Skip to main content

Full text of "Schauspieler"

See other formats


re 
4 
5 
9 
18 
* 0 
us 
1 
12 
t 
5 
a 
w 
ah 


en! 
e 
— 
on 
PeTererT 


7 
NLA ee 5 


Wengen, r 


* N au a, 0 4 * A 
NORA AAO Eee erste j \ ' DELETE 
: N RUTKRRUTDTR RER URL HERE 
We \ u N . be 
* 


N 
wre 
Free 


ett 
Werten Lebe 


— — 


u — 
. 


. 


ng 
. 
11 
N 


N 18 N 
fe * N j 


1 Kir) 


N 
4 er 
NE 


163 
n 
e 

eee 

i 

1 7 u j 


1 

117 
10 
u 


15 


1 9 


iv 
Wr 


LILLLSLLLLLLH e 


dels 


Schriften 


Ludwig Spei 


4 


eee XN.XN XXX XXX. N 


INN. 


KN. NEN NN NINO N INN IN XXX NN N NN N > 


2 


DDD 


x» 


ALLA SSSGSSTASTSIASISISL TS 


Schauſpieler 


Gezeichnet 


von 


Ludwig Speidel 


N 


I 9 5 
Bei Meyer & Jeſſen 
Berlin 


,,, 


VIII NN. Ne- 
NN NN NN NN NN 


* 


* 


JS: 


2 
= 
6 
= 
SQ 
6 
E 
2 
— 
— 
Eder 
34 
2 
2 
— 
E 
2 
2 
— 
— 
oQ 


Vorbemerkung 


In dieſem neuen Band von Ludwig Speidels 
Schriften weht bereits Burgtheaterluft. Wir naͤhern 
uns dem vornehmſten Gebiet ſeiner kritiſchen Taͤtigkeit. 
Ein halbes Jahrhundert lang hat er in verſchiedenen 
Wiener Zeitungen — in der „Neuen Freien Preſſe“ 
beinahe vierzig Jahre — die Darbietungen der kaiſer— 
lichen Hofbuͤhne beurteilt. Drei Schauſpielergenera— 
tionen ſind dabei an ihm voruͤbergegangen. Er ſah 
noch die letzten Gipfel der Kuͤnſtlerſchar, mit der ſich 
Schreyvogel umgeben hatte: Anſchuͤtz, Fichtner, Loͤwe, 
Julie Rettich. Dann lernte er das unter Laube auf— 
bluͤhende Geſchlecht kennen: Sonnenthal, Baumeiſter, 
Lewinsky, die Wolter, die Gabillons. Zuletzt die 
modernen: Friedrich Mitterwurzer, Joſef Kainz. Da⸗ 
zwiſchen kreuzten auslaͤndiſche Buͤhnengroͤßen ſeinen 
Weg, erlauchte Gaͤſte, die aus Frankreich, aus Italien 
kamen. Er hat fie alle konterfeit, einige nur ſkizzen— 
haft, die meiſten in ſeiner gruͤndlichen, bildhaueriſchen 
Weiſe, manche freilich zu einer Zeit, wo ſie die hoͤchſte 
Stufe ihrer kuͤnſtleriſchen Entwicklung noch nicht er— 
reicht hatten. So Bernhard Baumeiſter, der ſeinen 
Richter von Zalamea noch nicht geſpielt hatte, fo 
Emerich Robert, den er ſpaͤterhin ſehr hochſtellte. Auch 
unter den Schauſpielern, die nicht zur Wiener Kunft- 
gilde gehoͤrten, duͤrfte es manchen geben, dem er, waͤre 
er mit der Zeit ihm und ſeiner Kunſt naͤher gekommen, 


v 


2006946 


den Tadel weniger ſcharf ausgeſprochen, das Lob reich— 
licher zugewogen haͤtte. Wir haben uns auch gefragt, 
ob es zulaͤſſig iſt, durch Ausgrabung verſchollener 
Strafpredigten an vernarbte Wunden zu ruͤhren. Die 
Frage war jedoch uͤberfluͤſſig. Aufgabe des Heraus— 
gebers iſt es ja, die Perſoͤnlichkeit Ludwig Speidels in 
weiteren Leſerkreiſen bekanntzumachen, und ſo hatte er 
gar nicht das Recht, dieſe Perſoͤnlichkeit irgendwie 
zuzuſtutzen, etwa mit einem „gereinigten Speidel“, vor 
dem ſchon ein Kritiker der zwei erſten Baͤnde gewarnt 
hat, dem Publikum aufzuwarten. Es ſoll den Mann 
haben, wie er war, in ſeiner unberuͤhrten Eigenart, 
feinem ruͤckſichtsloſen Wahrheitsmute, feiner oft un— 
geſchlachten und doch immer kuͤnſtleriſch gebaͤndigten 
Aufrichtigkeit, mit ſeinen Vorzuͤgen und ſeinen Fehlern, 
wo es denn freilich geſchehen mag, daß der eine als 
Vorzug preiſen wird, was dem anderen als ſchreiender 
Fehler erſcheint. 

Die mitgeteilten Portraͤts ſind bloß nebenher 
manchmal auch biographiſcher Natur. Vor allem 
handelt es ſich hier um die Buͤhnenleiſtung des Schau— 
ſpielers, das ſchauſpieleriſche Kunſtwerk. Dieſes mit 
der Feder nachzuzeichnen, wer weiß nicht, wie ſchwer 
es iſt! Erich Schmidt ſagt in ſeiner Leſſing-Biographie: 
„Leſſing iſt einer der wenigen, welche uns wirklich einen 
Schatten des vorbeiziehenden Bildes uͤberliefern. Was 
z. B. Meyer im vieljaͤhrigen Studium Schroͤders nicht 
lernte, was Tieck, Laube, E. Devrient, L. Speidel 
manchmal vorzüglich treffen, hat Leſſing an Ekhof ges 


VI 


lernt.“ Speidel hat es vom Burgtheater gelernt, von 
den großen Schauſpielern, die in der zweiten Haͤlfte 
des vorigen Jahrhunderts an dieſer Buͤhne gewirkt. 
Was von ihrer Kunſt, die der Augenblick gebar und der 
Augenblick aufzehrte, fuͤr die Nachwelt zu retten war, 
hier wurde es feſtgehalten, in dieſen Buͤſten, dieſen 
Bildniſſen. Über ihren kuͤnſtleriſchen Wert haben wir 
nichts zu ſagen, ihre theatergeſchichtliche Bedeutung 
ſpringt in die Augen. 


Wien, im Juni 1911. 


Der Herausgeber. 


A, 


0 WN 


Kr 


Bogumil Damifon 


Sei es nun Zufall oder Abficht, uns will es fait 
beduͤnken, als ſuche Dawiſon die Kaiſerſtadt von Zeit 
zu Zeit nur deshalb heim, um die Groͤße des Verluſtes, 
den das Burgtheater durch den Abgang dieſes bedeu— 
tenden Kuͤnſtlers erlitten, uns recht lebhaft ins Ge— 
daͤchtnis zuruͤckzurufen. Und gewiß, mit gerechtem 
Selbſtgefuͤhl mag er hintreten und ſagen: Seht, wel— 
chen Mann ihr an mir verloren habt! Nur verſchweigt 
er die andere Seite der Sache, denn mit Fug kann man 
ihm zuruͤckſagen: Und ach, was du am Burgtheater 
verloren haſt! Daß uns dieſe Einbuße an ſich ſelbſt 
in dem Augenblicke, wo Dawiſon vor uns ſteht, noch 
naͤher beruͤhrt, als unſer eigener Verluſt, iſt nicht mehr 
als menſchlich. Ohne Zweifel hat Dawiſon Rollen, 
die noch heute das Burgtheater zieren wuͤrden; dann 
aber hat er auch andere, die von Burgtheater-Schau⸗ 
ſpielern, welche kaum wuͤrdig ſind, ihm die Schuh— 
riemen zu loͤſen, ungleich ſachgemaͤßer dargeſtellt 
werden, als von ihm. Wie erklaͤrt ſich dieſe ſeltſame 
Erſcheinung? 

Ich moͤchte ſo gern unbefangen urteilen und kann 
es nicht mit dem beſten Willen. Wenn ich den Namen 
Dawiſon hoͤre, ſo ſchlagen aus der Ferne traute 
Stimmen an mein Ohr, und alte Erinnerungen treten 
mit unabweisbarem Zauber zwiſchen mich und meinen 
Gegenſtand. Es iſt nun gut zwoͤlf Jahre her, daß ich 


IVI I I 


Dawiſon zum erften Male auftreten ſah, ich kann nicht 
vergeſſen, wie mich ſein Richard III. erſchuͤtterte, wie 
innerlichſt mich ſein Hamlet bewegte, und wie mir ſein 
Mephiſtopheles, der ganz in Lauge getaucht ſchien, zu 
denken gab. Die ſtarren Überlieferungen der Mittel- 
maͤßigkeit ſchienen von einer bedeutenden Kraft kuͤhn 
durchbrochen, es war, als ob Dawiſon die verſchuͤtteten 
Quellen der dramatiſchen Dichtung wieder auf— 
geſchlagen habe, die nun auf einmal ihren lange zu— 
ruͤckgehaltenen Sprudel mit verdoppelter Kraft und 
Friſche ergoſſen. Selbſt feine ſcharf ausgeſprochene 
perſoͤnliche Erſcheinung, welche die Linie des Eben— 
maßes faſt in jedem Punkte ſchnitt, ſelbſt die vom 
reinen Wohllaut weit abliegende Faͤrbung ſeiner 
Stimme uͤbten eine wohltuende Wirkung, weil ſie den 
Erfolg der kuͤnſtleriſchen Darſtellung nicht von ſo— 
genannten ſchoͤnen Mitteln, ſondern durchaus von 
einem großen geiſtigen Vermoͤgen abhaͤngig machten. 
Höcft erquicklich war die Freiheit, mit welcher Dawi— 
ſon die Sprache behandelte; in ſeinem Munde ward 
das in der Deklamation erſtarrte Wort wieder fluͤſſig 
und erhielt die Faͤhigkeit zuruͤck, ſich jeder Regung des 
Gemuͤtes, jeder Wendung des Verſtandes lebendig an— 
zuſchmiegen. Wem es nun vollends vergoͤnnt war, mit 
dem Kuͤnſtler in perſoͤnlichen Verkehr zu treten und in 
ſeine geiſtige Werkſtaͤtte hineinzublicken, dem ſtellte ſich 
Dawiſon doppelt achtungswert dar. Nie hatte ein 
Schauſpieler ſeine Kunſt ernſter gefaßt, keiner hat mehr 
gearbeitet als er. Er wußte von jeder ſeiner Rollen 


2 


fo genauen Beſcheid zu geben, wie ein Mechaniker von 
der Maſchine, die er gebaut; kein Stift, nicht die 
kleinſte Schraube entging ſeinem Spaͤherblick. Dabei 
faßte er eine Rolle nicht als etwas fuͤr ſich ſelbſt Be— 
ſtehendes auf, ſondern ging mit feinſtem Spuͤrſinn den 
Faͤden nach, welche dieſelbe an das Ganze des Kunſt— 
werkes knuͤpften. Sprach er uͤber eine kuͤnſtleriſche 
Aufgabe, ſo wog er zehn Aſthetiker auf, und wie viele 
tadelnde Kritiker — der deutſchen Theaterzeitungen zu 
geſchweigen — haben aus ſeitenlangen Zuſchriften er— 
fahren, wie gewandt er auch mit dem geſchriebenen 
Wort umzufpringen wiſſe. Und alle dieſe Bildung 
verdankte er ſich ſelbſt; er war ſein eigener Schuͤler 
und ſein eigener Meiſter. 

Er war? . .. Klingt dieſe „halbvergangene Zeit“ 
nicht wie das emſig bediente Zuͤgengloͤcklein unſeres 
Ludwig Auguſt Frankl? Und in der Tat, wenn man 
heute uͤber Dawiſon ſchreibt, ſo ſchreibt man einen 
halben Nekrolog. Mag das Publikum dem berühmten 
Schauſpieler noch wie ſonſt zujauchzen, mag es auf 
deſſen glorreichem Haupte die Lorbeerkraͤnze dutzend— 
weiſe aufbauſchen — Dawiſon iſt in manchem Be— 
trachte nicht mehr, was er war, und manche Erwar— 
tungen, die man von ihm gehegt, ſind nicht in Er— 
fuͤllung gegangen. Man muß das ſagen, und wer die 
Gaͤnge Dawiſons mit perſoͤnlicher Teilnahme verfolgt 
hat, dem ſtuͤnde ein Vertuſchen der Wahrheit wohl am 
wenigſten an. Faſt waͤre ein ſolcher verſucht, noch 
ſchaͤrfer als andere zu urteilen, weil er ſich in ſeinen 


1 3 


Lieblingswuͤnſchen getäufcht ſieht. Aber ſiehe, da richtet 
ſich Dawiſons immer noch gebietende Geſtalt auf und 
fordert Achtung. „Einen Halbverſtorbenen nennt ihr 
mich?“ ruft er uns mit ſeinem ſchmetternden Bruſtton 
entgegen. „Es ſei! Aber“ — und hier ſteigt ihm die 
Ironie in die Naſe — „aber jeid jo freundlich, zu be— 
denken, daß meine uͤberlebende Haͤlfte immer noch hin— 
reicht, um ein halbes Dutzend eurer gefeierten Buͤhnen— 
genies fuͤr die Dauer ihres Lebens kuͤnſtleriſch aus— 
zuſtatten. Es war mein Fehler, euch den Maßſtab in 
die Hand zu geben, mit dem ihr mich nun zuͤchtigt!“ ... 
Wir finden, daß Dawiſon ſehr vernuͤnftig ſpricht, und 
uns wird es gewiß nie einfallen, ihn zum groͤßeren 
Ruhm kleiner Buͤhnengoͤtter kritiſch abzuſchlachten. 
Dawiſon iſt ſeit Jahren einem Zigeunerleben ver— 
fallen, das ihm nicht geſtattet, zweimal an derſelben 
Stelle über Nacht zu bleiben. Sein ganzer kuͤnſt— 
leriſcher Menſch zeigt ſich von dieſer Unruhe ergriffen. 
Das ruhige Ausgeſtalten einer Rolle iſt ihm fremd ge— 
worden, er arbeitet auf den Effekt und hat ſich ein 
durchaus witziges Spiel, welches nach Pointen haſcht, 
angewoͤhnt. Ihm fehlt die Zucht einer großen Buͤhne, 
welche die Kraft des einzelnen heilſam beſchraͤnkt, in— 
dem ſie ein Talent am andern ſeine natuͤrliche Grenze 
finden laͤßt. Beſtaͤndig von Kraͤften untergeordneten 
Ranges umgeben, hat ſich Dawiſon daran gewoͤhnt, 
ſtets im Mittelpunkte zu ſtehen und, was um ihn vor— 
geht, nur als Nebenſache zu betrachten. Selbſt die 
Dichtung iſt oft genug nur zu dem Behufe vorhanden, 


4 


ihm eine Folie für ſeine Perſoͤnlichkeit zu leihen. Dem- 
gemaͤß kann er eine Rolle in lauter kleine Stuͤckchen 
zerreißen, demgemaͤß zerhackt er den Bau der Rede in 
einzelne Worte und zerſchlaͤgt einen Charakter in win- 
zige Splitter. In dieſer Weiſe iſt er durchaus mit dem 
Wallenſtein umgeſprungen, und Hamlet iſt es, trotz 
einzelner wunderbar geſprochenen Stellen, kaum beſſer 
ergangen. In Rollen, wo das Aneinanderreihen 
pikanter Züge am Platze iſt, wie im „Narziß“, im 
„Koͤnigsleutnant“, im „Bonjour“, ſteht Dawiſon 
immer noch unuͤbertroffen da. Leider hat ſich die eben 
geſchilderte falſche Manier ſtellenweiſe auch in ein paar 
Rollen eingeſchlichen, die nach Auffaſſung und Anlage 
unantaſtbar ſind. Man kennt und bewundert ſeinen 
Mephiſtopheles. Das iſt der Gottſeibeiuns in Lebens— 
groͤße, gegen welchen zum Beiſpiel Herrn Lewinskys 
Mephiſto nur ein Carteſianiſches Flaſchenteufelchen vor— 
ſtellt. Dieſe Schaͤrfe und Feinheit, dieſer tiefe Ingrimm, 
der manchmal in daͤmoniſchen Flammen aufbrennt, bei 
allem Zynismus jener hoͤllenjunkerliche Anſtand — es 
iſt eine Geſtalt, die vom genialſten Leben uͤberſchaͤumt. 
Und durch welche kindiſchen Maͤnnchen, wie er ſie bei— 
ſpielsweiſe in Auerbachs Keller anbringt, zerſtoͤrt ſie 
Dawiſon wieder, wenn auch nur für Augenblicke! Ahn- 
liche Leberflecke weiſt ſeine ſonſt herrliche Darſtellung 
des Carlos in „Clavigo“ auf. 

Wir koͤnnen nicht ohne ſchmerzliches Gefuͤhl daran 
denken, daß es wahrſcheinlich unmoͤglich iſt, Dawiſon 
je wieder fuͤr das Burgtheater zu gewinnen. Alles 


5 


Bedeutende macht dort fein Teſtament, und weit und 
breit will ſich kein Erſatz zeigen. Welche Lucke würde 
Dawiſon ausfuͤllen! Gewiß ließe er manchen Mangel 
fallen, der ihm auf ſeinem Wanderleben angeflogen. 
Er brauchte eine und dieſelbe Rolle nicht mehr ſo oft 
zu ſpielen, und mit dem Wegfall dieſer Notwendigkeit 
traͤte er ſeinen Aufgaben wieder mit jener gleichſam 
braͤutlichen Friſche entgegen, deren ein Kuͤnſtler, ſoll 
er mit poetiſcher Kraft wirken, nicht entraten kann. 


(Am 8. Januar 1865) 


Julie Rettich 


Ach die Toͤne, die ſo weich, 

Die ſo warm, ſo voll, ſo reich 
Damals dir vom Munde wehten, 
Die jetzt zuͤrnten, die jetzt flehten, 
Die jetzt Wehmut truͤb umflorte, 
Ach noch immer hör’ ich fie... 


Friedrich Halm 


Als eine Lebende halten wir Julie Rettich feſt, und 
nie iſt uns ihre Geſtalt ſchoͤner und, herrlicher im 
Geiſte aufgeſtiegen, als in dem Augenblicke, wo liebe— 
volle Haͤnde ihr Zeitliches der muͤtterlichen Erde heim— 
gaben. Weint ihr nur nach, ehrt ſie nur mit eurem 
Schmerze, die ihr der hohen Frau im Leben nahe ge— 
ſtanden, und laßt euch von unberufenen Troͤſtern, die 
euch euren Verluſt abmarkten wollen, nicht um eine 
einzige Traͤne betruͤgen. Sie iſt des Leides wert, und 
die Klage hat nie ein legitimeres Recht beſeſſen. Uns 
aber faͤllt die freudige Aufgabe zu, ein bedeutendes, in— 
haltreiches Menſchendaſein, welches ſich nach ſeinen 
eigenen Geſetzen aus beſcheidenen Anfaͤngen glanzvoll 
entwickelt, in der Betrachtung zu erneuern, den Kreis 
eines im tiefſten Grunde gluͤcklichen Lebens geiſtig zu 
umſchreiben. Denn gluͤcklich kann man das Leben 
einer Frau wohl nennen, die, im ſichern Gefuͤhl ihrer 
Kraͤfte, nie etwas Unſchickliches unternahm, die alle 
Keime, welche die Natur in ſie gelegt, zur Bluͤte und 


7 


Frucht gedeihen ſah, und welcher ein in ſeiner jchein- 
baren Haͤrte noch freundliches Geſchick ein wuͤnſchens— 
wertes Gut nur verſagte, damit ſie es reiner und un— 
verlierbarer beſitze. Ihr ſchlugen die Sorgen, welche 
Familienverhaͤltniſſe uͤber ſie brachten, noch zum Ge— 
winn aus, indem fie liebenswuͤrdige Seiten der menſch⸗ 
lichen Natur, die bisher in ihr geſchlummert, wach— 
riefen, und auf ihrem langwierigen und ſchmerzlichen 
Krankenlager, deſſen Qualen ihre Seele laͤuterten, 
hatte ſie den Troſt, zu erfahren, wieviel Verehrung und 
Liebe dieſe Welt fuͤr ſie hegte. Muͤſſen wir nicht ſelten, 
um einen Kuͤnſtler rein zu genießen, uns der Erinne— 
rung an den Menſchen gewaltſam entſchlagen, ſo waren 
in Julie Rettich beide Seiten gleichbedeutend, und 
eine ſteigerte die andere. Wir haben in ihr eine große 
Kuͤnſtlerin und eine verehrungswuͤrdige Frau verloren. 

Julie Rettichs Lebenslauf iſt nicht reich an aͤußeren 
Wechſelfaͤllen, und jenes abenteuerliche Element, 
welches das Leben eines Buͤhnenkuͤnſtlers fuͤr die 
Menge oft ſo anziehend macht, fehlt ihm gaͤnzlich. Er 
gewaͤhrt vielmehr, freilich von Zeit zu Zeit durch das 
Eingreifen bedeutender Perſoͤnlichkeiten angeregt, das 
Bild einer wie planmaͤßig angelegten inneren Ent— 
wicklung. Julie Rettich iſt 1805 (manche behaupten 
1804) in Hamburg geboren. Ihre Eltern gehoͤrten 
der Buͤhne an. Die Mutter war, wie uns Holtei ver— 
ſichert, eine gute Saͤngerin fuͤr die Spieloper, der 
Vater ein ausgebildeter, gewiegter Schauſpieler im 
Helden- und Charakterfache, der auch in Liederſpielen 


8 


huͤbſch zu fingen verſtand. Der erſten Spur der Finft- 
leriſchen Taͤtigkeit Julie Rettichs begegnen wir in 
Tiecks „Dramaturgiſchen Blaͤttern“, und zwar in jenem 
Teil derſelben, der uͤberſchrieben iſt: „Das Dresdener 
Hoftheater im Januar 1827“. Demoiſelle Gley (wie 
Frau Rettich vom Hauſe aus hieß) taucht da in ver— 
ſchiedenen Beſprechungen, mit Wohlwollen, aber doch 
ſtrenge behandelt, auf. Tieck hatte an dem talentvollen 
Maͤdchen Intereſſe gefaßt und vertrat ihre Leidenſchaft 
fuͤr das Theater gegen ihre Eltern. Denn die letzteren 
(und dieſe Tatſache wirft auf ſie ein ſchoͤnes Licht) 
konnten ſich nur ſchwer entſchließen, dem Wunſche der 
Tochter, ihr Leben der Buͤhne zu widmen, nachzugeben. 
Sie verlangten von ihr geradezu eine Probe ihres 
Talents, und Julie machte es vom Erfolg ihres erſten 
Auftretens abhaͤngig, ob ſie ihrem Rufe folgen ſollte 
oder nicht. Sie ſpielte die Kathinka im „Maͤdchen 
von Marienburg“, und der gute Erfolg dieſer Dar— 
ſtellung entſchied ihre Zukunft und ſchenkte der deutſchen 
Buͤhne wie durch einen gluͤcklichen Zufall eine ihrer 
erſten Kuͤnſtlerinnen. Mit naiven Rollen, als jugend— 
liche Liebhaberin, beginnt ſie ihre Laufbahn. Tieck 
durchſchaut ſofort ihre Begabung und merkt, wo ſie 
hinaus will. Er ſagt, was ſie kann, was ihr fehlt und 
was ſie verſpricht; ja ſchon in den erſten Zeilen uͤber 
ſie weisſagt er der Anfaͤngerin ihre Zukunft. Er ver— 
ſpricht der deutſchen Buͤhne „eine wahre Schau— 
ſpielerin“. „Die naiven Charaktere gibt ſie mit einer 
Herzlichkeit und Wahrheit, die hinreißen. Ihr Ton 


9 


ift der Ton der Natur, rein und voll, ganz Gefühl. So 
die Margarete in den ‚Hageſtolzen“. Auch im ernſten 
Schauſpiel und in der Tragoͤdie hat ſie gluͤckliche Ver— 
ſuche gemacht. Was ihr noch fehlt, iſt Haltung. Ihr 
Weſen hat eine große Verwandtſchaft zu dem der un— 
vergleichlichen Sophie Muͤller in Wien. Vielleicht, 
daß ſie dieſer trefflichen Kuͤnſtlerin in Zukunft nahe— 
kommt.“ Als Luiſe in „Kabale und Liebe“ „erſchreckt 
ſie durch einige wahrhaft tragiſche Momente“ und be— 
weiſt, „daß ſie gewiß den Kranz, nach dem ſie ſo enthu— 
ſiaſtiſch ſtrebt, erreichen wird“; als Wilhelmine in dem 
laͤngſt verſchollenen Bretznerſchen Luſtſpiel „Das 
Raͤuſchchen“ hat ſie in der Darſtellung des „muntern, 
uͤbermuͤtigen Maͤdchens gezeigt, wie ſehr ſie in ihrer 
Kunſt vorſchreitet“; und von ihrer Leonore Sanvitale 
ſagt Tieck: „Dieſe friſche Natur und das Adlige, 
welches die Darſtellerin in dieſer Rolle zeigte und aus— 
ſprach, war vortrefflich.“ Leider verlaͤßt uns hier der 
ſichere geiſtreiche Fuͤhrer; in ſeinen geſammelten 
Schriften wenigſtens findet man kaum mehr eine An— 
deutung uͤber die fernere Entwicklung der Kuͤnſtlerin. 
Lehrreich ſind aber auch ſchon dieſe wenigen Worte, 
denn ſie zeigen uns, wie unter allen den Keimen, die 
in Julie Gley beiſammenliegen, ſich der tragiſche Trieb 
mit einer Art Gewaltſamkeit Luft macht. 

Im Jahre 1828 ſpielte Julie Gley zum erſten Male 
im Wiener Burgtheater. Sie trat im „Maͤdchen von 
Marienburg“ (ihre Schickſalsrolle), im „Raͤuſchchen“ 
und als Irene in Schenks „Beliſar“ auf. Sie fand 


10 


Beifall beim Publikum und bei der Kritik, kehrte aber 
nach ihrem Gaſtſpiel wieder nach Dresden heim. Das 
zweite Gaſtſpiel, welches ſie 1830 im Burgtheater 
unternahm, fuͤhrte zu einem Engagement. Schon die 
Antrittsrollen legen Zeugnis ab von ihrem hoͤheren 
Streben und weiſen unter anderm Shakeſpeares Julia 
auf. Die jugendliche Liebhaberin des erſten Gaſt— 
ſpieles hatte ſich zum Fache der jugendlichen tragiſchen 
Liebhaberinnen und Heldinnen fortgebildet. Hero in 
„Des Meeres und der Liebe Wellen“ war in jener 
Zeit eine ihrer Glanzrollen. Im Todesjahre Goethes 
wurde bei einer Goethefeier zum erſten Male der 
„Fauſt“ aufgefuͤhrt, und Julie Gley, die ſchon zum 
achtzigſten Geburtstag des Dichters in Dresden das 
Gretchen geſpielt hatte, war das erſte Wiener Gretchen. 
„Fauſt in Wien“, ſchreibt die Kuͤnſtlerin an Tieck, „iſt 
gewiß merkwuͤrdig und hat mir viel Freude gemacht.“ 
Auguſt Lewald, in der „Allgemeinen Theater-Revue“, 
nennt das Gretchen neben der Griſeldis die „herrlichſte 
Schoͤpfung“ Julie Gleys, und ein ſcharfer und ſtrenger 
Kritiker in der „Wiener Zeitſchrift fuͤr Kunſt, Lite— 
ratur, Theater und Mode“ findet in derſelben Dar— 
ſtellung eine „unermeßliche poetiſche Fuͤlle“. Be— 
wunderungswuͤrdig iſt die geiſtige Schnellkraft der 
Kuͤnſtlerin, die ihr erlaubte, neben dem tief tragiſchen 
Gretchen die Franziska in „Minna von Barnhelm“ 
zu ſpielen, und zwar in einer Weiſe zu ſpielen, daß ein 
geſchmackvoller Kenner ſagen konnte: „Es iſt eine ſo 
runde und doch an allen Gliedern ſo gelenke Dar— 


1 


ſtellung.“ So entſchieden aber Julie Gley im Publi— 
kum durchgriff, ſo feindſelig war man ihr, namentlich 
nach Schreyvogels ſchmaͤhlich bewirktem Ruͤcktritte, in 
den leitenden Theaterkreiſen geſinnt. Wollte man doch 
den Leuten, wie Anſchuͤtz meldet, weismachen, der 
ganze Beifall, deren Gegenſtand Julie Gley war, ruͤhre 
nur „von einigen Sachſen“ her! Nachdem ihr Kon— 
trakt mit dem Burgtheater abgelaufen war, kehrte ſie 
abermals nach Dresden zuruͤck, doch nicht allein; ſie 
hatte mittlerweile durch ihre Vermaͤhlung mit Karl 
Rettich, einem Manne, deſſen Bildung weit uͤber ſeine 
ſchauſpieleriſche Befaͤhigung hinausging, den Grund 
zu einem dauernden haͤuslichen Gluͤcke gelegt. Sie 
lernte ihn zuerſt an dem Sterbebette ihres Vaters, 
welcher der Cholera erlag, naͤher kennen, und auf einem 
Gaſtſpiele in Graz, im Hauſe der kunſtſinnigen Familie 
Pachler, wurde der Bund geſchloſſen. Einige Zeit 
fruͤher war Julie Gley die Verlobte von Willibald 
Alexis Gaͤring) geweſen; das Verhältnis wurde aber 
ruͤckgaͤngig, weil ſich die Kuͤnſtlerin wegen der indis— 
kreten Benutzung einer ihm anvertrauten Mitteilung 
von Alexis verletzt fühlte”) Die zarte Empfindung, 
die Reinlichkeit der Seele, die ſich in dieſem Zuge 
ausſpricht, hat fie ſich zeitlebens gewahrt. 
Im Jahre 1835 kam Frau Rettich, diesmal mit 
) Dieſe, ſowie einige andere ſchaͤtzbare Angaben ver— 
danken wir der liebenswuͤrdigen Mitteilſamkeit des 


Herrn Ferdinand Raab, Skriptor an der Wiener 
Hofbibliothek. 


12 


ihrem Gatten, zum drittenmal nach Wien. Die beiden 
Ehegatten wurden durch einen lebenslaͤnglichen Kon— 
trakt dauernd an das Burgtheater gefeſſelt. Nun ſtand 
Frau Rettich im Vollbeſitze ihrer Kraft und arbeitete 
in ungeſtuͤmem Schoͤpfungsdrang Rolle um Rolle aus 
und ergriff, wie ihr die Jahre zuwuchſen, Fach um 
Fach mit ihrer beſeelenden Hand. An Leib und Seele 
hatte ſie die Natur fuͤr ihre Kunſt freigebig aus— 
geſtattet. Ihre Geſtalt war freilich nur mittelgroß, 
doch ſchien ſie im Augenblicke des Affektes uͤber ſich 
ſelbſt hinauszuwachſen; ihre Bewegungen waren ener— 
giſch und voll Adel. Das ſchoͤne Oval ihres Geſichtes, 
die bedeutende Naſe, das große, feurige Auge und der 
wohlgebaute Mund, der den Atem voll ausſtroͤmen ließ, 
gewiß waren das unſchaͤtzbare Mittel fuͤr eine drama— 
tiſche Kuͤnſtlerin. Zu ihnen geſellte ſich eine volle, 
wohllautende Stimme, in deren ſeltenem Umfange ſich 
fuͤr jede Empfindung die richtige Klangfarbe fand. 
Das war aber nur das treffliche Inſtrument, auf 
welchem nun der Genius ſpielte. Mit heftiger Empfin— 
dung erfaßte ſie ihre Aufgaben; ſie drang mit einem 
Ruck in das Innere einer Rolle und arbeitete ſie von 
da in ihre Details heraus, ſehr verſchieden von der 
Methode der ſogenannten „verſtaͤndigen“ Schauſpieler, 
die ihre Rollen von außen beſeelen wollen. Mit einer 
untadelhaft reinen Ausſprache und einer wunderbar 
geloͤſten Zunge war ſie eine vollendete Meiſterin der 
Rede. Ihrer Auffaſſungsweiſe nach huldigte ſie jenem 
wahrhaften Idealismus, der die Wirklichkeit nur in 


13 


dem Sinne verneint, daß er fie geiftig verzehrt und 
laͤutert. Allerdings lagen urſpruͤnglich harte, realiſtiſche 
Elemente in ihrem Weſen, die auch ſpaͤter gelegentlich 
durchbrachen und ſich mit den Jahren haͤufiger geltend 
machten. Ein geiſtreicher Kollege — der uns in einem 
vorlaͤufigen Nekrolog uͤberhaupt ſchon eine dicke Lage 
Rahm von der Milch geſchoͤpft — wies bereits auf 
den uͤblen Einfluß hin, welchen die Gaſtſpiele der 
Rachel und Riſtori auf Frau Rettich geuͤbt. Dem 
Zaubertrank, der alle Welt berauſchte, konnte ſich die 
empfaͤngliche Kuͤnſtlerin gleichfalls nicht verſchließen, 
und er wirkte um ſo heftiger, als er auf verwandte, 
allerdings durch Bildung und Geſchmack zuruͤck⸗ 
gedraͤngte Kraͤfte in ihrem Innern traf. Man konnte 
einen Augenblick befuͤrchten, daß ſich Frau Rettich 
ganz in Manier verlieren werde; es ſchien ſich eine 
Verhaͤrtung von Eigenſchaften einzuſtellen, die, wenn 
ſie im Zuſammenhang des Ganzen voruͤbergehend auf— 
treten, ihre Berechtigung und Notwendigkeit haben. 
Das ſtete Zwinkern mit den Augenlidern, das haͤufige 
Starren wie ins Leere, dieſes raſche, eckige Vorwerfen 
der Arme, die in der Luft ſich ploͤtzlich zu verſteinern 
ſchienen, das grelle Pointieren der Rede und jenes 
ſchrille Aufſchreien, das aus dem tiefſten Regiſter un— 
vermittelt in die hoͤchſten Chorden bricht — dies konnte 
man alles für Anzeichen eines nicht mehr aufzuhalten— 
den Verfalls betrachten. Aber die gute Natur der 
Kuͤnſtlerin ſtellte ſich raſch wieder her, und wenn ſie 
durch glänzende Talente, in welchen ſich Echtes und 


14 


Falſches ſeltſam miſchten, einen Augenblick von ihrem 
Pfade abgelenkt werden konnte, ſo brach ſich in ihr 
die Erkenntnis wieder Bahn, daß in aller Kunſt die 
Wahrheit zwar das Erſte, aber nur die Schoͤnheit das 
Letzte ſei. Nach der Rachel ſchuf Frau Rettich noch 
die Thusnelda, nach der Riſtori noch die Marfa: zwei 
Rollen, vor deren Gewalt und hoher Schoͤnheit jene 
beiden ſich haͤtten beugen muͤſſen. 

Man hat an Frau Rettich oft ihre ewige Jugend 
bewundert, die am Ende nur auf dem Geheimnis be— 
ruhte, die ganze Perſoͤnlichkeit vom Geiſte aus zu ver— 
juͤngen. Ein geiſtreiches Wort der Rahel ſcheint fuͤr 
ſie geſchrieben zu ſein. Es lautet: „Nichts macht alt, 
als das Einwilligen darein, Vernachlaͤſſigung der 
Jugend und Mangel an ewiger Eleganz; man kann 
nicht nur abends um ſechs Uhr ein Kuͤnſtler ſein 
— man muß es den ganzen Tag fein.“ Frau 
Rettich war die Kuͤnſtlerin nach dem Sinne Rahels. 
Ihr dieſe unverwuͤſtliche Jugend zu bewahren, trug 
viel jener treue Freundeskreis bei, der ſich, ſeit der 
Dichter der „Griſeldis“ ihr naͤher getreten, um ſie, als 
ſeinen Mittelpunkt, bewegte. Frau Rettich, mit ihrer 
reichen, von der mannigfaltigſten Bildung befruchteten 
Natur, hatte viel zu geben. Alles Schoͤne und Holde, 
was ein Weib ziert, hatte ſie in ſich ausgebildet; es 
ging eine erziehende Kraft von ihr aus, die unbewußt 
veredelte. Zwei Talente, die man nur bei Frauen 
findet, beſaß ſie in vorzuͤglicher Weiſe: ſie war eine 
Meiſterin im Pflegen und im Dulden. Das fuͤhlte 


1 


1 


man auch ihrer Kunſt an. Sie ſtroͤmte ihr Herzblut 
aus, wenn ſie uns als Griſeldis in Abgruͤnde weib— 
lichen Leidens blicken ließ und die grellen Diſſonanzen 
dieſes Lebens in einer erhabenen Reſignation aufloͤſte; 
ſie war Parthenia, bevor ſie die Parthenia ſpielte, denn 
gerade das Erziehen durch Liebe war recht ihr Element. 
Durch die Wuͤrde ihrer Perſoͤnlichkeit hat ſie, gleichwie 
Anſchuͤtz, fuͤr die Stellung des Schauſpielers in der 
buͤrgerlichen Geſellſchaft Großes geleiſtet; dem jungen 
Volke fiel dieſe Frucht in den Schoß, und es zeigt, 
natuͤrlich mit ruͤhmlichen Ausnahmen, nicht uͤbel Luſt, 
ſie leichtſinnig wieder wegzuwerfen. 

Julie Rettich ruht nun in der kuͤhlen Erde; aber 
eine doppelte Unſterblichkeit iſt ihr ſicher: ſie wird fort— 
leben in den Überlieferungen ihrer Kunſt, und jeder 
redliche Menſch, der einen Hauch ihres reinen Waltens 
verſpuͤrt, wird es Kindern und Enkeln weitererzaͤhlen, 
daß ſie nicht nur eine beruͤhmte, ſondern eine tugend— 
hafte und guͤtige Frau geweſen, deren Groͤße gerade 
auf dieſer inneren Tuͤchtigkeit beruhte. 


(Am 15. April 1866) 


Karl La Roche 


Siebenundſiebzig Jahre alt, zweiundſechzig uͤber— 
haupt bei der Buͤhne, vierzig davon am Vurgtheater 
— man meint in der Bibel zu blaͤttern und von jenen 
herdenweidenden Patriarchen zu leſen, die bekanntlich 
ein Steinalter erreichten. Und doch ſpricht man von 
einem Manne, der ohne Spur von Gebrechlichkeit unter 
uns wandelt, ja, der durch Ruͤſtigkeit des Koͤrpers und 
Friſche des Geiſtes manchen Jungen beſchaͤmt. Es 
gibt gewiſſe Berufsarten, welche die Lebensfriſt kuͤrzen, 
und wieder andere, welche ſie auf ungewoͤhnliche Dauer 
erſtrecken. Unter den Soldaten und Schauſpielern 
findet man die meiſten bluͤhenden alten Leute. Als 
Greis ſchlaͤgt Vater Radetzky die Piemonteſen, der alte 
Moltke vernichtet die franzoͤſiſchen Heere; noch als 
guter Siebziger ſpielt Anſchuͤtz den Erbfoͤrſter und 
Muſiker Miller mit ungebrochener Kraft, und Loͤwe, 
der unverwuͤſtliche Kuͤnſtler, der nicht abdanken, der 
nur ſterben konnte, machte noch an ſeinem Lebens— 
abende die Wiederaufnahme eines Grillparzerſchen 
Trauerſpiels durch ſein wunderbares Spiel moͤglich. 
Bei dem vielen Aufregenden, ja, man ſollte glauben 
Aufreibenden, was das Soldaten- und Schauſpieler— 
leben mit ſich bringt, muß doch wieder ein erfriſchendes 
Element, eine erhaltende Kraft in ihm liegen. Schon 
der Buͤhne an ſich, der unmittelbaren Nachbarſchaft 
des Kuͤnſtleriſchen, ſcheinen ſolche verjuͤngende Kraͤfte 


Ia 17 


innezuwohnen, wie man es beiſpielsweiſe an Heinrich 
Laube wahrnehmen kann, dem aus den Sorgen um das 
Wiener Stadttheater eine zweite Jugend erbluͤht. An 
keinem aber hat ſich die konſervative Kraft des Thea— 
ters ſichtlicher bewaͤhrt, als an Karl La Roche. Man 
mag ihn auf der Buͤhne, auf der Straße, im geſelligen 
Kreiſe ſehen, fein Anblick wird nicht im entfernteſten 
an die Schwaͤche oder gar Hilfloſigkeit des Greiſen— 
alters erinnern. Kraͤftig und leicht traͤgt er ſeine 
mittelgroße Geſtalt, ſein Auge blickt klar und ſcharf, 
und feiner Rede fehlt es weder an Fluß noch an Nach- 
druck. 

Auch darin bewaͤhrt ſich die Friſche des Mannes, 
daß ihm ein hervorſtechender Zug ſeines Weſens, ſein 
geſelliges Beduͤrfnis, treu geblieben. Die Einſamkeit 
iſt ihm nur als Kontraſt genießbar, die Geſelligkeit das 
Element, worin er lebt und webt. Es gibt keinen 
liebenswuͤrdigeren Wirt und keinen angenehmeren 
Gaſt. Er iſt ein Meiſter in der Aſthetik des Lebens. 
Wie den gebildeten Zeitgenoſſen des Plato, iſt ihm die 
hoͤchſte Form der Erholung das Sympoſion, das nicht 
weinloſe, aber auch nicht gedankenloſe Zuſammenſitzen 
mit Freunden, wobei der Geiſt fuͤr die Gaben des 
Bechers in ernſter und ſcherzender Rede ſich dankbar 
erweiſt. Ihm iſt das Gluͤck geworden, ſich in aͤlteren 
Jahren ein angenehmes Hausweſen zu geſtalten, wel— 
ches ihn — das ſchoͤnſte geſellige Ziel — in die Lage 
verſetzt, Gaſtfreundſchaft zu gewaͤhren und in Anſpruch 
zu nehmen. Solche Noͤglichkeit hängt mit der gegen 


18 


früher bedeutend verbeſſerten materiellen Stellung der 
Schauſpieler zuſammen, und dann iſt auch von dem 
Goldſtrom, der ſeit der Gruͤndung der Kreditanſtalt 
und dem darauffolgenden Aufſchwung der Voͤrſe durch 
die Stadt Wien flutet, ein beſcheidenes Baͤchlein durch 
befreundete Haͤnde in La Roches Heimweſen geleitet 
worden. Es war eine dem Kuͤnſtler und Menſchen 
dargebrachte Huldigung von ſeiten einer bekannten 
Finanzgroͤße. La Roche baute ſeine Villa am Gmun— 
dener See, und hier konnte er ſein geſelliges Ideal in 
der freundlichſten Weiſe verwirklichen. Hier wird es 
zur Sommerszeit nicht leer, und kommen die Gaͤſte 
nicht ſelber, ſo holt er ſie zuſammen. Reichtum, vor— 
nehme Geburt, Geiſt, es ſind die Schluͤſſel, welche die 
Villa des hervorragenden Kuͤnſtlers und liebenswuͤr— 
digen Menſchen oͤffnen. Und da das Kapital in Wien, 
wie wir ſoeben geſehen, aͤſthetiſch geſinnt iſt, ſo hat 
auch ein Geſchaͤftsmann, Herr Joſeph Mautner — 
nicht zu verwechſeln mit ſeinem Namensvetter Eduard 
— das idylliſche Treiben in La Roches Villa in vor— 
trefflich gebauten Verſen ſchalkhaft und anmutig be— 
ſungen. 

Das Gedicht iſt vom Napoleonstage 1871 datiert 
und wehrt die Gedanken an Krieg und Politik 
ab. Wohl hoͤrt man allwaͤrts davon ſingen und 
ſagen: 


Doch hier am Duftgelaͤnde 
Des Sees, im ſtillen Haus, 


[2] 19 


Da loͤſchen wir die Brände 
Der Kriegesfackel aus.“) 


Wenn von La Roche die Rede iſt, darf die geſellige 
Seite ſeiner Natur nicht uͤbergangen werden. La Roche 
iſt nicht ausſchließlich Schauſpieler, er macht auch 
Figur in der Wiener Geſellſchaft. Der gebildete Mann 
von geſelligen Sitten war noch vor nicht allzulanger 
Zeit eine Seltenheit unter den deutſchen Schauſpielern, 
und es iſt das Verdienſt La Roches und des buͤrgerlich 
tuͤchtigen Anſchuͤtz — von weiblicher Seite half Julie 
Rettich mit — den letzten Reſt des ſozialen Vorurteils, 
welches gegen die Schauſpieler beſtanden, vollends be— 
ſiegt zu haben. Und auch in die Kunſt La Roches 
ſpielt dieſes geſellige Weſen des Menſchen ſtark genug 


hinein .. (Am 15. Maͤrz 1873) 


*) Wir entnehmen dieſe Verſe der ſoeben bei Rosner 
erſchienenen kleinen Schrift: „Karl La Roche“ von 
Eduard Mautner, auf welche wir die Verehrer des 
Kuͤnſtlers aufmerkſam machen. Sie iſt mit großer 
Waͤrme geſchrieben und verarbeitet ein reiches bio— 
graphiſches Material. Der Poet Eduard Mautner 
hat darin das zitierte Gedicht neidlos aufgenommen; 
vor den Vorzuͤgen anderer gibt es, nach Goethe, keine 
Rettung als die Liebe. 


Clara Ziegler in Wien 


Jedermann erinnert ſich des ſiegreichen Gaſtſpiels, 
welches Clara Ziegler vor einigen Jahren im Wiener 
Burgtheater unternommen. Von nichts getragen, als 
von ihrem hierzulande nicht eben ſchwer wiegenden 
Muͤnchener Rufe, traf ſie eines Tages in Wien ein, 
und als ſie die heißen Bretter auf dem Michaelerplatz 
betrat, nahm ſie im Sturm die Sympathien des von 
ihrer Erſcheinung geblendeten Publikums. Kaum ein 
Wort des Tadels erſcholl damals unter den Jubelrufen 
der Bewunderung; die Kritik ſtreckte die Waffen und 
zog wie ein frommes Tier an dem Triumphwagen der 
altbayeriſchen Tragoͤdin. In ihr ſchien die tragiſche 
Muſe Deutſchlands Fleiſch geworden, das laͤngſt ge— 
ſuchte Ideal gefunden zu ſein. Der Enthuſiasmus des 
Publikums wirkte auf die Schauſpieler des Burg— 
theaters in verhaͤngnisvoller Weiſe zuruͤck. Da war 
kein Weiblein ſo klein und ſo ſtimmarm, daß es nicht 
auch eine Clara Ziegler ſein wollte; man ſpielte auf 
den Zehen, um ſich der Hoͤhe ihrer Geſtalt zu naͤhern, 
man nahm die Lungen und den Mund voll, um mit 
dem gewaltigen Atem ihres Organs zu wetteifern. Das 
war damals. Heute iſt es anders. Soeben hat Clara 
Ziegler ihr Fruͤhlingsgaſtſpiel im Karltheater beendigt. 
Dieſem Gaſtſpiele fehlten zwar nicht die guͤnſtigen Er— 
folge; allein jene erſte Liebesglut, mit der das Wiener 
Publikum die Muͤnchnerin einſt umarmt hatte, war 


21 


einer kuͤhleren Anſchauung gewichen. In der Kritik 
bildete ſich, wenn nicht eine Oppoſition, ſo doch eine 
Partei, die „mit Bewunderung zweifelte und mit 
Zweifel bewunderte“. Manchmal mußte die Kuͤnſt⸗ 
lerin ſogar ein ſpitzes Wort hoͤren, und allgemein war 
das Urteil, daß ſie nicht alles zu ſpielen verſtehe, was 
ſie zu ſpielen ſich unterfange. Die Veraͤnderung war 
groß. Man war eben mittlerweile aͤlter geworden, 
und ich glaube faſt, auch ein wenig verſtaͤndiger. 
Fraͤulein Ziegler mochte das wohl auch fuͤhlen, 
aber es ſich einzugeſtehen, dagegen ſtraͤubte ſich ihre 
Eitelkeit. In ihrem blinden Selbſtgefuͤhl trieb ſie 
ihre Geſchmackloſigkeit ſo weit, daß ſie von der Buͤhne 
aus gegen die Kritik polemiſierte. Fraͤulein Ziegler 
kennt nicht die Regel, daß ein Schauſpieler auf der 
Buͤhne nie etwas ſprechen ſoll, was nicht in ſeiner 
Rolle ſteht. Wenn der Schauſpieler ſeine Rolle ſpricht, 
gleicht er einem kuͤnſtlichen Springbrunnen, den der 
Dichter mit Waſſer ſpeiſt; wenn er aber auf eigene 
Fauſt ſpricht, ſo fehlen ihm neunmal unter zehn die 
geeigneten Mittel, und die Roͤhre, die ſonſt ſo luſtig 
geſprudelt, laͤßt ein trauriges Quieken und Roͤcheln 
vernehmen. Es iſt unklug und leichtſinnig, auf ſolche 
Weiſe ſeinen Geiſt und ſeine Geſinnung zu verraten 
und noch im Ballkleid ſeiner Rolle das Negligé ſeines 
Innern bloßzulegen. Das hat Fraͤulein Ziegler bei 
ihrem Abſchiedsſpiele getan. Noch im Gewande der 
Medea, nachdem ſie eben mit dem Feuer geſpielt und 
zwei Kinder umgebracht hatte, trat ſie vor die Rampe 


22 


und hielt in eigener Sache eine Anſprache an die Zus 
ſchauer. Sie bedankte ſich erſt fuͤr die „Huld und 
Gnade“, die ihr von ſeiten des Publikums geworden, 
um dann gegen die Wiener Kritik einige Hiebe zu 
fuͤhren. Sie meinte: obwohl von verſchiedenen Seiten 
Angriffe auf ſie gemacht worden ſeien, um ihr Gaſt— 
ſpiel zu ſtoͤren, ſo ſei dies, Dank der Guͤte eines ver— 
ehrlichen Publikums, doch nicht gelungen. Sie habe 
ſich daraus gar nichts gemacht; ſie lache daruͤber und 
ſchließe in der humoriſtiſchen Stimmung, wie ſie jene 
Angriffe aufgenommen, indem ſie ſich mit dem Spruch 
troͤſte: „Es find nicht die ſchlechteſten ‚Birnen‘, an 
denen die Weſpen nagen“ ... Eine liebenswuͤrdige 
Birne, die ſo mit Weſpen um ſich wirft, eine Birne, 
die von dem Safte altbayeriſcher Urbanitaͤt ſtrotzt. 
Und welche Dreiſtigkeit in Fraͤulein Zieglers Behaup— 
tungen, und welch ein Galgenhumor in ihrer Heiter— 
keit! Dreiſter kann man nicht ſein, es mit offener Stirn 
zu behaupten, man habe ihr Gaſtſpiel ſtoͤren wollen. 
Ihr Gaſtſpiel ſtoͤren; wer hat daran gedacht? Wenn 
urteilen ſtoͤren heißt, dann hat Fraͤulein Ziegler recht. 
Man hat von einigen ihrer Rollen geſagt, daß ſie nicht 
viel taugen, man hat ſelbſt an ihren glaͤnzendſten Dar— 
ſtellungen Flecken gefunden. Das iſt einfach das Recht 
und die Pflicht der Kritik, das heißt der Unterſcheidung 
des Echten vom Unechten. Darin liegt ebenſowenig 
boͤswillige Abſicht, als wenn der Bergmann das Gold 
vom tauben Geſtein ſondert. Wer ſich oͤffentlich hin— 
ſtellt, muß der Kritik gewaͤrtig ſeinz er fordert fie her— 


8 
23 


aus und muß fie annehmen. Wer über der Kritik 
ſtehen will, ſinkt leicht unter die Kritik herab, weil er 
gutem Rate ſein Ohr verſchließt und in ſeinen 
Manieren verhaͤrtet und erſtarrt. Will Fraͤulein Zieg— 
ler unfehlbar ſein, nun ſo ſpiele ſie vor ihrem Spie— 
gel ... Aber wem raten wir? Einer Schauſpielerin, 
die im Gefuͤhle ihrer Groͤße gegen jeden Tadel ge— 
panzert iſt, von deren Schilde der abgeſchnellte Pfeil 
auf den Schuͤtzen zuruͤckfliegt. Die ſuͤße Birne lacht 
ja uͤber ihre kritiſchen Stoͤrenfriede! Wirklich, ſie lacht? 
Wer es glauben mag! Wir kennen dieſes Lachen, 
ſolches Lachen auf Ehrenwort. Es iſt von Holz, und 
dahinter lauern Krampfanfaͤlle, halb zornige, halb ver— 
zagte Traͤnen, abgeſagte Auffuͤhrungen und abgekuͤrzte 
Gaſtſpiele. Nein, dieſes Rieſenmaͤdchen von der Iſar, 
dieſe wandelnde Nebenbuhlerin der ſtarren Bavaria 
ſchlaͤgt nicht aus der Schauſpielerart. Auch ſie hat 
Nerven, iſt empfindlich und wehleidig; auch ihr ſchlaͤgt 
Lob und Tadel ins Gemuͤt. Und gut fuͤr ſie, daß dem 
ſo iſt; denn waͤre es anders, ſo haͤtte ſie wenig von 
einer Kuͤnſtlerin. Mag ſie immerhin vorgeben, daß 
ſie lache — uns gewinnt ſolches Lachen nur ein 
Laͤcheln ab. 

