meiner 


278 Der Paraſit 


Geliebten begegnen möchte. — Aber vergebens! Einige 
Strophen, die ich mir in der Einſamkeit ausdachte, ſind 
die ganze Ausbeute, die ich zurückbringe. 

Ta Noche. Vortrefflich! Brav! Machen Sie Verſe 
an Ihre Geliebte! Unterdeſſen will ich die Spur meines 
Wildes verfolgen: der Schelm betrügt ſich ſehr, wenn er 
glaubt, ich habe meinen Plan aufgegeben! 

Karl. Lieber La Roche! Das iſt unter unſerer 
Würde. Laſſen wir dieſen Elenden ſein ſchmutziges Hand- 
werk treiben, und das durch unſer Verdienſt erzwingen, 
was er durch Niederträchtigkeit erſchleicht. 

Ta Rote. Weg mit dieſem Stolz! Es ijt Schwach⸗ 
heit, es iſt Vorurteil! — Wie? Wollen wir warten, bis 
die Redlichkeit die Welt regiert — da würden wir lange 
warten müſſen. Alles ſchmiedet Ränke! Wohl, ſo wollen 
wir einmal für die gute Sache ein Gleiches verſuchen. 
— Das geht übrigens Sie nichts an. — Machen Sie 
Ihre Verſe, bilden Sie Ihr Talent aus, ich will es 
geltend machen, ich — das iſt meine Sache! 

Karl. Ja, aber die Klugheit nicht vergeſſen. — Sie 
haben ſich heute übel ertappen laſſen. 

Ta Noche. Und es wird nicht das letzte Mal ſein. 
— Aber tut nichts! Ich ſchreite vorwärts, ich laſſe mich 
nicht abſchrecken, ich werde ihm ſo lange und ſo oft zu⸗ 
ſetzen, daß ich ihm endlich doch eins beibringe. Ich bin 
lange ſein Narr geweſen, jetzt will ich auch ihm einen Poſſen 
ſpielen. Laſſen wir's den Buben ſo forttreiben, wie er's 
angefangen, ſo werde ich bald der Schelm, und Ihr Vater 
der Dummkopf ſein müſſen! 

Karl. Man kommt! 

Ta Voche. Er iſt es ſelbſt! 

Karl. Ich kann ſeinen Anblick nicht ertragen. In 
den Garten will ich zurück gehen und mein Gedicht voll- 
enden. (Ab.) 


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Dritter Aufzug. 2. Auftritt 279 


Ta Noche. Ich will auch fort! Auf der Stelle will 
ich Hand ans Werk legen. Doch nein — es iſt beſſer, 
ich bleibe. Der Geck glaubt ſonſt, ich fürchte mich vor ihm! 


2. Auftritt 
Selicour und La Roche. 


Selicour. Ach ſieh da! Finde ich den Herrn La 
Roche hier? 

Ta Noche. Ihn ſelbſt, Herr Selicour! 

Selicour. Sehr beſchämt, wie ich ſehe. 

Ta Noche. Nicht ſonderlich. 

Selicour. Ihr wütender Ausfall gegen mich hat 
nichts gefruchtet — Der Freund hat ſeine Bolzen um⸗ 
ſonſt verſchoſſen! 

Ta Rowe. Hat nichts zu ſagen. 

Selicour. Wahrlich, Freund La Roche! So hart Sie 
mir auch zuſetzten — Sie haben mir leid getan, mit Ihren 
närriſchen Grillen. 

Ta Rote. Herr Narbonne ijt jetzt nicht zugegen. — 
Zwingt Euch nicht! 

Selicour, Was beliebt? 

Ta Noche. Seid unverſchämt nach Herzensgelüſten. 

Selicour. Sieh doch! 

Ta Noche. Brüſtet Euch mit Eurem Triumph. Ihr 
habt mir's abgewonnen! 

Selicour, Freilich, es kann einen ſtolz machen, über 
einen ſo fürchterlichen Gegner geſiegt zu haben. 

Ta Noche. Wenn ich's heute nicht recht machte, in 
Eurer Schule will ich's bald beſſer lernen. 

Selicour. Wie, Herr La Roche? Sie haben es noch 
nicht aufgegeben, mir zu ſchaden? 


280 Der Parafit 


La Noche. Um eines unglücklichen Zugs willen ver⸗ 
läßt man das Spiel nicht! 

Selicour. Ein treuer Schildknappe alſo des ehrlichen 
Firmins! — Sieh, ſieh! 

Ta Voche. Er muß dir oft aus der Not helfen, dieſer 
ehrliche Firmin. 

Helicour. Was gibt er dir für deine Ritterſchaft? 

Ta Noche. Was bezahlſt du ihm für die Exerzitien, 
die er dir ausarbeitet? 

Selicour. Nimm dich in Acht, Freund Roche! — Ich 
könnte dir ſchlimme Händel anrichten. 

Tn Noche. Werde nicht böſe, Freund Selicour! — 
Der Zorn verrät ein böſes Gewiſſen. 

Selicour. Freilich ſollte ich über deine Torheit nur 
lachen. 

Ta Voche. Du verachteſt einen Feind, der dir zu 
ſchwach ſcheint. Ich will darauf denken, deine Achtung 
zu verdienen! (Geht ab.) 


3. Auftritt 


Selicour allein. 


Sie wollen den Firmin zum Geſandten haben. — 
Gemach, Kamerad! — So weit ſind wir noch nicht. — 
Aber Firmin betrug ſich immer ſo gut gegen mich. — Es 
iſt der Sohn vermutlich — der junge Menſch, der ſich 
mit Verſen abgibt, ganz gewiß — und dieſer La Roche 
iſt's, der ſie hetzt! — Dieſer Firmin hat Verdienſte, ich 
muß es geſtehen, und wenn fie je ſeinen Ehrgeiz auf- 
wecken, ſo kenne ich keinen, der mir gefährlicher wäre. — 
Das muß verhütet werden! — Aber in welcher Klemme 
ſehe ich mich! — Eben dieſe beide Firmins wären mir 


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Dritter Aufzug. 4. Auftritt 281 


jetzt gerade höchſt nötig, der Vater mit ſeinen Einſichten 
und der Sohn mit ſeinen Verſen. — Laß uns fürs erſte 
Nutzen von ihnen ziehen, und dann ſchafft man ſie ſich 
ſchon gelegentlich vom Halſe. 


4. Auftritt 
Firmin der Vater und Selicour. 


5 Selicour. Sind Sie's, Herr Firmin? Eben wollte 

ich zu Ihnen. 
Firmin. Zu mir? 
Selicour. Mich mit Ihnen zu erklären — 
Sirmin. Worüber? 

10 Selicour. Über eine Armſeligkeit — Lieber Firmin, 
es iſt mir ein rechter Troſt, Sie zu ſehen. — Man hat 
uns veruneinigen wollen. 

Firmin. Uns veruneinigen! 
Selicour. Ganz gewiß. Aber es ſoll ihnen nicht 
1s gelingen, hoff’ ich. Ich bin Ihr wahrer und aufrichtiger 
Freund, und ich hab' es heute bewieſen, denk ich, da 
dieſer tollköpfige La Roche mich bei dem Miniſter an⸗ 
ſchwärzen wollte. 
Firmin. Wie? Hätte der La Roche — 

20 Selicour. Er hat mich auf das abſcheulichſte preis⸗ 
gegeben. 

Firmin. Er hat ſeine Stelle verloren. — Setzen Sie 

ſich an ſeinen Platz. 
Selicour. Er iſt ein Undankbarer! Nach allem, was 
2s ich für ihn getan habe — Und es geſchehe, ſagte er, um 
Ihnen dadurch einen Dienſt zu leiſten. — Er diente 
Ihnen aber ſchlecht, da er mir zu ſchaden ſuchte. — Was 
will ich denn anders als Ihr Glück? — Aber ich weiß 
beſſer als dieſer Brauskopf, was Ihnen dient. Darum 


282 Der Paraſit 


habe ich mir ſchon ein Plänchen mit Ihnen ausgedacht. — 
Das lärmende Treiben der Bureaus iſt Ihnen verhaßt, 
das weiß ich; Sie lieben nicht, in der geräuſchvollen 
Stadt zu leben. — Es ſoll für Sie geſorgt werden, Herr 
Firmin! — Sie ſuchen ſich irgend ein einſames ſtilles 
Plätzchen aus, ziehen einen guten Gehalt, ich ſchicke Ihnen 
Arbeit hinaus, Sie mögen gern arbeiten, es ſoll Ihnen 
nicht daran fehlen. 

Eirmin. Aber wie — 

Selicour. Das ſind aber bloß noch Ideen, es hat 
noch Zeit bis dahin. — Glücklich, der auf der ländlichen 
Flur ſeine Tage lebt! Ach, Herr Firmin! So wohl wird 
es mir nicht! Ich bin in die Stadt gebannt, ein Laſttier 
der Verhältniſſe, den Pfeilen der Bosheit preisgegeben. — 
Auch hielt ich's für die Pflicht eines guten Verwandten, 
einen Vetter, der ſich hier niederlaſſen wollte, über Hals 
und Kopf wieder aufs Land zurück zu ſchicken. — Der 
gute Vetter! Ich bezahlte ihm gern die Reiſekoſten — 


denn, ſagen Sie ſelbſt, iſt's nicht unendlich beſſer, auf dem. 


Land in der Dunkelheit frei zu leben, als hier in der 
Stadt ſich zu placken und zu quälen? 

Eirmin. Das iſt meine Meinung auch. — Aber was 
wollten Sie eigentlich bei mir? 

Selicour. Nun, wie ich ſagte, vor allen Dingen mich 
von der Freundſchaft meines lieben Mitbruders über⸗ 
zeugen — Und alsdann — Sie haben mir ſo oft ſchon 
aus der Verlegenheit geholfen, ich verhehle es nicht, ich 
bin Ihnen ſo viel — ſo vieles ſchuldig! — Mein Poſten 
bringt mich um — Mir liegt ſo vieles auf dem Halſe — 
Wahrhaftig, es braucht meinen ganzen Kopf, um herum 
zu kommen — Sie ſind zufrieden mit unſerm Miniſter? 

Firmin. Ich bewundere ihn. 

Selicour, Ja, das nenn' ich einmal einen fähigen 
Chef! Und wahrlich, es war auch die höchſte Not, daß 


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Dritter Aufzug. 4. Auftritt 283 


ein ſolcher an den Platz kam, wenn nicht alles zu Grunde 
gehen ſollte. — Es iſt noch nicht alles, wie es ſoll, ſagte 
ich ihm heute — Wollen Sie, daß alles ſeinen rechten 
Gang gehe, ſo müßten Sie ein Memoire einreichen, worin 
alles, was noch zu verbeſſern iſt, mit der ſtrengſten Wahr⸗ 
heit angezeigt wäre — Dieſe meine Idee hat er mit 
Eifer ergriffen und will eine ſolche Schrift unverzüglich 
aufgeſetzt haben. — Er trug ſie mir auf — Aber die 
unendlichen Geſchäfte, die auf mir liegen — In der Tat, 
ich zittre, wenn ich an einen Zuwachs denke — 

Eirmin. Und da rechnen Sie denn auf mich — Nicht 
wahr? 5 

Selicour. Nun ja! Ich will's geſtehen! 

Firmin. Sie konnten ſich diesmal an keinen Beſſern 
wenden! 

Srlicour, O das weiß ich! Das weiß ich! 

Eirmin. Denn da ich fo lange Zeit von den Miß⸗ 
bräuchen unter der vorigen Verwaltung Augenzeuge 
war — ſo habe ich, um nicht bloß als müßiger Zuſchauer 
darüber zu ſeufzen, meine Beſchwerden und Verbeſſerungs⸗ 
plane dem Papiere anvertraut — und ſo findet ſich, daß 
die Arbeit, die man von Ihnen verlangt, von mir 
wirklich ſchon getan iſt! — Ich hatte mir keinen beſtimmten 
Gebrauch dabei gedacht. — Ich ſchrieb bloß nieder, um 
mein Herz zu erleichtern. 

Selicour. Iſt's möglich? Sie hätten — 

Eirmin. Es liegt alles bereit, wenn Sie davon Ge- 
brauch machen wollen. 

Selicour. Ob ich das will! O mit Freuden! — 
Das iſt ja ein ganz erwünſchter Zufall! 

Firmin. Aber die Papiere find nicht in der beſten 
Ordnung! 

Selicaur. O dieſe kleine Mühe übernehm' ich gern — 
Noch heute Abend ſoll der Miniſter das Memoire haben — 


284 Der Parafit 


Ich nenne Sie als Verfaſſer, Sie follen den Ruhm davon 
haben. 

Firmin. Sie wiſſen, daß mir's darauf eben nicht 
ankommt! Wenn ich nur Gutes ſtifte, gleichviel unter 
welchem Namen. 

Selicour. Würdiger, ſcharmanter Mann! Niemand 
läßt Ihrem beſcheidnen Verdienſt mehr Gerechtigkeit 
widerfahren als ich. — Sie wollen mir alſo die Papiere — 

Tirmin. Ich kann fie gleich holen, wenn Sie fo 
lange verziehen wollen. 

Selicour. Ja, gehen Sie! Ich will hier warten. 

Firmin. Da kommt mein Sohn — Er kann Ihnen 
unterdeſſen Geſellſchaft leiſten — Aber ſagen Sie ihm 
nichts davon — Hören Sie! Ich bitte mir's aus! 

Selicour. So! Warum denn nicht? 

Tirmin. Aus Urſachen. 

Selicour, Nun, wenn Sie fo wollen! — Es wird 
mir zwar ſauer werden, Ihre Gefälligkeit zu verſchwei⸗ 
gen! — (Wenn Firmin fort iſt.) Der arme Schelm! Er fürchtet 
wohl gar, ſein Sohn werde ihn auszanken. 


5. Auftritt 


Karl. Selicour. 


Karl (kommt, in einem Papiere leſend, das er beim Anblick Seli⸗ 
cours ſchnell verbirgt). Schon wieder dieſer Selicour — (Win 
gehen.) 

Selicour. Bleiben Sie doch, mein junger Freund! — 
Warum fliehen Sie ſo die Geſellſchaft? 

Karl. Verzeihung, Herr Selicour! — (Gor fig.) Daß 
ich dem Schwätzer in den Weg laufen mußte! 

Selicour. Ich habe mich ſchon längſt darnach geſehnt, 
Sie zu ſehen, mein Beſter! — Was machen die Muſen? 


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Dritter Aufzug. 5. Auftritt 285 


Wie fließen uns die Verſe? — Der gute Herr Firmin 
hat allerlei dagegen; ich weiß aber, er hat Unrecht. — 
Sie haben ein ſo entſchiednes Talent! — Wenn die 
Welt Sie nur erſt kennte — aber das wird kommen! 
Noch heute früh ſprach ich von Ihnen — 

Karl. Von mir? 

Selicour. Mit der Mutter unſers Herrn Miniſters — 
und man hat ſchon ein gutes Vorurteil für Sie, nach der 
Art, wie ich Ihrer erwähnte. 

Karl. So! Bei welchem Anlaß war das? 

Selicour. Sie macht die Kennerin — ich weiß nicht, 
wie ſie dazu kommt — Man ſchmeichelt ihr, ihres Sohnes 
wegen. — Wie? Wenn Sie ihr auf eine geſchickte feine 
Art den Hof machten — deſſentwegen wollte ich Sie eben 
aufſuchen. — Sie verlangte ein paar Couplets von mir 
für dieſen Abend. — Nun habe ich zwar zu meiner Zeit 
auch meinen Vers gemacht, wie ein andrer, aber der Witz 
iſt eingeroſtet in den leidigen Geſchäften! Wie wärs nun, 
wenn Sie ſtatt meiner die Verschen machten — Sie 
vertrauten ſie mir an — Ich leſe ſie vor — man iſt 
davon bezaubert — man will von mir wiſſen — Ich — 
ich nenne Sie! Ich ergreife dieſe Gelegenheit, Ihnen 
eine Lobrede zu halten. — Alles iſt voll von Ihrem Ruhm, 
und nicht lange, ſo iſt der neue Poet fertig, ebenſo be⸗ 
rühmt durch ſeinen Witz als ſeinen Degen! 

Karl. Sie eröffnen mir eine glänzende Ausſicht! 

Selicour. Es ſteht ganz in Ihrer Gewalt, fie wirklich 
zu machen! 

Karl (vor ſich). Er will mich beſchwatzen! Es iſt 
lauter Falſchheit, ich weiß es recht gut, daß er falſch 
iſt — aber, wie ſchwach bin ich gegen das Lob! Wider 
meinen Willen könnte er mich beſchwatzen. — (Zu Selicour.) 
Man verlangt alſo für dieſen Abend — 

Selicour. Eine Kleinigkeit! Ein Nichts! Ein Lied⸗ 


286 Der Paraſit 


chen — wo ſich auf eine ungezwungene Art ſo ein feiner 
Zug zum Lobe des Miniſters anbringen ließe. 

Karl. Den Lobredner zu machen, iſt meine Sache 
nicht! Die Würde der Dichtkunſt ſoll durch mich nicht 
ſo erniedrigt werden. Jedes Lob, auch wenn es noch ſo 
verdient iſt, iſt Schmeichelei, wenn man es an die Großen 
richtet. 

Selicour. Der ganze Stolz eines echten Muſenſohns! 
Nichts von Lobſprüchen alſo — aber ſo etwas von Liebe — 
Zärtlichkeit — Empfindung — 

Karl (fieht fein Papier an). Konnte ich denken, da ich fie 
niederſchrieb, daß ich ſo bald Gelegenheit haben würde? — 

Selicour. Was? Wie? Das find dod nicht gar 
Verſe — 

Karl. O verzeihen Sie! Eine ſehr ſchwache Arbeit — 

Selicour. Ei was! Mein Gott! Da hätten wir ja 
gerade, was wir brauchen! — Her damit, geſchwind — 
Sie ſollen bald die Wirkung davon erfahren — Es braucht 
auch gerade keine Romanze zu ſein — dieſe Kleinigkeiten — 
dieſe artigen Spielereien tun oft mehr, als man glaubt — 
dadurch gewinnt man die Frauen, und die Frauen machen 
alles. — Geben Sie! Geben Sie! — Wie! Sie ſtehen 
an! Nun, wie Sie wollen! Ich wollte Ihnen nützlich 
ſein — Sie bekannt machen — Sie wollen nicht bekannt 
ſein — Behalten Sie Ihre Verſe! Es iſt Ihr Vorteil, 
nicht der meine, den ich dabei beabſichtete. 

Karl. Wenn nur — 

Selicour. Wenn Sie ſich zieren — 

Karl. Ich weiß aber nicht — 

Selicour (reißt ihm das Papier aus der Hand). Sie find ein 
Kind! Geben Sie! Ich will Ihnen wider Ihren Willen 
dienen — Ihr Vater ſelbſt ſoll Ihrem Talente bald Ge- 


rechtigkeit erzeigen. Da kommt er! (er ſteckt das Papier in 
die rechte Taſche.) 


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Dritter Aufzug. 7. Auftritt 287 


6. Auftritt 
Beide Firmin. Selicour. 


Firmin. Hier, mein Freund! — aber reinen Mund 
gehalten! (Gibt ihm das Papier heimlich.) 


Selicour. Ich weiß zu ſchweigen. Steckt das Papier 
in die linke Rocktaſche.) 


Karl (vor ſich). Tat ich Unrecht, fie ihm zu geben — 
Was kann er aber auch am Ende mit meinen Verſen 
machen? 

Selicour. Meine werten Freunde! Sie haben mir 
eine köſtliche Viertelſtunde geſchenkt — Aber man vergißt 
ſich in Ihrem Umgang. — Der Miniſter wird auf mich 
warten — ich reiße mich ungern von Ihnen los, denn 


man gewinnt immer etwas bei ſo würdigen Perſonen. 
(Geht ab, mit beiden Händen an ſeine Rocktaſchen greifend.) 


7. Auftritt 
Beide Firmin. 


Firmin. Das iſt nun der Mann, den du einen Ränke⸗ 
ſchmied und Kabalenmacher nennſt — und kein Menſch 
nimmt hier mehr Anteil an mir als er! 

Karl. Sie mögen mich nun für einen Träumer 
halten — Aber je mehr er Ihnen ſchön tut, deſto weniger 
trau' ich ihm — Dieſer ſüße Ton, den er bei Ihnen an⸗ 
nimmt — Entweder er braucht Sie, oder er will Sie zu 
Grund richten. 

Zirmin. Pfui über das Mißtrauen! — Nein, mein 
Sohn! Und wenn ich auch das Opfer der Bosheit werden 
ſollte — ſo will ich doch ſo ſpät als möglich das Schlechte 
von andern glauben. 


288 Der Paraſit 
8. Auftritt 


Vorige. La Roche. 


Ta Noche. Sind Sie da, Herr Firmin! — Es macht 
mir herzliche Freude — Der Miniſter will Sie beſuchen. 

Karl. Meinen Vater — 

Firmin. Mich? 

Ta Noche. Ja, Sie! — Ich hab' es wohl bemerkt, 
wie ich ein Wort von Ihnen fallen ließ, daß Sie ſchon 
ſeine Aufmerkſamkeit erregt hatten. — Dieſem Selicour 
iſt auch gar nicht wohl dabei zu Mute — So iſt mein 
heutiger Schritt doch zu etwas gut geweſen. 

Karl. O fo ſehen Sie ſich doch wider Ihren eignen 
Willen ans Licht hervorgezogen! — Welche glückliche Be⸗ 
gebenheit! 

Firmin. Ja! Ja! Du ſiehſt mich in deinen Gedanken 
ſchon als Ambaſſadeur und Miniſter — Herr von Nar⸗ 
bonne wird mir einen kleinen Auftrag zu geben haben, 
das wird's alles ſein! 

Ta Noche. Nein, nein, fag’ ich Ihnen — er will 
Ihre nähere Bekanntſchaft machen — Und das iſt's nicht 
allein! Nein! Nein! Die Augen ſind ihm endlich auf⸗ 
gegangen! Dieſer Selicour, ich weiß es, iſt ſeinem Fall 
nahe! Noch heute — Es iſt ſchändlich und abſcheulich — 
doch ich ſage nichts. — Der Miniſter ließ in Ihrem Hauſe 
nach Ihnen fragen; man ſagte ihm, Sie ſeien auf dem 
Bureau — Ganz gewiß ſucht er Sie hier auf! Sagt' 


ich's nicht? Sieh, da iſt er ſchon! (er tritt nach dem Hinter⸗ 
grund zurück.) 


9. Auftritt 
Narbonne zu den Vorigen. 


Narbonne. Ich habe Arbeiten von Ihnen geſehen, 
Herr Firmin, die mir eine hohe Idee von Ihren Ein⸗ 


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Dritter Aufzug. 9. Auftritt 289 


ſichten geben, und von allen Seiten hör' ich Ihre Recht⸗ 
ſchaffenheit, Ihre Beſcheidenheit rühmen. — Männer 
Ihrer Art brauche ich höchſt nötig — Ich komme des⸗ 
wegen, mir Ihren Beiſtand, Ihren Rat, Ihre Mitwir⸗ 
kung in dem ſchweren Amte auszubitten, das mir anver⸗ 
traut iſt. — Wollen Sie mir Ihre Freundſchaft ſchenken, 
Herr Firmin? 

Firmin. So viel Zutrauen beſchämt mich und macht 
mich ſtolz. — Mit Freude und Dankbarkeit nehme ich 
dieſes gütige Anerbieten an — aber ich fürchte, man hat 
Ihnen eine zu hohe Meinung von mir gegeben. 

Karl. Man hat Ihnen nicht mehr geſagt, als wahr 
iſt, Herr von Narbonne! — Ich bitte Sie, meinem Vater 
in dieſem Punkte nicht zu glauben. 

Firmin. Mache nicht zu viel Rühmens, mein Sohn, 
von einem ganz gemeinen Verdienſt. 

Narbonne. Das ijt alſo Ihr Sohn, Herr Firmin? 

Eirmin. Ja. 

Narbonne. Der Karl Firmin, deſſen meine Mutter 
und Tochter noch heute Morgen gedacht haben? 

Karl. Ihre Mutter und die liebenswürdige Charlotte 
haben ſich noch an Karl Firmin erinnert! 

Narbonne. Sie haben mir ſehr viel Schmeichelhaftes 
von Ihnen geſagt. 

Karl. Möchte ich ſo viele Güte verdienen! 

Narbonne. Es ſoll mich freuen, mit Ihnen, braver 
junger Mann, und mit Ihrem würdigen Vater mich näher 
zu verbinden. — Herr Firmin! Wenn es meine Pflicht 
iſt, Sie aufzuſuchen, ſo iſt es die Ihre nicht weniger, 
ſich finden zu laſſen. Mag ſich der Unfähige einer ſchimpf⸗ 
lichen Trägheit ergeben! — Der Mann von Talent, der 
ſein Vaterland liebet, ſucht ſelbſt das Auge ſeines Chefs 
und bewirbt ſich um die Stelle, die er zu verdienen ſich 
bewußt iſt. — Der Dummkopf und der N 

Schillers Werke. IX. 


290 Der Parafit 


find immer bei der Hand, um ſich mit ihrem anmaßlichen 
Verdienſte zu brüſten — wie ſoll man das wahre Ver⸗ 
dienſt unterſcheiden, wenn es ſich mit ſeinen verächtlichen 
Nebenbuhlern nicht einmal in die Schranken ſtellt? — 


Bedenken Sie, Herr Firmin, daß man für das Gute, 


welches man nicht tut, ſo wie für das Böſe, welches man 
zuläßt, verantwortlich iſt. 

Karl. Hören Sie's nun, mein Vater! 

Firmin. Geben Sie mir Gelegenheit, meinem Vater⸗ 
lande zu dienen, ich werde ſie mit Freuden ergreifen! 

Narbonne. Und mehr verlang’ ich nicht — Damit 
wir beſſer mit einander bekannt werden, ſo ſpeiſen Sie 
beide dieſen Abend bei mir. Sie finden eine angenehme 
Geſellſchaft — Ein paar gute Freunde, einige Verwandte — 
Aller Zwang wird entfernt ſein, und meine Mutter, die 
durch meinen neuen Stand nicht ſtolzer geworden iſt, 
wird Sie aufs freundlichſte empfangen, das verſprech' ich 
Ihnen. 

Firmin. Wir nehmen Ihre gütige Einladung an. 

Karl (vor ſich). Ich werde Charlotten ſehen! 

Ta Rowe (beiſeite). Die Sachen find auf gutem Weg — 
der Augenblick iſt günſtig — Friſch, noch einen Ausfall 
auf dieſen Selicour! (Kommt vorwärts.) So laſſen Sie end⸗ 
lich dem Verdienſt Gerechtigkeit widerfahren, gut! Nun 
iſt noch übrig, auch das Laſter zu entlarven — Glück⸗ 
licherweiſe finde ich Sie hier und kann da fortfahren, wo 
ich es dieſen Morgen gelaſſen — Dieſer Selicour brachte 
mich heute zum Stillſchweigen — ich machte es ungeſchickt, 
ich gefteh’ es, daß ich fo mit der Türe ins Haus fiel, 
aber wahr bleibt wahr! Ich habe doch Recht! Sie ver⸗ 
langten Tatſachen — Ich bin damit verſehen. 

Narbonne. Was? Wie? 

Ta Noche. Dieſer Menſch, der ſich das Anſehn gibt, 
als ob er ſeiner Mutter und ſeiner ganzen Familie zur 


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Dritter Aufzug. 9. Auftritt 291 


Stütze diente, er hat einen armen Teufel von Vetter ſchön 
empfangen, der heute in ſeiner Einfalt, in gutem Ver⸗ 
trauen zu ihm in die Stadt kam, um eine kleine Ver⸗ 
ſorgung durch ihn zu erhalten. Fortgejagt wie einen 
Taugenichts hat ihn der Heuchler! So geht er mit ſeinen 
Verwandten um — und wie ſchlecht ſein Herz ift, davon 
kann ſeine notleidende Mutter — 

Firmin. Sie tun ihm ſehr Unrecht, lieber La Roche! 
Eben dieſer Vetter, den er ſoll fortgejagt haben, kehrt 
mit ſeinen Wohltaten überhäuft und von falſchen Hoff⸗ 
nungen geheilt in ſein Dorf zurück! 

Narbonne. Eben mit dieſem Vetter hat er ſich recht 
gut betragen. 

Ta Roche. Wie? Was? 

Narbonne. Meine Mutter war ja bei dem Geſpräch 
zugegen. 

Eirmin. Lieber La Roche! Folgen Sie doch nicht fo 
der Eingebung einer blinden Rache. 

Ta Noche. Schön, Herr Firmin! Reden Sie ihm 
noch das Wort! 

Firmin. Er iſt abweſend, es ijt meine Pflicht, ihn 
zu verteidigen. 

Narbonne. Dieſe Geſinnung macht Ihnen Ehre, Herr 
Firmin; auch hat ſich Herr Selicour in Anſehung Ihrer 
noch heute ebenſo betragen. — Wie erfreut es mich, mich 
von jo würdigen Perſonen umgeben zu ſehen — (gu La 
Roche.) Sie aber, der den armen Selicour ſo unverſöhn⸗ 
lich verfolgt, Sie ſcheinen mir wahrlich der gute Mann 
nicht zu ſein, für den man Sie hält! — Was ich bis jetzt 
noch von Ihnen ſah, bringt Ihnen wahrlich ſchlechte Ehre! 

Ta Rothe (vor ſich). Ich möchte berſten — Aber nur 
Geduld! 

Narbonne. Ich bin geneigt, von dem guten Selicour 
immer beſſer zu denken, je mehr Schlimmes man mir 


292 Der Paraſit 


von ihm ſagt, und ich gehe damit um, ihn mir näher zu 
verbinden. 

Karl (betroffen). Wie ſo? 

Narbonne. Meine Mutter hat gewiſſe Plane, die ich 
vollkommen gut heiße — Auch mit Ihnen habe ich es gut 
vor, Herr Firmin! — dieſen Abend ein mehreres. — 
Bleiben Sie ja nicht lange aus. Zu Karl.) Sie, mein 


junger Freund, legen ſich auf die Dichtkunſt, hör' ich; 


meine Mutter hat mir heute Ihr Talent gerühmt. — 
Laſſen Sie uns bald etwas von Ihrer Arbeit hören. — 
Auch ich liebe die Muſen, ob ich gleich ihrem Dienſt nicht 
leben kann. — Ihr Diener, meine Herren! — Ich ver⸗ 
bitte mir alle Umſtände. (er geht ab.) 


10. Auftritt 


Vorige ohne Narbonne. 


Karl. Ich werde ſie ſehen! Ich werde ſie ſprechen! — 
Aber dieſe gewiſſen Plane der Großmutter — Gott! ich 
zittre. — Es iſt gar nicht mehr zu zweifeln, daß ſie 
dieſem Selicour beſtimmt iſt. 

Firmin. Nun, mein Sohn! Das iſt ja heute ein 
glücklicher Tag! 

Ta Roche. Für Sie wohl, Herr Firmin — aber für 
mich? 

Firmin. Sein Sie außer Sorgen. Ich hoffe alles 
wieder ins Gleiche zu bringen. — (Zu Karl.) Betrage dich 
klug, mein Sohn! wenigſtens unter den Augen des 
Miniſters vergiß dich nicht. 

Karl. Sorgen Sie nicht! Aber auch Sie, mein Vater, 
rühren Sie ſich einmal! 

Eirmin. Schön! Ich erhalte auch meine Lektion. 

Karl. Und habe ich nicht Recht, Herr La Roche? 


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Dritter Aufzug. 11. Auftritt 293 


Firmin. Laß dir fein Beiſpiel wenigſtens zu einer 
Warnung dienen. — Mut gefaßt, La Roche! Wenn meine 
Fürſprache etwas gilt, ſo iſt Ihre Sache noch nicht ver⸗ 
loren. (er geht ab.) 


11. Auftritt 
Karl Firmin und La Roche. 


Ta Noche. Nun, was ſagen Sie? Iſt das erlaubt, 
daß Ihr Vater ſelbſt mich Lügen ſtraft und den Schelmen 
in Schutz nimmt? 

Karl. Beſter Freund, ich habe heute früh Ihre 
Dienſte verſchmäht, jetzt flehe ich um Ihre Hilfe. Es 
iſt nicht mehr zu zweifeln, daß man ihr den Selicour 
zum Gemahl beſtimmt. Ich bin nicht wert, ſie zu be⸗ 
ſitzen, aber noch weniger verdient es dieſer Nichts⸗ 
würdige! 

Ta Noche. Braucht's noch eines Sporns, mich zu 
hetzen? Sie ſind Zeuge geweſen, wie man mich um 
ſeinetwillen mißhandelt hat! Hören Sie mich an! Ich 
habe in Erfahrung gebracht, daß der Miniſter ihm noch 
heute eine ſehr wichtige und kitzliche Arbeit aufgetragen, 
die noch vor Abend fertig ſein ſoll. Er wird ſie ent⸗ 
weder gar nicht leiſten, oder doch etwas höchſt Elendes 
zu Markte bringen. So kommt ſeine Unfähigkeit ans 
Licht. Trotz ſeiner ſüßlichten Manieren haſſen ihn alle 
und wünſchen ſeinen Fall. Keiner wird ihm helfen, dafür 
ſteh' ich, ſo verhaßt iſt er! 

Karl. Meinen Vater will ich ſchon davon abhalten. — 
Ich ſehe jetzt wohl, zu welchem Zweck er mir mein Ge⸗ 
dicht abſchwatzte. Sollte er wohl die Stirne haben, ſich 
in meiner Gegenwart für den Verfaſſer auszugeben? 