So leicht nun wie Fraͤulein Ziegler mit der Kritik, 
wird die Kritik mit ihr nicht fertig. Es muß ſeinen 
guten Grund haben, daß ſie bei ihrem letzten Gaſtſpiel 
minder gefallen hat, als bei ihrem erſten. Der Grund 
liegt auf der flachen Hand. Fraͤulein Ziegler gehoͤrt 
nicht zu den Kuͤnſtlerinnen, die bei näherer Befannt- 


24 


ſchaft gewinnen, an denen bei genauerem Zuſchauen 
neue Seiten, die man fruͤher uͤberſehen, zutage treten. 
Clara Ziegler vermag maͤchtige Wirkung auszuuͤben. 
Sie uͤberrumpelt, ſie verbluͤfft den argloſen Zuſchauer; 
er glaubt ſich gefangen. Er taͤuſcht ſich laͤnger oder 
kuͤrzer; denn ihn auf die Dauer feſtzuhalten, ihn zu 
feſſeln, dazu gebricht es ihr an der noͤtigen Kraft. 
Solche Art von heftiger und raſch nachlaſſender Wir— 
kung deutet bei der Schauſpielerin auf Maͤngel der 
geiſtigen Organiſation. Clara Zieglers Kraft liegt 
in ihren natuͤrlichen Mitteln, die allerdings ungewoͤhn— 
lich reich ſind. An ihrer Geſtalt hat die Natur nicht 
geknickert, fie hat dieſen Wuchs vielmehr in gluͤcklicher 
Geberlaune gebildet. Es iſt ein Segen fuͤr eine 
tragiſche Schauſpielerin, ſolche hohe Geſtalt, die den 
Goͤttern gleichſam bis an die Schultern reicht; ſie iſt 
ein Abbild oder eine Ahnung geiſtiger Groͤße, die ohne 
perſoͤnliches Verdienſt die Menſchen unmittelbar fuͤr 
ſich einnimmt. Das Geſicht iſt von beredſamen Augen 
belebt, die Stimme hat Umfang, Fülle, Kraft in fel- 
tenem Maße. Sie verſteht ihre Stimme wie eine 
Saͤngerin und weiß ihr Pomp und Wohllaut zu ent— 
locken. Wenn nun dieſe ſchoͤnen ſinnlichen Mittel ihr 
Zuſammenſpiel beginnen, ſo ſteht man wie unter dem 
Zauber einer Naturerſcheinung. Man iſt zugleich er— 
quickt und betaͤubt von den rollenden Donnern dieſer 
Stimme, man folgt mit Erſtaunen den großen Be— 
wegungen dieſer maͤchtigen Leiblichkeit. Es gibt frei— 
lich ein nuͤchternes Erwachen aus ſolchem Rauſch, und 


25 


wenn man ſich die Augen reibt, merkt man bald, daß 
es zwar gedonnert hat, aber nicht eingeſchlagen. Wir 
reagieren mit der Zeit immer ſchwaͤcher auf dieſe hef— 
tigen Anlaͤufe gegen unſere Sinnlichkeit, und zuletzt 
beſchleicht uns ein Gefuͤhl der Unbefriedigung, um 
nicht zu ſagen der Langeweile, weil wir hinter dem 
ſchoͤnen, wohltoͤnenden Inſtrument die entſprechende 
Seele nicht finden koͤnnen. Clara Ziegler iſt leicht 
auswendig gelernt, weil ihre Innerlichkeit nicht reich 
iſt. Sie iſt immer und ewig Fraͤulein Clara Ziegler, 
geboren in Muͤnchen, kuͤnſtleriſch erzogen von Herrn 
Chriſten, ob fie nun die Medea darſtelle oder die 
Eliſabeth, die Deborah, die Orſina oder irgendeine 
Rolle in einem franzoͤſiſchen Schauſpiel. Proteus, der 
Geſtaltenwechſler, iſt keiner ihrer Vettern. Zugleich 
mit der Wahrnehmung ihres geringen geiſtigen Fonds 
ſtoßen uns auch Maͤngel an ihrer Technik auf. Sie 
beſitzt eine harte, umſtaͤndliche Ausſprache, die ſie 
von Frau Straßmann⸗Damboͤck, ihrer Vorgaͤngerin 
in Muͤnchen, geerbt zu haben ſcheint. Ihre Rede 
ſcheint uns zu ſagen: ich bin eine fremde Sprache in 
dem Munde, der mich ſpricht, ich bin ein kuͤnſtlicher 
Gegenſatz zu dem bequemen Dialekte, den dieſe Zunge 
von der Windel auf gelallt. Ihre uͤbrige ſprachliche 
Technik, die grellen Kontraſte in Ton und Tempo, 
dieſes Sich-Feſtbohren in einem Worte und wieder das 
fluͤchtige Hineilen uͤber ganze Saͤtze, iſt gleichfalls nicht 
ihr Eigentum. Man kann ihr hieraus allerdings keinen 
Vorwurf machen, denn das moderne deutſche Schau— 


26 


ſpielweſen ſtammt überhaupt aus der Fremde. Unter 
allen Voͤlkern unſeres Erdteils hat vielleicht das 
deutſche am wenigſten Beruf zur Schauſpielkunſt wie 
zur Schauſpieldichtung. Es iſt kein Zufall, daß ſich 
bei uns eine dramatiſche Literatur erſt entwickelte, nach— 
dem ſie bei den Englaͤndern, Spaniern und Franzoſen 
ſchon abgebluͤht hatte. Als das dramatiſche Dreigeſtirn 
unſerer Klaſſiker aufging, da ſchien auch der deutſchen 
Schauſpielkunſt das Gluͤck zu lächeln. Aber die Tradi— 
tion, die von unſeren großen Buͤhnenkuͤnſtlern aus 
gegangen, hat ſich raſch abgenutzt. Die Dramatiker 
gingen zu den Franzoſen in die Schule; was ſollten die 
Darſteller tun? Vor allem eine daͤmoniſche Erſchei— 
nung hat auf die moderne Schauſpielkunſt Deutſch— 
lands einen verhaͤngnisvollen Einfluß genommen: 
Rachel Felir. Unter ihrem Banne erſtarrte die 
alte Schauſpielſchule der Deutſchen, und die Buͤhne 
verſuchte neue Gaͤnge, ganz zu derſelben Zeit, wo auch 
die deutſche Malerei durch franzoͤſiſche Anregung in 
neue Bahnen gelenkt wurde. Die Rachel war eine 
Franzoͤſin, auf eine Juͤdin geimpft. Beide Elemente 
durchdrangen ſich in ihr auf das innigſte. Dem ſchaͤrf— 
ſten Verſtande und der beweglichſten Dialektik ver— 
maͤhlte ſich das leidenſchaftlichſte Feuer. Sie war eine 
gewaltige Rednerin, was nicht ausſchloß, daß ſie auch 
ganz liebenswuͤrdig zu plaudern verſtand. Sie hatte 
Toͤne fuͤr Corneille und fuͤr Lafontaine. Ihr Stil war 
ganz aus ihrer Perſoͤnlichkeit und aus der franzoͤſi— 
ſchen Sprache hervorgewachſen. Nun denke man ſich, 


27 


wie ſolcher ganz perfünliche und nationale Stil in einer 
altbayeriſchen Maͤdchenſeele ſich ausnehmen, wie er, 
in deutſche Sprache uͤbertragen, ſich geſtalten muß. 
In Clara Ziegler, welche die Rachel auf Umwegen in 
ſich aufgenommen, ſehen wir das Ergebnis einer ſol— 
chen Übertragung. Sie arbeitet mit denſelben Mitteln 
wie die Rachel, ohne die perſoͤnlichen und nationalen 
Vorbedingungen dieſer Mittel zu beſitzen. Es iſt 
ſeelenloſe Nachahmung, nur ertraͤglich gemacht durch 
die reiche ſinnliche Ausſtattung, welche der Muͤnchener 
Schauſpielerin von der Mutter Natur zuteil geworden. 

Aber — wird man ſchließlich fragen — was haſt 
du uns Beſſeres zu bieten, als dieſe hochgewachſene, 
ſtimmgewaltige Altbayerin? An Geſtalt und Organ 
gewiß nichts Beſſeres — aber ſiehe da, verdeckt nicht 
Clara Ziegler, leiblich genommen, eine andere tragiſche 
Schauſpielerin, wie eine Loͤwin eine zierliche Katze? 
Man kennt ſie: es iſt Charlotte Wolter. Man ſtoße 
ſich nicht an dem Worte „Katze“; iſt doch eine leben— 
dige Katze in dieſem Zuſammenhang mehr wert als 
eine ausgeſtopfte Loͤbin! Fräulein Wolter gehört 
allerdings derſelben Schule an, wie Clara Ziegler, nur 
mit dem einen Unterſchied, daß ihr dieſe Schule nicht 
jo äußerlich ſitzt wie ein Kleid. Zwiſchen ihr und ihrer 
Schule iſt eine innere Verwandtſchaft vorhanden. Ich 
möchte indeſſen Fräulein Wolters Vorzüge nicht uͤber— 
treiben. Ich weiß nicht einmal, ob ſie Geiſt beſitzt; 
aber ſie beſitzt einen geiſtigen Inſtinkt, der ſie oft das 
Rechte finden laͤßt; ſie hat Temperament und iſt in 


28 


Auffaſſung und Spiel ganz modern-intereſſant. „Nicht 
das Hoͤchſte“, wird man einwenden; „aber doch etwas“, 
muß ich erwidern. Und dieſes Etwas, dieſes Poſitive, 
Raſſeartige, Perſoͤnliche läßt fie mir bedeutender er— 
ſcheinen, als ihre aͤußerlich impoſantere Muͤnchener 


Nebenbuhlerin. (Am 22. Juni 1873) 


Erneſto Roſſi als Hamlet und 
Othello 


Theater an der Wien 


Den Hamlet von einem romaniſchen Suͤdlaͤnder 
darſtellen zu ſehen, gewaͤhrt ein eigentuͤmliches Inter— 
eſſe, nicht minder um des Schauſpiels als um des 
Schauſpielers willen. Einem rechtglaͤubigen deutſchen 
Aſthetiker wird es freilich von vornherein als eine 
arge Ketzerei erſcheinen, wenn ein Italiener es wagt, 
ſich ſchauſpieleriſch mit Shakeſpeare's Hamlet zu be— 
mengen. „Was hat er bei ihm zu ſuchen, was an 
ihm zu verſtehen? Shakeſpeare iſt unſer und ſein 
Hamlet erſt recht. Was uͤber Hamlet zu denken iſt, 
daruͤber entſcheiden wirz wie er darzuſtellen, das iſt 
unſer Geheimnis. Hat nicht Boͤrne gejagt, ein 
Deutſcher brauche nur mit leſerlicher Hand ſich ſelbſt 
abzuſchreiben und Shakeſpeare ſei fertig? Hat nicht 
Freiligrath geſungen: Deutſchland iſt Hamlet? Und 
der nuͤchterne Shakeſpeare-Enthuſiaſt Gervinus, der 
weder mit Freiligrath noch mit Boͤrne ſympathiſiert, 
teilt er nicht in dieſem Punkte die Anſicht der beiden 
Genannten? Jedem das Seine: uns den Hamlet und 
euch — nun, was ihr wollt, nur den Hamlet nicht. ..“ 
An Entſchiedenheit, an abweiſender Energie laͤßt 
dieſe Anſicht nichts zu wuͤnſchen uͤbrig; nur ſchade, 
daß fie ein wenig einfaͤltig und jedenfalls ſtark ver- 


30 


altet iſt. Es druͤckt bloß eine gewiſſe Zeitlage und 
eine gewiſſe Zeitſtimmung aus, wenn Hamlet und 
Deutſchland in einem Atem ausgeſprochen, wenn 
die Shakeſpeareſche Buͤhnenfigur und unſer Volk als 
pſychologiſch ſich deckende Groͤßen aufgefaßt werden. 
Das deutſche Volk, als nationaler Charakter gefaßt, 
und nicht von Jahr zu Jahr, ſondern von Epoche zu 
Epoche betrachtet, iſt nie einer Aufgabe ausgewichen, 
die ihm, auf ſeine Schultern gelegt, zu ſchwer geweſen 
waͤre; ihm hat zum Kopf nie die Fauſt, zur Fauſt 
ſelten der Kopf gefehlt. Die Deutſchen ſind als ein 
Heldenvolk in die Geſchichte hereingebrochen, vor ſich 
niederwerfend alles, was ihnen entgegenſtand, oder, 
wo ſie der Übermacht begegneten, in einem bis zur 
letzten Moͤglichkeit durchgefuͤhrten Kampfe heroiſch 
unterliegend. Die Freude an der Tat, an der friſchen, 
blanken Tat, iſt ein hervorſtechender Charakterzug der 
deutſchen Nation, und ſelbſt Gedanken, die in ſtiller 
Kloſter⸗Einſamkeit, unter ſtummen inneren Kaͤmpfen 
zur Reife gediehen, ſind in weithin wirkende, welt— 
erſchuͤtternde Taten ausgeſchlagen. Das Gewiſſen 
hat aus Luther keineswegs, wie aus Hamlet, einen 
Feigen gemacht, ſondern einen Helden. Wohl hatten 
ungluͤckſelige Buͤndniſſe zwiſchen Fuͤrſten und Pfaffen 
den vornehmen Stoff dieſer Nation zeitweilig zu zer— 
ſetzen und ihren hohen Tatenſinn zu einer den eigenen 
Buſen zerfleiſchenden Brutalitaͤt herabzuwuͤrdigen 
vermocht; ſobald aber ein hervorragender Geiſt dem 
Volke edle Ziele wies, da iſt der alte, unvertilgbare 


31 


Heldenmut wieder hervorgebrochen, und die Geſchichte 
verzeichnete dann Taten, ſo tuͤchtig und wuchtig, daß 
fie den Wunſch hochfinniger Dichter und Hiſtoriker 
erreichten. Nur wer nicht weiter als von einem 
Tage zum andern denkt, wer blind iſt fuͤr die Per— 
ſpektiven, die ſich im Voͤlkerleben nach der Vergangen— 
heit und Zukunft hin eroͤffnen, konnte dem deutſchen 
Volke die politiſche Tuͤchtigkeit abſprechen. Eine ge— 
raume Weile ſchien die deutſche Nation zu ruhen, 
allein ſie ſchien es nur; in Wirklichkeit war ſie durch 
allen Wuſt dichteriſcher und politiſcher Romantik hin- 
durch damit beſchaͤftigt, die poſitiven Reſultate der 
franzoͤſiſchen Revolution — jenes welthiſtoriſchen Er— 
eigniſſes, das alle modernen Voͤlkergeſchicke beherrſcht 
— in ſich aufzunehmen, ſie in nationaler Weiſe in 
Saft und Blut umzuwandeln. Die taſtenden Ver— 
ſuche im praktiſchen Staatsleben, ſo ungluͤcklich ſie 
ausfielen, hatten wenigſtens das Gute, daß ſie die 
nationalen Ideale in den Gemuͤtern ſtets lebendig er— 
hielten. Und der Tag blieb nicht aus, wo deutſche 
Heere, mit allen Segnungen der franzoͤſiſchen Re— 
volution begnadet, ſiegreich nach Frankreich vor— 
drangen, nach dieſem armen Frankreich, das faſt alle 
Fruͤchte ſeiner glorreichen Staatsumwaͤlzung verloren 
hatte. Deutſchland iſt Hamlet — wie klingt das 
widerſinnig nach dem Jahre 1870! Gervinus uͤber— 
hamletete den Hamlet, indem er, der doch beſtaͤndig 
nach der Tat gerufen, die endlich vollbrachte Tat ver— 
kleinerte, ja verdammte. Nein, Deutſchland iſt nicht 


32 


Hamlet, und Hamlet gehört ihm jo wenig ausſchließ— 
lich an, wie das Licht der Sonne. Shakeſpeare, wie 
jeder Dichter, gehoͤrt dem, der ihn verſteht. Italien 
wird man vom Verſtaͤndnis der Shakeſpeareſchen 
Tragoͤdie am wenigſten ausſchließen wollen, dieſes 
geiſtig ſo vielſeitig begabte Italien, welches in den 
Anfaͤngen ſeiner Literatur einen tiefſinnigen Dante 
hervorgebracht, und aus dem noch in den juͤngſten 
Zeiten ein Dichter wie Leopardi hervorgegangen, 
welcher alles Leid des Lebens in maͤchtig ergreifenden 
Weiſen beſungen hat. 

Erneſto Roſſi, der italienische Schauſpieler, macht 
uͤbrigens jede Diskuſſion hieruͤber uͤberfluͤſſig. Er 
ſpielt ganz einfach den Hamlet, und er ſpielt ihn in 
manchem Betracht vortrefflich, ja bewundernswuͤrdig. 
Wo lebt der deutſche Buͤhnenkuͤnſtler, von dem man 
Schmeichelhafteres ſagen koͤnnte? Der deutſche 
Schauſpieler ſieht ſo oft den Wald nicht vor lauter 
Baͤumen, den Hamlet nicht vor lauter Erklaͤrungen. 
Er ſpielt häufig Kommentare. Roſſi dagegen, ein 
echtes Schauſpielerblut, geht unbefangen und un— 
mittelbar auf den Hamlet los, von dem ihn keine 
Schulnebel trennen. Er wittert in Hamlet faſt den 
Kollegen, den Schauſpieler auf einer hoͤheren Buͤhne. 
Mit ſtarkem Akzent betont er Hamlets Freude an dem 
eigenen Spuͤrſinn, an der Faͤhigkeit, die Faͤden der 
Tragoͤdie, in die er verwickelt iſt, zu entdecken und zu 
entwirren; die erfindſame Geſchicklichkeit Hamlets in 
Herbeifuͤhrung ſinnreicher Veranſtaltungen, die alle, 


IVI3 | 33 


wenn fie nicht ſelbſt Theater find, doch an das Theater 
ſtreifen, wird von Roſſi in voller Breite und mit ſicht— 
lichem Behagen auseinandergelegt. Als Hamlet nach 
den Aufklaͤrungen des Geiſtes in die Worte: „O mein 
prophetiſches Gemuͤt!“ ausbricht, da klingt bei Roſſi 
durch den Ton des tiefſten Schmerzes noch ein Bei— 
klang, in welchem ſich das Wohlgefallen Hamlets an 
ſeinem gluͤcklichen Ahnungsvermoͤgen Luft macht. 
Saͤmtliche Szenen, in welchen ſich das ſchauſpieleriſche 
Element in Hamlet, das gefahrloſe Spiel mit dem 
Ernſte geltend macht, werden von Roſſi mit erſtaun⸗ 
licher Virtuoſitaͤt ausgefuͤhrt: ſo die Geſpraͤche mit 
Polonius, die Schauſpielſzene ſelbſt und die Szene 
mit der Mutter, wo die Epiſode mit der „Ratte“ einen 
Charakterzug Hamlets bloßgelegt, den Zug naͤmlich, daß 
er den Mut zum Handeln findet, wenn ihm die Tat 
nicht mit offenem Viſier entgegentritt. Die Fechtſzene, 
wo der Dichter dieſen Hamlet, der ihm nicht ſtand— 
halten will, in eine Ecke draͤngt, ihm, dem Todwunden, 
die Waffe in die Hand druͤckt und die ungeheure Kata— 
ſtrophe des Trauerſpiels auf der Spitze eines Rapiers 
balanciert — dieſe Szene fuͤhrt Roſſi mit einer gewiſſen 
unbefangenen Freude am Detail aus. Deutſche Ham- 
lets machen in dieſer Szene nicht ſelten den Eindruck, 
als ob ſie ſchon wuͤßten, was ihnen bevorſteht. Ganz 
anders Roſſi. Er weiß nichts vom Ende ſeiner Rolle, 
er lebt in der Gegenwart, im Augenblick. Hamlets 
ganzer Sinn geht nach dieſer Darſtellung in dem 
Wunſch auf, das vom Koͤnig vorgeſchlagene Kampf— 


34 


ſpiel nach allen Regeln der Fechtkunſt und jo gejchidt 
als moͤglich durchzufuͤhren. Das Schauſpieleriſche 
an Hamlet, ſein dem Ernſt ausweichender Spieltrieb 
tritt an dieſer Stelle noch einmal aufs klarſte hervor. 
Die falſche Sicherheit Hamlets, die ſich in ſeiner 
vollen Hingabe an den tuͤckiſch eingeleiteten Sport 
ausſpricht, iſt von ungewoͤhnlicher Wirkung; uns iſt 
Zeit gelaſſen, die Empfindungen, welche die Umſtehen— 
den beſtuͤrmen, in uns arbeiten zu laſſen, und doppelt 
furchtbar bricht in dieſes vermeintliche Spiel die 
Kataſtrophe herein. Aber auch der nun wiſſende 
Hamlet uͤberſtuͤrzt ſich nicht in feinem Nächeramte. 
Obwohl ihm der Tod auf die Ferſen tritt, und obgleich 
er in Minuten nachzuholen hat, was er tagelang ver— 
ſaͤumt hatte, ſo hat er doch noch Zeit, die Rache mit 
einigem Bedachte zu koſten. Das entſpringt einem 
echt ſchauſpieleriſchen Zuge Roſſis, dem Drange nach 
plaſtiſcher Veranſchaulichung innerer Vorgaͤnge. Hier— 
in beruͤhrt er ſich mit dem Geiſte des Theaters der 
Alten, welcher mit Vorliebe breit angelegte Situa— 
tionen ſich ruhig ausleben ließ. 

Roſſis Othello wirkte noch maͤchtiger, weil wir uns 
dieſer Rolle gegenuͤber nicht mit ſo vielen Vorurteilen 
beſchleppen, wie beim Hamlet. Da brachte er den 
vollen Reichtum ſeiner Mittel, die ganze Fuͤlle ſeines 
Koͤnnens mit ins Spiel. Erneſto Roſſi, in reifem 
Mannesalter ſtehend, iſt eine Geſtalt von mittlerer 
Groͤße, um Bruſt und Schultern breit gebaut, nicht 
ohne Fuͤlle, aber mit jeder Leichtigkeit der Bewegung 


[3] 35 


begabt. Der Ausdruck feines Geſichtes iſt ſuͤdlich leb— 
haft und gleich faͤhig, den Ernſt wie die Heiterkeit 
widerzufpiegeln. In feinem Munde beſitzt er ein 
eigenes Ausdrucksmittel, je nachdem er ihn bewegt 
oder enger oder breiter geoͤffnet laͤßt. Übertroffen in— 
deſſen wird ſein Mienenſpiel von der mannigfaltigen 
Beredſamkeit ſeiner Gebaͤrden; die Bewegung ſeiner 
Haͤnde, ſeiner Arme entfaltet die reichſte Abwechſlung 
einer dem Worte nachhelfenden Charakteriſtik. An 
wechſelnden Stellungen der Beine, ſchoͤnen und kuͤhnen, 
an Variationen des Schrittes und Ganges iſt kein 
Mangel. Seine Stimme iſt ein Bariton mit maͤnn— 
lich klingender Mittellage, mit ſchoͤnen Hilfsmitteln 
nach oben und unten. Die Sprache hat er ganz in 
ſeiner Gewalt, ob er ſie nun plaſtiſch dehnt und knetet 
oder ob er ſie wie Hagel ans Ohr ſchlagen laͤßt. Eigen 
ſind ihm unartikulierte Laute, mit denen er, wenn er 
ſich maͤßigt, merkwuͤrdige Wirkungen erzielt. Es ſind 
unmittelbare Verlautbarungen des Gefuͤhls, zwiſchen 
der andeutenden Gebaͤrde und der Beſtimmtheit des 
geſprochenen Wortes mitten inneſtehend. 

Mit ſolchen Mitteln und ſolchem Koͤnnen legte er 
ſich in die Rolle des Othello hinein, aller Zartheit und 
aller Kuͤhnheit gewachſen, mit welcher der Dichter 
ſein Werk ausgeſtattet. Die Rolle war mit eigen— 
tuͤmlich hellen und freundlichen Farben untermalt; 
einen argloſeren, zaͤrtlicheren Othello hat es nie ge— 
geben. Die ſinnlich-gemuͤtliche Liebe zu Desdemona 
fand ihren bezeichnendſten Ausdruck. Desdemonas 


36 


Kopf, ihre Wangen nahm er liebkoſend in die beiden 
Hände; er kuͤßte ihr Mund und Stirne; er ſchaute ihr 
innig ins Geſicht und ſah ihr entzuͤckt nach, wenn 
ſie von dannen ging. Solche Zaͤrtlichkeit erklaͤrt ſolche 
Eiferſucht. Aus kleinen Anfaͤngen wuchs dieſe Leiden— 
ſchaft maͤchtig empor, Verſtand und Beſinnung voͤllig 
uͤberſchattend. Es war ein uͤberzeugender Zug an 
dieſem Wachstum, eine maͤchtige Steigerung bis zur 
Kataſtrophe. Auf ſchwache Nerven war dieſes Spiel 
nicht berechnet, ſo wenig als das Werk des Dichters, 
der uns in „Othello“ das Haͤrteſte zumutet. Shake— 
ſpeare trieb ſein Problem mit unbeſtechlicher Konſe— 
quenz bis auf die letzte Spitze, und Roſſi ging ihm 
mutig nach. In der Szene, wo er Desdemona er— 
mordet, koſtete er den ſchauerlichen Reiz der Situation 
bis auf den Grund des Bechers aus. Aber ebenſo 
gruͤndlich behandelte er das Nachſpiel, das der Er— 
mordung der Desdemona nachfolgt, und welches an 
großartig ſuͤhnender Kraft zum Herrlichſten in der 
tragiſchen Dichtkunſt gehoͤrt. Da zog Roſſi noch neue 
Regiſter und ließ ſeine Rolle in ergreifenden und ver— 
ſoͤhnenden Akkorden ausklingen. 

Nun koͤnnte man ſchließlich wohl die Schattenfeiten 
in Roſſis Spiel hervorheben. Man koͤnnte reden von 
Mangel an ſchoͤnem Maße, von realiſtiſchen Über— 
treibungen und von dergleichen Kategorien, mit denen 
man hervorragende Verdienſte zu ſchmaͤlern liebt. 
Schattenſeiten! Wer weiß es nicht, daß große Gegen— 
ſtaͤnde auch große Schatten werfen! Ich bin ſchon 


37 


wiederholt in Roſſis Schatten geſeſſen und habe mich 
zeitweiſe von der Begeiſterung abgekuͤhlt, die mir ſeine 
Kuͤnſtlerſchaft eingefloͤßt; aber ſobald ich wieder her— 
vortrat, tat es mir der Kuͤnſtler wieder an, und ich bin 
warm geworden wie zuvor. Sollte dieſe Wirkung ein- 
mal ausbleiben, dann, aber erſt dann werde ich dem 
Leſer Roſſis Schattenſeiten verraten und ihn einladen, 
ſich mit mir im Kuͤhlen niederzuſetzen. 


(Am 30. Juli 1873) 


Karl Fichtner 


Die Leichenreden ſind geſprochen, der Trauergeſang 
iſt verhallt, und der Kuͤnſtler ſelbſt, der einſt zur 
heiteren Erbauung der Menſchen ſoviel Atem ver— 
geudet, ruht nun, ein ſtummer Mann, wohlgeborgen 
im kuͤhlen Schoße der Erde. Nicht von der Buͤhne hin— 
weg hat ihn der Tod geholt; ſchon vor bald neun 
Jahren iſt er, als ein angehender Sechziger, aus ſeinem 
Wirkungskreiſe geſchieden, um ſich, umgeben und ge— 
tragen von der Liebe der Seinigen, in ein beſcheidenes 
Privatleben zuruͤckzuziehen. So war es weniger ein 
oͤffentliches Ungluͤck, denn ein Schlag fuͤr ſeine Familie, 
als faſt unangemeldet der Tod ihn heimſuchte; die 
Maͤnner von der Bedeutung Fichtners merkt man ſich, 
auch wenn ſie uns jahrelang aus den Augen ſind, und 
es iſt ein berechtigter Wunſch, das Gedaͤchtnis des her— 
vorragenden Kuͤnſtlers an ſeinem friſchen Grabe er— 
neuert zu ſehen. So ſei denn ſeine verehrte Geſtalt 
noch einmal heraufbeſchworen, und wenn er mit Wor— 
ten angeredet wird, die ſchon zum Teile dem noch 
Lebenden an das Ohr gedrungen, ſo moͤge man be— 
denken, daß eine laͤngſt in ſich fertige Erſcheinung vor 
unſerem geiſtigen Blicke ſteht, zu deren Charakteriſtik 
kein weſentlich neuer Zug nachzutragen ift. 

Nichts auf der Welt hat ſo wenig den Anſchein 
eines Problems, wie die Aufgabe, von Fichtners 
Weſen und Wirken ein bezeichnendes Gedankenbild zu 


39 


entwerfen. Man greife den Naͤchſtbeſten von der 
Straße auf und frage ihn aus, und ſeine Anſicht uͤber 
Fichtner wird mit der Anſchauung des Kritikers, der 
ſich hinter dem Tintenfaß muͤht, im weſentlichen uͤber— 
einſtimmen. Man iſt nur der Berichterſtatter der 
oͤffentlichen Meinung, wenn man uͤber Fichtner ſchreibt; 
ihm gegenuͤber gibt es keine Privaturteile. Und gleich— 
wohl iſt die Arbeit ſo leicht nicht, wie ſie zu ſein ſcheint; 
ja man moͤchte gleich von vornherein die Palette weg— 
werfen, weil einem zugemutet wird, ein Bildnis ohne 
Schatten zu malen. Sonſt iſt der Tadel die Hand— 
habe, an der man auch das im Grunde Vortreffliche zu 
ergreifen pflegt; Fichtner aber, als eine durchaus ab— 
gerundete Erſcheinung, iſt ſo ſchwer zu faſſen, wie eine 
Kugel. Das einfachſte waͤre, ihn in Bauſch und Bogen 
zu bewundern, ſich in Superlativen zu ergehen und die 
Ausrufungszeichen nicht zu ſparen; aber wie wenig 
entſprechend waͤre dies einem Kuͤnſtler gegenuͤber, der 
ſeine groͤßten Wirkungen allzeit mit den unſcheinbarſten 
Mitteln erzielte. Am beſten iſt es vielleicht, die Rolle 
eines Fremden anzunehmen, der noch in der guten Zeit 
des Burgtheaters Fichtner zum erſten Male ſpielen ſah 
und die Empfindungen, die er in ihm erregt, zu ſchil— 
dern verſucht. 

Wenn man damals „aus Deutſchland“ hereinkam 
und im Burgtheater der Auffuͤhrung eines Konverſa— 
tionsſtuͤckes zum erſten Male beiwohnte, ſo ging einem 
— man hat es ja ſelbſt erlebt — eine ganz neue Welt 
auf. Brachte man ſonſt das laͤſtige Gefuͤhl nicht von 


40 


fich los, daß man es mit bloßen Komoͤdianten, mit 
mehr oder minder gewandten Aufſagern ihrer Rollen 
zu tun habe, ſo kam einem im Burgtheater der Eindruck 
des vollſten Lebens entgegen. Die Schaubude war 
verſchwunden, man befand ſich mitten in der beſten 
Geſellſchaft, deren gefaͤllig entgegenkommende Ma— 
nieren eine gewiſſe ablehnende Vornehmheit nicht aus— 
ſchloſſen. Ein ſachter, abgedaͤmpfter Ton war vor— 
herrſchend, ſo daß in dieſem gleichverteilten Elemente 
jedes treffende Wort, jede geiſtreiche Wendung doppelt 
wirkte. Dazu kam ein vollendetes, von froſtiger 
Korrektheit weit entferntes Enſemble, und ein Tempo, 
deſſen bequeme Raſchheit ein den Geſamteindruck zer— 
reißendes Verweilen auf Einzelheiten nicht geſtattete. 
Es war eine Luſt, zu ſehen, wie Schauſpieler und 
Publikum ſich auf den Wink verſtanden, und was gutes 
Sprechen und gutes Hoͤren ſei, konnte einem da herr— 
lich aufgehen. Unter den weiblichen Kuͤnſtlern ragte 
Fraͤulein Neumann mit ihrem unvergeßlichen Naſen— 
ſtimmchen unvergleichlich hervor, unter den Maͤnnern 
neben La Roche Karl Fichtner. Die Schlichtheit 
ſeines ganzen Behabens mochte einen zwar anfaͤnglich 
an feiner vielgeprieſenen Kuͤnſtlerſchaft zweifeln laſſen; 
bald aber ward man gewahr, daß der Mangel nicht 
im Kuͤnſtler, ſondern im Zuſchauer ſteckte, welchem der 
Sinn fuͤr die ruhige Wirkung, die von Fichtner aus— 
ging, noch nicht erſchloſſen war. In dem Augenblicke, 
da wir Fichtner mit herzlichem Leidweſen von der 
Buͤhne ſcheiden ſahen, wirkte der Gedanke, daß wir 


41 


uns einft an ihn hatten gewöhnen muͤſſen, mit fchmerz- 
lichem Humor. Und wie raſch fand man Vergnügen 
an der Begabung des Mannes, der nichts Unpaſſendes 
unternahm, dagegen jede Rolle, die im Bereiche ſeiner 
Kraͤfte lag, mit dem Zauber ſeiner Perſoͤnlichkeit 
traͤnkte. Die Rollen, die wir ihn darſtellen ſahen, 
liegen ihrem Charakter nach weit genug auseinander. 
Fichtner trug den Hermelin und den ſchwarzen Frack 
mit gleicher Wuͤrde, das gewichtige Herrſcherwort floß 
ihm ſo natuͤrlich von den Lippen, wie die leichte, ſcher— 
zende Sprache des modernen Lebemannes. Fuͤr große 
tragiſche Aufgaben war er nicht gemacht, da lag die 
Grenze ſeines Talentes; aber wo das Tragiſche als 
Epiſode auftrat, war er dafür wie geſchaffen. Valen— 
tin, Gretchens Bruder, war in ſeiner ſchlichten Dar— 
ſtellung eine erſchuͤtternde Geſtalt, und nie hat man 
den uͤbermuͤtigen Mercutio wirkſamer darſtellen ſehen 
als von ihm. Sein Rudolph von Habsburg in Grill— 
parzers „Ottokars Gluͤck und Ende“ nimmt unter 
ſeinen Leiſtungen eine hervorragende Stelle ein; wie 
er da die Taubenunſchuld mit der Schlangenklugheit 
zu vermaͤhlen wußte, war ein Meiſterſtuͤck erſten Ran⸗ 
ges. Seine vornehme, bezaubernde Dreiſtigkeit als 
Prinz in „Emilia Galotti“ machte das halb bewußte, 
halb unbewußte Schwanken Emiliens erſt begreiflich; 
ſein hinreißendes Weſen rechtfertigte den Dolchſtoß 
des alten Galotti. Wir geben nur Proben, denn wer 
vermoͤchte die Rollen alle aufzuzaͤhlen, denen Fichtner 
ſeine Seele eingehaucht, ja die oft nur lebten, weil er 


42 


fie in die Hand nahm? Im leichten Schaufpiele war 
er ſouveraͤner Meiſter, beides: als Spieler und als 
Sprecher. Das Geheimnis der Wirkung lag hier wie 
dort in derſelben Eigentuͤmlichkeit des Mannes, nach 
der wir, als der Seele ſeiner Kunſt, endlich fragen 
moͤchten. 

Kuͤnſtler, deren hervorragende Eigenſchaften kraͤf— 
tige Schlagſchatten werfen und die uns in ihren Maͤn— 
geln Maßſtaͤbe fuͤr ihre ſonſtige Groͤße an die Hand 
geben, ſind in ihrer Bedeutung leicht erklaͤrt; aber eine 
ſo harmoniſche Natur wie Fichtner, deren Wirkung 
ganz auf dem gluͤcklichen Gleichgewicht geiſtiger und 
gemuͤtlicher Kraͤfte beruht, entzieht ſich eigenſinnig der 
Zergliederung. Er laͤßt ſich immer nur als Ganzes 
faſſen, und jeder, der wahr iſt gegen ſich ſelbſt, muß 
bekennen, daß durch Aufzaͤhlung einzelner Eigenſchaften 
dem Weſen Fichtners nicht nahezukommen ſei. Es 
gibt indeſſen ein Wort, das allen auf der Zunge 
ſchwebt, ſo oft von Fichtner die Rede iſt, und dieſes 
Wort heißt: liebenswuͤrdig. Liebenswuͤrdigkeit war in 
der Tat die Seele Fichtners, ſie war jene lebendige 
Mitte, in welcher ſich ſeine ſonſtigen Eigenſchaften 
trafen, von welcher ſie Farbe und Duft empfingen. 
Liebenswuͤrdigkeit war uͤber ſeine Geſtalt gegoſſen, fie 
blickte aus ſeinen vollen Augen, ſie ſaß auf ſeinen 
Lippen und ſprach aus jeder Bewegung ſeiner Hand. 
Sein bloßes Auftreten pflegte einen Sonnenſchein mit 
ſich zu bringen. Fragt man nun, ob dieſe Liebens— 
wuͤrdigkeit Natur oder Kunſt geweſen, ſo muß man 


43 


antworten, daß ſich Liebenswuͤrdigkeit — als Herzens— 
guͤte, die ſich mit Anmut ausſpricht — allerdings nicht 
anbilden laſſe, daß fie aber bei Fichtner zur Virtuoſſtaͤt 
ausgebildet war. Fichtner iſt keineswegs als Kuͤnſtler 
vom Himmel gefallen, er hat vielmehr eine ſehr gruͤnd— 
liche Schule durchgemacht. Er begann feine Bühnen- 
laufbahn damit, daß er ausgelacht wurde, und zwar ſo 
empfindlich, daß der verletzte Juͤngling auf dem 
Sprung ſtand, unter die Soldaten zu gehen. Das Un— 
beholfene, ja Linkiſche, das man an dem Anfaͤnger be— 
lacht, hat er als Kunſt in ſein ſpaͤteres Leben heruͤber— 
gerettet und mit der Darſtellung desſelben die heiterſten 
Wirkungen erzielt. Einem mehrjaͤhrigen theatraliſchen 
Wanderleben, in welches er durch die Unſicherheit der 
deutſchen Buͤhnen hineingezogen wurde, ſetzte ſeine Be— 
rufung an das Theater an der Wien (1822) ein end⸗ 
liches Ziel. Zwei Jahre darauf, als ein Neunzehn— 
jaͤhriger, trat er in den Verband des Burgtheaters ein. 
Wir kennen keine Beſprechung ſeiner Leiſtungen aus 
jener Periode; aber eine Außerung der „Sſterreichi— 
ſchen National-Enzyklopaͤdie“, welche noch im Jahre 
1835 an Fichtner hervorhebt, daß er in der juͤngſten 
Zeit im Konverſationstone bedeutende Fortſchritte ge— 
macht, laͤßt durchſcheinen, wie emſig und nachhaltig er 
an ſich muͤſſe gearbeitet haben. Altere Beſucher des 
Burgtheaters wiſſen recht wohl, daß Maximilian Korn 
das Vorbild Fichtners war. Sie betrachten ihn ge— 
wiſſermaßen als Schüler Korns und führen viele von 
Fichtners ſtereotypen Ausfuͤllsbewegungen, wie das 


44 


Haͤndereiben, das Spielen mit dem Schnupftuche, das 
Langen nach dem Halstuche, auf Korn zuruͤck. Durch 
die reinere Ausſprache und den helleren Klang des 
Organs war uͤbrigens Fichtner dem ſtets heiſeren und 
mit wunderlichem Anhauche redenden Korn von jeher 
uͤberlegen, und von allem, was Nachahmung heißen 
konnte, hatte er ſich ſpaͤter gruͤndlich befreit. Fichtner 
iſt ſomit durch das Burgtheater geſchult worden, und 
gluͤcklicherweiſe hat er wieder Schule gemacht und laͤßt 
ſeine heilſamen Einfluͤſſe, denen ſich kein juͤngerer 
Schauſpieler von einigem Talent entziehen konnte, auf 
dem Burgtheater zuruͤck. Sonnenthal iſt dem Fach 
nach, und zu einem guten Teil auch kuͤnſtleriſch, Ficht— 
ners Erbe; auch Hartmann iſt ein wenig von Fichtners 
Manier geſtreift worden. Überhaupt hat Fichtner 
durch ſein perſoͤnliches Beiſpiel wie ein guter Genius 
gewirkt. Ihm, dem großen Talente, das man aller— 
orten mit offenen Armen empfangen haͤtte, genuͤgte der 
verhaͤltnismaͤßig beſchraͤnkte Wirkungskreis des Burg— 
theaters, und nachdem ſein Ruf einmal feſtgeſtellt war, 
ſchlug er die glaͤnzendſten Einladungen zu Gaſtſpielen 
grundſaͤtzlich aus. Fichtner, bei dem der bedeutende 
Kuͤnſtler auf den beſten und guͤtigſten Menſchen ge— 
pfropft war, erwies ſich ſtets als der treflflichſte 
Kamerad, und wie er keinen Neid kannte, ſo hat er 
auch keinen erfahren. Ihm ward ein Gluͤck zuteil, 
welches in den Bereich der Fabel zu gehoͤren ſcheint, 
das Gluͤck, bedeutend zu ſein, ohne Feinde zu haben. 
An ſeinem edlen Kuͤnſtlerbilde haͤtte noch ein Zug 


45 


gefehlt, wäre Fichtner nicht zur rechten Zeit von der 
Buͤhne abgetreten. Wer wuͤrde dem zu jener Zeit noch 
leiblich und geiſtig ruͤſtigen Mann zugemutet haben, 
die Bretter zu verlaſſen, wenn er nicht ſelbſt darauf be— 
ſtanden haͤtte? Es war, ſo ſchmerzlich es fuͤr die Be— 
troffenen auch ſein mochte, ein Schritt der hoͤchſten 
kuͤnſtleriſchen Weisheit. Fichtner, der damals im 
beſten Zuge zu ſein ſchien und wie neu auflebte, beſaß 
hinreichende Klugheit, um den letzten Bluͤtentrieb des 
reiferen Mannesalters nicht fuͤr den Vorboten einer 
zweiten Jugend zu nehmen. Man kennt ſolche Scherze 
der Natur, und ein verſtaͤndiger Mann laͤßt ſich nicht 
aͤffen. So aber, indem Fichtner in voller Kraft von 
der Buͤhne zuruͤcktrat, genießt er den Vorteil jener von 
den Dichtern gefeierten, in jungen Jahren entruͤckten 
Goͤtterlieblinge: im Gedächtnis der Menſchen als ein 
ewig Jugendlicher fortzuleben. 


(Am 34. Auguſt 1873) 


Die Meininger in Wien 


Ein Theater, welches mit Mann und Maus, mit 
Kind und Kegel auf Reiſen geht, um ſich in fremden 
Staͤdten ſehen und hoͤren zu laſſen, iſt in unſerer Zeit, 
die ſich ſo haͤufig des Fortſchrittes ruͤhmt, eine ſeltſame 
Erſcheinung. Eine ſeltſame und, man moͤchte faſt 
jagen, eine verjpätete. Man mag Buͤchermenſchen 
oder Fachmaͤnner befragen, alle werden ſie, als ob es 
ſich um eine ausgemachte Sache handelte, einhellig be— 
haupten, daß der Aufſchwung deutſchen Schaujpiel- 
weſens mit der Errichtung ſtehender Buͤhnen aufs 
innigſte verknuͤpft ſei. Hamburg und Mannheim, 
Wien und Berlin werden als ebenſo viele Argumente 
zur Erhaͤrtung dieſes Satzes ins Feld gefuͤhrt. Wan— 
dernde Schauſpielertruppen, ſogenannte „Schmieren“, 
wie ſie der Galgenhumor leichtlebiger „Seelenmaler“ 
ſelbſt getauft hat, treiben ſich in deutſchen Landen nur 
noch abſeits der Heerſtraße herum, um Bauern und 
Kleinſtaͤdter mit ihren Spaͤßen zu bewirten oder ihnen 
das aus Furcht und Mitleid entſtehende tragiſche Ver— 
gnuͤgen zu verſchaffen; groͤßere Buͤhnen begnuͤgen ſich 
mit einzelnen Gaͤſten, welche durch die fixen Stern— 
bilder des heimiſchen Theaterhimmels wie glaͤnzende 
Meteore oder Kometen fegen. Das Meininger Hof— 
theater, ein Geſchoͤpf und Lieblingsſpielzeug des 
regierenden Landesherzogs, hat dieſe Ordnung der 
Dinge mit Geraͤuſch umgeſtoßen. Und gewiß nicht zum 


47 


Heile höherer Theateraufgaben. Wir meinten immer, 
daß ein Theater, wie andere Gemeinweſen, mit dem 
Boden, auf dem es entſtanden, verwachſen ſei, daß 
ſeine Eigentuͤmlichkeit nur an Ort und Stelle, wo 
ſelbſt relative Schwaͤchen in Vorzuͤge umſchlagen, ge— 
noſſen werden koͤnne. Man gewöhnt ſich an Schau— 
ſpieler, ja man muß ſich an die Schauſpieler erſt ge— 
woͤhnen, um ſie, durch entſtellende Flecken und kleine 
Unarten hindurch, in ihrem wahren Werte ſchaͤtzen zu 
lernen; mancher Schauſpieler iſt, und mit Recht, in 
Berlin ein Held, der es in Wien, und wieder mit 
Recht, nicht iſt. Es geht mit Schauſpielern nicht an— 
ders als wie mit geiſtigen Getraͤnken, deren Beliebt⸗ 
heit, je ſpezifiſcher ſie ſind, deſto feſter an den Himmels— 
ſtrich gebunden iſt. Die Meininger in Meiningen, die 
Wiener in Wien — das ſcheint uns das Richtige zu 
ſein; da nun die Meininger einmal in Wien ſind, ſo 
muͤſſen wir uns wohl oder uͤbel mit ihnen befaſſen, und 
ſie werden ſich hoffentlich nicht beklagen, wenn wir ſie 
an Maßftäben meſſen, die uns die Wiener Bühne in 
die Hand gedruͤckt hat. Es iſt gewiß nur billig, daß ſie 
die Kritik hier genießen wie Eſſen und Trinken: nach 
einheimiſchem Maß und Gewicht. 

Die Meininger ſind in Wien aufs beſte unter— 
gebracht; ſie haben das ſchoͤne und geraͤumige Haus 
an der Wien bezogen, das einſt Schikaneder — die 
Sage von der Liedergewalt des Orpheus verwirk— 
lichend — zumeiſt aus dem Ertraͤgniſſe der „Zauber— 
floͤte“ aufgebaut hat. Und fie bedürfen eines großen 


48 


Buͤhnenraumes, um ſich rühren zu koͤnnen; eine fo be— 
ſchraͤnkte Szene, wie die des Burgtheaters, wuͤrde ſie 
krumm⸗ und lahmlegen. Ihre Spezialität beruht naͤm⸗ 
lich, wie die Auffuͤhrung von „Julius Caͤſar“ dar— 
getan hat, lediglich im Außerlichen, im dramatiſchen 
Beiwerk, wenn man will. Die Dichtung ſpielt nur die 
Gelegenheitsmacherin fuͤr Entfaltung von Dekora— 
tionen, Koſtuͤmen und reich bewegten Gruppen und 
Volksmaſſen. Wenn die Romantiker, an ihrer Spitze 
Ludwig Tieck, fuͤr die Shakeſpeareſchen Stuͤcke auch die 
Shakeſpeareſche Buͤhne mit ihren duͤrftigen Andeu— 
tungen des Schauplatzes und ihren zum Teil 
anachroniſtiſchen Koſtuͤmen gefordert haben, ſo treiben 
die Meininger, dem realiſtiſchen Zuge des Zeitalters 
folgend, ihren dramatiſchen Wahrheitsſinn, ihr Stre— 
ben nach augenfaͤlliger ſzeniſcher Richtigkeit ſo weit, 
daß fie in einem hiſtoriſchen Drama die äußere Geſtalt 
des Zeitraumes, in welchem das Stuͤck ſpielt, bis auf 
den letzten Knopf zur Anſchauung bringen wollen. Sie 
ſzenieren ungefaͤhr, wie Piloty malt. Die Dekora— 
tionen der Meininger tragen durchaus den Stempel 
ſolchen Beſtrebens, und damit man ihre Abſicht ja nicht 
verkenne, entwickelt der Theaterzettel ein foͤrmliches 
architektoniſches Programm. Die Meininger wollen nicht 
bloß ſchlechtweg korrekt ſein in ihren Dekorationen, ſie 
wollen vielmehr, daß man auch wiſſe, ſie ſeien korrekt; 
das bringt einen doktrinaͤren Beigeſchmack mit ſich, der 
bitter genug auf den Gaumen faͤllt. So lieſt man bei— 
ſpielsweiſe auf dem Theaterzettel, welcher Shakeſpeares 


IA 49 


„Julius Caͤſar“ gewidmet ift: „Die Szene ſpielt im 
dritten Akte in der Kurie des Pompejus und dann auf 
dem roͤmiſchen Forum, Ausſicht gegen den Palatin und 
die waͤhrend der Buͤrgerkriege zerſtoͤrte Kurie des 
Senats .... Nun wollen wir nicht einmal fragen, 
welches archaͤologiſche Genie, und heiße es Ottfried 
Muͤller oder Theodor Mommſen, davon unterrichtet 
ſei, wie das Rom Caͤſars bis in das Detail hinein 
ausgeſehen habe — wir fragen nur, was in aller Welt 
hat „die waͤhrend der Buͤrgerkriege zerſtoͤrte Kurie des 
Senats“ mit Shakeſpeares „Julius Caͤſar“ zu 
ſchaffen? Er weiß nichts davon, und wir, ſeine Zu— 
ſchauer, brauchen auch nichts davon zu wiſſen. Dieſe 
umgeſtuͤrzten Saͤulen und Pilaſter ſind ebenſogut 
Phantaſiebilder wie das Rom, welches ſich der naͤchſte 
beſte Dorfmaler aus der Tiefe ſeines Gemuͤts und 
ſeines Farbenkaſtens geholt hat. Übrigens verdrießt 
uns weniger die „Korrektheit“ der Dekorationen, als 
ihre Praͤtenſion, korrekt zu ſein. So etwas malt man 
auf die Leinwand und verliert weiter kein Wort dar— 
uͤber. Dann kann man auch dankbar ſein und ſagen: 
Seht, was fuͤr huͤbſche Dekorationen ihr habt; ſie ſind 
ſo huͤbſch, daß ſie nicht einmal den poetiſchen Eindruck 
ſtoͤren! Ein ſolches Lob iſt wohl das beſte, das man er— 
teilen mag, denn es iſt nicht von außenher geſagt, ſon— 
dern mitten aus dem Kern der in Betracht ſtehenden 
Dichtung heraus, die doch wohl auf der Buͤhne das 
erſte und das letzte Wort hat, wobei fuͤr den aͤußeren 
Aufputz immer noch ein paar hoͤfliche Redensarten 


50 


übrigbleiben. Ungefähr das gleiche gilt von den 
Koſtuͤmen, auf welche die Meininger kein minderes 
Gewicht legen. Das Kleid iſt dem Leibe naͤher als die 
Dekoration, in ihm ſpricht ſich unmittelbar etwas 
Moraliſches aus, und ſo mag der Regiſſeur ſchon einige 
Muͤhe darauf verwenden. In den Volksſzenen, wie 
ſie die Meininger geben, ſpiegelt ſich etwas von dem 
Rom Caͤſars, in welchem die Welt zuſammenſtroͤmte; 
nicht nur der Roͤmer kommt darin zur Erſcheinung, 
ſondern auch der Grieche und der Barbar. Moͤgen die 
antiken Zeugniſſe fuͤr die verwendeten Trachten auch 
verſchiedenen Zeiten entnommen ſein — das hat wenig 
auf ſich, denn die alte Welt, die noch nicht ſo tyranniſch 
wie wir von der wechſelnden Mode beherrſcht war, hat 
lange an einem Rock getragen. Doch es gilt nicht 
allein, das richtige Gewand anzuhaben, ſondern auch, 
es je nach der Situation bald bequem, bald ſtolz 
tragen zu koͤnnen — und man muß es neidlos geſtehen, 
daß es unſere Gaͤſte in dieſer Kunſt weit gebracht 
haben. Der Meininger Zeremonienmeiſter iſt nicht 
weniger lobenswert als der Meininger Schneider. 
Und nun zu einem Hauptſtolze der herzoglich 
meiningenſchen Theaterregie, zu ihrer Kunſt, Gruppen 
zu ſtellen, zu bewegen, ineinander uͤberzufuͤhren, be— 
deutende Menſchenmaſſen reich zu beleben und wie 
einen Akteur mit fuͤnfzig Koͤpfen und hundert Armen 
ſpielen und reden zu laſſen. In dieſem Punkte ſteckt 
eine Arbeit, deren Geduldſamkeit man eigentlich nur 
ahnen, kaum begreifen kann. Die Griechen haben ein 


4 l 


1 


Sprichwort für das Unmoͤgliche: Aus Sand Stricke 
drehen. Man kann daran denken, wenn man die 
Komparſerie des Meininger Theaters in voller Taͤtig— 
keit, wenn man dieſe vielen dummen Kerle — denn 
dumm iſt jeder Deutſche in Sachen koͤrperlicher Ge— 
ſchicklichkeit — ſo anſtellig ſich gebaͤrden, bewegen und 
in die Handlung eingreifen ſieht. Das iſt ein Wunder, 
das man geſehen haben muß, und waͤre es nur, um 
es nachtraͤglich unnuͤtz und vielleicht ein wenig laͤcher— 
lich zu finden. Die Kunſt des Regiſſeurs — Herrn 
Chronegk, hinter welchem der regierende Herzog ſteht 
— beginnt ſchon bei den einfacheren Gruppen, die ſich 
aus drei bis ſechs Perſonen zuſammenſetzen. Gewoͤhn— 
lich werden dergleichen Gruppen, ſobald nur das Aller— 
noͤtigſte feſtgeſtellt iſt, ſich ſelbſt und ihrem plaſtiſchen 
Trieb uͤberlaſſen, mag daraus werden, was will. Ganz 
anders bei den Meiningern. Hier iſt alles mit vor— 
ſchauendem Auge berechnet, mit leitender Hand geord— 
net, das heißt alles, was ſich vorſchauend berechnen 
und ordnen laͤßt. Wie ein plaſtiſches Bildwerk, das 
lebendig wird und ſich zu bewegen beginnt, iſt es anzu— 
ſchauen, wenn kleinere Gruppen erſt jede ſelbſtaͤndig 
für das Auge arbeiten, wie fie dann, wenn die Hand— 
lung ſie kreuzt, zuſammenruͤckend eine groͤßere Geſamt— 
gruppe bilden und im gleichen Linienfluß ſich wieder 
ſcheiden und wieder vereinigen. Freilich, vollſtaͤndig 
laͤßt ſich dieſer plaſtiſche Inſtanzenzug nicht beherrſchen, 
und der Zufall, der witzige Junge, tut manchen kraͤf— 
tigen Einſpruch gegen die kuͤnſtleriſche Rundung des 


— 


52 


Ganzen. Auch iſt Shakeſpeare zu unruhig für ſolche 
Gruppenbildung, zu ſpringend in ſeiner Leidenſchaft, 
zu wuͤhlend und dialektiſch. Es gibt Tragoͤdien von 
Sophokles, voran die „Antigone“, wo ſich die Leiden— 
ſchaft in ſo einfachen und ſchoͤnen Linien ausſpricht, 
daß es den Darſtellern moͤglich, ja leicht gemacht iſt, 
ſich wie freigelaſſene Statuen zu bewegen. Dasſelbe 
gilt vom antiken Chore, welcher, gering an Zahl, durch 
poetiſch⸗muſikaliſchen Rhythmus gebaͤndigt wird. Das 
faͤllt weg bei Shakeſpeare fuͤr die kleineren Gruppen 
wie fuͤr die Maſſe des Volkes. Das Meininger Shake— 
ſpeare-Volk iſt ein Ungeheuer, an dem kein Nerv 
ſchlaff, kein Glied unbewegt iſt; es ſtuͤrzt auf ſeinen 
Mann los, es weicht zuruͤck, es knirſcht und bruͤllt. 
Aber es iſt ein halbſtummes, unartikuliertes Element, 
fuͤr deſſen Bewegung das kuͤnſtleriſche Prinzip fehlt. 
In der Oper iſt es fuͤr den Chor die Muſik; der Chor 
iſt im Zauber der Toͤne gefangen, von ihm getragen 
und gehoben; der muſikaliſche Rhythmus iſt dieſelbe 
Macht, die in ſeinen Gliedern lebt; ſie befeuert und 
beherrſcht ihn zugleich. Der Chor des Schauſpiels, 
von keiner inneren Feſſel gebunden, ſtrebt ins Maß— 
loſe; er iſt, wenn man die Schleuſen zieht, ein wildes 
Waſſer, welches die Daͤmme des Kunſtwerkes einreißt 
und die bedeutungsvollen dramatiſchen Einzelgeſtalten 
in ſeinen Wogen begraͤbt. 

Damit hat es allerdings bei den Meiningern keine 
Gefahr, denn die bedeutenden Einzelgeſtalten fehlen 
in ihrer Geſellſchaft. Und ſo beruͤhren wir den wun— 


W 


deften Fleck des meiningenſchen Hoftheaters und wohl 
ſeine eigentliche raison d'ètre. Man ſtelle fi ein- 
mal die Frage, ob hervorragende ſchauſpieleriſche 
Kraͤfte, ob echte Kuͤnſtler gewillt waͤren, das Joch eines 
ſo uͤppig ausgebildeten Schauſpielchores zu tragen? 
Nimmermehr! Sie wuͤrden darin eine maßloſe Über— 
hebung des Dilettantismus erkennen, ſie wuͤrden in 
ihm eine unberechtigt uͤbergreifende Macht erblicken, 
die alles ſelbſtaͤndige Kuͤnſtlertum knickt. Aus Mangel 
an bedeutenden Schauſpielern hat ſich das mei— 
ningenſche Hoftheater auf jenen dramatiſchen Sport 
geworfen, den es nun ſchwunghaft betreibt. Bei 
ſeinem Erſcheinen in Wien hat es ſich den einzigen 
Schauſpieler, der des Erwaͤhnens wert iſt, vom 
Dresdener Hoftheater ausgeliehen; es iſt Herr Dett— 
mer, der Darſteller des Antonius. Er iſt ein guter 
Spieler und Sprecher, und unter den Meiningern 
geradezu ein Rieſe. 

Nun moͤchten wir aber heute nicht ohne ein freund— 
liches Wort von unſeren Gaͤſten ſcheiden. Wenn ſie 
auch mit dem Betonen des Außerlichen gegen Dichter 
und Dichtung arbeiten, wenn ſie auch in einer Rich— 
tung treiben, die ſtets einen Niedergang der drama— 
tiſchen Kunſt bedeutet hat, ſo ſind ſie in ihrer Weiſe 
doch ſo exemplariſch, daß man ihnen eine Art An— 
erkennung nicht verſagen kann. Die einſeitige Aus— 
bildung einer Richtung hat ſtets ihr Lehrreiches. 
Regiſſeure und Schauſpieler koͤnnen von den Mei— 
ningern lernen, wenigſtens in Einzelheiten lernen; ihre 


54 


Methode aber in Pauſch und Bogen nachzuahmen, 
wird keinem Theaterdirektor einfallen, der den Kuͤnſt— 
ler uͤber den Statiſten ſtellt und gegen Dekorateur und 
Schneider noch halbwegs auf der Seite des Dich— 


ters ſteht. (Am 29. September 1875) 


Epilog 


Der Vorhang iſt gefallen uͤber dem Meininger 
Gaſtſpiel, die Beifallsrufe ſind verhallt, und eine große 
Stille folgt dem geraͤuſchvollen Drang, mit und unter 
welchem unſere Gaͤſte uͤber die Bretter des Theaters 
an der Wien geſchritten. Sie haben ihr ganzes Koͤnnen 
vor uns ausgebreitet, ihre Methode, ihren Stil in 
einer langen Reihe von Beiſpielen uns anſchaulich ge— 
macht; von ihren Vorzuͤgen und Maͤngeln iſt uns nichts 
verborgen geblieben. Sie haben Shakeſpeare und 
Schiller geſpielt, Moliere und Kleiſt, Bjoͤrnſon und 
Lindner, und alle dramatiſchen Gattungen durchlaufen, 
von der Tragoͤdie zur Poſſe, vom Schauſpiel zum Luſt— 
ſpiel. Nun iſt es geſtattet, die Summe ihrer Leiſtungen 
zu ziehen, ein letztes, abſchließendes Wort zu ſagen. 
Bevor wir aber an dieſe Aufgabe gehen, moͤchten wir 
noch einige Punkte beruͤhren, die unſer zuerſt ab— 
gegebenes Urteil auf der einen Seite erweitern, auf 
der andern beſtaͤtigen. Wie man ſehen wird, haben 
wir von unſerer urſpruͤnglichen Anſicht nichts zuruͤck— 
zunehmen, ſondern ihr bloß einiges hinzuzufuͤgen. 


er 


Als wir uns über die Meininger zum erftenmal 
ausſprachen, lag uns nur die Auffuͤhrung von Shake— 
ſpeares „Julius Caͤſar“ vor. Der Shakeſpeareſchen 
Tragoͤdie iſt ein Shakeſpeareſches Luſtſpiel gefolgt: 
„Was ihr wollt“. Daß Deinhardſteins landlaͤufiger 
Buͤhnenbearbeitung gegenuͤber der Text der Schlegel— 
ſchen Überſetzung wieder hergeſtellt war, ſtimmte uns 
von vornherein guͤnſtig; doch glaubten wir, mit dieſer 
literariſchen Genugtuung abgeſpeiſt zu werden. Wir 
hegten die Befuͤrchtung, daß mit dem gegebenen Per— 
ſonal und dem Geiſt, der es beſeelt, weder die feineren 
Teile des Stuͤckes, noch ſeine komiſchen Partien einiger— 
maßen entſprechend wuͤrden zur Erſcheinung kommen. 
Wo nehmt ihr eine rechtſchaffene, heitere und zart— 
ſinnige Viola her, wo eine vornehme, lebensluſtige und 
verliebte Olivia? Und dieſe Narren, Lumpen und 
Gecken, womit wollt ihr ſie beſtreiten? Sollte bei— 
ſpielsweiſe der duͤrftige Caſſius von geſtern heute ein 
unterhaltender Narr ſein? O nein, er war ein hohl— 
ſtimmiger, nuͤchterner, ſteifer, in jedem Betracht un— 
erquicklicher Narr, und ſeine Kumpane machten keine 
viel beſſere Figur. Auf dem Burgtheater haben wir 
ja den Haushofmeiſter Malvolio durch La Roche per— 
ſoͤnlich kennen gelernt, und der Malvolio der Mei— 
ninger, dieſer fade Tropf ohne Shakeſpeareſche Seele, 
dem man nur dann einen Gefallen tut, wenn man 
uͤber ihn lacht, ſollte an jene authentiſche Bekanntſchaft 
auch nur entfernt erinnern? Ebenſo wenig ſelb— 
ſtaͤndiger Humor ſprach aus den beiden Junkern, dem 


56 


Tobias von Ruͤlp und dem Chriſtoph von Bleichen— 
wang; jener rohe, verſoffene Lumpenkerl und dieſe 
bloͤde, verlaſſene Seele voll Feigheit und praͤtentioͤſen 
Geluͤſten druͤckten ihren Charakter nur in der aͤußeren 
Erſcheinung aus. Nun aber kommt das Wunder: in 
der Hand der Meininger Regie bilden dieſe an ſich 
niederen Karten ein vortreffliches Spiel. Wir haben 
die einzelnen Figuren nie mittelmaͤßiger darſtellen 
ſehen, und doch brachten ſie zuſammen die Komik des 
Stuͤckes zu einer Wirkung, wie wir ſie zuvor noch nicht 
erlebt hatten. 

Wir wiſſen wohl, daß die komiſchen Teile der 
Shakeſpeareſchen Luſtſpiele, oder beſtimmter aus— 
gedruͤckt, die poſſenhaften Partien derſelben in Verruf 
ſind, daß man ihnen vorwirft, ſie ſeien roh, leer, ihr 
Witz und Spaß veraltet. Nun haͤngt allerdings nichts 
ſo ſehr mit der Zeit und ihren Bedingungen zu— 
ſammen als der Witz, der Spaß, der Humor, und eine 
Komik, welche die Zeitgenoſſen unmittelbar und wie 
ſelbſtverſtaͤndlich angeſprochen, verſteift ſich mit den 
Jahren und kann ſchließlich nur durch gelehrte Proze— 
duren aufgeweicht und wieder genießbar gemacht 
werden. Iſt nun das Niedrigkomiſche bei Shakeſpeare 
von ſolcher Beſchaffenheit, daß es ohne kuͤnſtliche Hilfs— 
mittel nicht mehr genoſſen werden kann? Ja und 
nein — ja im einzelnen, nein im ganzen. Die Wort— 
ſpiele, die in aller Komik uͤberhaupt am raſcheſten 
welken, ſind auch bei Shakeſpeare nicht mehr gruͤnz 
die Verrenkungen und Umſtuͤlpungen der Sprache, die 


IA 


feinen Zeitgenoſſen luſtig vorkommen mochten, find es 
fuͤr uns nicht mehr. Aber zuruͤckgeblieben iſt ein 
ſaftiger Stamm, ein geſunder komiſcher Koͤrper, wenn 
ſie auch im Boden ihrer Zeit wurzeln und die Luft 
ihres Jahrhunderts atmen. Das Wirtshaus, die 
Kneipe iſt fuͤr jene von gewaltigem Hunger und noch 
gewaltigerem Durſt geplagten pantagrueliſchen Zeit— 
laͤufte, wo ſelbſt die jungfraͤuliche Koͤnigin Eliſabeth 
ſich faſt wie ein Kutſcher unſerer Tage naͤhrte, die 
natuͤrliche Atmoſphaͤre, und ſo wird denn auch der 
komiſchen Muſe Shakeſpeares, wo ſie „den tiefſten 
Ton der Leutſeligkeit angibt“, der Weinbecher nimmer 
leer. Shakeſpeare mag noch ſo ſtark gegen den Über— 
genuß gegorener Getraͤnke eifern und das Laſter der 
Trunkenheit (zunaͤchſt an den Deutſchen) geißeln — er 
ſelbſt, eine in hochfliegender Begeiſterung wie in aus— 
gelaſſenem Scherz ganz dionyſiſche Natur, liebte den 
beſeligenden Saft der Traube, und man wird wohl 
von ihm ſagen duͤrfen, was der roͤmiſche Dichter von 
dem aͤlteren Kato geſagt hat: daß auch ſeine Tugend 
ihr Feuer zuweilen aus ungemiſchtem Wein geſchoͤpft 
hatte. Shakeſpeare freilich iſt ein Gott des Weines, 
ſtaͤrker als der Wein ſelbſt; aber noch wo er die zer— 
ſtoͤnenden Wirkungen des Weingenuſſes darſtellt, 
traͤufelt er Witz und Humor — und manchmal recht 
gemuͤtlichen — in den verhaͤngnisvollen Becher. Er 
ehrt im Mißbrauch noch die goͤttliche Kraft der Rebe. 
Nur den ganz gemeinen Trinkbeſtien, wie es die 
Lumpenhunde im „Sturm“ ſind, entzieht er ſeine Teil— 


58 


nahme; dagegen hat er die faule Weingaͤrung, die 
dem Sektfaß Sir John Falſtaff ſchließlich die Dauben 
ſprengt, unter Entwicklung unſterblicher Witze vor ſich 
gehen laſſen. In „Was ihr wollt“ laͤßt Shakeſpeare 
der Trinkleidenſchaft feiner Zeit frei die Zügel ſchießen; 
es wird Tag und Nacht gezecht, gelacht, gejohlt, und 
die noch uͤbrige Beſinnung wird in Vollfuͤhrung von 
Schalksſtreichen verbraucht. Aber dieſes wuͤſte Treiben, 
von dem ſich die Herzensangelegenheiten der beiden 
friſchen Maͤdchenſeelen doppelt lieblich abheben, findet 
ein mildes Urteil; Leute, deren „Augen ſchon um acht 
Uhr fruͤh untergegangen ſind“, werden am Hof einer 
feingebildeten, reichen Graͤfin geduldet, und den in 
einem Raufhandel zerſchlagenen Junker trifft aus 
Oliviens Mund keine haͤrtere Sentenz als: „Bringt 
ihn zu Bett und ſorgt fuͤr ſeine Wunde.“ 

Dieſe niedrigkomiſchen Elemente in „Was ihr 
wollt“ bringen alſo die Meininger zu vorzuͤglicher 
Geltung. Als die Schauſpieler einer kleinen Stadt, 
wo, aus Mangel an anderweitiger Anregung, das 
Kneipenleben noch meerſchweinchenhaft floriert, ſind 
ſie ihrer Aufgabe wunderbar gewachſen. Sie haben 
noch den friſchen, frechen Mut, den Shakeſpeare, als 
der Sohn einer derberen Zeit, fuͤr ſeine poſſenhaften 
Szenen verlangt. Sie entfeſſeln jede Figur voll und 
ganz, aber ſie binden ſie wieder in einem planvoll ins 
Werk geſetzten Enſemble. Innerhalb dieſes Enſembles 
wirkt jeder einzelne als Kuͤnſtler, ſo wenig er es ſonſt 
auch ſein mag. Die wuͤſten Orgien dieſer Geſellen 


59 


werden amuͤſant, ihre grobkoͤrnigen Witze luſtig, ihre 
plumpen Intrigen und weinſeligen Streiche ergoͤtzlich. 
In ſolcher Harmonie geht die Derbheit unter, weil die 
Virtuoſitaͤt der Darſtellung mehr den kuͤnſtleriſchen 
Geiſt als den nackten Inhalt hervortreten laͤßt. Die 
beiden Junker, der fette und der magere, der Narr 
und der Diener, bilden ſo ein treffliches komiſches 
Quartett, und ihnen geſellt ſich noch als frei ſchwebende 
Stimme das Kammermaͤdchen Maria, dieſe heiterſte 
und anſchlaͤgigſte aller Soubretten, die von Fraͤulein 
Boͤmly (hier koͤnnen wir endlich einen Namen nennen) 
hoͤchſt unterhaltend dargeſtellt wird. Sie iſt ganz der 
ausgelaſſene Schalk, der mit den Verhaͤltniſſen ſpielt, 
ganz der muntere Kopf, welcher den ſtumpfen Trunfen- 
bolden die Gedanken, welche ſie brauchen, bereitwillig 
liefert. Dieſe anmutige Schauſpielerin beſitzt eine 
Meiſterſchaft im Lachen, in jenem breiten, herzlichen 
Lachen aus vollem Munde, welche zum Lachen zwingt. 
Mit der Erwaͤhnung dieſes Namens iſt aber das 
Kapitel des Loͤblichen erſchoͤpft. Die Poſſe haͤtten wir 
wohl; wo aber bleibt das Luſtſpiel Shakeſpeares, wo 
Olivia und namentlich Viola? Eine Viola haben die 
Meininger nicht, wohl aber haben wir ſie wieder auf 
dem Burgtheater geſehen, wie man ſie anderwaͤrts 
kaum ſehen wird. Frau Gabillon hat uns dieſe reizende 
Hoſenrolle geſpielt, und nie hat man ein Beinkleid an— 
mutiger ausgefuͤllt und mit der hoͤchſten Sittigkeit des 
Spieles zugleich jene hoͤchſte Freiheit verbunden ge— 
ſehen, die aus der bewußten Reinheit der Intentionen 


60 


entſpringt ... Es ift nicht unſere Schuld, wenn 
unſere Gedanken, ſo oft von den Meiningern die Rede 
iſt, immer burgwaͤrts ſchweifen. 

So mag man den Meiningern hinfolgen, wo man 
will, es tritt uns ſtets wieder dasſelbe Ergebnis ent— 
gegen. Man kann ſagen: ſie haben aus der Not eine 
Tugend gemacht. Da ihnen hervorragende Schau— 
ſpieler nicht zu Gebote ſtehen, haben ſie ſich mit dem 
Aufwand aller ihrer Kraft auf ein untergeordnetes 
Feld geworfen und es mit ſaurem Schweiß angebaut. 
Das bedeutende Individuum fehlt, alſo ſtellen wir die 
Maſſe in den Vordergrund; der einzelne wirkt nicht, 
alſo verſuchen wir's mit dem Enſemble; unſer Wort 
zieht nicht, es fuͤllt nicht die Phantaſie, alſo her mit 
bunten Koſtuͤmen und blendenden Dekorationen, und 
laßt ſie ja recht hiſtoriſch treu ſein, damit man fuͤr den 
mangelnden poetiſchen Eindruck wenigſtens durch eine 
Augentaͤuſchung entſchaͤdigt werde. Das ſind gewiß 
lauter berechtigte Seiten der dramatiſchen Darftellung, 
aber indem man ſie zur Hauptſache macht, bringt man 
ſie ſelbſt um ihre Berechtigung. Ich will eine Dichtung 
genießen, und ihr kommt mir mit reichen Kleider— 
ſtoffen und angepinſelter Leinwand; ich will mich am 
warmen Atem eines Kuͤnſtlers ergoͤtzen, und ihr werft 
mir ganze Rotten geſtikulierender, ſummſender und 
ſchreiender Statiſten entgegen; ich will geruͤhrt, erbaut, 
erſchuͤttert ſein, und ſtatt deſſen macht man mich zum 
geblendeten, verbluͤfften und beſtuͤrzten Maulaffen. 
Es iſt das Hineintragen der Oper und des Balletts in 


61 


das Schauſpiel; aber was ift eine Oper ohne Muſik, 
ein Ballett ohne Tanz? Das Schauſpiel haͤtte allen 
Grund, vor der taͤglich mehr um ſich greifenden Macht 
der Oper auf der Hut zu ſein und ſich hauptſaͤchlich 
da zu befeſtigen, wo ſein Weſen und ſeine Staͤrke liegt, 
nämlich im geſprochenen Worte; es ſei lieber nüchtern 
als uͤberſchwenglich, es verſage ſich eher jeden Reiz 
der Ausſtattung, als daß es auf eine einzige Silbe 
verzichte, in welcher ein Funken poetiſchen Geiſtes 
ſchlaͤft. In der Kunſt gilt vor allem das Individuum; 
mit dieſem und ſeiner Ausbildung fange man an und 
nicht mit einer laͤcherlichen Emanzipation der Maſſen. 
Die Meininger, als einzelne genommen, haben noch 
viel, ja faſt alles an ſich auszubilden; ihre Technik der 
Rede befindet ſich auf einer ſo niedrigen Stufe, daß ſie, 
als dramatiſche Straf-Meininger, wohl einen Vor— 
tragsmeiſter verdienen. Sie koͤnnen nicht einmal den 
landlaͤufigen Theatervers ſprechen, der dem Sprecher 
doch von ſelbſt den Mund oͤffnet, noch weniger natuͤr— 
lich den vielgeſtaltigen, eminent dramatiſchen Vers 
Shakeſpeares, am wenigſten aber jene raſend gewor— 
denen Jamben der Kleiſtſchen „Hermannsſchlacht“. 
Und mit ſolchen beſchraͤnkten kuͤnſtleriſchen Faͤhigkeiten 
und Fertigkeiten will man das deutſche Schauſpiel ver— 
juͤngen und ihm neue Bahnen vorſchreiben! Nein, ihr 
ſeid groß im Untergeordneten und unbedeutend im 
Weſentlichen. Man kann von euch lernen, aber man 
darf euch nicht nachahmen. 
(Am 4. November 1875) 


62 


Zwei Jubilare: Karl Meixner, 
Bernhard Baumeiſter 


Jubilaͤen, wie ſchon das Wort beſagt, haben gewiß 
etwas Freundliches an ſich, nur fuͤhren ſie leider den 
Übelſtand mit ſich, daß ſie uns alt machen oder an das 
Alterwerden wenigſtens erinnern. Die Lichter, die 
man bei Jubilaͤen anzuͤndet, beleuchten unſere Falten, 
unſer graues Haar. Sie machen uns und mit uns 
ganze Inſtitute aͤlter. Das wollen aber nur wenige 
bemerken. So jubiliert man beiſpielsweiſe im Wiener 
Burgtheater entſchloſſen drauflos und iſt froͤhlich da— 
bei, weil man nur an das momentan Erfreuliche der 
Sache denkt. Wer mag, waͤhrend der Beifall jauchzt 
und Kraͤnze fliegen, daran erinnert ſein, daß hinter der 
Szene ein Kranker liegt, der bedenklich ſtoͤhnt und 
huͤſtelt? Und wer vollends hat den Mut, ſich einzu— 
geſtehen: dieſer Kranke iſt das Burgtheater ſelbſt, und 
die Jubilaͤen weiſen auf das Zifferblatt hin, wo der 
Zeiger ſeinem Ziel unverdroſſen zuſchleicht? Freilich, 
dem Burgtheater ſcheint ein jugendlicher und Jugend 
erhaltender Geiſt eingeboren zu ſein. Anſchuͤtz konnte 
nicht alt werden, ſondern bloß ſterben; La Roche hat 
von Goethe gelernt, bis in das hoͤchſte Uralter hinein 
jung zu bleiben, und Frau Haizinger betreibt dieſe 
Kunſt auf eigene Hand. Großvaͤter ſpielen bei uns 
jugendliche Liebhaber, den Naiven gedeiht der reichſte 


63 


Kinderſegen, und Frauen, welche die Frühlinge eines 
halben Jahrhunderts hinter ſich haben, laſſen es ſich 
nicht nehmen, junge Salondamen zu ſpielen. Kurz, 
man kann nicht mehr jünger fein, als man es im Burg- 
theater iſt. So waͤchſt das friſche Gruͤn durch die 
reife Ananas hindurch und pflanzt auf dem herbſtlichen 
Fruchtboden das Wahrzeichen des Fruͤhlings auf. 
Solche Buͤhnenverhaͤltniſſe koͤnnen ruͤhrend ſein, aber 
ſie legen auch den Gedanken an ein Ende nahe. Wie 
lange will man noch ſpielen, wenn nur das Alter gruͤn, 
die Jugend aber welk iſt? Friſche Talente muͤſſen ge— 
funden werden, ſoll das neue Haus nicht der Sarg des 
Burgtheaters ſein. Muͤſſen gefunden werden? Gewiß, 
muͤſſen! Wie und wo, das iſt das Geheimnis, oder 
ſagen wir lieber, das Talent einer guten Theater— 
leitung. 

Bis dieſe Hilfe kommt, feiern wir Sudilden, be— 
kennen wir gleichſam unſer Alter. Das haben Karl 
Meixner und Bernhard Baumeiſter mit frohem Mute 
getan, der eine noch in der Vollkraft ſeines Talentes, 
der andere in den beſten (alſo nicht weit von den guten) 
Jahren und als Kuͤnſtler immer noch in aufſteigender 
Linie begriffen. Meixner gehoͤrt zu den Original— 
geſtalten, zu den Charakterkoͤpfen des VBurgtheaters. 
Schon ſein Außeres ſcheidet ihn von den anderen, 
druͤckt ihm den Stempel des Beſonderen und Sonder— 
baren auf. Kaum mittelgroß, zur Fuͤlle neigend, haͤlt 
er ſich, nach Art kleiner Leute, feſt und ſtramm. Nicht 
hoch uͤber den Schultern ſitzt ein umfaͤnglicher Kopf, 


64 


die Haut tiefbraun, das Geſicht ſcharf gejchnitten, 
unter buſchigen dunklen Augenbrauen lebhafte Augen; 
die hohe Stirn, der es an Gedankenbuckeln nicht fehlt, 
von ſchwarzen Haaren gekroͤnt, die ſo hart und trocken 
erſcheinen, als ob die Sonne des Morgenlandes ſie an— 
geſengt haͤtte. Den feſten Kern ſeines Geſichtes faßt 
ein Fettrahmen ein, der ein ganzes Syſtem ineinander— 
geſchobener Falten bildet. Hier lauern alle mimiſchen 
Daͤmonen einer ſcharfen Komik, vom ſchlauen Laͤcheln 
bis zum grinſenden Hohne. Meirners Auge weiß zu 
ſtechen, zu bohren, zu blitzen, doch kann es auch momen— 
tan im Ausdrucke eines unendlichen Wohlwollens auf— 
leuchten. Meixner iſt ein Charakterkomiker vom 
Scheitel bis zur Sohle. Seine Komik liegt weder fuͤr 
ihn noch fuͤr den Zuſchauer auf der flachen Hand. Die 
urſpruͤngliche komiſche Kraft iſt wohl vorhanden, aber 
fie muß durch Gedankenarbeit gehoben werden. Er 
braucht daher Zeit und Raum, um komiſch zu wirken; 
er uͤberfaͤllt uns nicht mit komiſcher Wirkung, er zieht 
uns vielmehr nach und nach in ihren Kreis hinein. 
Wenzel Scholz, Beckmann und ſolche Naturkomiker 
wirkten unmittelbar durch ihr bloßes Daſein; Meixner 
dagegen, wie er in der Reflexion wurzelt, fordert die 
Reflerion zu ſeinem Verſtaͤndniſſe heraus. Jene 
konnten den faulſten Zuſchauer befriedigen, Meixner 
verlangt den fleißigſten. Seine Komik will verdient 
ſein. Es haͤngt mit Meixners Begabung aufs engſte 
zuſammen, daß ihm verwickelte dramatiſche Aufgaben 
am glaͤnzendſten gelingen, denn je komplizierter und 


IV]5 65 


verſteckter eine Rolle angelegt iſt, deſto erfolgreicher 
kann er ſeinen Spuͤr⸗ und Scharfſinn walten laſſen. 
Da er nun ein hoͤchſt bedeutender Schauſpieler iſt, mit 
allen Mitteln und Finten ſeines Faches verſehen, wird 
es ihm leicht, jene auseinanderſtrebenden Elemente 
kuͤnſtleriſch zuſamenzufaſſen. Aus Draͤhten ſchmiedet 
er eine blanke Klinge. Wir haben ihn nie an großen 
Aufgaben ſcheitern ſehen, wohl aber an kleinen und 
einfachen, mit denen ein naiver Komiker ſpielend fertig 
geworden wäre. Ja Meixner kann in ſchlichten Rollen 
durch die Bevormundung des Zuſchauers geradezu un— 
ertraͤglich werden. Er ſcheint in ſolchem Falle den 
Zuſchauer als einfaͤltig vorauszuſetzen, ihm mit der 
eigenen Schlauheit imponieren zu wollen, wo doch 
gerade der Schauſpieler vom richtigen Geiſt verlaſſen 
iſt und ſeine Rolle durch kritiſches Scheidewaſſer zer— 
ſetzt. Mehr Verſtand als der Zuſchauer haben zu 
wollen — nicht etwa zu haben — wirkt ſtets belei— 
digend. Der Vorwurf wird indeſſen ſelbſt bei einem 
Jubilaͤum zu ertragen ſein, wenn man von dem Talent 
eines Kuͤnſtlers ſagt, daß es ſeine Grenze am Kleinen 
habe. Welche Berechtigung haͤtten die Herren Schoͤne 
und Reuſche neben Meixner, wenn er, der große Herr 
unter den Komikern, ihnen nicht das Kleine und 
Kleinſte uͤberlaſſen koͤnnte? Sie leben von den Maͤngeln 
ſeiner Groͤße, und wenn er ihren Verſtand hat, ſo haben 
fie ſein Gluͤck. Ja, man braucht Herrn Meixner nicht 
gerade nahezuſtehen, um zu wiſſen, daß er zu den 
Komikern gehört, die bedeutende Anlage zum Unglüd- 


66 


lichſein beſitzen und die ſtets einen Einfall zu viel und 
einen Pfennig zu wenig haben. Daß ein ſo geſcheiter, 
ſcharfſinniger Mann wie Meixner, und der die Bühne 
kennt wie ſeine eigene Taſche, die Wuͤrde eines Re— 
giſſeurs noch nicht erreicht hat, das iſt doch eine ſehr 
ſeltſame Tatſache. Verſtand gegen Verſtand gehalten, 
Geiſt gegen Geiſt, Sachkenntnis gegen Sachkenntnis — 
wer nimmt es auf mit dieſem jubilierten Theater— 
kinde? Manche koͤnnten ſeine Schuͤler ſein, die jetzt 
ſeine Meiſter ſpielen. Dem Geſcheiten will eben das 
Gluͤck nicht laͤcheln. Oder ſollte vielleicht das der 
rechte Verſtand nicht ſein, der nicht auch das Gluͤck 
hat? Dann wäre Herr Meixner ein Beiſpiel dieſes 
Verſtandes. Und doch, wie beſcheiden ſind die Ziele 
ſeines Ehrgeizes! Die Stelle eines Regiſſeurs und 
etwa noch ein gnaͤdiges Laͤcheln auf eines ſeiner Knopf— 
loͤcher, und er waͤre ſo gluͤcklich, als ihm dies ſein 
Talent uͤberhaupt geſtattet. Wenn man von der Buͤhne 
herab durch vierzig Jahre die Welt erheitert, ſollte das 
Schickſal wohl ein Einſehen haben und ſo billige 
Wuͤnſche erfuͤllen. 


Der andere Jubilar des Burgtheaters, Bernhard 
Baumeiſter, iſt unter allen Verhaͤltniſſen ein Kind des 
Gluͤckes, weil er ſeiner ganzen Natur nach nicht un⸗ 
gluͤcklich ſein kann. Als er vor fuͤnfundzwanzig Jahren 
nach Wien kam, hatte er im Übermute ſeines Talents 
und ſeiner ſprudelnden Kraft das Gefuͤhl, daß ihm 
die Welt offen ſtehe. Kein Krug hing ihm zu hoch, 


[5] 67 


feine Schürze zu tief. Er war ein großgewachſener, 
breitſchulteriger, feſt auf den Füßen ſtehender Natur- 
burſche, ein echt germaniſcher Menſch, aber ohne die 
vorlauten blonden Haare. Er fuͤhlte ſeine Natur als 
etwas, worin er mit Vergnuͤgen ſteckte, und das ihm, 
wenn es ihn auch aͤrgerte, doch noch Vergnuͤgen machte. 
Er war ein Humoriſt, voll Mutterwitz, in ſeiner freien 
Weiſe ein trefflicher Geſellſchafter und immer ein un— 
vergleichlicher Kamerad. So haben wir ihn im Leben, 
ſo auf der Buͤhne geſehen. Denn er gab ſtets ſich 
ſelbſt, hier wie dort. Nur, daß er, naturaliſtiſch be— 
ginnend, ſich nach und nach des dramatiſchen Hand— 
werkszeuges bemaͤchtigte und ein Kuͤnſtler wurde, ohne 
an ſeiner geſunden Natur etwas einzubuͤßen. So 
kennt ihn Wien ſeit fuͤnfundzwanzig Jahren — eine 
Natur, die durch vielfache Zuruͤckſetzung nicht umzu⸗ 
bringen war, die aus dem Strudel des Lebens immer 
wieder als Kuͤnſtler auftauchte. Wie maͤchtig er ge— 
wachſen, zeigt heute ſein Falſtaff, der zugleich das 
Pfand ſeiner Zukunft iſt. 

Wir ſind in der gluͤcklichen Lage, die denkbar beſte 
Charakteriſtik Baumeiſters zu geben. Wir wollen ihn 
ſelbſt auftreten laſſen. Bei Gelegenheit ſeines Jubi— 
laͤums haben wir uns naͤmlich an ihn gewendet, um 
von ihm zu erfahren, wie er uͤber ſich ſelbſt denke. Er 
ſchrieb uns die folgende Antwort: 

„Sie verlangen von mir Skizzen meines Komoͤ— 
diantenlebens. Ich habe verſucht, einige humoriſtiſche 
Szenen meines Lebens Ihnen wiederzugeben. Koͤnnen 


68 


Sie davon Gebrauch machen, bon! — wo nicht, werfen 
Sie die Albernheit in den Papierkorb.“ 

Anderes mag in den Papierkorb wandern, aber die 
autobiographiſche Skizze Baumeiſters ſoll dem Leſer 
nicht vorenthalten werden. Sie lautet wie folgt: 

„Juͤngſter Sohn einer zahlreichen (zehn) kleinen 
„Beamtenfamilie, war ich zur edlen Buchdruckerkunſt 
„beſtimmt; aber nachdem einer meiner aͤlteren Bruͤder 
„wegen Überfluſſes an Schulden dem Offizier entſagen 
„und ſich dem Komoͤdiantentum in die Arme werfen 
„mußte, riß es auch mich dazu. Schwerin (Medlen- 
„burg) war der Geburtsort meiner Kunſt. In der Oper 
„Norma“ erſchien ich zum erſten Male auf den welt— 
„bedeutenden Brettern als alter galliſcher Prieſter im 
„Chor der Rache. Mit mir trat noch eine andere Zele— 
„britaͤt als Norma auf — Jenny Lind! Das war wohl 
„auch Urſache, warum mein erſtes Debuͤt weniger 
„epochemachend; die Lind druͤckte mich! Nachdem ich 
„ein halbes Jahr im Chor mitgetan, weniger geſungen 
„hatte, kam mein Stern zum Durchbruch. In der Oper 
„Die Hugenotten hatte ich das Gluͤck, im Soldatenchor 
„Rataplan—plan—plan“ mit einem Soloplan nach- 
„zuhinken. Das Geheimnis, welches bis dahin meine 
„Baritonſtimme verſchleiert, war gelichtet, und dieſe 
„meine Goldſtimme, vereint mit meiner natuͤrlichen 
„muſikaliſchen Begabung, fuͤhrte zu meiner ſofortigen 
„Entlaſſung. Ich erhielt einen ehrenvollen Ruf an die 
„vereinigten Hoftheater von Swinemuͤnde, Uſedom, 
„Wollin und Demmin. Schon nach vierzehn Tagen 


69 


„war ich ausgeſprochener Liebling des Funftfinnigen 
„Uſedomer Publikums, namentlich im Fach des ‚Die 
„Pferde find gefattelt‘. In einem Drama: ‚Die beiden 
„jungen Frauen‘ fpielte ich einen meiner unvergleich— 
„lichen melancholiſchen Bedienten. Ich hatte mit einem 
„Kollegen, der einen ebenſo ſtark ausgeprägt germa- 
„niſchen Fuß wie ich ſein eigen nannte, gemeinſchaftlich 
„ein Paar Schuhe. Ich muͤßte mich ſehr irren, oder 
„wir ſind dies Paar Schuhe gemeinſchaftlich auch 
„ſchuldig geblieben, und zwar in monatlichen Raten. 
„Mein Schuhkompagnon ſpielte in demſelben Stuͤcke 
„einen Charakterbedienten, und da es ein gerader Tag 
„war — er hatte die geraden, ich die ungeraden — fiel 
„ihm die Benuͤtzung der Schuhe und eines ſchwarzen 
„Beinkleides zu. Ich war alſo genoͤtigt, mir vom erſten 
„Heldenvater die Schuhe auszuleihen. Unglaublich, 
„aber wahr — dieſe Schuhe waren mir zu groß! Der 
„uͤberfluͤſſige Raum in den Schuhen wurde mit Papier- 
„ſchnitzeln, Werg uſw. ausgefuͤllt. Mein Stichwort fiel, 
„ich machte meine Meldung mit gewohntem Gluͤck und 
„trat ab. Ich wartete in der Kuliſſe auf mein neues 
„Stichwort und hatte darauf in groͤßter Aufregung 
„hinauszuſtuͤrzen, um der Frau des Hauſes den Tod 
„ihres Gatten zu melden, der ſich ſoeben eine Kugel in 
„die Bruſt gejagt. Meine Kollegen machten mich darauf 
„aufmerkſam, daß ich nur einen Schuh anhabe. Gruppe! 
„Mein Schuh war nirgends zu finden. Mein Stich— 
„wort faͤllt. Hinaus in einem Strumpf und einem 
„Schuh. Siehe da — der verlorene ſteht einſam in 


70 


„der Mitte der Bühne, Wuͤtend ſtuͤrze ich in meinen 
„Schuh und mache dann erſt unter frenetiſchem Jubel 
„meine Meldung. Das Stuͤck war aus, aber auch ich 
„war aus fuͤr Uſedom. Ich kam nach Stargard, von 
„dort nach Stettin als dritter Liebhaber, ſogenannter 
„Schmachtlappen. In Stettin erſt lernte ich bedeutende 
„Kuͤnſtler kennen, die dort gaſtierten. Emil Devrient 
„begeiſterte mich; zum erſten Male ſah ich ein, daß ich 
„bis jetzt Komoͤdiant geweſen. Mein Ehrgeiz war ge— 
„weckt, ich fing an zu lernen. Durch Empfehlung meiner 
„Schweſter Marie, Liebling des Theaters in Hannover, 
„bekam ich einen Antrag mit vierhundert Talern. Dort 
„blieb ich zwei Jahre und lernte in dieſer Zeit alle be— 
„deutenden Schauſpieler kennen. Im Jahre 1850 kam 
„ich nach Oldenburg als erſter jugendlicher Held und 
„Liebhaber. Leider ſchlug mir meine flotte Ader vor 
„meinem Auftreten wieder ein Schnippchen. Ich konnte 
„am Abend vor meinem erſten Debuͤt, nachdem ich mit 
„Kollegen etwas laͤnger gekneipt — mein Haus nicht 
„finden. Ich hatte Straße und Nummer vergeſſen. 
„Ich probierte in ausgelaſſener Laune meinen Haus— 
„ſchluͤſſel wohl an dreißig Türen. Es war ſtockfinſter, 
„die Ollampen wurden damals um 10 Uhr geloͤſcht. 
„Man hielt mich fuͤr einen Einbrecher. Ich wurde nach 
„kurzem, aber heftigem Kampfe arretiert und erwachte 
„morgens auf der Pritſche der Hauptwache. Nachdem 
„das Mißverſtaͤndnis aufgeklaͤrt, ſpielte ich abends mit 
„furchtbarem Katzenjammer den Marc Anton. Ich 
„brauchte nach dieſer Leiſtung lange Zeit, bis ich das 


71 


„Vorurteil der Oldenburger beſiegte und man mich nicht 
„mehr fuͤr einen Verbrecher hielt. Ich ſpielte dort in 
„zwei Jahren alle jugendlichen Helden und Liebhaber 
„und wurde ſchließlich ſehr beliebt. Im Jahre 1852 
„brannte in Wien Fritz Devrient durch. Ich wendete 
„mich in meiner Beſcheidenheit an Laube und erhielt 
„ſofort die kurze Antwort: Kommen Sie, der Name 
„Baumeiſter hat guten Klang bei mir.“ Ich kam, 
„ſpielte als erſte Rolle den Landwirt, und gefiel. 
„Zweite Rolle: Flavigneul im „Damenkrieg“ — gefiel 
„etwas weniger. Dritte Rolle: Bruno in „Mutter und 
„Sohn“ — fiel glänzend durch, war aber, Gott ſei 
„Dank, ſchon engagiert. Im Engagement brauchte ich 
„lange, bis ich mich feſtſetzte. Erſt als Thumelicus im 
„Fechter von Ravenna“ erhielt ich meinen erſten 
„Applaus. Ich habe bis jetzt in 288 Stuͤcken geſpielt. 
„Die Abende uͤberſteigen 4000.“ 

So ſpricht Bernhard Baumeiſter. Es iſt ſein 
Atem, ſeine Stimme, ſein Geſtus. Wir laſſen den 
Vorhang fallen, denn wer wollte nach ihm weiter 


reden? 
; (Am 20. Mai 1877) 


Erneſto Roffi 


Es wäre ungaſtlich, einen Kuͤnſtler von dem Range 
Roſſis von Wien ſcheiden zu laſſen ohne Sang und 
Klang und durch Stillſchweigen dem Mimen, dem die 
Nachwelt, wie nur allzu bekannt, keine Kraͤnze flicht, 
auch das enge Stuͤck Gegenwart zu verkuͤmmern. Er 
hat uns juͤngſthin im Ringtheater, wie vor fuͤnf Jahren 
an der Wien und vor mehr als zwei Jahrzehnten im 
Joſephſtaͤdter Theater, wo der jugendliche Schauſpieler 
ſeine erſten Wiener Lorbeern pfluͤckte, große Genuͤſſe 
bereitet, und wie koͤnnte man ſich ihm anders dankbar 
erzeigen, als durch einige Worte der öffentlichen An- 
erkennung? Fuͤr mich hat Roſſi weſentlich ein techni— 
ſches Intereſſe, nicht etwa, weil er in allen anderen 
Stuͤcken, die Verſtand und Geiſt vorausſetzen, nicht 
gleichfalls hervorragend waͤre, ſondern weil bei ihm 
die Ausbildung der ſchauſpieleriſchen Mittel, zumal 
wenn man ſie mit der Durchſchnittstechnik unſerer 
deutſchen Seelendarſteller vergleicht, eine ſeltene Voll— 
endung erreicht hat. Als junger Mann arbeitete Roſſi 
mit den uͤberlieferten ſchauſpieleriſchen Anlagen ſeines 
Volkes, allerdings nicht, ohne die ſelbſtaͤndige Kraft zu 
verraten, die er ſich mit der Zeit zur hoͤchſten Bewußt— 
heit heraufgebildet. Erneſto Roſſi iſt romaniſcher Ab— 
kunft, iſt Italiener, und dieſes einzige Wort ſagt viel 
fuͤr einen Schauſpieler. Der Franzoſe, der Italiener 
kommt ſchon als Schauſpieler auf die Buͤhne; er iſt 


2 


der geborene Repraͤſentant, dem das Wort von der 
Lippe und die Bewegung von der Hand geht. Er 
ſpielt ſchon im Leben, weil er eine natürliche Freude 
daran hat, ſich ſelbſt darzuſtellen, ſeine Seele in den 
Leib hervorzuarbeiten. Ganz anders beim Deutſchen. 
Der Deutſche beſitzt ein eigenes Ungeſchick, eine Art 
Schamhaftigkeit, die ihn hindert, auch mit dem Koͤrper 
das zu ſcheinen, was er geiſtig iſt. Eigentlich gegen 
den Willen der Goͤtter iſt er auf die Buͤhne gegangen, 
und wenn einmal ein großer deutſcher Komoͤdiant er- 
ſcheint, wie beiſpielsweiſe Schroͤder, der ſich, bei allem 
Feſthalten der kuͤnſtleriſchen Wuͤrde, ſinnlich dermaßen 
befreit hatte, daß er nach- und durcheinander als 
Schauſpieler und Saͤnger, als Pantomimiker und 
Taͤnzer glaͤnzen konnte, ſo kommt uns das als wunder— 
bare Bewältigung eines urſpruͤnglich unendlich ſproͤ— 
den nationalen Stoffes vor. Wer ſieht hier nicht in 
der deutſchen Unbeholfenheit die offene Tür, durch 
welche der juͤdiſche Genius in die Welt der Bretter 
eintrat? Die mimiſche Begabung, die ſozuſagen leib— 
liche Phantaſie des Volkes Iſrael iſt weit reicher als 
die des deutſchen Volkes. Wo der Deutſche ſeine 
Seele muͤhſam, wie aus einem Futteral, hervorholt, iſt 
ſie bei unſeren Bruͤdern aus dem Oſten ſchon in leb— 
hafter koͤrperlicher Bewegung. Indem der Jude 
„mauſchelt“, d. h. an Leib und Seele zappelt, iſt er 
fuͤr uns ruhigere Naturen ein Schauſpieler, und wenn 
man einen juͤdiſchen Roßkamm mit einem deutſchen 
Bauer um ein Pferd handeln ſieht, ſpringt der Blut— 


74 


unterſchied beider Leute deutlich genug ind Auge. 
Unter Franzoſen und Italienern verliert ſich dieſer 
Raſſenzwieſpalt leichter, weil die mimiſche Begabung, 
der raſche Geſchaͤftsverkehr zwiſchen Hirn und Finger— 
ſpitze ein aͤhnlicher iſt. Die Italiener — und dieſe 
gehen uns im Hinblick auf Erneſto Roſſi doch zunaͤchſt 
an — haben eine alte mimiſche Erbſchaft zu verwal— 
ten. Wuͤrde und Lebhaftigkeit, das ariſtokratiſche und 
demokratiſche Element der Repraͤſentation, haben ihnen 
die Roͤmer vermacht. Wie in den Familien die Art 
des Gaͤhnens und Lachens, der Wortbetonung und der 
eigentuͤmlichen Bewegung von Haͤnden und Fuͤßen 
forterbt, ſo auch bei Voͤlkern die Art und Weiſe, ſich 
perſoͤnlich zu geben, der mimiſche Charakter. Manch— 
mal wird auch im Sinne der Vorfahren ein Ruck nach 
vorwaͤrts gemacht. Man kann die Herausbildung der 
italieniſchen Sprache aus der roͤmiſchen vielleicht als 
einen mimiſchen Prozeß bezeichnen, als eine Befreiung 
aus den Feſſeln einer gemeſſenen, beſchraͤnkten Be— 
wegung. Eine bewegtere, vielſeitigere Welt ſprengte 
die kompakte Sprachform der Roͤmer, und die geballte 
Fauſt loͤſte ſich gleichſam in die einzelnen Finger auf. 
Dante ſpricht anders als ſein Fuͤhrer Virgil; er ſpricht 
bei aller Gedraͤngtheit lebhafter, mimiſch bewegter. 
Eine ſolche Sprache, der auch der kuͤnſtleriſche Reiz des 
Wohlklanges nicht fehlt, trägt den Schauſpieler. Die 
italieniſche Sprache, vom Sinn der geſprochenen 
Worte abgeſehen, nur klingen zu hoͤren, iſt ein aͤſtheti— 
ſches Vergnuͤgen. 


75 


Auf dieſem ſchoͤnen Inſtrumente ſpielt nun Roſſi 
mit vollendeter Virtuoſitaͤt. Seine Mutterſprache iſt 
ihm der bildſame Stoff, der ihm Starkes und Zartes 
auszudruͤcken nie verſagt, der da hinfaͤhrt mit der Ge— 
ſchwindigkeit des Blitzes und auch trifft und einſchlaͤgt 
und nachdonnert wie der Blitz. Nicht bloß in ihrer 
ſinnlichen Fuͤlle, in ihrem muſikaliſchen Wohllaut laͤßt 
er dieſe Sprache ertoͤnen — darin war die Riſtori 
mit ihrer tragiſchen Altſtimme eine unerreichte 
Meiſterin — nein, er uͤbt auch, wo es der kuͤnſtleriſche 
Zuſammenhang fordert, die herbe Entſagung, den 
Wohlklang dem Sinne zu opfern, das Wort geiſtig 
arbeiten zu laſſen. Er iſt kein Deklamator, er iſt ein 
Charakterſprecher. Mit dem bloßen Worte kann er 
Wunder wirken. In einem Konzertſaal ſprach er zu= 
letzt in Wien ein Gedicht „Cristoforo Colombo“, 
welches die vielbeſungene und leider auch vielvermalte 
Fahrt des Kolumbus nach der neuen Welt behandelt. 
Es war merkwuͤrdig, wie Roſſi fuͤr jedes Ding eine 
Stimme hatte, mit welcher anſchaulichen Kraft er die 
Rede handhabte. Man war auf das Schiff ver— 
zaubert, man ſtieg mit Kolumbus die Leiter der Em— 
pfindungen auf und nieder. Wir bangen, aͤngſtigen 
uns mit ihm, wir geben ſeine Sache, ſo feſt wir ihm 
und mit ihm vertrauen, der Meuterei gegenuͤber ſchon 
faſt verloren — da erſchallt das Zauberwort: „Land 
— terra!“ Es toͤnt wie von oben, vom Maſtkorb 
herab, wir wiſſen nicht wie, wir ſehen keinen taſchen— 
ſpieleriſchen Aufwand. Alles blickt unwillkuͤrlich nach 


76 


oben, wohin ſich das Auge des Sprechers erſt nach dem 
Ausruf richtet, als haͤtte er ihn ſelbſt erſt von oben 
vernommen. Kurz, es war ein redneriſcher Triumph. 
Solche Faͤhigkeit im Reden erprobte Roſſi vielfach an 
den ſchwierigſten ſchauſpieleriſchen Aufgaben, an 
Shakeſpeareſchen Rollen. Das ſcharfe, knappe Wort 
Macbeths lag ihm nicht minder gut, als die greiſen— 
hafte Redſeligkeit Lears; bei Othello fand er den ge— 
raden, raſchen Gang der Leidenſchaft ſo ſicher, als er 
mit gruͤbleriſcher Gewandtheit den Winkelzuͤgen der 
Hamletſchen Dialektik nachging. Daß er in modernen 
Schauſpielen, die leider oft nur der Virtuoſitaͤt das 
Seil ſpannten, ſich als Sprecher und Redner glaͤnzend 
hervortat, braucht kaum ausdruͤcklich geſagt zu werden. 
Fuͤr ſeine Redekunſt und ſeine Redekuͤnſte beſitzt Roſſi 
an ſeiner Stimme ein ſchoͤnes und williges Werkzeug. 
Es iſt ein Bariton, das echte maͤnnliche Organ, wel— 
ches, mit einer neutralen Mittellage begabt, nach 
unten und oben an die Kraft- und Empfindungs⸗ 
quellen des Baſſes und Tenors grenzt. Dieſe richtige 
Mitte der Stimme, die vom Kraftmeier und Haͤmling 
gleich weit entfernt liegt, iſt ein Gluͤck fuͤr einen Schau⸗ 
ſpieler. 

Was den Schauſpieler im Grunde macht, iſt, daß er 
ſinngemaͤß ſpricht, und daß er auch fuͤr das Auge das 
iſt, was er fuͤr das Ohr ſein will. So wird erſt das 
Hoͤrſpiel zum Schauſpiel. Auch nach dieſer ſichtbaren 
Seite der Schauſpielkunſt iſt Erneſto Roſſi ungewoͤhn— 
lich reich ausgeſtattet. An koͤrperlicher Beredſamkeit 


77 


hat er kaum einen Nebenbuhler. Alles ſpricht an ihm 
und uͤberredet uns. Sein Mienenſpiel iſt minder 
mannigfaltig, aber ſtilvoll und in ſeiner Einfachheit 
ſtets verſtaͤndlich; doch der Kopf ſelbſt als ſelbſtaͤn— 
diges Glied des Koͤrpers und alles, was vom Kopf ab— 
waͤrts liegt, iſt voll ſchoͤner, anmutiger und uͤber— 
zeugender Bewegung. Roſſis Beholfenheit in Be— 
wegung und Gebaͤrde iſt erſtaunlich, und man 
muß ihn gleich als Sohn eines Volkes denken, dem 
der maleriſche und plaſtiſche Genius angeboren, dem 
die Seele bis in die Fingerſpitzen gegenwaͤrtig iſt. 
Noch einmal muß ich auf ſein Auftreten im Konzert— 
ſaal zuruͤckweiſen. Als er ſein Kolumbusgedicht be— 
endet hatte, brach ſtuͤrmiſcher Beifall los, und Roſſi, 
immer und immer wieder gerufen — man kennt ja die 
Begeiſterungstemperatur der Italiener — konnte nicht 
oft genug erſcheinen. Da nun Roſſi nicht das laͤppiſche 
Mittel unſerer Philharmoniker an der Hand hatte, ein 
ganzes Orcheſter (Blech, Holz und Darm) aufſtehen 
zu laſſen, und da er als ernſter Kuͤnſtler des ewigen 
Herauslaufens muͤde war, erhob er ſeine Hand gegen 
das Publikum und brachte es durch eine in ihrer An— 
mut gebieteriſche Bewegung endlich zur Ruhe. Dieſe 
rechte Hand Roſſis und auch ihre linke Schweſter ſteckt 
voll dramatiſcher Tugend. Als Ganzes und in die 
einzelnen Finger aufgeloͤſt, redet ſie eine verſtaͤndliche 
und uͤberzeugende Sprache. Die zehn Finger ſind bei 
ihm wie ein Alphabet, das zur Bildung von Woͤrtern 
vieler Zuſammenſetzungen faͤhig iſt. Die Bewegung 


78 


der Arme, einzeln, parallel oder in abweichender Rich— 
tung, iſt bei Roſſi ein reichhaltiges Ausdrucksmittel; 
er iſt beredt bis in die Schultern und Beine. Vom 
bloßen Geſichtspunkte der Gebaͤrden aus ſind ſein 
Macbeth und Lear merkwuͤrdige Leiſtungen. Macbeth, 
der auf der Schwelle in das Gemach des Koͤnigs 
ſtrauchelt — zwiſchen Straucheln und Wiederdaſtehen 
iſt nur das Zwinkern des Auges; Macbeth, der mit 
Macduff auf Tod und Leben ficht, ein durch leibliche 
Mittel ausgefuͤhrtes pſychologiſches Gemaͤlde; Koͤnig 
Lear, der am Anblick Edgars feinen Wahnſinn aus— 
bruͤtet; Koͤnig Lear, ſeine Tochter Cordelia wieder in 
den Armen haltend und ſie den Ruͤcken herauf mit 
beiden Haͤnden liebkoſend — das und wie vieles an— 
dere ſind Meiſterſtuͤcke, an denen der bildende Kuͤnſtler 
und der Schauſpieler lernen koͤnnen. Und auch fuͤr 
das Spiel beſitzt Roſſi an ſeinem Koͤrper ein gluͤckliches 
Werkzeug. Er iſt mittelgroß, mit breiter Bruſt und 
Schulter, gut gegliedert, und obgleich er ſchon be— 
quemere Formen anzunehmen beginnt, fehlt es ihm 
nicht an Energie und raſcher Beweglichkeit. 