Ta Noche. Kommen Sie mit mir in den Garten, er 


294 Der Paraſit 


darf uns nicht beiſammen antreffen. — Du nennſt dich 
meinen Meiſter, Freund Selicour! Nimm dich in Acht — 
— Dein Lehrling formiert ſich, und noch vor Abend ſollſt 
du bei ihm in die Schule gehen! (Gehen ab.) 


Vierter Aufzug 
1. Auftritt 


Madame Belmont. Charlotte. 


Mad. Belmont. Bleib da, Charlotte! Wir haben ein 5 
Wörtchen mit einander zu reden, eh' die Geſellſchaft kommt. 

— Sage mir, mein Kind! Was hältſt du von dem Herrn 
Selicour? 

Charlotte. Ich, Mama? 

Mad. Belmont. Ja, du! 10 

Charlotte. Nun, ein ganz angenehmer, verdienſt⸗ 
voller, würdiger Mann ſcheint er mir zu ſein. 

Mad. Belmont. Das hör' ich gerne! Ich freue mich, 
liebes Kind, daß du eine ſo gute Meinung von ihm 
haſt — denn, wenn dein Vater und ich etwas über 1s 
dich vermögen, ſo wird Herr Selicour bald dein Ge⸗ 
mahl ſein. 

Charlotte (betroffen). Mein Gemahl! — 

Mad. Belmont. Fällt dir das auf? 

Charlotte. Herr Selicour? 20 

Mad. Belmont. Wir glaubten nicht beſſer für dein 
Glück ſorgen zu können — 

Charlotte. Von Ihren und meines Vaters Händen 
will ich gerne einen Gatten annehmen — Aber, Sie wer⸗ 
den mich für grillenhaft halten, liebe Großmama! — Ich 28 


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Vierter Aufzug. 2. Auftritt 295 


weiß nicht — dieſer Herr Selicour, den ich übrigens 
hochſchätze — gegen den ich nichts einzuwenden habe — 
ich weiß nicht, wie es kommt — wenn ich mir ihn als 
meinen Gemahl denke, ſo — ſo empfinde ich in der Tiefe 
meines Herzens eine Art von — 

Mad. Belmont. Doch nicht von Abneigung? 

Charlotte. Von Grauen möcht' ich's ſogar nennen! 
Ich weiß, daß ich ihm Unrecht tue, aber ich kann es nun 
einmal nicht überwinden. — Ich fühle weit mehr Furcht 
vor ihm als Liebe. 

Mad. gelmont. Schon gut! Dieſe Furcht kennen 
wir, meine Tochter! 

Charlotte. Nein! Hören Sie! 

Mad. Belmont. Eine angenehme mädchenhafte Schüch⸗ 
ternheit! Das muß ich wiſſen, glaube mir. — Bin ich 
nicht auch einmal jung geweſen? — übrigens ſteht dieſe 
Partie deiner Familie an. — Ein Mann, der alles weiß — 
ein Mann von Geſchmack — ein feiner Kenner — und 
ein ſo gefälliger bewährter Freund. — Auch reißt man 
ſich in allen Häuſern um ihn. — Wäre er nicht eben jetzt 
ſeiner Mutter wegen bekümmert, ſo hatte er mir dieſen 
Abend eine Romanze für dich verſprochen — denn er 
kann alles, und dir möchte er gern in jeder Kleinigkeit 
zu Gefallen ſein. — Aber ich hör' ihn kommen! Er läßt 
doch niemals auf ſich warten! Wahrlich, es gibt ſeines⸗ 
gleichen nicht! 


2. Auftritt 
Selicour zu den Vorigen. 


Selicour. Sie verlangten heute ein gefühlvolles zärt⸗ 
liches Lied von mir! Ich habe mein möglichſtes getan, 
Madame! — und lege es Ihnen hier zu Füßen. 

Mad. Belmont. Wie, Herr Selicour! Sie haben es 


296 Der Parafit 


wirklich ſchon fertig? — In der Tat, ich fürchtete, daß 
die übeln Nachrichten — 

Selicour. Welche Nachrichten? 

Mad. Belmont. Von Ihrer Mutter — 

Selicour. Von meiner Mutter! — Ja — Ich — ich 
habe eben einen Brief von ihr erhalten — einen Brief, 
worin ſie mir meldet, daß ſie endlich — 

Mad. gelmont. Daß ſie die tauſend Taler erhalten — 
Nun, das freut mich — 5 

Selicour. Hätte ich ſonſt die Faſſung haben können? 
— Aber, dem Himmel ſei Dank! — Jetzt iſt mir dieſer 
Stein vom Herzen, und in der erſten Freude ſetzte ich 
dieſe Strophen auf, die ich die Ehre gehabt, Ihnen zu 
überreichen. 

Mad. Belmont (zu Charlotten). Er hätte dich gejammert, 
wenn du ihn geſehen hätteſt — Da war's, wo ich fein 
ganzes treffliches Herz kennen lernte. — Herr Selicour, 
ich liebe Ihre Romanze, noch eh' ich ſie geleſen. 


3. Auftritt 


Vorige. Narbonne. 


Narbonne. Selicour hier bei Ihnen! Ei, ei, liebe 
Mutter, Sie ziehen mir ihn von nötigeren Dingen ab. — 
Er hat ſo dringend zu tun, und Sie beladen ihn noch 
mit unnützen Aufträgen. 

Mad. Belmont. Sieh, ſieh, mein Sohn! — Will Er nicht 
gar böſe werden! 

Narbonne. Was ſoll aus dem Aufſatz werden, der 
doch ſo wichtig und ſo dringend iſt? 

Selicour. Der Aufſatz iſt fertig. Hier iſt er! 

Narbonne. Was, ſchon fertig? 

Selicour. Und ich bitte Sie, zu glauben, daß ich 
weder Zeit noch Mühe dabei geſpart habe. 


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Vierter Aufzug. 3. Auftritt 297 


Narbonne. Aber wie iſt das möglich? 

Selicour. Die Mißbräuche der vorigen Verwaltung 
haben mir nur zu oft das Herz ſchwer gemacht — Ich 
konnte es nicht dabei bewenden laſſen, ſie bloß müßig zu 
beklagen — Dem Papiere vertraute ich meinen Unwillen, 
meinen Tadel, meine Verbeſſerungsplane an, und ſo trifft 
es ſich, daß die Arbeit, die Sie mir auftrugen, ſchon ſeit 
lange im ſtillen von mir gemacht iſt — Es ſollte mir 
wahrlich auch nicht an Mut gefehlt haben, öffentlich da⸗ 
mit hervorzutreten, wenn die Regierung nicht endlich von 
ſelbſt zur Einſicht gekommen wäre und in Ihrer Perſon 
einen Mann aufgeſtellt hätte, der alles wieder in Ord⸗ 
nung bringt — Jetzt iſt der Zeitpunkt da, von dieſen 
Papieren öffentlichen Gebrauch zu machen — Es fehlte 
nichts, als die Blätter zurecht zu legen, und das war in 
wenig Augenblicken geſchehen! 

Mad. Belmont. Nun, mein Sohn! Du kannſt zu⸗ 
frieden ſein, denk ich — Herr Selicour hat deinen Wunſch 
erfüllt, eh' er ihn wußte, hat dir in die Hand gearbeitet, 
und ihr kommt einander durch den glücklichſten Zufall 
entgegen — 

Narbonne. Mit Freuden ſeh' ich, daß wir einver⸗ 
ſtanden find. — Geben Sie, Herr Selicour, noch heute 
Abend ſende ich den Aufſatz an die Behörde. 

Selicour (vor ſich). Alles geht gut — Jetzt dieſen 
Firmin weggeſchafft, der mir im Weg iſt. (Laut.) Werden 
Sie mir verzeihen, Herr von Narbonne? — Es tut mir 
leid, es zu ſagen — aber ich muß fürchten, daß die An⸗ 
klage des Herrn La Roche dieſen Morgen doch einigen 
Eindruck gemacht haben könnte. 

Narbonne. Nicht den mindeſten. 

Selicour. Ich habe es befürchtet. — Nach allem, 
was ich ſehe, hat dieſer La Roche meine Stelle ſchon an 
jemanden vergeben. 


298 Der Parafit 


Narbonne. Wie? 

Selicour. Ich habe immer ſehr gut gedacht von 
Herrn Firmin, aber, ich geſteh' es — ich fange doch end⸗ 
lich an, an ihm irre zu werden. 

Narbonne. Wie? Sie haben ja mir noch heute ſeine 
Gutmütigkeit gerühmt. 

Selicour. Iſt auch dem Gutmütigſten bis auf einen 
gewiſſen Punkt zu trauen? — Ich ſehe mich von Feinden 
umgeben. Man legt mir Fallſtricke. 

Narbonne. Sie tun Herrn Firmin Unrecht. Ich 
kenne ihn beſſer, und ich ſtehe für ihn. 

Selicour. Ich wünſchte, daß ich ebenſo von ihm 
denken könnte. 

Narbonne. Der ſchändliche Undank dieſes La Roche 
muß Sie natürlicherweiſe mißtrauiſch machen. Aber wenn 
Sie auch nur den Schatten eines Zweifels gegen Herrn 
Firmin haben, ſo werden Sie ſogleich Gelegenheit haben, 
von Ihrem Irrtum zurück zu kommen. 

Selicour. Wie das? 

Narbonne. Er wird im Augenblick ſelbſt hier ſein. 

Selicour. Herr Firmin — hier? 

Narbonne. Hier — Ich konnte mir's nicht verſagen. 
Ich hab' ihn geſehen! 

Selicour. Geſehen! Vortrefflich! 

Narbonne. Er und ſein Sohn ſpeiſen dieſen Abend 
mit uns. 

Selicour. Speiſen — Sein Sohn! Vortrefflich! 

Mad. Belmont und Charlotte. Karl Firmin? 

Narbonne. Der junge Offizier, deſſen Verdienſte Sie 
mir ſo oft gerühmt haben. — Ich habe Vater und Sohn 
zum Nachteſſen eingeladen. 

Mad. Belmont. Ich werde fie mit Vergnügen will⸗ 
kommen heißen. 8 


Narbonne (gu Selicour). Sie haben doch nichts dawider? 


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Vierter Aufzug. 3. Auftritt 299 


Kelicour. Ich bitte ſehr — Ganz im Gegenteil! 

Mad. Belmont. Ich bin dem Vater ſchon im vor⸗ 
aus gut um des Sohnes willen. Und was ſagt unſre 
Charlotte dazu? 

Charlotte. Ich, Mama — ich bin ganz Ihrer Mei⸗ 
nung! 

Narbonne. Sie können ſich alſo ganz offenherzig 
gegen einander erklären. 

Selicour. O das bedarf's nicht — im geringſten 
nicht — Wenn ich's geſtehen ſoll, ich habe Herrn Firmin 
immer für den redlichſten Mann gehalten — und tat ich 
ihm einen Augenblick Unrecht, ſo bekenne ich mit Freuden 
meinen Irrtum — Ich für meinen Teil bin überzeugt, 
daß er mein Freund iſt. 

Narbonne. Er hat es bewieſen! Er ſpricht mit 
großer Achtung von Ihnen — Zwar kenn' ich ihn nur 
erſt von heute, aber gewiß verdient er — 

Selicour leinfallend). Alle die Lobſprüche, die ich ihm, 
wie Sie wiſſen, noch vor kurzem erteilt habe — So bin 
ich einmal! Mein Herz weiß nichts von Mißgunſt! 

Narbonne. Er verbindet einen geſunden Kopf mit 
einem vortrefflichen Herzen, und kein Menſch kann von 
Ruhmſucht freier ſein als er. Was gilt's? Er wär' im 
ſtande, einem andern das ganze Verdienſt von dem zu 
laſſen, was er geleiſtet hat! 

Selicour, Meinen Sie? 

Narbonne. Er wäre der Mann dazu! 

Mad. Belmont. Sein Sohn möchte in dieſem Stück 
nicht ganz ſo denken. 

Charlotte. Ja wohl, der iſt ein junger feuriger 
Dichterkopf, der keinen Scherz verſteht. 

Selicour. Würde der wohl einem andern den Ruhm 
ſeines Werks abtreten? 

Charlotte. O daran zweifle ich ſehr! 


300 Der Paraſit 


Narbonne. Ich liebe dieſes Feuer an einem jungen 
Kriegsmann. 

Selicour. O allerdings, das verſpricht! 

Narbonne. Jeder an ſeinen rechten Platz geſtellt, 
werden ſie beide vortrefflich zu brauchen ſein. 

Selicour. Es iſt doch gar ſchön, wie Sie die fähigen 
Leute ſo aufſuchen! 


Narbonne. Das iſt meine Pflicht. (er ſpricht mit ſeiner 
Tochter.) 


Selicour. Das war's! (Zu Madame Belmont, beiſeite.) 
Ein Wort, Madame! — Man könnte doch glauben, Sie 
zerſtreuten mich von meinen Berufsgeſchäften — Wenn 
alſo dieſen Abend mein Gedicht ſollte geſungen werden, 
ſo — nennen Sie mich nicht! 

Mad. Belmont. Wenn Sie nicht wollen, nein. 

Selicour, Ja — mir fällt ein. — Wie? Wenn ich, 
größerer Sicherheit wegen, jemanden aus der Geſellſchaft 
darum anſpräche, ſich als Verfaſſer zu bekennen — 

Mad. Belmont. Wie? Sie könnten einem andern 
den Ruhm davon abtreten? 

Selicour. Bah! Das iſt eine Kleinigkeit! (Beide 


Firmin treten ein.) 
Charlotte (erblickt fie, lebhaft). Da kommen fie! 


4. Auftritt 
Vorige. Beide Firmin. 


Narbonne (ihnen entgegen). Ich habe Sie längſt er⸗ 
wartet, meine Herren! — Nur herein! Nur näher! Sein 
Sie herzlich willkommen! — Hier, Herr Firmin, meine 
Mutter und hier meine Tochter — Sie ſind kein Fremd⸗ 
ling in meiner Familie. 

Mad. Belmont (zu Karl Firmin). Ich hatte mir's nicht 


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Vierter Aufzug. 4. Auftritt 301 


erwartet, Sie hier in Paris zu ſehen; es iſt ſehr ange⸗ 
nehm, ſich mit lieben Freunden ſo unvermutet zuſammen 
zu finden. 

Karl. Dieſer Name hat einen hohen Wert für mich. 
(Zu Charlotten.) Sie haben Ihre Tante doch wohl verlaſſen? 

Charlotte. Ja, Herr Firmin! 

Karl. Es waren unvergeßliche Tage, die ich in 
Ihrem Hauſe verlebte. Dort war's, mein Fräulein — 

Narbonne (zu Firmin dem Vater). Laſſen wir die jungen 
Leute ihre Bekanntſchaft erneuern. — Nun, Herr Firmin! 
Da iſt Selicour! 

Selicour (gu Firmin). In der Cat — ich bin — ich 
kann nicht genug ſagen, wie erfreut ich bin — Sie bei 
dem Herrn von Narbonne eingeführt zu ſehen. 

Narbonne. Sie find beide die Männer dazu, ein⸗ 
ander Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen. (Zu Firmin.) 
Er hat etwas auf dem Herzen, ich wünſchte, daß Sie 
ſich gegen einander erklärten, meine Herren! 

Selicour. O nicht doch! Nicht doch! Herr Firmin 
kennt mich als ſeinen Freund. 

Narbonne. Und ſein Sie verſichert, er iſt auch der 
Ihrige. Ich wünſchte, Sie hätten es gehört, mit welcher 
Wärme er noch heute Ihre Partei nahm. Ganz gewiß 
hat dieſer La Roche wieder — 

Selicour. Aber was in aller Welt mag doch den 
La Roche ſo gegen mich aufhetzen? 

Narbonne. Dieſer La Roche iſt mein Mann nicht 
— wenigſtens hab' ich eine ſchlechte Meinung von ſeinem 
Charakter. . 

Firmin. Sie tun ihm Unrecht. Ich habe heute gegen 
ihn geſprochen, aber diesmal muß ich ihn verteidigen. 

Selicour. Es iſt ganz und gar nicht nötig. Ich 
ſchätze ihn, ich kenne ſein gutes Herz und kenne auch ſeine 
Sparren — Und mag er mich am Ende bei der ganzen 


302 Der Parafit 


Welt anſchwärzen, wenn er nur bei Ihnen keinen Glauben 
fand! — Sie ſehen, wir ſind fertig — Unſer Streit iſt 
beigelegt, es braucht keiner weitern Erklärung. ! 

Mad. Belmont. Nun, wollen Sie nicht Platz nehmen, 
meine Herren? 

Selicour (zu Karl Firmin). Es iſt ſchon übergeben, das 
Gedicht. 

Karl. Wirklich? 

Selicour. Die alte Mama hat es, und den Verfaſſer 
habe ich ihr nicht verſchwiegen. (Madame Belmont beiſeite 
führend.) Wiſſen Sie, was ich gemacht habe? 

Mad. Belmont. Nun! 

Selicour. Der junge Firmin — Sie wiſſen, er gibt 
ſich mit Verſemachen ab. 

Mad. Belmont. Ja! — Nun! 

Selicour. Ich hab' ihn erſucht, ſich für den Ver⸗ 
faſſer des Liedchens zu bekennen — Er läßt ſich's gefallen! 

Mad. Belmont. Läßt ſich's gefallen? Das glaub' ich! 

Selicour, Daß Sie mich ja nicht Lügen ſtrafen! 

Narbonne. Aber bis unſre andern Gäſte kommen, 
liebe Mutter, laſſen Sie uns eine kleine Unterhaltung 
ausdenken — Zum Spiel lade ich Sie nicht ein — Wir 
können uns beſſer beſchäftigen. 

Firmin. Sie haben zu befehlen. 

Karl. Es wird von Madame abhängen. 

Charlotte. Lieben Sie noch immer die Muſik, Herr 
Firmin? 

Narbonne. Es iſt ja wahr, du ſingſt nicht übel — 
Laß hören. — Haſt du uns nicht irgend etwas Neues 
vorzutragen? 

Karl. Wenn es Fräulein Charlotten nicht zu viel 
Mühe macht. — 

Charlotte. Hier hat man mir ſoeben einige Strophen 
zugeſtellt. 


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Vierter Aufzug. 4. Auftritt 303 


Narbonne. Gut! Ich werde, mit Ihrer Erlaubnis, 
unterdeſſen das Memoire unſers Freundes durchleſen. 

Selicour. Aber wir werden Sie ſtören, Herr von 
Narbonne! 

Narbonne. Nicht doch! Ich bin gewohnt, im ärgſten 
Geräuſch zu arbeiten — und hier iſt nur vom Leſen die 
Rede! (Er geht auf die entgegengeſetzte Seite, wo er ſich niederſetzt.) 

Selicour. Wenn Sie aber doch lieber — 

Narbonne. Verzeihen Sie! aber es leidet keinen 
Aufſchub. Die Pflicht geht allem vor! 

Mad. Selmont. Laſſen wir ihn denn, wenn er es jo 


will, und nehmen unſer Lied vor. (Aue ſetzen ſich. Charlotte 


ans Ende, Madame Belmont neben Charlotten, Selicour zwiſchen Madame 
Belmont und Karln, neben letztern Firmin der Vater.) 


Charlotte. Die Melodie iſt gleich gut gewählt, wie 
ich ſehe. 

Mad. Belmont. Der Verfaſſer iſt nicht weit — ich 
kann ihn ohne Brille ſehen. 

Selicour (zu Madame Belmont, leiſe). Verraten Sie mich 
nicht — (Zu Karl Firmin.) Das gilt Ihnen, mein Lieber! 

Charlotte. Ihm! Wie? 

Firmin. Iſt das wahr, Karl? Wäreſt du — 

Selicour. Er iſt der Verfaſſer. 

Charlotte (su ihrer Großmutter). Wie? Herr Firmin 
wäre der Verfaſſer! 

Mad. Belmont (laut). Ja! — (Geimlich.) Nenne den 
wahren Verfaſſer ja nicht — 

Charlotte. Warum nicht? a 

Mad. Belmont. Aus Urſachen. Zu Selicour.) Wollen 
Sie Charlotten nicht akkompagnieren? 

Selicour. Mit Vergnügen. 

Eirmin (ärgerlich zu ſeinem Sohn). Gewiß wieder eine 
übereilte Arbeit — aber das muß einmal gedichtet ſein — 


304 Der Paraſit 


Karl. Aber, lieber Vater, hören Sie doch erſt, eh' 
Sie richten! 

Charlotte (fingt). 

An der Quelle ſaß der Knabe, 
Blumen band er ſich zum Kranz, 
Und er ſah ſie, fortgeriſſen, 5 
Treiben in der Wellen Tang: — 
„Und fo fliehen meine Tage 
Wie die Quelle raſtlos hin, 
Und ſo ſchwindet meine Jugend, 
Wie die Kränze ſchnell verblühn!“ 10 

Mad. Belmont (Selicour anſehend). Dieſer Anfang ver⸗ 
ſpricht ſchon viel! 

Selicour (auf Karl Firmin zeigend). Dieſem Herrn da 
gehört das Kompliment. 

Mad. Belmont. Gut! Gut! Ich verſtehe! 15 

Firmin. Der Gedanke iſt alltäglich, gemein. 

Karl. Aber er iſt doch wahr. 

Narbonne (auf der entgegengeſetzten Seite mit dem Aufſatz be⸗ 
ſchäftigt). Die Einleitung ijt ſehr gut und erweckt ſogleich 
die Aufmerkſamkeit. 

Charlotte (ſingt wieder). 

„Fraget nicht, warum ich traure 20 
In des Lebens Blütenzeit! 
Alles freuet ſich und hoffet, 
Wenn der Frühling ſich erneut! 
Aber dieſe tauſend Stimmen 
Der erwachenden Natur 25 
Wecken in dem tiefen Buſen 
Mir den ſchweren Kummer nur!“ 
Mad. Belmont. Zum Entzücken! 
Firmin. Nicht übel. 


Selicour (gu Karl Firmin). Sie ſehen, wie alles Sie 30 
bewundert. 


Vierter Aufzug. 4. Auftritt 305 


Narbonne (leſend). Trefflich entwickelt und nach⸗ 
drücklich vorgetragen — Leſen Sie doch mit mir, Herr 
Firmin! (Firmin tritt zum Miniſter und lieſt über ſeine linke Schulter.) 

Mad. Belmont. Ganz göttlich! 

5 Selicour (au Narbonne tretend). Ich habe aber freilich dem 


Herrn Firmin viel, ſehr, ſehr viel dabei zu danken. (Tritt 


wieder auf die andre Seite zwiſchen Karl Firmin und Madame Belmont, 
doch ohne die andre Gruppe aus den Augen zu verlieren.) 


Charlotte (fingt wieder). 
„Was kann mir die Freude frommen, 
Die der ſchöne Lenz mir beut? 
Eine nur iſt's, die ich ſuche, 
10 Sie iſt nah und ewig weit. 
Sehnend breit' ich meine Arme 
Nach dem teuren Schattenbild, 
Ach, ich kann es nicht erreichen, 
Und das Herz bleibt ungeſtillt! 


15 Komm herab, du ſchöne Holde, 
Und verlaß dein ſtolzes Schloß! 
Blumen, die der Lenz geboren, 
Streu' ich dir in deinen Schoß. 
Horch, der Hain erſchallt von Liedern, 
20 Und die Quelle rieſelt klar! 
Raum iſt in der kleinſten Hütte 
Für ein glücklich liebend Paar.“ 
Mad. Belmont. Wie rührend der Schluß iſt! — Das 
liebe Kind iſt ganz davon bewegt worden. 
25 Charlotte. Ja, es mag es gemacht haben, wer will, 
es iſt aus einem Herzen gefloſſen, das die Liebe kennt! 
Selicour (verneigt ſich gegen Charlotten). Dies iſt ein 
ſchmeichelhaftes Lob. 
Karl. Was? Er bedankt ſich — 
30 Selicour (ſchnell zu Karl Firmin ſich umdrehend). Nicht wahr, 
lieber Freund? 
Schillers Werke. IX. 20 


806 Der Paraſit 


Mad. Belmont. Ich bin ganz davon hingeriſſen — 

Selicour (buct ſich gegen Madame Belmont). Gar zu gütig, 
Madame! 

Karl. Wie verſteh' ich das? 

Selicour lebenſo ſchnell wieder zu Karl Firmin). Nun! Sagt' 
ich's Ihnen nicht! Sie haben den vollkommenſten Sieg 
davongetragen. 

Karl. Hält er mich zum Narren? 

Narbonne. Das Werk iſt vortrefflich! Ganz vor⸗ 
trefflich! 

Selicour (zu Firmin dem Vater). Sie ſehen, ich habe mich 
ganz an Ihre Ideen gehalten. 

Firmin (lächelt). Ich muß geſtehen, ich merke fo etwas. 

Charlotte. Ich weiß nicht, welchem von beiden 
Herren — 

Selicour (zu Charlotten, indem er auf Karl Firmin deutet). Ein 
ſüßer Triumph für den Verfaſſer. 

Narbonne (den Aufſatz zuſammenlegend). Ein wahres Meiſter⸗ 
werk. In der Tat! 

Selicour (ouct ſich gegen Narbonne). Gar zu viel Ehre! 

Mad. Belmont (wiederholt die letzte Strophe). 

Horch, der Hain erſchallt von Liedern, 
Und die Quelle rieſelt klar! 
Raum iſt in der kleinſten Hütte 
Für ein glücklich liebend Paar. 
Schön! Himmliſch! dem widerſtehe, wer kann! — 
Selicour, es bleibt dabei! Sie heiraten meine Char⸗ 
lotte! 

Karl. O Himmel! 

Charlotte. Was hör' ich! 

Narbonne (steht auf. Ich kenne wenig Arbeiten, die fo 
vortrefflich wären — Selicour, Sie ſind Geſandter! 

Karl. Mein Gott! 

Narbonne. Sie ſind's! Ich ſtehe Ihnen für Ihre 


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Vierter Aufzug. 5. Auftritt 307 


Ernennung! Wer das ſchreiben konnte, muß ein recht⸗ 
ſchaffener Mann, muß ein Mann von hohem Genie ſein! 

Selicour, Aber erlauben Sie — Ich weiß nicht, ob 
ich es annehmen darf — Zufrieden mit meinem jetzigen 
Loſe — N 

Narbonne. Sie müſſen ſich von allem losreißen, 
wenn der Staat Sie anderswo nötig hat. 

Selicour. Dürfte ich mir nicht wenigſtens Herrn 
Firmin zu meinem Sekretär ausbitten? 

Zirmin, Wo denken Sie hin? Mich? Mich? Zu 
Ihrem Sekretär? 

Selicour. Ja, Herr Firmin! Ich habe Sie ſehr 
nötig. 

Karl. Das will ich glauben. 

Narbonne. Das wird ſich finden! Nun! Wie ijt 
die Muſik abgelaufen? 

Selicour. Fräulein Charlotte hat ganz himmliſch 
geſungen. 


5. Auftritt 
Michel zu den Vorigen. 


Michel. Die Geſellſchaft iſt im Saal verſammelt — 
Narbonne. Sie ſind fo gütig, liebe Mutter, fie zu 
empfangen — Ich will dieſes jetzt auf der Stelle abſenden 
— (eeiſe zu Selieour.) Gewinnen Sie die Einwilligung 
meiner Tochter, und mit Freuden erwähle ich Sie zum 
Sohn — Noch einmal! Das Werk iſt vortrefflich, und 
ich gäbe viel darum, es gemacht zu haben. (Ab.) 
Selicour (gu Karl). Nun, genießen Sie Ihres Triumphs, 
Herr Firmin! — Gu Chartotten.) Unſer junger Freund 
weiß die Komplimente ganz gut aufzunehmen. 
Charlotte. Nach den hübſchen Sachen, die ich von 


308 Der Parafit 


ihm geſehen, hätte ich nicht geglaubt, daß er nötig haben 
würde, ſich mit fremden Federn zu ſchmücken. 

Selicour. Bloße Gefälligkeit, mein Fräulein! — Aber 
die Geſellſchaft wartet — 

Firmin (gu ſeinem Sohn). Nun, du haſt ja ganz gewal⸗ 
tiges Lob eingeerntet! (Selicour gibt Charlotten ſeinen Arm.) 

Karl. Ja, ich hab' Urſache, mich zu rühmen. 

Mad. Belmont (zu Selicour). Recht, recht! Führen Sie 
Charlotten — Es kleidet ihn doch alles. Er iſt ein ſchar⸗ 
manter Mann! (Sie nimmt Firmins Arm.) 

Selicour (auf Firmin zeigend). Dieſem Herrn, nicht mir 
gebührt das Lob — Ich weiß in der Tat nicht, wie ich 
mir's zueignen darf — Alles, was ich bin, was ich gelte, 
iſt ja fein Verdienſt. (Gehen ab.) 


6. Auftritt 
Karl allein zurückbleibend. 


Meine Unruhe würde mich verraten. — Ich muß 
mich erſt faſſen, eh' ich ihnen folgen kann. Habe ich wirk⸗ 
lich die Geduld gehabt, dies alles zu ertragen? — Ein 
ſchöner Triumph, den ich davontrug. — Aus Spott machten 
ſie mir das Kompliment. — Es iſt offenbar, daß ſie ihn, 
und nicht mich für den Verfaſſer halten. Ich bin ihr 
Narr, und der Schelm hat allein die Ehre. 


7. Auftritt 
Karl. La Roche. 
Ta Noche. Sieh da, Herr Firmin! — So ganz allein 
— Es geht alles nach Wunſch vermutlich. 
Karl. O ganz vortrefflich! 
Ta Voche. Ich habe auch gute Hoffnung. 


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Vierter Aufzug. 7. Auftritt 309 


Karl. Selicour ſteht in größerm Anſehen als jemals. 

Ta Noche. Sieh doch! Was Sie ſagen! 

Karl. Es gibt keinen fähigern Kopf, keinen bravern 
Biedermann. 

La Roche. Iſt's möglich? Aber dieſer wichtige Auf⸗ 
ſatz, den der Miniſter ihm aufgetragen und dem er ſo 
ganz und gar nicht gewachſen iſt. 

Karl. Der Aufſatz iſt fertig. 

Ta Noche. Gehen Sie doch! 

Karl. Er iſt fertig, ſag' ich Ihnen. 

Ta Voche. Sie ſpotten meiner! Es iſt nicht möglich. 

Karl. Ein Meiſterſtück an Stil und Inhalt! 

Ta Rothe. Es ijt nicht möglich, jag’ ich Ihnen! 

Karl. Ich ſage Ihnen, es ijt! — Der Aufſatz iſt 
geleſen, bewundert und wird jetzt eben abgeſchickt. 

Ta Noche. So muß er einen Teufel in ſeinem Golde 
haben, der für ihn arbeitet. 

Karl. Und dieſe Geſandtſchaftsſtelle! 

Ta Noche. Nun, die Geſandtſchaft — 

Karl. Er erhält ſie! Er erhält die Hand des 
Fräuleins! 

Ta Roche. Sie kann ihn nicht leiden. 

Karl. Sie wird nachgeben. 

Ta Noche. Die Geſandtſchaft mit ſamt dem Mädchen! 
Nein, beim Teufel! Das kann nicht ſein! Das darf 
nicht fein! — Wie? Was? Dieſer Heuchler, dieſer nieder⸗ 
trächtige Bube ſollte einen Preis hinwegſchnappen, der 
nur der Lohn des Verdienſtes iſt. — Nein, ſo wahr ich 
lebe! Das dürfen wir nicht zugeben, wir, die wir ihn 
kennen. Das iſt gegen unſer Gewiſſen, wir wären ſeine 
Mitſchuldigen, wenn wir das duldeten! 

Karl. Gleich, auf der Stelle will ich die Groß⸗ 
mutter aufſuchen. — Ich will ihr die Augen öffnen wegen 
des Gedichts — 


310 Der Parafit 


Ta Roche. Wegen des Gedichts — Von dem Gedicht 
iſt hier auch die Rede — Bei der alten Mama mag er 
ſich damit in Gunſt ſetzen, aber meinen Sie, daß der 
Miniſter ſich nach ſo einer Kleinigkeit beſtimmen laſſe — 
Nein, Herr! Dieſes Memoire iſt's, das ſo vortrefflich 
ſein ſoll und das er irgendwo muß herbeigehext haben 
— denn gemacht hat er's nicht, nun und nimmer, darauf 
ſchwör' ich — aber ſeine ganze Hexerei ſind ſeine Kniffe! 
Und mit ſeinen eignen Waffen müſſen wir ihn ſchlagen. 
Auf dem geraden Wege ging's nicht — ſo müſſen wir einen 
krummen verſuchen. Halt, da fällt mir ein — Ja, das 
wird gehen — Nur fort — fort, daß man uns nicht bei⸗ 
ſammen findet. 

Karl. Aber keine Unbeſonnenheit, Herr La Roche! 
Bedenken Sie, was auf dem Spiele ſteht! 

Ta Voche. Meine Ehre ſteht auf dem Spiele, junger 
Herr, und die liegt mir nicht weniger am Herzen, als 
euch die Liebe. — Fort! Hinein! Sie ſollen weiter von 
mir hören. 


8. Auftritt 


La Roche allein. 


Laß ſehen — Er ſuchte von jeher die ſchwachen Seiten 
ſeiner Obern auszuſpüren, um ſich ihnen notwendig zu 
machen. Noch dieſen Morgen hatte er's mit dem Kammer⸗ 
diener — Der Kerl iſt ein Plauderer — Es wollte etwas 
von einem galanten Abenteuer des Miniſters verlauten 
— Er habe Zimmer beſprochen in der Vorſtadt. — Ich 
glaube kein Wort davon, aber man könnte verſuchen — 
Doch ſtill! Da kömmt er! 


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Vierter Aufzug. 9. Auftritt 811 


9. Auftritt 
La Roche und Selicour. 


Selicour (ohne ihn zu bemerken). Alles geht nach Wunſch, 
und doch bin ich nicht ganz ohne Sorgen — Noch hab' 
ich weder die Stelle noch die Braut, und da iſt Sohn 
und Vater, die mir auf den Dienſt lauern und mir jeden 

6 Augenblick beides wegfiſchen können — Wenn ich ſie ent⸗ 
fernen könnte — Aber wie? Dem Miniſter iſt nicht bei⸗ 
zukommen — Dieſe Leute, die ihren geraden Weg gehen, 
brauchen niemand — man kann ſie nicht in ſeine Gewalt 
bekommen — Ja, wenn er etwas zu vertuſchen hätte — 

10 wenn ich ihm eine Schwäche ablauern könnte, die mich 
ihm unentbehrlich machte! 

Ta Rothe (vor ſich). Recht jo! Der läuft mir in die 
Hände! 

Selicour. Ach, ſieh da! Herr La Roche! 

15 Ta Roche. Ich bin's, und ich komme, Herr Selicour — 

Selicour. Was wollen Sie? 

Ta Noche. Mein Unrecht einzugeſtehen! 

Selicour. Aha! 

Ta Noche. Das mir nicht einmal etwas geholfen hat! 

20 Kelicour. Das iſt das Beſte! denn es lag wahrlich 
nicht an Ihrer boshaften Zunge, wenn ich nicht ganz zu 
Grunde gerichtet bin. 

Ta Noche. Das iſt leider wahr, und ich darf daher 
kaum hoffen, daß Sie mir vergeben können. 

25 Selicour. Aha! Steht es ſo? Fangen wir an, ge⸗ 
ſchmeidiger zu werden? 

Ta Noche. Zu der ſchönen Stelle, die Sie mir zu⸗ 
gedacht haben, kann ich mir nun wohl keine Hoffnung 
mehr machen — Aber um unſerer alten Freundſchaft willen, 

zo ſchaden Sie mir wenigſtens nicht! 


312 Der Paraſit 


Selicour. Ich Ihnen ſchaden! 

Ta Roche. Tun Sie's nicht! Haben Sie Mitleid 
mit einem armen Teufel! 

Selicour. Aber — 

Ta Noche. Und da ſich jemand gefunden, der ſich 
bei dem Miniſter meiner annehmen will — 

Selicour. So? Hat ſich jemand? Und wer iſt das? 

Ta Noche. Eine Dame, an die der Kammerdiener 
Michel mich gewieſen hat. 

Selicour. Kammerdiener Michel! So! Kennen Sie 
dieſen Michel? 

Ta Noche. Nicht viel! Aber, weil es fein Neffe iſt, 
der mich aus meiner Stelle vertreibt, ſo will er mir gern 
einen Gefallen erzeigen — 

Selicour. Die Dame iſt wohl eine Anverwandte vom 
Miniſter? 

Ta Voche. Sie ſoll ein ſchönes Frauenzimmer ſein 
— er ſoll in der Vorſtadt ein Quartier für ſie ſuchen — 

Selicour. Gut, gut, ich will ja das alles nicht wiſſen. 
— Und wie heißt die Dame? 

La Roche. Das weiß ich nicht. 

Selicour. Gut! Gut! 

Ta Noche. Michel wird Ihnen wohl Auskunft darüber 
geben können. 

Selicour. Mir? Meinen Sie, daß mir ſo viel 
daran liege? 

Ta Noche. Ich ſage das nicht. 

Selicour. Ich frage nichts darnach — Ich bekümmre 
mich ganz und gar nicht um dieſe Sachen — Morgen 
wollen Sie dieſe Dame ſprechen? 

Ta Noche. Morgen. 

Selicour. Es ſcheint da ein großes Geheimnis — 

Ta Voche (ſchnel). Freilich! Freilich! Darum bitte 
ich Sie, ſich ja nichts davon merken zu laſſen — 


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Fünfter Aufzug. 1. Auftritt 313 


Selicour. Gut! Gut! Nichts mehr davon — Ich 
werde Ihnen nicht ſchaden, Herr La Roche! — Es iſt 
einmal mein Schickſal, Undankbare zu verpflichten — 
Trotz der ſchlimmen Dienſte, die Sie mir haben leiſten 

6 wollen, liebe ich Sie noch — und daß Sie ſehen, wie 
weit meine Gefälligkeit geht, ſo will ich mit Ihrer Be⸗ 
ſchützerin gemeine Sache machen — Ja, das will ich — 
Zählen Sie darauf. 

Ta Roche. Ach, Sie find gar großmütig! 

10 Selicour. Aber laſſen Sie ſich das künftig zur Lehre 
dienen — 

Ta Noche. O gewiß, Sie ſollen ſehen — 

Selicour. Genug. Laſſen wir's gut fein. 

Ta Voche (beiſeite'. Er hat angebiſſen. Er iſt fo gut 

1s als ſchon gefangen! Wie viel ſchneller kommt man doch 
mit der Spitzbüberei als mit der Ehrlichkeit. (Ab.) 

Selicour. Jetzt gleich zu dieſem Kammerdiener Mi⸗ 
chel! — Es iſt hier ein Liebeshandel. Ganz gewiß — 
Vortrefflich! Ich halte dich feſt, Narbonne! — Du biſt 

20 alſo auch ein Menſch — Du haſt Schwachheiten — und 
ich bin dein Gebieter. (Geht ab.) 


Fünfter Aufzug 
1. Auftritt 
La Roche kommt. 
Sie ſitzen noch an Tafel — Er wird gleich her⸗ 
auskommen, der Miniſter — Hab' ich mich doch ganz 


außer Atem gelaufen — Aber, dem Himmel ſei Dank, 
25 ich bin auf der Spur, ich weiß alles — Hab' ich dich 


314 Der Paraſit 


endlich, Freund Selicour! — Mit dem Miniſter war nichts 
für dich zu machen, ſo lang' er tugendhaft war — aber 
Gott ſegne mir ſeine Laſter! Da gibt's Geheimniſſe zu 
verſchweigen! Da gibt's Dienſte zu erzeigen! Und der Ver⸗ 
traute, der Kuppler hat gewonnen Spiel — Er glaubt 
dem Miniſter eine Schwachheit abgemerkt zu haben — 
Welch herrlicher Spielraum für ſeine Niederträchtigkeit! 
— Nur zu! Nur zu! Wir ſind beſſer unterrichtet, Freund 
Selicour! — und dir ahnet nicht, daß wir dir eine böſe, 
böſe Schlinge legen — Der Miniſter kommt — Mut 
gefaßt! Jetzt gilt es, den entſcheidenden Streich zu tun. — 


2. Auftritt 
Narbonne. La Roche. 


Narbonne. Was ſeh' ich? Sind Sie es ſchon wieder, 
der mich hat herausrufen laſſen? 

Ta Rote. Möge dies die letzte Unterredung fein, 
die Sie mir bewilligen, Herr von Narbonne, wenn ich 
Sie auch diesmal nicht überzeugen kann — Ihre eigene 
Ehre aber und die meine erfordern es, daß ich darauf 
beſtehe — Alles, was ich bis jetzt verſucht habe, dieſen 
Herrn Selicour in Ihrer guten Meinung zu ſtürzen, iſt 
zu ſeiner Ehre und zu meiner Beſchämung ausgeſchlagen 
— dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf, ihn endlich 
zu entlarven. 

Narbonne. Das geht zu weit! Meine Geduld iſt am 
Ende! 

Ta Noche. Ein einziges Wort, Herr Miniſter! — 
Sie ſuchen eben jetzt ein Quartier in der Vorſtadt? Iſt's 
nicht jo? b 

Narbonne. Wie? Was iſt das? 

Ta Noche. Es iſt für ein Frauenzimmer beſtimmt, 


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Fünfter Aufzug. 3. Auftritt 315 


die ſich mit ihrer ganzen Familie im größten Elend be- 
findet. Hab' ich nicht Recht? 

Narbonne. Wie? Was? Sie erdreiſten ſich, meinen 
Schritten nachzuſpüren? 

Ta Noche. Zürnen Sie nicht — Ich hab' es bloß 
Ihrem Freund Selicour nachgetan. Er war es, der 
dieſen Morgen zuerſt dieſe Nachricht von Ihrem Kammer⸗ 
diener herauszulocken wußte — Er gab der Sache ſo⸗ 
gleich die beleidigendſte Auslegung — Ich hingegen habe 
Urſache, ganz anders davon zu denken. Denn daß ich's 
nur geſtehe, ich ſtellte genauere Nachforſchung an — ich 
war dort — ich ſah das Frauenzimmer, von dem die Rede 
iſt — ler lacht) ſie hat ein ganz anſehnliches Alter — Seli⸗ 
cour hält ſie für eine junge Schönheit — O entrüſten 
Sie ſich nicht — ich bitte — laſſen Sie ihn ankommen! 
Hören Sie ihn zu Ende, und wenn Sie ihn nicht als 
einen ganzen Schurken kennen lernen, ſo will ich mein 
ganzes Leben lang ein Schelm ſein. — Da kommt er — 
ich will ihm nur Platz machen, damit Sie's auf der 
Stelle ergründen. (Ab.) 

Narbonne. Der raſende Menſch! Wie weit ihn ſeine 
Leidenſchaft verblendet! Wie? Selicour könnte — Nein, 
nein, nein, nein, es iſt nicht möglich! nicht möglich! 


3. Auftritt 


Narbonne. Selicour. 


Gelicour (beiſeite). Er ijt allein! Jetzt kann ich's an⸗ 
bringen! — Wenn ich jetzt nicht eile, mich ihm notwendig 
zu machen, fo ſetzt dieſer Firmin ſich in ſeine Gunſt. — 
Hab' ich einmal ſein Geheimnis, ſo iſt er ganz in meinen 
Händen. 

Narbonne. Ich denke eben daran, lieber Selicour, 


316 Der Parafit 


was man im Miniſterium zu Ihrem Aufſatz ſagen wird 
— Ich hab' ihn ſogleich abgehen laſſen, er wird dieſen 
Augenblick geleſen, und ich zweifle nicht, er wird den 
vollkommenſten Beifall haben. 

Selicour. Wenn er den Ihrigen hat, fo find alle 
meine Wünſche befriedigt. (Vor ſich.) Wie leit' ich's nur 
ein? — Wagen kann ich dabei nichts, denn die Sache 
iſt richtig. Ich will nur gerade zugehen — 

Narbonne. Sie ſcheinen in Gedanken, lieber Selicour! 

Selicour. Ja — ich — ich denke nach, welche bos⸗ 
hafte Auslegungen doch die Verleumdung den unſchuldig⸗ 
ſten Dingen zu geben im ſtand iſt! 

Narbonne. Was meinen Sie damit? 

Selicour. Es muß heraus — Ich darf es nicht länger 
bei mir behalten — Böſe Zungen haben ſich Angriffe 
gegen Sie erlaubt — Es hat verlauten wollen — Ich 
bitte — beantworten Sie mir ein paar Fragen, und ver⸗ 
zeihen Sie der beſorgten Freundſchaft, wenn ich unbeſcheiden 
ſcheine. 

Narbonne. Fragen Sie! Ich will alles beantworten. 

Selicouur. Wenn ich Ihrem Kammerdiener glauben 
darf, ſo ſuchen Sie ein Quartier in der Vorſtadt. 

Narbonne. Weil Sie es denn wiſſen — ja. 

Selicour. Und ganz in geheim, hör' ich. 

Narbonne. Ich habe bis jetzt wenigſtens ein Ge⸗ 
heimnis daraus gemacht. 

Selicour. Für ein unverheiratetes Frauenzimmer? 

Narbonne. Ja! 

Selicour, Die Ihnen ſehr — (ftoat) ſehr wert iſt? 

Narbonne. Ich geſtehe es, ich nehme großen Anteil 
an ihr. 

Selicour (vor ſich. Er hat es gar keinen Hehl — Die 
Sache iſt richtig. — (Laut.) Und Sie möchten gern das 
Aufſehen vermeiden, nicht wahr? 


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Fünfter Aufzug. 3. Auftritt 317 


Narbonne. Wenn es möglich wäre, ja! 

Selicour. Ach gut! Gut! Ich verſtehe! Die Sache 
iſt von zärtlicher Natur, und die Welt urteilt ſo boshaft. 
— Aber ich kann Ihnen dienen. 

Narbonne. Sie? 

Selicour. Kann Ihnen dienen! Verlaſſen Sie ſich 
auf mich. 

Narbonne. Aber wie denn? 

Selicour. Ich ſchaffe Ihnen, was Sie brauchen. 

Narbonne. Wie denn? Was denn? 

Selicour. Ich hab's! Ich ſchaff's Ihnen — Ein 
ſtilles Häuschen, abgelegen — einfach von außen und 
unverdächtig! — Aber innen aufs zärtlichſte eingerichtet 
— die Möbel, die Tapeten nach dem neueſten Geſchmack 
— ein Kabinett — himmliſch und reizend — kurz — das 
ſchönſte Boudoir, das weit und breit zu finden. 

Narbonne (vor ſich). Sollte La Roche Recht behalten — 
(Laut.) Und welche geheime Urſache hätte ich, ein ſolches 
Quartier zu ſuchen? 

Selicour (lächelnd). In Sachen, die man vor mir ge⸗ 
heim halten will, weiß ich mich einer vorlauten Neugier 
zu enthalten — Erkennen Sie übrigens einen dienſtfertigen 
Freund in mir — Es iſt nichts, wozu ich nicht bereit 
wäre, um Ihnen gefällig zu ſein. Befehlen Sie, was 
Sie wollen, ich werde gehorchen, ohne zu unterſuchen — 
Sie verſtehen mich. 

Narbonne. Vollkommen. 

Selicour. Man muß Nachſicht haben. — Ich — ich 
halte zwar auf gute Sitten — Aber, was dieſen Punkt 
betrifft — Wenn man nur den öffentlichen Anſtoß ver⸗ 
meidet — Ich gehe vielleicht darin zu weit — aber das 
gute Herz reißt mich hin — und mein höchſter Wunſch 
iſt, Sie glücklich zu ſehen — 


318 Der Parafit 


4. Auftritt 
Vorige. Michel. 


Michel. Soeben gibt man dieſe Briefe ab. 

Narbonne (zu Selicour). Die ſind für Sie. 

Selicour. Mit Ihrer Erlaubnis! Es ſind Geſchäfts⸗ 
briefe, die gleich expediert fein wollen — Friſch zur Ar⸗ 
beit und friſch ans Vergnügen. So bin ich einmal! (Geht ab.) 


5. Auftritt 


Narbonne allein. 


Kaum kann ich mich von meinem Erſtaunen erholen 
— Dieſer Selicour — ja, nun zweifle ich nicht mehr, 
dieſer Selicour war der ſchändliche Helfershelfer meines 
Vorgängers — Ich gebe mich nicht für beſſer als andere, 
jeder hat ſeine Fehler — aber ſich mit dieſer Scham⸗ 
loſigkeit anzubieten — Und dieſem Nichtswürdigen wollte 
ich mein Kind hinopfern — mit dieſem Verräter wollte 
ich den Staat betrügen? — Aus Freundſchaft will er 
alles für mich tun, ſagt er! Sind das unſere Freunde, 
die unſern Laſtern dienen? 


6. Auftritt 
Narbonne und La Roche. 
Ta Noche. Nun, er ging ſoeben von Ihnen hinweg 
— darf ich fragen? 
Narbonne. Ich habe Sie und ihn unrecht beur⸗ 
teilt — Sie haben mir einen weſentlichen Dienſt erzeigt, 


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Herr La Roche, und ich laſſe Ihnen endlich Gerechtigkeit 20 


widerfahren! 


Fünfter Aufzug. 6. Auftritt 319 


Ta Voche (mit freudiger Rührung). Bin ich endlich für 
einen redlichen Mann erkannt? Darf ich das Haupt 
wieder frei erheben? 

Narbonne. Sie haben es erreicht — Sie haben den. 
Betrüger entlarvt — Aber, wie ſoll ich eine ſo lang' be⸗ 
währte Überzeugung aufgeben, daß Geiſt und Talent bei 
keinem verderbten Herzen wohnen? — Dieſer Menſch, 
den ich jetzt als einen Niederträchtigen kennen lerne, er 
hat mir noch heute eine Schrift zugeſtellt, die dem größ⸗ 
ten Staatsmann und Schriftſteller Ehre machte — Iſt 
es möglich? Ich begreife es nicht — So geſunde Be⸗ 
griffe, ſo viel Geiſt bei einem ſo weggeworfenen Charakter! 
Ich habe das Memoire auf der Stelle ans Gouverne⸗ 
ment geſendet, und ich will wetten, daß die Briefe, die 
ich ſoeben erhalte, von dem Lobe desſelben voll ſind. (er 
erbricht einen der Briefe und lieſt.) Ganz richtig! Es ijt, wie 
ich ſagte! 

Ta Noche. Ich kann nicht daraus klug werden — 
Das Werk iſt alſo wirklich gut? 

Narbonne. Vortrefflich! 

Ta Noche. So wollte ich wetten, daß er nicht der 
Verfaſſer iſt! 

Narbonne. Wer ſollte es denn fein? 

Ta Noche. Er iſt's nicht, ich will meine Seele zum 
Pfand ſetzen — denn am Ende will ich ihm doch noch 
eher Herz als Kopf zugeſtehen. — Wenn man verſuchte — 
Ja! — Richtig — Ich hab' es! — Das muß gelingen — 
Herr von Narbonne! Wenn Sie mir beiſtehen wollen, ſo 
ſoll er ſich ſelbſt verraten. 

Narbonne. Wie denn? 

Ta Roche. Laſſen Sie mich machen — Er kömmt! 
Unterſtützen Sie mich! 


320 Der Parafit 


7. Auftritt 
Vorige. Selicour. 


Ta Rothe (mit Leidenſchaft). Mein Gott! Welches ent⸗ 
ſetzliche Unglück! 

Selicour. Was gibt's, Herr La Roche? 

Ta Roche. Welche Veränderung in einem einzigen 
Augenblick! 

Selicaur. Was haben Sie? Was bedeutet dieſes 
Jammern, dieſer Ausruf des Schreckens? 

Ta Voche. Ich bin wie vom Donner getroffen! 

Selicour. Aber was denn? 

Ta Noche. Dieſer Unglücksbrief — Soeben erhält 
ihn der Miniſter — (gu Narbonne.) Darf ich? Soll ich? 

Narbonne. Sagen Sie alles! 

Ta Noche. Er iſt geſtürzt! 

Selicour. Um Gottes willen! 

Ta Roche. Seines Amtes entlaſſen! 

Selicour. Es ijt nicht möglich! 

Ta Noche. Nur zu wahr! Es wollte ſchon vorhin 
etwas davon verlauten; ich wollt' es nicht glauben, ich 
eilte hieher, mich ſelbſt zu unterrichten — und nun be⸗ 
ſtätigt es der Miniſter ſelbſt! 

Selicaur. So iſt fie wahr, dieſe ſchreckliche Neuig⸗ 
keit? (Narbonne beſtätigt es mit einem ſtummen Zeichen.) 


Letzter Auftritt 
Vorige. Madame Belmont. Charlotte. Beide Firmin. 


Ta Noche. Kommen Sie, Madame! Kommen Sie, 
Herr Firmin! — 
Mad. Belmont. Was gibt's? 


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Fünfter Aufzug. 8. Auftritt 321 


Ta Noche. Tröſten Sie unſern Herrn — Sprechen 
Sie ihm Mut zu in ſeinem Unglücke! 

Mad. Belmont. Seinem Unglücke! 

Charlotte. Mein Gott! Was iſt das? 

Ta Roche. Er hat ſeine Stelle verloren. 

Charlotte. Großer Gott! 

Selicour. Ich bin erſtaunt, wie Sie! 

Mad. Belmont. Wer konnte ein ſolches Unglück vor⸗ 
herſehen! 

Karl (leidenſchaftlich)'. So iſt das Talent geächtet, fo ijt 
die Redlichkeit ein Verbrechen in dieſem verderbten Lande! 
Der rechtſchaffene Mann behauptet ſich kaum einen Tag 
lang, und das Glück bleibt nur dem Nichtswürdigen 
getreu. 

Narbonne (ſehr ernſt). Nichts übereilt, junger Mann! — 
Der Himmel iſt gerecht, und früher oder ſpäter erreicht 
den Schuldigen die Strafe. 

Selicour. Aber ſagen Sie mir! Kennt man denn nicht 
wenigſtens die Veranlaſſung dieſes unglücklichen Vorfalls? 

Ta Noche. Leider, nur zu gut kennt man fie. Ein 
gewiſſes Memoire iſt ſchuld an dem ganzen Unglück. 

Firmin (lebhaft). Ein Memoire! Zum Miniſter.) Das⸗ 
ſelbe vielleicht, das ich Sie heute leſen ſah? 

Selicour. Wo die Regierung ſelbſt mit einer Freiheit, 
einer Kühnheit behandelt wurde — 

Ta Noche. Ganz recht! Das nämliche. 

Selicour. Nun, da haben wir's! Hatte ich nun Un⸗ 
recht, zu ſagen, daß es nicht immer rätlich iſt, die Wahr⸗ 
heit zu ſagen? 

Narbonne. Wo die Pflicht ſpricht, da bedenke ich nichts. 
Und was auch der Erfolg ſei, nie werde ich's bereuen, 
meine Pflicht getan zu haben. 

Selicour. Schön gedacht! Allerdings! aber es koſtet 


Ihnen auch einen ſchönen Platz! 
Schillers Werke. IX. 21 


822 Der Paraſit 


Ta Noche. Und damit iſt's noch nicht alle! Es könnten 
wohl auch noch andre um den ihrigen kommen. — Man 
weiß, daß ein Miniſter ſelten Verfaſſer der Schriften iſt, 
die aus ſeinen Bureaus herauskommen. 

Selicour. Wie fo? Wie das? 

Ta Noche (vor ſich). Bei dem fällt kein Streich auf die 
Erde! 

Firmin. Erklären Sie ſich deutlicher! 

Ta Voche. Man will ſchlechterdings herausbringen, 
wer dieſe heftige Schrift geſchmiedet hat. 

Selicour. Will man? Und da würde er wohl in den 
Sturz des Miniſters mit verwickelt werden? 

Ta Noche. Freilich! Dad ijt ſehr zu beſorgen. 

Selicour. Nun, ich bin's nicht! 

Tirmin. Ich bin der Verfaſſer! 

Narbonne. Was hör' ich? 

Mad. Belmont. Was? Sie, Herr Firmin? 

Eirmin. Ich bin's, und ich rühme mich deſſen. 

Ta Rothe (zu Narbonne). Nun, was ſagt' ich Ihnen? 

Firmin. Den Ruhm dieſer Arbeit konnte ich dem 
Herrn Selicour gern überlaſſen, aber nicht ſo die Gefahr 
und die Verantwortung — Ich habe geſchwiegen bis jetzt, 
aber nun muß ich mich nennen. 

Karl. Recht ſo, mein Vater! Das heißt als ein 
Mann von Ehre geſprochen — Seien Sie auf Ihr Un⸗ 
glück ſtolz, Herr von Narbonne! — Mein Vater kann 
nichts Strafbares geſchrieben haben — O mein Herz ſagt 
mir, dieſer Unfall kann eine Quelle des Glückes werden 
— Charlottens Hand wird kein Opfer der Verhältniſſe 
mehr ſein — Die Größe verſchwindet, und Mut gewinnt 
die furchtſame Liebe. 

Mad. Belmont. Was hör' ich! Herr Firmin! 

Tirmin. Verzeihen Sie der Wärme ſeines Anteils, 
ſein volles Herz vergreift ſich im Ausdruck ſeiner Gefühle! 


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Fünfter Aufzug. 8. Auftritt 323 


Narbonne. So hat denn jeder von Ihnen fein Geheim⸗ 
nis verraten. — Herr Firmin! Sie ſind der Verfaſſer 
dieſes Memoire, ſo iſt es billig, daß Sie auch den Ruhm 
und die Belohnung davon ernten. — Das Gouvernement 
ernennt Sie zum Geſandten — (Da alle ihr Erſtaunen bezeugen.) 
Ja, ich bin noch Miniſter, und ich freue mich, es zu ſein, 
da ich es in der Gewalt habe, das wahre Verdienſt zu 
belohnen. 

Mad. Belmont. Was iſt das? 

Selicour (in der höchſten Beſtürzung). Was hab' ich gemacht! 

Narbonne (zu Selieour). Sie ſehen Ihr Spiel verraten 
— Wir kennen Sie nun, Heuchler an Talent und an 
Tugend — Niedriger Menſch, konnten Sie mich für 
Ihresgleichen halten? 

Ta Noche. Wie ſchändlich er eine edle Tat auslegte! 
Ich weiß alles aus dem Munde der Dame ſelbſt. Dieſes 
Frauenzimmer, für das er Ihnen eine ſtrafhare Neigung 
andichtete — es iſt eine kranke, eine bejahrte Matrone, 
die Witwe eines verdienſtvollen Offiziers, der im Dienſt des 
Vaterlandes ſein Leben ließ und gegen den Sie die Schuld 
des Staats bezahlten. 

Narbonne. Nichts mehr davon, ich bitte Sie! — (gu 
Selicour.) Sie ſehen, daß Sie hier überflüſſig find. (Selicour 
entfernt ſich ſtill.) 

Ta Roche. Es tut mir leid um den armen Schelm 
— wohl wußt' ich's vorher, mein Haß würde ſich legen, 
ſobald es mit ſeiner Herrlichkeit aus ſein würde. 

Eirmin (drückt ihm leiſe die Hand). Laſſen Sie's gut fein. 
Wir wollen ihn zu tröſten ſuchen. 

Ta Noche. Bafta, ich bin dabei! 

Narbonne (zu Karl). Unſer lebhafter junger Freund 
iſt auf einmal ganz ſtumm geworden — Ich habe in 
Ihrem Herzen geleſen, lieber Firmin! — Der Überraſchung 
danke ich Ihr Geheimnis und werde es nie vergeſſen, 


324 Der Paraſit 


daß Ihre Neigung bei unſerm Glücke beſcheiden ſchwieg 
und nur laut wurde bei unſerm Unglück. — Charlotte! 
(Sie wirſt ſich ſchweigend in ihres Vaters Arme.) Gut, wir ver⸗ 
ſtehen uns! Erwarte alles von deines Vaters Liebe. 

Ta Noche. Und ich will darauf ſchwören, Karl Firmin 
iſt der wahre Verfaſſer des Gedichts. 

Mad. Belmont. Wär's möglich? 

Charlotte (mit einem zärtlichen Blick auf Karln). Ich habe 
nie daran gezweifelt! (Karl tüßt ihre Hand mit Feuer.) 

Mad. Belmont. O der beſcheidene junge Mann! 
Gewiß, er wird unſer Kind glücklich machen! 

Uarbonne. Bilden Sie ſich nach Ihrem Vater, und 
mit Freuden werde ich Sie zum Sohn annehmen — 
(Halb zu den Mitſpielenden, halb zu den Zuschauern.) Diesmal hat 
das Verdienſt den Sieg behalten. — Nicht immer iſt es 
ſo. Das Geſpinſt der Lüge umſtrickt den Beſten, der 
Redliche kann nicht durchdringen, die kriechende Mittel⸗ 
mäßigkeit kommt weiter als das geflügelte Talent: der 
Schein regiert die Welt — und die Gerechtigkeit iſt nur 
auf der Bühne. 


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Der Neffe als Onkel 


Luſtſpiel in drei Aufzügen 


Aus dem Franzöſiſchen des Picard 


Perſonen 


Oberſt von Dorſigny. 

Frau von Dorſigny. 

Sophie, ihre Tochter. 

Franz von Dorſigny, ihr Neffe. 
Frau von Mirville, ihre Nichte. 
Lormeuil, Sophiens Bräutigam. 
Valcour, Freund des jungen Dorſigny. 
Champagne, Bedienter des jungen Dorſigny. 
Ein Notar. 

Zwei Unteroffiziere. 

Ein Poſtillon. 

Jasmin, Diener in Dorſignys Hauſe. 
Drei Lakaien. 


Die Szene iſt ein Saal mit einer Tür in Fond, die zu 
einem Garten führt. Auf beiden Seiten ſind Kabinettstüren. 


Erſter Aufzug 


1. Auftritt 


Valeour tritt eilfertig herein, und nachdem er ſich überall umgeſehen, ob 
niemand zugegen, tritt er zu einem von den Wachslichtern, die vorn auf 
einem Schreibtiſch brennen, und lieſt ein Billet. 

„Herr von Valcour wird erſucht, dieſen Abend um 
ſechs Uhr ſich im Gartenſaal des Herrn von Dorſigny 
einzufinden. Er kann zu dem kleinen Pförtchen herein⸗ 
kommen, das den ganzen Tag offen ijt.” — Keine Unter- 
ſchrift! — Hm! Hm! Ein ſeltſames Abenteuer — Iſt's 
vielleicht eine hübſche Frau, die mir hier ein Rendezvous 
geben will — das wäre allerliebſt. — Aber ſtill! Wer 
ſind die beiden Figuren, die eben da eintreten, wo ich 
hereingekommen bin? 


2. Auftritt 


Franz von Dorſigny und Champagne, beide in Mäntel eingewickelt. 
Valcour. 

Dorfigny (ſeinen Mantel an Champagne gebend). Ei guten 
Abend, lieber Valcour. . 

Valcour. Was? Lift du's, Dorſigny? Wie kommt 
du hieher? Und wozu dieſe ſonderbare Ausſtaffierung — 
dieſe Perücke und dieſe Uniform, die nicht von deinem 
Regiment iſt? 

Dorfigny. Meiner Sicherheit wegen. — Ich habe 
mich mit meinem Oberſtleutnant geſchlagen, er iſt ſchwer 


330 Der Neffe als Onkel 


verwundet, und ich komme, mich in Paris zu verbergen. 
Weil man mich aber in meiner eigenen Uniform gar zu 
leicht erkennt, ſo habe ich's fürs ſicherſte gehalten, das 
Koſtüm meines Onkels anzunehmen. Wir ſind ſo ziem⸗ 
lich von einem Alter, wie du weißt, und einander an 
Geſtalt, an Größe, an Farbe bis zum Verwechſeln ähn⸗ 
lich und führen überdies noch einerlei Namen. Der ein⸗ 
zige Unterſchied iſt, daß der Oberſt eine Perücke trägt 
und ich meine eigene Haare — Jetzt aber, ſeitdem ich 
mir ſeine Perücke und die Uniform ſeines Regiments zu⸗ 
legte, erſtaune ich ſelbſt über die große Ahnlichkeit mit 
ihm. In dieſem Augenblick komme ich an und bin er⸗ 
freut, dich ſo pünktlich bei dem Rendezvous zu finden. 

Dalcour. Bei dem Rendezvous? Wie? Hat fie dir 
auch was davon vertraut? 

Dorfigny. Sie? Welche Sie? 

Valcour. Nun, die hübſche Dame, die mich in einem 
Billet hieher beſchieden! Du biſt mein Freund, Dorſigny, 
und ich habe nichts Geheimes vor dir. 

Dorſigny. Die allerliebſte Dame! 

Valcour. Worüber lachſt du? 

Dorfigny. Ich bin die ſchöne Dame, Valcour. 

Valcour. Du? 

Dorſigng. Das Billet iſt von mir. 

Valcour. Ein ſchönes Quiproquo, zum Teufel — 
Was fällt dir aber ein, deine Briefe nicht zu unterzeich— 
nen? — Leute von meinem Schlag können ſich bei ſolchen 
Billets auf etwas ganz anders Rechnung machen — Aber 
da es ſo ſteht! Gut! Wir nehmen einander nichts übel, 
Dorſigny — Alſo ich bin dein gehorſamer Diener. 

Dorſignyg. Warte doch! Warum eilſt du fo hinweg? 
Es lag mir viel daran, dich zu ſprechen, ehe ich mich vor 
jemand anderem ſehen ließ. Ich brauche deines Bei⸗ 
ſtands, wir müſſen Abrede mit einander nehmen. 


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Erſter Aufzug. 3. Auftritt 331 


Valcour. Gut — Du kannſt auf mich zählen; aber 
jetzt laß mich, ich habe dringende Geſchäfte — 

Dorſigng. So? Jetzt, da du mir einen Dienſt er⸗ 
zeigen ſollſt? — Aber zu einem galanten Abenteuer hatteſt 
du Zeit übrig. 

Valcour. Das nicht, lieber Dorſigny. Aber ich muß 
fort, man erwartet mich. 

Dorſigng. Wo? 

Valcour. Beim L'hombre. 

Dorſigny. Die große Angelegenheit! 

Balcour. Scherz bei Seite! Ich habe dort Gelegen- 
heit, die Schweſter deines Oberſtleutnants zu ſehen — 
Sie hält was auf mich, ich will dir bei ihr das Wort 
reden. 

Dorfigny. Nun, meinetwegen. Aber tu mir den 
Gefallen, meiner Schweſter, der Frau von Mirville, im 
Vorbeigehen wiſſen zu laſſen, daß man ſie hier im Garten⸗ 
ſaal erwarte — Nenne mich aber nicht, hörſt du. 