Wenn ich nun Erneſto Roſſi als ſolchen exakten 
Techniker arbeiten ſah, fiel mir wiederholt die alte 
Streitfrage ein, ob der Schauſpieler bei ſeiner Dar— 
ſtellung empfinden oder kalt ſein muͤſſe. Diderot 
hat über dieſe Frage ein von Geiſt und Leben ſpruͤhen— 
des Geſpraͤch geſchrieben: Paradoxe sur le comédien. 
Diderots Meinung geht dahin, daß der Schauſpieler 
bei ſeiner Darſtellung durchaus kalt ſein muͤſſe. Der 


79 


Schauſpieler gebe nur die äußeren Zeichen der Empfin— 
dung, nicht dieſe ſelbſt. „Sein Schmerzensſchrei,“ 
meint Diderot, „iſt in ſeinem Ohr notiert. Die Ge— 
baͤrden ſeiner Verzweiflung hat er auswendig gelernt, 
vor dem Spiegel einſtudiert. Er weiß genau den 
Augenblick, wo er ſein Schnupftuch ziehen und die 
Träne fließen wird; ihr moͤgt fie bei dieſem Worte, bei 
dieſer Silbe erwarten, weder fruͤher noch ſpaͤter. 
Dieſes Zittern der Stimme, dieſe zuruͤckgehaltenen 
Worte, dieſe erſtickten oder gezogenen Toͤne, dieſer 
Schauer, dieſes Zittern der Knie, dieſe Ohnmacht, 
dieſes Toben — alles iſt bloße Nachahmung, aus— 
wendig gelernte Lektion, pathetiſche Grimaſſe, ſublime 
Nachaͤfferei, die der Schauſpieler eingeuͤbt und be— 
halten hat, die vor ihm ſtand, da er ſpielte, die ihm, 
zum Gluͤck fuͤr den Dichter, fuͤr den Zuſchauer und fuͤr 
ihn ſelbſt, ſeine vollſtaͤndige Geiſtesfreiheit laͤßt und 
die, gleich wie andere Leibesuͤbungen, nur ſeine phy— 
ſiſche Kraft angreift. Hat er den Soccus oder den 
Kothurn abgeſchnallt, ſo iſt ſeine Stimme ſtumpf; er 
ſpuͤrt eine große Ermuͤdung, er wechſelt die Waͤſche 
oder legt ſich ſchlafen; aber keine Bewegung bleibt in 
ihm zuruͤck, weder Schmerz, noch Melancholie, noch 
Abſpannung der Seele. Ihr, die Zuſchauer, tragt alle 
dieſe Eindruͤcke mit euch fort. Der Schauſpieler iſt 
muͤde, ihr ſeid traurig; das kommt daher, weil ſich der 
Schauſpieler abgemuͤht hat, ohne etwas zu empfinden, 
und ihr empfunden habt, ohne euch abzumuͤhen. Stuͤnde 
die Sache nicht ſo, dann waͤre die Lage des Schau— 


80 


ſpielers die ungluͤckſeligſte aller Lagen; er iſt ja nicht 
die Perſon, die er darſtellt, er ſpielt ſie nur, und er 
ſpielt fie fo gut, daß ihr ihn dafür haltet. Die Täu- 
ſchung iſt nur fuͤr euch; er ſelbſt weiß recht gut, daß 
er jene Perſon nicht iſt ...“ Nicht wahr, das klingt 
paradox, ketzeriſch? Aber ſollte es deshalb nicht wahr 
ſein koͤnnen? Noch weiter als dieſer Franzoſe iſt in 
dieſem Stuͤck ein Deutſcher, ein großer deutſcher Dich— 
ter gegangen. Heinrich von Kleiſt fuͤhrt in dem merk— 
wuͤrdigen Geſpraͤch „Über das Marionetten-Theater“ 
einen Taͤnzer vor, der ſich als choreographiſches Ideal 
eine vollſtaͤndige Mechaniſierung des Tanzes denkt. 
Nicht der Menſch, der fehlbar iſt, ſondern die unfehl— 
bare Maſchine fol tanzen. „Er getraue ſich zu be: 
haupten,“ äußert der Kleiſtſche Tänzer im Geſpraͤch, 
„daß, wenn ihm ein Mechanikus nach den Forde— 
rungen, die er an ihn zu machen daͤchte, eine Mario⸗ 
nette bauen wolle, er vermittelſt derſelben einen Tanz 
darſtellen werde, den weder er noch irgendein anderer 
geſchickter Taͤnzer ſeiner Zeit, Veſtris ſelbſt nicht aus— 
genommen, zu erreichen imſtande ſei ...“ Dieſe An— 
ſchauung iſt bei Kleiſt aͤußerſt geiſtvoll durchgefuͤhrt, 
nur verlaͤuft ſie ſich ſchließlich nach deutſcher Weiſe in 
die Mathematik und Metaphyſik. 

Solcher Seitenſprung in den Mechanismus und die 
Mechanik der Kunſt lag dieſen Zeilen nahe, die ja 
Erneſto Roſſi nur als ſchauſpieleriſchen Techniker be— 
trachten wollten. Dieſe einſeitige Betrachtung moͤchte 
dem italieniſchen Kuͤnſtler nicht die geiſtigen Gaben 


IVI6 81 


abſprechen, im Gegenteile, ich weiß wohl, daß Roſſi 
im kleinen Finger mehr Geiſt beſitzt, als mancher 
deutſche Schauſpieler, der ſich mit ſeiner „Innerlich— 
keit“ etwas weiß, in ſeiner ganzen Perſon. Roſſi 
arbeitet mit dem ganzen mimiſchen Kapital ſeines 
Volkes, aber er hat damit gewuchert. Ob er empfindet 
beim Spiele? Ich weiß es nicht und glaube es kaum. 
Ob es gelernte Kuͤnſte ſind, die er produziert? Gewiß. 
Aber ich meine doch, wer ſolche Kuͤnſte lernen und jo 
lernen koͤnne, der muͤſſe doch vorher empfunden und 
aus einem Geiſte geſchoͤpft haben, welcher der Vater 
der Technik und nicht ihr Sohn iſt. (1878) 


König Lear im Burgtheater 
Anſchuͤtz—- Wagner —Foͤrſter—Hallenſtein 


Seit Heinrich Laube hat noch jede Leitung des 
Burgtheaters eingeſehen oder dunkel empfunden, daß 
ein Repertoire dieſer Buͤhne ohne Shakeſpeares „Koͤnig 
Lear“ nicht recht denkbar ſei, daß ihm mit dieſem 
Trauerſpiel etwas vom Beſten fehle. Maßgebend fuͤr 
dieſe Anſicht war nicht ausſchließlich der Wert der 
Dichtung ſelbſt, ſondern ebenſoſehr die unaustilgbare 
Erinnerung an die großartige Darſtellung, die das 
Shakeſpeareſche Stuͤck, und zumal die Rolle des Lear, 
im Burgtheater weiland gefunden. „Koͤnig Lear“ iſt 
ein alter Ruhm der Burg, der ſich bekanntlich an den 
Namen Anſchuͤtz heftet. So maͤchtig und alle anderen 
Rollen des großen Schauſpielers uͤberwuchernd war 
der Eindruck dieſer Leiſtung, daß man, von Anſchuͤtz 
und ſeiner Kunſt ſprechend, nur noch von ſeinem Lear 
zu ſprechen ſchien. In dieſer Rolle, nahm man ſtill— 
ſchweigend an, habe dieſer Schauſpieler die reichen 
Quellen ſeiner Natur erſchoͤpft; ſie ſei ſein Beſtes, ja 
uͤberhaupt das Beſte der deutſchen Schauſpielkunſt 
großen Stils. Wer nun das gluͤckliche Alter beſitzt, 
um Anſchuͤtz als Lear geſehen zu haben (und das Alter 
iſt nur inſofern gluͤcklich, als man Gutes und Schoͤnes 
erlebt hat), der wird beſtaͤtigen, daß die volkstuͤmliche 
Meinung uͤber Anſchuͤtz nicht fehlgriff. Er hat auch 
ſonſt bedeutende Rollen gehabt, — ſein Muſikus Miller, 


6 83 


fein Erbförfter find unvergeßlich, — aber im Lear 
waren auch dieſe Rollen mit enthalten, und ſo gab 
Lear einen vollſtaͤndigen Inbegriff feiner Kräfte. An- 
ſchuͤtz lebt in der Buͤhnengeſchichte fort als Lear. 
Schon fruͤhzeitig iſt Lear an Anſchuͤtz herangetreten. 
Er hat die Rolle nicht gewaͤhlt, ſie iſt ihm entgegen— 
gebracht, ja aufgezwungen worden. Im Jahre 1824, 
als er noch kaum dem Burgtheater angehoͤrte, trat 
Schreyvogel mit der entſchiedenen Forderung an ihn 
heran, er moͤchte den Lear ſtudieren. Anſchuͤtz ſtraͤubte 
ſich dagegen. Er war damals ſechsunddreißig Jahre 
alt, hatte erſt Liebhaber und jugendliche Helden ge— 
ſpielt, und mit ebenen Fuͤßen ins Fach der Helden— 
väter hinuͤberzuſpringen, ſchien ihm bedenklich, ja ge— 
faͤhrlich. Indeſſen wurde das Kraftſtuͤck von ihm ver- 
langt, und da er nicht ausweichen konnte, machte er 
ſich mit einem „Es muß ſein“ an die ſchwierige Auf— 
gabe. Er nahm es damit gruͤndlich, die Schauſpieler 
von Gottesgnaden wuͤrden vielleicht ſagen pedantiſch. 
Es war in dieſem Manne bei aller Begeiſterung eine 
große nuͤchterne Kraft, bei allem Sinn fuͤr das Hohe 
eine ſchlichte buͤrgerliche Natur, bei aller Macht des 
Gemuͤtes eine verſtaͤndige Art, die ſich alles klar zu— 
rechtlegt. Er war ein wohl und wohnlich eingerichteter 
Geiſt. Hatte ihn die poetiſch-dramatiſche Wucht des 
Lear erſt geſchreckt, weil ſeine eigene Kraft ihr zu er— 
liegen drohte, ſo ſuchte er nun ſeiner Rolle auf dem 
Wege der Analyſe beizukommen. Er flog nicht be— 
geiſtert uͤber die Sache hin, ſondern gleichſam auf Fuß⸗ 


84 


fteigen ging er den Abſichten des Dichters nach. An- 
ſchuͤtz ſchrieb ſeine Gedanken nieder, und dieſe Nieder— 
ſchrift iſt uns in ſeinen „Erinnerungen“ erhalten. 
„Ich denke mir den Lear,“ ſo beginnt Anſchuͤtz, „als 
einen munteren, ruͤſtigen und jovialen Greis, der 
ſeine letzten Jahre noch ſorglos und heiter verleben 
will, und deshalb alle Regierungslaſten von ſich ent- 
fernt, und auf kraͤftigere Schultern überträgt ...“ 
So ſchlicht und klar, ohne Doktrin und Spekulation, 
wie dieſer Anfang, ſpinnt ſich das ganze Schriftſtuͤck 
fort; man gewahrt Lears Charakter und ſieht aus dieſem 
Charakter, aus ſeiner uͤbereilten Tat und den ſie be— 
gleitenden Umſtaͤnden das ungeheure Schickſal des 
Mannes ſich gleichſam logiſch entwickeln. Ein ſolches 
Beduͤrfnis, klar zu ſehen, beſaß Anſchuͤtz durchaus, und 
er ging nicht auf die Buͤhne hinaus, bevor ihm nicht 
jedes Wort, jeder Ton, jede Stellung feſtſtand. Es 
war ſeine Überzeugung, „daß der Schauſpieler nur bei 
innerer Ruhe imſtande ſei, ſeine Aufgabe zu uͤber— 
blicken, die Ausfuͤhrung anzuordnen und durch zweck— 
maͤßige Verteilung ſeiner Mittel zu beherrſchen.“ Das 
mag trocken geſprochen ſein und gar nicht im Sinne 
jener Enthuſiaſten, die in der Kunſt alles Gelingen der 
Begeiſterung des Augenblickes zuſchreiben wollen. Aber 
gerade im Gegenteil: wie kann ich mich der Erregung 
des Moments hingeben, wenn ich nicht vorbereitet und 
meiner Sache ſicher bin? Alle echte Begeiſterung in 
der Kunſt iſt eine geſchulte, aber allerdings hat ſie auch 
die Schule hinter ſich. 
85 


Der darſtellende Kuͤnſtler in Anſchuͤtz war ein 
anderer Menſch als der ſchriftliche Analytiker. Denkend 
und ſchreibend ſuchte er ſich ſeine Sache klarzumachen, 
auftretend und darſtellend war ſie ihm klar. Was 
Anſchuͤtz über den Lear geſchrieben, gibt keine Vor⸗ 
ſtellung von der Art und Weiſe, wie er ihn ſpielte. 
Die Bretter der Buͤhne ſind ein Element, das den 
Schauſpieler ganz anders traͤgt als das Papier. Nun 
kommt es nicht mehr darauf an, daß er uͤber die Rolle 
denke, ſondern daß die Rolle aus ihm denke. Und ſo 
war es bei Anſchuͤtz, wenn er den Lear ſpielte; er 
ſchien ihn nicht zu ſpielen, er ſchien Lear ſelbſt zu ſein. 
Nicht gleich Iffland, legte er den Lear als einen ge— 
brechlichen Greis an, ſondern er gab das Bild des 
gruͤnen Uralters, das ſich noch manches zumuten kann 
und ſich noch etwas mehr zumutet. Mit einem hitzigen 
Entſchluſſe, wie er alten Leuten von Temperament 
eigen zu ſein pflegt, ſchenkt er ſeine Krone weg, ohne 
zu bedenken, daß er mit ihr auch ſeine Wuͤrde ver— 
ſchenken koͤnnte. Man ſieht ihn von einem roſigen 
Optimismus beherrſcht. Da kommt Cordelia, ſeine 
Lieblingstochter, und verweigert ihm die ſchmeichleriſche 
Huldigung der uͤbrigen Toͤchter. Hier nun ließ An⸗ 
ſchuͤz nach kurzem, ſtaunendem Befremden ſogleich 
merken, welche Heftigkeit der Empfindung in dem 
alten Manne wohne. Man hat den Donner grollen 
gehoͤrt und iſt vorbereitet auf ein großes Gewitter. 
In den Geſpraͤchen mit den ſchnoͤden Töchtern Goneril 
und Regan entrollte Anſchuͤtz ein reiches Bild von dem 


86 


Innern Lears: wie entgegengeſetzte Empfindungen fich 
in ſeinem Gemuͤte hin- und herwerfen, wie er wechſelt 
zwiſchen Liebe und Haß, wie er nicht glauben kann, 
was er ſieht, und wie er der Notwendigkeit, es glauben 
zu muͤſſen, faſt erliegt. Anſchuͤtz' Lear war ſtark und 
herrlich im Fluchen und Verwuͤnſchen; wenn er aber, 
wie er es pflegte, aus der hohen Tenorlage Toͤne der 
Liebe und der Ruͤhrung herabholte, und fie an die un— 
menſchlichen Töchter verſchwendete, dann war er uns 
widerſtehlich, die Gemuͤter bezwingend. Das Kind im 
Greiſe, das hilfloſe Kind, das Liebe gibt und fordert, 
und die zitternden Haͤnde nach einem mitfuͤhlenden 
Herzen vergebens ausſtreckt, wurde von Anſchuͤtz im 
Charakter Lears unvergleichlich betont. Erſchuͤtternd, 
daß Mark und Bein zitterte, mit einem Aufſchrei, der 
uns heute noch im Ohre bebt, gab Anſchuͤtz den Mo— 
ment, da ſich das Einbrechen des Wahnſinns in Lears 
Seele meldet; es war wie der Angſtruf und Weheſchrei 
einer untergehenden ſchoͤnen Welt. Und nun das 
Eintreten des Wahnſinns ſelbſt, wie er ſich an dem ver— 
ſtellten Wahnſinne Edgars ausbruͤtet, dies Hinhorchen, 
Geheimtun, Wiſpern, dieſes wolluͤſtige Hineingleiten 
in das geiftige Chang — man mußte es ſehen und 
hoͤren, denn Worte koͤnnen es nur andeutend be— 
ſchreiben. Hoͤchſt feinfuͤhlig ging dann Anſchuͤtz in den 
eigentlichen Wahnſinn ein. Shakeſpeare iſt in ſeinen 
Darſtellungen des Wahnſinns darum ſo lebensvoll 
und uͤberzeugend, weil er die tollſten Außerungen ſtets, 
wenn auch mit noch fo duͤnnen Fäden, an die Wirklich- 


87 


keit Inüipft. Seine Wahnſinnsdarſtellungen find nicht 
ſinnlos, ſondern fie geben eine verzerrte, eine verrückte 
Wirklichkeit wieder. Sein Wahnſinn ift ein Schwaͤrmen 
von den wirklichen Dingen, ein verworrenes Suchen 
nach der Vernunft. Wie ſachgemaͤß daher in Anſchuͤtz' 
Darſtellung jenes aufmerkſame, nun mißtrauiſche, 
dann wieder ahnungsvolle Beſchauen der Dinge und 
Menſchen, jenes nur zeitweilig durch wilde Rufe unter— 
brochene Hineinhorchen in ſich ſelbſt. Und dann wieder, 
mit ungebrochenen, maͤchtigen Lauten verkuͤndigte An⸗ 
ſchuͤtz jenen, die ganze Welt verfluchenden tragiſchen 
Peſſimismus, der aus herben Lebenserfahrungen her— 
vorgegangen. Keine Steigung ſchien von hier an 
moͤglich zu ſein, und doch brachte ſie Anſchuͤtz zuſtande. 
In der Szene, da Lear aus dem heilſamen Schlafe er— 
wacht und Cordelia erblickt, — wer beſchreibt dieſe 
ruͤhrenden Töne der Selbſtanklage, dieſes allmaͤhliche 
Auftauen des Herzens, dieſes kindliche und kindiſche 
Jauchzen uͤber das Wiederfinden des hart geſchmaͤhten, 
treuen, liebenden Kindes! Es waren Momente der 
Ruͤhrung, da man ſich der Tränen nicht ſchaͤmte. 
Nach ſolchem Lear wieder einen Lear zu finden, 
welche Schwierigkeit fuͤr das Burgtheater! Indeſſen, 
man wollte das Stuͤck, und mußte ſo auch den Lear 
wollen, den man gerade hatte. Nach Anſchuͤtz hat 
Joſeph Wagner den Lear geſpielt. Er hat ihn ge— 
ſpielt, als ſeine Kraft ſchon geſunken, und das einſt ſo 
toͤnende Metall ſeiner Stimme ſtumpf geworden war. 
Übrigens lag die Rolle nicht in der Richtung ſeines 


88 


Talents; denn Wagner, der mehr auf das Glaͤnzende, 
unmittelbar Wirkſame angelegt war, beſaß nicht die 
Faͤhigkeit, ſo verſchiedene Elemente, wie ſie im Lear 
liegen, lebendig in ſich zu verbinden. Was Wagner 
auszeichnete, war eine gleichſam animaliſche Waͤrme, 
jene Seele (anima), die im Blut liegt, und die ohne 
weitausblickenden Geiſt wohl denkbar und trotzdem, 
wo ſie ausreicht, ihrer großen Wirkung ſicher iſt. Dann 
wurde Lear von Auguſt Foͤrſter geſpielt, einem ge— 
bildeten, denkenden Schauſpieler, der uͤber Lear ſo gut 
ſchreiben koͤnnte wie Anſchuͤtz, ohne ihm deshalb als 
Darſteller an die Schulter zu reichen. Foͤrſter hat 
noch den Lear von Anſchuͤtz geſehen, und das ſah man 
ſeiner Darſtellung an. Er taͤuſchte den großen Schau— 
ſpieler nach, ohne deſſen innere Motive zu beſitzen. 
So verhaͤlt ſich der Napoleon im Wachsfigurenkabinett 
zum wirklichen — eine ſchreckliche Ahnlichkeit! Zuletzt 
nun iſt Lear an Herrn Hallenſtein gekommen („herab— 
gelangt“ ſagt man im amtlichen Stil). Naturlich 
ſchließen wir jede Vergleichung mit Anſchuͤtz aus, die 
fuͤr Herrn Hallenſtein beleidigend waͤre; aber gewiß 
ſteht er hoͤher als ſeine beiden Vorgaͤnger. Er leidet 
nicht an der Tradition, hoͤchſtens hat er einiges von 
Roſſi gelernt. Herr Hallenſtein verfügt über die un— 
gewoͤhnliche phyſiſche Kraft, welche die Rolle des Lear 
erfordert, ja die Mutter Natur hat ihm noch einen 
Überſchuß gewaͤhrt, und er waͤre der Mann, nach dem 
Lear noch einmal den Lear zu ſpielen. Er hat Nerven 
von Stahl und eine Stimme dauerhaft wie Blech. 


89 


Nun muß man aber fagen, daß ſein Lear eine hoͤchſt 
achtungswerte, ſelbſt eine tuͤchtige Leiſtung iſt. Zur 
naͤheren Zergliederung ladet ſie nicht ein, wohl aber zu 
einem Lobe in Bauſch und Bogen. In dieſem Lear 
zeigt ſich ein mit leiblichen Mitteln wohlverſehener 
Schauſpieler, der ſein Handwerk verſteht, und ein un- 
gemeines Talent des Fleißes beſitzt. Leicht laͤßt ſich 
freilich ein hoͤher geſtimmter Lear denken, allein, er 
iſt aus einem Stuͤcke, und ſo iſt Stil in ihm. Uns iſt 
in Herrn Hallenſteins Darſtellung nur ein einziger 
Verſtoß gegen den guten Geſchmack aufgefallen, naͤm⸗ 
lich, wo er bei den Worten: „Jeder Zoll ein Koͤnig!“ 
die Haͤnde uͤber den Kopf hinaus bewegt. Lear mag 
ſich bei dieſer Stelle in die Bruſt werfen, aber es iſt 
kein Zuwachs an Wuͤrde, wenn man durch die empor— 
gehaltenen Haͤnde die Arbeit fuͤr den Zollſtab erweitert. 

Zuletzt muß man Herrn Hallenſtein noch dankbar 
ſein, daß er die Wiederaufnahme des „Koͤnig Lear“ 
moͤglich gemacht. Wien kann den Lear nicht miſſen: 
er gehoͤrt zur Mythologie des Burgtheaters. 


(Am 9. November 1879) 


Zweites Gaſtſpiel der Meininger 
in Wien 

Bei ihrem zweiten Wiener Gaſtſpiele iſt vielleicht 
die Zeit gekommen, tiber die vielgefeierten und viel- 
beſtrittenen Meininger ein unbefangenes Wort zu 
ſagen, ihnen endlich, wie die Redensart lautet, gerecht 
zu werden. Seit dem letzten Male iſt das Meininger 
„Kaninchen“ zu einer wahren Rieſengroͤße gediehen 
und hat auch da und dort kleine Junge geworfen. 
Allerwaͤrts auf unſeren Theatern verſpuͤrt man den 
Einfluß der Meininger, ja man hat ſich nachgerade 
daran gewoͤhnt, ihre ſchauſpieleriſche Methode als 
eine große deutſche Buͤhnenangelegenheit zu betrachten. 
Bei Gelegenheit ihres erſten Aufenthalts in Wien ſind 
ſie hart von uns angelaſſen worden, und nach dem Ur— 
teile mancher Leute iſt damals das Kind mit dem Bade 
ausgeſchuͤttet worden. Verſuchen wir einmal, das 
ſchreiende Kindlein feſtzuhalten, indeſſen das Bade- 
waſſer ablaufen mag. 

Das Prinzip der Meininger, die Dichtung ins 
Anſchauliche hervorzutreiben, hat ſich im Verlauf ihres 
gegenwaͤrtigen Gaſtſpieles wiederholt gluͤcklich bewaͤhrt. 
Wir nennen zuerſt Shakeſpeares „Wintermaͤrchen“, 
an dem ſie ihre Geſchicklichkeit erfolgreich bekundet 
haben. Wer wollte auch nicht ein Schauſpiel, das ſich 
ſelbſt als Maͤrchen gibt, in den bunteſten Farben er- 
bluͤhen ſehen, ihm nicht alles, was Ohr und Auge labt, 


91 


zur Verfiigung geftellt wiſſen? Es wird glaublicher 
und wunderbarer zugleich, wenn es zu den Sinnen 
ſpricht, und wenn das Auge unmittelbar anſchaut, was 
der gruͤbelnde Verſtand nur muͤhſelig zuſammenreimen 
koͤnnte. Der Sprung uͤber ſechzehn Jahre hinweg, 
der uns im Buche nicht ohne Anſtrengung gelingt, wie 
wird er leicht und ſicher auf der Buͤhne getan, wenn 
uns die Anſchauung von dem ſchweren Schuhwerk der 
Reflexion befreit! Und ſo iſt es mit allem und jedem, 
was uns die Sache gibt und die Überlegung erſpart. 
Dem Zuge der Anſchaulichkeit haben ſich nun die 
Meininger bei der Szenierung des „Wintermaͤrchens“ 
mit voller Luſt hingegeben. Gewaͤnder, Landſchaften, 
innere Raͤume, alles hat einen maͤrchenhaften Glanz; 
Gruppen, Bilder, Maſſenbewegungen, alles iſt uͤber— 
ſichtlich, lebendig, unmittelbar uͤberzeugend. Das 
Koͤnigsgericht auf offenem Markt wird jedermann als 
bewegtes hiſtoriſches Gemälde im Gedaͤchtnis be— 
wahren, da es beſſer iſt, als irgend etwas, das gegen— 
waͤrtig aus den Werkſtaͤtten unſerer Maler hervorgeht. 
Der großen laͤndlichen Szene haben ſich die Meininger 
mit beſonderer Liebe angenommen, indem ſie jeden 
ihrer Beſtandteile, der ſich durch Geſtalt, durch Farbe 
oder Reiz der Bewegung dem Auge empfiehlt, maleriſch 
ausbeuteten. Man ſieht die verliebten Paare zaͤrtlich 
oder einander neckend; das Plumpe ſteht dem Lieb- 
lichen gegenuͤber, das Komiſche dem Ernſten; der 
Reigen, der Tanz fuͤhrt anmutige Gruppen herbei; 
der Marktſchreier lockt die Neugierigen und entfeſſelt 


92 


ihre Geſangsluſt, und zuletzt gewährt das Auftreten 
der Ruͤpel ein himmliſches Gaudium. Man gibt ſich 
ganz, man moͤchte ſagen gedankenlos, der gluͤcklichen 
Folge dieſer ſich auseinander entwickelnden Bilder hin, 
ohne ſich ein einzigesmal zu fragen, ob vielleicht die 
Handlung ſtillſtehe. Mag ſie doch immer ſtillſtehen, 
wenn der Stillſtand ſo ergoͤtzlich iſt! Und obendrein 
befinden wir uns ja in einem Maͤrchen, das von Haus 
aus einen ſachten Gang nimmt und dem es wohl 
geſtattet ſein mag, die Blumen am Wege zu pfluͤcken. 

Ja, Maͤrchen uͤber Maͤrchen, und die Zeit, in der 
ſie ſpielen — wie Hebbel bei einem ſeiner Stuͤcke ſagt 
— „die poetiſche“. Die Freizuͤgigkeit der Maͤrchen—⸗ 
welt hat ſich Shakeſpeare und haben ſich die Meininger 
zunutze gemacht. Die Kritik muß uͤber ſich ſelbſt 
laͤcheln, wenn ſie hier mit uͤberlegener Geſcheitheit 
ihres Amtes walten will. Shakeſpeare mag immerhin 
Boͤhmen ans Meer verlegen, er mag zu einer und der— 
ſelben Zeit das delphiſche Orakel weisſagen und den 
Giulio Romano malen laſſen, er braucht deshalb nicht 
einmal ein geographiſch-hiſtoriſcher Ignorant zu ſein, 
denn die dichteriſche Selbſtherrlichkeit, das abſolute 
Maͤrchenrecht gibt ihm die Befugnis, die Zeiten und 
Raͤume dergeſtalt durcheinanderzuwirren. In ihrer 
Szenierung des „Wintermaͤrchen“ haben die Meininger 
dem Dichter ſeine Anachronismen nachgemacht, ſei es 
nun aus Abſicht oder aus kongenialer Ungeniertheit. 
Da iſt zum Beiſpiel unter ihren Dekorationen ein vor- 
nehmes Interieur, welches in Geraͤten und Gemaͤlden 


7 


aus verſchiedenen Zeiten borgt. Den Mantel des 
Kamins zieren da Figuren, die dem Giottino angehoͤren 
koͤnnten, waͤhrend an einem Betpult ein Bild an— 
gebracht iſt, deſſen aufgeregtes Farbenweſen an die 
Schule von Bologna erinnert; da traͤgt ein Seſſel 
das reiche Stilgepraͤge der Fruͤhrenaiſſance, während 
ein Kaſten in der Ecke durch ſeine maſſiven Baͤnder 
und ſein ſtarkes Schloß an die unſicheren Zeitlaͤufte 
des Dreißigjaͤhrigen Krieges gemahnt. Spruͤnge uͤber 
Zeitalter und Laͤnder hinweg, wie bei Shakeſpeare, 
eine hiſtoriſche Rumpelkammer, wie bei ihm. Gewiß 
ein Greuel fuͤr den Pedanten, aber uͤber alle dieſe 
Ungeſchichtlichkeiten und Widerſpruͤche hilft ein wenig 
Naivitaͤt gluͤcklich hinweg. Den Meiningern bleibt 
jedenfalls das Verdienſt, Shakeſpeares „Winter— 
maͤrchen“ fuͤr das Auge lebendig gemacht zu haben. 
Das Stuͤck erlaubt nicht bloß dieſe Hilfeleiſtung, fon- 
dern es iſt derſelben ſogar ſehr beduͤrftig. Es iſt ein 
halb kuͤnſtliches, halb loſes Gewebe, das keinen tieferen 
Anteil in uns erweckt. Als wir es nach langer Zeit 
wieder ſahen, klang uns ein halbvergeſſenes Urteil 
wieder im Ohre, das vor einigen Jahren der Literar— 
hiſtoriker Goͤdeke uͤber Shakeſpeares Luſtſpiel gefaͤllt. 
In ſeinem „Grundriß zur Geſchichte der deutſchen 
Dichtung“, worin er auch der dramatiſchen Dichtung 
Oſterreichs ein warmes Intereſſe entgegenbringt, ſagt 
er von Ferdinand Raimund, „daß er allenfalls neben 
Shakeſpeare geſtellt worden waͤre, mit dem er den 
Vergleich nicht zu ſcheuen braucht, wenn er nicht das 


04 


Ungluͤck gehabt hätte, bloß ein deutſcher Dichter geweſen 
zu ſein“. „Der Brite,“ faͤhrt Goͤdeke fort, „mag geiſt— 
reich⸗manierierter ſein in ſeinen Luſtſpielen, er mag vom 
engliſchen Nationalſtandpunkte der erſte und einzige 
Dichter der Welt ſein, fuͤr uns bleibt er eine relative 
Groͤße, wie Raimund fuͤr die Englaͤnder; was engliſcher 
Humor iſt, haben wir ſattſam und bis zum Überdruſſe 
aus und an ihm lernen muͤſſen; was deutſcher Humor 
iſt, koͤnnten unſere Aſthetiker aus der Huͤttenkaufſzene 
in Raimunds „Alpenkoͤnig“ lernen, wenn Tatſachen 
fuͤr ſie belehrend waͤren und nicht alles, was auf 
unſerem Boden waͤchſt, nach dem Maßſtabe und Ge— 
wichte des Auslandes gewogen und gemeſſen 
würde..." Den gereizten und bitteren Ton ab— 
gerechnet, koͤnnen wir, im Hinblick auf das „Winter: 
maͤrchen“ und Raimunds „Alpenkoͤnig und Menſchen— 
feind“, mit Goͤdeke wohl einverſtanden ſein. Auch 
uns ſteht das Raimundſche Stuͤck an menſchlichem und 
humoriſtiſchem Intereſſe naͤher und hoͤher als das 
„Wintermaͤrchen“. Und weil dem ſo iſt, gehoͤrt, 
meinen wir, das „Wintermaͤrchen“ von Rechts wegen 
den Meiningern und ihren ſinnlichen Belebungs— 
kuͤnſten. 

Auch Schillers „Wilhelm Tell“ gehoͤrt ein wenig 
den Meiningern, wenn auch aus ganz anderen 
Gruͤnden. Man ſucht naͤmlich in dieſem Schauſpiele 
vergebens nach einem einzelnen Helden. Tell ſelbſt 
ſteht nicht hoͤher als alle die anderen Schweizer neben 
ihm; ein gewiſſes Mittelmaß geiſtiger und ſittlicher 


95 


Begabung ift ihm und ihnen eigen. Nun ſummieren 
und potenzieren ſich die einzelnen Kraͤfte zu einem 
mächtigen, unwiderſtehlichen Ganzen, das wie eine ges 
ſteigerte Perſoͤnlichkeit wirkt. So iſt der eigentliche 
Held des Stuͤckes das Volk ſelbſt. Dieſem Helden iſt 
die Ruͤtliſzſene gewidmet, die Krone der ganzen 
Dichtung. Hier, unter freiem Himmel, inmitten ihrer 
Berge, tagt und beſchließt die Gemeinde. Hier ſteift 
und ſtuͤtzt ſie ſich auf den breiten Grund des hiſtoriſchen, 
des gewachſenen Rechtes, feſt entſchloſſen, ſich durch 
Willkuͤr und Gewalt nicht von der Stelle ruͤcken zu 
laſſen. Den Draͤngern gegenuͤber ſchlaͤgt aber dieſer 
hiſtoriſche Sinn unmittelbar in revolutionaͤre Ge— 
ſinnung um, die in den herrlichen Verſen verewigt iſt: 


Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht! 

Wenn der Gedruͤckte nirgends Recht kann finden, 
Wenn unerträglich wird die Laſt — greift er 
Hinauf getroſten Mutes in den Himmel 

Und holt herunter ſeine ew'gen Rechte, 

Die droben hangen unveraͤußerlich 

Und unzerbrechlich wie die Sterne ſelbſt. 


Wie nun das Volk ſelbſt der Held des Stuͤckes iſt, 
ſo iſt die Landſchaft, in welcher es ſpielt, keine bloße 
Dekoration, ſie iſt vielmehr das Element, das dieſe 
Jaͤger, Hirten, Bauern traͤgt, das ſie ſchuͤtzt und mit 
verteidigen hilft, das durch ſeine Großartigkeit ihre 
Seele zu ſich emporhebt. Die Natur und das Volk, 
dieſe beiden elementariſchen Maͤchte, teilen ſich in die 


96 


demokratiſche Szene der Verſchwoͤrung auf dem Ruͤtli. 
Das hat Schiller wohl empfunden, und deshalb hat er 
es nicht dem Regiſſeur uͤberlaſſen, die Dekoration zu 
erfinden, ſondern er hat die eingehendſte dekorative 
Angabe mit eigener Hand geſchrieben. Schiller be— 
ſtimmt den Schauplatz der Ruͤtliſzene folgendermaßen: 
„Eine Wieſe, von hohen Felſen und Wald umgeben. 
Auf dem Felſen ſind Steige mit Gelaͤndern, auch 
Leitern, von denen man nachher die Landleute herab— 
ſteigen ſieht. Im Hintergrunde zeigt ſich der See, 
uͤber welchem anfangs ein Mondregenbogen zu ſehen 
iſt. Den Proſpekt ſchließen hohe Berge, hinter welchen 
noch hoͤhere Eisgebirge ragen. Es iſt voͤllig Nacht auf der 
Szene, nur der See und die weißen Gletſcher leuchten 
im Mondenlicht ...“ Wer ſieht nicht, daß dies keine 
Dekorationsangabe im gewoͤhnlichen Stile iſt, die nur 
auf Farbe und Glanz hinarbeitet, daß vielmehr alles 
auf eine bedeutſame Handlung vorbereiten ſoll? Ganz 
in dieſem Geiſte ſind die uͤbrigen ſzeniſchen Winke ge— 
halten, und am Schluſſe der Szene wird der Regiſſeur 
Schiller faſt warm, wenn er ſchreibt und vorſchreibt: 
„Indem ſie zu drei verſchiedenen Seiten in groͤßter 
Ruhe abgehen, faͤllt das Orcheſter mit einem pracht— 
vollen Schwung ein, die leere Szene bleibt noch eine 
Zeitlang offen und zeigt das Schauſpiel der aufgehen— 
den Sonne uͤber dem Eisgebirge ...“ Zugleich als 
mitverbuͤndete Macht der Schweizer und als ſymboli— 
ſchen Spiegel behandelt Schiller in „Wilhelm Tell“ 
die Natur. 


ıIV]7 97 


Welch ein Treffer fir die Meininger, dieſes Schau: 
ſpiel von Schiller! Sie find ja gerade die Meiſter in 
der Behandlung von Volksſzenen, in der Herſtellung 
glaͤnzender und blendender Dekorationen. Das Volk 
der Held, die Landſchaft ſein Mitverbuͤndeter! Kein 
Wunder, daß gerade „Wilhelm Tell“ zu den voll- 
endetſten Regieleiſtungen der Meininger gehoͤrte. Kein 
Geringerer als Schiller ſelbſt hat uns die Schilderung 
der Meininger „Tell!-Darſtellung vorweggenommen, 
indem er ſeine eingehenden ſzeniſchen Angaben nieder— 
ſchrieb. Freilich, ſo gluͤcklich wie hier, iſt es ihm mit 
den Meiningern nicht immer gelungen. Wie fallen bei 
ihnen die „Räuber“ gegen den „Wilhelm Tell“ ab! 
In den „Raͤubern“ ſtellen ſich perſoͤnliche Geſchicke dar, 
der Chor tritt zuruͤck, das Individuum vor; man muß 
einen tuͤchtigen Karl Moor, einen wirkſamen Franz, 
eine gute Amalie auf die Beine ſtellen koͤnnen. Mit 
einer noch ſo vorzuͤglichen Darſtellung der Raͤuber— 
bande ſelbſt, dieſes Schwarms verruͤckter Schwaben, iſt 
es noch lange nicht getan. 

Und hier beruͤhren wir die wunde Stelle der 
Meininger. Sie nehmen die Bezeichnung Schauſpiel 
zu ſehr beim Wort. Sie beuten die Dichtung zu ein— 
ſeitig fuͤr das Auge aus, und ſcheinen das Haupt⸗ 
beſtreben zu haben, den Schauſpieler uͤberfluͤſſig zu 
machen. Von ihren Schauſpielern uͤberragt hoͤchſtens 
Herr Kainz das Mittelmaß, und auch ſein Talent iſt 
noch ſo herb, wie ein friſch gepfluͤckter Holzapfel. Bei 
den uͤbrigen muß man nicht ſelten daran denken, daß 


98 


das Hauptfabrikat der Stadt Meiningen jene Puppen 
ſind, die zum Entzuͤcken unſerer Kinder „Ma-ma“ und 
„Pa⸗pa“ ſagen koͤnnen. Ein Schauſpieler, der ein 
Stuͤck auf ſeinen Schultern tragen koͤnnte, iſt unter der 
Meininger Truppe nicht vorhanden. Hat ſolche Zu— 
ſammenſetzung des Perſonals die Beſtrebungen der 
Meininger hervorgerufen, oder haben dieſe Beſtre— 
bungen die guten Schauſpielkraͤfte ausgeſtoßen? Das 
Ergebnis iſt dasſelbe, ſei nun die Not zur Tugend oder 
die Tugend zur Not gemacht worden. Bewegte Gruppe, 
Bild, Dekoration — das iſt den Meiningern alles, 
und darin find fie Virtuoſen. Die Meininger — oder 
reißen wir dieſem Kollektivbegriff endlich die Maske 
ab, und ſagen wir einfach: Direktor Chronegk, denn 
dieſer iſt die Seele des ganzen Unternehmens, — alſo 
Direktor Chronegk iſt ein in ſeiner Art bewunderns— 
werter Mann, und wir ſtaunen, daß er immer noch 
frei in der Welt umhergeht und nicht vielmehr zum 
Beiſpiel im Wiener Hofoperntheater als Oberregiſſeur 
wirkt. Herr Chronegk hat fuͤr alles Szeniſche ein 
eminentes Auge und die gluͤcklichſte Hand. Er baut 
und bewegt Gruppen aus drei, zehn, hundert Per— 
ſonen, in welchen jeder einzelne ſich zum Ganzen be— 
wegt und ein ſchoͤnes Verhaͤltnis ſich ins andere ver— 
ſchiebt. Er weiß ein Zimmer, einen Saal geſchmackvoll 
einzurichten, er kennt die maleriſchen Reize der Archi— 
tektur und der Landſchaft. Aber ſo erſtaunlich er in 
ſolchen und aͤhnlichen Dingen arbeitet, ſo ſcheint er doch 
nur fuͤr dieſe Dinge ſich zu intereſſieren. In dem 


7 99 


Sinne feiner Neigung und ſeiner Technik ſpringt er 
mit den Dichtungen um. Am Anfange und am Ende 
jeder Szene braucht er eine Überraſchung, einen Effekt, 
und deshalb pflegt er faſt jede Szene von der andern 
abzuſcheiden, ſie durch den Zwiſchenvorhang zu 
iſolieren. Durch ſolches Vorgehen verliert der Zu— 
ſchauer das Gefuͤhl des Zuſammenhanges, geht der 
kuͤnſtleriſche Aufbau eines Theaterſtuͤckes buchſtaͤblich 
in die Bruͤche. Die Dichtung wird vor unſeren Augen 
zerſtuͤckelt, was wir ſehen find disjecti membra 
poetae. Was die Neugier, die Schauluſt, die Zer— 
ſtreuung gewinnt, geht an geſammeltem poetiſchen Ge— 
nuß verloren. Mit jener Trennung der Szenen faͤllt 
auch die Zwiſchenaktsmuſik weg, und mit ihr ein be— 
deutendes Stimmungsmittel. Man hat es zwar oft 
eine Entwuͤrdigung der Muſik geheißen, ſie zur Aus— 
fuͤllung der Zwiſchenakte zu benutzen. Nur was recht 
und billig iſt! Wenn die Muſik in der Oper die 
Dichtung knechtet, kann ſie wohl im Schauſpiel als 
Magd dienen. Die Zwiſchenaktmuſik iſt unſerem Ge— 
fuͤhl nicht entbehrlich; durch ideale Faͤden knuͤpft ſie 
Akt an Akt, und ſelbſt wenn man nicht auf ſie achtet, 
klingt ſie dunkel und wohltuend in unſerem Innern 
fort. Wo ſie fehlt, macht ſich ein nuͤchternes Element 
im Theater geltend. 

Es waͤre unverzeihlich, wollten wir ſchließlich den 
Meiningern nicht fuͤr manchen Augenſchmaus dank— 
bar ſein. Sie ſind einſeitig, aber in ihrer Einſeitig— 
keit bedeutend. Sie ſind nicht nachahmenswert, aber 


100 


jeder Regiſſeur kann von ihnen lernen. Zwar bes 
reichert durch ſinnliche Anſchauung, aber innerlich nicht 
erbaut, kehren wir zuruͤck zu der echten Kunſt. Man 
hat oft das Gefuͤhl, daß die Meininger eigentlich fuͤr 
die tauben Menſchen ſpielen. Nach der Saͤttigung des 
Auges verlangt auch das Ohr ſein Recht. Der gute 
Schauſpieler iſt und bleibt doch das A und O der 


een (Am 15. November 1879) 


Tommaſo Salvini 


Adelaide Riſtori, Erneſto Roſſi und Tommaſo Sal: 
vini — ſo folgen ihre Namen dem Alphabet, nicht der 
kuͤnſtleriſchen Wuͤrde nach, aufeinander — ſind alle 
drei aus der Schule des Advokaten, Patrioten, Revo— 
lutionaͤrs und Schauſpielers Guſtavo Modena hervor— 
gegangen und beherrſchen ſeit ein paar Jahrzehnten die 
Buͤhne Italiens, ja durch ihre Gaſtfahrten diesſeits 
und jenſeits des Atlantiſchen Meeres ein wenig die 
Buͤhnen der Welt. Der Einfluß ihres Beiſpiels iſt 
auch bei uns uͤberall zu verſpuͤren, ſei es nun ein 
ſchaͤdlicher geweſen, wie weiland bei Julie Rettich, 
oder ein foͤrdernder, wie bei Sonnenthal und Hart— 
mann. Moͤgen nun jene drei hervorragenden Kuͤnſt— 
ler im einzelnen noch ſo weit auseinandergehen, in dem 
einen Punkte treffen ſie zuſammen, daß ihr Be— 
ſtreben vorzuͤglich darauf gerichtet iſt, durch eine ge— 
wiſſenhaft ausgebildete, buchſtaͤblich bis in die Spitze 
des kleinen Fingers laufende Technik den Eindruck der 
Wirklichkeit hervorzurufen. Sie ſind Schuͤler der 
Natur, Realiſten, wie alle bedeutenden Kuͤnſtler. Je 
nach dem Naturell des einzelnen, ſeinem geiſtigen Ver— 
moͤgen, ſeiner Bildung ſtuft ſich dieſer Realismus ab, 
und in verſchiedenen Miſchungsverhaͤltniſſen ſucht ſich 
die Wahrheit mit der Schoͤnheit zu verbinden. So 
ſind die Riſtori, Roſſi und Salvini trotz des gemein— 
ſamen Ausgangspunktes verſchieden geartete Schau— 


102 


ſpieler. An der Vergleichung ſolcher Verſchiedenheiten 
hat das Publikum ein natuͤrliches Vergnuͤgen, nur daß 
die Eroͤrterung ſich meiſtens falſch zuſpitzt, indem nicht 
nach der Eigentuͤmlichkeit eines jeden Kuͤnſtlers ge— 
forſcht, ſondern mit kindlicher Neugierde gefragt wird, 
welcher von ihnen der groͤßere ſei. Die Riſtori liegt 
uns in Wien zu fern, aber Roſſi und Salvini gegen— 
über wird jenes Frageſpiel ſchon ſeit einigen Jahren 
getrieben. Seit beide hier geweſen, denkt man ſich den 
einen nicht mehr ohne den andern, ſcheint man nur 
den einen durch den andern hindurch zu erblicken. 
Roſſi tritt auf, und man ſpricht ſofort von Salvini: 
Salvini erſcheint auf den Brettern, und gleich iſt 
Roſſis Name in aller Munde. Das beſte wird wohl 
ſein, den eben anweſenden Salvini einzeln und fuͤr ſich 
zu betrachten, als ob es nie einen Roſſi gegeben haͤtte, 
und dann um der allgemeinen Schwachheit willen 
einige vergleichende Worte uͤber beide zu ſagen. Viel— 
leicht wird ſich nicht einmal feſtſtellen laſſen, welcher 
von ihnen der Groͤßere ſei; aber muß denn notwendig 
einer der Groͤßere ſein? 

Salvini tritt auf, die Buͤhne belebt ſich. Er be— 
maͤchtigt ſich des Ohres, er feſſelt das Auge. Er hat 
ſich bewegt, hat geſprochen — Beifall von allen Seiten. 
Richtig ſprechen, ſich richtig bewegen, das iſt ja der 
ganze Inhalt der Schauſpielkunſt, zugleich ſo wenig 
und ſo viel. Dazu gehoͤren gute ſinnliche Mittel und 
die Fertigkeit, ſie zu gebrauchen. An ſeinem Organe 
beſitzt Salvini ein herrliches, jeder maͤchtigen Wirkung 


103 


und jeder feinſten Nuͤance gewachſenes Inſtrument. 
Seine Stimme iſt ein voller, weicher Baß, dem aber 
jede Hoͤhe des maͤnnlichen Sprechtones erreichbar iſt. 
An ſorgfaͤltiger Ausbildung kann Salvinis Stimme 
mit dem Organ eines gut geſchulten Saͤngers ver— 
glichen werden, ja es iſt keine Vergleichung, es iſt die 
Sache ſelbſt. Wie ein Saͤnger beſitzt Salvini ver— 
ſchieden ausgebildete Regiſter, die, ganz wie er es will 
und braucht, bei ihrem Übergange ineinander einen 
Bruch zeigen oder ſich unmerklich verbinden. Den 
natuͤrlichen Umfang der Stimme hat er durch ein Fal— 
ſett erweitert, ſo weich und biegſam, daß es dem lei— 
ſeſten Anſatz Folge leiſtet. Salvini verfuͤgt ſomit uͤber 
einen Stimmumfang, der keine Grenzen kennt, als die 
Natur ſelbſt, und ſeine Skala hat Toͤne fuͤr alle Ge— 
fuͤhle und Affekte, fuͤr alle Schattierungen von Ge— 
fühlen und Affekten. Salvini kann donnern und ſaͤu— 
ſeln, und was zwiſchen dieſen Extremen liegt, anmuti— 
ger Sprechton, Plaudern, Fluͤſtern, dann wieder 
gehaltener maͤnnlicher Ausdruck und wie dieſe unauf— 
zaͤhlbaren Dinge ſonſt heißen moͤgen — alles bringt er 
mit Leichtigkeit hervor. Man moͤchte behaupten: es 
gibt fuͤr einen Mann nicht mehr Dinge zu ſagen, als 
er zu ſagen weiß. Gluͤckliche Offnung des Mundes 
und leicht bewegliche Lippen unterſtuͤtzen ihn in dieſer 
Meiſterhaftigkeit des Sprechens. 

Das Sprechendſte in Salvinis Geſicht ſind ſeine 
lebhaften Augen. Sonſt beſitzt er jenen allgemeinen 
Schauſpielerkopf, der, an ſich ſelbſt nicht bedeutend, 


104 


die Möglichkeit vieler Köpfe in ſich ſchließt. Auf die 
Maske (wie auf das Koſtuͤm) verwendet Salvini große 
Sorgfalt. Er iſt heute nie, was er geſtern geweſen 
und was er morgen ſein wird. Das iſt der echte 
Schauſpieler, der dadurch gelten will, daß er ſich ſelbſt 
ausloͤſcht; ſein Reich iſt der Schein, und wirklich zu 
ſcheinen ſein groͤßter Triumph. Die Muskelbeweglich— 
keit des Geſichtes, jenes offene Arbeiten der Gedanken 
und Empfindungen, iſt bei Salvini ein nationales Erb— 
gut. Sein Geſicht wird nie nach einer andern Rich— 
tung ſtehen, als gerade nach der Seite, nach welcher 
ihm die Rolle zu denken vorſchreibt. Salvinis Wuchs 
zeigt gute Mittelgroͤße, die fuͤr das Gefuͤhl gleichſam 
uͤberſichtlicher zu beherrſchen iſt, als aufgeſchoſſene Ge— 
ſtalt mit langen Beinen und langen Armen. Trotz 
eines behaglichen Embonpoints hat Salvini ſeine ur— 
ſpruͤngliche Beweglichkeit nicht verlernt, iſt er immer 
noch ein behender, elaſtiſcher Mann mit langem Atem. 
Was er nun mit Hand und Fuß alles kann, iſt er— 
ſtaunlich. Die Hand, dieſes „Werkzeug der Werk— 
zeuge“, hat bei ihm ſo viel Ausdrucksmittel als Finger, 
ja in der Kombination der Haͤnde oder je nachdem 
ſie offen oder geſchloſſen ſind, ſteigern ſich dieſe Mittel 
ins Wunderbare. Arme und Beine haben ihre eigene 
Technik, der man, wenn Bewegungen raſch aufeinander— 
folgen, nicht immer auf die Spur kommt. Wir ſahen 
ihn beiſpielsweiſe als Othello Bewegungen, Evo— 
lutionen ausfuͤhren, die uns nur noch in ihrer Wirkung 
gegenwaͤrtig ſind. So war er in einem leidenſchaft— 


105 


lichen Moment vom mittleren Theaterraume ploͤtzlich 
an der Rampe angelangt, daß man glauben mußte, 
feine Arme ſeien ihm zu Flügeln geworden; fo kniete 
er nach einer Reihe blitzartig aufeinanderfolgender Be— 
wegungen ploͤtzlich nieder, und der Zuſchauer hatte nur 
die unvergleichliche Wirkung, die er vergeblich auf ihre 
Urſachen zuruͤckzufuͤhren ſuchte. Bei ſolcher Virtuofität 
des Schauſpielers darf man uͤbrigens nie vergeſſen, 
daß ſie nicht ganz ſein perſoͤnliches Werk, man muß 
vielmehr bedenken, daß ſie wenigſtens der Anlage und 
Moͤglichkeit nach eine nationale Erbſchaft iſt. Der 
maͤchtigſte Schauſpieler waͤre nicht imſtande, aus ſich 
heraus die Fuͤlle von Gebaͤrden zu erfinden, uͤber welche 
Salvini verfuͤgt. Es ſteht hinter ihm ein nationales 
Gebaͤrdenepos, das mit ſeinen Formeln durch das ganze 
Volk geht, von jedem gebraucht und von jedem ver— 
ſtanden. 

So macht Salvini die alte Überlieferung wieder 
wahr, daß der Schauſpieler imſtande ſei, durch bloße 
Beredſamkeit des Koͤrpers einen dramatiſchen Zuſam— 
menhang anſchaulich zu machen — eine Kunſt, die in 
unſerm Ballett verkuͤmmert iſt. Man denkt an den 
alten griechiſchen Philoſophen, der, erſt unglaͤubig, 
dann aber von der Kunſt eines Pantomimen tatſaͤchlich 
uͤberzeugt, mit Entzuͤcken ausrief: „Ich ſehe dich nicht 
bloß, ich höre dich: du ſprichſt mit den Händen!” ... 
Ein ſolcher Redner mit den Haͤnden iſt Salvini. Er 
wendet ſeine Gebaͤrdenſprache manchmal an, um uͤber 
die ſchwache Stelle einer Dichtung hinwegzutaͤuſchen, 


106 


dann und wann aber auch, um ſich mit feiner Kunſt 
ſelbſt zu regalieren. Worin man ſtark iſt, darin liebt 
man ſich. Ebenſo arbeitet er zuweilen mit ſeiner Kunſt 
des Sprechens. Sie kann gleichfalls der ſchwachen 
Stelle einer Dichtung zugute kommen, aber ſie kann 
auch zum Selbſtzweck werden. Er hat Momente, wo 
er in der bloßen Sprache ſchwelgt, ſich in ihrer Klang— 
ſchoͤnheit berauſcht, von ihren gelenken Gliedern, ihrem 
rhythmiſchen Fall ſich fortziehen laͤßt. Ein ſolches 
Klangkonzert iſt ein wahrer Ohrenſchmaus; die 
Sprache, von ihrem eigenen Wohllaut trunken, wirft 
den laͤſtigen Sinn der Worte ab und ſchaukelt ſich 
hinuͤber in den Bereich der Muſik. Der Schauſpieler 
ſteht dann neben dem Saͤnger. 