Valcour. Da fei außer Sorgen. Ich habe keine 
Zeit dazu und will es ihr hinauf ſagen laſſen, ohne ſie 
nur einmal zu ſehen. Übrigens behalte ich mir's vor, 
bei einer andern Gelegenheit ihre nähere Bekanntſchaft 
zu machen. Ich ſchätze den Bruder zu ſehr, um die 
Schweſter nicht zu lieben — wenn ſie hübſch iſt, verſteht 
ſich. (Ab.) 


3. Auftritt 
Dorſigny. Champagne. 


Dorſigng. Zum Glück brauche ich ſeinen Beiſtand 
ſo gar nötig nicht — es iſt mir weniger um das Ver⸗ 
bergen zu tun, denn vielleicht fällt es niemand ein, 
mich zu verfolgen, als um meine liebe Couſine Sophie 


80 wiederzuſehen. 


332 Der Neffe als Onkel 


Champagne. Was Sie für ein glücklicher Mann 
ſind, gnädiger Herr! — Sie ſehen Ihre Geliebte wieder, 
und ich (ſeufzt) meine Frau! Wann geht's wieder zurück 
ins Elſaß — Wir lebten wie die Engel, da wir fünfzig 
Meilen weit von einander waren. 

Dorſigny. Still! da kommt meine Schweſter! 


4. Auftritt 


Vorige. Frau von Mirville. 


Er. v. Mirville. Ah! Sind Sie es? Sein Sie von 
Herzen willkommen. 

Dorfigny. Nun das iſt doch ein herzlicher Empfang! 

Er. v. Mirville. Das iſt ja recht ſchön, daß Sie uns 
ſo überraſchen! Sie ſchreiben, daß Sie eine lange Reiſe 
vorhätten, von der Sie früheſtens in einem Monat zurück 
ſein könnten, und vier Tage drauf ſind Sie hier. 

Dorſigny. Geſchrieben hätt' ich und an wen? 

Er. v. Mirville. An meine Tante! (Sieht den Cham⸗ 
pagne, der ſeinen Mantel ablegt.) Wo iſt denn aber Herr 
von Lormeuil? 

Dorſigny. Wer iſt der Herr von Lormeuil? 

Fr. v. Mirville. Ihr künftiger Schwiegerſohn. 

Dorſigng. Sage mir! Für wen hältſt du mich? 

Fr. u. Mirville. Nun, doch wohl für meinen Onkel! 

Dorſigny. Iſt's möglich! Meine Schweſter erkennt 
mich nicht! 

Er. v. Mirville. Schweſter? Sie mein Bruder? 

Dorfiguy. Ich dein Bruder. 

Er. v. Mirville. Das kann nicht fein. Das ijt nicht 
möglich. Mein Bruder iſt bei ſeinem Regiment zu Straß⸗ 
burg, mein Bruder trägt ſein eigenes Haar, und das iſt 


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Erſter Aufzug. 4. Auftritt 333 


auch ſeine Uniform nicht — und ſo groß auch ſonſt die 
Ahnlichkeit — 

Dorſigny. Eine Ehrenſache, die aber ſonſt nicht viel 
zu bedeuten haben wird, hat mich genötigt, meine Gar⸗ 
niſon in aller Geſchwindigkeit zu verlaſſen; um nicht er⸗ 
kannt zu werden, ſteckte ich mich in dieſen Rock und dieſe 
Perücke. 

Fr. v. Mirville. Iſt's möglich? — O fo lah dich 
herzlich umarmen, lieber Bruder — Ja, nun fange ich 
an, dich zu erkennen! Aber die Ahnlichkeit iſt doch ganz 
erſtaunlich. 

Dorſignyg. Mein Onkel iſt alſo abweſend? 

Er. v. Mirville. Freilich, der Heirat wegen. 

Dorfigny. Der Heirat? — Welcher Heirat? 

Er. v. Mirville. Sophiens, meiner Couſine. 

Dorfigny. Was hör' ich? Sophie ſoll heiraten? 

Er. v. Mirville. Ei freilich! Weißt du es denn nicht? 

Dorſignn. Mein Gott! Nein! 

Champagne (nähert fig). Nicht ein Wort wiſſen wir. 

Er. u. Mirville. Herr von Lormeuil, ein alter Kriegs⸗ 
kamerad des Onkels, der zu Toulon wohnt, hat für ſeinen 
Sohn um Sophien angehalten — Der junge Lormeuil 
ſoll ein ſehr liebenswürdiger Mann ſein, ſagt man; wir 
haben ihn noch nicht geſehen. Der Onkel holt ihn zu 
Toulon ab; dann wollen ſie eine weite Reiſe zuſammen 
machen, um ich weiß nicht welche Erbſchaft in Beſitz zu 
nehmen. In einem Monat denken ſie zurück zu ſein, 
und wenn du alsdann noch da biſt, ſo kannſt du zur 
Hochzeit mittanzen. 

Dorſigny. Ach liebe Schweſter! — Redlicher Cham⸗ 
pagne! Ratet, helft mir; wenn ihr mir nicht beiſteht, 
ſo iſt es aus mit mir, ſo bin ich verloren. 

Fr. u. Mirville. Was haſt du denn, Bruder! Was 
iſt dir? 


334 Der Neffe als Onkel 


Champagne. Mein Herr iſt verliebt in ſeine Couſine. 

fr. v. Mirville. Ah, ijt es das? 

Dorſigny. Dieſe unglückſelige Heirat darf nun und 
nimmermehr zu ſtand kommen. 

Fr. v. Mirville. Es wird ſchwer halten, ſie rück⸗ 
gängig zu machen. Beide Väter ſind einig, das Wort 
iſt gegeben, die Artikel ſind aufgeſetzt, und man erwartet 
bloß noch den Bräutigam, ſie zu unterzeichnen und ab⸗ 
zuſchließen. 

Champagne. Geduld! — Hören Sie! — Crritt zwiſchen 
beide.) Ich habe einen ſublimen Einfall! 

Dorfigny. Rede! 

Champagne. Sie haben einmal den Anfang gemacht, 
Ihren Onkel vorzuſtellen! Bleiben Sie dabei! Führen 
Sie die Rolle durch. 

Er. v. Mirville. Ein ſchönes Mittel, um die Nichte 
zu heiraten! 

Champagne. Nur gemach! Laſſen Sie mich meinen 
Plan entwickeln. — Sie ſpielen alſo Ihren Onkel! Sie 
ſind nun Herr hier im Hauſe, und Ihr erſtes Geſchäft 
iſt, die bewußte Heirat wieder aufzuheben — Sie haben 
den jungen Lormeuil nicht mitbringen können, weil er — 
weil er geſtorben iſt — Unterdeſſen erhält Frau von Dor⸗ 
ſigny einen Brief von Ihnen, als dem Neffen, worinnen 
Sie um die Couſine anhalten — Das iſt mein Amt! 
Ich bin der Kurier, der den Brief von Straßburg bringt! 
— Frau von Dorſigny iſt verliebt in ihren Neffen, ſie 
nimmt dieſen Vorſchlag mit der beſten Art von der Welt 
auf, ſie teilt ihn Ihnen, als ihrem Eheherrn, mit, und Sie 
laſſen ſich's, wie billig, gefallen. Nun ſtellen Sie ſich, 
als wenn Sie aufs eiligſte verreiſen müßten; Sie geben 
der Tante unbedingte Vollmacht, dieſe Sache zu Ende 
zu bringen. Sie reiſen ab, und den andern Tag er⸗ 
ſcheinen Sie in Ihren natürlichen Haaren und in der 


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Erſter Aufzug. 4. Auftritt 335 


Uniform Ihres Regiments wieder, als wenn Sie eben 
ſpornſtreichs von Ihrer Garniſon herkämen. Die Heirat 
geht vor ſich, der Onkel kommt ſtattlich angezogen mit 
ſeinem Bräutigam, der den Platz glücklich beſetzt findet 
und nichts Beſſers zu tun hat, als umzukehren und ſich 
entweder zu Toulon oder in Oſtindien eine Frau zu holen. 

Dorfigny. Glaubſt du, mein Onkel werde das fo 
geduldig — 

Champagne. O er wird aufbrauſen, das verſteht 
ſich! Es wird heiß werden am Anfang — Aber er liebt 
Sie! er liebt ſeine Tochter! Sie geben ihm die beſten 
Worte, verſprechen ihm eine Stube voll artiger Enkelchen, 
die ihm alle ſo ähnlich ſehen ſollen wie Sie ſelbſt. Er 
lacht, er beſänftigt ſich, und alles iſt vergeſſen. 

Er. v. Mirville. Ich weiß nicht, iſt es das Tolle dieſes 
Einfalls, aber er fängt an, mich zu reizen — 

Champagne. O er iſt himmliſch, der Einfall! 

Dorſigny. Luſtig genug iſt er, aber nur nicht aus⸗ 
führbar — Meine Tante wird mich wohl für den Onkel 
anſehen! — f 

Er. v. Mirville. Habe ich's doch! 

Dorfigny. Ja, im erſten Augenblicke. 

Er. u. Mirville. Wir müſſen ihr keine Zeit laſſen, 
aus der Täuſchung zu kommen. Wenn wir die Zeit be⸗ 
nutzen, ſo brauchen wir auch nur einen Augenblick — 
Es iſt jetzt Abend, die Dunkelheit kommt uns zu ſtatten, 
dieſe Lichter leuchten nicht hell genug, um den Unterſchied 
bemerklich zu machen. Den Tag brauchſt du gar nicht 
zu erwarten — du erklärſt zugleich, daß du noch in der 
Nacht wieder fortreiſen müſſeſt, und morgen erſcheinſt 
du in deiner wahren Perſon. Geſchwind ans Werk. Wir 
haben keine Zeit zu verlieren — Schreibe den Brief an 
unſre Tante, den dein Champagne als Kurier überbringen 
ſoll und worin du um Sophien anhältſt. 


336 Der Neffe als Onkel 


Dorſigny (an den Schreibtiſch gehend). Schweſter! Schweſter! 
du machſt mit mir, was du willſt. 

Champagne (ſich die Hände reibend). Wie freue ich mich 
über meinen klugen Einfall! Schade, daß ich ſchon eine 
Frau habe; ich könnte hier eine Hauptrolle ſpielen, an⸗ 
ſtatt jetzt bloß den Vertrauten zu machen. 

Er. v. Mirville. Wie das, Champagne? 

Champagne. Ei nun, das iſt ganz natürlich. Mein 
Herr gilt für ſeinen Onkel, ich würde den Herrn von 
Lormeuil vorſtellen, und wer weiß, was mir am Ende 
nicht noch blühen könnte, wenn meine verdammte Heirat — 

Er. v. Mirville. Wahrhaftig, meine Couſine hat 
Urſache, ſich darüber zu betrüben! 

Dorſigny (ſiegelt den Brief und gibt ihn an Champagne.) Hier 
iſt der Brief. Richt' es nun ein, wie du willſt; dir 
überlaſſ' ich mich. 

Champagne. Sie ſollen mit mir zufrieden ſein — 
In wenig Augenblicken werde ich damit als Kurier von 
Straßburg ankommen, geſpornt und geſtiefelt, triefend 
von Schweiß. — Sie, gnädiger Herr, halten ſich wacker. — 
Mut, Dreiſtigkeit, Unverſchämtheit, wenn's nötig ijt. — 
Den Onkel geſpielt, die Tante angeführt, die Nichte ge⸗ 
heiratet, und wenn alles vorbei iſt, den Beutel gezogen 
und den redlichen Diener gut bezahlt, der Ihnen zu allen 
dieſen Herrlichkeiten verholfen hat. (Ab.) 

Fr. v. Mirville. Da kommt die Tante. Sie wird 
dich für den Onkel anſehen. Tu, als wenn du notwendig 
mit ihr zu reden hätteſt, und ſchick' mich weg. 

Dorfigny. Aber was werd' ich ihr denn ſagen? 

Fr. v. Mirville. Alles, was ein galanter Mann 
ſeiner Frau nur Artiges ſagen kann. 


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Erſter Aufzug. 6. Auftritt 337 


5. Auftritt 


Frau von Mirville. Frau von Dorſigny. 
Franz von Dorſigny. 

Er. u. Mirville. Kommen Sie doch, liebe Tante! 
Geſchwind! der Onkel iſt angekommen. . 

ar. v. Dorfigny. Wie? Was? Mein Mann! — 
Ja wahrhaftig, da iſt er! — Herzlich willkommen, lieber 

s Dorſigny — So bald erwartete ich Sie nicht — Nun! 
Sie haben doch eine glückliche Reiſe gehabt — Aber 
wie ſo allein? Wo ſind Ihre Leute? Ich hörte doch 
Ihre Kutſche nicht — Nun wahrhaftig — ich beſinne 
mich kaum — ich zittre für Überraſchung und Freude — 

10 Er. v. Mirville (heimlich zu ihrem Bruder). Nun fo rede 
doch! Antworte friſch weg! 

Dorſigny. Weil ich nur auf einen kurzen Beſuch 
hier bin, ſo komm' ich allein und in einer Mietkutſche — 
— Was aber die Reiſe betrifft, liebe Frau — die Reiſe 

15 — Ach! die iſt nicht die glücklichſte geweſen. 

Er. v. Dorſigny. Sie erſchrecken mich! Es ijt Ihnen 
doch kein Unglück zugeſtoßen? 

Dorſigny. Nicht eben mir! Mir nicht! — Aber dieſe 
Heirat — u Frau von Mirville.) Liebe Nichte, ich habe mit 

20 der Tante — 

Er. v. Mirville. Ich will nicht ſtören, mein Onkel. (Ab.) 


6. Auftritt 


Frau von Dorſigny. Franz von Dorfigny. 


Er. v. Dorfigny. Nun, lieber Mann! dieſe Heirat — 
Dorſigny. Aus dieſer Heirat wird — nichts. 
Er. v. Dorfigny. Wie? Haben wir nicht das Wort 
26 des Vaters? 
Schillers Werke. IX. 22 


338 Der Neffe als Onkel 


Dorſignyg. Freilich wohl! Aber der Sohn kann 
unſere Tochter nicht heiraten. 

Er. v. Dorfigny. So? Und warum denn nicht? 

Dorſigny (mit ſtarkem Ton). Weil — weil er — tot iſt. 

Er. v. Dorſigng. Mein Gott! Welcher Zufall! 

Dorſigny. Es iſt ein rechter Jammer. Dieſer junge 
Mann war, was die meiſten jungen Leute ſind, ſo ein 
kleiner Wüſtling. Einen Abend bei einem Balle fiel’s 
ihm ein, einem artigen hübſchen Mädchen — den Hof zu 
machen; ein Nebenbuhler miſchte ſich drein und erlaubte 
ſich beleidigende Scherze. Der junge Lormeuil, lebhaft, 
aufbrauſend, wie man es mit zwanzig Jahren iſt, nahm 
das übel; zum Unglück war er an einen Raufer von 
Profeſſion geraten, der ſich nie ſchlägt, ohne ſeinen Mann 
— zu töten. Und dieſe böſe Gewohnheit behielt auch 
jetzt die Oberhand über die Geſchicklichkeit ſeines Gegners; 
der Sohn meines armen Freundes blieb auf dem Platz, 
mit drei tödlichen — Stichen im Leibe. 

Er. v. Dorfigny. Barmherziger Himmel! Was muß 
der Vater dabei gelitten haben! 

Dorſigny. Das können Sie denken! Und die Mutter! 

Er. v. Dorſigng. Wie? Die Mutter? die ijt ja im 
letzten Winter geſtorben, ſo viel ich weiß. 

Dorfigny. Dieſen Winter — ganz recht! Mein armer 
Freund Lormeuil! Den Winter ſtirbt ihm ſeine Frau, 
und jetzt im Sommer muß er den Sohn in einem Duell 
verlieren! — Es iſt mir auch ſchwer angekommen, ihn 
in ſeinem Schmerz zu verlaſſen! Aber der Dienſt iſt jetzt 
ſo ſcharf! Auf den zwanzigſten müſſen alle Offiziere — 
beim Regiment ſein! Heut' iſt der neunzehnte, und ich 
habe nur einen Sprung nach Paris getan und muß 
ſchon heute Abend wieder — nach meiner Garniſon zu⸗ 
rückreiſen. 

Er. v. Dorſigng. Wie? So bald? 


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Erſter Aufzug. 7. Auftritt 339 


Dorfigny. Das iſt einmal der Dienſt! Was iſt zu 
machen? Jetzt auf unſere Tochter zu kommen — 

Fr. v. Dorſigny. Das liebe Kind iſt ſehr nieder⸗ 
geſchlagen und ſchwermütig, ſeitdem Sie weg waren. 

Dorſigny. Wiſſen Sie, was ich denke? Dieſe Partie, 
die wir ihr ausgeſucht, war — nicht nach ihrem Geſchmack. 

Er. v. Dorſigng. So? Wiſſen Sie? 

Dorſigny. Ich weiß nichts — Aber fie iſt fünfzehn 
Jahre alt — Kann ſie nicht für ſich ſelbſt ſchon gewählt 
haben, eh' wir es für ſie taten? 

Er. v. Dorſignyg. Ach Gott ja! Das begegnet alle 
Tage. 

Dorſigny. Zwingen möchte ich ihre Neigung nicht gern. 

Er. v. Dorfigny. Bewahre uns Gott davor! 


7. Auftritt 
Die Vorigen. Sophie. 


Sophie (beim Anblick Dorſignys ſtutzend). Ah! mein Vater — 

Fr. uv. Dorfigny. Nun, was ijt dir? Fürchteſt du 
dich, deinen Vater zu umarmen? 

Dorſigny (nachdem er fie umarmt, vor ſich). Sie haben's doch 
gar gut, dieſe Väter! Alles umarmt ſie! 

Er. v. Dorſigny. Du weißt wohl noch nicht, Sophie, 
daß ein unglücklicher Zufall deine Heirat getrennt hat? 

Sophie. Welcher Zufall? 

Fr. uv. Dorfigny. Herr von Lormeuil iſt tot. 

Sophie. Mein Gott! 

Dorſigny (bat fie mit den Augen fixiert ). Ja nun — Was 
ſagſt du dazu, meine Sophie? 

Sophie. Ich, mein Vater? — Ich beklage dieſen un⸗ 
glücklichen Mann von Herzen — aber ich kann es nicht 


340 Der Neffe als Onkel 


anders als für ein Glück anſehen, daß — daß ſich der 
Tag verzögert, der mich von Ihnen trennt. 

Dorſigny. Aber, liebes Kind! Wenn du gegen dieſe 
Heirat — etwas einzuwenden hatteſt, warum ſagteſt du 
uns nichts davon? Wir denken ja nicht daran, deine 
Neigung zwingen zu wollen. 

Sophie. Das weiß ich, lieber Vater — aber die 
Schüchternheit — 

Dorfigny. Weg mit der Schüchternheit! Rede offen! 
Entdecke mir dein Herz. 

Fr. v. Dorſigny. Ja, mein Kind! Höre deinen Vater! 
Er meint es gut, er wird dir gewiß das Beſte raten. 

Dorſigng. Du haßteſt alſo dieſen Lormeuil zum 
voraus — recht herzlich? 

Sophie. Das nicht — aber ich liebte ihn nicht. 

Dorfigny. Und du möchteſt keinen heiraten, als den 
du wirklich liebſt? 

Sophie. Das iſt wohl natürlich. 

Dorſigny. Du liebſt alſo — einen andern? 

Sophie. Das habe ich nicht geſagt. 

Dorfigny. Nun, nun, beinahe doch — Heraus mit 
der Sprache! Laß mich alles wiſſen. 

Er. v. Dorfigny. Faſſe Mut, mein Kind! Vergiß, 
daß es dein Vater iſt, mit dem du redeſt. 

Dorſigny. Bilde dir ein, daß du mit deinem beſten, 
deinem zärtlichſten Freunde ſprächeſt — und der, den 
du liebſt, weiß er, daß er — geliebt wird? 

Sophie. Behüte der Himmel! Nein. 

Dorſigny. Iſt's noch ein junger Menſch? 

Sophie. Ein ſehr liebenswürdiger junger Mann, 
und der mir darum doppelt wert iſt, weil jedermann 
findet, daß er Ihnen gleicht — ein Verwandter von uns, 
der unſern Namen führt — Ach! Sie müſſen ihn erraten. 

Dorſigny. Noch nicht ganz, liebes Kind! 


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Erſter Aufzug. 7. Auftritt 341 


Fr. v. Dorfigny. Aber ich errat' ihn! Ich wette, es 
iſt ihr Vetter, Franz Dorſigny. 

Dorfigny. Nun, Sophie? Du antworteſt nichts? 

Sophie. Billigen Sie meine Wahl? 

Dorſigny (ſeine Freude unterdrückend, vor ſich). Wir müſſen 
den Vater ſpielen — Aber mein Kind — das müſſen 
wir denn doch bedenken. 

Sophie. Warum bedenken? Mein Vetter iſt der 
beſte, verſtändigſte — a 

Dorſigny. Der? Ein Schwindelkopf iſt er, ein Wild⸗ 
fang, der in den zwei Jahren, daß er weg iſt, nicht zwei⸗ 
mal an ſeinen Onkel geſchrieben hat. 

Sophie. Aber mir hat er deſto fleißiger geſchrieben, 
mein Vater. 

Dorfigny. So? hat er das? Und du haſt ihm wohl 
— friſch weg geantwortet? Haſt du? Nicht? 

Sophie. Nein, ob ich gleich große Luſt dazu hatte. 
— Nun, Sie verſprachen mir ja dieſen Augenblick, daß 
Sie meiner Neigung nicht entgegen ſein wollten — Liebe 
Mutter, reden Sie doch für mich. 

Fr. v. Dorfigny. Nun, nun, gib nach, lieber Dorſigny 
— Es iſt da weiter nichts zu machen — und geſteh nur, 
ſie hätte nicht beſſer wählen können. 

Dorfigny. Es ijt wahr, es läßt ſich manches dafür 
ſagen — Das Vermögen iſt von beiden Seiten gleich, 
und geſetzt, der Vetter hätte auch ein bißchen leichtſinnig 
gewirtſchaftet, ſo weiß man ja, die Heirat bringt einen 
jungen Menſchen — ſchon in Ordnung — Wenn fie ihn 
nun überdies lieb hat — 

Sophie. O recht ſehr, lieber Vater — Erſt in dem 
Augenblicke, da man mir den Herrn von Lormeuil zum 
Gemahl vorſchlug, merkte ich, daß ich dem Vetter gut 
ſei — ſo was man gut ſein nennt — Und wenn mir 
der Vetter nun auch wieder gut wäre — 


342 Der Neffe als Onkel 


Dorſigny (feurig). Und warum ſollte er das nicht, meine 
teuerſte — (ſich beſinnend) meine gute Tochter! — Nun 
wohl! Ich bin ein guter Vater und ergebe mich. 

Sophie. Ich darf alſo jetzt an den Vetter ſchreiben? 

Dorſigny. Was du willſt — (Vor ſich.) Wie hübſch ſpielt 
ſich's den Vater, wenn man ſo allerliebſte Geſtändniſſe 
zu hören bekommt. 


8. Auftritt 


Vorige. Frau von Mirville. Champagne als Poſtillon, mit 
der Peitſche klatſchend. 

Champagne. He, holla! 

Er. v. Mirville. Platz! da kommt ein Kurier. 

Er. u. Dorſigny. Es ijt Champagne. 

Sophie. Meines Vetters Bedienter! 

Champagne. Gnädiger Herr — gnädige Frau! Reißen 
Sie mich aus meiner Unruhe — das Fräulein iſt doch 
nicht ſchon Frau von Lormeuil? 

Er. v. Dorſigny. Nein, guter Freund, noch nicht. 

Champagne. Noch nicht! dem Himmel ſei Dank, 
ich bin doch noch zeitig genug gekommen, meinem armen 
Herrn das Leben zu retten. 

Sophie. Wie! dem Vetter iſt doch kein Unglück 
begegnet? 

Er. u. Dorfigny. Mein Neffe ijt doch nicht krank? 

Er. v. Mirville. Du machſt mir Angſt, was iſt 
meinem Bruder? 

Champagne. Beruhigen Sie ſich, gnädige Frau. 
Mein Herr befindet ſich ganz wohl, aber wir ſind in 
einer grauſamen Lage — Wenn Sie wüßten — doch 
Sie werden alles erfahren. Mein Herr hat ſich zu⸗ 
ſammengenommen, der gnädigen Frau, die er ſeine gute 
Tante nennt, ſein Herz auszuſchütten; Ihnen verdankt 


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Erſter Aufzug. 8. Auftritt 343 


er alles, was er iſt; zu Ihnen hat er das größte Ver⸗ 
trauen — Hier ſchreibt er Ihnen — leſen Sie und be⸗ 
klagen ihn. 

Dorfigny. Mein Gott, was iſt das? 

Er. v. Dorſigny (et). „Beſte Tante! Ich erfahre 
ſoeben, daß Sie im Begriff ſind, meine Couſine zu ver⸗ 
heiraten. Es iſt nicht mehr Zeit, zurückzuhalten: ich 
liebe Sophien. — Ich flehe Sie an, beſte Tante, wenn 
ſie nicht eine heftige Neigung zu ihrem beſtimmten Bräu⸗ 
tigam hat, ſo ſchenken Sie ſie mir: ich liebe ſie ſo innig, 
daß ich gewiß noch ihre Liebe gewinne. Ich folge dem 
Champagne auf dem Fuße nach; er wird Ihnen dieſen 
Brief überbringen, Ihnen erzählen, was ich ſeit jener 
ſchrecklichen Nachricht ausgeſtanden habe.“ 

Sophie. Der gute Vetter! 

Fr. v. Mirville. Armer Dorſigny! 

Champagne. Nein, es läßt ſich gar nicht beſchreiben, 
was mein armer Herr gelitten hat! Aber, lieber Herr, 
ſagte ich zu ihm, vielleicht iſt noch nicht alles verloren 
— Geh, Schurke, ſagte er zu mir, ich ſchneide dir die 
Kehle ab, wenn du zu ſpät kommſt — Er kann zuweilen 
derb ſein, Ihr lieber Neffe. 

Dorſigny. Unverſchämter! 

Champagne. Nun, nun, Sie werden ja ordentlich 
böſe, als wenn ich von Ihnen ſpräche; was ich ſage, 
geſchieht aus lauter Freundſchaft für ihn, damit Sie ihn 
beſſern, weil Sie ſein Onkel ſind. 

Fr. v. Mirville. Der gute redliche Diener! Er will 
nichts als das Beſte ſeines Herrn! 

Er. v. Dorſigng. Geh, guter Freund, ruhe dich 
aus, du wirſt es nötig haben. 

Champagne. Ja, Ihr Gnaden, ich will mich aus⸗ 
ruhen in der Küche. (Av.) 


344 Der Neffe als Onkel 


9. Auftritt 
Vorige ohne Champagne. 


Dorfigny. Nun, Sophie? Was ſagſt du dazu? 

Sophie. Ich erwarte Ihre Befehle, mein Vater. 

Er. v. Dorfigny. Es iſt da weiter nichts zu tun; 
wir müſſen ſie ihm ohne Zeitverluſt zur Frau geben. 

Er. v. Mirville. Aber der Vetter ijt ja noch nicht 
hier. 

Er. v. Dorſignyg. Seinem Briefe nach kann er nicht 
lang' ausbleiben. 

Dorſigng. Nun — wenn es denn nicht anders ijt — 
und wenn Sie ſo meinen, meine Liebe — ſo ſei's! Ich 
bin's zufrieden und will mich ſo einrichten, daß der Lärm 
der Hochzeit — vorbei iſt, wenn ich zurückkomme — He 
da! Bediente! 


10. Auftritt 


Zwei Bediente treten ein und warten im Hintergrunde. Vorige. 


Er. v. Dorſigny. Noch eins! Ihr Pachter hat mir 
während Ihrer Abweſenheit zweitauſend Taler in Wech⸗ 
ſeln ausbezahlt — ich habe ihm eine Quittung darüber 
gegeben — Es iſt Ihnen doch recht? 

Dorſigny. Mir iſt alles recht, was Sie tun, meine 
Liebe! (Während ſie die Wechſel aus einer Schreibtafel hervorholt, zu 
Frau von Mirville.) Darf ich das Geld wohl nehmen? 

Er. v. Mirville. Nimm es ja, ſonſt machſt du dich 
verdächtig. 

Dorſigny (heimlich zu ihr). In Gottes Namen! ich will 
meine Schulden damit bezahlen! (Laut, indem er die Wechſel 


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der Frau von Dorſigny in Empfang nimmt.) Das Geld erinnert 2s 


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Erſter Aufzug. 11. Auftritt 345 


mich, daß ein verwünſchter Schelm von Wucherer mich 
ſchon ſeit lange um hundert Piſtolen plagt, die — mein 
Neffe von ihm geborgt hat — Wie iſt's? Soll ich den 
Poſten bezahlen? 

Er. v. Mirville. Ei das verſteht ſich! Sie werden 
doch meine Baſe keinem Bruder Lüderlich zur Frau 
geben wollen, der bis an die Ohren in Schulden ſteckt? 

Er. u. Dorfigny. Meine Nichte hat Recht, und was 
übrig bleibt, kann man zu Hochzeitgeſchenken anwenden. 

Er. v. Mirville. Ja, ja, zu Hochzeitgeſchenken! 

Ein dritter Bedienter (kommt). Die Modehändlerin 
der Frau von Mirville. 

Er. v. Mirville. Sie kommt wie gerufen. Ich will 
gleich den Brautanzug bei ihr beſtellen. (Ab.) 


11. Auftritt 
Vorige ohne Frau von Mirville. 


Dorſigny (zu den Bedienten). Kommt her! — Zur Frau von 
Dorjigny.) Man wird nach dem Herrn Gaſpar, unſerm 
Notar, ſchicken müſſen — 

Er. uv. Dorſigny. Laſſen Sie ihn lieber gleich zum 
Nachteſſen einladen; dann können wir alles nach Be⸗ 
quemlichkeit abmachen. 

Darſigny. Das ijt wahr! (Zu einem von den Bedienten.) Du, 
geh zum Juwelier und laß ihn das Neuſte herbringen, 
was er hat — (Qu einem andern.) Du gehſt zum Herrn 
Gaſpar, unſerm Notar, ich laſſ' ihn bitten, heute mit 
mir zu Nacht zu eſſen — dann beſtelleſt du vier Poſt⸗ 
pferde; Punkt eilf Uhr müſſen ſie vor dem Hauſe ſein, 
denn ich muß in der Nacht noch fort — u einem dritten.) 
Für dich, Jasmin, hab' ich einen kitzlichen Auftrag — 
du haſt Kopf, dir kann man was anvertrauen. 


346 Der Neffe als Onkel 


Jasmin. Gnädiger Herr, das beliebt Ihnen ſo zu 
ſagen. 

Dorfigny. Du weißt, wo Herr Simon wohnt, der 
Geldmäkler, der ſonſt meine Geſchäfte machte — der 
meinem Neffen immer mein eigenes Geld borgte. 

Jasmin. Ei ja wohl! Warum ſollt' ich ihn nicht 
kennen! ich war ja immer der Poſtillon des gnädigen 
Herrn Ihres Neffen. f 

Dorſigny. Geh zu ihm, bring’ ihm dieſe hundert 
Piſtolen, die mein Neffe ihm ſchuldig iſt und die ich ihm 
hiermit bezahle! Vergiß aber nicht, dir einen Empfang⸗ 
ſchein geben zu laſſen. 

Jasmin, Warum nicht gar — Ich werde doch kein 
ſolcher Eſel ſein! (Die Bedienten gehen ab.) 

Er. v. Dorfigny. Wie er ſich verwundern wird, der 
gute Junge, wenn er morgen ankommt und die Hochzeit⸗ 
geſchenke eingekauft, die Schulden bezahlt findet. 

Dorfigny, Das glaub' ich! Es tut mir nur leid, daß 
ich nicht Zeuge davon ſein kann. 


12. Auftritt 


Vorige. Frau von Mirville. 


Er. v. Mirville (eilt herein, heimlich zu ihrem Bruder). Mach', 
daß du fortkommſt, Bruder! Eben kommt der Onkel mit 
einem Herrn an, der mir ganz ſo ausſieht wie der Herr 
von Lormeuil. 

Dorſigny (in ein Kabinett fliehend). Das wäre der Teufel! 

Fr. v. Dorſigng. Nun, warum eilen Sie denn jo 
ſchnell fort, Dorſigny? 

Dorfigny. Ich muß — Ich habe — Gleich werd' ich 
wieder da ſein. 


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Erſter Aufzug. 14. Auftritt 347 


Fr. v. Mirville (preffiert). Kommen Sie, Tante! Sehen 
Sie doch die ſchönen Mützen an, die man mir gebracht hat. 

Fr. u. Dorſigng. Du tuft recht, mich zu Rat zu 
ziehen — Ich verſtehe mich darauf. Ich will dir aus⸗ 
ſuchen helfen. 


13. Auftritt 


Oberſt Dorſigny. Lormeuil. Frau von Dorſigny. Sophie. 
Frau von Mirville. 

Oberſt. Ich komme früher zurück, Madame, als ich 
gedacht habe, aber deſto beſſer! — Erlauben Sie, daß ich 
Ihnen hier dieſen Herrn — 

fr. v. Dorfigny. Bitte tauſendmal um Vergebung, 
meine Herrn — Die Putzhändlerin wartet auf uns, wir 
ſind gleich wieder da — Komm, meine Tochter. (Ab.) 

Oberſt. Nun! Nun! Dieſe Putzhändlerin könnte wohl 
auch einen Augenblick warten, dächt' ich. 