In Shakeſpeares Stuͤcken, den Dichtungen eines 
Schauſpielers, wo ſchon von Haus aus jedes Wort 
ſeine Gebaͤrde hat, findet Salvinis Kunſt reichlich 
Nahrung. Er ſchoͤpft jede Situation im vollen ſchau— 
ſpieleriſchen Sinne aus. In Wien kennt man Salvinis 
Othello und Hamlet ſeit geraumer Zeit, auch ſind beide 
Rollen viel beſprochen worden. Wer wollte die Rollen 
nicht intereſſant und namentlich ſchauſpieleriſch lehr— 
reich finden? Aber nach unſerem Gefuͤhl iſt Salvinis 
Othello vielfach zu weich, ſein Hamlet zu ſehr ins ein— 
zelne gearbeitet. Dort jammert und weint er zuviel 
(zu freigebige Anwendung des Falſetts), hier zerpfluͤckt 
er häufig die Saͤtze in Worte, die Worte in Bud): 
ſtaben. Ein ſolcher Othello wuͤrde ſeine Desdemona 
nicht anders aus der Welt ſchaffen, als ſie in Traͤnen 


107 


zu ertränfen, und ein Hamlet, der den Monolog: „Sein 
oder Nichtſein“ ſo doktrinaͤr zerlegt, waͤre in Witten— 
berg geblieben und Privatdozent geworden. Salvini 
betont nicht kraͤftig genug den Mann der Tat in 
Othello, den Soldaten, der ſo leicht den Weg zum 
Schwertgriff findet, und bei Hamlet wird die geiſtige 
Behendigkeit nicht genugſam anſchaulich gemacht, die 
mit ſeiner Schwerfluͤſſigkeit im Handeln in ſo grellem 
und für ihn jo verderblichem Kontraft ſteht. Das 
Schoͤne in dieſen Leiſtungen kennt man ja ohnehin. 
Zwei italieniſche Schauſpiele: „Francesca da Ri— 
mini“ von Silvio Pellico und „Sophokles“ von Giaco— 
metti, gaben dem beruͤhmten Gaſte Gelegenheit, ſich 
mit ganzer Luſt ſeiner nationalen Technik hinzugeben. 
Tiefere poetiſche Genuͤſſe waren da nicht zu holen, und 
wir muͤſſen geſtehen, daß wir in beiden Stuͤcken jedes— 
mal mit drei Akten uns begnuͤgten. In „Sophokles“ 
hebt ſich nur die Gerichtsſzene hervor, wo der greiſe 
Dichter, der Geiſtesſchwaͤche beſchuldigt, ſeine geiſtige 
Geſundheit durch den Vortrag eines Chorgeſanges aus 
dem eben gedichteten „Odipus auf Kolonos“ darzutun 
ſucht. Dieſer Vortrag war eine redneriſche Meiſter— 
leiſtung Salvinis. Vergebens hatten wir gehofft, die 
Schoͤnheit der antiken Tracht von Salvini ſchauſpiele— 
riſch ausgenuͤtzt zu ſehen — er ging jeder Verſuchung 
dazu eigenſinnig aus dem Wege und behandelte den 
an plaſtiſchen Motiven ſo reichen Überwurf der Grie— 
chen wie ein laͤſtiges Gewand. „Francesca da Rimini“ 
iſt ein lyriſches Drama, faſt moͤchten wir ſagen eine 


108 


geiprochene Oper, reich an Sprache und Empfindunge- 
ſchoͤnheiten. Wieder iſt es der Umſchlag der Handlung 
im dritten Akte, die beruͤhmte Liebeserklaͤrung, die am 
meiſten Wirkung hat. Hier nun war Salvini unerſchoͤpf— 
lich an geſprochenen und unartikulierten Lauten der Zärt- 
lichkeit. Solche Balzlaute waͤren freilich auf der deutſchen 
Buͤhne unmoͤglich; fie wuͤrden durch Gelächter oder durch 
Ziſchen unterdruͤckt werden. So ſtrenge ſcheiden ſich 
die nationalen Buͤhnen. Intereſſant iſt die Tatſache, 
daß auf Salvinis ausdruͤcklichen Wunſch vor dem 
dritten Akte des Trauerſpiels eine Walzerpartie (man 
ſagt uns „La Furia“ von Grenado) abgeſpielt wurde. 
Die Wahl der Stimmungsmittel gehoͤrt zu den Ge— 
heimniſſen des menſchlichen Gemuͤtes. Es gibt Men— 
ſchen, die weich werden und weinen, wenn ſie Schweine— 
fleiſch genoſſen; warum ſollten nicht Walzer durch 
die Kraft des Gegenſatzes tragiſch ſtimmen koͤnnen? 
Auf beide Seiten von Salvinis Talent haben wir 
fluͤchtige Lichter geworfen, und nun laͤßt ſich der zu— 
ruͤckgeſchobenen Frage uͤber das kuͤnſtleriſche Verhaͤltnis 
zwiſchen Roſſi und Salvini nicht laͤnger ausweichen. 
Die Antwort iſt kurz und buͤndig. Beide, Salvini 
und Roſſi, haben eine gleich große Technik; auch die 
kuͤnſtleriſche Ruhe im Ausgeſtalten ihrer Rollen iſt 
beiden gleich. Aber im gelegenen Moment entſcheidet 
ſich die Natur, der Charakter eines jeden: die Form 
des Temperaments kommt zum Vorſchein. Salvini 
kennzeichnet ſich durch ein behagliches Auseinander— 
legen der Dinge, durch ein ſchrittweiſes Eingehen auf 


109 


das einzelne; Roſſi dagegen hat eine raſchere Be— 
wegung, geht entſchloſſen auf die Hauptſache los. 
Schon in dem hoͤhergeſtimmten Organ Roſſis kuͤndigt 
ſich dieſer Unterſchied an, denn was man phyſiſch iſt, 
druͤckt ſich auch kuͤnſtleriſch aus. Beide ſind ohne 
Zweifel große Schauſpieler; aber was wiſſen wir, wer 
der groͤßere ſei! Wie ſie verſchieden ſind an Tempe— 
rament, ſo iſt es auch Temperamentsſache, den einen 
dem andern vorzuziehen. Beſchaulichere Naturen mit 
dem Beduͤrfnis der Eleganz werden auf Salvinis Seite 
ſtehen; die Leidenſchaftlichen werden zu Roſſi halten. 
Nach unſerem Gefuͤhle gibt es keine andere Entſchei— 
dung. Übrigens iſt der Streit um die beiden ſchon 
laͤngſt ſinnreich geloͤſt worden. Als Salvini und Roſſi 
einſt auf einem italieniſchen Theater in einem und 
demſelben Stuͤcke auftraten, konnte der Impreſario 
keinen der beiden Namen vor dem andern auf den 
Theaterzettel ſetzen. Was tat er? Er ließ die Namen 
in der Diagonale des Zettels drucken, ſo daß ſie ein— 
ander ſchnitten, wodurch das Oben und Unten aufge— 
hoben war. Wir koͤnnten von jenem buͤhnenkundigen 
Manne lernen, in der Diagonale zu denken. 


(Am 21. Dezember 1879) 


Schauſpieler über Schauſpielkunſt 


Es iſt immer ein Genuß und nicht ſelten ein be— 
lehrender Genuß, den Kuͤnſtler uͤber ſeine eigene Kunſt 
reden zu hoͤren. Iſt er ein unbefangener Menſch, ſo 
plaudert er aus der Schule; iſt er ein verſtaͤndiger 
Mann, der nachgedacht uͤber ſich ſelbſt, ſo gibt er uns 
zu dem Was auch noch das Warum. Zu lernen iſt 
da ſtets, und muß der Nichtkuͤnſtler auch daran 
zweifeln, das innerſte Bollwerk der Kunſt jemals 
nehmen zu koͤnnen, ſo iſt es ihm doch vergoͤnnt, die 
Parallelen ſeines Verſtaͤndniſſes immer weiter vor— 
zuſchieben. In ſolchem Sinne wurde mir eine kleine 
Schrift merkwuͤrdig, welche Coquelin, Mitglied und 
Mitleiter der Comédie Frangaiſe, über das Ver— 
haͤltnis des Schauſpielers zur Kunſt (L’art et le 
comedien. Paris, Paul Ollendorf) vor kurzem hat 
erſcheinen laſſen. Peinlich war mir nur, daß ich 
den Verfaſſer nicht in ſeinem eigentlichen Elemente 
geſehen, und wenn mich die Sehnſucht nach perſoͤn— 
licher Anſchauung ſchon einem gewöhnlichen Autor 
gegenuͤber in einem Grade quaͤlt, daß ich gerne wiſſen 
moͤchte, ob er nicht uͤber der linken Braue eine Linſe 
habe oder ob ſein rechter Eckzahn nicht gegen die Lippe 
hervorſtehe — welche Qual erſt bei einem Autor, der 
Schauſpieler iſt und uͤber die Kunſt des Schauſpielers 
ſich auslaͤßt. Einer meiner Kollegen, der mit allem 
vertraut iſt, was Paris betrifft, war gerade nicht zur 


111 


Hand; wen alſo geſchwind fragen? Am beften gewiß 
wieder einen Schauſpieler. Ich dachte ſofort an 
Adolph Sonnenthal, der ſich ja die Pariſer Buͤhnen 
genau angeſehen und dem Coquelin unmoͤglich ent— 
gangen ſein konnte. Ich bat ihn, mir in einigen 
Schlagworten die Eindruͤcke, die er dem franzoͤſiſchen 
Kuͤnſtler dankt, zu ſchildern, und meiner Bitte folgte 
die Gewaͤhrung auf dem Fuße. Nun brennt mir Herrn 
Sonnenthals Brief in der Taſche, und ich kann ihn 
nicht fuͤr mich allein behalten. Soll ich Herrn 
Sonnenthal um die Erlaubnis angehen, das kleine 
Schriftſtuͤck zu veroͤffentlichen? Ach, er iſt auf einer 
Gaſtſpielreiſe, und ich weiß nicht genau, wo er gegen— 
waͤrtig das deutſche Publikum entzuͤckt. Der Brief iſt 
wohl einer Indiskretion wert, und indem ich ſie be— 
gehe, wird mir das Wiener Publikum gewiß dankbar 
ſein. Es wird aus den mitgeteilten Zeilen erſehen, 
daß Herr Sonnenthal des Wortes maͤchtig iſt, auch 
wenn ihm nicht von unten eingeblaſen wird, und daß 
er die Liebenswuͤrdigkeit ſeines ſchauſpieleriſchen Be— 
nehmens ſelbſt auf einen Kritiker ausdehnt, der nicht 
im Rufe einer uͤbertriebenen Milde ſteht und dem es, 
bei aller bewundernden Anerkennung und anerkennen— 
den Bewunderung, nicht immer moͤglich geweſen, eine 
Wendung des Tadels zu vermeiden. Und alſo kurz 
und gut: Sonnenthal uͤber Coquelin! 

„Ich habe Coquelin bei meiner letzten Anweſen— 
„heit in Paris 1869 zum erſten Male und leider nur 
„in zwei wenig hervorragenden Rollen geſehen, und 


112 


„doch war der Eindruck, den gerade Coquelin auf mich 
„machte, ein unvergeßlicher und im ſtrengſten Sinne 
„des Wortes ein unvergleichlicher. Ich konnte alle 
„anderen Größen der Comédie Francaife, wie Rég— 
„nier, Got, Delaunay, Breſſant mit unſeren Heroen: 
„La Roche, Anſchuͤtz, Loͤbe, Fichtner ganz gut ver— 
„gleichen; es fanden ſich immer verwandte kuͤnſtleri— 
„ſche Züge, die ich in mein geliebtes deutſches Burg— 
„theater übertragen konnte. Coquelin jedoch iſt jo 
„durch und durch Franzoſe, ſpielte ſo ſpezifiſch franzoͤ— 
„ſiſch, daß ich unter all den großen Kuͤnſtlern meiner 
„Epoche vergebens nach einer aͤhnlichen kuͤnſtleriſchen 
„Individualitaͤt ſuche. Seine Rede- und Darſtellungs— 
„weiſe iſt mouſſierend und prickelnd wie Champagner. 
„Man glaubt ihn ſchon zu hören, wenn man ihn 
„noch gar nicht auf der Szene ſieht, und hoͤrt ihn 
„noch immer, wenn er ſie ſchon lange verlaſſen hat. 
„Wie geſagt, ich ſah ihn nur zweimal. Das erſtemal, 
„in dem Stuͤcke ‚Les faux meénages', ſpielte er 
„einen jungen Mann: er tritt in den Salon der Mar— 
„quiſe, um deren Tochter er ſich bewirbt, und erblickt 
„bei feinem Eintritte ein junges Mädchen ſeiner 
„früheren Bekanntſchaft, zweifelhaften Rufes, welche 
„die Marquiſe aus Liebe zu ihrem Sohne ins Haus 
„genommen, um ſie zu pruͤfen und ſie eventuell ihrem 
„Sohne zu verheiraten. Nun, dieſe erſte Begegnung 
„Coquelins (des jungen Mannes) mit dieſer Perſon 
„im Salon ſeiner zukuͤnftigen Schwiegermutter und 
„Braut; das Mienenſpiel dieſes Menſchen, ehe er 


[IV]8 Eng 


„noch ein Wort ſpricht, ſein halb verlegenes, halb 
„entruͤſtetes Weſen, andererſeits wieder der Gentle— 
„man, der auch eine ſolche Perſon nicht verraͤt — 
„dies alles war von einer Übereinſtimmung in 
„Mimik, Wort und Gebaͤrde, wie ich es in dieſer 
„Vollendung nie wieder geſehen. Die zweite Rolle 
„war in einem Einakter, deſſen Titel mir entfallen. 
„Ein Kuͤnſtler-, Malerſtuͤck ohne beſonderen Wert. 
„Coquelin ſpielte darin den Rembrandt, wenn ich 
„nicht irre. Nun, dieſe Rolle war ſo ein Cham— 
„pagner, von dem ich oben ſprach. Die Art und 
„Weiſe, wie dieſer kleine Menſch, nicht viel groͤßer 
„als unſer Lewinsky, auf den langen Malertiſch 
„ſpringt, vor ihm ſitzt Rubens bei ſeiner Staffelei 
„und malt — wie Coquelin (Rembrandt) nun das 
„Bild kritiſiert, dabei eine Zeichenmappe auf dem 
„Tiſche ergreift und mit einer Kohle darin kritzelt; 
„wie er mit dem langen Malerſtock bald auf das Bild 
„der Staffelei, bald um Rubens Kopf herumfuchtelt 
„und dann ſchließlich mit einem begeiſterten Ausrufe 
„vom Tiſche herabſpringt, mit einer Verve, einem 
„uͤberſprudelnden Humor, einer bezaubernd liebens— 
„wuͤrdigen Realiſtik und dabei vom erſten bis zum 
„letzten Worte durchgeiſtigt intereſſant ohne die ſo— 
„genannten Maͤnnchen und Maͤtzchen, einfach, ſchoͤn 
„und wahr — ich habe in dieſem Genre nichts Voll— 
„kommeneres geſehen. Leider habe ich ihn nur in 
„dieſen beiden Rollen geſehen; „Figaros Hochzeit 
„mit ſeiner Meiſterrolle Figaro wurde damals zu— 


114 


„fällig nicht gegeben, und ich war auch jeitdem nicht 
„wieder in Paris. Nun befuͤrchte ich nur, daß Sie 
„trotz meiner langen Epiſtel nicht das gewuͤnſchte 
„Bild von dem Kuͤnſtler erhalten werden. Unſereins 
„kann ſolche Eindruͤcke mehr fuͤhlen als beſchreiben. 
„Wenn Sie ihn mir zu ſchildern haͤtten, erſparte ich 
„nach Paris zu gehen; Ihnen fuͤrchte ich, wird die 
„Reiſe nicht erſpart bleiben. Übrigens wird Ihre 
„Phantaſie erſetzen, was in meiner Feder ſtecken 
„geblieben.“ 

So weit Herrn Sonnenthals Mitteilung. Soll 
ich eine Verbindlichkeit mit der andern vergelten, zu— 
rücdzahlen mit der Münze der Höflichkeit? Nun, ich 
werde um Coquelins willen nicht nach Paris reiſen, 
denn er iſt mir durch Herrn Sonnenthals Schilderung 
ſo lebendig geworden, als ich ihn fuͤr heute brauche. 
Ich verdanke Hern Sonnenthal das Verſtaͤndnis der 
ſchauſpieleriſchen Gebaͤrde, die uns aus der Schrift 
von Coquelin allerwaͤrts entgegenwinkt. Die Buch— 
ſtaben richten ſich auf, haben Koͤrper, Stimme, Be— 
wegung, und alle zeigen die kleine, geiſtreich bewegliche 
Geſtalt Coquelins. Ja, man hoͤrt ihn noch immer, 
wenn er auch laͤngſt fort iſt. Und ein echter Schau— 
ſpieler auch als Schriftſteller: er tritt in einem 
fremden Stuͤcke auf. Neue Gedanken finden wir nicht 
bei ihm; nur die Nuance, der ſchauſpieleriſche Wurf, 
die Gebaͤrde iſt ſein Eigentum. Was er ſagt — daß 
naͤmlich der Schauſpieler, waͤhrend er ſpielt, nicht 
empfinden duͤrfe — das hat ſchon Diderot vor mehr 


8] 115 


als hundert Jahren mit aller Entſchiedenheit und 
Schaͤrfe geſagt. Neu iſt nur das eine, und das iſt 
allerdings ſehr neu, daß ein bedeutender Schauſpieler 
Diderots Anſicht ohne Vorbehalt unterſchreibt. Dem 
ſchwachen großen Publikum gegenuͤber nimmt ſich 
dieſer mutige Akt aus, wie die Verzichtleiſtung auf 
einen uralten kuͤnſtleriſchen Adelsanſpruch. Die 
Empfindung, das Gefuͤhl als die treibende Kraft der 
Buͤhnengeſtaltung zu leugnen, gleicht das nicht einer 
Mechaniſierung der Schauſpielkunſt, ja ſchlechtweg 
der Herabſetzung einer Kunſt zum Handwerke? 
Coquelin, ſo weit er auch hierin geht, iſt keineswegs 
dieſer Meinung. Er ſagt: „Eine Frage ſpaltet die 
Theaterwelt in zwei Lager, naͤmlich ob der Schau— 
ſpieler die Leidenſchaften ſeiner Rolle teilen, ob er 
weinen ſoll, um weinen zu machen, oder ob er Herr 
ſeiner ſelbſt bleiben ſoll, auch bei den leidenſchaft— 
lichſten Ausbruͤchen der dargeſtellten Geſtalt, kurz, ob 
er nicht ſicherer ruͤhre, wenn er nicht ſelbſt geruͤhrt 
iſt. Das letztere iſt bekanntlich Diderots paradoxe 
Anſicht. [Paradox sur le comédien.) Wohlan, 
ich halte dafuͤr, daß dieſes Paradoxon die Wahrheit 
ſelbſt iſt, und ich bin uͤberzeugt, daß man ein großer 
Schauſpieler nur unter der Bedingung iſt, ſich un— 
bedingt in der Hand zu haben und nach Belieben Ge— 
fühle ausdruͤcken zu koͤnnen, die man nicht empfindet, 
die man nie empfinden wird, die man ihrer Natur 
nach nie empfinden kann. Und gerade deshalb iſt 
unſer Handwerk eine Kunſt! Und gerade deshalb ſind 


116 


wir ſchoͤpferiſche Geiſter!“ Wie der Dichter aus 
ſeinem Hirn einen Tartuͤffe oder Macbeth koͤnne er— 
ſtehen laſſen, obgleich er ein aufrichtiger, ehrlicher 
Mann ſei, ebenſo koͤnne ſich der Schauſpieler in dieſe 
Geſtalten hineindenken, ohne aufzuhoͤren er ſelbſt zu 
ſein, ja ſo verſchieden von ihnen, wie der Maler von 
der Leinwand. Das ſei auf beiden Seiten eine und 
dieſelbe Faͤhigkeit. „Der Schauſpieler,“ faͤhrt Coque— 
lin fort, „ſteckt mitten drin in ſeiner Schöpfung. (Le 
comédien est au dedans de sa création.) Aus 
dem Innern zieht er die Faͤden, durch welche er den 
Ausdruck der ganzen Tonleiter menſchlicher Empfin- 
dung vermittelt, und die Faͤden, die ſeine Nerven ſind, 
er muß ſie alle in ſeiner Hand haben und ſie nach 
Gefallen ſpielen laſſen. Der Schauſpieler komponiert 
ſeine Geſtalt. Er lernt von ſeinem Autor, er lernt 
von der Überlieferung, er lernt von der Natur; er 
ſchoͤpft aus ſeiner eigenen Kenntnis der Menſchen 
und Dinge, aus ſeiner Erfahrung, aus ſeiner Ein— 
bildungskraft: kurz, er verrichtet ſeine Arbeit, und 
hat er ſie verrichtet, ſo beſitzt er ſeine Rolle. Und ſo 
iſt der wahre Schauſpieler ſtets in Bereitſchaft. Er 
kann ſeine Rolle in jedem beliebigen Augenblicke auf— 
nehmen und unmittelbar den Eindruck, den er will, 
hervorbringen. Er gebietet dem Lachen, den Traͤnen, 
dem Entſetzen; er braucht nicht zu warten, bis er 
ſelbſt ergriffen iſt und daß die Gnade von oben ihn 
erleuchte.“ 

Aufrichtiger kann man nicht mehr herausgehen, 


ir 


und das iſt, wie gejagt, das Neue an der Schrift 
des Schauſpielers Coquelin. Als Diderot dieſe ſelben 
Lehren auseinanderſetzte, fuͤgte er hinzu: „Dieſe Wahr— 
heiten ſind bewieſen, auch wenn ſie die Schauſpieler 
niemals zugeben: Das iſt ihr Geheimnis. 
Die Empfindung iſt eine ſo achtbare Eigenſchaft, daß 
ſie nie zugeben werden, man muͤſſe ſie aufgeben, um 
ſich in ihrem Handwerk auszuzeichnen. ..“ Seit 
Coquelin geſprochen, iſt dieſes Nie und Niemals 
widerlegt, iſt das ſo ſorgfaͤltig gehuͤtete Geheimnis 
verraten. Aber nicht verraten in der Abſicht, die 
Schauſpielkunſt herabzuſetzen, vielmehr ſie auf die 
Hoͤhe der uͤbrigen Kuͤnſte zu heben, wenn dabei auch 
ein myſtiſcher Schleier zerriſſen wird. Coquelin dankt 
nicht ab. Ihm iſt der Schauſpieler ein Kuͤnſtler wie 
ein anderer Kuͤnſtler, ihm iſt er ein ſchoͤpferiſcher Geiſt, 
er ſchafft innerhalb der Dichtung, denn die vom Dich— 
ter geſchaffene Traumgeſtalt ſei, meint er, noch nicht 
die lebendige Geſtalt der Buͤhne. „Der Dichter,“ ſagt 
Coquelin, „hat zu ſeinem Stoffe das Wort, der Bild— 
hauer Marmor und Metall, der Maler Farbe und 
Leinwand, der Muſiker den Ton. Der Stoff des 
Schauſpielers iſt er ſelbſt. Auf ſich ſelbſt wirkt er, 
will er einen menſchlichen Gedanken realiſieren. Er 
iſt ſein eigenes Klavier, er ſpielt auf den eigenen 
Saiten, er knetet ſich wie einen Teig, er haut ſich 
aus, er malt ſich.“ Wo aber bleibt die Schoͤpfung, 
wenn man nur mit fremden Gedanken arbeitet? Die 
oͤffentliche Meinung, die Dichter ſelbſt werden euch 


118 


hierüber belehren. Man jagt: eine Rolle ſchaffen, 
und Viktor Hugo ſchreibt nach einer Auffuͤhrung von 
„Maria Tudor“ über Fräulein George: „Elle cree 
dans la création méme du poète quelque chose 
qui (tonne et qui ravit l’auteur lui-m&me.“ Und 
Voltaire, nachdem er Fräulein Clairon als Elektra 
geſehen, ruft aus: „Nicht ich, ſie hat das gemacht; 
ſie hat ihre Rolle kreiert!“ 

So waͤre denn der hoͤchſte Triumph des Schau— 
ſpielers, trockene Traͤnen zu weinen, zornig zu ſein 
ohne Galle, ſich zu erhitzen, ohne warm zu werden. 
Der Schauſpieler hat die Sache ohne die Urſache, die 
Empfindung ohne ihre Motive und Konſequenzen. Er 
iſt ganz nur Oberflaͤche; ſein Tun iſt nicht Sein und 
Weſen, ſondern Schein und Spiel. Er muß ſich 
menſchlich voͤllig ausleeren, um Kuͤnſtler zu ſein. Gibt 
es kein dichteriſches Beiſpiel, um ſolche Taͤtigkeit an— 
ſchaulich zu machen? Mir faͤllt die Szene aus dem 
Nibelungenliede ein, wo Siegfried, im Begriffe, fuͤr 
Koͤnig Gunther die Brunhilde zu beſtehen, zu Gunther 
ſagt, er moͤge ſich nun ſtellen, als ob er kaͤmpfe, er 
ſelbſt aber wolle die Arbeit verrichten: 

Nu habe du die gebaerde: diu were wil ich began. 
Glaubt man nicht zwei Schauſpieler vor ſich zu ſehen, 
von denen jeder eine ihm fremde Sache tut? Gunther 
macht die Gebaͤrden des Kaͤmpfers, und Siegfried be— 
treibt die Sache eines andern. So ſieht es auf den 
erſten Anblick aus; allein dieſe Auffaſſung haͤlt nicht 
Stich. Wenn auch Gunther bloß ſpielt, ſo iſt er doch 


119 


von den inneren Motiven des Kampfes bewegt, und 
Siegfrieds Kampf iſt ein die Heldenkraft und Helden— 
ehre aufregender wirklicher Kampf, der ihm phyſiſch 
und ethiſch warm macht, wenn man auch den tieferen 
Beweggrund ſeines Handelns, naͤmlich dem Koͤnig zu 
Willen zu ſein, nicht in Anſchlag bringen will. 
Solches Schauſpielertum iſt noch viel zu inhaltsreich 
fuͤr den wirklichen Schauſpieler. Es ſoll ihm weder 
mit dem Koͤrper, noch mit der Seele ernſt ſein. Und 
doch, glaube ich, laͤßt ſich eine ſo ſcharfe Trennung 
vom Leben ſchon darum nicht durchſetzen, weil die 
phyſiſchen und phyſiologiſchen Bedingungen, unter 
welchen das Spiel des Buͤhnenkuͤnſtlers entſteht, von 
ſelbſt die Geiſter wecken, die der Schauſpieler nicht 
gerufen hat. Der Schauſpieler tritt in die Aktion 
ein. Er ſpricht und bewegt ſich. Die Nerven be— 
ginnen zu ſpielen, das Blut rollt raſcher, die Mus— 
keln werden geſpannt. Nun iſt mit jeder Muskeltaͤtig⸗ 
keit ein chemiſcher Prozeß verbunden, und jeder 
chemiſche Prozeß macht Waͤrme frei. Sollte man 
nun nicht glauben, daß dieſe Waͤrme auf die Stimmung 
zuruͤckfließe, daß ſie Gefuͤhle entbinden helfe, die ſich zu 
Empfindungen ſteigern? Vor ſolchen ſeeliſchen Über— 
faͤllen, die vom Koͤrper aus geleitet werden, ſcheint 
mir auch der geuͤbteſte Schauſpieler nicht ſicher zu 
ſein, und allerdings koͤnnen ſie eine Stoͤrung oder eine 
Foͤrderung, ein Segen oder ein Fluch ſein. Ich 
glaube, daß ſchon mancher kuͤnſtleriſche Vorteil von 
der Erregung des Augenblickes abgepfluͤckt worden iſt. 


208 


Solche Beobachtungen, die noch in die hinterſten 
Schlupfwinkel des Gefuͤhls einzudringen verſuchen, 
wollen indeſſen die Behauptungen, welche Diderot 
und nach ihm Coquelin aufgeſtellt hat, durchaus nicht 
bekaͤmpfen. Sie wollen zu der Sache gleichfalls nur 
eine Nuance hinzubringen. Das Schauſpiel iſt nicht 
das Leben, es ſoll das Leben hinter ſich haben; leider 
bricht aber auch das Schauſpiel nicht ſelten ins Leben 
ein. Talma, der bei der Nachricht vom Tode ſeines 
Vaters einen herzzerreißenden Schrei ausſtoͤßt, ſich 
dieſen Schrei aber fuͤr die Buͤhne merkt — es iſt eine 
Erſcheinung, welche die Menſchheit in uns beleidigt. 
Und doch haftet dieſer Egoismus, dieſer Ausbeutungs— 
trieb mehr oder minder an allem, was Kuͤnſtler iſt. 
Auch Goethe wurde im Genuſſe, in der Freude, im 
Schmerze oft ploͤtzlich von einer großen Helle uͤber— 
raſcht, in welcher ſich ſchon das Kunſtwerk ankuͤndigte, 
das er nach dem noch warmen Erlebniſſe geſtaltete. 
Von Emanuel Geibel, dem eben ſeine junge, bluͤhende 
Frau geſtorben war, hoͤrte ich das entſetzliche Wort, 
daß dieſer harte Schlag auf ſeine Dichtung gewiß 
laͤuternd einwirken werde. Es iſt ein peinlicher Ge— 
danke, daß die Kunſt, einem Vampyr gleich, dem Leben 
das Blut ausſaugt. Das iſt, was ich einen Einbruch 
des Schauſpiels in die Wirklichkeit nenne. 

Coquelin, um zu ihm zuruͤckzukehren, hat in ſeiner 
Schrift gleichfalls an das Leben gedacht, aber in einer 
Weiſe, an der keinerlei Schuld klebt. Der Mann, 
der dem Schauſpieler als Schauſpieler die 


LEE 


Empfindung abſpricht, will ihn zugleich auf eine 
höhere Stufe kuͤnſtleriſcher und geſellſchaftlicher Gel— 
tung hinaufruͤcken. Wenn der Schauſpieler ein Kuͤnſt⸗ 
ler iſt wie ein anderer, warum goͤnnt man ihm nicht 
dieſelben ſozialen Anſpruͤche wie dieſem? Coquelin, 
der Republikaner, der Freund Gambettas, wird faſt 
mild fuͤr die Monarchie, wenn er ſieht, wie die 
Monarchie den Schauſpieler ehrt, wie ſie ihm Orden, 
ja ſelbſt den Adel verleiht. Ich glaube faſt, Coquelin 
koͤnnte unſeren, in ſeinem Urteil über den franzoͤ— 
ſiſchen Schauſpieler ſo neidloſen Sonnenthal um das 
bunte Bändchen im Knopfloch beneiden ... Was, 
ſoziale Reform mit Orden? .. . Ich laſſe den Vor— 
hang fallen. Nein, da ſpiele ich nimmer mit! 


(Am 14. Maͤrz 1880) 


Münchener Geſamtgaſtſpiel 
Programm. Prolog. Wallenſteins Lager 


Seit einigen Tagen ſitze ich wie in einem ſchweren 
Traum in Muͤnchen und kann das Wort nicht finden, 
das mich erlöſen ſollte von dem Unverſtaͤndnis einer 
Sache, die ſich um mich her vorbereitet und ſchon ein 
wenig ins Rollen geraten iſt. Münchener Geſamtgaſt⸗ 
ſpiel, ſo heißt das Raͤtſel, das mich quaͤlt. Was ſind 
die Gruͤnde des Unternehmens, was iſt ſein Zweck 
und Ziel? Ich hoͤre Worte, aber keine Antwort. An— 
ſtifter der Sache, Haupt und Hand des Ganzen iſt 
bekanntlich Ernſt Poſſart, Direktor des Muͤnchener 
Hoftheaters. Herr Poſſart iſt ein vielgewandter und 
vielgenannter dramatiſcher Reiſeprediger, als Buͤhnen— 
leiter iſt er in ſeiner Weiſe nicht weniger gewandt, 
wenn auch auswaͤrts nicht ſoviel genannt. Muͤnchen 
iſt eine Kulturinſel, und es ſieht die Fremden nicht 
gerne; das Hofbraͤuhaus iſt ohnehin zu eng fuͤr die 
Beduͤrfniſſe der Eingeborenen, auch geiſtig iſt man 
lieber untereinander, und das Urteil des Auslandes 
wird als ein Eingriff in das Rechtsgebiet der Auto— 
chthonen betrachtet. In einem echten Münchener Kopfe 
waͤre der Gedanke eines Geſamtgaſtſpiels ſchwerlich 
gewachſen; es waͤre fuͤr ihn eine revolutionaͤre Ver— 
irrung. Herr Poſſart iſt kein Altbayer; er iſt auf 
einem ſchon aͤlteren Umwege uͤber Bethlehem aus dem 


123 


deutſchen Norden an die Iſar gelangt. Ein brennender 
Ehrgeiz verzehrt dieſen Mann, der ſich weder Ruhe 
noch Schlaf goͤnnt, um nur ſtets auf dem Plane zu 
ſein. Er hat ſich vom mittelmaͤßigen Schauſpieler zum 
Alleinherrſcher der Muͤnchener Buͤhne emporgearbeitet, 
er iſt die Seele des Indentanten Freiherrn von Perfall, 
dieſer guten Exzellenz, der es laͤſtig faͤllt, eigene Ein— 
ſicht und eigenen Willen zu beſitzen. Bedenkt man 
dieſe Lage der Dinge, ſo ruͤckt die Antwort auf die 
Frage nach den Gründen eines deutſchen Geſamtgaſt— 
ſpieles ſchon etwas naͤher. Hinter den großen Phraſen 
ſteckt meiſtens ein perſoͤnliches Intereſſe, und wenn 
man ins Schwarze trifft, ſpringt hinter der Scheibe 
der Hanſel oder die Gretel in die Hoͤhe. Beim Muͤn— 
chener Gaſtſpiel iſt es ein Hanſel; es iſt Herr Poſſart 
ſelbſt. Er hat das Gaſtſpiel gebraucht, und das Gaſt— 
ſpiel iſt gekommen. In München fand er ſich mit 
ſeiner Taͤtigkeit vereinſamt, die Welt mußte auf Beſuch 
kommen, um zu ſehen, was er fuͤr ein Mann ſei. Der 
Erſte in Muͤnchen zu ſein, genuͤgte ihm nicht; er wollte 
der Erſte ſein in ganz Deutſchland — der Erſte wo— 
moͤglich als Regiſſeur und als Darſteller. Als Lockvoͤgel 
brauchte er fremde Kuͤnſtler, denn alle Achtung vor dem 
Muͤnchener Schauſpiele — aber wer wuͤrde hierherreiſen, 
um in der Darſtellung einheimiſcher Kuͤnſtler „Hamlet“ 
oder „Wallenſtein“ zu ſehen? Und wenn die Menſchen 
kamen, konnte Herr Poſſart voll Selbſtgefuͤhl ſagen: 
„Sehet, das iſt mein Werk; ich bin der Macher dieſes 
Gaſtſpieles, ich bin der Buͤhneneinrichter, der Regiſſeur, 


124 


der große Schauſpieler, ich bin ſogar — Zeuge deſſen 
mein Prolog — ein Dichter. Seht mich an, den 
Tauſendkuͤnſtler: hier iſt der „kosmopolitiſche Nacht— 
wächter‘ uͤbernachtwaͤchtert.“ 

Ja, der Nachtwaͤchter, Franz Dingelſtedt. Er hat 
Herrn Poſſart nicht ſchlafen laſſen. Nur leider hat 
ihm Dingelſtedt die „große Tat“, wie man das Poſſart— 
ſche Unternehmen nennen hoͤren kann, ſchon vor einem 
Vierteljahrhundert vorgetan, und viel ſchicklicher vor— 
getan. Dingelſtedt hat nach alter Sitte ſeine Bude 
auf dem Markte aufgeſchlagen, er hat ſein Geſamt— 
gaſtſpiel an eine deutſche Induſtrie-Ausſtellung ge— 
knuͤpft. Der Anlaß war gegeben; ihn gewahr zu 
werden und zu benutzen, war ſein Glück und Verdienſt. 
Nun wird niemand ſo kindlich ſein, um zu meinen, 
Dingelſtedt habe nur im Dienſte der Sache gearbeitet. 
Ach nein, auch er hat Ehrgeiz, er hat namentlich viel 
Eitelkeit, er beſitzt tiefes Beduͤrfnis, ſich hin und wieder 
von Grund aus perſoͤnlich aufzuregen, und die Geſell— 
ſchaft der Vornehmen und der Beifall der Großen hat 
fuͤr ihn etwas Berauſchendes. Er hat ſo lange mit 
Baronen verkehrt, bis er den Baron angezogen, und die 
Gnade der Großen hat ihm die ganze Seite der Bruſt mit 
Sternen geſchmückt. Dingelſtedts große Kunſt iſt, daß 
er zu warten verſteht, daß er nicht vordringlich iſt. So 
hat er von der deutſchen Induſtrie-Ausſtellung den im 
Verborgenen bluͤhenden Gedanken eines deutſchen 
Geſamtgaſtſpiels gepfluͤckt. Herr Poſſart, von ſeinem 
Vorgaͤnger in allem und namentlich auch darin uͤber— 


123 


troffen, daß Dingelſtedt kein mittelmaͤßiger Schau⸗ 
ſpieler iſt — Herr Poſſart ließ ſich den Gedanken eines 
Geſamtgaſtſpiels auf der flachen Hand wachſen. 
Sein perſoͤnliches Beduͤrfnis deckte ſich nicht mit einem 
oͤffentlichen, Herr Poſſart kann daher ſagen: Das 
Gaſtſpiel bin ich. Und er wird es ſich in ſeinem Innern 
auch ſagen, wenn er Selbſtgeſpraͤche über ſeine welt— 
hiſtoriſche Bedeutung haͤlt. Denn wie dieſer Mann 
ſich ſelbſt ſchaͤtzt! In der „Chronik des Geſamtgaſt— 
ſpiels“, die hier jeden Tag erſcheint und im Theater 
feilgeboten wird, ſchreibt ein Vertrauter Poſſarts die 
folgenden unglaublichen Worte: „Poſſart. Dieſer 
Name faßt viele Begriffe in ſich! Den Schauſpieler, 
den Schriftſteller, den Dramaturgen — den Regiſſeur! 
Derjenige, welcher Poſſart, den Schauſpieler geſehen 
hat, iſt noch nicht berechtigt, zu ſagen, er kenne Poſſart 
— denn er hat nur ein Stuͤck von ihm geſehen, das 
Ganze aber macht den Mann, und der ganze Poſſart 
iſt nicht nur der, welcher abends beim Lampenſchimmer 
auf der Buͤhne ſteht und Herz und Gemuͤt bewegt — 
der ganze Poſſart iſt ein unermuͤdlicher Mann, fuͤr 
den der Tag nicht Stunden genug hat, um das in ihm 
zu vollbringen, was er ausfuͤhren moͤchte! Der Poſſart 
auf der Buͤhne ſchafft, wie jeder darſtellende Kuͤnſtler, 
nur fuͤr den Augenblick und erntet den Erfolg des 
Augenblickes; die Schoͤpfungen des ganzen Poſſart 
aber überdauern den Augenblick, fie wirken in die Zus 
kunft hinein, und die Erfolge ſeiner Taͤtigkeit als 
Dramaturg, Schriftſteller und Regiſſeur kommen 


120 


nicht ihm allein, ſondern der ganzen Kunſtwelt 
zugute!“ 

Was ſoll man zu ſolchen Trompetenſtoͤßen der 
Reklame ſagen? Haͤlt man die Wirklichkeit daneben, 
ſo wird es einem ſchwer, ſein ruhiges Blut zu wahren. 
Was iſt denn Ernſt Poſſart? Mit duͤrren Worten 
geſagt: ein geſchickter Theatermann. Und ſoviel Laͤrm 
um — etwas, das nicht gar ſoviel iſt? Wollte man 
in entſprechender Weiſe uͤber Heinrich Laube und Franz 
Dingelſtedt reden, uͤber Maͤnner alſo, die nicht bloß 
Literatur kopiert, ſondern gemacht haben, und von denen 
Herr Poſſart in Buͤhnendingen noch unendlich viel 
lernen koͤnnte — was meint man, zu welchen unerhoͤrten 
Superlativen müßte man greifen? Und ſelbſt ein nur 
geſchickter Theatermann haͤtte das Programm des Ge— 
ſamtgaſtſpiels anders geſtalten muͤſſen, als es Herr 
Poſſart getan. Herr Poſſart hat in ſein Repertoire 
Stuͤcke aufgenommen von Leſſing, Goethe, Schiller, 
Kleiſt und Shakeſpeare. Unter den Goetheſchen Schau— 
ſpielen fehlen „Goͤtz von Berlichingen“ und „Fauſt“, der 
dramatiſche Fruͤhlingstrieb unſerer neueren Literatur 
und jenes weltumſpannende, unausſchoͤpfbare Werk, 
welches im Mittelpunkte unſerer Dichtung ſteht. Daß 
der „Goͤtz“ nicht auf dem Muͤnchener Programm, dafür 
gibt es gar keine Entſchuldigung; für die Weglaſſung 
des „Fauſt“ koͤnnte allenfalls der Grund ſprechen, daß 
wir keine bedeutenden „Fauſt“-Schauſpieler beſitzen. 
Gut! Aber haben wir denn einen Taſſo, einen Egmont? 
Und doch ſtehen „Egmont“ und „Taſſo“ auf dem 


1275 


Repertoire. Wäre „Fauſt“ auf dem Repertoire, 
ſo haͤtte auch die Anweſenheit von „Hamlet“, der 
ja auf „Fauſt“ ſo bedeutſam heruͤbergewirkt, einen 
feineren Sinn. Übrigens durfte und mußte Shake— 
ſpeare auf dem Repertoire ſtehen, der ja wie einer der 
unſeren iſt, und ohne deſſen Mithilfe der Durchbruch 
unſerer klaſſiſchen Dichtung nicht erfolgt oder 
wenigſtens mit minderer Gewalt und Naturfriſche vor 
ſich gegangen waͤre. Heinrich von Kleiſt iſt mit dem 
„Zerbrochenen Krug“ nicht genugſam vertreten. Ein 
Shakeſpeare weniger und ein Kleiſt mehr! Wie von 
ſelbſt kam dem Unternehmen das „Kaͤthchen von Heil— 
bronn“ entgegen, das duftige deutſche Volksſtuͤck voll 
Mark und Zartheit. Und warum fehlt Grillparzer? 
Wer wird an dem Begriff des Klaſſiſchen ſo pedantiſch 
haften? Iſt er auf dem Programm doch ſchon durch 
Kleiſt durchbrochen — warum nicht noch einen Schritt 
weiter zu dem Wiener Dramatiker? Es ruht auf 
unſeren Buͤhnenklaſſikern eine gewiſſe Monotonie, die, 
wenn fie in Reih' und Glied einherkommen, ſtark er— 
müdet; wie wohltuend dazwiſchen ein friſcher Luftzug, 
ein neuer Ton! Ja man haͤtte zur Erfriſchung der 
Gemuͤter auch das neuere deutſche Luſtſpiel ins Pro— 
gramm hineinziehen muͤſſen, etwa Bauernfeld und 
meinetwegen Adolph Wilbrandt. Das ewig Alte laͤhmt 
die Kraft des Schauſpielers, der ſo recht aus dem Kern 
heraus doch nur das zu geſtalten weiß, was ihm ſeine 
Zeit entgegenbringt. Ein Schauſpieler kann ſich an 
Schiller dumm ſpielen und an Bauernfeld wieder ge— 


128 


ſcheit werden. Wäre das Münchener Programm nicht 
zu einſeitig klaſſiſch, man wuͤrde es mit groͤßerem Ver— 
gnuͤgen ſich abrollen ſehen. 

Und nun zur Sache, zum erſten Abend, der uns 
geſtern (Donnerstag) ins Theater gerufen. Man hat 
uns erſt muſikaliſch entzückt, um uns ſodann poetiſch 
zu ernuͤchtern: auf Beethovens mit Begeiſterung auf— 
genommene „Leonoren“-Ouvertuͤre (Nr. 3), die ihren 
weiten und hohen Bogen ſo herrlich ſpannte, kam der 
von Ernſt Poſſart verfaßte und geſprochene Prolog. 
Was Dingelſtedt ſeinerzeit verſaͤumt, glaubte Herr 
Poſſart hereinbringen zu muͤſſen. „Ein Prolog, zu 
deſſen Abfaſſung ich mehrmals den verzweifelten An— 
lauf genommen,“ ſagt Dingelſtedt von damals, „blieb 
mir in der Feder ſtecken. Ich beruhigte mein Gewiſſen 
mit der Überzeugung, daß dergleichen Gelegenheits— 
dichtungen auf dem Liebhabertheater eine gute Wirkung 
und Stimmung hervorbringen koͤnnen, waͤhrend ſie ein 
großes, gemiſchtes Publikum in der Regel abkuͤhlend 
berühren." Vernunft und augenblickliches dichteriſches 
Unvermoͤgen halfen an dieſem Urteile Dingelſtedts 
mitſchreiben. Keines von beiden ſtoͤrte Herrn Poſſart. 
Er entſchloß ſich raſch, Dichter zu werden; nicht nur 
die Entrüſtung, auch der Ehrgeiz macht Verſe. Und 
ſo erſcheint Herr Poſſart zwiſchen Dichterbuͤſten, uͤber 
welchen Palmen faͤcheln, im ſchwarzen Frack und ent— 
ledigt ſich ſeiner Reime, indem er verzweifelte An— 
ſtrengungen macht, den Sinn der Dichtung zu betonen. 
Er haͤlt ſich zumeiſt in der Tenorlage auf, und ſpricht 


IVI 129 


die Ziſchlaute mit weichem Liſpeln. Während der 
Vorhang langſam uͤber die Dichterbuͤſten faͤllt, bleibt 
Herr Poſſart — das Geſamtgaſtſpiel bin ich! — ruhig 
ſtehen und vergoͤnnt uns den Anblick ſeiner unbedeuten— 
den Geſtalt. Der Prolog ſelbſt begruͤßt die Künſtler, 
ſetzt die Bedeutung des Gaſtſpiels, das ja in weite 
Ferne wirken werde, auseinander, und ſchließt mit einer 
in ihrer Abſicht peinlich beruͤhrenden Apotheoſe des 
Koͤnigs. Hierauf Huldigungsmarſch von Richard 
Wagner, dann „Wallenſteins Lager“. 
„Buͤhneneinrichtung von Ernſt Poſſart.“ „Überall 
du!“ wie es im Liede heißt. Die Szenierung verraͤt 
die Meininger Schule, aber nicht die Meininger 
Meiſterſchaft. Im Vordergrunde ein langer Tiſch unter 
einer Baumgruppe, im Mittelgrunde ein langer Steg, 
der uͤber ein Waſſer fuͤhrt. Der Proſpekt zeigt Zelte, 
die ſich weit in die Ferne ſchieben. Was nun die Be— 
lebung der Szene betrifft, ſo zeigt ſie mehr Unruhe 
als Bewegung. Die Bühne beleben iſt nicht ſchwer; 
aber in der Belebung das richtige Maß treffen, darin 
bekundet ſich der Kuͤnſtler. Ein guter Einfall iſt es, 
daß eine ganze Kolonne von Soldaten mit Heu und 
Haberſaͤcken über den Steg und quer uͤber die Buͤhne 
geht; aber dem Regiſſeur gefielen die Haberſaͤcke ſo gut, 
daß er einige derſelben auf einem Wagen zuruͤckbringen 
ließ. Ach, haͤtte ſich doch der Haber im Sacke ge— 
rührt! ... Gut arrangiert iſt die Kapuzinerpredigt; 
gut gleichfalls iſt das Arrangement bei der Abſingung 
des Reiterliedes. In der Darftellung ſelbſt ſtand Herr 


130 


Haͤuſſer als erſter holkiſcher Jaͤger Ceinft eine ent— 
zuͤckende Rolle Fichtners) durch Natuͤrlichkeit des 
Sprechens und friſchen, munteren Ton im Vorder— 
grunde. Der Wachtmeiſter, der doch das ganze aus— 
einanderfliehende Bild zuſammenhaͤlt, kam nicht zur 
Geltung; Herr Bruillot ſprach ihn mit hohler Stimme 
rein aͤußerlich, ohne das Schwergewicht und das Be— 
hagen des braven Soldaten. Der erſte Kuͤraſſier wurde 
heruntergelaͤrmt, der Kapuziner, von Herrn Davideit 
ohne eigentlichen Humor geſprochen, hatte doch einige 
gute Nuancen; der Mann „von Buchau am Federnſee“ 
wurde von Herrn Sigl vorzüglich geſchwaͤbelt. 
„Wallenſteins Lager“ wurde ausſchließlich von Mit— 
gliedern des Muͤnchener Hoftheaters gegeben. Ich 
kenne dieſe Mitglieder nicht, und was ich geſagt, be— 
ruht nur auf Eindruͤcken des Augenblicks. Ich hoffe 
noch einzelne im Verlaufe des Gaſtſpiels feſtzuhalten, 
um, je nachdem, ihr Licht- oder ihr Schattenbild zu 
entwerfen. 

Nun rufen mich die „Piccolomini“, die — ſchon 
in einer Stunde — ſtark mit fremden Kraͤften gegeben 
werden. Ich glaube, fuͤr die Wiener Schauſpieler 
braucht man in Wien nicht den Daumen zu halten. 


(Am 4. Juli 1880) 


19] 


Die Piccolomini. Wallenſteins Tod. Hamlet. 
Clavigo. 


Das langſame Tempo, in welchem hierzulande 
Komoͤdie geſpielt wird, hat ſich auch meiner Feder be— 
maͤchtigt, und wie das Muͤnchener Theater habe ich 
vor dem Szenenwechſel den Zwiſchenvorhang fallen 
laſſen, um die Neugierde weniger zu ſpannen als zu 
ermüden. So ſteckt ſchlimmes Beiſpiel an, zumal wenn 
man dem Miasma innerlich ein wenig zuneigt. Mittler— 
weile hat ſich ein Stoff angeſammelt, aus welchem 
mitteilſame Geiſter leicht ein Buch formieren koͤnnten, 
waͤhrend ich, nach meiner kurz angebundenen Weiſe, 
nur ein Blaͤttchen Papier damit ausfüllen will. Neues 
iſt ja in bezug auf das Geſamtgaſtſpiel nur wenig zu 
ſagen, und ſoll denn das alte tauſendmal Geſagte ewig 
wiedergekaͤut werden? 

„Wallenſteins Lager“ iſt, wie bereits gemeldet, 
durchweg von einheimiſchen Kraͤften beſorgt worden, 
freilich in einer Weiſe, uͤber die ſelbſt die leutſelige 
Muͤnchener Kritik den Stab gebrochen. „Die Piccolo— 
mini“ und „Wallenſteins Tod“ haben neue und fremde 
Kraͤfte ins Treffen geſchickt. Voran Herrn Barnay 
vom Hamburger Stadttheater, den Darſteller des 
Wallenſtein. Ludwig Barnay wird gegenwaͤrtig ſo 
haͤufig genannt, wie ſeinerzeit Fritz Haaſe, der be— 
rühmte „Mauernweiler“ der fuͤnfziger und ſechziger 
Jahre, genannt wurde. Er iſt in Ungarn geboren, hat 
aber, von der Technik des Burgtheaters etwas an— 


132 


geweht, fein ſchauſpieleriſches Heil in Deutſchland ge— 
ſucht. Er, Siegwart Friedmann und Franziska 
Ellmenreich ſind, wie man ſagt und ſogar druckt, die 
„drei Sterne“ am deutſchen Theaterhimmel. Alle drei 
ſind hier in Muͤnchen, und alle drei haben in der 
„Wallenſtein“⸗Trilogie mitgewirkt. Herr Barnay, der 
Wallenſtein des Geſamtgaſtſpiels, trat dem Publikum 
nicht unintereſſant entgegen: ſtraff in Geſtalt, Gang 
und Geſichtszuͤgen. Er hielt die Aufmerkſamkeit ge— 
ſpannt, indem er, jetzt eine Kleinigkeit gebend, auf 
Groͤßeres hinzuweiſen ſchien. Raͤtſelhaft wie Wallen— 
ſteins Charakter erſchien auch das Talent des Dar— 
ſtellers; man wurde lange nicht klug aus ihm, doch lag 
in dieſer ſchwebenden Ungewißheit ein gewiſſer Reiz. 
Herr Barnay ſtrebt nach der aͤußerſten Einfachheit des 
Tones, nach einer faſt monotonen Gehaltenheit der 
Rede, die jeder auch nur leiſe abweichenden Nuance 
eine ſtarke Wirkung ſichern ſoll. Sein Wallenſtein 
ſpricht in einem tiefen Tone, der meiſtens, wie der Baß 
eines Orgelpunktes, feſtliegt, und ſich in der gewoͤhn— 
lichen oder durch Gedanke und Empfindung maͤßig be— 
wegten Rede nur in die Terz oder hoͤchſtens in die 
Quart erhebt; wenn die Stimme nun bei erregteren 
Momenten in die Quinte und Oktave emporſchnellt, 
ſo iſt das freilich eine eigene Wirkung. Doch liegt der 
Grundton, den Herr Barnay fuͤr den Wallenſtein an— 
ſchlaͤgt, fo tief, daß er ſich tiefer liegende Tone völlig 
verſchließt, und dadurch der ſchoͤnſten Nuancen ver— 
luſtig geht. Fuͤr das Tatſaͤchliche, Realiſtiſche, Gerad— 


133 


linige in Wallenſtein hat ſich Herr Barnay durch die 
monoton fortklingende Baßſaite einen guten Ton ge— 
ſchaffen; aber für die Krümmen in feinem Gedanfen- 
gang, fuͤr das Phantaſtiſche in ihm und fuͤr ſeine ge— 
muͤtlichen Anwandlungen iſt dieſer Ton zu unge— 
ſchmeidig. Wo Phantaſtiſches und Gemuͤtliches in 
eins zuſammenſchlagen, wie in dem Traumgeſicht: „Es 
gibt im Menſchenleben Augenblicke“, iſt Herr Barnay 
voͤllig ungenügend. Fuͤr die herrliche Erzaͤhlung 
nagelt er jenen tiefen Baßton feſt bis zu der Stelle: 
„Und mitten in die Schlacht ward ich geführt im 
Geiſt“, wo er ſich auf einmal, ich weiß nicht warum, 
auf ein farbiges Schildern und Ausmalen einlaͤßt, um 
gleich darauf bei den Worten: „Da faßte ploͤtzlich hilf— 
reich mich ein Arm“, wo doch das Gemuͤt bis zur 
Ruͤhrung erklingen ſollte, einen matten, nuͤchternen 
Ton anzuſchlagen. Den Haupteffekt ſpart er ſich für 
den Schluß der Erzaͤhlung auf. Mit dem hellſten Klange 
ſeiner Stimme ſchreit er die Zeile: „Mein Vetter ritt 
den Schecken an dem Tag“, um in der naͤchſten Zeile: 
„Und Roß und Reiter ſah man niemals wieder“, in 
eine ſchauerliche Tiefe hinabzugleiten. Das ſind 
mechaniſche Kontrafte, die in ihrer Außerlichkeit und 
berechneten Abſicht eher ernuͤchternd als erſchuͤtternd 
wirken. Sehr ungenuͤgend iſt Herr Barnay in den 
Stellen, da er den wankenden Max gemütlich zu be— 
arbeiten und aufs neue an ſich zu feſſeln bemuͤht iſt. 
Hier fließen Schillers Worte wie lauter Gold und 
münden unmittelbar ins Gemuͤt; es ſind die zarteſten 


134 


und ſtaͤrkſten Zumutungen, die je aus dem Munde 
eines erfahrenen Mannes das Ohr eines Juͤnglings 
getroffen haben, um ihn durch die Macht der Pietaͤt 
von ſeiner Pflicht abſpenſtig zu machen. Herr Barnay 
hat keine Stimme fuͤr ſolche Herzenslaute, er ſteht ihnen 
fremd gegenüber und „tut nur ſo“. Wie hat einſt An- 
ſchuͤtz, im übrigen kein hervorragender Wallenſtein, 
dieſe ganze Stelle geſprochen, wie warm, wie gemüt— 
voll melodiſch, wie zwingend! Mir klingen noch heute 
die Verſe im Ohr: „Es kann nicht ſein, ich mag's und 
will's nicht glauben, daß mich der Max verlaſſen kann.“ 
Hier hob der große Darſteller ſeine Stimme in die 
Tenorlage, ſeine Sprache wurde zu einem verfuͤhreri— 
ſchen Geſang, und in dem Worte „Max“, vor dem 
Anſchuͤtz eine kleine Weile anhielt, lag eine volle Traͤne. 
Herr Barnay hat keine Traͤne, wie ſich die Schau— 
ſpielerſprache ausdruͤckt. Und trotz dieſer Ausſtellungen 
hielt uns Herr Barnay zwei Abende hindurch in einer 
erwartungsvollen Schwebe, auch ſeine Mimik, ſeine 
guten Arm- und Handbewegungen machten höhere Er— 
wartungen rege, und daß er ein intereſſanter Schau— 
ſpieler ſein müſſe, war mir bis zum Schluß von 
„Wallenſteins Tod“ nicht unwahrſcheinlich. 