Sophie. Eben darum! weil ſie nicht warten kann — 
Entſchuldigen Sie, meine Herren. (Ab.) 

Oberſt. Das mag ſein — aber ich ſollte doch denken — 

Fr. v. Mirville. Die Herren, wiſſen wir wohl, fragen 
nach Putzhändlerinnen nichts, aber für uns ſind das ſehr 
wichtige Perſonen. (Geht ab, ſich tief gegen Lormeuil verneigend. ) 

Oberſt. Zum Teufel, das ſeh' ich, da man uns ihrent⸗ 
wegen ſtehen läßt. 


14. Auftritt 


Oberſt Dorſigny. Lormeuil. 


Oberſt. Ein ſchöner Empfang! das muß ich ſagen. 

Tormeuil. Iſt das jo der Brauch bei den Pariſer 
Damen, daß ſie den Putzhändlerinnen nachlaufen, wenn 
ihre Männer ankommen? 


348 Der Neffe als Onkel 


Oberſt. Ich weiß gar nicht, was ich daraus machen 
ſoll. Ich ſchrieb, daß ich erſt in ſechs Wochen zurück ſein 
könnte; ich bin unverſehens da, und man iſt nicht im 
geringſten mehr darüber erſtaunt, als wenn ich nie aus 
der Stadt gekommen wäre. 

Tormeuil. Wer find die beiden jungen Damen, die 
mich ſo höflich grüßten? 

Oberſt. Die eine iſt meine Nichte, und die andere 
meine Tochter, Ihre beſtimmte Braut. 

Tormeuil. Sie find beide ſehr hübſch. 

Oberſt. Der Henker auch! Die Frauen ſind alle 
hübſch in meiner Familie. Aber es iſt nicht genug an 
dem Hübſchſein — man muß ſich auch artig betragen. 


15. Auftritt 


Vorige. Die drei Bedienten, die nach und nach hereinkommen. 


Zweiter Bedtenter (zur Linken des Oberiten). Der Notar 
läßt ſehr bedauern, daß er mit Euer Gnaden nicht zu 
Nacht ſpeiſen kann — er wird ſich aber nach Tiſche ein⸗ 
finden. 

Oberſt. Was ſchwatzt der da für närriſches Zeug? 

Zweiter Bedienter. Die Poſtpferde werden Schlag 
eilf Uhr vor dem Hauſe fein. (Ab.) 

Oberſt. Die Poſtpferde, jetzt, da ich eben ankomme! 

Erſter Bedienter (gu ſeiner rechten Seite). Der Juwelier, 
Euer Gnaden, hat Bankerott gemacht und iſt dieſe Nacht 
auf und davon gegangen. (Ab.) 

Oberſt. Was geht das mich an? Er war mir nichts 
ſchuldig. 

Jasmin (an ſeiner linken Seite). Ich war bei dem Herrn 
Simon, wie Euer Gnaden befohlen. Er war krank und 
lag im Bette. Hier ſchickt er Ihnen die Quittung. 


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Zweiter Aufzug. 1. Auftritt 349 


Oberſt. Was für eine Quittung, Schurke? 

Jasmin. Nun ja, die Quittung, die Sie in der Hand 
haben. Belieben Sie, ſie zu leſen. 

Oberſt (lieſ). „Ich Endesunterzeichneter bekenne, von 

s dem Herrn Oberſt von Dorſigny zweitauſend Livres, 
welche ich ſeinem Herrn Neffen vorgeſchoſſen, richtig er⸗ 
halten zu haben.“ 

Jasmin. Euer Gnaden ſehen, daß die Quittung 
richtig iſt. (Ab.) 

10 Oberſt. O vollkommen richtig! Das begreife, wer's 
kann, mein Verſtand ſteht ſtill — Der ärgſte Gauner in 
ganz Paris iſt krank und ſchickt mir die Quittung über 
das, was mein Neffe ihm ſchuldig iſt. 

Lormeuil. Vielleicht ſchlägt ihn das Gewiſſen. 

15 Oberſt. Kommen Sie! Kommen Sie, Lormeuil! 
Suchen wir herauszubringen, was uns dieſen angenehmen 
Empfang verſchafft — und hole der Teufel alle Notare, 


Juweliere, Poſtpferde, Geldmäkler und Putzmacherinnen. 
(Beide ab.) 


Zweiter Aufzug 


1. Auftritt 


Frau von Mirville. Franz von Dorſigny kommt aus einem 
Zimmer linker Hand und ſieht ſich ſorgfältig um. 
Er. v. Mirville (von der entgegengeſetzten Seite). Wie une 
20 beſonnen! Der Onkel wird den Augenblick da ſein. 
Dorfigny. Aber ſage mir doch, was mit mir werden 
ſoll? Iſt alles entdeckt, und weiß meine Tante, daß ihr 
vorgeblicher Mann nur ihr Neffe war? 
Er. v. Mirville. Nichts weiß man! Nichts iſt ent⸗ 


350 Der Neſſe als Onkel 


deckt! Die Tante iſt noch mit der Modehändlerin ein⸗ 
geſchloſſen, der Onkel flucht auf ſeine Frau — Herr 
von Lormeuil iſt ganz verblüfft über die ſonderbare Auf⸗ 
nahme, und ich will ſuchen, die Entwicklung, die nicht 
mehr lange anſtehen kann, ſo lang' als möglich zu ver⸗ 
zögern, daß ich Zeit gewinne, den Onkel zu deinem Vor⸗ 
teil zu ſtimmen, oder, wenn's nicht anders iſt, den Lormeuil 
in mich verliebt zu machen — denn eh' ich zugebe, daß 
er die Couſine heiratet, nehm' ich ihn lieber ſelbſt. 


2. Auftritt 


Vorige. Valcour. 


Dalcour (fommt ſchnel). Ah ſchön! ſchön! daß ich dich 
hier finde, Dorſigny! Ich habe dir tauſend Sachen zu 
ſagen und bin in der größten Eile. 

Dorſigny. Hol' ihn der Teufel! Der kommt mir jetzt 
gelegen. 

Valcour. Die gnädige Frau darf doch — 

Dorfigny. Vor meiner Schweſter hab' ich kein Ge⸗ 
heimnis. 

Balcour (zur Frau von Mirville ſich wendend). Wie freue ich 
mich, meine Gnädige, Ihre Bekanntſchaft gerade in dieſem 
Augenblicke zu machen, wo ich ſo glücklich war, Ihrem 
Herrn Bruder einen weſentlichen Dienſt zu erzeigen. 

Dorſigng. Was hör' ich? Seine Stimme! (sieht in 
das Kabinett, wo er herausgekommen.) 

Valcour (ohne Dorſignys Flucht zu bemerken, fährt fort). Sollte 
ich jemals in den Fall kommen, meine Gnädige, Ihnen 
nützlich ſein zu können, ſo betrachten Sie mich als 


Ihren ergebenſten Diener. (er bemerkt nicht, daß indes der Oberſt 
Dorſigny hereingekommen und ſich an den Platz des andern geſtellt hat.) 


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Zweiter Aufzug. 4. Auftritt 351 


3. Auftritt 


Vorige. Oberſt Dorſigny. Lormeuil. 


Oberſt. Ja — dieſe Weiber ſind eine wahre Geduld⸗ 
probe für ihre Männer! 

Valcour (kehrt ſich um und glaubt mit dem jungen Dorfigny zu 
reden). Ich wollte dir alſo ſagen, lieber Dorſigny, daß 
dein Oberſtleutnant nicht tot iſt. 

Oberſt. Mein Oberſtleutnant? 

Valcour. Mit dem du die Schlägerei gehabt haſt. 
Er hat an meinen Freund Liancour ſchreiben laſſen; er 
läßt dir vollkommene Gerechtigkeit widerfahren und be⸗ 
kennt, daß er der Angreifer geweſen ſei. Die Familie 
hat zwar ſchon angefangen, dich gerichtlich zu verfolgen, 
aber wir wollen alles anwenden, die Sache bei Zeiten zu 
unterdrücken. Ich habe mich losgemacht, dir dieſe gute 
Nachricht zu überbringen, und muß gleich wieder zu 
meiner Geſellſchaft. 

Oberſt. Sehr obligiert — aber — 

Valcour. Du kannſt alſo ganz ruhig ſchlafen. Ich 
wache für dich. (Ab.) 


4. Auftritt 


Frau von Mirville. Oberſt Dorſigny. Lormeuil. 


Oberſt. Sage mir doch, was der Menſch will? 

Er. u. Mirville. Der Menſch ijt verrückt, das ſehn 
Sie ja. 

Oberſt. Dies ſcheint alſo eine Epidemie zu ſein, die 
alle Welt ergriffen hat, ſeitdem ich weg bin; denn das 
iſt der erſte Narr nicht, dem ich ſeit einer halben Stunde 
hier begegne. 

Fr. v. Mirville. Sie müſſen den trocknen Empfang 


352 Der Neffe als Onkel 


meiner Tante nicht ſo hoch aufnehmen. Wenn von Putz⸗ 
ſachen die Rede iſt, da darf man ihr mit nichts anderm 
kommen. 

Oberſt. Nun, Gott ſei Dank! da hör' ich doch end⸗ 
lich einmal ein vernünftiges Wort! — So magſt du denn 
die erſte ſein, die ich mit dem Herrn von Lormeuil be⸗ 
kannt mache. 

Zormenil, Ich bin ſehr glücklich, mein Fräulein, daß 
ich mich der Einwilligung Ihres Herrn Vaters erfreuen 
darf — Aber dieſe Einwilligung kann mir zu nichts helfen, 
wenn nicht die Ihrige — 

Oberſt. Nun fängt der auch an! Hat die all⸗ 
gemeine Raſerei auch dich angeſteckt, armer Freund! Dein 
Kompliment iſt ganz artig, aber bei meiner Tochter, und 
nicht bei meiner Nichte hätteſt du das anbringen ſollen. 

Tormeuil. Vergeben Sie, gnädige Frau. Sie ſagen 
der Beſchreibung ſo vollkommen zu, die mir Herr von Dor⸗ 
ſigny von meiner Braut gemacht hat, daß mein Irrtum 
verzeihlich iſt. 

Er. u. Mirville. Hier kommt meine Couſine, Herr 
von Lormeuil! Betrachten Sie ſie recht und überzeugen 
Sie ſich mit Ihren eigenen Augen, daß ſie alle die ſchönen 
Sachen verdient, die Sie mir zugedacht haben. 


5. Auftritt 
Vorige. Sophie. 


Sophie. Bitte tauſendmal um Verzeihung, beſter 
Vater, daß ich Sie vorhin ſo habe ſtehen laſſen; die Mama 
rief mir, und ich mußte ihrem Befehl gehorchen. 

Oberſt. Nun, wenn man nur ſeinen Fehler einſieht 
und ſich entſchuldigt — 

Sophie. Ach, mein Vater! Wo finde ich Worte, Ihnen 


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— 


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Zweiter Aufzug. 6. Auftritt 353 


meine Freude, meine Dankbarkeit auszudrücken, daß Sie 
in dieſe Heirat willigen. 

Oberſt. So, ſo! Gefällt ſie dir, dieſe Heirat? 

Sophie. O gar ſehr! 

Oberſt (leiſe zu Lormeuil). Du ſiehſt, wie fie dich ſchon 
liebt, ohne dich zu kennen! das kommt von der ſchönen 
Beſchreibung, die ich ihr von dir gemacht habe, eh' ich 
abreiſte. 

Tormeuil. Ich bin Ihnen ſehr verbunden. 

Oberſt. Ja, aber nun, mein Kind, wird es doch wohl 
Zeit ſein, daß ich mich nach deiner Mutter ein wenig um⸗ 
ſehe; denn endlich werden mir doch die Putzhändlerinnen 
Platz machen, hoffe ich — Leiſte du indes dieſem Herrn 
Geſellſchaft. Er iſt mein Freund, und mich ſoll's freuen, 
wenn er bald auch der deinige wird. — Verſtehſt du? 
(Zu Lormeuil.) Jetzt friſch daran — Das iſt der Augen⸗ 
blick! Suche noch heute ihre Neigung zu gewinnen, ſo 
iſt ſie morgen deine Frau — (Zu Frau von Mirville.) Kommt, 
Nichte! Sie mögen es mit einander allein ausmachen. (Ab.) 


6. Auftritt 
Sophie. Lormeuil. 


Sophie. Sie werden alſo auch bei der Hochzeit fein? 

Tormeuil. Ja, mein Fräulein — Sie ſcheint Ihnen 
nicht zu mißfallen, dieſe Heirat? 

Sophie. Sie hat den Beifall meines Vaters. 

Tormeuil. Wohl! Aber was die Väter veranſtalten, 
hat darum nicht immer den Beifall der Töchter. 

Sophie. O was dieſe Heirat betrifft — die iſt auch 
ein wenig meine Anſtalt. 


Lormeuil. Wie das, mein Fräulein? 
Schillers Werke. IX. 23 


354 Der Neffe als Onkel 


Sophie. Mein Vater war ſo gütig, meine Neigung 
um Rat zu fragen. 

Tormeuil. Sie lieben alſo den Mann, der Ihnen 
zum Gemahl beſtimmt iſt? 

Sophie. Ich verberg' es nicht. 

Zormenil, Wie? Und kennen ihn nicht einmal! 

Sophie. Ich bin mit ihm erzogen worden. 

Tormeuil. Sie wären mit dem jungen Lormeuil er⸗ 
zogen worden? 

Sophie. Mit dem Herrn von Lormeuil — Nein! 

Tormeuil. Das iſt aber Ihr beſtimmter Bräutigam. 

Sophie. Ja, das war anfangs. 

Tormeuil. Wie, anfangs? 

Sophie. Ich ſehe, daß Sie noch nicht wiſſen, mein 
Herr — 

Tormeuil. Nichts weiß ich! Nicht das Geringſte 
weiß ich. 

Sophie. Er iſt tot. 

Tormeuil. Wer iſt tot? 

Sophie. Der junge Herr von Lormeuil. 

Tormeuil. Wirklich? 

Sophie. Ganz gewiß. 

Tormeuil. Wer hat Ihnen geſagt, daß er tot ſei? 

Sophie. Mein Vater! 

Tormeuil. Nicht doch, Fräulein! das kann ja nicht 
ſein, das iſt nicht möglich. 

Sophie. Mit Ihrer Erlaubnis, es iſt! Mein Vater, 
der von Toulon kommt, muß es doch beſſer wiſſen als 
Sie. Dieſer junge Edelmann bekam auf einem Balle 
Händel, er ſchlug ſich und erhielt drei Degenſtiche durch 
den Leib. 

Tormeuil. Das iſt gefährlich. 

Sophie. Ja wohl, er iſt auch daran geſtorben. 

Tormeuil. Es beliebt Ihnen, mit mir zu ſcherzen, 


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Zweiter Aufzug. 6. Auftritt 35⁵ 


gnädiges Fräulein. Niemand kann Ihnen vom Herrn 
von Lormeuil beſſer Auskunft geben als ich. 

Sophie. Als Sie! das wäre doch luſtig. 

Tormeuil. Ja, mein Fräulein, als ich! denn, um 
es auf einmal herauszuſagen — ich ſelbſt bin dieſer Lor⸗ 
meuil und bin nicht tot, ſo viel ich weiß. 

Sophie. Sie wären Herr von Lormeuil? 

Tormeuil. Nun, für wen hielten Sie mich denn ſonſt? 

Sophie. Für einen Freund meines Vaters, den er 
zu meiner Hochzeit eingeladen. 5 

Tormeuil. Sie halten alſo immer noch Hochzeit, ob 
ich gleich tot bin? 

Sophie. Ja freilich! 

Tormeuil. Und mit wem denn, wenn ich fragen darf? 

Sophie. Mit meinem Couſin Dorſigny. 

Lormeuil. Aber Ihr Herr Vater wird doch auch ein 
Wort dabei mitzuſprechen haben. 

Sophie. Das hat er, das verſteht ſich! Er hat ja 
ſeine Einwilligung gegeben. 

Tormeuil. Wann hätt' er fie gegeben? 

Sophie. Eben jetzt — ein paar Augenblicke vor Ihrer 
Ankunft. 

Tormeuil. Ich bin ja aber mit ihm zugleich gekommen. 

Sophie. Nicht doch, mein Herr! Mein Vater iſt vor 
Ihnen hier geweſen. : 

Tormeuil (an den Kopf greifend). Mir ſchwindelt — es 
wird mir drehend vor den Augen — jedes Wort, das 
Sie ſagen, ſetzt mich in Erſtaunen — Ihre Worte in 
Ehren, mein Fräulein, aber hierunter muß ein Geheimnis 
ſtecken, das ich nicht ergründe. 

Sophie. Wie, mein Herr — Sollten Sie wirklich 
im Ernſt geſprochen haben? 

Lormeuil. Im vollen höchſten Ernſt, mein Fräulein. 

Sophie. Sie wären wirklich der Herr von Lormeuil — 


356 Der Neffe als Onkel 


— Mein Gott, was hab' ich da gemacht — Wie werde 
ich meine Unbeſonnenheit — 

Tormeuil. Laſſen Sie ſich's nicht leid ſein, Fräulein — 
Ihre Neigung zu Ihrem Vetter iſt ein Umſtand, den 
man lieber vor als nach der Heirat erfährt — 

Sophie. Aber ich begreife nicht — 

Tormeuil. Ich will den Herrn von Dorſigny auf⸗ 
ſuchen — vielleicht löſt er mir das Rätſel. — Wie es 
ſich aber auch immer löſen mag, Fräulein, ſo ſollen Sie 
mit mir zufrieden ſein, hoff’ ich. (Ab.) 

Sophie. Er ſcheint ein ſehr artiger Menſch — und 
wenn man mich nicht zwingt, ihn zu heiraten, ſo ſoll es 
mich recht ſehr freuen, daß er nicht erſtochen iſt. 


7. Auftritt 
Sophie. Oberſt. Frau von Dorſigny. 


Fr. u. Dorſigny. Laß uns allein, Sophie. (Sophie geht 
ab.) Wie, Dorſigny? Sie können mir ins Angeſicht be⸗ 
haupten, daß Sie nicht kurz vorhin mit mir geſprochen 
haben? Nun wahrhaftig! Welcher andere als Sie, als 
der Herr dieſes Hauſes, als der Vater meiner Tochter, 
als mein Gemahl endlich, hätte das tun können, was 
Sie taten? 

Oberſt. Was Teufel hätte ich denn getan? 

Er. v. Dorfigny. Muß ich Sie daran erinnern? Wie? 
Sie wiſſen nicht mehr, daß Sie erſt vor kurzem mit unſrer 
Tochter geſprochen, daß Sie ihre Neigung zu unſerm 
Neffen entdeckt haben und daß wir eins worden ſind, ſie 
ihm zur Frau zu geben, ſobald er wird angekommen ſein? 

Oberſt. Ich weiß nicht — Madame, ob das alles 
nur ein Traum Ihrer Einbildungskraft iſt, oder ob wirk⸗ 
lich ein anderer in meiner Abweſenheit meinen Platz ein⸗ 


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Zweiter Aufzug. 8. Auftritt 357 


genommen hat. Iſt das letztere, ſo war's hohe Zeit, daß 
ich kam — Dieſer jemand ſchlägt meinen Schwiegerſohn 
tot, verheiratet meine Tochter und ſticht mich aus bei 
meiner Frau, und meine Frau und meine Tochter laſſen 
ſich's beide ganz vortrefflich gefallen. 

Er. u. Dorſigny. Welche Verſtockung! — In Wahr⸗ 
heit, Herr von Dorſigny, ich weiß mich in Ihr Betragen 
nicht zu finden. 

Oberſt. Ich werde nicht klug aus dem Ihrigen. 


8. Auftritt 
Vorige. Frau von Mirville. 


Er. v. Mirville. Dacht' ich's doch, daß ich Sie beide 
würde beiſammen finden! — Warum gleichen doch nicht 
alle Haushaltungen der Ihrigen? Nie Zank und Streit! 
Immer ein Herz und eine Seele! Das iſt erbaulich! 
Das iſt doch ein Beiſpiel! Die Tante iſt gefällig wie ein 
Engel, und der Onkel geduldig wie Hiob. 

Oberſt. Wahr geſprochen, Nichte! — Man muß Hiobs 
Geduld haben, wie ich, um ſie bei ſolchem Geſchwätz nicht 
zu verlieren. 

Er. u. Dorſigny. Die Nichte hat Recht, man muß fo 
gefällig ſein wie ich, um ſolche Albernheiten zu ertragen. 

Oberſt. Nun, Madame! Unſere Nichte hat mich ſeit 
meinem Hierſein faſt nie verlaſſen, wollen wir ſie zum 
Schiedsrichter nehmen? 

Er. v. Dorſigny. Ich bin's vollkommen zufrieden und 
unterwerfe mich ihrem Ausſpruch. 

Er. v. Mirville. Wovon iſt die Rede? 

Er. v. Dorfigny. Stelle dir vor, mein Mann un⸗ 
terſteht ſich, mir ins Geſicht zu behaupten, daß er's nicht 
geweſen ſei, den ich vorhin für meinen Mann hielt. 


358 Der Neffe als Onkel 


Fr. v. Mirville. Iſt's möglich? 

Oberſt. Stelle dir vor, Nichte, meine Frau will mich 
glauben machen, daß ich hier, hier in dieſem Zimmer, 
mit ihr geſprochen haben ſoll, in demſelben Augenblicke, 
wo ich mich auf der Touloner Poſtſtraße ſchütteln ließ. 

Er. v. Mirville. Das iſt ja ganz unbegreiflich, Onkel 
— hier muß ein Mißverſtändnis ſein — Laſſen Sie mich 
ein paar Worte mit der Tante reden. 

Oberſt. Sieh, wie du ihr den Kopf zurecht ſetzeſt, 
wenn's möglich iſt, aber es wird ſchwer halten. 

Fr. v. Mirville (leiſe zur Frau von Dorſigny). Liebe Tante, 
das alles iſt wohl nur ein Scherz von dem Onkel? 

Er. v. Dorſigny lebenſo). Freilich wohl, er müßte ja 
raſend ſein, ſolches Zeug im Ernſt zu behaupten. 

Er. v. Mirville. Wiſſen Sie was? Bezahlen Sie 
ihn mit gleicher Münze — Geben Sie's ihm heim! Laſſen 
Sie ihn fühlen, daß Sie ſich nicht zum beſten haben laſſen. 

Fr. v. Dorſigny. Du haſt Recht. Laß mich nur machen. 

Oberſt. Wird's bald? Jetzt, denk' ich, wär's genug. 

Er. v. Dorſigny (ſpottweiſe). Ja wohl iſt's genug, mein 
Herr — und da es die Schuldigkeit der Frau iſt, nur 
durch ihres Mannes Augen zu ſehen, ſo erkenn' ich meinen 
Irrtum und will mir alles einbilden, was Sie wollen. 

Oberſt. Mit dem ſpöttiſchen Ton kommen wir nicht 
weiter. 

Er. v. Dorfigny. Ohne Groll, Herr von Dorſignyl 
Sie haben auf meine Unkoſten gelacht, ich lache jetzt auf 
die Ihrigen, und ſo heben wir gegen einander auf. — 
Ich habe jetzt einige Beſuche zu geben. Wenn ich zurück⸗ 
komme und Ihnen der ſpaßhafte Humor vergangen iſt, 
ſo können wir ernſthaft mit einander reden. (Ab.) 

Oberſt (zur Frau von Mirville). Verſtehſt du ein Wort von 
allem, was fie da fagt? 

Er. v. Mirville. Ich werde nicht klug daraus. Aber 


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Zweiter Aufzug. 9. Auftritt 359 


ich will ihr folgen und der Sache auf den Grund zu 
kommen ſuchen. (Ab.) 

Oberſt. Tu das, wenn du willſt. Ich geb' es rein 
auf — jo ganz toll und närriſch hab' ich fie noch nie ge- 
ſehen. Der Teufel muß in meiner Abweſenheit meine 
Geſtalt angenommen haben, um mein Haus unterſt zu 
oberſt zu kehren, anders begreif' ich's nicht — 


9. Auftritt 


Oberſt Dorſigny. Champagne, ein wenig betrunken. 


Champagne. Nun, das muß wahr ſein! — hier lebt 
ſich's wie im Wirtshaus — Aber wo Teufel ſtecken fie 
denn alle? — Keine lebendige Seele hab' ich mehr ge- 
ſehen, ſeitdem ich als Kurier den Lärm angerichtet habe — 
Doch ſieh da, mein gnädiger Herr, der Hauptmann — 
Ich muß doch hören, wie unſere Sachen ſtehen. Wacht 
gegen den Oberſt Zeichen des Verſtändniſſes und lacht ſelbſtgefällig.) 

Oberſt. Was Teufel! Iſt das nicht der Schelm, der 
Champagne? — Wie kommt der hieher, und was will 
der Eſel mit ſeinen einfältigen Grimaſſen? 

Champagne (wie oben). Nun, nun, gnädiger Herr? 

Oberſt. Ich glaube, der Kerl iſt beſoffen. 

Champagne. Nun, was ſagen Sie? Hab' ich meine 
Rolle gut geſpielt? 

Oberſt (vor fig). Seine Rolle? Ich merke etwas — 
Ja, Freund Champagne, nicht übel. 

Champagne. Nicht übel! Was? Zum Entzücken habe 
ich fie geſpielt. Mit meiner Peitſche und den Kurier- 
ſtiefeln, ſah ich nicht einem ganzen Poſtillon gleich? Wie? 

Oberſt. Ja! Ja! Gor fig.) Weiß der Teufel, was ich 
ihm antworten ſoll. 


360 Der Neffe als Onkel 


Champagne. Nun, wie ſteht's drinnen? Wie weit 
ſind Sie jetzt? 

Oberſt. Wie weit ich bin — wie's Aae aun, du 
kannſt dir leicht vorſtellen, wie's ſteht. N 

Champagne. Die Heirat iſt richtig, nicht wahr? — 
Sie haben als Vater die Einwilligung gegeben? 

Oberſt. Ja. 

Champagne. Und morgen treten Sie in Ihrer wahren 
Perſon als Liebhaber auf. 

Oberſt (vor ſich). Es iſt ein Streich von meinem 
Neffen. 

Champagne. Und heiraten die Witwe des Herrn von 
Lormeuil — Witwe! Hahaha! — die Witwe von meiner 
Erfindung. 

Oberſt. Worüber lachſt du? 

Champagne. Das fragen Sie? Ich lache über die 
Geſichter, die der ehrliche Onkel ſchneiden wird, wenn er 
in vier Wochen zurückkommt und Sie mit ſeiner Tochter 
verheiratet findet. 

Oberſt (vor fig). Ich möchte raſend werden! 

Champagne. Und der Bräutigam von Toulon, der 
mit ihm angezogen kommt und einen andern in ſeinem 
Neſte findet — das ijt himmliſch! 

Oberſt. Zum Entzücken! 

Champagne. Und wem haben Sie alles das zu danken? 
Ihrem treuen Champagne! . 

Oberſt. Dir? Wie jo? 

Champagne. Nun, wer ſonſt hat Ihnen denn den 
Rat gegeben, die ee Ihres Onkels zu ſpielen? 

Oberſt (vor ſich). Ha der Schurke! 

Champagne. Aber das iſt zum Erſtaunen, wie Sie 
Ihrem Onkel doch ſo ähnlich ſehen! Ich würde drauf 
ſchwören, er ſei es ſelbſt, wenn ich ihn nicht hundert 
Meilen weit von uns wüßte. 


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Zweiter Aufzug. 9. Auftritt 361 


Oberſt (vor fig). Mein Schelm von Neffen macht einen 
ſchönen Gebrauch von meiner Geſtalt. 

Champagne. Nur ein wenig zu ältlich ſehen Sie 
aus — Ihr Onkel iſt ja ſo ziemlich von Ihren Jahren; 
Sie hätten nicht nötig gehabt, ſich ſo gar alt zu machen. 

Oberſt. Meinſt du? 

Champagne. Doch was tut's! Iſt er doch nicht da, 
daß man eine Vergleichung anſtellen könnte — Und ein 
Glück für uns, daß der Alte nicht da iſt! Es würde uns 
ſchlecht bekommen, wenn er zurückkäme. 

Oberſt. Er iſt zurückgekommen. 

Champagne. Wie? Was? 

Oberſt. Er iſt zurückgekommen, ſag' ich. 

Champagne. Um Gottes willen, und Sie ſtehen hier? 
Sie bleiben ruhig? Tun Sie, was Sie wollen — Helfen 
Sie ſich, wie Sie können — ich ſuche das Weite. (Wil fort.) 

Oberſt. Bleib, Schurke, zweifacher Halunke, bleib! 
Das alſo ſind deine ſchönen Erfindungen, Herr Schurke? 

Champagne. Wie, gnädiger Herr? Iſt das mein Dan€?. 

Oberſt. Bleib, Halunke! — Wahrlich, meine Frau 
(hier macht Champagne eine Bewegung des Schreckens) iſt die Närrin 
nicht, für die ich fie hielt — und einen ſolchen Schelm⸗ 
ſtreich ſollte ich ſo hingehen laſſen — Nein, Gott ver⸗ 
damm' mich, wenn ich nicht auf der Stelle meine volle 
Rache dafür nehme. — Es iſt noch nicht ſo ſpät. Ich 
eile zu meinem Notar. Ich bring' ihn mit. Noch heute 
Nacht heiratet Lormeuil meine Tochter — Ich überraſche 
meinen Neffen — er muß mir den Heiratskontrakt ſeiner 
Baſe noch ſelbſt mit unterzeichnen — Und was dich be⸗ 
trifft, Halunke — 

Champagne. Ich, gnädiger Herr, ich will mit unter⸗ 
zeichnen — ich will auf der Hochzeit mit tanzen, wenn 
Sie's befehlen. 

Oberſt. Ja, Schurke, ich will dich tanzen machen! — 


362 Der Neffe als Onkel 


Und die Quittung über die hundert Piſtolen, merk' ich 
jetzt wohl, habe ich auch nicht der Ehrlichkeit des Wucherers 
zu verdanken. — Zu meinem Glück hat der Juwelier 
Bankerott gemacht — Mein Taugenichts von Neffe be⸗ 
gnügte ſich nicht, ſeine Schulden mit meinem Gelde zu 
bezahlen, er macht auch noch neue auf meinen Kredit. — 
Schon gut! Er ſoll mir dafür bezahlen! — Und du, ehr⸗ 
licher Geſell, rechne auf eine tüchtige Belohnung. — Es 
tut mir leid, daß ich meinen Stock nicht bei mir habe, 
aber aufgeſchoben iſt nicht aufgehoben. (Ab.) 

Champagne. Ich falle aus den Wolken! Muß dieſer 
verwünſchte Onkel auch gerade jetzt zurückkommen und 
mir in den Weg laufen, recht ausdrücklich, um mich 
plaudern zu machen — Ich Eſel, daß ich ihm auch er⸗ 
zählen mußte — Ja, wenn ich noch wenigſtens ein Glas 
zu viel getrunken hätte — Aber ſo! 


10. Auftritt 
Champagne. Franz von Dorſigny. Frau von Mirville. 


Fr. v. Mirville (kommt ſachte hervor und ſpricht in die Szene 
zurüc). Das Feld ijt rein — du kannſt herauskommen — 
es iſt niemand hier als Champagne. 

Dorſigny (tritt ein). 

Champagne (kehrt ſich um und fährt zurück, da er ihn erblickt). 
Mein Gott, da kommt er ſchon wieder zurück! Jetzt 
wird's losgehen! (Sich Dorſigny zu Füßen werfend.) Barmher⸗ 
zigkeit, gnädiger Herr! Gnade — Gnade einem armen 
Schelm, der ja unſchuldig — der es freilich verdient hätte — 

Dorſigny. Was ſoll denn das vorſtellen? Steh auf, 
ich will dir ja nichts zuleide tun. 

Champagne. Sie wollen mir nichts tun, gnädiger 


Herr — 


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Zweiter Aufzug. 11. Auftritt 363 


Dorſigny. Mein Gott, nein! Ganz im Gegenteil, 
ich bin recht wohl mit dir zufrieden, da du deine Rolle 
ſo gut geſpielt haſt. 

Champagne lerkennt ihn). Wie, Herr, find Sie's? 

Dorſigny. Freilich bin ich's. 

Champagne. Ach Gott! Wiſſen Sie, daß Ihr Onkel 
hier iſt? 

Dorfigny. Ich weiß es. Was denn weiter? 

Champagne. Ich hab' ihn geſehen, gnädiger Herr. 
Ich hab' ihn angeredet — ich dachte, Sie wären's; ich 
hab' ihm alles geſagt, er weiß alles. 

Fr. uv. Miruville. Unſinniger! was haſt du getan? 

Champagne. Kann ich dafür? Sie ſehen, daß ich 
eben jetzt den Neffen für den Onkel genommen — Iſt's 
zu verwundern, daß ich den Onkel für den Neffen nahm? 

Dorſigny. Was iſt zu machen? 

Fr. u. Mirville. Da ijt jetzt kein anderer Rat, als 
auf der Stelle das Haus zu verlaſſen. 

Dorfigny. Aber wenn er meine Couſine zwingt, den 
Lormeuil zu heiraten — 

Fr. v. Mirville. Davon wollen wir morgen reden! 
Jetzt fort geſchwind, da der Weg noch frei iſt. (Sie führt ihn 


bis an die hintere Türe; eben da er hinaus will, tritt Lormeuil aus der⸗ 
ſelben herein, ihm entgegen, der ihn zurückhält und wieder vorwärts führt.) 


11. Auftritt 
Die Vorigen. Lormeuil. 


Lormeuil. Sind Sie's? Ich ſuchte Sie eben. 

Fr. v. Mirville (heimlich zu Dorſigny). Es iſt der Herr 
von Lormeuil. Er hält dich für den Onkel. Gib ihm 
ſo bald als möglich ſeinen Abſchied. 


364 Der Neffe als Onkel 


Lormenil (zur Frau von Mirville). Sie verlaſſen uns, 
gnädige Frau? 

Er. v. Mirville. Verzeihen Sie, Herr von Lormeuil. 
Ich bin ſogleich wieder hier. Geht ab. Champagne folgt.) 


12. Auftritt 


Lormeuil. Franz von Dorſigny. 


Tormeuil. Sie werden ſich erinnern, daß Sie mich 
mit Ihrer Fräulein Tochter vorhin allein gelaſſen haben? 

Dorſigny. Ich erinnere mich's. 

Tormeuil. Sie iſt ſehr liebenswürdig, ihr Beſitz 
würde mich zum glücklichſten Manne machen. 

Dorſigny. Ich glaub' es. 

Tormeuil. Aber ich muß Sie bitten, ihrer Neigung 
keinen Zwang anzutun. 

Dorfigny. Wie ijt das? 

Tormeuil. Sie iſt das liebenswürdigſte Kind von der 
Welt, das iſt gewiß! Aber Sie haben mir ſo oft von 
Ihrem Neffen Franz Dorſigny geſprochen — Er liebt 
Ihre Tochter! 

Dorſigng. Iſt das wahr? 

Tormeuil. Wie ich Ihnen ſage, und er wird wieder 
geliebt! 

Dorfigny. Wer hat Ihnen das geſagt? 

Tormeuil. Ihre Tochter ſelbſt. . 

Dorfigny. Was iſt aber da zu tun? — Was raten 
Sie mir, Herr von Lormeuil? 

Tormeuil. Ein guter Vater zu ſein. 

Dorfigny. Wie? 

Tarmeuil. Sie haben mir hundertmal geſagt, daß 
Sie Ihren Neffen wie einen Sohn liebten — Nun denn! 


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Zweiter Aufzug. 12. Auftritt 365 


So geben Sie ihm Ihre Tochter, machen Sie Ihre beiden 
Kinder glücklich. 

Dorſigny. Aber was ſoll denn aus Ihnen werden? 

Zormenil, Aus mir — Man will mich nicht haben, 
das iſt freilich ein Unglück! Aber beklagen kann ich mich 
nicht darüber, da Ihr Neffe mir zuvorgekommen iſt. 

Dorfigny. Wie? Sie wären fähig, zu entſagen? 

Tormeuil. Ich halte es für meine Pflicht. 

Dorfigny (lebhaftö). Ach Herr von Lormeuil! Wie viel 
Dank bin ich Ihnen ſchuldig! 

Tormeuil. Ich verſtehe Sie nicht. 

Dorſigny. Nein, nein, Sie wiſſen nicht, welch großen, 
großen Dienſt Sie mir erzeigen — Ach, meine Sophie! 
Wir werden glücklich werden! 

Tormeuil. Was iſt das? Wie? — das ijt Herr von 
Dorſigny nicht — Wär's möglich — 

Dorfigny. Ich habe mich verraten. 

Tormeuil. Sie find Dorſigny der Neffe? Ja, Sie 
ſind's — Nun, Sie habe ich zwar nicht hier geſucht, aber 
ich freue mich, Sie zu ſehen. — Zwar ſollte ich billig 
auf Sie böſe ſein wegen der drei Degenſtiche, die Sie 
mir ſo großmütig in den Leib geſchickt haben — 

Dorfigny. Herr von Lormeuil! 

Lormeuil. Zum Glück find fie nicht tödlich, alſo mag's 
gut ſein! Ihr Herr Onkel hat mir ſehr viel Gutes von 
Ihnen geſagt, Herr von Dorſigny, und, weit entfernt, 
mit Ihnen Händel anfangen zu wollen, biete ich Ihnen 
von Herzen meine Freundſchaft an und bitte um die 
Ihrige. 

Dorſigny. Herr von Lormeuil! 

Tormeuil. Alſo zur Sache, Herr von Dorſigny — 
Sie lieben Ihre Couſine und haben vollkommen Urſache 
dazu. Ich verſpreche Ihnen, allen meinen Einfluß bei 
dem Oberſten anzuwenden, daß ſie Ihnen zu teil wird 


366 Der Neffe als Onkel 


— Dagegen verlange ich aber, daß Sie auch Ihrerſeits 
mir einen wichtigen Dienſt erzeigen. b 

Dorſigng. Reden Sie! Fordern Sie! Sie haben 
ſich ein heiliges Recht auf meine Dankbarkeit erworben. 

Tormeuil. Sie haben eine Schweſter, Herr von Dor⸗ 
ſigny. Da Sie aber für niemand Augen haben als für 
Ihre Baſe, ſo bemerkten Sie vielleicht nicht, wie ſehr 
Ihre Schweſter liebenswürdig iſt — Ich aber — ich 
habe es recht gut bemerkt — und daß ich's kurz mache 
— Frau von Mirville verdient die Huldigung eines jeden! 
Ich habe ſie geſehen, und ich — 

Dorſigny. Sie lieben ſie! Sie iſt die Ihre! Zählen 
Sie auf mich — Sie ſoll Ihnen bald gut ſein, wenn 
ſie es nicht ſchon jetzt iſt — dafür ſteh' ich. Wie ſich doch 
alles ſo glücklich fügen muß! — Ich gewinne einen Freund, 
der mir behilflich ſein will, meine Geliebte zu beſitzen, 
und ich bin im ſtand, ihn wieder glücklich zu machen. 

Tormeuil. Das ſteht zu hoffen, aber ſo ganz aus⸗ 
gemacht iſt es doch nicht — Hier kommt Ihre Schweſter! 
Friſch, Herr von Dorſigny — Sprechen Sie für mich! 
Führen Sie meine Sache! Ich will bei dem Onkel die 
Ihrige führen. (Ab.) 

Dorſigny. Das iſt ein herrlicher Menſch, dieſer Lor⸗ 
meuil! Welche glückliche Frau wird meine Schweſter! 


13. Auftritt 


Frau von Mirville. Franz von Dorſigny. 


Fr. v. Mirville. Nun wie ſteht's, Bruder? 

Dorſigny. Du haſt eine Eroberung gemacht, Schweſter! 
der Lormeuil iſt Knall und Fall ſterblich in dich ver⸗ 
liebt worden. Eben hat er mir das Geſtändnis getan, 
weil er glaubte, mit dem Onkel zu reden! — Ich ſagte ihm 


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Zweiter Aufzug. 15. Auftritt 367 


aber, dieſe Gedanken ſollte er ſich nur vergehen laſſen 
— du hätteſt das Heiraten auf immer verſchworen — 
Ich habe recht getan, nicht? i 

Er. v. Mirville. Allerdings — aber — du hätteſt 
eben nicht gebraucht, ihn auf eine ſo rauhe Art abzu⸗ 
weiſen. Der arme Junge iſt ſchon übel genug daran, 
daß er bei Sophien durchfällt. 


14. Auftritt 


Vorige. Champagne. 


Champagne. Nun, gnädiger Herr! Machen Sie, daß 
Sie fortkommen. Die Tante darf Sie nicht mehr hier 
antreffen, wenn ſie zurückkommt — 

Dorfigny. Nun ich gehe! Bin ich doch nun gewiß, 
daß mir Lormeuil die Couſine nicht wegnimmt. (Ab mit 
Frau von Mirville.) 


15. Auftritt 


Champagne allein. 


Da bin ich nun allein! — Freund Champagne, du 
biſt ein Dummkopf, wenn du deine Unbeſonnenheit von 
vorhin nicht gut machſt — Dem Onkel die ganze Karte 
zu verraten! Aber laß ſehen! Was iſt da zu machen? 
— Entweder den Onkel oder den Bräutigam müſſen wir 
uns auf die nächſten zwei Tage vom Halſe ſchaffen, ſonſt 
geht's nicht — Aber wie Teufel iſt's da anzufangen? — 
Wart? — Laß ſehen — Machſinnend.) Mein Herr und dieſer 
Herr von Lormeuil find zwar als ganz gute Freunde aus. 
einander gegangen, aber es hätte doch Händel zwiſchen 
ihnen ſetzen können! Können, das iſt mir genug! Da⸗ 
von laßt uns ausgehen — Ich muß als ein guter Diener 


368 Der Neffe als Onkel 


Unglück verhüten! Nichts als redliche Beſorgnis für 
meinen Herrn — Alſo gleich zur Polizei! Man nimmt 
ſeine Maßregeln, und iſt's dann meine Schuld, wenn ſie 
den Onkel für den Neffen nehmen? — Wer kann für die 
Ahnlichkeit — Das Wageſtück iſt groß, groß, aber ich 
wag's. Mißlingen kann's nicht, und wenn auch — Es 
kann nicht mißlingen — Im äußerſten Fall bin ich 
gedeckt! Ich habe nur meine Pflicht beobachtet! Und 
mag dann der Onkel gegen mich toben, ſo viel er will 
— Ich verſtecke mich hinter den Neffen, ich verhelf ihm 
zu ſeiner Braut, er muß erkenntlich ſein — Friſch, Cham⸗ 
pagne, ans Werk — hier iſt Ehre einzulegen. (Geht ab.) 


Dritter Aufzug 
1. Auftritt 


Oberſt Dorſigny kommt. Gleich darauf Lormeuil. 


Oberſt. Muß der Teufel auch dieſen Notar gerade 
heute zu einem Nachteſſen führen! Ich hab' ihm ein 
Billet dort gelaſſen, und mein Herr Neffe hatte ſchon 
vorher die Mühe auf ſich genommen. 

Tormeuil (tommt). Für diesmal denke ich doch wohl 
den Onkel vor mir zu haben und nicht den Neffen. 

Oberſt. Wohl bin ich's ſelbſt! Sie dürfen nicht 
zweifeln. 

Tormeuil. Ich habe Ihnen viel zu ſagen, Herr von 
Dorſigny. 

Oberſt. Ich glaub' es wohl, guter Junge. Du wirſt 
raſend ſein für Zorn — Aber keine Gewalttätigkeit, lieber 


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Dritter Aufzug. 2. Auftritt 369 


Freund, ich bitte darum! — Denken Sie daran, daß der, 
der Sie beleidigt hat, mein Neffe iſt — Ihr Ehrenwort 
verlang' ich, daß Sie es mir überlaſſen wollen, ihn da⸗ 
für zu ſtrafen. 

Tormeuil. Aber fo erlauben Sie mir — 

Oberſt. Nichts erlaub' ich! Es wird nichts daraus! 
— So ſeid ihr jungen Leute! Ihr wißt keine andere 
Art, Unrecht gut zu machen, als daß ihr einander die 
Hälſe brecht. 

Tormeuil. Das iſt aber ja nicht mein Fall. Hören 
Sie doch nur. 

Oberſt. Mein Gott! Ich weiß ja! Bin ich doch auch 
jung geweſen! — Aber laß dich das alles nicht anfechten, 
guter Junge! du wirſt doch mein Schwiegerſohn. Du 
wirſt's — dabei bleibt's! 

Tormeuil. Ihre Güte — Ihre Freundſchaft erkenn! 
ich mit dem größten Dank — Aber, ſo wie die Sachen 
ſtehen — 

Oberſt (lauter). Nichts! Kein Wort mehr! 


2. Auftritt 


Champagne mit zwei Unteroffizieren. Vorige. 


Champagne (gu dieſen). Sehen Sie's, meine Herren? 
Sehen Sie's? Eben wollten ſie an einander geraten. 

Tormeuil. Was ſuchen dieſe Leute bei uns? 

Erſter Unteroffisier. Ihre ganz gehorſamen Diener, 
meine Herren! Habe ich nicht die Ehre, mit Herrn von 
Dorſigny zu ſprechen? 

Oberſt. Dorſigny heiß' ich. 

Champagne. Und dieſer hier iſt Herr von Lormeuil? 

Tormenil. Der bin ich, ja. Aber was wollen die 


Herren von mir? 
Schillers Werke. IX. 24 


870 Der Neffe als Onkel 


Zweiter Unteroffizier. Ich werde die Ehre haben, 
Euer Gnaden zu begleiten. 

Lormeuil. Mich zu begleiten? Wohin? Es fällt 
mir gar nicht ein, ausgehen zu wollen. 

Erſter Unteroffizier (gum Oberst). Und ich, gnädiger 
Herr, bin beordert, Ihnen zur Eskorte zu dienen. 

Oberſt. Aber wohin will mich der Herr eskortieren? 

Erſter Unteroffizier. Das will ich Ihnen ſagen, gnä⸗ 
diger Herr. Man hat in Erfahrung gebracht, daß Sie auf 
dem Sprung ſtünden, ſich mit dieſem Herrn zu ſchlagen, 
und damit nun — 

Oberſt. Mich zu ſchlagen! Und weswegen denn? 

Erſter Unteroffizier. Weil Sie Nebenbuhler find — 
weil Sie beide das Fräulein von Dorſigny lieben. Dieſer 
Herr hier iſt der Bräutigam des Fräuleins, den ihr der 
Vater beſtimmt hat — und Sie, gnädiger Herr, ſind ihr 
Couſin und ihr Liebhaber — O wir wiſſen alles! 

Tormeuil. Sie ſind im Irrtum, meine Herrn. 

Oberſt. Wahrlich, Sie ſind an den Unrechten ge⸗ 
kommen. 

Champagne (gu den Wachen). Friſch zu! Laſſen Sie 
ſich nichts weismachen, meine Herrn. (Zu Herrn von Dorſigny.) 
Lieber gnädiger Herr! Werfen Sie endlich Ihre Maske 
weg, geſtehen Sie, wer Sie ſind, geben Sie ein Spiel 
auf, wobei Sie nicht die beſte Rolle ſpielen. 

Oberſt. Wie, Schurke, das iſt wieder ein Streich 
von dir — 

Champagne. Ja, gnädiger Herr, ich hab' es ſo ver⸗ 
anſtaltet, ich leugn' es gar nicht — ich rühme mich deſſen! 
— Die Pflicht eines rechtſchaffenen Dieners habe ich er⸗ 
füllt, da ich Unglück verhütete. 

Oberſt. Sie können mir's glauben, meine Herren! 
der, den Sie ſuchen, bin ich nicht; ich bin ſein Onkel. 

Erſter Unteroffizier. Sein Onkel! Gehn Sie doch! 


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Dritter Aufzug. 2. Auftritt 371 


Sie gleichen dem Herrn Onkel außerordentlich, ſagt man, 
aber uns ſoll dieſe Ahnlichkeit nicht betrügen. 

Oberſt. Aber ſehen Sie mich doch nur recht an! Ich 
habe ja eine Perücke, und mein Neffe trägt ſein eigenes 
Haar. 

Erſter Unteroffizier. Ja, ja, wir wiſſen recht gut, 
warum Sie die Tracht Ihres Herrn Onkels angenommen 
— das Stückchen war ſinnreich; es tut uns leid, daß es 
nicht beſſer geglückt iſt. 

Oberſt. Aber mein Herr, ſo hören Sie doch nur 
an — 

Erſter Unteroffisier, Ja, wenn wir jeden anhören 
wollten, den wir feſtzunehmen beordert ſind — wir würden 
nie von der Stelle kommen — Belieben Sie uns zu 
folgen, Herr von Dorſigny. Die Poſtchaiſe hält vor der 
Tür und erwartet uns. 5 

Oberſt. Wie? Was? Die Poſtchaiſe? 

Erſter Unteroffizier. Ja, Herr! Sie haben Ihre Gar⸗ 
niſon heimlich verlaſſen! Wir ſind beordert, Sie ſtehen⸗ 
den Fußes in den Wagen zu packen und nach Straßburg 
zurückzubringen. N 

Oberſt. Und das iſt wieder ein Streich von dieſem 
verwünſchten Taugenichts! Ha Lotterbube! 

Champagne. Ja, gnädiger Herr, es iſt meine Ver⸗ 
anſtaltung — Sie wiſſen, wie ſehr ich dawider war, daß 
Sie Straßburg ohne Urlaub verließen. 

Oberſt (hebt den Stock anf). Nein, ich halte mich nicht 
mehr — i 

Beide Unteroffisiere. Mäßigen Sie ſich, Herr von 
Dorſigny! 

Champagne. Halten Sie ihn, meine Herren, ich 
bitte — das hat man davon, wenn man Undankbare 
verpflichtet. Ich rette vielleicht Ihr Leben, da ich dieſem 
unſeligen Duell vorbeuge, und zum Dank hätten Sie mich 


372 Der Neffe als Onkel 


tot gemacht, wenn dieſe Herren nicht ſo gut geweſen 
wären, es zu verhindern. 

Oberſt. Was iſt hier zu tun, Lormeuil? 

Tormeuil. Warum berufen Sie ſich nicht auf die 
Perſonen, die Sie kennen müſſen? 

Oberſt. An wen, zum Teufel! ſoll ich mich wenden? 
Meine Frau, meine Tochter ſind ausgegangen — meine 
Nichte iſt vom Komplott — die ganze Welt iſt behext. 

Tormeuil. So bleibt nichts übrig, als in Gottes 
Namen nach Straßburg zu reiſen, wenn dieſe Leute nicht 
mit ſich reden laſſen. 

Oberſt. Das wäre aber ganz verwünſcht — 

Erſter Unteroffizier (zu Champagne). Sind Sie aber 
auch ganz gewiß, daß es der Neffe iſt? 

Champagne. Freilich! Freilich! Der Onkel iſt weit 
weg — Nur ſtandgehalten! Nicht gewankt! 


3. Auftritt 
Ein Poſtillon. Vorige. 


Poſtillon (betrunken). He! Holla! Wird's bald, ihr 
Herrn? Meine Pferde ſtehen ſchon eine Stunde vor 
dem Hauſe, und ich bin nicht des Wartens wegen da. 

Oberſt. Was will der Burſch? 

Erſter Unteroffisier, Es iſt der Poſtillon, der Sie 
fahren ſoll. 

Poſtillon. Sieh doch! Sind Sie's, Herr Hauptmann, 


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der abreiſt — Sie haben kurze Geſchäfte hier gemacht 


— Heute Abend kommen Sie an, und in der Nacht geht's 
wieder fort. 

Oberſt. Woher weißt denn du? — 

Poſtillon. Ei! Ei! War ich's denn nicht, der Sie 
vor etlichen Stunden an der Hintertür dieſes Hauſes 


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Dritter Aufzug. 3. Auftritt 373 


abſetzte? Sie ſehen, mein Kapitän, daß ich Ihr Geld 
wohl angewendet — ja, ja, wenn mir einer was zu ver⸗ 
trinken gibt, ſo erfüll' ich gewiſſenhaft und redlich die 
Abſicht. 

Oberſt. Was ſagſt du, Kerl? Mich hätteſt du ge⸗ 
fahren? Mich? 

Poſtillon. Sie, Herr! — Ja doch, beim Teufel, und 
da ſteht ja Ihr Bedienter, der den Vorreuter machte — 
Gott grüß' dich, Gaudieb! — Eben der hat mir's ja im 
Vertrauen geſteckt, daß Sie ein Herr Hauptmann ſeien und 
von Straßburg heimlich nach Paris gingen — 

Oberſt. Wie, Schurke? Ich wäre das geweſen? 

Poſtillon. Ja, Sie! Und der auf dem ganzen Wege 
laut mit ſich ſprach und an einem fort rief: Meine Sophie! 
Mein liebes Bäschen! Mein engliſches Couſinchen! — 
Wie? haben Sie das ſchon vergeſſen? 

Champagne (gum Oberſt). Ich bin's nicht, gnädiger 
Herr, der ihm dieſe Worte in den Mund legt — Wer 
wird aber auch auf öffentlicher Poſtſtraße ſo laut von 
ſeiner Gebieterin reden! 

Oberſt. Es iſt beſchloſſen, ich ſeh's, ich ſoll nach 
Straßburg, um der Sünden meines Neffen willen — 

Erſter Unteroffizier. Alſo, mein Herr Hauptmann — 

Oberſt. Alſo, mein Herr Geleitsmann, alſo muß ich 
freilich mit Ihnen fort, aber ich kann Sie verſichern, 
ſehr wider meinen Willen. 

Erſter Unteroffizier. Das find wir gewohnt, mein 
Kapitän, die Leute wider ihren Willen zu bedienen. 

Oberſt. Du biſt alſo mein Bedienter? 

Champagne. Ja, gnädiger Herr. 

Oberſt. Folglich bin ich dein Gebieter. 

Champagne. Das verſteht ſich. 

Oberſt. Ein Bedienter muß ſeinem Herrn folgen — 
du gehſt mit mir nach Straßburg. 


374 Der Neffe als Onkel 


Champagne (vor ſich). Verflucht! 

Poſtillon. Das verſteht ſich — Marſch! 

Champagne. Es tut mir leid, Sie zu betrüben, gnä⸗ 
diger Herr — Sie wiſſen, wie groß meine Anhänglichkeit 
an Sie iſt — ich gebe Ihnen eine ſtarke Probe davon 
in dieſem Augenblick — aber Sie wiſſen auch, wie ſehr 
ich mein Weib liebe. Ich habe ſie heute nach einer langen 
Trennung wiedergeſehen! Die arme Frau bezeigte eine 
ſo herzliche Freude über meine Zurückkunft, daß ich be⸗ 
ſchloſſen habe, ſie nie wieder zu verlaſſen und meinen 
Abſchied von Ihnen zu begehren. Sie werden ſich er⸗ 
innern, daß Sie mir noch von drei Monaten Gage ſchul⸗ 
dig ſind. 

Oberſt. Dreihundert Stockprügel bin ich dir ſchuldig, 
Bube! 

Grier Unterofftzier. Herr Kapitän, Sie haben kein 
Recht, dieſen ehrlichen Diener wider ſeinen Willen nach 
Straßburg mitzunehmen — und wenn Sie ihm noch 
Rückſtand ſchuldig ſind — i 

Oberſt. Nichts, keinen Heller bin ich ihm ſchuldig. 

Erſter Unteroffizier. So iſt das kein Grund, ihn mit 
Prügeln abzulohnen. 


Tormeuil. Ich muß ſehen, wie ich ihm heraus helfe 


— wenn es nicht anders iſt — In Gottes Namen, reiſen 
Sie ab, Herr von Dorſigny — Zum Glück bin ich frei, 
ich habe Freunde, ich eile, ſie in Bewegung zu ſetzen, 
und bringe Sie zurück, eh' es Tag wird. 

Oberſt. Und ich will den Poſtillon dafür bezahlen, 
daß er ſo langſam fährt als möglich, damit Sie mich noch 
einholen können — (gum Poſtillon.) Hier, Schwager! Ver⸗ 
trink das auf meine Geſundheit — aber du mußt mich 
fahren — 

Poſtillon (treuherzig). Daß die Pferde dampfen. 

Oberſt. Nicht doch! Nein, ſo mein' ich's nicht — 


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Dritter Aufzug. 4. Auftritt 375 


Poſtillon. Ich will Sie fahren wie auf dem Her⸗ 
weg! Als ob der Teufel Sie davon führte. 

Oberſt. Hol' der Teufel dich ſelbſt, du verdammter 
Trunkenbold. Ich ſage dir ja — 

Poſtillon. Sie haben's eilig! Ich auch! Sein Sie 
ganz ruhig! Fort ſoll's gehn, daß die Funken hinaus 
fliegen. (Ab.) 

Oberſt (ihm nach). Der Kerl macht mich raſend! Warte 
doch, höre! 

Tormeuil. Beruhigen Sie ſich! Ihre Reiſe ſoll nicht 
lange dauern. 

Oberſt. Ich glaube, die ganze Hölle iſt heute los⸗ 
gelaſſen. (Geht ab. Der erſte Unteroffizier folgt.) 

Tormeuil (zum zweiten). Kommen Sie, mein Herr, folgen 
Sie mir, weil es Ihnen ſo befohlen iſt — aber ich ſage 
Ihnen vorher, ich werde Ihre Beine nicht ſchonen! Und 
wenn Sie ſich Rechnung gemacht haben, dieſe Nacht zu 
ſchlafen, ſo ſind Sie garſtig betrogen, denn wir werden 
immer auf den Straßen ſein. 

Zweiter Unteroffizier. Nach Ihrem Gefallen, gnädiger 
Herr — Zwingen Sie ſich ganz und gar nicht — Ihr 
Diener, Herr Champagne. (Lormeuil und der zweite Unters 
offizier ab.) 


4. Auftritt 


Champagne. Dann Frau von Mirville. 


Champagne (allein). Sie find fort — Glück zu, Cham⸗ 
pagne! Der Sieg iſt unſer! Jetzt friſch ans Werk, daß 
wir die Heirat noch in dieſer Nacht zu ſtande bringen 
— Da kommt die Schweſter meines Herrn, ihr kann ich 
alles ſagen. 


376 Der Neffe als Onkel 


Er. v. Mirville. Ah, biſt du da, Champagne? Weißt 
du nicht, wo der Onkel iſt? 

Champagne. Auf dem Weg nach Straßburg. 

Fr. v. Mirville. Wie? Was? Erkläre dich! 

Champagne. Recht gern, Ihr Gnaden. Sie wiſſen 
vielleicht nicht, daß mein Herr und dieſer Lormeuil einen 
heftigen Zank zuſammen gehabt haben. 

Fr. v. Mirville. Ganz im Gegenteil. Sie find als 
die beſten Freunde geſchieden, das weiß ich. 

Champagne. Nun, ſo habe ich's aber nicht gewußt. 
Und in der Hitze meines Eifers ging ich hin, mir bei 
der Polizei Hilfe zu ſuchen. Ich komme her mit zwei Ser⸗ 
geanten, davon der eine Befehl hat, dem Herrn von 
Lormeuil an der Seite zu bleiben, der andere, meinen 
Herrn nach Straßburg zurück zu bringen. — Nun reitet 
der Teufel dieſen verwünſchten Sergeanten, daß er den 
Onkel für den Neffen nimmt, ihn beinahe mit Gewalt 
in die Kutſche packt, und fort mit ihm, jagſt du nicht, 
ſo gilt's nicht, nach Straßburg! 

Fr. v. Mirville. Wie, Champagne! du ſchickſt meinen 
Onkel anſtatt meines Bruders auf die Reiſe? Nein, das 
kann nicht dein Ernſt ſein. 

Champagne. Um Vergebung, es iſt mein voller Ernſt 
— Das Elſaß iſt ein ſcharmantes Land, der Herr Oberſt 
haben ſich noch nicht darin umgeſehen, und ich verſchaffe 
ihnen dieſe kleine Ergötzlichkeit. 

Fr. v. Mirville. Du kannſt noch ſcherzen? Was 
macht aber der Herr von Lormeuil? 

Champagne. Er führt ſeinen Sergeanten in der 
Stadt ſpazieren. 

Er. v. Mirville. Der arme Junge! Er verdient 
wohl, daß ich Anteil an ihm nehme. 

Champagne. Nun, gnädige Frau! Ans Werk! Keine 
Zeit verloren! Wenn mein Herr ſeine Couſine nur erſt 


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Dritter Aufzug. 6. Auftritt 377 


geheiratet hat, ſo wollen wir den Onkel zurückholen. Ich 
ſuche meinen Herrn auf, ich bringe ihn her, und wenn 
nur Sie uns beiſtehen, ſo muß dieſe Nacht alles richtig 
werden. (Ab.) 


5. Auftritt 


Frau von Mirville. Dann Frau von Dorſigny. Sophie. 


Fr. v. Mirville. Das iſt ein verzweifelter Bube, aber 
er hat ſeine Sache ſo gut gemacht, daß ich mich mit ihm 
verſtehen muß — Hier kommt meine Tante, ich muß ihr 
die Wahrheit verbergen. 

Fr. u. Dorfigny. Ach, liebe Nichte! Haft du deinen 
Onkel nicht geſehen? 

Fr. v. Mirville. Wie? Hat er denn nicht Abſchied 
von Ihnen genommen? 

Er. u. Dorſigny. Abſchied! Wie? 

Fr. v. Mirville. Ja, er iſt fort. 

Er. v. Dorfigny. Er ijt fort? Seit wann? 

Fr. u. Mirville. Dieſen Augenblick. 

Er. u. Dorfigny. Das begreif' ich nicht. Er wollte 
ja erſt gegen eilf Uhr wegfahren. Und wo iſt er denn 
hin, ſo eilig? 

Er. v. Mirville. Das weiß ich nicht. Ich ſah ihn 
nicht abreiſen — Champagne erzählte mir's. 


6. Auftritt 
Die Vorigen. Franz von Dorfigny in ſeiner eigenen Uniform und 
ohne Perücke. Champagne. 
Champagne. Da iſt er, Ihr Gnaden, da iſt er! 
Fr. v. Dorſigng. Wer? Mein Mann? 
Champagne. Nein, nicht doch! mein Herr, der Herr 


2 Hauptmann. 


Sophie (ihm entgegen). Lieber Vetter! 


378 Der Neffe als Onkel 


Champagne. Ja, er hatte wohl Recht, zu ſagen, daß 
er mit ſeinem Brief zugleich eintreffen werde. 

Er. v. Dorfigny. Mein Mann reiſt ab, mein Neffe 
kommt an! Wie ſchnell ſich die Begebenheiten drängen! 

Dorſigny. Seh' ich Sie endlich wieder, beſte Tante! 
Ich komme voll Unruhe und Erwartung — 

Er. uv. Dorſigny. Guten Abend, lieber Neffe! 

Dorfigny. Welcher froftige Empfang? 

ar. v. Dorſigny. Ich bin herzlich erfreut, dich zu 
ſehen. Aber mein Mann — 

Dorfigny. Iſt dem Onkel etwas zugeſtoßen? 

Fr. v. Mirville. Der Onkel iſt heute Abend von 
einer großen Reiſe zurückgekommen, und in dieſem Augen⸗ 
blick verſchwindet er wieder, ohne daß wir wiſſen, wo er 
hin iſt. 

Dorſigny. Das iſt ja ſonderbar! 

Champagne. Es iſt ganz zum Erſtaunen! 

Er. v. Dorfigny. Da iſt ja Champagne! Der kann 
uns allen aus dem Traume helfen. 

Champagne. Ich, gnädige Frau? 

Fr. v. Mirville. Ja, du! Mit dir allein hat der 
Onkel ja geſprochen, wie er abreiſte. 

Champagne. Das iſt wahr! Mit mir allein hat er 
geſprochen. 

Dorſigny. Nun, jo ſage nur! Warum verreiſte er jo 
plötzlich? 

Champagne. Warum? Ei, er mußte wohl! Er 
hatte ja Befehl dazu von der Regierung. 

Fr. v. Dorſigng. Was? 

Champagne. Er hat einen wichtigen geheimen Auf⸗ 
trag, der die größte Eilfertigkeit erfordert — der einen 
Mann erfordert — einen Mann — Ich ſage nichts mehr! 
Aber Sie können ſich etwas darauf einbilden, gnädige 
Frau, daß die Wahl auf den Herrn gefallen iſt. 


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Dritter Aufzug. 6. Auftritt 379 


Er. u. Mirville. Allerdings! Eine ſolche Auszeich⸗ 
nung ehrt die ganze Familie! 

Champagne. Euer Gnaden begreifen wohl, daß er 
ſich da nicht lange mit Abſchiednehmen aufhalten konnte. 
Champagne, ſagte er zu mir, ich gehe in wichtigen Staats⸗ 
angelegenheiten nach — nach Sankt Petersburg. Der 
Staat befiehlt — ich muß gehorchen — beim erſten Poſt⸗ 
wechſel ſchreib' ich meiner Frau — was übrigens die Hei⸗ 
rat zwiſchen meinem Neffen und meiner Tochter betrifft 
— ſo weiß ſie, daß ich vollkommen damit zufrieden bin. 

Dorſigny. Was hör' ich! Mein lieber Onkel ſollte — 

Champagne. Ja, gnädiger Herr! Er willigt ein! — 
Ich gebe meiner Frau unumſchränkte Vollmacht, ſagte 
er, alles zu beendigen, und ich hoffe bei meiner Zurück⸗ 
kunft unſere Tochter als eine glückliche Frau zu finden. 

Er. u. Dorfigny. Und ſo reiſte er allein ab. 

Champagne. Allein? Nicht doch! Er hatte noch 
einen Herrn bei ſich, der nach etwas recht Vornehmem 
ausſah — 

Fr. v. Dorſigny. Ich kann mich gar nicht drein finden. 

Er. v. Mirville. Wir wiſſen ſeinen Wunſch! Man 
muß dahin ſehen, daß er ſie als Mann und Frau findet 
bei ſeiner Zurückkunft. 

Sophie. Seine Einwilligung ſcheint mir nicht im 
geringſten zweifelhaft, und ich trage gar kein Bedenken, 
den Vetter auf der Stelle zu heiraten. 

Er. v. Dorfigny. Aber ich trage Bedenken — und 
will ſeinen erſten Brief noch abwarten. 

Champagne. Da ſind wir nun ſchön gefördert, daß 
wir den Onkel nach Petersburg ſchicken. 

Dorſigny. Aber, beſte Tante! — 


380 Der Neffe als Onkel 


7. Auftritt 
Die Vorigen. Der Notarius. 


Notar (tritt zwiſchen Dorſigny und ſeine Tante). Ich empfehle 
mich der ganzen hochgeneigten Geſellſchaft zu Gnaden. 