Ein zweiter „Stern“, Herr Friedmann, gab den 
Iſolani mit kecker, wirkſamer Charakteriſtik. Er ſprach 
mit einem geſchmackvollen Anklang an das Kroaten— 
deutſch und legte eine ſlawiſche Seele in dieſe oͤſter— 
reichiſche Haudegennatur. Frau Ellmenreich, der 
dritte „Stern“, gab eine aͤltere, hoͤchſt verſtaͤndige 


135 


Thekla, die übrigens etwas müde war und ihre Rolle 
nur ſtoßweiſe fortbewegte. Sie machte keinen be— 
deutenden Eindruck. Dagegen der Max, Herr Kraſtel, 
wie riß er das Publikum mit ſich fort! Wie ein 
friſcher Luftzug ging es durch den ſchwuͤlen Theater— 
raum, als dieſer Schauſpieler erſchien, und in den 
„Piccolomini“ wurde das Publikum nicht muͤde, ſich 
von ihm begeiſtern zu laſſen. So wohl iſt es Herrn 
Kraſtel ſchon lange nicht mehr geworden, und in der 
Tat erſchienen ſeine unleugbaren Vorzuͤge bei dieſer 
Gelegenheit wie in ihrer urſprünglichen Friſche. Von 
einem idealen Zuge war ſein Max innerlich getragen, 
und Stimme, Geſtalt und Bewegung widerſprachen 
nicht dieſem inneren Bilde. Leider fiel Herr Kraſtel 
in „Wallenſteins Tod“ ein wenig in ſeine alten Fehler 
zuruͤck, die wir ſo oft an ihm geruͤgt haben. Da fackelte 
er wieder ſtellenweiſe, ſchwamm mit den Armen, tanzte 
und uͤbernahm ſich im Sprechen, was jedoch das Pu— 
blikum nicht hinderte, ihm vom vorigen Abend her treu 
zu bleiben. Indeſſen hat Herr Kraſtel als Tempel— 
herr in „Nathan der Weiſe“ ſeine Scharte ritterlich 
ausgewetzt. Über Herrn Poſſarts Octavio iſt wenig 
Troͤſtliches zu ſagen. Er gab ihn ſelbſtgefaͤllig, gefall— 
ſuͤchtig, geckenhaft. Er war wie einer, der ſich im 
Spiegel beſchaut. Herrn Lewinskys Queſtenberg war, 
wie immer, eine gute oͤſterreichiſche Bureaukratenfigur. 

Dienstag und Mittwoch, der „Hamlet“- und der 
„Clavigo“-Tag, gehoͤrten Herrn Sonnenthal. Ich hatte 
Herrn Sonnenthals Hamlet jahrelang nicht geſehen, — 


136 


das letztemal hatte ich ihm einiges am Zeuge zu 
flicken, — und war nun erſtaunt darüber, zu welcher 
Rundung er dieſe Geſtalt herausgearbeitet. Das Be— 
deutende von Sonnenthals Hamlet liegt jetzt meines 
Erachtens darin, daß der Kuͤnſtler ſich von den land— 
laͤufigen aͤſthetiſchen Auslegungen dieſes Charakters 
losgeſagt und ſich bloß dem ſchauſpieleriſchen Eindrucke 
der Rolle hingegeben. Herr Sonnenthal kommentiert 
nicht, wie ſelbſt Dawiſon noch hin und wieder getan, 
er ſtellt einfach dar. Er erſchoͤpft den Hamlet fuͤr Auge 
und Ohr. Roſſi und Salvini ſind bei dieſer Über— 
ſetzung Hamlets in das Sinnliche, in das Hoͤrbare und 
Anſchauliche gewiß nicht ohne Einfluß geweſen; aber 
nirgends an Sonnenthals Hamlet findet ſich eine 
materielle Spur von Nachahmung. Das iſt Hamlet, 
wie er kuͤnſtleriſch erſcheint; an ſeiner Erſcheinung 
könnt ihr, wenn ihr noch nicht ſatt ſeid, eure Aus— 
legungen knuͤpfen. Dem ſchauſpieleriſchen Hamlet ſieht 
man es nicht an, ob auf ſeine Schulter eine Aufgabe 
gelegt ſei, der er nicht gewachſen; er ſagt uns nicht, 
ob er vor lauter Gewiſſen nicht zum Handeln gelange; 
er teilt uns nicht mit, ob er ein tatfräftiger Mann ſei, 
der aber, um ſein Recht zum glaͤnzendſten Triumph 
kommen zu laſſen, die Ausfuͤhrung der Rache verzoͤgere 
— das alles iſt der bloß kuͤnſtleriſch genommenen Er— 
ſcheinung Hamlets fremd. Ich ſehe nur den Mann, 
dem man den Vater gemordet, und der, von dem Ver— 
luſte und der verraͤteriſchen Art und Weiſe des Mordes 
im Innerſten getroffen, fuͤr keinen anderen Gedanken 


137 


als den, fich an dem Mörder zu rächen, mehr Raum hat. 
Das genügt für das ſchauſpieleriſche Bild Hamlets, 
und das genuͤgt auch für den Genuß des Zuſchauers. 
Sonnenthals Darſtellung fuͤhrt uns alſo nicht in die 
alte Gruͤbelei uͤber den Gruͤbler zurück, ſondern befreit 
uns von dieſem der Kunſt gegenuͤber krankhaften 
Hange. Da iſt es nun ein Vergnuͤgen, zu ſehen, über 
welchen Reichtum an techniſchen Mitteln Herr Sonnen— 
thal verfuͤgt, und wie er dabei die Einfachheit, die 
Natuͤrlichkeit ſelbſt iſt. Ein ſolcher Kuͤnſtler gibt den 
Maßſtab fuͤr den Wert des Geſamtgaſtſpiels in die 
Hand. Wie iſt an dieſem „Hamlet“-Abend die ganze 
übrige Herrlichkeit neben Sonnenthal klein erſchienen! 
Es lohnt nicht die Muͤhe, auf dieſes dramatiſche Elend 
naͤher einzugehen, es waͤre eine Folter fuͤr den Schreiber 
und fuͤr den Leſer. Selbſt Muͤnchener Blaͤtter haben 
aufrichtig zugeſtanden, daß dieſer Abend ein arger 
Schlag fuͤr das Geſamtgaſtſpiel geweſen ſei. 

Und den folgenden Abend feierte Herr Sonnenthal 
einen zweiten Triumph, der noch glaͤnzender war als 
der erſte. Er ſpielte den Clavigo. Man kennt in 
Wien dieſe bewundernswerte Leiſtung, und ich brauche 
nur an die Szene mit Marie im zweiten Aufzuge zu 
erinnern, um Sonnenthal in ſeiner ganzen Liebens— 
würdigkeit im Gedaͤchtniſſe der Wiener auftauchen zu 
laſſen. Dieſer weiche Ton legt ſich an das Herz, er 
iſt unwiderſtehlich. Nicht minder bedeutend iſt die 
Darſtellung der Paſſivitaͤt im dritten Akte mit dieſer 
Beredſamkeit des ſtummen Spiels. Wie ſollte neben 


138 


ſolchem Clavigo das arme Mariechen, Fräulein Weſ— 
ſelys, aufkommen! Wie ſie ſonſt nicht leben kann, 
kann ſie hier nicht ſterben. Wir dachten an die See— 
bach, und wie ſie als Anfaͤngerin dieſe Rolle geſpielt. 
Und wieder begegnete uns — diesmal neben Sonnen— 
thal — Herr Poſſart. Dieſe Nachbarſchaft erdruͤckt 
ihn, denn feine Manier iſt das Widerſpiel von Sonnen- 
thals Kunſt. Goethes Carlos iſt ein Weltmann, der 
aus ſeiner Welterfahrung herausſpricht, und den 
weicher geſtimmten Freund vor „dummen Streichen“ 
behuͤten moͤchte. Herr Poſſart iſt ein einſamer — Spatz, 
haͤtte ich faſt geſagt, nein, ein einſamer Sprecher, der 
um des Sprechens willen ſpricht, der einen Redeerfolg 
ſucht. Er ſteht auf einem Piedeſtal, worauf in dick 
vergoldeten Lettern der Name „Ernſt Poſſart“ prangt. 
Kuͤnſtleriſche Selbſtloſigkeit iſt in keinem ſeiner Worte, 
in keiner ſeiner Gebaͤrden zu finden. Clavigo gegen— 
uͤber fehlt ſeinem Carlos ganz das Band der Sym— 
pathie, der nackte Rhetor, der Sophiſt tritt hervor. 
Herr Poſſart leert die Rolle des Carlos menſchlich 
voͤllig aus. Auch Herrn Barnays Beaumarchais 
kommt uns nicht bedeutend entgegen. Weg iſt das 
intereſſante Daͤmmerlicht des Wallenſtein, wir ſtehen 
vor keinem Raͤtſel mehr. Herr Barnay faßt den 
Beaumarchais derb militaͤriſch an, barſch und baſſig 
im Tone, ohne Liebenswuͤrdigkeit, ohne Ritterlichkeit. 
Barnays Beaumarchais koͤnnte von Kotzebue fein. 
Man ſieht, wie vorwiegend bitter die Empfindungen 
ſind, welche das Geſamtgaſtſpiel einfloͤßt. Nicht ein— 


139 


mal an einer neuen Dichtung kann man ſich erfreuen 
oder aͤrgern. Ich drückte mich geſtern am Hoftheater 
ſcheu voruͤber und ſuchte Erholung in dem kleinen, 
huͤbſchen Reſidenztheater. „Ein Falliſſement“ von 
Bjoͤrnſon wurde gegeben. Die Hauptrolle, der Ad— 
vokat Berent, befand ſich in Herrn Poſſarts Haͤnden. 
Man hatte mich aufmerkſam gemacht, daß dies eine 
ſeiner beſten Rollen ſei. Ich laſſe mich ſo gerne belehren, 
bekehren! Nun, neue Seiten fand ich nicht an Herrn 
Poſſart, wohl aber machte die Rolle des Berent einen 
guͤnſtigeren Eindruck auf mich, als die fruͤheren. Ich 
ſah vor mir einen ungemein fleißigen, in gewiſſem 
Sinne ſcharfblickenden Schauſpieler, der ſich viel 
Techniſches zu eigen gemacht, und der wenigſtens 
aͤußerlich im Geiſte eine Rolle zu ſpielen weiß. Er 
legt ſich ſeine bunten Stifte zurecht, die er merkwürdig 
geſchickt zu ordnen verſteht. Ein Zuſammenhang von 
innen heraus iſt nicht vorhanden. So war bei ſeinem 
Advokaten alles gut in Ordnung, — der Kruͤckſtock und 
das lahme Bein, das Schnupftuch und die Tabaks— 
doſe, — und das Spiel mit dieſen Dingen war aufs 
verſtaͤndigſte berechnet. Ach, haͤtte er einmal daneben— 
gegriffen, wie Franz Liszt es auf dem Klaviere tut! 
Ich haͤtte dann einen Menſchen und vielleicht einen 
beſſeren Schauſpieler vor mir gehabt. Herr Poſſart 
hat zu viel Bewußtheit zum Kuͤnſtler, nicht jene Be— 
wußtheit, die das Genie vollendet, ſondern die 
niedrigere, die das Genie erſetzen moͤchte. Neben dem 
Advokaten Berent machten ſich im Reſidenz-Theater 


140 


ein paar huͤbſche weibliche Talente, die Damen Ramlo 
und Marie Meyer, geltend. Aber meine beiden groͤßten 
Muͤnchener Feinde vergaͤllten mir den Genuß; ſie 
heißen: der Zwiſchenvorhang und das langſame Tempo. 


(Am 11. Juli 1880) 


Muͤnchen und Wien. Macbeth. Emilia 
Galotti. Nathan der Weiſe. 


Die Wiener Kritik hat von ſeiten der Muͤnchener 
Zeitungen harte, ja grobe Worte hoͤren müſſen. Man 
hat ſie der Kirchturmpolitik bezichtigt, man hat ihr auf— 
gemutzt, daß ſie lediglich an der Iſar erſchienen ſei, um 
alles, was aus Wien gekommen, loͤblich, alles andere 
aber, woher immer, tadelhaft zu finden. Es werden uns 
im Intereſſe unſerer kritiſchen Seligkeit bei jedem An— 
laſſe Zenſuren erteilt, man ſtichelt auf uns, wir werden 
geſcholten und belehrt. Uns iſt das ein Luſtſpiel, 
eine Poſſe, und wir laͤcheln uͤber unſere Lehrmeiſter, 
die ſelbſt nichts gelernt haben. Wien und Muͤnchen 
ſind zwei grundverſchiedene Ausgangspunkte fuͤr die 
Theaterkritik. Ich kann das beurteilen, denn ich kenne 
beide Staͤdte, Wien und Muͤnchen, und ich kenne die 
Schauſpielbuͤhnen beider Staͤdte. Ich habe in dem 
alten Ludwigſchen Muͤnchen gelebt, mir iſt das Muͤn— 
chen des Koͤnigs Max nicht unbekannt, und auch dem 
neuen München habe ich hin und wieder einen Beſuch 


141 


abgeftattet. Ich habe Frau Straßmann-Damboͤck in 
ihrer Jugendbluͤte geſehen, den warmen Deklamator 
Dahn wie oft gehoͤrt, Frau Dahn-Hausmann, ein 
ehrwuͤrdiges Altertum der Muͤnchener Hofbuͤhne, habe 
ich noch in ihrer Lieblichkeit gekannt und mich an 
dem nun geſchiedenen Meiſter Joſt beim Weine und 
im Schauſpiele erquickt. Das Burgtheater kenne ich 
laͤnger als fuͤnfundzwanzig Jahre. Das Burgtheater 
hat mir unendlich mehr geboten als die Münchener 
Hofbuͤhne. In Muͤnchen einzelne, vereinzelte Talente, 
das Burgtheater ſelbſt ein Talent. Unmittelbar haͤngt 
das Burgtheater zuſammen mit den großen ſchau— 
ſpieleriſchen Stroͤmungen des vorigen Jahrhunderts. 
Schroͤder hat hier nicht bloß geſpielt, er ſpielt in 
Gleichgeſinnten und Gleichgeſtimmten noch immer fort 
im Burgtheater. Wir von einer aͤlteren Generation 
haben noch Anſchuͤtz, Loͤwe, Fichtner, La Roche in 
ihrer Kraft geſehen, wir ſahen ſie fortgeſetzt in Sonnen— 
thal, Hartmann, Lewinsky, und zwei ſolche Original- 
meiſter wie Bernhard Baumeiſter und Helene Hart— 
mann, die wie Gebirgsquellen ſprudeln, ſind eine 
immerwaͤhrende Erquickung fuͤr das ganze Inſtitut. 
Alle bedeutenden Talente, die in neuerer Zeit hervor— 
getreten, ſtarke und zarte, haben ihren Weg durch das 
Burgtheater genommen. Nun iſt Urteil uͤber drama— 
tiſche Leiſtungen kein Ding, das ſich aus den Fingern 
ſaugt, es will vielmehr angeregt, erlebt, erfahren ſein. 
Zum Urteil wird man erzogen, wie zum Sittlichen, 
und bei beiden iſt die Gewoͤhnung zum Guten die be— 


142 


deutendfte Macht. Die unvergleichlich größere Fülle 
von Stoff bietet das Burgtheater, und, natuͤrlich das 
Talent vorausgeſetzt, wird ſich das Urteil in Wien 
ungleich leichter als in Muͤnchen heranbilden laſſen. 
Auch der ſchaͤrfere Ton der Wiener Kritik, der Frei— 
ſinn ihres Urteils, das auch den Beſten nicht ſchont, 
wenn er unter ſich ſelbſt bleibt, haͤngt mit jenem Reich— 
tum an Talenten zuſammen. Vor dem naͤchſtbeſten 
Schauſpieler ins Knie zu ſinken, wie vor einem hoͤheren 
Weſen, faͤllt der Wiener Kritik, ſoweit ſie ſich uͤber 
das Notizenweſen erhebt, nicht ein. Bei unſerem hoch— 
entwickelten Zeitungsweſen nimmt der Wiener Kritiker 
eine Gentlemanſtellung ein, die von den Schauſpielern 
und von den leitenden Haͤuptern der Buͤhnen reſpektiert 
wird. Die Wiener Kritik iſt nicht das Echo von 
Schauſpielermeinungen, ſondern eine oͤffentliche Macht, 
die im gegebenen Falle gutes oder ſchlechtes Wetter 
macht. Sie iſt eine Schuͤlerin des Burgtheaters, und 
darin liegt ihre Beſcheidenheit und ihr Stolz, ihre 
Pietaͤt und ihr Freimut. Die Münchener Zeitungen 
aber ſollten uns dankbar ſein fuͤr das freimuͤtige 
Weſen, das wir Maͤnner aus Wien hier entfaltet 
haben, und ſie ſollten hinter ihrem Publikum nicht 
zuruͤckbleiben. Was ich beiſpielsweiſe uͤber Herrn 
Poſſarts Buͤhnenpolitik und ſchauſpieleriſche Art ge— 
ſchrieben, iſt in den verſchiedenſten Kreiſen Münchens 
als frohe Botſchaft, als ein laͤngſt erſehntes er— 
loͤſendes Wort begruͤßt worden. Es hat unter anderem 
auch ein Wunder bewirkt. Eines Vormittags erſchien 


143 


nämlich — eine bisher unerhörte Tatſache — Direktor 
Poſſart im Hinterſtuͤbchen einer Münchener Redaktion, 
an ſeiner Seite Frau Wolter, die im Leben Graͤfin, 
auf der Buͤhne eine Fuͤrſtin iſt. Herr Poſſart ſtellte 
Frau Wolter vor, indem er ſich ſelbſt meinte. Welche 
Überraſchung für die beſcheidenen Maͤnner von der 
Feder! Und ſeht, ihr undankbaren Kritiker von der 
Iſar, dieſe Ehre verdankt ihr dem Wiener Freimute, 
dieſen fetten Biſſen, von dem wir taͤglich genießen 
koͤnnten, haben wir Wiener euch in die Kuͤche gejagt. 

Auf dem Geſamtgaſtſpiele hat ſich Frau Wolter 
zuerſt als Orſina, dann als Lady Macbeth, und jedes— 
mal mit dem rauſchendſten Erfolge vorgeſtellt. Oben 
in einer Loge des zweiten Ranges ſaß Frau Chriſten, 
weiland Klara Ziegler, von ihrem Sitze hochaufragend 
wie ein Weſen aus einer hoͤheren Koͤrperwelt. Sie 
verfolgte unverwandten Blickes das Spiel der Wolter 
und mochte ſich ihre Gedanken machen uͤber ihre einſtige 
tebenbuhlerin, die leiblich und geiſtig ſchlanker ge— 
baut iſt als ſie. Das Auge hatte in der Tat viel zu 
tun, als Frau Wolter die Lady Macbeth ſpielte. Sie 
arbeitet ihre Rolle vorzugsweiſe auf das ſinnliche 
ſichtbare Bild hin. In Maske und Gewandung ſteht 
ihr Hans Makart zur Seite, uͤber Gang und Stellung 
zieht fie Fanny Elßler, die bejahrte Grazie des Tanzes, 
zu Rate. Frau Wolter bewegt ſich hier ganz im 
Maleriſchen und ſtreift faſt an den Tanz. Das haͤngt 
mit ihrer Auffaſſung der Lady Macbeth zuſammen. 
Sie faßt ſie ganz ſinnlich auf, als ein verfuͤhreriſches 


144 


Weib, das durch feine Hingebung den Mann unendlich 
begluͤckt, ihn daͤmoniſch feſſelt. Sie hat den Ehrgeiz, 
die Erſte zu ſein um ihrer ſelbſt und um ihres Gatten 
willen. Kaum hat Macbeth ſeine ehrgeizige Velleitaͤt 
nach dem Hexenorakel brieflich ausgeſprochen, ſo waͤchſt 
ſie in Lady Macbeth, waͤhrend ſie den Brief lieſt, zum 
feſten, unerſchuͤtterlichen Willen. Macbeth kommt, er 
beruͤhrt ſein Weib, und faſt ohne daß ein Wort zwi— 
ſchen ihnen faͤllt, iſt die Tat beſchloſſen und ſo gut wie 
getan. Das alles ruͤckt Frau Wolter in eine ſinnlich 
ſchwuͤle Atmoſphaͤre. Sie bedient ſich durchaus der 
Vorteile ihres Leibes; man ſieht ihr edel geſchnittenes 
Profil nie ſchoͤner, ihre mandelartig geſchlitzten Augen 
mit den ſchweren Lidern, die uͤppigen Wimpern nie 
heißer und verheißender, das alles erhoͤht durch 
raffiniert anziehenden, einfachen Kopfputz und durch 
eine Gewandung, welche die wirklichen Reize erhoͤht, 
die fehlenden verdeckt. Den jaͤhen Ruck in Lady Mac⸗ 
beths Weſen, die ungeheure, der Tat zueilende Willens— 
ſtaͤrke, die ſie dem alten Koͤnig gegenuͤber in katzen— 
artiger Heuchelei und Schmeichelei zu verſtecken weiß, 
verſteht Frau Wolter mit bildartiger Anſchaulichkeit 
vor das Auge zu zaubern. Die ſich ſteigernde Energie 
tut ſich kund in den eckigen Bewegungen, die ſich von 
der Grazie losſagen, in dem raſchen Gang, der die Ge— 
bundenheit des weiblichen Gehens leugnet. In dem 
entſcheidenden Augenblicke der Mordnacht iſt ſie, bei 
vollſter Klarheit des Wollens, ein dahinſtuͤrmendes 
vernichtendes Element. Waͤhrend in Macbeths Blut 


IVIIO 145 


ſchon das Gewiſſen gärt, bleibt fie ruhig. Das Neue, 
Unerhoͤrte der Situation, der Triumph des Gelingens, 
die Seligkeit des Beſitzes hat ihr eine betrachtende 
Ruͤckkehr zu ſich ſelbſt, eine Beſchauung des eigenen 
Gemuͤtes noch nicht geſtattet. Noch einmal bei der 
Bankettſzene, da Banquos Geiſt erſcheint, zeigt Lady 
Macbeth dem aus Rand und Band geratenen Gatten 
gegenuͤber ihre Staͤrke und Beſonnenheit. In den 
Moment, da die Gaͤſte ſich entfernen, faͤllt ein Hoͤhe— 
punkt von Frau Wolters maleriſcher Darſtellung. Sie 
ſchreitet die Staffeln empor, ſetzt ſich an eine Ecke der 
vereinſamten Tafel, zieht eine Seite des Purpur— 
mantels hinauf bis an das Geſicht, ſtuͤtzt ihr gekroͤntes 
Haupt auf eine Hand und ſitzt nachdenkend, traͤume— 
riſch da: ein entzuͤckender Stoff fuͤr das Auge. Man 
moͤchte von hier zuruͤckblicken auf die Auffaſſung der 
Rolle, ſie auf ihren Sinn befragen. Iſt nicht das 
Maleriſche zu uͤberwiegend, das geſprochene Wort und 
der unter ihm liegende Verſtand zu ſehr vernachlaͤſſigt? 
Ja, Frau Wolter ſpringt mit dem geſprochenen Worte 
zu wild um, verkuͤrzt es in ſeinen Rechten und iſt in— 
ſofern kein ganz echtes Kind des Burgtheaters, deſſen 
Erſtes und Letztes das gut geſprochene Wort iſt. 
Manchmal läuft fie tonlos über einen ganzen Satz hin— 
weg, laͤßt hier ein Wort fallen, ſticht dort ein anderes 
heraus, ſpringt in den verſchiedenſten Toͤnen herum, 
ohne eine mittlere Tonart feſtzuhalten. Das ſind 
große Maͤngel ihrer Lady Macbeth. Doch wuͤrde man 
ſich taͤuſchen, wenn man annehmen wollte, daß ihre 


146 


malerische Behandlung der Rolle rein äußerlich ſei; im 
Gegenteile, indem fie zum Auge ſpricht, ſpricht fie auch 
zum Gemuͤt. Gerade in jenem Hoͤhepunkte nach der 
Bankettſzene macht Frau Wolter den Übergang zur 
Nachtwandelſzene, ſtellt ſie uns mit einer Beredſamkeit, 
die keiner Worte bedarf, den inneren Zuſtand der Lady 
Macbeth dar, den Zuſammenbruch ihrer Kraͤfte, das 
Zuruͤckſinken ins Weibliche, das Aufdaͤmmern des Ge— 
wiſſens. Noch hat ſie die Macht uͤber ihren Mund, 
erſt im Schlafe plaudert ſie ſich aus. Frau Wolters 
Darſtellung der Nachtwandelſzene iſt nun ein Schmaus 
fuͤr das Auge. Es iſt ein Konzert von Bewegungen 
und Stellungen, von Seufzen und Geſtoͤhn, von 
Fluͤſtern und wildem Aufſchreien. Und doch durch— 
dringt das Maleriſche wieder ein feinerer Sinn. Es 
ſind Reſte von der Energie, von dem Anſichhalten des 
ungeheuren Weibes vorhanden; fie huͤtet ſich noch im 
Schlafe, ſich zu verraten, ſie fluͤſtert und wiſpert, da— 
mit man fie ja nicht deutlich höre. Frau Wolter wett— 
eifert hier gluͤcklich mit der Riſtori, ohne ihre eigene 
Auffaſſung fallen zu laſſen. Ihre Lady Macbeth iſt 
einzig, wenn auch nicht frei von Maͤngeln. 

Neben Frau Wolter fiel alles ringsum ab, zumal 
Herrn Barnays Macbeth. Herr Barnay ſuchte ſeine 
Rolle von zehn verſchiedenen Seiten zu faſſen, ohne ſie 
auch nur auf einen Augenblick zu erhaſchen. Und wie 
ſchoͤn und lohnend waͤre die Aufgabe geweſen, neben 
Frau Wolter einen bedeutenden Macbeth hinzuſtellen, 
dieſe merkwuͤrdige Geſtalt, die ſtrauchelt, ſolange das 


[10] 147 


Weib ſtaͤrker ift als er, die aber, nachdem das Weib 
dahin, ihren einſamen Schickſalsgang groß und koͤnig— 
lich vollfuͤhrt. Nicht einmal mit feinem ſchoͤnen Organe 
weiß Herr Barnay etwas anzufangen. Herr Dettmer 
ſprach den Macduff in ſeinem eigentuͤmlichen Sing⸗ 
ſang. Zwei Muͤnchener Kraͤfte, die Herren Schneider 
(Banquo) und Haͤuſſer (Roſſi) ſind mit Anerkennung 
zu erwaͤhnen. 

Als Orſina in „Emilia Galotti“ nahm es Frau 
Wolter mit der ſprachlichen Seite ihrer Rolle ernſter. 
Eben weil ich ſie bei fruͤheren Gelegenheiten lebhaft ge— 
tadelt, moͤchte ich hervorheben, daß ſie ſich in dieſe 
ſcharfe Leſſingſche Proſa intimer eingelebt. Herr 
Sonnenthal gab an dieſem Abende den Prinzen — eine 
Rolle, die nie zu ſeinen beſten gehoͤrte und aus der er 
nachgerade herauszuwachſen beginnt. In der erſten 
Szene, die er im Schlafrocke ſpielte, ſah er aus wie 
ein reicher Bankier. Es tut uns leid, daß Herr 
Sonnenthal, deſſen Clavigo den ſchauſpieleriſchen Hoͤhe— 
punkt des Geſamtgaſtſpiels bezeichnet, nicht mit einer 
fuͤr ihn guͤnſtigeren Rolle von Muͤnchen geſchieden iſt. 
Friedmanns Marinelli war eine ſchwache Leiſtung, 
durchaus ohne Schärfe und Eleganz. Frau Ellmen- 
reich als Emilia ging nicht uͤber das Mittelmaͤßige 
hinaus. Goethe bemerkt einmal, Emilia ſei „entweder 
ein Luderchen oder ein Gaͤnschen“. Frau Ellmenreich 
entſchied ſich nach keiner dieſer Seiten. 

Nach der „Wallenſtein“-Trilogie, in welcher ſo viel 
ſchauſpieleriſche Unfaͤhigkeit aufgeboten worden, war 


148 


„Nathan der Weiſe“, mit Herrn Lewinsky in der Titel— 
rolle, eine wahre Wohltat. Was fuͤr ein Genuß es 
ſei, von einem Schauſpieler gut ſprechen zu hoͤren, das 
fiel nach jener Sprechwildnis doppelt ſtark auf. Herrn 
Lewinskys Nathan ſtammt von Anſchuͤtz ab; aber er iſt 
ein Sohn desſelben, keine Puppe. Die Verſe des 
Nathan mit ihrer flinken Bewegung, ihrem Hinuͤber— 
eilen in die naͤchſte Zeile, ihren wilden Zaͤſuren, die 
ſich nur dem Sinne, nicht dem Worte abgewinnen 
laſſen — dieſe Verſe gut zu ſprechen, iſt eine große 
Kunſt, die, neben geiſtigem Temperament, viel Über— 
blick und Ruhe erfordert. Herr Lewinsky bezwingt 
dieſe Schwierigkeiten, zumal die Erzaͤhlung von den 
drei Ringen ſpricht er mit anmutender Gelaſſenheit. 
Dieſer berühmten Gleichnisrede iſt erſt jüngft von 
Wien her uͤbel mitgeſpielt worden in der Schrift: „Bei— 
träge zur Beurteilung G. E. Leſſings“, von Dr. Richard 
Mayr. Der Verfaſſer deckt die logiſchen Widerſpruͤche 
der Leſſingſchen Parabel auf und nennt die große, 
liebenswerte Perſoͤnlichkeit mit einer haͤßlichen Wen— 
dung einen „Politikus des populaͤren Erfolges“. Die 
geruͤgten Widerſpruͤche ſtecken allerdings in Leſſings 
Parabel, aber trotz derſelben geht ein uͤberzeugender 
Ton durch die Erzaͤhlung, und man verſteht ſie ſo rich— 
tig, als waͤre kein logiſcher Widerſpruch in ihr. Auch 
hier in Muͤnchen blieb die alte Wirkung nicht aus, die 
durch Herrn Lewinskys Vortrag geſteigert wurde. 
Fraͤulein Weſſelys Recha war ein rechtes liebes, 
dummes Kind, Frau Frieb-Blumauer eine vortreffliche 


140 


Daja mit kleinen komiſchen Elementen. Von Herrn 
Kraſtels Tempelherrn, der Furore gemacht, habe ich 
ſchon fruͤher geſprochen. 

Wien hat durchwegs Erfolge aufzuweiſen, was ja 
auch die Muͤnchener Zeitungen zugeſtehen muͤſſen. 
Herr Robert hat als Ferdinand in „Kabale und Liebe“ 
einen großen Erfolg mit Beifallsklatſchen und Hervor— 
rufen gehabt. Vorlaͤufig melde ich das ganz einfach. 
Es iſt eine Tatſache, kein Urteil. 


(Am 20. Juli 1880) 


Kabale und Liebe. Minna von Barnhelm. 
Der zerbrochene Krug. 


Es iſt heute ein ganz in Licht getauchter, funkelnder 
Sonntagsmorgen. Ich ſitze in Unterammergau, eine 
Stunde von Oberammergau, wo ich geſtern in dem 
Gedraͤnge und Geſchiebe von ſchauluſtigen Fremden 
weder ein Nachtlager noch einen Theaterſitz ergattern 
konnte. Soeben werden in Oberammergau drei 
Boͤllerſchuͤſſe geloͤſt, zum Zeichen, daß das Paſſions— 
ſpiel ſeinen Anfang nimmt. Ich moͤchte druͤben ſein 
und muß hier ſtille liegen mit einem unſicheren Aus— 
blicke auf die Montagsvorſtellung, welcher ſchon 
Tauſende entgegenharren. Ich ſitze in einer reinlichen, 
traulichen Bauernſtube; durch die Scheiben blitzt die 
Morgenſonne, allerwaͤrts geht der Blick ins Gruͤne, 


150 


und durch das Fenſter grüßt das „Ettaler Mandel“, 
jener gemuͤtvolle Komiker unter den bayeriſchen Berg— 
geſtalten, der, wie weiland Ferdinand Raimund, weh— 
muͤtig luſtig den Kopf haͤngen laͤßt. Vor mir auf dem 
Tiſche liegen Theaterzettel vom Münchener Paſſions⸗ 
ſpiele her, das man mit einem zaͤrtlichen Schmeichel-⸗ 
worte „Geſamtgaſtſpiel“ getauft hat. Ich denke an 
meine literariſchen Schulden, moͤchte ſchreiben und 
kann die rechte Stimmung nicht finden. Ich ſuche ſie 
mit den Augen oben an dem warmen Holzgetaͤfelz ich 
ſuche ſie in dem monumentalen Bette, wo der Menſch 
in den Schlaf emporklettern muß; ich öffne den bunt- 
bemalten Kaſten, wo ich ſie vielleicht verlegt habe. 
Vergebens! Ich ſetze mich nieder mit der Gebaͤrde des! 
Schreibens, um mich zu ſammeln, und endlich erſcheint 
Hilfe. Am Fenſterpfeiler prangt in den eindringlichſten 
Waſſerfarben St. Georg, den Lindwurm erlegend, 
und hinter dem geſprungenen Spiegel ſteckt eine ge— 
weihte Rute mit weichen Palmkaͤtzchen. Der Anblick 
gibt mir Staͤrke, und der kritiſche Geiſt kommt wieder 
über mich. Ich Frage und kritzle die dramaturgiſchen 
Reſte aus Muͤnchen zuſammen, gleichſam die Scharre 
von dem knolligen Brei, den Herr Poſſart eingeruͤhrt 
und verbrannt hat. Nun verſinke vor meinen Blicken, 
du ſchoͤnes, weites Ammergauer Tal mit deinen gruͤn— 
blinkenden Bergen, und ſteigt herauf, ihr grauen 
Buͤhnengeſpenſter, die mir jo manchen Abend vergaͤllt, 
den man auf einem Muͤnchener Keller, hinter dem 
ragenden Steinkruge und im traulichen Geſpraͤche mit 


151 


Freunden viel fröhlicher und erſprießlicher ans 
gewendet haͤtte. 

Der Gedanke an Schillers „Kabale und Liebe“, 
ſein beſtes, lebendigſtes Theaterſtuͤck, das er nicht aus 
dem Finger oder Geiſte geſogen, ſondern aus der 
atmenden Wirklichkeit geholt, verknuͤpft ſich mir un— 
zertrennlich mit dem Stadtmuſikanten Miller von An⸗ 
ſchuͤtz. Ich ſehe ihn noch vor mir, den biedern Alten, 
im langen braunen Rock, mit dem geſtutzten, breit— 
krempigen ſchwarzen Filz, den grauen Struͤmpfen, den 
Schnallenſchuhen und das ſpaniſche Rohr in der Hand. 
Auguſt Foͤrſter, der Muͤnchener Darſteller des Muſikus, 
ſah ungefaͤhr auch ſo aus, nur ſpielte er ihn ein wenig 
anders als Anſchuͤtz. Er hat den Vorteil gehabt, An⸗ 
ſchuͤtz in dieſer Rolle zu ſehen, und er hat aus ſeinem 
Vorbilde Nutzen gezogen. Fruͤher, da Herr Foͤrſter 
noch dem Burgtheater angehoͤrte und an die Leipziger 
Goldfelder noch nicht dachte, hatte ſein Muſikus Miller 
einen gewiſſen Wert — den Wert naͤmlich, ſtark an 
Anſchuͤtz zu gemahnen und die verwehten Spuren der 
Erinnerung wieder kenntlich zu machen. Er ſpielte 
den Miller nach Anſchuͤtz, nicht nur der Zeit, ſondern 
auch dem Weſen nach, nur muß man das Wort 
„Weſen“ nicht zu buchſtaͤblich nehmen. Der Muſikus 
Miller von Anſchuͤtz war eine Schoͤpfung, und einer 
Schoͤpfung ihr Weſen zu entwenden, wird einem Nach— 
ahmer nie gelingen. Er greift nach der aͤußeren Er— 
ſcheinung, aber die Motive, die inneren Springfedern 
dieſer Erſcheinung entgehen der Nachahmung. So 


152 


war es bei Herrn Foͤrſter. Er hatte feinem Vorgaͤnger 
die Mienen und Gebärden abgegudt, die Modula— 
tionen der Stimme abgelauſcht; er ſtand, ging, tat und 
ſprach wie Anſchuͤtz, nur daß uͤber Koͤrper und Organ 
mehr Fett gelagert war. Die Taͤuſchung war ſo voll— 
kommen, als ſie es bei dem weiten Abſtande der 
Talente nur ſein konnte. So war es, und ſo iſt es frei— 
lich auch geweſen, denn heute iſt Herr Foͤrſter voͤllig 
verwildert, aus Rand und Band geraten, ein Zerrbild 
ſeiner einſtigen Mittelmaͤßigkeit. In ſein Sprechen 
iſt eine ſolche Haſt gefahren, daß die Worte, gleich 
fetten Kindern, durch- und uͤbereinanderpurzeln; aus 
einer zufällig verftändlich gewordenen Silbe muß man 
das Wort, aus dieſem mutmaßlichen Worte den Sinn 
des Satzes erraten. So faͤllt und fehlt die Wirkung 
gerade bei den entſcheidenden Stellen, wo jedes Wort 
treffen und ſitzen muß. So beiſpielsweiſe in der herr— 
lichen Szene, wo der Muſikus den Praͤſidenten ver— 
donnert. Wenn Anſchuͤtz den Miller gab, ſo war dies 
immer ein Feft- und Feiertag für das bürgerliche Ge— 
fuͤhl, wobei es ſeine ſchmackhafteſten Kuchen bekam. 
Gerade in der Szene mit dem Praͤſidenten, welch ein 
Beifall durch das ganze Haus, welch ein Jubeln und 
Jauchzen vom „Paradies“ herab! Der Praͤſident ſchilt 
des Muſikus Tochter eine Metze. Nun mußte man 
Anſchuͤtz ſehen, wie die Beſchimpfung in ihm wirkte, 
wie die Zornader ſchwoll, wie er aus ſeinem empoͤrten 
Gefuͤhle heraus nach der Sprache rang, wie er ab— 
geriſſen, ſtockend begann und wie er dann nach und 


153 


nach den ſtoßweiſe freiwerdenden Strom ſeines Un— 
willens uͤber das Haupt des Praͤſidenten goß. Drei— 
mal mit immer wachſender Heftigkeit erneuern ſich 
dieſe Stoͤße. Zuerſt: „Eure Exzellenz — das Kind iſt 
des Vaters Arbeit — Halten zu Gnaden —. Wer das 
Kind eine Metz ſchilt, ſchlaͤgt den Vater ans Ohr, und 
Ohrfeig um Ohrfeig — Das iſt ſo Tax bei uns — 
Halten zu Gnaden.“ Dann der zweite Stoß: „Halten 
zu Gnaden. Ich heiße Miller, wenn Sie ein Adagio 
hören wollen — mit Buhlſchaften dien’ ich nicht. So⸗ 
lang der Hof da noch Vorrat hat, kommt die Lieferung 
nicht an uns Buͤrgersleut'. Halten zu Gnaden.“ Und 
der dritte und letzte Erguß: „Deutſch und verſtaͤndlich. 
Halten zu Gnaden. Eure Exzellenz ſchalten und walten 
im Land. Das iſt meine Stube. Mein devoteſtes 
Kompliment, wenn ich dermaleinſt ein Promemoria 
bringe, aber den ungehobelten Gaſt werf' ich zur Tuͤr 
hinaus — Halten zu Gnaden.“ Wie ſich Anſchuͤtz 
redend herwendete zum Praͤſidenten und dann abging, 
um ſich zu einem neuen Zornausbruch zu ſammeln, und 
wie er ihn wieder hintrug zum Praͤſidenten — in 
dieſem Hin und Wider lag ſchon für das Auge eine 
große Beredſamkeit. Die wiederholte Phraſe „Halten 
zu Gnaden“ ſparte ſich Anſchuͤtz von dem Atem ſeines 
Zornes ab und legte in fie einen Ausdruck, der trotz der 
Hoͤflichkeit und wohl auch durch den beibehaltenen hoͤf— 
lichen Ton ſich von einer leiſen Ironie bis zum ſchaͤrf— 
ſten Sarkasmus ſteigerte. Und mit welcher durch— 
ſchlagenden Macht und Wucht wurde das alles ge— 


154 


ſprochen! Das Burgtheater verehrte in Anſchuͤtz ſeinen 
größten Sprecher, der über die Neben- und Zwiſchen⸗ 
ſaͤtze hinweg mit ſo ruhiger Hand wie kein Zweiter den 
zuſammenhaͤngenden Faden des Sinnes ſchlug; es 
wohnte eine geordnete Klarheit in ſeinen Worten wie 
in ſeinem Geiſte. Nicht minder war er ein Meiſter in 
der charakteriſtiſchen, in der leidenſchaftlichen Rede, 
und eines ſeiner hoͤchſten Meiſterſtuͤcke in dieſer Gat⸗ 
tung waren eben jene Invektiven, die er dem Präft- 
denten v. Walter an den Kopf warf. Und dann, nach 
dieſen heftigen Ausbruͤchen hatte Anſchuͤtz noch eine 
ganz beſondere ÜUberraſchung in Bereitſchaft. Wie ſich 
Muſikus Miller von allen Seiten bedraͤngt ſieht, ſchaut 
er ſich innerlich nach einer Hilfe um. „Ich laufe zum 
Herzog,“ ſagt Miller. „Der Leibſchneider — das hat 
mir Gott eingeblaſen — der Leibſchneider lernte die 
Floͤte bei mir. Es kann mir nicht fehlen beim Her— 
zog ...“ Die heilige Einfalt dieſer Außerung, dieſen 
letzten Zufluchtsgedanken eines gehetzten Wildes, ſprach 
Anſchuͤtz fo kindlich glaͤubig, mit einer jo unſchuldigen 
Zuverſicht, daß man zugleich laͤcheln und geruͤhrt ſein 
mußte. Neben den ſtarken, oft derben und groben 
Lauten einer buͤrgerlichen Seele kamen bei Anſchuͤtz die 
zarteſten Gemuͤtstoͤne zum Vorſchein; er war ruͤhrend 
in ſeiner hilfloſen Liebe zu der Tochter, er war erſchuͤt⸗ 
ternd in ſeiner Einſamkeit, in der grauenhaften Zer⸗ 
ſtoͤrung des häuslichen Lebens. Über das Elend und 
ſelbſt uͤber den Plunder einer von dem Geſetze un⸗ 
geſchuͤtzten, der Willkuͤr der Großen preisgegebenen 


21 


bürgerlichen Exiſtenz warf er den verflärenden Schim> 
mer ſeiner genialen Begabung. Auguſt Foͤrſter hat 
mir Heinrich Anſchuͤtz in Erinnerung gebracht, wie die 
Gurke an die Melone erinnert. 

Auch uͤber die ſonſtige Beſetzung von „Kabale und 
Liebe“ iſt des Ruͤhmlichen nicht allzuviel zu melden. 
Der rauſchende Erfolg, den Herr Robert als Ferdinand 
davongetragen, imponiert mir nicht im mindeſten, ob— 
gleich ich ihn dem fleißigen Schauſpieler goͤnne. Herr 
Robert hatte viel vom landlaͤufigen deutſchen Lieb— 
haber, aber eine gewiſſe Wohlerzogenheit und die 
Starrheit der Geſichtsmaske — Gips, nicht Marmor 
— find fein eigenſtes Eigentum. An Wohllaut der 
Stimme und an friſcher Unmittelbarkeit uͤbertrifft ihn 
Herr Kraſtel. Freilich mochte ſich Herr Robert uͤber 
die weiblichen Mitſpieler beklagen, die nicht dazu an— 
getan waren, ihm einen Funken von Geiſt oder Tem— 
perament zu entlocken. Fraͤulein Ullrich aus Dresden 
gab die Lady Milford in einer kleinſtaͤdtiſch geſpreizten, 
lahmen Weiſe, ohne Spur von Groͤße und Leidenſchaft. 
Fraͤulein Weſſely als Louiſe — nun, wir kennen ja 
„unſere“ Weſſely. Sie iſt ein artiges Kind, artig er— 
zogen und gedrillt, aber ſich ſelbſt hat ſie noch nicht ge— 
funden — oder ſollte ſie am Ende gar nicht zu Hauſe 
ſein? Ihre Louiſe war hoͤhere Toͤchter- und Theater— 
ſchule. Herr Lewinsky hatte als Sekretaͤr Wurm 
gleichfalls keinen gluͤcklichen Abend; er war ohne 
Schaͤrfe und ſelbſt im Sprechen ſchwach. Eine gewiſſe 
Abnahme ſeiner Kraͤfte ſcheint ſich hin und wieder 


156 


geltend zu machen, die ich mir einigermaßen aus ſeiner 
unverdienten Zuruͤckſetzung im Burgtheater erklaͤren 
kann. Iſt es nicht eine Kraͤnkung für einen Schau⸗ 
ſpieler von der Bedeutung Lewinskys, wenn man ihm 
den Franz Moor, ſeine Schickſalsrolle fuͤr Wien, weg— 
nimmt und ſie Herrn Mitterwurzer einhaͤndigt? Solche 
Ungerechtigkeit nagt an einem Talente. Herr Haaſe 
ſpielte den Hofmarſchall v. Kalb mit der heiterſten 
Geckenhaftigkeit; er iſt ein Genie im Aufſpuͤren von 
kleinen, bezeichnenden Zuͤgen, aber mehr Sparſamkeit 
in ſolchem Detail wuͤrde ihn als einen reicheren Mann 
erſcheinen laſſen. Herr Herz aus Muͤnchen, ein ſchaͤtz— 
barer Charakterkomiker, gab zu ſeinem und unſerem 
Unſegen den Praͤſidenten. Er war der Rolle fremd 
und ſie ihm. Er ſprach wie ins Blaue hinein, ohne 
Zuſammenhang und Sinn, und bei den zu Ferdinand 
geſprochenen Worten: „Eine Frechheit, bei meiner 
Ehre! die ich ihrer Seltenheit wegen vergebe“ — blieb 
er ploͤtzlich ſtecken in einem ſeltſam rollenden „Krrrrrrr“. 
Weiß der Himmel, was das fuͤr ein Wort iſt! 

In Leſſings „Minna von Barnhelm“ trat Frau 
Ramlo von Muͤnchen zum erſten Male waͤhrend des 
Geſamtgaſtſpiels auf. Ihre Francisca verriet ein 
gluͤckliches Soubrettentalent, im Sprechen gut geſchult 
und voll munterer Laune. Ihr gegenuͤber ſtand Frau 
Ellmenreich aus Dresden als Minna, diesmal mit be— 
ſcheidener Anmut und ziemlich flink in der Wiedergabe 
des lebensvollen, beſtaͤndig vorwaͤrts- und zuruͤck— 
ſpringenden Leſſingſchen Geſpraͤches. Herr Dettmer 


157 


aus Dresden als Tellheim leidlich, Herr Foͤrſter als 
Paul Werner geraͤuſchvoll und unverſtaͤndlich, Herr 
Oberlaͤnder aus Berlin als Wirt lebhaft, aber trocken. 
Herrn Haaſes Riccaut de la Marlinière war wieder 
auf das ſorgfaͤltigſte und reinlichſte durchgefuͤhrt, voll 
feiner und treffender Zuͤge. Der Schauſpieler tut 
alles, um den Schwindler und falſchen Spieler liebens— 
wuͤrdig erſcheinen zu laſſen, und er bringt dies einfach 
dadurch zuſtande, daß er uns dieſer Erſcheinung gegen— 
über ein gewiſſes theoretiſches Intereſſe, eine Neugier, 
ihn zu erraten und zu verſtehen, einfloͤßt. Ein Detail, 
das ich mir gemerkt habe, war allerliebſt. Riccaut ſitzt 
plaudernd und ſchwindelnd mit den beiden Frauen- 
zimmern zuſammenz als er ſich nun vom Stuhl erhebt, 
gibt er mit der Schneide der rechten Hand feinem Ruͤck⸗ 
grat einen nachhelfenden Druck, der ihn wieder in den 
Stand ſetzt, gerade zu ſtehen. Herr Haaſe iſt ein geiſt— 
reicher Schauſpieler, der als Darſteller von Kavalieren 
und feineren komiſchen Chargen jeder deutſchen Buͤhne 
zur Zierde gereicht. Auch das Burgtheater koͤnnte ſich 

luͤck dazu wuͤnſchen, ihn zu ſeinen Mitgliedern zu 
zaͤhlen. 

Noch einmal, am ſelben Abend, mit „Minna von 
Barnhelm“, hat ſich das Muͤnchener Geſamtgaſtſpiel 
im Luſtſpiele verſucht. Kleiſt's niederlaͤndiſches Bild: 
„Der zerbrochene Krug“ eroͤffnete den Abend. Be— 
kanntlich iſt dieſes Stuͤck unter Goethe in Weimar zu— 
ſchanden geſpielt worden, indem es, ftatt in einem, in 
zwei Aufzuͤgen gegeben wurde. In Muͤnchen wurde 


158 


es, freilich langſam genug, doch in einem Akte auf— 
gefuͤhrt. Den Richter Adam gab Herr Krauſe aus 
Berlin, ſorgfaͤltig und lebendig, doch nicht ohne 
Trockenheit. Herr Haͤuſſer aus Muͤnchen, ein friſches 
älteres Naturburſchentalent, ſtellte als Gerichtsdiener 
Licht, wie faſt immer, ſeinen Mann. Die Damen 
Frieb⸗Blumauer und Ramlo beſorgten in trefflicher 
Weiſe das weibliche Element. Der Eindruck war in 
der erſten Haͤlfte des Stuͤckes ein guͤnſtiger, in der 
zweiten aber erlahmt das Intereſſe durch die Verſchlep— 
pung des Tempos. Das langſame Tempo — nicht 
wahr, meine ſtehende Klage aus Muͤnchen? Ja wohl, 
und ich werde noch gruͤndlicher daruͤber klagen. Die 
langen Naͤchte um Weihnachten ſind die guͤnſtigſte Zeit 
fuͤr das Muͤnchener Hoftheater, denn man kann da doch 
hoffen, nach der Vorſtellung noch rechtzeitig zum Fruͤh— 
ſtuͤck nach Haufe zu kommen. 

Und indem ich vergnuͤgten Herzens dieſes Punktum 
mache, ertoͤnen von Oberammergau heruͤber wieder die 
Boͤllerſchuͤſſe, welche den Eintritt der Mittagspauſe an— 
kuͤndigen. Wie oft nicht waͤhrend des Schreibens habe 
ich mich hinuͤbergeſehnt in das bretterne Buͤhnenhaus, 
da ich doch ſo ſehr eines dramatiſchen Naturbades be— 
duͤrftig bin, um den Staub des Muͤnchener Geſamt— 
gaſtſpieles abzuſpuͤlen. Wenigſtens hinuͤber muß ich 
nach Oberammergau und mich ein halbes Stuͤndchen 
mit den Gluͤcklichen zuſammenſetzen, die beim Paſſions— 
ſpiele ihr Plaͤtzchen gefunden. Was werden fie zu ers 
zaͤhlen, was fuͤr bedeutende Beobachtungen mitzuteilen 


159 


haben! Ich freue mich auf den Gedankenſchmaus. 
Mit meinen Bemerkungen uͤber die Einzelheiten des 
Muͤnchener Geſamtgaſtſpieles will ich aber hiermit ab— 
geſchloſſen haben, gewiß wie in meinem, ſo auch im 
Sinne des Leſers. Wir haben zuſammen nicht viel 
Liebes und mehr Leidiges erfahren, mehr Verſtimmen— 
des als Erquickliches. Ich habe bisher aus dem 
Parterre auf die Buͤhne geſchaut und die Sache aus 
der Froſchperſpektive angeſchaut; noch einmal moͤchte 
ich uͤber das Ganze hinfliegen und es aus der Vogel— 
perſpektive betrachten. Freilich werde ich auch dann 
keine ſo befriedigte Miene aufziehen, wie die man— 
cherlei geſchaͤftigen kleinen Geiſter, welche nicht muͤde 
werden, das von der Direktion Poſſart gelegte große 
Wind⸗Ei ſtaunend zu begackern. 


(Am 23. Juli 1880) 


Epilog 


„Die Zeitungen mit ihrem Tadel,“ aͤußerte Ernſt 
Poſſart gegen Friedrich Haaſe, „werden laͤngſt in 
Staub zerfallen ſein, wenn mein Werk, das Muͤnchener 
Geſamtgaſtſpiel, noch gedeihlich fortleben wird in 
feinen Wirkungen ...“ Es druͤckt ſich in dieſem 
Ausſpruche ein ſtarkes Selbſtgefuͤhl aus, ein Selbſt— 
gefuͤhl, das wohltuend waͤre, ſtuͤnde dahinter eine be— 
deutende Perſoͤnlichkeit oder eine große Sache; aber, 
von der Perſoͤnlichkeit abgeſehen, wie geringfuͤgig die 


160 


Leiſtung und wie prahleriſch das Wort! Auch Franz 
Dingelſtedt, Poſſarts Vorgaͤnger und Vorbild, dachte 
nicht eben beſcheiden von ſeinen Münchener Mufter- 
vorſtellungen, wie ja Beſcheidenheit ſtets die Sache des 
Nebenmenſchen iſt. In ſeiner unumwundenen Weiſe 
ſpricht er ſich daruͤber in den „Muͤnchener Bilder— 
bogen“ aus. „Der Glanz und die Größe dieſer Kunſt— 
gebilde,“ ſchreibt Dingelſtedt, „der unbeſtimmbare und 
doch von jedem tiefempfundene Hauch einer hohen 
Weihe, welcher, ſobald der ſchwere Portalvorhang 
langſam emporrauſchte, von der Buͤhne in den Zu— 
ſchauerraum herabwehte, aus dieſem zu jener zuruͤck— 
ſtroͤmte, der unausloͤſchliche Eindruck, den die zwoͤlf 
Abende in allen Teilnehmern nicht bloß hervorgebracht, 
ſondern dauernd hinterlaſſen — alle dieſe Momente 
waren kuͤnſtleriſche Errungenſchaften des Unter— 
nehmens, waren die erſten Keime zu dem Zukunftsbilde 
eines deutſchen Nationaltheaters, die fruͤheſten Regun— 
gen des Aſſoziationstriebes in der Koͤrperſchaft drama— 
tiſcher Kuͤnſtler. Jetzt ſteht dieſelbe feſt gegliedert da 
und erſtreckt ſich als geſchloſſener Verein lebenskraͤftig, 
fruchtbringend uͤber alle Buͤhnen, ſowie jetzt alljaͤhrlich 
bald Geſamtgaſtſpiele im kleinen, bald Wanderungen 
ganzer Theatergeſellſchaften von Nord nach Suͤd, von 
Suͤd nach Nord, ins Elſaß, in die Schweiz, ſogar uͤbers 
Weltmeer nach Amerika ſtattfinden.“ So Franz 
Dingelſtedt. Wer vermoͤchte aus dieſer Verſchlingung 
hoͤchſt verſchiedener Faͤden das Richtige vom Unrich— 
tigen zu ſondern, wer das, was Dingelſtedt wirklich 


IVIII 161 


getan, von dem trennen, was die Entwicklung der 
Dinge fuͤr ihn getan zu haben ſcheint? In unſerer 
eigenen Sache ſind wir alle Egoiſten und Idealiſten, 
idealiſtiſche Egoiſten, die nach einem aͤſthetiſchen Prinzip 
arbeiten, wie ja auch die Menſchen von ihrem be— 
ſchraͤnkten Standpunkte aus gewiſſe Sterne des Him— 
mels, die unendliche Meilen weit auseinanderliegen 
und einander eigentlich gar nichts angehen, zu ſinn— 
reichen Sternbildern aneinanderreihen. Wie dem aber 
auch ſei, jedenfalls hat Franz Dingelſtedt ſeine Sache 
mit mehr Verſtand und mit mehr Gluͤck als Ernſt Poſ— 
ſart gemacht. Er pfluͤckte ſie ab vom richtigen Augen— 
blicke, und er arbeitete mit einem weit wertvolleren 
kuͤnſtleriſchen Material. Dingelſtedt machte ſeine 
Muſtervorſtellungen zu einem ſchauſpieleriſchen Anner 
der deutſchen Induſtrieausſtellung, und gerade in dem 
Momente, da die hervorragendſten aͤlteren Kraͤfte der 
deutſchen Buͤhne ſich anſchickten, ihr Teſtament zu 
machen, griff er ſie noch einmal auf und zeigte ſie, eine 
erlauchte Geſellſchaft, der erſtaunten Welt. Andere 
Kuͤnſtler, die jetzt alt und welk geworden und nicht er— 
ſetzt ſind, ſtanden damals in der Bluͤte ihrer Kraft. 
Der Verſtaͤndige hatte das Gluͤck und heimſte von 
Rechts wegen auch die Fruͤchte des Gluͤckes ein. 