Er. v. Dorſigny. Sieh da, Herr Gaſpar, der Notar 
unſers Hauſes. 

Notar. Zu Dero Befehl, gnädige Frau. Es beliebte 
Dero Herrn Gemahl, ſich in mein Haus zu verfügen — 

Fr. v. Dorfigny. Wie? Mein Mann wäre vor ſeiner 
Abreiſe noch bei Ihnen geweſen? 

Notar. Vor Dero Abreiſe! Was Sie mir ſagen! 
Sieh, ſieh doch, darum hatten es der gnädige Herr ſo 
eilig und wollten mich gar nicht in meinem Hauſe er⸗ 
warten. Dieſes Billet ließen mir Hochdieſelben zurück — 


Belieben Ihro Gnaden es zu durchleſen. (Reicht der Frau 
von Dorſigny das Billet.) 


Champagne (leiſe zu Dorſigny). Da iſt der Notar, den 
Ihr Onkel beſtellt hat. 

Dorfigny. Ja, wegen Lormeuils Heirat. 

Champagne. Wenn wir ihn zu der Ihrigen brauchen 
könnten? 

Dorfigny. Still! hören wir, was er ſchreibt! 

Er. v. Dorſigny (lie). „Haben Sie die Güte, mein 
Herr, ſich noch dieſen Abend in mein Haus zu bemühen 
und den Ehekontrakt mitzubringen, den Sie für meine 
Tochter aufgeſetzt haben. Ich habe meine Urſachen, dieſe 
Heirat noch in dieſer Nacht abzuſchließen — Dorſigny.“ 

Champagne. Da haben wir's ſchwarz auf weiß! Nun 
wird die gnädige Frau doch nicht mehr an der Einwilli⸗ 
gung des Herrn Onkels zweifeln? 

Sophie. Es iſt alſo gar nicht nötig, daß der Papa 
Ihnen ſchreibt, liebe Mutter, da er dieſem Herrn ge- 
ſchrieben hat. 


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Dritter Aufzug. 8. Auftritt 381 


Fr. v. Dorſigny. Was denken Sie von der Sache, 
Herr Gaſpar? 

Notar. Nun, dieſer Brief wäre deutlich genug, 
dächt' ich. 

Er. v. Dorfigny. In Gottes Namen, meine Kinder! 
Seid glücklich! gebt euch die Hände, weil doch mein 
Mann ſelbſt den Notar herſchickt. 

Dorſigny. Friſch, Champagne! Einen Tiſch, Feder 
und Tinte, wir wollen gleich unterzeichnen. 


8. Auftritt 
Oberſt Dorſigny. Valcour. Vorige. 


Er. v. Mirville. Himmel! Der Onkel! 

Sophie. Mein Vater! 

Champagne. Führt ihn der Teufel zurück? 

Dorfigny. Ja wohl, der Teufel! Dieſer Valcour 
iſt mein böſer Genius. 

Fr. u. Dorfigny. Was ſeh' ich! Mein Mann! 

Valcour (den ältern Dorfigny präſentierend). Wie ſchätz' ich 
mich glücklich, einen geliebten Neffen in den Schoß ſeiner 
Familie zurückführen zu können! (Wie er den jüngern Dorfigny 
gewahr wird.) Wie Teufel, da biſt du ja — (Sich zum ältern 
Dorfigny wendend.) Und wer find Sie denn, mein Herr? 

Oberſt. Sein Onkel, mein Herr. 

Dorfigny. Aber erkläre mir, Valcour — 

Valcour. Erkläre du mir ſelbſt! Ich bringe in Er⸗ 
fahrung, daß eine Ordre ausgefertigt ſei, dich nach deiner 
Garniſon zurück zu ſchicken — Nach unſäglicher Mühe 
erlange ich, daß ſie widerrufen wird — ich werfe mich 
aufs Pferd, ich erreiche noch bald genug die Poſtchaiſe, 
wo ich dich zu finden glaubte, und finde auch wirklich — 

Oberſt. Ihren gehorſamen Diener, fluchend und 
tobend über einen verwünſchten Poſtknecht, dem ich Geld 


882 Der Neffe als Onkel 


gegeben hatte, um mich langſam zu fahren, und der mich 
wie ein Sturmwind davonführte. 

Valcour. Dein Herr Onkel findet es nicht für gut, 
mich aus meinem Irrtum zu reißen; die Poſtchaiſe lenkt 
wieder um, nach Paris zurück, und da bin ich nun. — 
Ich hoffe, Dorſigny, du kannſt dich nicht über meinen 
Eifer beklagen. . 

Dorſigng. Sehr verbunden, mein Freund, für die 
mächtigen Dienſte, die du mir geleiſtet haſt! Es tut mir 
nur leid um die unendliche Mühe, die du dir gegeben haſt. 

Oberſt. Herr von Valcour! Mein Neffe erkennt 
Ihre große Güte vielleicht nicht mit der gehörigen Dank⸗ 
barkeit, aber rechnen Sie dafür auf die meinige. 

Er. v. Dorfigny. Sie waren alſo nicht unterwegs 
nach Rußland? 

Oberſt. Was Teufel! ſollte ich in Rußland? 

Er. u. Dorſigng. Nun wegen der wichtigen Kom⸗ 
miſſion, die das Miniſterium Ihnen auftrug, wie Sie 
dem Champagne ſagten. 

Oberſt. Alſo wieder der Champagne, der mich zu 
dieſem hohen Poſten befördert. Ich bin ihm unendlichen 
Dank ſchuldig, daß er ſo hoch mit mir hinaus will — 
Herr Gaſpar, Sie werden zu Hauſe mein Billet gefunden 
haben; es würde mir lieb ſein, wenn der Ehekontrakt noch 
dieſe Nacht unterzeichnet würde. 

Notar. Nichts iſt leichter, gnädiger Herr! Wir waren 
eben im Begriff, dieſes Geſchäft auch in Ihrer Abweſen⸗ 
heit vorzunehmen. 

Oberſt. Sehr wohl! Man verheiratet ſich zuweilen 
ohne den Vater, aber wie ohne den Bräutigam, das iſt 
mir doch nie vorgekommen. 

Er. v. Dorſigng. Hier ijt der Bräutigam! Unſer 
lieber Neffe. 

Dorfigny. Ja, beſter Onkel! Ich bin's. 


5 


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15 


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30 


10 


15 


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25 


Dritter Aufzug. 9. Auftritt 383 


Oberſt. Mein Neffe iſt ein ganz hübſcher Junge, 
aber meine Tochter bekommt er nicht. 

Er. v. Dorſigny. Nun, wer ſoll fie denn ſonſt be⸗ 
kommen? 

Oberſt. Wer, fragen Sie? Zum Henker! Der Herr 
von Lormeuil ſoll ſie bekommen. 

Er. v. Dorſigny. Er iſt alſo nicht tot, der Herr von 
Lormeuil? 

Oberſt. Nicht doch, Madam! Er lebt, er iſt hier, 
ſehen Sie ſich nur um, dort kommt er. 

Er. v. Dorfigny. Und wer iſt denn der Herr, der 
mit ihm ijt? 

Oberſt. Das iſt ein Kammerdiener, den Herr Cham⸗ 
pagne beliebt hat, ihm an die Seite zu geben 


Letzter Auftritt 


Die Vorigen. Lormeuil mit ſeinem Unteroffizier, der ſich im Hinter⸗ 
grunde des Zimmers niederſetzt. 

Tormeuil (gum Oberſten). Sie ſchicken alſo Ihren Onkel 
an Ihrer Statt nach Straßburg? Das wird Ihnen nicht 
ſo hingehen, mein Herr. 

Oberſt. Sieh, ſieh doch! wenn du dich ja mit Ge⸗ 
walt ſchlagen willſt, Lormeuil, ſo ſchlage dich mit meinem 
Neffen, und nicht mit mir. 

Tormeuil (ertennt ihn). Wie? Sind Sie's? Und wie 
haben Sie's gemacht, daß Sie ſo ſchnell zurückkommen? 

Oberſt. Hier, bei dieſem Herrn von Valcour bedanken 
Sie ſich, der mich aus Freundſchaft für meinen Neffen 
ſpornſtreichs zurückholte. 

Dorſigny. Ich begreife Sie nicht, Herr von Lormeuil! 
Wir waren ja als die beſten Freunde von einander geſchie⸗ 
den — Haben Sie mir nicht ſelbſt, noch ganz kürzlich, alle 
Ihre Anſprüche auf die Hand meiner Couſine abgetreten? 


384 Der Neffe als Onkel 


Oberſt. Nichts! Nichts! Daraus wird nichts! Meine 
Frau, meine Tochter, meine Nichte, mein Neffe, alle zu⸗ 
ſammen ſollen mich nicht hindern, meinen Willen durch⸗ 
zuſetzen. 

Tormeuil. Herr von Dorſigny! Mich freut's von 
Herzen, daß Sie von einer Reiſe zurück ſind, die Sie 
wider Ihren Willen angetreten — Aber wir haben gut 
reden und Heiratspläne ſchmieden, Fräulein Sophie wird 
darum doch Ihren Neffen lieben. 

Oberſt. Ich verſtehe nichts von dieſem allem! Aber 
ich werde den Lormeuil nicht von Toulon nach Paris ge⸗ 
ſprengt haben, daß er als ein Junggeſell zurückkehren ſoll. 

Dorfigny. Was das betrifft, mein Onkel — jo ließe 
ſich vielleicht eine Auskunft treffen, daß Herr von Lormeuil 
keinen vergeblichen Weg gemacht hätte. — Fragen Sie 
meine Schweſter. 

Fr. u. Mirville. Mich? Ich habe nichts zu ſagen. 

Tormeuil. Nun fo will ich denn reden — Herr von 
Dorſigny, Ihre Nichte iſt frei; bei der Freundſchaft, 
davon Sie mir noch heute einen ſo großen Beweis geben 
wollten, bitte ich Sie, verwenden Sie allen Ihren Ein⸗ 
fluß bei Ihrer Nichte, daß ſie es übernehmen möge, 
Ihre Wortbrüchigkeit gegen mich gut zu machen. 

Oberſt. Was? Wie? — Ihr ſollt ein Paar werden 
— Und dieſer Schelm, der Champagne, ſoll mir für alle 
zuſammen bezahlen. 

Champagne. Gott ſoll mich verdammen, gnädiger 
Herr, wenn ich nicht ſelbſt zuerſt von der Ahnlichkeit be⸗ 
trogen wurde. — Verzeihen Sie mir die kleine Spazier⸗ 
fahrt, die ich Sie machen ließ, es geſchah meinem Herrn 
zum Beſten. 

Oberſt (gu beiden Paaren). Nun, ſo unterzeichnet! 


10 


15 


20 


30 


Anmerkungen 


Schillers Werke. IX. 


— 2 


8 * 


Macbeth. 


Schillers Bühnenbearbeitung iſt zuerſt in 1. u. 2. Auf⸗ 
lage 1801 in Tübingen erſchienen. Für die Geſamterklärung 
des Dramas verweiſe ich auf Karl Werder, Vorleſungen 
über Shakeſpeares Macbeth, Berlin 1885. Friedr. Theod. 
Viſcher, Shakeſpeare-Vorträge. 2. Band, Stuttgart 1900. 
Albert Köſter, Schiller als Dramaturg, Berlin 1891. S. 20 ff. 
Die Programmabhandlungen von Sandmann (Tarnowitz 
1888), Schatzmann (Trautenau 1889), Beckhaus (Oſtrowo und 
Leipzig 1889) und Fietkau (Königsberg 1897) fördern wenig. 

Vers 9—24. Dieſe von Schiller frei hinzugedichteten 
Verſe wollen ſich nicht einfügen in die erſte Szene, deren 
Weſen gerade die Kürze und der ſchrille Mißklang iſt. V. 11 
ſagt ſogar etwas Falſches: Die Vorausſagung der Hexen 
trifft ja richtig ein, ſie iſt nicht trüglich; wäre ſie es aber, 
ſo würde ſolches Wort, das von vornherein jeden Zweiſel 
zerſtreut, übel am Platze ſein. 

V. 26. Paddock iſt eine Kröte oder ein dienender Geiſt 
in dieſer Geſtalt; ſeine Erwähnung paßt nicht mehr zu den 
verwandelten Hexen. 

39 ff. Schiller hat die Entſcheidungsſchlacht, die ſich bei 
Shakeſpeare als ein Zweikampf zwiſchen Macbeth und Mac⸗ 
donald darſtellt, in ein ganz modernes Treffen umgedichtet. 

41. Kernen (keltiſcher Ausdruck) find leichte Fußtruppen, 
Galloglaſſen ſchwergepanzerte Ritter. Vgl. 2217. 

42—44, Erſatzverſe Schillers für eine weggelaſſene Stelle 
des Originals. 

50 ff. Schiller hat hier, Wieland folgend, die unmögliche 
Vorſtellung beibehalten, daß das zerſpaltene Haupt noch 
aufgepflanzt wird. Es liegt ein Überſetzungsfehler vor, oder 


888 Anmerkungen 


im Original dürfte from the nave to the chaps in from the 
nape to the chaps zu ändern ſein. 

53. Die Bezeichnung „Than“ für einen angelſächſiſchen 
Edelmann, der unter dem Rang eines Earl ſteht (vgl. 2304), 
hat Schiller durchweg beibehalten. 

64. Das moderne Wort „Oberſt“ wendet Schiller im 
Sinne von „Feldherr“ (engl. captain) an; es hat ſich aus 
der Sprache des „Wallenſtein“ eingeſchlichen. 

67—70 frei ſtiliſiert von Schiller. 

84— 89. Hier hat wieder Schiller die kühneren Tropen 
Shakeſpeares durch ſchlichtere Rede erſetzt. 

95. Die Namensform „Sankt Kolumbus“ für die Inſel 
entnahm Schiller aus Eſchenburgs Überſetzung; Shakeſpeare 
nennt ſie Saint Colme's inch und meint die kleine Inſel im 
Firth of Forth, auf der ſich eine Abtei des heiligen Kolumban 
befindet, vgl. V. 941. 

Die ganze Szene von 101—143 mit der Erzählung, die 
an „Johann den Seifenſieder“ erinnert, hat Schiller neu ge⸗ 
dichtet. Shakeſpeare hat ſtatt ihrer eine Unterredung der drei 
ſcheußlichen Vetteln über ihre widerwärtigen Zaubermittel. 

152. Das berühmte fair is foul, das in V. 28 zuerſt 
ertönte und hier aufſchlußreich wieder anklingt, hat Schiller, 
wie nicht jeder Überſetzer, mit Recht beibehalten. 

153. In Foris (Fores) befindet ſich der Palaſt des Kö⸗ 
nigs, wo der 7. und 8. Auftritt ſpielt. 

160. Das Wort „verkürzt“ entnahm Schiller aus Wie⸗ 
lands Überſetzung; Shakeſpeare ſchreibt: chappy, riſſig. 

Auch in V. 163 wich Schiller leiſe vom Original ab; er 
ließ den veränderten Hexen zwar das männiſche Anſehen, 
ſtattete ſie aber nicht wie im Original mit Bärten, dem 
Kennzeichen der Hexen nach älterer Vorſtellung, aus. 

189. Zuſatz Schillers. 

206. Die „tolle Wurzel“ iſt die des Bilſenkrautes (engl. 
henbane), das in älteren botaniſchen Werken den Namen 
Insana führte. 

Von 210—219 hat Schiller das Original ganz frei 
wiedergegeben. 

234 ff. widerſprechen den Verſen 81 ff. Das Verſehen 


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Dann 


zum Macbeth 389 


iſt dadurch entſtanden, daß Schiller dem Than von Roſſe 
die Worte zuteilt, die bei Shakeſpeare Angus redet. 

275. „gewohnen“ mit dem Genitiv oder (wie hier) mit 
dem Akkuſativ kommt im Sinne von „vertraut werden mit 
etwas“ in der Sprache des 18. Jahrhunderts noch oft vor; 
im 19. Jahrhundert ſchwindet es mehr und mehr, bis auf 
das Partizip „gewohnt“. 

290 ff. ſpricht bei Shakeſpeare Malcolm. Die Verſe, 
die ziemlich treu dem Original entſprechen, ſollen nach der 
Verſicherung alter Kommentatoren den Eindruck des Todes 
des Grafen Eſſex wiedergeben. 

Hinſichtlich der im 3., 6. und 8. Auftritt erſcheinenden 
Edelleute herrſcht in der Überlieferung manche Verwirrung. 
Unſre Ausgabe hat inſofern leiſe normierend eingegriffen, 
als nun durchweg Roſſe und Angus als Boten zwiſchen 
dem König und Macbeth hin und her wandern. 

332. Der ſchwache, jetzt ungebräuchliche Plural des 
Wortes „Baron“ iſt Schiller aus ſeiner Jugend geläufig; 
vgl. die kleine Skizze „Eine großmütige Handlung“. 

334 f. Die Worte Schillers geben deutlicher als das 
Original die Situation wieder, freilich mit dem Irrtum, 
als ob das Eintreffen auf Inverneß noch am ſelben Abend 
ſtattfinde, während bei Shakeſpeare einige Tage bis dahin 
vergehen, vgl. 596 f. 

345. Die weitere Verherrlichung Banquos durch des 
Königs Mund, die bei Shakeſpeare an dieſer Stelle folgt, 
ließ Schiller weg. 

387389. Anſcheinend nach dem Original treuer wieder⸗ 
gegeben als bei Schillers Vorgängern; ebenſo 425 f. 

441. Das Epitheton „angenehm“ (auch 468, 592), das 
Schiller aus Wieland (II, 2) entnahm, gefiel ihm ſo, daß er 
es noch im „Tell“ als Bezeichnung für die Stauffacherin 
anwandte. 

450 — 454. Dieſe Verſe, deren inhaltloſe Redſeligkeit 
allerdings hier für die gleisneriſche Lady bezeichnend ſind, 
können uns zugleich als treffendes Beiſpiel dafür dienen, 
wie die Benutzung mehrerer Überſetzungen nebeneinander 
den Wortlaut der Schillerſchen Bearbeitung aufgeſchwellt hat. 


390 Anmerkungen 


Shakeſpeare: We rest your hermits. 

Wieland: Es bleibt uns nichts übrig, als ... Eure 
armen Fürbitter zu bleiben. 

Eſchenburg: Es bleibt uns nichts übrig, als ... in⸗ 
brünſtig, wie Einſiedler, für Euch zu beten. 

Schiller: Nichts bleibt uns übrig, als... 

Gleich armen Klausnern, nur an Wünſchen reich, 
Mit brünſtigen Gebeten Euch zu dienen. 

457. D. h. wir wären gern als ſein Quartiermacher 
ihm noch zuvorgekommen. 

469 ff. Wir haben nicht gewagt, die überall beglaubigte 
und auch mit den landläufigen Shakeſpeare-Ausgaben über⸗ 
einſtimmende Interpunktion zu ändern. Beſſer würde ſie, 
im Einklang mit den Folios und mit der Whiteſchen Ver⸗ 
teidigung, ſo erſcheinen: 

Wär' es auch abgetan, wenn es getan iſt, 
Dann wär' es gut. — Es würde raſch getan, 
Wenn uns u. ſ. w. 

534. Der Schwur, deſſen die Lady gedenkt, hat nur 
Platz zwiſchen den beiden Unterredungen der Gatten. Das 
hat Schiller durch die Zuſammenziehung der im Original 
getrennten Szenen verwiſcht. 

535—549 find ein Zuſatz Schillers, in dem man beinahe 
glaubt, Wallenſtein in Unterredung mit der Gräfin Terzky 
zu hören. 

573. Die Nebenform „Senne“ neben „Sehne“ findet ſich, 
beſonders bei oberdeutſchen Dichtern, noch durch das ganze 
19. Jahrhundert hin. 

594. Das „Wir“ umfaßt an dieſer Stelle natürlich 
Macbeth und die Lady. Shakeſpeare hat aber mit höchſter 
pſychologiſcher Feinheit auch noch im weiteren Verlauf dieſes 
Geſprächs dem Macbeth das königliche „Wir“ in den Mund 
gelegt, um ihn ganz im Bann ſeines Mordplans zu zeigen. 
Das hat Schiller leider 600 ff. getilgt. 

Nach 643: „Man hört die Glocke.“ Bei dieſen Worten 
könnte man an den Befehl denken, den Macbeth V. 611 dem 
Bedienten gegeben hat. Das aber war nur ein Scheinbefehl. 
So unklug iſt Macbeth nicht, daß er ſich die Aufforderung 


— 


—s 


ae LFE 


zum Macbeth 391 


zum Morde durch ein lautes Signal geben läßt. Es ſollte 
nach V. 643 richtiger heißen „Eine Uhr ſchlägt“ (im Original 
„a bell rings“, nicht „the bell“, nicht die Glocke der Lady). 
Die Uhr ſchlägt Zwei, das iſt das Signal, auf das ſich die 
Rede der Schlafwandlerin dann V. 1940 wieder bezieht. 

661. Im Einklang mit den entſcheidenden Ausgaben 
und alſo in Schillers Sinne haben wir das Komma nach 
„Verſuch“ ſtehn laſſen, obwohl es Shakeſpeares Meinung 
widerſpricht. Die Worte „der Verſuch und nicht die Tat“ 
(d. h. der Verſuch, dem die Tat nicht folgt) gehören eng zu⸗ 
ſammen. 

669 ff. Die Anordnung der Fragen und Antworten 
findet ſich allerdings in der Mehrzahl der Ausgaben, iſt 
aber ſinnlos, und drum unmöglich echt. Richtig würde die 
Verteilung fein (vgl. Hunter, New Illustrations of the Life, 
Studies and Writings of Shakespeare, 1845): 


Macbeth. Sagteſt du nicht was? 
Tady. Wann? Jetzt? 

Macbeth. Wie ich herunterkam. 

Lady (abwehrend). Ach! 
Macbeth. Horch! 


672. Die ſzeniſche Anweiſung „beſieht ſeine Hände“ iſt 
durch keine der Folibausgaben beglaubigt, ſondern eine rohe 
Interpolation Popes, die dann leider allgemein angenommen 
worden iſt. In Wahrheit ſieht Macbeth immer noch den 
toten König vor ſich und klagt: „Das iſt ein traur'ger An⸗ 
blick!“ Erſt 681 hebt er ſeine Mörderhände zum Himmel, 
erſt 720 betrachtet er ſie. 

691—698. Hier hat Schiller ſeinem eignen Bühnenſtil 
gemäß die Vorlage wortreich erweitert. 

726— 728 find freie verdeutlichende Erfindung Schillers, 
abweichend von Shakeſpeare. 

740. Solch ein Wechſel in der Anredeform, wie hier 
bei dem „Kommt!“, während ſonſt die Lady ihren Gemahl 
mit „du“ anredet, findet ſich ſo oft bei Schiller, wie bei 
Shakeſpeare. 

Nach 760 müßte ſtatt Roſſe eigentlich dem Original ent⸗ 
ſprechend Lenox auftreten, dem dann auch im 6. bis 10. Auf⸗ 


892 Anmerkungen 


tritt die Worte Roſſes zuzuteilen wären. Dann würde die 
Inkongruenz aufgehoben, daß dieſer Edelmann 841 ff. aus⸗ 
führlichen Bericht über die Urheber des Königsmordes gibt 
und 928 ff. doch wieder als Nichtwiſſender ſich nach ihnen 
erkundigt. 

741773. An Stelle des frommen Morgenliedes und 
des folgenden Geſpräches, das Schiller für den Pförtner 
frei erfindet, hat Shakeſpeare das Auftreten eines betrunkenen 
Türmers, eine Szene, die dem Dichter wegen ihrer Derb⸗ 
heit und niedren Komik von manchen Erklärern abgeſprochen 
worden iſt. Trotz aller Verſchiedenheit der Mittel iſt ſonſt 
die Abſicht und ſelbſt die Wirkung bei beiden Dichtern an⸗ 
nähernd gleich: die heitere Szene ſtellt ſich mit maßvoller 
tragiſcher Ironie lindernd, löſend zwiſchen die grauſenvollen 
Auftritte der Mordnacht. 

790 ff. Hier weicht Schiller ſo ſehr von den früheren 
Überſetzern ab, daß man eine direkte Einwirkung des Ori⸗ 
ginaltextes vermuten muß; ähnlich 279—283, 387 f., 425 f., 
894, 936 f., 976 f., 1242, 1286 f., 1318, 1366 f., 171825, 1739 
bis 1743, 1749 f., 1759—61, 1800 f., 1893, 1956, 2090 ff. 

809. Der Anblick des Gorgonenhauptes verwandelte 
jeden, der es anſah, in Stein. 

820. Der Trompetenſtoß iſt gemeiniglich die Aufforde⸗ 
rung zur Verſammlung und Beratung; hier wird in über⸗ 
tragenem Sinne die Feuerglocke als dies ſchauerliche Signal 
bezeichnet. 

854 — 859. Schiller hat, wohl mit Rückſicht auf das 
Publikum ſeiner Zeit, die weit kühneren Bilder und Tropen 
Shakeſpeares beſeitigt, die dieſer aber mit weiſem Bedacht 
nicht nur als poetiſchen Schmuck, ſondern als Ausdruck der 
Verſtellung Macbeths charakteriſierend anwendet. 

863. Leider hat Schiller aus ſeinen Vorlagen die An⸗ 
gabe, daß die Ohnmacht der Lady nur vorgegeben ſei, 
herübergenommen. Durch dieſe Interpretation, die von 
Rowe (1709) herrührt, wird der ganze Charakter der Lady 
verändert, aus einer ihrem Unternehmen erliegenden Frau 
eine abſtoßende Komödiantin gemacht. 

887 ff. Malcolm iſt in der Tiefe ſeines erſten Schmerzes 


zum Macbeth 393 


ungerecht. Er würde natürlich bei ruhiger Überlegung nicht 
alle Thans ohne Ausnahme der Heuchelei anklagen; aber 
ein Verräter muß unter ihnen ſein, das fühlt er. 

Der 12. und 13. Auftritt müßten von den vorigen durch 
eine Pauſe getrennt fein; einige Stunden find verfloſſen; 
vgl. V. 932 — 942. 

902. Der Vers forderte eine zweiſilbige Zahl. Bei 
Shakeſpeare hat der alte Mann das Alter, deſſen der Pſalmiſt 
gedenkt, threescore years and ten, d. h. ſiebenzig Jahre. 

Nach 911 ſind drei Shakeſpeareſche Verſe ausgelaſſen. 

939. In Scone, nahe bei Perth, wurden ſeit alters die 
ſchottiſchen Könige gekrönt. Von dort wurde zu Zeiten 
Eduards J. der Stein, auf dem der König während der 
Zeremonie Platz nahm, nach Weſtminſter gebracht. 

941. Auf Colme⸗Kill (Kapelle oder Zelle des hl. Kolum⸗ 
ban), d. h. der Inſel Jona, befand ſich die Grabſtätte der 
ſchottiſchen Könige. Die Namensform Colmeskill entnahm 
Schiller bezw. Eſchenburg der Ausgabe von Johnſon und 
Steevens. 

943. Fife iſt das Schloß Macduffs. 

977. Die maskuline Form „zween“ paßt natürlich nicht 
zu dem Femininum „Stunde“, macht aber durch ihren 
Klang wahrſcheinlich, daß Schiller hier über die Überſetzun⸗ 
gen hinaus auf das Original (for a dark hour or twain) 
zurückgegangen iſt. 

1005. Shakeſpeare hat dies Motiv im zweiten Aufzug 
von „Antonius und Kleopatra“ weiter ausgeſtaltet. 

1045—53 mit großer Kunſt gegenüber dem Shakeſpeare⸗ 
ſchen Text verkürzt. 

1065 ff. Dieſe Verſe, die Schiller treu wiedergegeben 
hat, ſind ſehr wichtig für die Charakteriſtik Macbeths: er 
iſt kein großer Böſewicht voll ſouveräner Willkür wie 
Richard III., ſondern leiht ſeiner Tat den Schein des Rechts 
und wälzt ſie zugleich von ſich ab, indem er nicht gemeine 
ſkrupelloſe Mörder, ſondern ein paar durch Banquo ge- 
kränkte Männer, offenbar ehemalige Krieger, dingt. 

1090 f. Dieſe beiden Verſe fügte Schiller mit Rückſicht 
auf 1159 ff. ein. 


394 Anmerkungen 


Den 5. Auftritt hat Schiller, unter Hinweglaſſung einer 
kleinen Unterredung der Lady mit einem Diener, ſofort an⸗ 
gegliedert, um eine ſzeniſche Verwandlung zu ſparen. Es 
iſt dadurch viel Intimität verloren gegangen. Auch will die 
Zeitrechnung jetzt nicht ſtimmen, denn der 5. Auftritt ſpielt 
(vgl. 1149 ff.) am Abend des Tages, an dem Banquo ſeine 
verhängnisvolle Reiſe angetreten. 

1112. Mit den Worten „uns Platz zu machen“ iſt 
Schiller wie die Mehrzahl der Herausgeber und Überſetzer 
der gewöhnlichen Lesart to gain our place gefolgt, wührend 
viel tiefer in Macbeths Charakter der Wortlaut der erſten 
Folio⸗Ausgaben (to gain our peace, um Frieden vor uns 
ſelbſt zu gewinnen) führt. Vgl. meine Erörterung: Schiller 
als Dramaturg, S. 30 und Anm. 31. 

1133 f. frei nach einer Anmerkung bei Eſchenburg. 

Es iſt ein Zeichen von ſicherem Gefühl für die theatra⸗ 
liſche Wirkung und ihre Erforderniſſe, daß Schiller den 6. und 
7. Auftritt, die von manchen für überflüſſig erklärt worden 
ſind, nicht geſtrichen hat. Der Zuſchauer muß die Ermordung 
Banquos mit erlebt haben und ſie nicht nur durch Erzählung 
erfahren. Anders iſt es ſpäter im 4. Aufzug mit der Nieder⸗ 
metzelung der Lady Macduff und ihrer Kinder, bei der für 
das Drama nur die Wirkung auf Maeduffs Gemüt in Frage 
kommt. 

Die Verſe 1161—63 weichen etwas vom Original ab, 
weil Schiller ſich auf ſeine Interpolation 1090 f. bezieht. 

1179. Eine geſchickte, freie Wiedergabe des engliſchen 
Wortſpiels 

Banquo: It will be rain to-night. 

First Murderer: Let it come down. 

1192. Das feltene Wort „aufwartſam“ ſtammt aus 
Wielands Überſetzung. 

1212. Den Indikativ des Präteritums braucht Schiller 
oft ſtatt des Konjunktivs des Plusquamperfektums. Vgl. 
beim „Paraſiten“ die Anmerkung zu 295, 20—22. 

1250. Die Worte find keine Ausflucht Macbeths, ſondern 
in ſeinem Sinne berechtigt. Vgl. die Anmerkung zu 1065 ff. 

1355. Mit dem bezeichnenden „Ich will“ dieſes Verſes, 


— 


zum Macbeth 395 


das Schiller ſtehen ließ, wenn er es auch 1359 tilgte, führt 
Shakeſpeare die Entwicklung von Macbeths Charakter um 
einen entſcheidenden Schritt weiter. 

Der 1. und 2. Auftritt des 4. Aufzugs gehören in um⸗ 
gekehrter Reihenfolge bei Shakeſpeare noch dem 3. Auf⸗ 
zug an. 

1433—35 ſind Zuſatz Schillers, der das Auftreten Roſſes 
bei der Lady Macduff (Shakeſpeare IV, 2 freilich geſtrichen 
hat, ihn aber doch IV, 7 als Zeugen des Mordes braucht. 

Den 2. Auftritt (Shakeſpeare III, 5) fand Schiller nicht 
bei Wieland, ſondern nur bei Eſchenburg überſetzt, benutzte 
deſſen Text aber nur in den Verſen 1444—51 und 1462 f. 

1438. Hekate galt ſchon im Altertum als Herrſcherin 
der unterirdiſchen Dämonen und Patronin alles nächtlichen 
Zauberweſens. Sie, die Meiſterin der Hexen, muß jetzt in 
Aktion treten, weil Macbeth ſeit dem entſcheidenden Ent⸗ 
ſchluß zum Böſen (1355 ff.) den Mächten der Finſternis end⸗ 
gültig verfallen iſt. Bisher war er nur „ein ſchlechter Mann“ 
(1449), a wayward son. So wird die zweite Phaſe der Hand⸗ 
lung wie die erſte durch das Auftreten der Hexen eingeleitet, 
was bei der ſzeniſchen Anordnung Schillers noch mehr hervor⸗ 
tritt als im Original, wo der 4. Aufzug mit en 3. Auf⸗ 
tritt (1470) beginnt. 

1476 f. Dieſen Refrain, an dem jeder Überſetzer aufs 
neue ſeine Kunſt verſucht hat, entnahm Schiller, wie den 
ganzen Reſt der Szene, der Eſchenburgiſchen Übertragung. 
Er gab alſo jeden Verſuch, dieſe brauenden Hexen mit ſeinen 
feierlichen, eumenidenartigen Schickſalsſchweſtern in Einklang 
zu bringen, auf. 

Nach 1507 folgen bei Shakeſpeare noch einige Verſe der 
Hekate. 

1539. Das bewaffnete Haupt bedeutet Macbeth ſelbſt, 
deſſen Kopf ſpäter Macduff vom Rumpfe ſchlägt und vor 
Malcolm niederlegt. Es iſt der einzige Warner in dieſer 
Zauberſzene. 