Ganz verſchieden ſteht es mit dem Muͤnchener 
Geſamtgaſtſpiel, welches Ernſt Poſſart ins Werk geſetzt 
hat. Zeit, Ort und Art des Unternehmens, alles war 
willkuͤrlich und verfehlt. Es war im allgemeinen ein 
unnoͤtiges Unternehmen, und im beſonderen, in bezug 


162 


auf Minden, ein unkluges, ja leichtſinniges Unter— 
nehmen. Unnoͤtig, denn der gegenwaͤrtige Zuſtand der 
Schauſpielkunſt in Deutſchland war fuͤr ein Geſamt— 
gaſtſpiel eher abſchreckend als einladend; unklug fuͤr 
Muͤnchen, denn die ſchauſpieleriſchen Kraͤfte der Muͤn— 
chener Buͤhne hielten nicht den Vergleich aus mit den 
Kuͤnſtlern, die von Wien gekommen waren. Muͤnchen 
iſt ſchon lange nicht mehr ein Vorort der deutſchen 
Schauſpielkunſt; die Oper iſt dem Schauſpiele uͤber 
den Kopf gewachſen, und Richard Wagner befindet ſich 
beſſer in Muͤnchen als Schiller oder Shakeſpeare. Es 
war daher bei einer ſolchen Lage der Dinge geradezu 
eine Grauſamkeit des Direktors Poſſart, ſeinen Leuten 
gegenuͤber uͤber die ruͤhrende Genuͤgſamkeit der Muͤn— 
chener Kritik hinweg ein unbefangenes oder, wenn man 
will, ein durch das Gute verwoͤhntes und inſofern be— 
fangenes oͤffentliches Urteil herauszufordern. Man 
mag es hoͤren wollen oder nicht, wahr und unumſtoͤß— 
lich bleibt es jedenfalls, daß die Muͤnchener Schau- 
ſpieler mitſamt ihren deutſchen Kollegen von den 
Wiener Kuͤnſtlern aufs Haupt geſchlagen worden ſind. 
Die Wiener gaben den Maßſtab her, an dem die 
uͤbrigen gemeſſen wurden. Herr Poſſart ſelbſt war 
klug genug, bei einem Gaſtmahle der Schauſpieler 
einen Trinkſpruch auf Dingelſtedt auszubringen, als 
auf den „genialen Leiter der erſten deutſchen Schau— 
buͤhne“, allein er haͤtte die Konſequenzen dieſer An— 
ſchauung bedenken muͤſſen, bevor er ein Geſamtgaſt— 
ſpiel in Szene ſetzte. Er hat, der ungeſchickte Heren- 


899 163 


meifter, die Geiſter gerufen, die ihn nicht mehr los— 
ließen und nicht mehr loslaſſen werden. Die Wiener 
fielen in der Schar ihrer deutſchen Kollegen auf durch 
ihr einfaches, natuͤrliches Sprechen, durch einen ge— 
wiſſen warmen Ton und durch einen Reichtum an 
Mitteln der Mimik, wovon die Schauſpieler „im Reich 
draußen“ keine Ahnung haben. Das einfache Spre— 
chen verdanken ſie, neben ihrer Arbeit, dem erblichen 
Genius des Burgtheaters, den warmen Ton dem 
Wiener Volksgeiſte, der ſich beſonders ſchoͤn in den 
Wiener Frauen ausſpricht, und das Kapital ihrer 
Mimik haben ſie durch Zubuße von italieniſchen und 
franzoͤſiſchen Schauſpielern vermehrt. Die Beredſam— 
keit der Finger, der Haͤnde, der Arme iſt welſchen Ur— 
ſprunges und von den Wiener Schauſpielern nur auf 
ein deutſches Maß zuruͤckgefuͤhrt. Wenig erfinderiſch, 
ſchauſpieleriſch nur maͤßig begabt, beduͤrfen wir 
Deutſche, um nicht zu erſtarren, ſtets der Anregung 
aus der Fremde. Nicht ſelbſtgenuͤgſam zu ſein, ſich 
nicht abzuſperren, ſondern das Foͤrderliche, woher es 
auch komme, in ſich aufzunehmen und eigenartig um— 
zubilden, das iſt Geiſt und Geſinnung des Burg— 
theaters. Sonnenthals Clavigo, in ſeiner Gediegen— 
heit der Sprachbehandlung, in der Durchbildung des 
Spieles bis in die Fingerſpitzen, in ſeinem zum Ge— 
muͤte, zur Phantaſie ſprechenden warmen Tone — 
Sonnenthals Clavigo war der Inbegriff der Schau— 
ſpielkunſt des Burgtheaters. Frau Wolter als Lady 
Macbeth brachte noch ſchaͤrfere Wirkungen, noch glaͤn— 


164 


zendere, wahrhaft verblüffende Farben; es war das 
Burgtheater in bengaliſcher Feuerbeleuchtung. In 
jenem ſtillen, ſtarken, klaren Lichte und in dieſen leuch— 
tenden Fluten verblaßten und erbleichten die kleineren 
Sterne des deutſchen Theaterhimmels. Sonnenthal 
und die Wolter ſind groß genug, um uͤberall und in 
jeder Umgebung zu wirken; es gibt aber beſcheidenere 
Kraͤfte, die, um Wirkung zu uͤben, in ihrer gewohnten 
kuͤnſtleriſchen Heimat geſehen ſein wollen, wo ihnen 
ein kongeniales Enſemble entſpricht. Solche Schau— 
ſpieler in einen gemuͤtloſen Wettbewerb mit den beſten 
Kuͤnſtlern hereinziehen, heißt an ihnen freveln, heißt 
ſie umbringen. So machten Herr Lange aus Karls— 
ruhe und Herr Holthaus aus Hannover zumeiſt eine 
klaͤgliche Figur, und doch, ſind ſie nicht Lieblinge in 
Hannover und Karlsruhe? Herr Barnay, der ewige 
Jude der mittel- und norddeutſchen Buͤhnen, ein von 
der Preſſe verhaͤtſchelter Schauſpieler — wie klein iſt 
er in Muͤnchen geworden nach ſeinem raͤtſelhaften, viel 
verſprechenden und nichts haltenden Wallenſtein! 
Dieſer Mann waͤre undenkbar auf dem Burgtheater. 
Ja, man hat vieles einſchrumpfen und verſchwinden 
ſehen in Muͤnchen. Manche muͤhſam erſchriebene 
Papierkrone iſt zerknittert worden, manches bunt— 
bemalte hoͤlzerne Zepter in den Staub gefallen. Es 
war ein großes Opferfeſt, aber ſo ſchoͤn arbeitete die 
Ironie, daß der Opferprieſter, Herr Poſſart, der ſo 
viele zur Schlachtbank geführt hatte, zuletzt ſelbſt als 
Opferlamm fiel. 


165 


Muͤnchen war auch nicht der Ort zu einem deut— 
ſchen Geſamtgaſtſpiele nach der ganzen Art ſeines 
Buͤhnenbetriebes. Es herrſcht ein gar bedaͤchtiger 
Geiſt in dem Schauſpielhauſe, das Blut iſt duͤnn, der 
Pulsſchlag träge. Das langſame Theatertempo Muͤn— 
chens iſt die Verzweiflung eines jeden Menſchen von 
Temperament. Stuͤcke, die bei uns in den üblichen 
dritthalb Theaterſtunden abgetan werden, ziehen ſich 
in Muͤnchen von 157 bis 11 Uhr. Merkwuͤrdigerweiſe 
haben wir von Muͤnchener Schauſpielern die Anſicht 
aͤußern hoͤren, daß Wien das langſamſte Tempo be— 
ſaͤße. Allerdings gab es einmal eine Zeit — Ludwig 
Tieck bezeugt es — da man am Burgtheater langſamer 
ſprach als an den norddeutſchen Buͤhnen. Wer aber 
erinnert ſich noch daran in Wien? Raſches Tempo hat 
Heinrich Laube immer gepflegt im Burgtheater, nicht 
nur raſches Tempo im Sprechen des einzelnen, ſondern 
auch raſches Tempo im ganzen, in der Aufeinander— 
folge der Szenen und der Akte. Laube hat ganze Akte 
und Stuͤcke gerettet durch kluge Anwendung eines be— 
ſchleunigten Zeitmaßes. Franz Dingelſtedt, deſſen 
Beſtreben mehr auf ein ſinnliches Bild des Ganzen 
geht, widmet dem geſprochenen Worte geringere Sorg— 
falt als Laube; doch wirkt Laubes Temperament noch 
fort in den Schauſpielern, und die juͤngeren werden 
von den aͤlteren mitgeriſſen. Den Burgſchauſpielern 
das langſamſte Tempo zuſchreiben, iſt daher befremd— 
lich. Es liegt eine Taͤuſchung darin. Naͤmlich das iſt 
wahr, daß die Schauſpieler des Burgtheaters in der 


166 


Rede fehr langſam werden konnen, freilich nur an 
Stellen, wo eine breite Auseinanderſetzung des Ge— 
dankens erforderlich iſt; dann, aber auch nur dann ſetzen 
ſie ſich, laſſen ſich gleichſam haͤuslich nieder. Solches 
Sitzenbleiben und gruͤndliche Ausſchoͤpfen der Rede 
wird aber von ihnen als Zeitverſaͤumnis in Anſchlag 
gebracht und durch ſonſtiges raſches Sprechen wieder 
eingeholt. Alles ineinander gerechnet, das Langſame 
und das Raſche, werden die Wiener ungleich ſchneller 
fertig als die Muͤnchener. Die Muͤnchener meinen ein 
raſches Tempo zu haben, wenn ſie, ſonſt gemaͤchlich im 
Gang der Rede, hin und wieder einen Satz flink her— 
vorfprudeln; natürlich bleiben fie hinter den Wienern 
zuruͤck, die nur ſelten, um einen Soldatenausdruck zu 
gebrauchen, auf der Stelle treten, ſonſt aber nicht etwa 
huͤpfen, ſonſt marſchieren. Zur Langſamkeit im Spre- 
chen geſellten ſich in Muͤnchen die langen Zwiſchenakte, 
auf welche das ſonſt huͤbſche Theatergefaͤngnis gar nicht 
eingerichtet iſt, und — der Greuel aller Greuel — das 
Wuͤten des Zwiſchenvorhanges. Ein Schauſpiel hat 
in Muͤnchen nicht ſeine fuͤnf Aufzuͤge, ſondern es wird 
geriſſen in zehn, zwoͤlf und vierzehn Akte. Akte zu 
ſagen, iſt kaum eine Übertreibung. Nur ein Beiſpiel. 
Dem Hamlet erſcheint ſeines Vaters Geiſt. Er winkt 
dem Sohne, er moͤchte ihn allein ſprechen. Spannung 
im Publikum — ploͤtzlich faͤllt der Zwiſchenvorhang. 
Und der Zwiſchenvorhang bleibt vier geſchlagene 
Minuten unten, eine Ewigkeit fuͤr die Spannung des 
Zuſchauers. Endlich geht der Vorhang in die Hoͤhe: 


167 


eine andere, wohlarrangierte Landſchaft, Hamlet und 
der Geiſt des Vaters. Nun iſt die Spannung ver— 
raucht, aber wir haben eine huͤbſche neue Landſchaft. 
Waͤre denn eine raſche Verwandlung nicht wirkſamer 
und kuͤnſtleriſcher? Gewiß. Aber das Münchener 
Theater, ein leidiger Schuͤler der Meininger, legt auf 
ſeine in der Tat geſchmackvollen Ausſtattungen einen 
ſo ausſchließlichen Wert, daß es, um eine ſchauerliche 
Gegend, ein ſchoͤn eingerichtetes Zimmer zu produzieren, 
die dramatiſche Wirkung ſchlechthin opfert. „Das iſt 
einfaͤltig und verraͤt einen jaͤmmerlichen Geſchmack,“ 
würde Hamlet ſagen. In ſolcher Weiſe wird in Muͤn— 
chen bloßen Nebenwirkungen zuliebe die koſtbare Zeit 
verzettelt und die Dichtung beeintraͤchtigt. Was aber 
dieſer Zeitvergeudung die Krone aufſetzt, das iſt der 
Umſtand, daß im Muͤnchener Schauſpielhauſe gar kein 
Orcheſter ſpielt. Es herrſcht eine ſchauerliche Ode in 
den Zwiſchenakten; die Wohltat einer Zeitverkuͤrzung 
durch die Muſik muß man entbehren; kein klingender 
Faden knuͤpft den juͤngſten Aufzug an den folgenden. 
Das gehoͤrt auch zum langſamen Tempo des Muͤnchener 
Theaters. 

So hat uns das Muͤnchener Geſamtgaſtſpiel nichts 
Neues von erheblichem Werte gebracht. Das Gute 
haben wir gekannt, das Schlimme geahnt und leider 
erlebt. Die zerriſſenen Theaterzuſtaͤnde Deutſchlands, 
den Mangel an Talent und Schule zu gewahren, war. 
eine bittere Erfahrung. Wenn die Erkenntnis beſeligt, 
ſo hatte ſie diesmal doch einen herben Beigeſchmack. 


168 


Ein deutsches Geſamtgaſtſpiel zu veranſtalten, war jetzt 
nicht an der Zeit, oder haͤtte doch, wenn man es zu— 
geben will, anders muͤſſen eingerichtet werden. Sollte 
wieder ein aͤhnliches Unternehmen zuſtande kommen, 
ſo muͤßte man ſich nicht einſeitig ſteifen auf unſere 
klaſſiſche Dichtung und weniger das bloß ſchauſpiele— 
riſche Moment betonen. Das erſte Wort muͤßte die 
Dichtung haben, die Dichtung der Gegenwart, ohne 
welche die Schauſpielkunſt dahinſiecht. Sorgt dafuͤr, 
daß ihr neue Dichtungen habt fuͤr ein kuͤnftiges großes 
Buͤhnenfeſt, daß ihr nacheinander ein neues Trauer— 
ſpiel, ein neues Schauſpiel, ein neues Luſtſpiel auf— 
fuͤhren koͤnnt. Dann trefft eine richtige Ausleſe von 
ſchauſpieleriſchen Kraͤften, uͤbt ſie eine Weile zuſammen, 
ladet hierauf die Welt ein zum Genuſſe und rahmt die 
neuen Dichtungen ein zwiſchen klaſſiſche Stuͤcke. In 
ſolcher Weiſe koͤnntet ihr der guten Sache dienen, und 
eure perſoͤnlichen Intereſſen — fuͤrchtet euch nicht, auch 
ihnen waͤre beſſer gedient, wenn man ſaͤhe, daß ihr euer 
Geſchaͤft verſteht und das Allgemeine dabei gewinnt. 
An dem großen Spieß und an dem großen Feuer 
koͤnntet ihr auch euer Huhn braten. 


(Am 25. Juli 1880) 


Adolph Sonnenthal 


Adolph Sonnenthal hat heute fuͤnfundzwanzig 
Jahre Burgtheater zuruͤckgelegt. Eine lange Strecke 
Weges, voll Arbeit und voll ſorgfaͤltig vorbereiteter 
Erfolge und willig zugeſtandener Triumphe, mit an— 
genehmen Ruhepunkten und weiten Ausſichten, mit 
ſtets erneuerten Zielen. Aber man kann ſagen: 
Sonnenthal iſt angekommen. Iſt unter den vielen 
Jubilaͤen, die wir in den letzten Jahren gefeiert haben, 
irgendeines, das keiner kuͤnſtlichen Veranſtaltung be— 
durfte, ſo iſt es ohne Zweifel das ſeinige. Teilnahme, 
feſtliche Stimmung, ſie kommen ungerufen von allen 
Seiten; Maͤnner, Frauen und die empfaͤngliche Jugend, 
ohne Unterſchied des Standes, ſie eilen herbei, um 
ihrem Lieblinge zu ſeinem Ehrentage Gluͤck zu wuͤn— 
ſchen. Denn der Liebling der Stadt, des Landes, des 
Reiches iſt nun einmal Sonnenthal, und als ob freund— 
liche Maͤchte planvoll daran gearbeitet haͤtten, ihn zu 
ſeinem Jubilaͤum auf eine unbeſtrittene kuͤnſtleriſche 
Hoͤhe zu ſtellen, hat auch Deutſchland, haben Berlin, 
Muͤnchen und Hamburg ſich in juͤngſter Zeit beeilt, 
ihm den Lorbeer auf das Haupt zu druͤcken. Man 
braucht es nicht zu ſagen, es ſagt ſich ſelbſt: Adolph 
Sonnenthal iſt der erſte deutſche Schauſpieler. 

Aus unſcheinbaren Anfaͤngen hat ſich Sonnenthal 
zu ſeiner gegenwaͤrtigen Hoͤhe emporgearbeitet. Das 
Schickſal hatte den Knaben nicht weich gebettet. Den 


170 


Kinderjahren, die eine beſcheidene Wohlhabenheit um— 
gab, kaum entwachſen, mußte er, der Bruder vieler 
Geſchwiſter, daran glauben, ſein Brot mit der Arbeit 
ſeiner Haͤnde zu erwerben. Er ergriff ein Handwerk, 
ward Lehrling, Geſelle, verließ als Handwerksburſche 
ſeine Vaterſtadt Peſt, um in Wien Arbeit zu ſuchen und 
zu finden. Ein guter Arbeiter, und doch ein ſonder— 
barer Arbeiter, denn waͤhrend er mit dem Ernſte und 
der Gruͤndlichkeit, die ihm eigen, bis zu den feinſten 
Verrichtungen, gleichſam zur Kunſt ſeines Handwerks 
vordrang, ſchien er doch von einem fremden Daͤmon 
beſeſſen, indem er, ſeine Handgriffe machend und die 
Geduld ſeiner Mitgeſellen ermuͤdend, mit lauter 
Stimme Verſe herſagte, die er bei der Nachtlampe aus— 
wendig gelernt. Schon als Lehrling hatte er das ganze 
klaſſiſche Repertoire der jugendlichen Helden fuͤr ſich 
durchgearbeitet, die ſich nun ungebaͤrdig zum Worte 
meldeten. Fruͤh ſchon war der ſchauſpieleriſche Geiſt 
in ihm aufgewacht. Als einmal im vaͤterlichen Hauſe 
Komoͤdie geſpielt wurde, uͤbernahm der kleine Adolph 
„wegen Not an Mann“, wie er ſich ſelbſt ausdruͤckt, 
eine Maͤdchenrolle, die er zum Entzuͤcken aller An— 
weſenden durchfuͤhrte. Seitdem ſtand der Entſchluß 
in ihm feſt, auf die Buͤhne zu gehen. Daß er den 
Weg durch das Handwerk nahm, ſchadete dem Schau— 
ſpieler keineswegs, im Gegenteile: weſſen Hand in den 
Sinn und Eigenſinn eines gegebenen feſten Stoffes 
einzudringen gewohnt iſt, der wird auch geiſtiges 
Material mit Klugheit, Ehrlichkeit und Treue zu be— 


171 


meiſtern gewillt ſein. Der goldene Boden des Hand— 
werks — golden in dieſer ethiſch-techniſchen Bedeu— 
tung — iſt dem Schauſpieler Sonnenthal nie untreu 
geworden. 

An demſelben Tage, da Sonnenthal ſich zu Wien 
in die Innung ſeines Gewerbes eintragen ließ, be— 
ſuchte er zum erſten Male das Burgtheater. Man gab 
den „Erbfoͤrſter“. Die aufregende Dichtung ſelbſt, 
dazu Darſteller wie Anſchuͤtz, La Roche, Dawiſon — 
man denke ſich in die Gemuͤtslage des empfaͤnglichen, 
von ſchauſpieleriſchen Zukunftstraͤumen bewegten jun— 
gen Geſellen hinein. Zum erſten Male in ſeinem 
Leben beruͤhrte ihn der Genius des Burgtheaters. Der 
Moment war entſcheidend fuͤr ihn. In der Nacht 
konnte er kein Auge ſchließen, und des anderen Tages 
lief er ſchnurſtracks zu Dawiſon, um dieſem ſein Herz 
auszuſchuͤtten, ihm ſeine Wuͤnſche nahezulegen. Dawi— 
ſon ließ ihn Karl Moors Monolog „O Menſchen, 
Menſchen“ ſprechen, und als ſich Sonnenthal zum 
Schluſſe des Monologes auf einen Seſſel warf, der 
unter ihm in Truͤmmer ging, da ſchrie Dawiſon auf: 
„Ja, Sie haben Talent, junger Mann — aber 
ruinieren Sie mir meine Moͤbel nicht!“ Dawiſon ent— 
ließ den Gluͤcklichen mit einem Empfehlungsſchreiben 
an die penſionierte Schauſpielerin Frau Bender, bei 
welcher Sonnenthal ein halbes Dutzend Rollen ein— 
ſtudiertez um das Honorar fuͤr die Lehrerin zu er— 
ſchwingen, mußte er ganze Naͤchte hindurch arbeiten. 
Mittlerweile hatte ihn Dawiſon an Heinrich Laube 


172 


empfohlen, von dem ſich Sonnenthal die Gunſt er— 
wirkte, als Freiwilliger bei den Statiſten des Burg— 
theaters einzutreten. Sonnenthal ſtatierte in der Tat 
in verſchiedenen Stuͤcken, in den „Raͤubern“, „Corio— 
lan“, „Hans Sachs“, „Wilhelm Tell“. Aus dieſer 
dramatiſchen Elementarſchule, in die ihn Laube ge— 
bracht, zog ihn derſelbe Mann wieder heraus. Als 
Sonnenthal ihm eines Tages etwas vordeklamierte, 
rief ihm Laube in ſeiner barſchen Weiſe zu: „Sie 
muͤſſen ſpielen, junger Menſch! Nur fort, hinaus!“ 
Laube und La Roche gaben ihm eine Empfehlung an 
den Theateragenten Prix, und dieſer verſchaffte ihm 
ein Engagement unter dem Theaterdirektor Kreibig, 
der den Buͤhnen von Temesvar und Hermannſtadt vor— 
ſtand, wo Sonnenthal im Herbſte 1851 mit dem 
Phoͤbus im „Gloͤckner von Notredame“ eintrat und 
woraus er im Fruͤhling 1854 mit der Rolle des „Ham— 
let“ ſchied. Kreibig zog dem jungen Schauſpieler bald 
ein Drittel ſeines Gehaltes ab; nur ſo koͤnne er ihn 
behalten. „Ach, du guter Kreibig,“ ſagte ſich Sonnen— 
thal, „ich waͤre fuͤr die Haͤlfte auch geblieben; denn 
zuruͤcktehren — eher ins Waſſer!“ Auf Hermannſtadt 
folgte Graz. Hier geſtaltete ſich das kuͤnſtleriſche 
Leben bewegter, anregender. Sonnenthal lernt Holtei 
kennen, der ſich fuͤr ihn intereſſierte; eine ſtattliche 
Reihe von Gaſtſpielen wickelte ſich ab, die den auf— 
ſtrebenden jungen Schauſpieler im verſchiedenſten 
Sinne beſchaͤftigten. Neben Neſtroy ſpielte Sonnen— 
thal in „Lumpazi“ den Tiſchler; „Sie ſind ein Kunſt— 


173 


tiſchler, mein junger Freund,“ ſagte Neſtroy nach der 
Vorſtellung, indem er dem Mitſpieler laͤchelnd auf die 
Schulter klopfte. Spaͤter kam Ludwig Loͤwe, der ihm 
bis ans Ende ein vaͤterlicher Freund geblieben. Karl 
Devrient, vielleicht der genialſte Devrient nach dem 
großen Ludwig, bot ihm das unerquickliche Beiſpiel, 
wie eine bedeutende Begabung, die untreu verwaltet 
wird und welcher die ſtarke kuͤnſtleriſche Geſinnung 
fehlt, an ihrem eigenen Widerſpruche erlahmt und zu— 
grunde geht. Aldrige, der ſchwarze Mime, neben deſſen 
Othello Sonnenthal den Caſſio ſpielte, imponierte ihm 
durch elementare Leidenſchaft. In Graz füllte Sonnen⸗ 
thal das Fach der jugendlichen Helden und Liebhaber 
vollſtaͤndig aus, und hier war es auch, wo er den 
Clavigo zum erſten Male ſpielte — dieſelbe Rolle, mit 
der er fuͤnfundzwanzig Jahre ſpaͤter das Publikum des 
Muͤnchener Geſamt⸗Gaſtſpiels zu begeiſtertem Beifalle 
hinriß. Von Graz aus wendete ſich Sonnenthal nach 
Koͤnigsberg, wo er, der bisher immer im Suͤden ver— 
kehrt, in der ſcharfen nordiſchen Luft die letzten An— 
klaͤnge ſeines ungariſchen Dialektes abſtreifte. In 
Koͤnigsberg lernte er zwei große Kuͤnſtler der alten 
Schule kennen: Theodor Doͤring, bedeutend im Luſt— 
ſpiele, im Genrefache, und Heinrich Marr, als 
Charakterſpieler, und namentlich als pere noble 
außerordentlich. Man erkannte ſofort Sonnenthals 
Wert und ſchrieb hinter deſſen Ruͤcken an Laube nach 
Wien. Darauf die raſche, lakoniſche Antwort: „Lieber 
Freund! Ich verfolge den jungen Sonnenthal ſchon 


174 


eine ganze Zeitlang; wenn er jo weit ift, ſchicken Sie 
ihn mir. Ihr Laube.“ ... Und Sonnenthal wurde 
geſchickt. Er betrat am 18. Mai 1856 als Mortimer 
die — wie er ſie nennt — „geheiligten“ Bretter des 
Burgtheaters. Bald darauf teilte ihm Laube mit, daß 
er ſein Engagement erzwungen habe. Am 1. Juni 
1856 trat Sonnenthal als Mitglied des k. k. Hofburg— 
theaters in der Rolle des Romeo auf. 

Was das Burgtheater dieſe fuͤnfundzwanzig Jahre 
an Sonnenthal beſeſſen, was es heute noch an ihm be— 
ſitzt, ja heute erſt recht an ihm beſitzt — wer weiß es 
nicht? Sonnenthal iſt die lebendige Verkoͤrperung der 
Traditionen des Burgtheaters. Einfach und wahr in 
Wort, Wink und Bewegung, das iſt ſeine Kunſt und 
das iſt ſein Zauber. Wenn ſein Talent auch vielfach 
unter fremden Einfluͤſſen gereift iſt, wie denn Fran— 
zoſen und Italiener nachhaltig auf ihn eingewirkt 
haben, ſo hat er doch ſeine beſte Kraft aus dem Boden 
des Burgtheaters geſogen. Er wurzelt und gipfelt im 
Burgtheater. Wie ihm ſeine Begabung immer nur 
die Aufforderung zur Arbeit war, ſo hat er ſich in ſeiner 
Gruͤndlichkeit nur langſam entwickelt. Erſt vor eini— 
gen Jahren hat er ſich vollſtaͤndig gefunden. Nun ſteht 
er auf der Hoͤhe ſeiner Kunſt, im Vollbeſitze ſeiner 
Mittel; ſeine reife Maͤnnlichkeit, der Adel und die 
Energie ſeines Weſens geſtatten ihm, nach den mannig— 
faltigſten kuͤnſtleriſchen Aufgaben zu greifen und die 
Bluͤten und die Fruͤchte zu pfluͤcken. Sonnenthals 
Kunſt — und das iſt das letzte und ſchoͤnſte Wort, das 


175 


man ſagen kann — ruht auf dem feſten Grunde edler 
Menſchlichkeit. Er hat ſich in dem gefaͤhrlichen Spiele 
ſchauſpieleriſcher Selbſtentaͤußerung einen einfachen 
Sinn und ein warmes Herz zu wahren gewußt. In 
ihm ſprudelt der lebendige Quell menſchlicher Guͤte; 
er iſt auch im Leben ein Kuͤnſtler, ein nicht nur kluger, 
ſondern ein weiſer Menſch. Das Gefuͤhl dieſes 
Doppelwertes, der ſo erfreulich als ſelten iſt, verleiht 
denn auch dem Sonnenthal-Jubilaͤum feinen warmen 
herzlichen Ton, denn man mag ſagen, was man will, 
das letzte Wort des Kuͤnſtlers iſt und bleibt doch immer 


der Menſch. (Am 1. Juni 1881) 


Sarah Bernhardt 


Sarah Bernhardt hat ungefähr eine Stunde ge— 
braucht, um das Publikum Wiens für ſich einzu— 
nehmen, es mit der ſanften Gewalt einer Kuͤnſtlerin, 
die zu warten verſteht, zu ſich heruͤberzuziehen. Viele 
hatten geglaubt, ſie wuͤrde auf ihren bloßen Ruf hin 
mit Begeiſterung empfangen werden, oder ſie ſelbſt 
wuͤrde durch einen kuͤhnen Buͤhnenſtreich ſich der Ge— 
muͤter ſofort zu bemaͤchtigen ſuchen; allein das eine 
liegt nicht im Charakter des Wiener Publikums, das 
andere nicht in der Natur dieſer Kuͤnſtlerin. Das 
Wiener Publikum, ſo ſehr es der Begeiſterung faͤhig 
iſt, gibt nur wenig auf Autoritaͤt: es will die Sache 
ſelbſt erleben, und ſo wenig Sarah Bernhardt einem 
dramatiſchen Wagniſſe aus dem Wege geht, ſo iſt 
ſie doch zu ſehr Kuͤnſtlerin, um eine ſtarke Wirkung 
im Gegenſatze zu der dargeſtellten Rolle herbeizufuͤhren. 
Wie uͤbermaͤßig geſpannte Erwartungen in dem 
Augenblicke, da die Perſon oder die Sache eintrifft, 
meiſtens getaͤuſcht werden oder getaͤuſcht zu werden 
ſcheinen, ſo iſt es auch hier geſchehen; aber, wie ſo 
oft, fuͤhrte die Enttaͤuſchung auch diesmal das Gluͤck 
mit ſich, daß nicht nur etwas anderes, ſondern auch 
etwas Beſſeres, als man erwartet hatte, zum Vorſchein 
kam. Man erwartete eine Virtuoſin und fand — 
unbeſchadet der Virtuoſitaͤt — eine Kuͤnſtlerin. 

Die erſte Enttaͤuſchung, die man an Sarah 


IVII2 177 


Bernhardt erlebte, iſt ihre äußere Erſcheinung. Zwar 
jene an die Unſichtbarkeit ſtreifende Schlankheit ihrer 
Geſtalt erwies ſich gleich als ein witziges Maͤrchen, 
das man, als eine heitere Übertreibung der Wirk— 
lichkeit, allerdings begreifen konnte, aber die un— 
ſchoͤnen Verhaͤltniſſe ihres Wuchſes und ihr ſchwan— 
kender Gang ſchienen die vielgeruͤhmte vollendete An— 
mut ihres Spiels nicht beguͤnſtigen zu wollen. Frei⸗ 
lich, dieſe etwas verſchobene und verſchrobene Geſtalt 
kroͤnt ein Kopf, der vieles wieder gutmacht: ein ſchoͤnes 
Eirund, deutlich umriſſen und doch von weichen Linien 
begrenzt; Kinn und Naſe bedeutend und einen ftarfen 
Willen verratend; doch das Wunder in dieſem Ge— 
ſichte ſind die von feinen Brauen uͤberwoͤlbten, großen 
dunkelblauen Augen, in welchen eine bewegliche Seele 
lebt. Dichtes roͤtliches Haar faͤllt auf die Stirne 
herein, und das Geſicht zeigt jene zarte, durchſichtige, 
ſeelenvolle Haut, welche uͤberblonden Frauen eigen zu 
ſein pflegt. Der Mund mit der etwas kurzen Ober— 
lippe zeigt gern die Zaͤhne in reizender Herzform, ohne 
daß man den Eindruck der Schweratmigkeit bekommt, 
die mit ſolcher phyſiſcher Beſchaffenheit nicht ſelten 
verbunden iſt. Dieſe Zuͤge, dieſe Augen werfen ihren 
Glanz und ihren Geiſt auch auf die duͤrftige Geſtalt 
zuruͤck, die uͤbrigens in ihrer bieg- und ſchmiegſamen 
Beweglichkeit, in ihrer Federkraft und Energie ein 
wunderbares dramatiſches Werkzeug iſt. Und nun die 
Stimme, die eigentliche Seele des Schauſpielers! 
Eine ſchoͤne Altlage mit dem Sopran verbindend, iſt 


178 


fie ſuͤß und einſchmeichelnd, hoͤchſt modulationsfaͤhig 
und tonreich im Ausdrucke des Gefuͤhles, ein Inſtru— 
ment, das jetzt von der waͤrmſten Innerlichkeit erzittert 
und uͤber deſſen Saiten dann wieder der eilfertigſte 
Plaudergeiſt huſcht. Man koͤnnte faſt ſagen, daß 
dieſe Stimme muſikaliſch geſchult ſei, denn ſo feſt und 
ſicher haͤlt ſie ihre Tonlagen ein, ihre Modulationen 
bewegen ſich in ſo deutlichen Intervallen, daß man die 
Tonart und das Fallen und Steigen ihrer Rede durch 
Noten anſchaulich machen koͤnnte. Außerdem verfuͤgt 
ſie uͤber eine erſtaunliche Fuͤlle von Naturlauten, die 
ſich immer einſtellen, wo das Wort allein nicht faͤhig 
iſt, eine dunklere Empfindung aus einem entlegenen 
Winkel der Seele hervorzuholen, oder wo ein heftiges 
Gefuͤhl das Gefaͤß des Wortes ſprengt. Nur eines iſt 
der Kuͤnſtlerin verſagt: in hoher Lage der Stimme 
mit kraͤftiger, voller Klangwirkung zu arbeiten. Dieſer 
phyſiſche Mangel bezeichnet die Grenze ihrer Kunſt. 
Sarah Bernhardt iſt vorzugsweiſe ein lyriſches Talent; 
die hoͤchſten tragiſchen Wirkungen liegen ihr im eigent— 
lichſten Sinne zu hoch. 

Man kann ſich vorſtellen, was ein ſolches Talent 
mit ſolchen Mitteln aus einer Rolle wie Marguerite 
Gautier in der „Camelien-Dame“ zu machen imſtande 
iſt. Man kann erwarten, daß ſie uns dieſe Geſtalt, 
die in Wien ins Vorſtadt-Theater verbannt iſt, ans 
Herz legen werde. Und das hat Sarah Bernhardt 
getan gerade mit jener lyriſchen Begabung, die wir 
an ihr hervorgehoben. Die Liebe iſt doch die Seele 


1 179 


und das Salz von Dumas viel getadelter, viel nach— 
geahmter, aber nie erreichter „Camelien-Dame“. Ein 
Luſt⸗ und Trauerſpiel der Liebe, welches bezaubert 
und erſchuͤttert, hat uns die Kuͤnſtlerin vorgefuͤhrt. 
Sie tritt auf als Kurtiſane, mit jener heiteren Gleich— 
guͤltigkeit, mit jener beweglichen, ja leidenſchaftlichen 
Apathie, die entſteht, wenn man alles tut, was die 
Liebe tut, aber ohne das Motiv der Liebe, ohne Ge— 
ſinnung. Marguerite hat nie geliebt und iſt nie geliebt 
worden. Mit Armand Duval tritt die Liebe in ihre 
Kreiſe — die Liebe, ihr etwas Neues, etwas Unglaub— 
liches. Wie es Sarah Bernhardt darſtellt, ſteht Mar— 
guerite der neuen Erſcheinung erſt verdutzt, nicht ohne 
einen gewiſſen Galgenhumor gegenuͤber. Liebe! 
Sie laͤchelt unglaͤubig wie die Sarah der Bibel. Und 
doch, ſie laͤßt uns merken, wie ſuͤß es waͤre, wenn es 
für fie jo etwas gäbe wie die Liebe. Mit faſt unfühl- 
barer und um ſo groͤßerer Kunſt fuͤhrt uns Sarah 
Bernhardt nach und nach hinuͤber in den Be— 
reich der Liebe; ſie reiht leiſe Zuͤge anein— 
ander, wandelt allmaͤhlich den Ton der Stimme, 
die Miene, die Gebaͤrde, doch ſpielt Marguerites 
Verderbtheit naiv genug herein; ſie will die Koſten 
der neuen Liebe aus der Kaſſe des Laſters be— 
ſtreiten. Ein Herzog — der ewige Herzog der Kurti— 
ſanen — ſoll bluten, damit ſie ihres Geliebten in 
laͤndlicher Zuruͤckgezogenheit froh werden koͤnne. Sie 
liebt noch nicht. Fraͤulein Bernhardt ſpielt dieſe 
Szene mit einer trockenen Brutalitaͤt, mit einer naiven 


180 


Unkenntnis der Geſinnung, die Duval der Kurtiſane 
entgegenbringt. Halb kann ſie ihn nicht verſtehen, 
halb will ſie es nicht. Seine ſtarre Weigerung, unter 
ſolchen Bedingungen mit ihr zu gehen, macht ſie doch 
nachdenklich. Als er ſich von ihr trennen will, ruft 
ſie ihn zuruͤck. In dem Tone dieſes Zuruͤckrufens, 
in dieſer Umarmung gibt Fraͤulein Bernhardt eine 
ganze Geſchichte; man hoͤrt es, man fuͤhlt es, ſie hat 
die Liebe entdeckt. Ihre Darſtellung des laͤndlichen 
Gluͤckes atmet eine Innigkeit, die uns mit jedem 
Worte waͤrmt. Hier erklingt am ſuͤßeſten ihre 
Stimme, die in muſikaliſchen Wohllaut eingetaucht 
iſt, ohne in den Geſang hinuͤberzuſchweben. Und nun 
folgt ihr Meiſterſtuͤck, die Szene mit Duvals Vater, 
eine grauſame, niedertraͤchtig moraliſierende Szene, 
in welcher, damit zweifelhafte konventionelle Guͤter 
gerettet werden, ein armes Menſchenherz zertreten 
wird. In dieſer Szene bekundet Fraͤulein Bernhardt 
eine wunderbare Beherrſchung der verſchiedenſten 
Kunſtmittel. Man weiß nicht, was man hoͤher ſtellen 
ſoll: ihre unbedingte Herrſchaft uͤber die Rede oder ihre 
Beredſamkeit in unartikulierten Lauten, ihre Ge— 
baͤrden⸗ oder ihre Mienenſprache. Sie wuͤhlt das 
ganze Gemuͤt und die ganze Kunſt auf. Von der 
Feinheit und Kraft ihres Nervenlebens, von ihrer 
Leidenſchaftlichkeit und ihrem — man nenne es In— 
ſtinkt oder Geiſt — gibt die Durchfuͤhrung dieſer 
Szene den hoͤchſten Begriff. Wie ſie den ungezogenen 
Alten in einer Wallung weiblichen Stolzes zurecht— 


181 


weiſt; wie fie in rührenden Worten die Liebe zu 
Armand verlautbart; wie ſie ſich gegen die Zu— 
mutungen des Unbarmherzigen erſt ſtraͤubt und ſich 
ſchließlich doch gefangen gibt; wie ſie mit zer— 
ſchlagenem Gemuͤte und waͤhrend ihre Krankheit in 
ihr reift, den gewuͤnſchten Brief ſchreibt — man ſitze 
dieſer reichen dramatiſchen Entwicklung gegenuͤber, und 
wir moͤchten den unfuͤhlſamen Mann ſehen, der jener 
dramatiſchen Zauberin ungeruͤhrt die Stirne bieten 
koͤnnte. Dieſe Szene holt im Verlaufe des Stuͤckes 
Sarah Bernhardt ſelbſt nicht mehr ein. Sie mag 
ſpaͤter noch ſo vorzuͤglich ſterben — das Sterben iſt 
eine ihrer Spezialitaͤten — die Hoͤhe jenes dritten 
Aufzuges erreicht ſie nicht wieder. 

Nach einer ſolchen Darſtellung, die unſere ganze 
Empfaͤnglichkeit aufzehrt, ſollte man billigerweiſe aus— 
ruhen. Wer es dennoch nicht tat, ſondern gleich den 
folgenden Tag wieder in das Theater ging, um Sarah 
Bernhardt als Donna Sol in Viktor Hugos „Hernani“ 
zu ſehen, dem wird eine kleine Ernuͤchterung nicht 
geſchenkt worden ſein. Fraͤulein Bernhardt trat uns 
den Tag vorher mit einer Fülle entgegen, die un- 
erſchoͤpflich ſchien, und nun wurde man doch an die 
Grenze ihres Vermoͤgens erinnert. Sie wiederholt 
ſich, und ein oft wiederholter Reiz, ſei er auch noch 
ſo lieblich, ſtumpft die Empfindung ab. Wir haben 
an ihrer Donna Sol nichts Neues geſehen, oder auch 
hoͤchſtens nur Ermaͤßigungen oder Steigerungen ihrer 
Marguerite Gautier. Daß ihre hoͤhere tragiſche 


182 


Wirkungen verſagt ſind, zeigte ſich hier ſehr deutlich. 
Es fehlt ihr die Stimme dafuͤr und ſomit alles. In 
dieſem Zuſammenhange erſt konnten wir an Frau 
Wolter denken, deren Name, aͤngſtlich oder freudig, 
auf den Lippen der meiſten Zuſchauer ſchwebte. Welche 
von beiden die beſſere Schauſpielerin ſei? Beſſer — 
welch beleidigende Frage! Wir moͤchten ſagen: Jede 
iſt anders. Sie haben beide die Vorteile und Nach— 
teile ihrer Sprache. Jede wird der anderen wehetun, 
wenn ſie in einem Originalwerke, das in ihrer 
nationalen Sprache geſchrieben iſt, auftritt; eine Über— 
ſetzung wird jede gegen die andere in Schatten ſtellen. 
In der Tragoͤdie ſcheint uns Frau Wolter etwas 
voraus zu haben; daß ſie beſſer blitzt als Sarah 
Bernhardt, glauben wir nicht, daß ſie aber beſſer don— 
nert als die Franzoͤſin, das wiſſen wir. Frau Wolter 
hat, um nur dieſes eine hervorzuheben, die groͤßere 
Stimme voraus, und das iſt auch ein Beſtandteil des 
Talentes. 

Wir wiſſen wohl, daß unſer franzoͤſiſcher Gaſt 
die Vergleichungen nicht ausſtehen kann. Als jemand 
eine Parallele zwiſchen ihr und der Rachel ziehen 
wollte, rief fie unwillig aus: „Je suis Sarah Bern- 
hardt!“ Nun, wir in Wien haben die franzoͤſiſche 
Schauſpielerin in dieſen Tagen kennen gelernt, und 
wir wiſſen ſomit, was es heißt, wenn jemand von 
ſich ſagen kann: „Ich bin Sarah Bernhardt!“ 


(Am 6. November 1881) 


Sarah Bernhardt. Joſephine 
Gallmeyer. Charlotte Wolter. 


Das Auftauchen zahlreicher Sarah-Koͤpfe, nicht 
etwa im Bilde, ſondern im Leben, naͤmlich jener weib— 
lichen Koͤpfe, die, von roͤtlichem Haare und einer ge— 
diegenen Naſe unterſtuͤtzt, ſich eine gewiſſe Ahnlichkeit 
mit Sarah Bernhardt anfriſieren, bekundet untruͤglich 
den mehr als fluͤchtigen Eindruck, den die beruͤhmte 
franzoͤſiſche Schauſpielerin auf die Frauen und folg— 
lich auf die Maͤnner gemacht hat. Das Wohlgefallen 
am roͤtlichen Frauentypus, welches, vom zweiten 
Empire, da Rot auf dem Throne ſaß, zu uns heruͤber— 
gedrungen, bereits im Erloͤſchen begriffen war, iſt 
von der geiſtreichen Franzoͤſin wieder angefacht wor— 
den. Die natuͤrliche Goldhaube — rotes Gold, ſagt 
das Nibelungenlied — iſt im Werte wieder geſtiegen. 
Zu dem Sarah-Kopfe gehört aber auch der Sarah— 
Geiſt und der Sarah-Leib; wer jedoch vermoͤchte ſo 
leicht dieſen Geiſt aufzubringen, und wer wollte dieſem 
Leibe gerne aͤhnlich ſein? Ahnlich — ja vielleicht um 
den Preis dieſes Geiſtes. Denn eine Magerkeit be— 
ſitzen, die jeder Schlankheit ſpottet; Arme zu haben, 
die an der Achſel zu weit ruͤckwaͤrts eingehaͤngt zu 
ſein ſcheinen; einen Gang anzunehmen, der das 
Gegenteil des Schwebens iſt — der Entſchluß waͤre 
fuͤr ein weibliches Gemuͤt geradezu heldenhaft. Ge— 


184 


wiß, die Erſcheinung Sarah Bernhardts wirkt im 
erſten Augenblicke nichts weniger als angenehm. Es 
ſteckt ein Gamin in ihren Bewegungen, ihre Manieren 
ſcheinen einer Welt anzugehoͤren, die nicht die feinſte 
iſt. Auch darin ſpiegelt ſie das zweite Kaiſerreich 
wieder, wo die Damen, indem ſie das Gehaben von 
Volksſaͤngerinnen nachahmten, ſich encanaillierten, wie 
wir an Nachbildern geſehen haben, die ſehr vor— 
nehme Frauen zu uns verpflanzt haben. Aber deshalb 
Sarah Bernhardt eine bloße Kokotte zu nennen, iſt 
kein Grund vorhanden. Jene niedrigen Manieren ver— 
ſchwinden ſofort, wenn ſie tiefer in ihre Rollen ein— 
dringt. Ihre Geſtalt, ihre Bewegung, ihre Ge— 
baͤrden — alles hebt ſich, wird edler, und nichts er— 
innert mehr an eine tiefere Sphaͤre der Geſellſchaft. 
Man kann ſodann, um das viel mißbrauchte Wort 
anzuwenden, in einem gewiſſen Sinne von Stil 
reden. Es ſtellen ſich dann, wenn noch ihre ſouveraͤne 
Behandlung der Sprache ſich hinzugeſellt, kuͤnſtleriſche 
Genuͤſſe ein, die uns niemand ausreden oder hin— 
wegſpielen wird. Frau Wolter mag die franzoͤſiſche 
Schauſpielerin durch ihre Phaͤdra oͤffentlich bekaͤmpfen, 
Frau Gallmeyer ſie aufs ſchaͤrfſte parodieren, anonyme 
Schufte moͤgen Schmaͤhbriefe ſchreiben — es waͤre 
ein ſchwacher Kopf, der ſich durch ſolche Dinge 
die bedeutenden Eindruͤcke, die ihm Sarah Bernhardt 
gewaͤhrt, vergaͤllen ließe. 

Das Wiener Publikum, das uͤber den Unfug der 
Reklame verdrießlich war, kam dem Gaſte ſehr kuͤhl 


185 


und mißtrauiſch entgegen, und ließ fih von Sarah 
Bernhardt jeden Abend aufs neue erobern. Es 
wollte widerſtehen, allein es konnte nicht. Und wie 
ſollte man koͤnnen! Gleich am erſten Abende, als 
Marguerite Gautier, ſchuͤttete ſie zu aller Verwunde— 
rung das Fuͤllhorn ihres Koͤnnens aus. Aber alle 
dieſe erſtaunliche Technik, die Auge und Ohr gefangen 
nahm, verſchwand vor der Poeſie, die ſie uͤber ihre 
Rolle auszugießen wußte. Man glaubte herrliche 
Blumen aus einem Sumpfe wachſen zu ſehen. 
Refaire une virginite, lautet der franzoͤſiſche Aus— 
druck fuͤr ein ſittliches Wunder, auf welches Dumas 
„Cameliendame“ abzielt. Sarah Bernhardt ließ uns 
dieſes Wunder kuͤnſtleriſch erleben; die Suͤnderin ver— 
wandelte ſich vor unſeren Augen in ein liebendes 
Maͤdchen. Sie fand die uͤberzeugendſten Übergaͤnge, 
die ſuͤßeſten, ruͤhrendſten Laute, und aus jenen un— 
edleren Manieren heraus die ſchoͤnſten, beredſamſten 
Gebaͤrden: 


Und des Mädchens frühe Kuͤnſte 
Wurden nach und nach Natur — 


wie es bei Goethe von der Bajadere heißt, die in den 
Armen des erloͤſenden Gottes ruht. Erſt durch Sarah 
Bernhardt lernten wir, was ſich aus dem uͤbelbe— 
rufenen, aber vielgeſpielten Drama von Dumas 
machen laͤßt. Indeſſen nach dieſem Schauſpiele ſtieg 
Sarah Bernhardt als Dona Sol in Viktor Hugos 
„Hernani“ um einige Stufen tiefer herab. Zwar die 


186 


Behandlung des Verſes war bewundernswert. Sie 
ließ den Rhythmus durchfuͤhlen, ohne ihn uns fußweiſe 
vorzuwerfen, und uͤber die Zaͤſur des Alexandriners, 
der mitten im Verſe wie ein Graben liegt, uͤber den 
die meiſten nach deutlichem Anhalten muͤhſam ſpringen, 
ſchwebte ſie mit Anmut hinweg. Sonſt aber iſt des 
Guten nicht eben viel zu ſagen. Freilich iſt die Rolle 
dürftig, da Dona Sol nicht viel mehr zu tun hat, als 
den einen Mann energiſch zuruͤckzuweiſen und ſich dem 
andern zaͤrtlich hinzugeben. Die einzige große Szene 
fuͤr ſie iſt die durch Silvas Hornſtoß tragikomiſch 
unterbrochene Brautnacht. Hier entfaltet die Schau— 
ſpielerin, hoͤchſt unjungfraͤulich, mehr Geſchick als 
Empfindung, und wenn auch edle Frauen mit der 
richtigen Empfindung das richtige Geſchick verbinden 
und in der Liebe einen genialen Raumſinn bekunden, 
jo iſt Sarah Bernhardts Dona Sol in Umarmungen 
und Kuͤſſen, und wie ſie die Situationen herbeifuͤhrt, 
zu buhleriſch erfahren und berechnet. Als Frou— 
Frou, die einſt von Fraͤulein Kronau bei uns liebens— 
wuͤrdig gegeben wurde, trat Sarah Bernhardt wieder 
in den Vollbeſitz ihres Koͤnnens. Neue Toͤne ſchlug 
ſie an, Toͤne eines uͤbermuͤtigen Leichtſinnes — eines 
Leichtſinnes indeſſen, der in ſeinem ploͤtzlichen Ab— 
brechen, in ſeinen ſchroffen Übergaͤngen das tragiſche 
Ende Frou-Frous vorbereitet und vermittelt. Wahre 
Wunder an Feinheit, an jchlagfertiger Raſchheit ver— 
richtete fie im Geſpraͤche, in der Konſervation; das 
macht ihr keine deutſche Schauſpielerin nach, ſchon 


187 


aus dem einfachen Grunde, weil das Deutſche keine 
Konverſationsſprache iſt. Ein wahres Hagelwetter 
ging nieder, als Frou-Frou ihrer Schweſter, die ſie 
im falſchen Verdachte hat, ihr den Gatten entfremdet 
zu haben, eine Strafpredigt haͤlt: dem Publikum, nicht 
der Schauſpielerin ſchien der Atem auszugehen. Hoͤchſt 
liebenswuͤrdig erſchien ſie in der Theaterprobe, die 
nur eine bedeutende Kuͤnſtlerin ſo ſinnreich ungeſchickt 
zu ſpielen imſtande iſt. Auch in der Kunſt des 
Sterbens — wir haben ſie viermal ſterben ſehen, und 
man kann ſagen, daß ſie vom Sterben lebt — auch 
in dieſer Kunſt erſchien ſie wieder eigen. Wie es 
ſtarke Frauen gibt, die ihre Ohnmachten ſtehend ab— 
machen, ſo pflegt Sarah Bernhardt ſtehend zu ſterben, 
wie es fuͤr eine energiſche Perſon paßt, die ſich nur 
mit dem letzten Atemzuge aufgibt. Als Frou-Frou 
faͤllt ſie nach kurzem Todeskampfe ploͤtzlich um; als 
Marguerite Gautier ſcheint ſie ſich erſt um ſich ſelbſt 
zu drehen, bevor ſie tot niederfaͤllt: wir haben edle 
Tiere ſo ſterben ſehen. Ein Arzt koͤnnte uͤber ihre 
verſchiedenen Methoden, zu ſterben, eine lehrreiche Ab— 
handlung ſchreiben, lehrreich vielleicht ſchon durch den 
Nachweis, daß man in der Kunſt, bei allem Scheine 
der Wahrheit, doch meiſtens anders ſtirbt, als in der 
Wirklichkeit. Auch zu einer Abhandlung uͤber die 
Pſychologie des Koſtuͤms, mit eingehender Deutung von 
Farbe und Schnitt der Bekleidung, gaͤbe Sarah 
Bernhardts Sorgfalt in der Gewandung Anlaß. Zu 
dieſem Behufe muͤßte ſich ein Aſthetiker mit einem 


188 


Schneider zuſammentun, nur dürfte der Aſthetiker — 
wie das zuweilen kommen mag — nicht ſelbſt ein 
Schneider ſein. 