1550. Das blutige Kind fymbolifiert Macduff, den vor 
der Zeit Geborenen. 

1562. Das gekrönte Kind bezeichnet Malcolm, der den 


396 Anmerkungen 


Befehl geben wird, die Zweige im Birnamwalde abzu⸗ 
ſchlagen. 

1586. Die erſten geheimnisvollen Erſcheinungen, die 
Macbeth ausdeuten kann und die ihn daher in Sicherheit 
wiegen, haben die Hexen gern zugelaſſen. Hier dagegen 
warnen ſie, weil auf die Frage, ob Banquos Stamm einſt 
herrſchen werde, nur eine deutliche, den König ſchreckende 
Antwort folgen kann. 

1595 ff. Von Banquo leiten die Stuarts ihr Geſchlecht 
her; ſie erſcheinen, wohlweislich mit Ausnahme der Maria 
Stuart, vollzählig, während in dem Spiegel des Letzten noch 
eine ferne Nachkommenſchaft zu erblicken iſt. Die ſzeniſche 
Angabe vor 1595, daß Banquo den Zauberſpiegel trägt, 
ſtammt aus den Folio⸗Ausgaben, widerſpricht aber den Verſen 
1605 ff., nach denen Banquo erſt auf den ſpiegeltragenden 
achten König folgt. 

1601. Ein Überſetzungsfehler, der aus Mißverſtändnis 
des engliſchen Start, eyes! zu erklären iſt. 

1607 f. Eine Huldigung für Jakob J., der die zwei 
Inſeln bezw. die drei Königreiche vereinte. 

Zwiſchen dem 5. und 6. Auftritt hat Schiller die grauen⸗ 
erregende Szene der Ermordung der Lady Macduff und ihrer 
Kinder weggelaſſen. Vgl. die Anmerkung zum 6. und 7. Auf⸗ 
tritt des 3. Aufzugs. 

An dem auffallend breiten 6. Auftritt des 4. Aufzuges, 
der dem Stil Schillers mehr entgegenkommt und in dem er 
ſich daher freier als ſonſt bewegt, kann man durch die ver⸗ 
ſchiedenen Phaſen der Überlieferung hin ſehr gut ſeine 
Arbeitsweiſe verfolgen. Das ehemalige Stuttgarter, jetzt 
Marbacher Macbeth-Manuſkript zeigt noch einen engen An⸗ 
ſchluß des Dichters an die älteren Überſetzungen, die ihm 
vorlagen. Bei der Schlußredaktion für den Druck hat er 
dann viele Stellen, zum Teil unter Zuhilfenahme des Ori⸗ 
ginals, nach Rückſichten der Verskunſt, der Deutlichkeit u. ſ. w. 
freier geſtaltet, dabei aber offenbar (vgl. 1682) auch den 
Wielandſchen Text noch einmal zu Rate gezogen. 

1733 35. Ganz frei von Schiller eingefügt. 

1776. Die engliſche Wendung She died every day she 


gum Macbeth 397 


lived ijt 1. Kor. 15, 31: I die daily nachgebildet; auch in 
Luthers Überſetzung: „ich ſterbe täglich“. 

Nach 1808 hat Schiller eine Szene weggelaſſen, die nur 
bei engliſchen Hörern Widerhall finden konnte: ein Arzt tritt 
auf und berichtet von der Wundergabe Eduards des Be⸗ 
kenners und andrer engliſcher Könige, durch bloßes Hand⸗ 
auflegen die Skrofuloſe, the king's evil, zu heilen. 

1836 f. Hier liegt ein folgenſchwerer Überſetzungsfehler 
vor. Bei Shakeſpeare heißt es: there ran a rumour of many 
worthy fellows that were out. Das bedeutet nicht, daß viele 
brave Leute ermordet worden waren, ſondern daß viele 
treffliche Burſche (gegen Macbeth) im Felde ſtanden. Und 
darauf bezieht ſich ſpäter (1905 f.) der Kriegszug des Königs. 

1864 ff. Es wird wohl jedem Leſer auffallen, wie die 
Art, mit der Maeduff die Schreckensbotſchaft aufnimmt, das 
erſte Erſtarren, das nochmalige Herausfragen des Unfaß⸗ 
baren, das Bedürfnis nach wortreicher Klage und endlich 
der Entſchluß zur Tat, auf die Szene im „Tell“ gewirkt 
hat, in der Melchtal die Blendung ſeines Vaters erfährt. 

1872. Die Worte „Er hat keine Kinder“ ſind nicht, wie 
oft behauptet worden, eine Ablehnung des Zuſpruchs Mal⸗ 
colms, weil dieſer ein kinderloſer Jüngling ſei, ſondern ſie 
beziehen ſich auf Macbeth. Wenn ihm einige alte Chroniſten. 
einen Sohn namens Lulah zuſchreiben, ſo iſt das ganz gleich⸗ 
gültig; in Shakeſpeares Drama hat er keine Kinder. Und 
wenn die Lady V. 530 ſagt, ſie habe Kinder aufgeſäugt, ſo 
ſind dieſe entweder tot oder ſtammten aus einer früheren 
Ehe der Frau. 

1905 f. Vgl. die Anmerkung zu 1836 f. 

1908. Das Kabinett iſt hier, nach dem Sprachgebrauch 
des 18. Jahrhunderts, ein Schrank zum Aufbewahren von 
Kleinigkeiten, hinter deſſen Haupttür ſich eine Menge von 
Schiebladen und Geheimfächern befand. 

1940. Die Lady zählt die Schläge der Uhr. Vgl. die 
Anmerkung zu der ſzeniſchen Bemerkung nach 643. In den 
folgenden Verſen erlebt ſie alle Ereigniſſe des Dramas noch 
einmal: 1946 bezieht ſich auf den Tod der Lady Macduff, 
1940 ff., 1947 f., 1954 ff., 1965 f., 1969 f. auf die Ermordung 


398 Anmerkungen 


Duncans, 1949 f. und 1967 f. auf die Erſcheinung von Banquos 
Geiſt beim Bankett. 

1942. Die ältere Form „ruchtbar“, die Schiller und 
auch Goethe noch ganz geläufig iſt, iſt etymologiſch richtiger 
als die jüngere Form „ruchbar“, da das Wort aus dem 
Subſtantiv „Ruchte“ und dem Suffix „bar“ zuſammen⸗ 
gewachſen iſt; vgl. „Gerücht“. 

2003 ff. Im 5. Aufzug mußte Schiller den allzu häufigen 
Szenenwechſel des Originals vermeiden. Er fügte drum in 
den 2. Auftritt die V. 2003—11 als freien Zuſatz ein und 
konnte nun Shakeſpeares 4. Szene gleich als 3. Auftritt 
(2012 ff.) anſchließen, wobei wieder die V. 2014—28 unter 
Anlehnung an Shakeſpeares 3. Szene hinzugedichtet ſind. 
Erſt mit V. 2050 kehrt Schiller zu Shakeſpeares 4. Auftritt 
zurück. Alle Szenen des 5. Aufzugs ſpielen auf Dunſinan 
oder am Birnamwald in der Nähe von Perth. 

Mit V. 2029 lenkt Schiller wieder in Shakeſpeares 
3. Szene ein, die bis 2131 reicht, und an die er von 2132 
an ſofort die 5. anſchließt. 

2059 f. Es iſt an die von Macbeth abgefallenen Thans 
zu denken; vgl. 2004 ff., 2115 f., 2135. 

2103. Durch das eine Zuſatzwort „liebe“, wie 2147 
durch die Anweiſung „nach einem langen Stillſchweigen“, 
hat Schiller die Situation zwar in Einklang mit ſeiner 
eigenen Auffaſſung von Macbeths Charakter gebracht, ſonſt 
aber ganz verſchoben. Das iſt eben bei Shakeſpeare das 
Ergreifende, daß dieſe beiden Gatten, die früher ſo tief eines 
in des andern Seele leſen konnten, einander ſchließlich ganz 
entfremdet ſind, jedes nur verſenkt in das eigene Leid. 

2106 ff. In dieſen erſchütternden Fragen, die Macbeth 
ebenſo für ſich ſelbſt wie für die Lady ſtellt, hat Schiller ſich 
vom Wortlaut des engliſchen Textes freigemacht; ebenſo in 
den V. 211822. 

2156. Die alte Nominativform „Schatte“ iſt am Ende 
des 18. Jahrhunderts im Ausſterben. Bei Schiller hat ſie 
ſich neben mancher andern guten älteren Wortform, z. B. 
2165 dem nicht umgelauteten Präteritum „dauchte“ (mhd. 
dühte), noch erhalten. 


zur Turandot 399 


2199 ff. Das Bild iſt von dem zu Shakeſpeares Zeit 
beliebten Schauſpiel entnommen, daß eine Anzahl Hunde 
auf einen angebundenen Bären gehetzt wurde, der dabei 
verwundet, aber nicht getötet werden ſollte. Auch Macbeth 
iſt ja nach der Prophezeiung des blutigen Kindes nicht zu 
töten, es ſei denn von dem, den kein Weib geboren. Es 
ſind daher die Worte „ich muß mein Leben verteidigen“, die 
ſich im Original nicht finden, ein verfehlter Zuſatz Schillers. 

2217. Vgl. V. 41. 

2230. Wahrſcheinlich wird die Anſpielung auf Cato 
gehen; doch iſt auch an Brutus zu denken. 

2291. Shakeſpeare ſchreibt vor, daß Maeduff mit Mac⸗ 
beths abgeſchlagenem Haupt erſcheine. Vgl. die Anmerkung 
zu 1539. 


Turandot. 


Die Bearbeitung der Gozziſchen „Turandot“ von Schiller 
erſchien im Jahre 1802 bei Cotta in Tübingen und erlebte 
zu des Dichters Lebzeiten keine zweite Auflage. Doch hat 
für die Feſtſtellung des Textes das Hamburger Theater⸗ 
manuſkript ſich in vielen Fällen als wichtig erwieſen. 

Über Gozzis Einfluß auf die deutſche Literatur vgl. 
Albert Köſter, Schiller als Dramaturg, Berlin 1891. S. 147 
bis 234. 

Zum Perſonenverzeichnis: Den Namen Altoum ſpricht 
Schiller dreiſilbig mit Betonung der erſten Silbe; Adelma 
trägt den Ton auf der zweiten, Zelima und Skirina auf der 
erſten Silbe. 

Tartaglia, Pantalon, Truffaldin und Brigella ſind die 
vier Perſonen, die Gozzi der commedia dell' arte entlehnte, 
ohne jedoch in dieſem Drama mehr als ihre allgemeinſten 
Charakterzüge feſtzuhalten. Die kleinen Partien der beiden 
erſten hat er in der „Turandot“ ausgeführt; die beiden 
letzten Rollen ſind nur im Entwurf vorhanden und mußten 
von den Darſtellern improviſiert werden. 

Tartaglia war ein fetter, ſtotternder bejahrter Herr, 
nicht ohne Verſchlagenheit und Luſt zur Intrige; im Palaſt 


400 Anmerkungen 


von Peckin iſt er der korrekte Hofbeamte, der Hort der 
Etikette. 

Pantalone, der im venezianiſchen Dialekt ſprach (ugl. 
V. 549), war ſtets ein gutmütiger Greis, der ſchon etwas 
knickbeinig und redſelig geworden war. Er hat bei Gozzi 
oft die Väterrollen inne und ſpricht auch in der „Turandot“ 
im Ton eines ſorgenden Vormunds. 

Truffaldino, der aus Bergamo ſtammt, iſt der Hans⸗ 
wurſt, der Vertreter der harmloſeſten Ausgelaſſenheit; für 
ihn konnte Schiller unmöglich die richtigen Töne finden; er 
hat ihn zu einem aufgeblaſenen, gravitätiſchen Emporkömm⸗ 
ling gemacht, der aus ſelbſtſüchtigen Gründen jede Schlechtig⸗ 
keit ſeiner Herrin verteidigt. 

Brighella endlich, der Ferrareſe, iſt der verſchmitzte, 
gelegentlich ſogar ſchurkiſche Poſſenreißer; auch ihn hat 
Schiller ganz verwandelt, nämlich in einen würdevollen 
barſchen Hauptmann der Schloßwache, der ſogar moraliſche 
Anwandlungen hat. 

1. Die Namensformen Peckin, Tefflis u. ſ. w. ſind un⸗ 
verändert ſo geblieben, wie ſie ſich bei Schiller finden. 

6. In einer der Quellenſchriften, aus denen ſich Schiller 
Kenntnis chineſiſcher Verhältniſſe verſchaffte, in dem Roman 
„Haoh Kjöh Tſchwen“ fand er S. 152 die Angabe, daß die 
Schüler des Fo bei den Tartaren Lamas heißen. Deshalb 
legt er gerade dem Tartarenprinzen den Ausruf „Beim 
großen Lama“ bei. 

46. malandrino, ital., Straßenräuber. 

76. Den Namen Keikobad ſpricht Schiller dreiſilbig, 
nicht vierſilbig wie der Italiener. 

76-84. Das Motiv, das dieſe Verſe enthalten, prägte 
ſich Schiller tief ein, und es lebte wieder auf, als er ſein 
Demetriusdrama mit dem Vorſpiel in Sambor eröffnen 
wollte (vgl. 2135 ff.). 

98. Im 18. Jahrhundert iſt das Wort „Lohn“ als 
Neutrum noch weit verbreitet. 

139. Großer Chan = Großchan (158). 

201. Divan: die feierlich beratende und entſcheidende 
Hofverſammlung, der Staatsrat. 


zur Turandot 401 


260—63. In dieſen vier Verſen zeigt ſich ſchon, wie 
Schiller den Charakter der Prinzeſſin gewandelt hat: ſie iſt 
von berechtigtem Stolz (763, 1135, 1211 u. ö.), nicht von 
Übermut beherrſcht; ihre Eheſcheu iſt Selbſtverteidigung. 
Die Stelle lautet bei Gozzi⸗Werthes: „Turandot, mein Prinz, 
iſt ein Tigertier; allein von keinem Laſter, wie von Ehr⸗ 
geiz und Übermut, beſeſſen.“ 

268. Der „Freund“, bei Gozzi der Hofmeiſter des Prinzen. 

Nach 360. Der aus Werthes übernommene Ausdruck 
„verſtimmte Trommeln“ ſagt dasſelbe wie nach V. 249 „ge⸗ 
dämpfte Trommeln“: herabgeſtimmt und dadurch dumpf 
erklingend. 

402. Die erſten Worte Skirinas ſind ein kluger Zuſatz 
Schillers, den er 1293 wieder verwertet. 

409. Im ganzen hat Schiller die märchenhafte Ver⸗ 
wirrung der religiöſen Vorſtellungen und Bräuche ſtehen 
laſſen, wie bei Gozzi, alſo die Götter und Parzen neben 
dem Teufel in der Hölle u. ſ. w. Doch hat er aus Du Haldes 
Ausführlicher Beſchreibung des chineſiſchen Reiches, 1756, 
einiges für das chineſiſche Lokalkolorit gewonnen: Tien wird 
öfter (590, 2454) als oberſter Gott angerufen, oder auch Fohi 
(Verwechſlung mit Fo; Fohi war der erſte Kaiſer von China). 
In dem Hamburger Theatermanuſkript, wo die ganze Hand⸗ 
lung in Schiras ſpielt, wird Hormuz verehrt. 

Den 1. Auftritt des 2. Aufzuges hat Schiller, ohne ſich 
an die Skizze Gozzis zu halten, ſelbſtändig verfaßt, ſo daß 
alſo auch Wortſpiele wie 474 auf ſeine Rechnung gehören. 

481 f. Anſpielung auf Wielands „Oberon“. 

483 f. Reminiſzenzen an ein Märchen aus „Tauſend 
und einer Nacht“ und an die Fiaba „L'augellino belverde“ 
von Gozzi. 

560 f. Dieſe von Schiller eingefügten Worte gehen auf 
eine andre Fiaba Gozzis „1 Pitocchi fortunati“ zurück. 

681. Die ſagenhaften ſiebzig Männer, die auf der Inſel 
Pharus das Alte Teſtament ins Griechiſche überſetzt haben 
ſollen. 

686. Gemeint iſt die bekannte Zeitſchrift, die Chriſtian 
Felix Weiße herausgab. 

Schillers Werke. IX. 26 


402 Anmerkungen 


714—17. Dieſe Opfer ſtimmen nicht mit den 589 ff. ge⸗ 
nannten überein. Daran iſt eine ſpätere Korrektur ſchuld. 
Im Hamburger Manuſfkript iſt noch alles in Ordnung. 

759—62. Auf den erſten entſcheidenden Eindruck, den 
Kalaf auf Turandot macht, legt Schiller noch mehr Gewicht 
als Gozzi. Vgl. 2515 ff. 

780 ff. Dieſe Verſe, die das Verhalten der Turandot 
ganz neu motivieren, ſind Eigentum Schillers. 

848 ff. Bei Gozzi iſt dies das zweite Rätſel; die erſten 
vier Verſe entnahm Schiller der Überſetzung von Werthes, 
das weitere iſt ſeine eigene freie Erweiterung. Die beiden 
andern Rätſel, vom Auge (886 ff.) und vom Pflug (947 ff.) 
hat Schiller ſelbſt erfunden, Gozzi hat ſtatt ihrer die Rätſel 
von der Sonne und (berechnet auf ſein Venezianer Publikum) 
vom adriatiſchen Löwen. 

947 ff. Statt des dritten Rätſels hat das Hamburger 
Manuſkript, die älteſte erhaltene Faſſung des Stückes, das 
Rätſel vom Blitz: „Unter allen Schlangen iſt Eine ...“ 
(gedichtet am 1. Febr. 1802. Bd. 1, S. 280 f. u. 358 f.). 

959 f. Der Schluß entſpricht nicht der Situation: Löſt 
Kalaf die Frage nicht, ſo iſt er dem Henker verfallen, aber 
darf nicht das Land verlaſſen. Oder ſollte „dieſe blühenden 
Staaten“ eine Umſchreibung für „dieſe ſchöne Erde“ ſein? 

979 f. Die Anregung zu dem Rätſel vom Pflug konnte 
Schiller aus Du Halde oder andern landläufigen Berichten 
über China gewinnen; ebenſo (983 ff.) die Kunde von der 
Rauheit der Tartarei im Gegenſatz zu der Fruchtbarkeit des 
chineſiſchen Reiches. 

1135. Mit der Formel „des Stolzes und der Liebe 
Streit“ hat Schiller den Kampf in der Seele der Turandot, 
wie er ihn auffaßte, bezeichnet; bei Gozzi⸗Werthes: „Hier 
kömmt ſie, meine Feindin, die Seele von Wut entzündet 
und von Scham, unſinnig, außer ſich.“ 

1206. Dieſes „koſten“ ohne Objekt (S ſchwer werden, 
Mühe bereiten) iſt ein Gallizismus, der in der deutſchen 
Sprache nur während einiger Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts 
nachzuweiſen iſt und dann wieder außer Gebrauch kommt. 

1267 ff. Kalaf hat dieſe Mitteilung (633 f.) allerdings 


al 


“ig ee ee 


zur Turandot 403 


gemacht, als die Prinzeſſin und ihre Begleiterinnen noch 
nicht im Divan waren. 

1655 —60. Die Verſe, die Schiller einfügt, bezeichnen, 
nach ſeiner Darlegung von Turandots Charakter, den Wende⸗ 
punkt des Dramas. 

1675 ff. Auch dieſe Worte der Prinzeſſin rühren von 
Schiller her: die Liebe hat eigentlich ſchon geſiegt; nur Adel⸗ 
ma, die fortan die Handlung weiterführt, ruft noch den 
Stolz der Herrin wach. 

1679. Ankündigung des 5. Auftrittes. 

Dritter Auftritt: Es iſt eine Verbeſſerung Schillers, daß 
die beiden Greiſe fortgeführt werden, ehe Adelma ihre Nach⸗ 
richten verkündet. 

1758. Solch ein Aus⸗der⸗Rolle⸗fallen iſt ein beliebter 
Scherz des älteren Luſtſpiels, den dann die Romantik gern 
wieder aufnahm. 

1784. „abgeſinnt“ = feindlich geſinnt. 

1915. Schiller braucht, um der Rede traulichen, volks⸗ 
tümlichen Klang zu geben, gern die Nebenform „halter“ für 
das Adverb „halt“. Vgl. die Xenien „Unſer einer hat's 
halter gut .. .“ und „Wir Fajaken wir ſuchen ..“. 

Nach 2088 folgt bei Gozzi eine nur ſkizzierte Szene, in 
der Truffaldin mit Hilfe einer Alraunwurzel den Prinzen dazu 
bringen will, die beiden Namen im Schlaf durch Bewegungen 
zu verraten, von denen jede einen Buchſtaben bedeutet. Natür⸗ 
lich konnte die ganze Beſchwörung und das Buchſtabieren 
irgend eines lächerlichen Namens nur improviſiert werden. 

2157. Die Wendung „Er wagte ſich im Divan“ hat 
Schiller wörtlich aus Werthes übernommen. „Wagen“ iſt 
hier, wie in ſeltenen Fällen bei Klopſtock, Heinr. v. Kleiſt u. a., 
mit dem Akkuſativ der Perſon verbunden: er ſetzte ſich ſelbſt 
im Divan in Gefahr. 

2243. „Das ſchwere Band“, d. h. die drückende Feſſel, 
iſt die richtige Lesart. Die ironiſche Wendung „das ſchwache 
Band“ findet ſich im Hamburger Theatermanuſkript. 

2574— 79 fügte Schiller ein, vielleicht in Erinnerung an 
Gozzis Fiaba „La donna serpente“, in der Pantalone als 
Weiberfeind auftritt. 


* 


404 Anmerkungen 


Den Schluß des Stückes macht im Hamburger Theater⸗ 
manuſkript — hinzugefügt vom dortigen Regiſſeur — eine 
große Huldigung mit Tänzen, genau fo wie einft Friedrich 
Ludwig Schröder eine ältere Bearbeitung von Gozzis 
„Turandot“ mit einem Ballett „Die Hochzeit des Kalafs und 
der Turandot“ hatte ausſtatten wollen. 


Der Paraſit 


Das franzöſiſche Original Picards „Médiocre et ram- 
pant ou le moyen de parvenir“ iſt neu herausgegeben von 
Alexander Bieling, Halle 1888. 

239, 12. Schiller hat das erſte Zuſammentreffen der 
Liebenden nach Colmar ſtatt nach Straßburg verlegt; 251, 
14; 264, 2. 

240, 13. „Wahn“ im Sinne Schillers und überhaupt 
des 18. Jahrhunderts, iſt nicht unter allen Umſtänden ein 
Irrwahn, ſondern nur der Zuſtand des unklaren Wähnens 
im Gegenſatz zum Wiſſen, zur Erfahrung und deutlichen 
Erkenntnis. 

Nach 240, 25 hat Schiller einen Alexandriner unüber⸗ 
ſetzt gelaſſen, wie er denn bedeutungsloſe Halb⸗ und Ganz⸗ 
verſe in Menge beſeitigt hat. Es lohnt nicht, ſie einzeln an⸗ 
zuführen; nur die wichtigeren Kürzungen werden verzeichnet. 

Vor 241, 20 im Original noch eine breitere Ausführung 
des Gedankens, daß der einzelne ſeine Kräfte der Geſamt⸗ 
heit widmen müſſe. 

242, 9. Hier hat Schiller elf Verſe geſtrichen, die noch⸗ 
mals auf die bereits erörterte Liebesgeſchichte zurückgreifen. 

242, 19 f. klingt bitterer als die franzöſiſche Vorlage: 
D'hier au soir, je suis supprimé tout-à-fait. Ahnliche volks⸗ 
tümliche Verſtärkungen des Ausdrucks: 242, 23 f.; 243, 29 f.; 
244, 1 f., 13 f., 26 ff.; 246, 29 ff. 

243, 17 f. Mon oncle étoit alors magister de l’endroit. 

244, 29 f. Picard konnte hier mit erſchöpfender Kürze 
ſagen: Tartuffe et patelin. 

247, 33 f. allzu wörtlich nach dem Franzöſiſchen: Je ne 
veux pas sur moi que Dorival l’emporte, 


zum Paraſiten 405 


Den Schluß der Szene hat Schiller ſtark gekürzt und 
nach 248, 14, 16 u. 19 größere Versreihen weggelaſſen; 
ebenſo am Eingang des 3. Auftrittes vor 249, 13 eine 
nüchterne Moralrede des Miniſters. 

250, 2 zu wörtlich: C'est qu'elle a dix-sept ans. 

250, 9 ff. Hier weiſt der Überſetzer, abweichend vom 
Original (Je ne puis la-dessus rien prononcer encore: Mais 
tout ce que de lui j'ai vu jusqu'à présent, Annonce de l’esprit 
etc.), noch einmal auf Selicours bäuerliche Abkunft hin. 

250, 22. Bei Picard beginnt die Szene mit einigen 
lächerlichen Galanterien, die der Miniſter an ſeine Tochter 
richtet. Schiller hat dem Staatsmann etwas mehr Würde 
gegeben und beiſpielsweiſe 253, 7 ſeine ungeſchickte Schwatz⸗ 
haftigkeit zuſammengezogen in die kurze Andeutung „Ich 
hab' es gut mit Ihnen vor“. 

252, 5. Beſprechen iſt ſo viel wie beſtellen, beſorgen 
(vgl. 310, 25), wie noch jetzt in Holland der Vorverkauf von 
Theaterbillets an der Tageskaſſe plaatsbespreking heißt. 

255, 29. Et c'est le principal: das Weſentliche, die 
Hauptſache. 

257, 16. Daß Selicour dem Kammerdiener gar die 
biedre Rechte reichen will, iſt eine wohlangebrachte Er⸗ 
findung Schillers. 

Die ganze Stelle 259, 2—15 iſt eine freie und lebhafte 
Erweiterung der zwei Verſe 

Qu’a la franchise il méle une aimable douceur, 
Que n'oubliant jamais que les hommes sont fréres. 

262, 1. Seltſam, daß Schiller mit dieſem „Eine kleine 
Geduld!“ franzöſiſcher iſt als das franzöſiſche Un moment! 

262, 15 ff. Auch hier hat Schiller wie im 1. Aufzug dem 
La Roche derbere Ausdrucksweiſe verliehen, als Picard tut. 

262, 25. II vient vous accuser. 

263, 13. II faisoit le frippon. 

264, 10, 18, 20. Die wiederholten Freundſchaftsbeteue⸗ 
rungen Selicours rühren von Schiller her. 

266, 5—7. Im Original nur: Aprés l’avoir bravé, quand 
il étoit en place. 

266, 29. Die jetzt ungebräuchliche Wendung „Er ijt 


406 Anmerkungen 


hitzig vor der Stirn“ iſt uns aus dem 17. Jahrhundert durch 
den Lexikographen Kaſpar Stieler im Sinne von „aestuat 
ira“, alſo „er gerät leicht und heftig in Zorn“, belegt. 

270, 32—271, 3 weitläufiger als die Vorlage. 

272, 4 ff. Die Rolle des Robineau hat Picard, der ſie 
ſelbſt ſpielte, mit einigen Brocken Patois ausgeſtattet; auch 
Schiller gibt der Rede in Wahl und Form der Worte vul⸗ 
gären Klang: 272, 13; 273, 10, 30 u. ſ. w. 

272, 21. Die ganz ungewöhnliche Pluralform „Vetter“ 
ſoll hier bei Schiller offenbar volkstümlich ſein. Die Wörter⸗ 
bücher laſſen uns mit Belegen ganz im Stich; Sanders weiſt 
die Form nur bei Heinrich König nach. 

274, 29 f. Die Klage über die Unzuverläſſigkeit der Poſt 
hat der Überſetzer aus Eigenem hinzugeſetzt. 

277, 6—12. Freie Erweiterung des Originals. 

278, 9 ff. Eine kühne Satzkonſtruktion; aus dem „Laſſen 
wir“ (278, 9) iſt 278, 10 ein „Laſſen Sie uns“ zu ergänzen. 

279, 10 f. Zuſatz Schillers. 

281, 2—4. Deutlicher als das Original: 

Nécessaires tous deux, pour hater mes projets; 
Servons-nous-en d’abord, et nous verrons aprés. 

281, 8. Gewöhnlicher wäre die Wendung „Mich mit 
Ihnen auszuſprechen“ (Original: Pour vous parler). 

281, 23. Nach heutigem Sprachgebrauch: „Setzen Sie 
ſich an ſeine Stelle“; nicht etwa ein Gallizismus, denn das 
Original hat: Vous concevez sa peine. 

281, 24. C'est un ingrat. 

285, 11. Au bel esprit elle a quelque ente 

286, 8. D'un enfant d' Apollon voila bien le génie, 

286, 26. Die gute Verbalbildung „beabſichten“ wendet 
Schiller ausſchließlich an. 

287, 8 f. L'on s'oublie avec vous. 

288, 7 f. Immer wieder ſtattet Schiller die Rolle des 
La Roche mit einigen volkstümlichen, gegen Ende des Stückes 
auch humorvollen Wendungen aus. Der franzöſiſche Text 
lautet hier: Pour Dorival, de peur à ce nom il frissonne. 

Durch Tilgung einiger Verſe nach 290, 8 und 19 verleiht 
Schiller wieder dem Miniſter mehr Haltung und mehr Schlag⸗ 


zum Paraſiten 407 


kraft der Rede und läßt ihn anderſeits in den Schlußworten 
292, 12 f. leutſeliger erſcheinen als bei Picard. 

Um den Dialog zu beleben, fügt Schiller die Wechſel⸗ 
reden 294, 18—22 ein und löſt das eine Wort effroi in die 
Zeilen 295, 5—7 auf. 

295, 20— 22 iſt allerdings die Konſtruktion dem Fran⸗ 
zöſiſchen 

S'il n’étoit inquiet sur le sort de sa mere, 

Il m'avoit bien promis, pour ce soir, de te faire 

Une romance 
nachgebildet; doch ift dieſe Verknüpfung der Verbalformen 
Schiller auch ſonſt geläufig: vgl. Wallenſteins Tod 164 f., 
840 f. 

296, 16 f. C’est-la que de son coeur j'ai senti l'ex- 
cellence. 

301, 7 f. Dieſe Worte, die bei Picard die Tochter des 
Miniſters ſpricht, hat Schiller ſchicklicher dem Liebhaber 
zugeteilt. 

Nach 302, 10 und 28 hat der Überſetzer einige Verſe, 
in denen der Miniſter ſelbſt wieder aufs zudringlichſte ſeine 
Tochter rühmt, geſtrichen. 

304, 3 ff. Das vierſtrophige Lied „An der Quelle ſaß 
der Knabe“ (vgl. Bd. 1, S. 41) hat Schiller ganz ſelbſtändig 
gedichtet; es hat nicht die leichte Grazie wie die drei⸗ 
ſtrophige franzöſiſche Troubadourromanze; auch ijt es kein 
eigentliches Minnelied. Doch berührt es ſich ſo weit mit 
dem Liede Picards, daß der folgende Dialog nicht verändert 
zu werden brauchte. f 

309, 14 f. Verdeutlichender Zuſatz Schillers. 

310, 1—13. Wie überall, fo hat Schiller auch hier die 
Rolle des La Roche lebhafter und etwas derber wiedergegeben. 
Ebenſo 313, 14—16. 

317, 11 ff. Ausführlicher als im Original. 

Nach 317, 33 hat Schiller einige nichtsſagende Verſe 
geſtrichen. Ebenſo nach 320, 22. 

319, 7—9. Cet homme que ... j'ai connu, II m'a 
remis etc. 

In der Schlußſzene, wo alles zum Ende drängt, hat 


408 Anmerkungen 


Schiller manche Kürzung vorgenommen, beſonders in der 
Stelle 323, 18—21, und die Schlußmoral zwar nicht inhalt⸗ 
lich, aber im Wortlaut neu geſtaltet. 


Der Neffe als Onkel 


Auch von dieſem Luſtſpiel iſt das Original „Encore des 
Ménechmes“ (1802) von Alexander Bieling neu heraus⸗ 
gegeben, Halle 1888. 

Da „Der Neffe als Onkel“ eine annähernd treue Über⸗ 
ſetzung des franzöſiſchen Stückes iſt, ſo kann er des Kom⸗ 
mentars entbehren. Allerdings hat Schiller an vielen Stellen 
den Dialog um ein paar Worte erweitert und ihm dadurch 
etwas von der franzöſiſchen Lebhaftigkeit entzogen; ein 
wirklicher Zuſatz findet ſich aber nur 368, 1—12. 

Im Perſonenverzeichnis müßte es am Schluß eigentlich 
„Zwei Lakaien“ heißen; denn der dritte iſt Jasmin. Vgl. 
1. Aufzug, 10., 11. und 15. Auftritt, beſonders 345, 11 u. 28. 

Gallizismen wie 331, 10 (grande affaire), 358, 29 (j'ai 
quelques visites à rendre) empfand man offenbar zu Schillers 
Zeit nicht ſo ſehr wie heute als undeutſch. 

Die Wendungen 349, 14 (ihn), 373, 14 (an einem fort), 
384, 10 (allem) entſprechen ganz dem ſonſtigen Gebrauch 
Schillers. 

369, 13. Der plötzliche übergang aus dem „Sie“ ins 
„Du“ erklärt ſich nicht daraus, daß hier das Original vom 
vous zum tu, ſondern umgekehrt vom tu zum vous ablenkt, 
während 383, 18 das „Du“ dem franzöſiſchen tu entſpricht. 


Inhalt des neunten Bandes 


— — 


Überſetzungen. Erſter Teil 


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Druck der Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart 


UNIVERSITY OF CALIFORNIA LIBRARY 
Los Angeles 
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Form L9—Series 444 


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