Es iſt kein Wunder, wenn ſich auch der Spott, der 
Witz einer ſolchen hervorragenden Erſcheinung be— 
maͤchtigt, ſich in ihre Schwaͤche einbohrt und durch 
Übertreibung ihrer Vorzuͤge mit ihr ein parodiſtiſches 
Spiel treibt. Das Carl-Theater hat es ſo mit dem 
Ringtheater gemacht, Joſephine Gallmeyer mit Sarah 
Bernhardt. Die Pariſerin braucht ſich der Wienerin, 
die fie verſpottet, nicht zu ſchaͤmen. Frau Gallmeyer 
iſt eine ſchauſpieleriſche Kraft erſten Ranges. Wie 
beiſpielsweiſe Herr Baumeiſter und Frau Hart— 
mann, iſt ſie kuͤnſtleriſch nicht gemacht, ſondern ge— 
wachſen. Sie hat Sarah Bernhardt aufs Korn ge— 
nommen und zum Lachen getroffen. Man wundert 
ſich, daß ſie ihren Gegenſtand ſo vollſtaͤndig beſitzt. 
Das iſt Schauſpielerart. Wenn ein guter Schau⸗ 
ſpieler einen andern ſieht und hoͤrt, ſo iſt die Wirkung 
eine unmittelbar praktiſche; durch Reflextaͤtigkeit wirkt 
die fremde Stimme auf die eigenen Stimmwerkzeuge, 
die fremden Bewegungen wirken auf die eigenen Be— 
wegungsnerven, und der Schauſpieler gewinnt da— 
durch nicht bloß ein Bild, ſondern in ihm wird alles 
Ton und Gebaͤrde. Er ahmt mehr durch eine lebhafte 
Erinnerung der Sinne nach, als durch die Phantaſie. 
Doch erſcheint es immer als ein Wunder, wenn die 
Nachahmung ſo taͤuſchend iſt, wie bei Frau Gallmeyer. 
Sie hat Toͤne in ihrer Kehle wie Sarah Bernhardt, 


189 


und die Parodie ift manchmal bloß in ihren Zügen zu 
leſen, wenn gleichſam die Katze aus ihrem Geſichte 
ſpringt. Mit ſcharfem Inſtinkt heftet ſie ſich an das, 
was bei der franzoͤſiſchen Kuͤnſtlerin mit der Zeit — 
und bei der Haſt ihrer Gaſtſpiele wahrſcheinlich recht 
bald — zur Manier werden wird. Einmal iſt es 
Sarah Bernhardts ſuͤßes Sprechen in hoher Sopran— 
lage (man kann es mit abſteigendem g, e, d notieren) 
und dann das oft ungluͤcklich raſche Tempo ihres 
Sprechens. Mit dieſen beiden Dingen ſpielt Frau 
Gallmeyer in ſouveraͤner Weiſe. Man lacht uͤber ſie 
von Herzen, ohne daß man deshalb aufhoͤrt, Sarah 
Bernhardt zu bewundern. Durch die Parodie fuͤhlt 
man den Wert der Parodierten hindurch. 

Auch Frau Wolters Phaͤdra, die ſie zum Beſten 
der „Concordia“ im Carl-Theater geſpielt, konnte 
uns von Sarah Bernhardt nicht abwendig machen. 
Die Phaͤdra — mag man uͤbrigens uͤber Racine 
denken, wie man will — iſt gewiß eine gute 
Rolle, aber ſie gehoͤrt nicht zu den beſten der Frau 
Wolter. Es fehlt ihrem Spiele durchaus der intime 
Charakter, das feinere Eingehen in die Situationen, 
der uͤberzeugende Ton. Die Monotonie einer ſchoͤnen 
tragiſchen Stimme iſt uͤber die Rolle ausgebreitet, einer 
Stimme, die ſich bei dieſer Aufgabe ebenſowenig als 
die Empfindung auf Nuancierungen einlaͤßt. Wir be— 
wundern das Inſtrument, nicht die Spielerin. Ge— 
wiß wuͤrde Sarah Bernhardt die Phaͤdra mit weniger 
Organ, aber gewiß auch mit mehr Feinheit ſpielen. 


190 


Nicht aus Angſt ift die Franzoͤſin der Wolterſchen 
Phaͤdra ausgewichen, ſondern aus Anſtand. Leider 
hat ſich Frau Wolter von uͤbelberatenen Leuten, die 
auf die laͤrmenden Elemente im Publikum ihr Abſehen 
hatten, zu einem demonſtrativen Hervortreten gegen 
Sarah Bernhardt verlocken laſſen und eine Enthuſias— 
mus⸗Hetze mitgemacht, die fie von der Hoͤhe ihres 
Talents aus hätte verſchmaͤhen ſollen. Wozu über- 
haupt die ewige Gegenuͤberſtellung der Namen Wolter 
und Bernhardt? Uns bleibt Frau Wolter ſchaͤtzbar 
neben und nach Sarah Bernhardt, nicht weil ſie die— 
ſelbe oder in demſelben Genre eine beſſere, ſondern weil 
ſie eine andere und in dieſem andern Genre eine eben— 
ſo gute Schauſpielerin iſt. 

Sarah Bernhardt — um zu ihr, von der wir aus— 
gegangen, zuruͤckzukehren — bleibt ohne Vergleich und 
ohne Vergleichung eine intereſſante kuͤnſtleriſche Ge— 
ſtalt. Sie hat einen maͤchtigen Verbuͤndeten: hinter 
ihr ſteht ihr großes Paris, das ſeine Kinder ſo reich 
ausſtattet und unterſtuͤtzt, in welchem der geiſtig 
Arbeitende nicht in troſtloſer Vereinſamung einer 
Geſellſchaft gegenuͤberſteht, die bloß Anregungen 
empfangen und nicht auch Anregungen gewaͤhren will. 
Paris foͤrdert und hebt den Kuͤnſtler, ja es arbeitet 
fuͤr ihn. In anderen Staͤdten mag ſich der Kuͤnſtler 
auf der ſtillen Stube alles aus den Fingern ſaugen. 
Und, fragt man uns, hat das große Leben, in dem 
ſie wurzelt, ihr einen eigentlichen Stil mitgeteilt? 
Antwort: Sie hat den Stil, den ſie haben kann; ſie 


191 


hat den Stil der Stüde, in deren Darſtellung ſie ſich 
auszeichnet. Dieſe Stuͤcke aber, auf einem unfertigen, 
vielfach bewegten ſozialen Untergrund beruhend, laſſen 
uns in der Diſſonanz ſtecken. Das macht ſich auch im 
Spiele des Kuͤnſtlers geltend, der genug getan hat, 
wenn ſeine Darſtellung eine gewiſſe Gleichartigkeit der 
Beſtandteile aufweiſt. In dieſem Sinne iſt Sarah 
Bernhardt durchaus ſtilvoll. Ihr ſprecht aber von 
etwas, das ihr den großen Stil nennt. Den großen 
Stil! Wo iſt er, wer hat ihn, ja wer kann ihn haben? 
Wir laden euch ein, nach etwa hundert Jahren mit 
uns uͤber den „großen Stil“ zu reden. 


(Am 27. November 1881) 


Coquelin und Tartuffe 


Die Rolle des Tartuffe iſt Coquelins Schoßkind. 
Er hat es nicht erreichen koͤnnen, den Tartuffe in Paris 
zu ſpielen; er hat ihn deshalb uͤber die Grenze ge— 
ſchwaͤrzt, ihn nach Bruͤſſel getragen, nach Wien ge— 
bracht. Er wird ihn uͤber Odeſſa nach Petersburg 
bringen. Man darf annehmen, daß eine der Trieb— 
federn ſeiner Gaſtſpielreiſe das Verlangen geweſen ſei, 
den Tartuffe darzuſtellen, und wohlgemerkt, ihn dar— 
zuſtellen in einer Auffaſſung, die ihm allein angehoͤrt, 
die ſein perſoͤnliches Eigentum iſt. Muͤndlich und 
ſchriftlich wird der lebhafte, geiſtreiche Mann nicht 
muͤde, ſeinen Tartuffe den Leuten annehmbar zu 
machen, und noch vor etlichen Tagen — es war ſchon 
Mitternacht voruͤber und Coquelin hatte eine Mittags— 
Vorleſung und eine Abend-Vorſtellung hinter ſich — 
haben wir das Vergnuͤgen gehabt, ihn uͤber perlenden 
Champagner und eine duftige Faſanenbruſt hinweg 
die frohe Botſchaft ſeines alleinſeligmachenden Tartuffe 
verkuͤndigen zu hoͤren. Wie lebte, webte, gluͤhte der 
ganze Mann! Wie behende flog das Wort von 
ſeinen Lippen, wie ſpruͤhte ſein Auge von Geiſt, wie 
war ſeine Seele ungeduldig, bis in die Fingerſpitzen 
hervorzuſpringen! Da gab es einſchmeichelnd gefuͤhrte 
Beweiſe, auf Einwuͤrfe ſchlagende Antworten, auf 
Gruͤnde liebenswuͤrdige und ablenkende Sophismen. 
Verlorene Liebesmuͤhe! Coquelin konnte keinen uͤber— 


IVII3 193 


zeugen; er blieb allein mit feinem Tartuffe: nur das 
Schauſpiel, das er bot, war ſchoͤn, und wert, erlebt zu 
werden. Auch ſchriftlich hat uns Coquelin nicht uͤber— 
zeugen koͤnnen. Vor uns liegt naͤmlich eine Abhand— 
lung von Coquelin über den Charakter des Tartuffe, 
die demnaͤchſt in der „Revue des deux Mondes“ er— 
ſcheinen wird. Hier ſpricht er eben in die Feder hin— 
ein, was er letzthin in uns ſelbſt hineingeſprochen, 
immerhin geiſtreich, aber ohne den warmen Hauch, 
der in der perſoͤnlichen Mitteilung wohnt. Coquelin 
iſt auch hier geſcheit in einer falſchen Sache. 

Wer und was iſt nun Coquelins Tartuffe? Wie 
unterſcheidet er ſich von dem Tartuffe der anderen 
Leute — faſt haͤtten wir geſagt von dem Tartuffe 
Molières? Das iſt raſch gejagt. Heuchler, Gleißner, 
Scheinheiliger — man ſchlage ſich dieſe Dinge aus 
dem Sinne; Coquelins Tartuffe iſt von alledem das 
Gegenteil, kurz, er iſt ein aufrichtiger Charakter. Auf— 
richtig, sineere — Coquelin unterſtreicht das Wort, 
und er wird es geſperrt drucken laſſen. Man traut 
ſeinen Augen nicht, wie man vorher ſeinen Ohren nicht 
getraut hat. Nur in Deutſchland iſt man gewohnt, in 
jedem neuen Semeſter eine neue Anſicht uͤber „Fauſt“ 
oder „Hamlet“ zu hoͤren — und wieder zu vergeſſen. 
Aber eine nationale dramatiſche Figur, die in Frank— 
reich ſeit zwei Jahrhunderten feſtſteht, von einem 
Franzoſen, und noch dazu von einem franzoͤſiſchen 
Schauſpieler, auf den Kopf geſtellt zu ſehen, das macht 
doch einen wunderlichen Eindruck. Darin wird wohl 


194 


Coquelin recht haben, und als Schauſpieler, der ſich 
mit der Sache gemeſſen, ſpricht er ſeine kuͤnſtleriſche 
Überzeugung aus, daß Tartuffe eine der ſchwierigſten 
Rollen des franzoͤſiſchen Repertoires iſt. Schwierig 
aber nicht etwa wegen ihrer ſchwer zu erratenden Figur 
— denn da ſchielt nichts und iſt nichts krumm — ſon— 
dern ſchwierig wegen der runden, ganz in ſich ſelbſt 
abgeſchloſſenen Charakteriſtik. Coquelin ſagt ganz 
richtig, daß kein Monolog, kein beiſeite geſprochenes 
Wort vorhanden ſei, um ein Licht auf den Charakter 
Tartuffes zu werfen; das iſt aber, nach unſerer Anſicht, 
kein Grund, ihn falſch aufzufaſſen. Man braucht die 
Worte, die er ſpricht, nicht zu quaͤlen, um ſie zu ver— 
ſtehen; man braucht ſie bloß mit der Handlung zu— 
ſammenzuhalten, um ihren Sinn und die Geſinnung, 
aus der ſie kommen, zu erſchließen. Der ganze „Tar— 
tuffe“ ſpricht gegen Coquelin, der Anfang und das 
Ende, ja vor dem Anfange der Titel des Stuͤckes, der 
da lautet: „Tartuffe ou l’imposteur“, alſo: „Tar— 
tuffe oder der Heuchler“, und in dem Worte im— 
posteur laͤuft noch der Nebenſinn „Betruͤger“ mit, 
das heißt ein Heuchler, der in praktiſcher Abſicht, zur 
Erreichung irdiſcher Zwecke eine falſche Rolle ſpielt. 

Wie iſt nun Coquelin, dieſer heiterſte Komiker der 
Franzoſen, zu dieſer ſeltſamen Auffaſſung des Tartuffe— 
charakters gekommen? Wenn man bei einem ſonſt ſo 
klaren Kopfe eine ſolche Marotte bemerkt, ſieht man 
ſich unwillkuͤrlich nach perſoͤnlichen Abſichten, nach 
praktiſchen Beweggruͤnden um. Wie, ſollte es nicht 


173 195 


gerade der Komiker Coquelin fein, der uns dieſes 
Raͤtſel loͤſen hilft? Man beachte nur einmal die drei 
Schlagworte, mit denen Coquelin dem Tartuffe gegen— 
uͤber arbeitet. Tartuffe iſt ihm komiſch, aufrichtig und 
nicht ſchrecklich, oder ſchrecklich nur nebenher. Treten 
wir das Wort an Coquelin ab. „Tartuffe,“ meint er, 
„iſt die komiſche Figur des Stuͤckes, der Laͤcherliche, 
der Betrogene. Ja, er wird geprellt; und wißt ihr 
weshalb? Weil er aufrichtig iſt; weil dieſer ewige 
Typus der Heuchelei kein Heuchler iſt; weil er in der 
Tat der iſt, als welcher er ſich zeigt: naſchhaft, ſinnlich, 
geluͤſtig und fromm. Gewiß, er muß lachen machen, 
wohlgemerkt, uͤber ſich ſelbſt lachen machen. Das iſt 
die Abſicht Molières, und deshalb heißt das Stuͤck 
„Tartuffe“, wie er andere Stuͤcke den ‚Mifanthropen‘, 
den ‚Geizigen“, den „Eingebildeten Kranken“ genannt 
hat, um gleich von vornherein die laͤcherliche Perſon 
der Handlung zu bezeichnen. Heutzutage will man, 
daß Tartuffe ſchrecklich ſei ...“ Soweit laſſen wir 
Coquelin reden. 

Noch einmal, vielleicht fuͤhren uns die von Coquelin 
gebrauchten Schlagworte auf die richtige Spur. 
Komiſch — iſt das erſte; nicht ſchrecklich das dritte. 
Beide, das erſte und das letzte, gehoͤren ein wenig zu— 
ſammen. Der Sinn, der ganz perſoͤnliche Sinn, den 
Coquelin mit dieſen Worten verbindet, iſt nach unſerer 
Meinung kein anderer als dieſer: „Ich Mascarille, 
Pancrace, Sganarelle, ich will den Tartuffe ſpielen. 
Baſta!“ Deshalb muß Coquelin, der Komiker, ſagen: 


196 


Tartuffe ift komiſch, und damit hat er recht; deshalb 
muß er in derſelben Eigenſchaft leugnen, daß Tartuffe 
ſchrecklich ſei, und damit hat er gleichfalls — doch 
nein, ganz recht hat er damit nicht, recht hat er hier 
nur gegen die anderen, die den Tartuffe in die Naͤhe 
der Tragik ruͤcken wollen, obgleich ſein Schreckliches — 
denn Schreckliches hat er an ſich — von jener das Ge— 
muͤt beklemmenden, die Menſchheit beſchaͤmenden, ganz 
niedertraͤchtigen Art iſt, die aller Tragoͤdie ſpinnefeind 
gegenuͤberſteht. Coquelin, der Komiker, will den ihm 
in Paris vorenthaltenen Tartuffe ſpielen, und deshalb 
darf er ihn nicht in das tragiſche Fach hineinwachſen 
laſſen, was mit der Bezeichnung „nicht ſchrecklich“ ab— 
gewehrt werden ſoll. Komisch und nicht ſchrecklich — 
gut! Allein, was ſoll das dritte Schlagwort, das zweite 
in der Logik Coquelins, das Wort aufrichtig? Es iſt 
unverftändlich innerhalb der Pſychologie des Moliere— 
ſchen Stuͤckes; vielleicht iſt es wieder aus dem Ge— 
dankengange eines ehrgeizigen Komikers zu erklaͤren. 
Indem Coquelin, um ſeine Anſpruͤche auf die Rolle 
geltend zu machen, den falſchen Tragikern den Tartuffe 
aus der Hand nimmt und ihn auf das Niveau des 
Komiſchen zu ſich herabzieht, will er ſich ſelbſt dagegen 
wieder heben, indem er den Tartuffe auf die Hoͤhe eines 
aufrichtigen Charakters hebt. Bloß komiſch — pfui, 
wie gemein! Das haben wir, wir Coquelin, ſchon die 
Hülle und Fülle geſpielt. Nun, ein aufrichtiger, jagen 
wir ein ernſter Charakter, das iſt es, was dem Komiker 
ziemt. Coquelin ſcheint gar nicht zu ahnen, welches 


197 


Scheuſal er in feinem aufrichtigen Tartuffe der 
Menſchheit aufbuͤrdet. Das wohl iſt ſchrecklich, furcht— 
bar, entſetzlich: ein Menſch, der ſich fuͤr wahrhaft 
religioͤs halten kann und mit dieſer verfluchten Hand, 
die das Kreuz ſchlaͤgt, alle menſchlichen Bande zerreißt, 
die uns das Evangelium der Liebe zu achten anweiſt. 
Man rede uns nicht von der Macht einer einſeitigen 
Erziehung. Es liegt eine tiefe Verſchuldung darin 
und iſt recht eine Suͤnde gegen den heiligen Geiſt, wenn 
ein Menſch von einer gewiſſen Bildung ſich die Mittel 
nicht aneignet, die ihm die Zeit zu ſeiner geiſtigen Be— 
freiung darbietet. Wer da glaubt, daß der Zweck die 
Mittel heilige, iſt ein Bloͤdſinniger. Wer da glaubt, 
jagen wir. Die Tartuffes glauben nicht; ſie verſtecken 
ſich nur hinter dieſen Grundſatz. 

Wo aber bleibt unſer teurer Meiſter Coquelin? 
Im dritten Akte, nachdem ausgiebig von ihm geſprochen 
worden, tritt er als Tartuffe aus ſeinem Zimmer, und 
da er Dorine erblickt, dreht er ſich gegen die offene Tuͤr 
zuruͤck und ſagt (o uͤber den Heuchler!) zu ſeinem 
Diener, er moͤge ihm Bußhemd und Geißel auf— 
bewahren, und Fremden, die etwa kaͤmen, melden, daß 
er ins Gefaͤngnis gegangen ſei, um Almoſen auszu— 
teilen. Er wendet ſich zuruͤck zu Dorine und bietet ihr 
(o uͤber den zehnfachen Heuchler!) ſein Taſchentuch, 
um ihren Buſen zu bedecken. Iſt Coquelin hier der 
aufrichtige Mann? Er mag ſich dafuͤr halten; aber der 
Dichter iſt ſtaͤrker als er, und der Kuͤnſtler iſt ſtaͤrker 
als der Schriftſteller. Der Schauſpieler hat ja nicht 


198 


die Aufgabe, dramatiſche Charaktere gut zu ſchildern, 
ſondern ſie richtig darzuſtellen. In ſeinem Auftreten, 
ſeinem Ausſehen, ſeinem Gebaren iſt Herr Coquelin im 
Grunde doch ein ganz anderer Tartuffe, als er in 
ſeinem Buche ſteht. Er iſt der Wolf im Schafpelze. 
Recht im Gegenſatz zu Lewinsky, der, ſonſt voll Ver— 
ſtaͤndnis, den Tartuffe mit grauer Stimme und grauer 
Seele gibt, arbeitet Coquelin das ſinnliche Element der 
Rolle mit Vorliebe heraus. Beſonders gut in der erſten 
Szene mit Elmire. Man kann nicht gottſeliger, nicht 
kaſuiſtiſch inbruͤnſtiger in ein Weib verliebt ſein, als 
er es iſt, die handgreiflichen Mittel der Zuneigung mit 
religioͤs-gottloſen Verbraͤmungen nicht beſſer verzieren. 
Er mag es wollen oder nicht — Csoquelin ſteht hier 
ganz auf der heuchleriſchen Hoͤhe des Tartuffe. Noch 
die gut durchgefuͤhrte Szene mit Orgon — ein unver— 
gleichliches Meiſterſtuͤck Molieregs — und Coquelin 
geht in ſeiner Darſtellung abwaͤrts. Er wiederholt ſich 
mit Elmire, und in der Schlußſzene des vierten Aktes 
ſehen wir in dem effektvoll ausgekluͤgelten Abgang 
mehr den Macher als den Kuͤnſtler. 
Erinnerungswuͤrdiger ſcheidet er vom Leſer in 
ſeiner bisher ungedruckten Abhandlung uͤber den 
Charakter des Tartuffe. Coquelin ſtellt ſich hier eine 
Art Juͤngſtes Gericht uͤber die Voͤlker vor, wo jedes 
Volk vor den Schranken erſcheint, damit ihm jenſeits 
ſein Platz angewieſen werde je nach dem dichteriſchen 
Werke, welches den Geiſt der Nation am beſten ſpiegelt. 
Deutſchland kaͤme wahrſcheinlich mit dem „Fauſt“ her— 


199 


bei, England mit „Hamlet“, Spanien mit „Don 
Quijote“, Italien mit der „Goͤttlichen Komoͤdie“. 
„Frankreich endlich, beſcheiden vortretend, mit der 
Klarheit ſeines ſchoͤnen Lachens auf den Lippen, wird 
ſeinerſeits ſein Meiſterwerk vorlegen. Und was iſt 
dies? wird Gott der Herr fragen. Es iſt Tartuffe“. 
— Gut, wird der Herr ſagen, ſetze dich zu meiner 


Rechten. (Am 26. November 1882) 


Joſeph Lewinsky 


Allen Gewalten 

Zum Trutz ſich erhalten, 

Nimmer ſich beugen, 

Kraͤftig ſich zeigen, 

Rufet die Arme der Goͤtter herbei. 
Goethe 


Gerade vor fuͤnfundzwanzig Jahren iſt Joſeph 
Lewinsky, damals noch kaum ein Mann, im Burg— 
theater als Franz Moor in Schillers „Raͤubern“ auf— 
getreten; geſtern hat er als gereifter und gefeierter 
Mann an dieſen glaͤnzenden Anfang ſeiner Burg— 
theaterlaufbahn wieder angeknuͤpft und hat durch ſeinen 
Franz Moor zu Vergleichen zwiſchen jetzt und damals 
angeregt. Schillers erſter Loͤbenwurf, das revolu— 
tionaͤre dramatiſche Pamphlet mit dem aufſteigenden 
Loͤwen, hat dem jugendlich aufſtrebenden Schauſpieler 
zuerſt Gelegenheit geboten, ſeine Klaue zu zeigen, und 
nun, in den Meiſterjahren ſeiner Kunſt, hat er ſich 
dieſes Anlaſſes dankbar erinnert. Beide Male ſaßen 
wir dem Kuͤnſtler gegenuͤber, und beide Male mit den— 
ſelben Empfindungen, mit der gleichen Anerkennung 
und den gleichen Vorbehalten. Auch er ſelbſt iſt ſich 
gleichgeblieben, und man fragt ſich zweifelnd: Iſt er 
nicht aͤlter geworden, oder iſt er nie jung geweſen? 
Dem Gehalte nach waren ſeine Darſtellungen von 
geſtern und damals einander aͤhnlich wie ein Ei dem 


201 


anderen: kein bedeutender Zug iſt hinzugewachſen, 
kein bezeichnender ausgefallen; aber freilich, ſicherer iſt 
er geworden, techniſch reifer und reicher. Es gibt 
Schauſpieler, die ihr Talent erſt mit den wachſenden 
Jahren entdecken; ſo iſt es Sonnenthal ergangen, ſo 
Baumeiſter; anders bei Lewinsky, dem das Talent 
fertig in den Schoß gefallen. Das war ſein Gluͤck und 
ſein Verhaͤngnis. Sein Gluͤck, indem er ſich ſofort An— 
erkennung verſchaffte; ſein Verhaͤngnis, indem er nicht 
neue Seiten ſeiner Natur zeigen konnte, ſondern ſein 
Talent, das man ein- für allemal kannte, immer aufs 
neue behaupten mußte und ihm nur durch techniſche 
Ausbildung einen gewiſſen Reiz der Mannigfaltigkeit 
zu verleihen vermochte. Lewinsky hat das Publikum 
nur ein einzigesmal uͤberraſcht, naͤmlich als er zum 
erſten Male auftrat; dann hat er nur durch ſtete Ar— 
beit ſich halten konnen. Man hat das ſchlagendſte 
Beiſpiel hiervon an ſeinem Franz Moor, ſeiner Schick— 
ſalsrolle, die, gleichwie ſie ſein Talent faſt erſchoͤpfend 
ausſprach, ſo zuletzt auch der Gipfelpunkt ſeines techni— 
ſchen Koͤnnens geworden iſt. 

Die Tatſache iſt nicht frei von Seltſamkeit, daß ein 
junger Schauſpieler gerade eine Rolle, die ſich gegen 
eine beſtimmte menſchliche Geſtaltung eigenſinnig zu 
ſtraͤuben ſcheint, mit Vorliebe behandelt und mit ihr 
einen Sieg plaſtiſcher Geſtaltungskraft davontraͤgt. 
Das hat der junge Lewinsky mit dem Franz Moor ge— 
tan und zuwege gebracht, und der aͤltere Meiſter hat 
das ploͤtzlich daſtehende Jugendbild immer ſorgfaͤltiger 


202 


ins Runde gearbeitet. Sein Franz Moor, mit dem 
der Dichter ſelbſt „die Menſchheit uͤberhuͤpft“ zu haben 
geſteht, ſieht faſt aus wie ein Menſch. Vornehm ver— 
ſchmaͤht Lewinsky jeden aͤußerlichen Aufputz, jede 
Etikette des Boͤſewichts: er iſt weder rothaarig noch 
mißgeſtaltet, ſondern, dem Anſchein nach, ein Gen— 
tleman wie ein anderer; er ſtuͤtzt ſich nur auf innere 
Kraͤfte. Er trifft dem alten, ſchwachſinnigen Vater 
gegenuͤber uͤberzeugend den Ton, womit man Menſchen 
beluͤgt und betoͤrt und ſie nach dem eigenen Sinne 
lenkt. Man denkt an den leiſen Flug der Eule. Auch 
dem Spießgeſellen Hermann gegenuͤber, in den er hin— 
einſieht wie in ein offenes Kartenſpiel, hat er ein— 
ſchmeichelnde Toͤne zur Verfuͤgung, die um ſo verfuͤhre— 
riſcher ſind, als ſie den Egoismus mit ſataniſcher 
Liebenswuͤrdigkeit kitzeln und aufſtacheln. Lewinsky 
weiß hier die Bosheit mit dem Schein einer kamerad— 
ſchaftlichen Gemuͤtlichkeit zu bekleiden. Um ſo grim— 
miger und ſchneidender tritt ſeine boͤſe Natur zutage, 
wenn er mit ſich allein iſt. Vor ſich ſelbſt traͤgt er keine 
Maske, da wird er haͤßlich, wie er im Grunde iſt, und 
ſchaut in den Spiegel, ohne vor ſich zu erſchrecken. 
Habſucht, Herrſchſucht, Wolluſt, alle boͤſen Geiſter 
der Welt leben auf dieſen verworfenen Zügen, geftatten 
ſich in dieſem unreinen Munde das Wort. Meiſterlich 
iſt Lewinskys Spiel in der Szene, da Franz die Wir— 
kung beobachtet, welche die falſche Nachricht von Karls 
Tod auf den Alten hervorbringt. Mit aufgeriſſenen 
Augen und geoͤffnetem Munde wendet er ſich von Zeit 


203 


zu Zeit mit daͤmoniſcher Neugierde nach dem Vater; er 
würde ihn töten, wenn der Wille töten koͤnnte, und da— 
zwiſchen hat er fuͤr jeden ein beſchwichtigendes, ein 
aufregendes oder ein niederſchmetterndes Wort, und 
jedes dieſer Worte traͤgt, je nach der augenblicklichen 
Situation oder nach der Perſon, an die es ſich richtet, 
eine andere Stimmungsfarbe. Es iſt, als ob man ver— 
ſchiedene Melodien auf verſchiedenen Inſtrumenten 
hoͤrte, wobei die Perſoͤnlichkeit des vielſtimmigen Boͤſe— 
wichts doch gewahrt bleibt. Ein anderer Meiſterzug 
Lewinskys iſt es, wie er die Wut, die Amaliens Weige— 
rung in ihm erregt, in den gegen den Alten ſofort an— 
geſchlagenen ſchnoͤden Ton heruͤberzieht, wie eine 
ſchlechte Regung die andere naͤhrt und ſtaͤrkt. In dieſer 
nicht zu berechnenden, nur nachfuͤhlbaren Verſchmel— 
zung pſychiſcher Vorgänge und in ihrer überzeugenden 
ſinnlichen Verlautbarung tritt uns doch eine geniale 
Intuition entgegen. Von ſolcher punktuellen Genia— 
litaͤt iſt Lewinskys ganze Darſtellung des Franz Moor 
überjät. Konnte man, nach einem griechiſchen Worte, 
den Sand flechten, ſo waͤre Lewinskys Leiſtung aus 
einem Stuͤcke. In dem Monologe nach dem Geſpraͤche 
mit Hermann, da dieſer den Dienſt kuͤndigt, hat Le— 
winskys Franz ein paar große Momente. Franz, der 
an den Geiſt nicht glaubt, verfaͤllt der Geſpenſterfurcht. 
Dieſe Angſt vor etwas, das er nicht kennen will, das er 
aber nur zu gut kennt, denn es iſt ſein eigenes nagen— 
des Gewiſſen, der „Gewiſſenswurm“, wie Schiller 
ſagt — dieſe Angſt weiß Lewinsky ſo maͤchtig an die 


204 


Wand zu malen, daß es den Zuſchauer kalt uͤberlaͤuft. 
Wie er vor der unheimlichen Übermacht flieht, ſich ge— 
duckt ſitzend mit dem Lehnſtuhle deckt, und mit der aus— 
geſpreizten rechten Hand ſich krampfhaft an den Rand 
des Tiſches haͤlt, das iſt eine jener Leiſtungen, in wel— 
cher eine hochentwickelte Technik ganz zur ausdrucks— 
vollen Sprache ſeeliſcher Vorgaͤnge wird. So ſeltſam 
es klingen mag, noch einen Hoͤhepunkt hat Lewinsky in 
der Szene, wo er ſeinen Traum vom Juͤngſten Gerichte 
erzaͤhlt — nein, nicht erzaͤhlt, ſondern uns miterleben 
laͤßt. Wer fuͤhlt nicht, daß es dem Schauſpieler hier 
an dem Organe fehlt, gleichſam an dem brauſenden 
Orgelwerk, das unſer Ohr mit allen Schreckniſſen des 
letzten Gerichtstages erfuͤllt? Und hier geſchieht ein 
Wunder, und der Geiſt triumphiert uͤber die wider— 
ſpenſtige Materie. Lewinsky faßt ſeinen Text ſo 
energiſch, er arbeitet den Sinn ſo gewaltig hervor, daß 
die Hoͤrerſchaft unwillkuͤrlich erſetzt, was ihm fehlt, 
daß die mitklingenden Toͤne im Gemuͤt des Zuſchauers 
die Stimme des Schauſpielers unendlich verſtaͤrken. 
So ruft es nach einem geiſtigen Geſetze lauter aus dem 
Walde zuruͤck, als hineingerufen wurde. Freilich iſt 
dieſer Vorgang eine Ausnahme, und Lewinsky iſt nicht 
immer ſo ſtark, eine ſolche Wirkung herauszufordern. 
Es gibt Stellen in den „Raͤubern“, wo ihn die Natur 
im Stiche laͤßt. 

Wir hegen gewiß nicht die Abſicht, dem Kuͤnſtler, 
dem dieſe Zeilen gewidmet ſind, durch die Erinnerung 
an die Grenzen ſeiner Natur ſeinen Ehrentag zu ver— 


205 


bittern. Wir koͤnnen ihm in dieſer Beziehung nichts 
ſagen, was ihm neu waͤre, denn er iſt nicht der Mann, 
der ſich in bezug auf ſich ſelbſt einer Taͤuſchung hin— 
gibt. Er ſelbſt behandelt ſich als ein Stiefkind der 
Natur. Noch geſtern, als er dem Entdecker ſeines 
Talentes, Heinrich Laube, ſeinen waͤrmſten Dank dar— 
brachte, hat er dem Publikum des Burgtheaters ge— 
ſagt: „Alle jene, auf deren Schultern das Burgtheater 
heute ruht, haben ihm (Laube) zu danken; ich aber bin 
unter dieſen allen der Dankſchuldigſte, denn ihnen allen 
hatte die Natur den perſoͤnlichen Empfehlungsbrief 
mitgegeben. Mir aber hat ſie ihn ganz und gar ver— 
weigert. Niemand in der Welt, weder vor ihm, noch 
nach ihm, haͤtte den Mut gehabt, mich in Aufgaben 
erſten Ranges einem Publikum vorzufuͤhren, das ſein 
Sinnenbeduͤrfnis vor allem befriedigt ſehen will, das 
Geſtalt und Stimme fordert, und mit Recht fordert, 
denn auf Sinnlichkeit beruht alle Kunſt in erſter Linie. 
Er ſelber hatte dieſes Beduͤrfnis, und dennoch traute 
er der Begabung allein die Macht und das Recht zu, 
einen jo zweifelhaften Kampf zu unternehmen ...“ 
In ſolchen Worten liegt ebenſoviel Beſcheidenheit als 
gerechter Stolz. Lewinsky waͤre nicht wert, daß man 
ihn ehrte, wenn er dieſen Stolz, der eine Frucht der 
Arbeit iſt, nicht beſaͤße. Ihm iſt auch der Ehrgeiz nicht 
immer fremd geweſen. Es ſind Aufzeichnungen von 
ihm vorhanden, die aus der Zeit ſtammen, in welcher 
ein jugendliches Selbſtgefuͤhl ſeine Bruſt ſchwellte, und 
von denen eine dunkle Kunde zu uns gelangt iſt. 


206 


Lewinsky ſetzt ſich darin als den Mittelpunkt des deut— 
ſchen Schauſpieles und ſchreibt ſich den Beruf zu, das 
nach ſeiner Anſicht verfahrene Schauſpielweſen 
Deutſchlands von ſeiner Perſon aus durch Beiſpiel und 
Lehre in edlere Geleiſe zu lenken. Er denkt darin groß 
vom Schauſpieler und von der Rolle, die ihm der 
geiſtigen und ſittlichen Bildung der Zeit gegenuͤber zu— 
geteilt iſt. Da aber Lewinsky nichts nach außen zu 
bewegen vermochte, hat er ſein Reformbeſtreben ganz 
in ſein Inneres verlegt. Er iſt eine Willensnatur, und 
er hat in unablaͤſſiger Bemuͤhung aus ſich gemacht, 
was aus ihm zu machen war, und da ein lehrhafter 
Trieb in ihm waltete, hat er auch Schuͤler an ſeinen 
Erfahrungen teilnehmen laſſen. Was er an ſich und 
anderen vorzugsweiſe ausbildete, war die Kultur des 
Wortes, die Kunſt des Sprechens. Er ſelbſt iſt ein 
Meiſter der Rede, in Schaͤrfe und Gelenkheit des 
Sprechens von keinem ſeiner Kollegen erreicht. 

Was an dem buͤrgerlichen Menſchen Lewinsky zu 
ruͤhmen iſt, das muͤſſen wir, da wir ihn kaum perſoͤn— 
lich kennen, anderen uͤberlaſſen. Das aber wiſſen wir, 
daß er als Kuͤnſtler ein Charakter iſt. Er nimmt die 
Kunſt ſo ernſt, wie andere das Leben, und kein Un— 
gemach, das ihm auf der Buͤhne bereitet worden, hat 
den edlen Eigenſinn ſeiner Natur zu beugen vermocht. 
Er hat ſich durchgeſetzt trotz alledem. Wenn Genie 
und Charakter ſo oft auseinandergehen, ſo iſt Joſeph 
Lewinsky als Charakter ein Genie. 

(Am 3. Mai 1883) 


207 


Agathe Barſescu als Hero und 
Deborah 


Ein junges Maͤdchen, das kaum der Theaterſchule 
entlaufen iſt, betritt zum erſten Male in ſeinem Leben 
die Buͤhne, nicht etwa die Buͤhne von Graz oder Linz, 
ſondern die heißen Bretter des Burgtheaters, und nicht 
etwa, um hin und wieder ein paar Worte einzuſtreuen, 
ſondern in einer großen Rolle, die ein ganzes Schau— 
ſpiel beherrſcht, und nicht etwa in einer Sprache, die 
ſie von der Mutter gelernt, ſondern die ſie muͤhſam ſich 
erſt angeeignet — und dieſes Maͤdchen macht einen 
ſo bedeutenden Eindruck, daß nach dem letzten Fallen 
des Vorhanges jedermann ſich geſtehen muß: Hier iſt 
ein echtes, ſtarkes Talent, das feſtgehalten werden muß, 
denn es iſt ein Gluͤcksfund fuͤr unſer mehr und mehr 
verarmendes Burgtheater. Das klingt wie ein Wun— 
der, und wir haben es erlebt an dem Tage, da Fraͤulein 
Barſescu als Hero auftrat. Im erſten Augenblick 
ſtanden die Schauſpielerin und das Publikum einander 
fremd und ſproͤd gegenuͤber. Die Schauſpielerin hatte 
das Stuͤck zu eröffnen, ganz allein auf der Buͤhne, 
mit einem Monolog. Es wollte niemand daran glau— 
ben, als ſie die Worte ſprach: „Und ich bin dieſes Feſtes 
Gegenſtand!“ Sie war ſtarr vor Angſt, keines unbe— 
fangenen Wortes maͤchtig. Ihre Erſcheinung, die mehr 
von Raſſe als von Schoͤnheit zeugt, ſchien nicht zu ge— 

208 


fallen. Auf der ziemlich hohen, ſchlanken Geſtalt fit 
ein bruͤnetter Kopf, der von den großen dunklen Augen 
beherrſcht wird; die dichten Augenbrauen find ftarf ge— 
woͤlbt, die kraͤftige Naſe ſtrebt naiv nach oben, und der 
bedeutende Mund mit den ſchmalen Lippen zeigt im 
Sprechen gerne die ganze obere Zahnreihe. Wie eine 
Maske mit geoͤffnetem Munde ſah ſie aus, als ſie zu 
reden anfing; kaum daß hin und wieder ein voller 
ſanfter Laut, eine runde Bewegung des Armes von 
ihrem innern Leben Zeugnis gab. Der Monolog, die 
Gebete waren verloren: kein Wort fand Widerhall im 
Zuſchauerraume. Erſt in dem Geſpraͤche mit dem Ober— 
prieſter, noch entſchiedener aber in der Szene mit der 
Mutter loͤſte ſich die Starrheit der Darſtellerin, wurde 
ihre Rede waͤrmer, ihr Spiel lebendiger. Es war ein 
Genuß fuͤr das Auge, wie ſie den Kopf der alten Mutter 
in ihre Haͤnde nahm, ſie auf den Mund, auf die Augen 
kuͤßte; ſuͤß und innig klang nun ihre volle Altſtimme, 
die den unangenehmen Gaumenton, der ſie manchmal 
entſtellt, abgeſtreift hatte. In dem Spiele mit der ge— 
fangenen Taube entfaltete ſich eine Reihe ſchoͤner Be— 
wegungen, die nur zu gehaͤuft waren und ſich wieder— 
holten. Hier macht Verſchwendung arm, wie ja Spar— 
ſamkeit auch den Kuͤnſtler reich macht. Indeſſen mit 
der fortſchreitenden Handlung hielt Fraͤulein Bar— 
ſescus Talent gleichen Schritt. Mit aller Anmut 
brachte ſie das Opfer, und wie ſie ſtockte und einen 
innerlichen Ruck erfuhr, als ſie den Leander erblickte, 
und wie ſie, ſich noch einmal umdrehend, auf dem 


IVII4 209 


Juͤngling einen langen Blick ruhen ließ — das waren 
doch Momente, die in ihrer Ploͤtzlichkeit und taſtenden 
Empfindung ein echtes Talent verrieten. Als der Vor— 
hang fiel, wußte man, daß man einer ungewoͤhnlichen 
Begabung gegenuͤberſtand, und dem weiteren Verlaufe 
der Darſtellung wurde mit Spannung entgegengeſehen. 

Im zweiten Aufzuge, in der Szene im Tempelhain, 
gab ſich Hero-Barſescu einem gewiſſen unſchuldigen 
Behagen hin, ſpielte ſie mit der Liebe, die noch ohne 
Namen, nur als dunkle Ahnung und Moͤglichkeit in ihr 
wohnt, wie ein Kind mit Blumen. Ein herzlicher Ton 
ohne voͤllige Hingabe, dann wieder das Auftauchen 
einer ſproͤden Jungfraͤulichkeit zeichneten ihre Rede aus. 
Hier wurde ſie wieder unterſtuͤtzt von ihrer vollen, 
wohligen Altſtimme, die zum innerſten Menſchen 
ſpricht. Im dritten Akte taͤndelt ſie arglos, mit un— 
bewußten ſinnlichen Regungen, die ſich an dem Liede 
von der Leda und dem Schwan zur Klarheit verhelfen 
wollen. Da tritt ihr die Loͤſung des Raͤtſels in der Ge— 
ſtalt Leanders entgegen. Sie lernt raſch, nachdem fie 
einen gewiſſen Schauer uͤberwunden. Dieſes Gruͤbeln 
in etwas Unbekanntem und ſie doch ganz Erfuͤllendem, 
dieſes Schmachten der weiblichen Natur nach der Er— 
loͤſung von einem Raͤtſel, dieſe Angſt zugleich und dieſe 
Sehnſucht — dieſe ganze widerſpruchsvolle Gemuͤts— 
lage wird von Fraͤulein Barſescu durchaus in ihren 
zitternden Umriſſen erfaßt. Sie maͤßigt ihr Organ 
zur halben Stimme herab, ihre Gebaͤrden ſcheinen et— 
was Unſichtbares zu ſuchen. Am reizendſten gibt ſie 


210 


dann die Kußſzene, und wieder ift das ein Schmaus 
fuͤr das Auge. Wie eine ſchoͤne Melodie iſt die Linie 
der Bewegungen, wenn ſie das Laͤmpchen auf den 
Boden ſtellt, Leanders Zudringlichkeit abwehrt, ihn 
beim Kopfe faßt und auf ſeine Stirn kuͤßt. Man denkt 
an ein antikes Relief, das lebendig wird. Und doch iſt 
dieſe Szene aus dem modernſten Leben geſchoͤpft. In 
der Vorarbeit zu „Des Meeres und der Liebe Wellen“ 
findet ſich die folgende Bemerkung Grillparzers: „Im 
dritten Akte zu gebrauchen, wie damals Charlotte, als 
ſie den ganzen Abend wortkarger und kaͤlter geweſen als 
ſonſt, beim Weggehen in der Haustuͤr das Licht auf den 
Boden ſetzte und ſagte: Ich muß mir die Arme frei 
machen, um dich zu kuͤſſen. Nicht gerade die Begeben— 
heit ſoll dort Platz finden, ſondern die Geſinnung, 
die Gemuͤtsſtimmung.“ ... Nebenbei geſagt, iſt dies 
ein beredtes Beiſpiel, wie egoiſtiſch die Dichter das 
Leben ausnutzen. Sie notieren ſich die Kuͤſſe zu poeti- 
ſchem Gebrauche. Gut fuͤr die Frauen, daß es faſt 
keine Dichter mehr gibt. 

Der vierte Akt findet Fraͤulein Barſescu wieder 
dramatiſch geſteigert. Wir ſind gluͤcklicherweiſe in 
der Lage, das Spiel der Darſtellerin an der deutlich 
ausgeſprochenen Anſicht des Dichters meſſen zu koͤnnen. 
„Nie ſoll Hero,“ ſchreibt Grillparzer, „darauf ein be— 
ſonders Gewicht legen, daß jenes Verhaͤltnis verboten 
oder vielmehr ſtrafbar ſei. Es iſt mehr ihr Inneres, 
das ſich fruͤher nicht zur Liebe hinneigte und das nicht 
ohne Widerſtreben nachgibt, als daß ſie ein Außeres 


[14] 211 


fuͤrchtete. Die Gefahr dieſer Liebe wird nur aus dem 
Munde der Nebenperſon klar. Im vierten Akte iſt 
daher keine Spur von Angſtlichkeit in Heros Weſen, 
obſchon es ihr ziemlich naheliegt, daß man Verdacht 
geſchoͤpft habe. Sie iſt ſchon wieder ins Gleichgewicht 
des Gefuͤhls gekommen, aber eines neuen, des Gefuͤhles 
als Weib. Zwar im Gleichgewichte, aber doch hoͤchſt 
geſteigert, ſenſuell — all das Daͤmoniſche, die ganze 
Welt Vergeſſende, taub und blind, was die Weiber 
befaͤllt, wenn eine wahre Liebe eine Beziehung auf die 
Sinne bekommen hat. Ihre (Heros) Gedanken find 
nur auf das neuerwachte Gefuͤhl und deſſen Gegenſtand 
gerichtet. Keine Furcht mehr vor Entdeckung, fuͤr 
Namen, Ruf. ... Alſo: traͤumeriſch, ſenſuell! Ganz 
dieſer Forderung des Dichters entſprach Fräulein Bar- 
ſescu. Das Hineinhorchen in ſich ſelbſt und ihre 
Seligkeit, das Nachtwandeln durch die wirkliche Welt 
fand an ihr eine durchaus verſtaͤndnisvolle, in einzelnen 
Stellen kaum zu uͤbertreffende Darſtellung. Sie gibt 
den Fremden, die ſie aus ihrem Traume wecken, wohl 
Antwort, allein ſie iſt nicht dabei; ſie geht wohl die 
Wege mit, die man ſie weiſt, allein ſie bewegt ſich nach 
einem anderen Geſetz. Sie iſt ganz hingenommen von 
einem einzigen Gefuͤhl, von einem einzigen Gedanken. 
Seele iſt in ihrer Stimme, Empfindung in ihren Haͤn— 
den. Und alles getragen von einem lebhaften Schoͤn— 
heitsgefuͤhl. Sie iſt nicht ſchoͤn, aber ſie kann ſchoͤn 
ſein: die Situation macht ſie ſchoͤn, und ihr maͤchtiges 
Auge verfehlt nie ſeine Wirkung. Und die ſchoͤnen 


212 


Linien in ihren Bewegungen! Traͤumeriſch, müde, des 
Schlafes beduͤrftig, ſitzt ſie auf einer Raſenbank. Sie 
legt ſich weich und langſam zum Schlummer nieder. 
Ihre Worte verklingen wie ein Hauch. Sie beginnt 
zu ſchlummern. Die Arme ruhen kreuzweiſe auf der 
Bruſt. Da ſinkt der linke Arm zur Huͤfte nieder, der 
rechte gleitet an der Raſenbank herab, und die Hand 
beruͤhrt den Boden. Dieſe Folge von Bewegungen iſt 
wie durch vollendete Kunſt hervorgebracht, und wohl 
merkt man, daß in dieſer Rumaͤnin ein Tropfen roͤmi⸗ 
ſchen Blutes lebt. Die Kataſtrophe des Trauerſpiels 
wurde von Fraͤulein Barſescu durchaus wuͤrdig ge— 
ſpielt, ja, man konnte wohl meinen, daß ſie mit ihrer 
für höhere tragiſche Aufgaben geſchaffenen Perſoͤnlich— 
keit die ſchlichte Geſtalt der Hero uͤberſchatte, daß die 
Heroine uͤber die tragiſche Liebhaberin hinauswachſe. 
In dem Schlußeindrucke ihrer Hero blieb eine Unklar— 
heit zuruͤck. 

Dieſe Unklarheit einigermaßen zu zerſtreuen, hat 
vielleicht ihre Darſtellung der Deborah beigetragen. 
In dieſer Rolle hat Fräulein Barſescu nicht den Ein— 
druck gemacht, den man von ihr erwartet hatte. Die 
Deborah iſt eine Rolle, die eine Virtuoſin verlangt, 
eine Virtuoſin mit einem maͤchtigen Organe. Nun iſt 
Fraͤulein Barſescu weder eine Virtuoſin, noch verfuͤgt 
ſie zur Stunde uͤber ein großes Organ. Man kann 
ſagen, als Talent iſt ſie eine Meiſterin, aber in der 
Technik fehlt ihr jene Meiſterſchaft, die nur die Frucht 
jahrelanger Bemuͤhungen iſt. Wenn ſie als Deborah 


213 


flucht, ift fie, mit Frau Wolter verglichen, ein reines 
Kind. Es fehlt ihr nicht die Abſicht, aber die Stimme. 
Und ſollte ihre Kunſt an ihrer Stimme eine Grenze 
finden? Vielleicht, daß dieſe Stimme ſich noch aus— 
bilden laͤßt. Man bedenke, daß Fraͤulein Barſescu 
eine fremde Sprache ſpricht, und daß die Muͤhe, die 
Arbeit, eine fremde Sprache zu ſprechen, den Klang der 
Stimme daͤmpft und verzehrt. Iſt ihr das Deutſche, 
das ſie erſt vor drei Jahren zu lernen begonnen, ver— 
trauter und gelaͤufiger, ſo wird auch ihr Organ bei 
Kraftſtellen wohlklingender werden. Dann hat ihr 
Stimmanſatz einen Mangel, den ſie mit aller Energie 
bekaͤmpfen muß: ein häßlicher Gaumenton entſtellt zu⸗ 
weilen ihre Rede. Und gleich mit dieſem Gaumenton 
hat ſie als Deborah eingeſetzt, ſo daß man ſich fragen 
mußte: Iſt das dieſelbe Darſtellerin, die ſich uns letzt— 
hin als Hero ins Ohr eingeſchmeichelt hat? Als De— 
borah mußte ſie das Publikum erſt wieder zu ſich her— 
uͤberzwingen. Es gelang ihr das ſofort in den lyriſchen 
Stellen. Hat man die Anrede an den Mond je mit 
mehr Wohllaut ſprechen hoͤren? Auch in dem großen 
Monolog auf dem Friedhofe hoͤrte man gut getroffene 
leidenſchaftliche Akzente, und ihre große plaftifche Be— 
gabung gab uns ein Bild fuͤr das Auge, wo das Ohr 
nicht befriedigt war; das Wertvollſte in dieſem Mono- 
log waren aber doch wieder die weichen Stellen („Viel— 
leicht hat ihn ein falſcher Wahn betoͤrt“ — „Vielleicht 
liebt er mich noch“) — Stellen, die unendlich einſchmei— 
chelnd und ruͤhrend klangen. Die Fluchſzene aber, auf 


214 


welcher der echte Fluchgeift des Alten Teſtaments ruht, 
war ſchwach im Kolorit, wenn auch gut in der Zeich— 
nung. Unſer Wunſch iſt, daß Fraͤulein Barſescu im 
Tragiſchen wachſen und gedeihen moͤge. 

Fraͤulein Barſescu gehoͤrt nun dem Burgtheater 
an. Ihr iſt eine Ehre, dem Burgtheater ein Gluͤck 
widerfahren, denn ein Gluͤck kann man es wohl nennen, 
daß durch den Eintritt eines bedeutenden Talentes in 
dieſes Inſtitut eine Reihe von Stuͤcken, die danieder— 
lagen, wieder moͤglich geworden iſt. Nun bluͤht 
wieder eine ſchoͤne Hoffnung, und mit leichterem Gemuͤt 
koͤnnen wir in die Zukunft blicken. Das fuͤhlen auch 
die beſten Kraͤfte des Burgtheaters, und Frau Wolter 
war die erſte, die von der Hoͤhe ihrer Kunſt und ihres 
Lebens herab der beſcheidenen, jugendlich aufſtrebenden 
Schauſpielerin ihren kuͤnſtleriſchen Segen erteilte. 


(Am 8. Dezember 1883) 


Karl La Roche 


Der Menſch erfaͤhrt, er ſei auch wer er mag, 
Ein letztes Gluͤck und einen letzten Tag. 
Goethe 


Man muß an Goethe anknuͤpfen, wenn man von 
La Roche ſpricht, der nun auch ſein letztes Gluͤck und 
ſeinen letzten Tag, ja durch ſeinen letzten Tag, der ihn 
aus einem beginnenden Schlummerdaſein hinweg— 
gehoben, ſein letztes Gluͤck erfahren hat. Seit Goethes 
großes Auge auf ihm geruht, iſt von der Stirne des 
Kuͤnſtlers eine gewiſſe ideale Lichtſpur nicht mehr ver— 
ſchwunden. La Roche hat das Doppelgluͤck gehabt, 
ſelbſt bedeutend zu ſein und durch die Teilnahme eines 
Bedeutenderen ſeinen Wert noch erhoͤht zu ſehen. Als 
die beiden Maͤnner in Weimar zuſammentrafen — 
Goethe haͤtte dem Alter nach La Roches Großvater ſein 
koͤnnen — muß ihnen das Gefuͤhl, daß ihre Naturen 
einander verwandt ſeien, nicht fremd geblieben ſein. 
Worin ſie einander aͤhnlich waren, iſt zunaͤchſt jener 
konſervative Zug, der vor allem darauf ausgeht, die 
eigene Perſoͤnlichkeit der Welt gegenuͤber zu erhalten, 
jene Lebenskunſt, die den Genuß verlaͤngert, indem ſie 
ihn beſchraͤnkt, jene Weisheit, die ſich an der Leiden— 
ſchaft waͤrmt, ohne ſich von ihr verzehren zu laſſen — 
kurz, der Egoismus des begabten Individuums, das, 
indem es nur ſich ſelbſt zu genießen ſcheint, auch den 
Genuß ſeiner Mitwelt, ſei es darſtellend, ſei es dich— 


216 


tend, erhöht. Solche Menſchen find Meiſter in der 
Kunſt, den Faden des Lebens in unabſehbare Laͤnge zu 
ſpinnen. La Roche hat darin ſein Vorbild noch uͤber— 
troffen, und vielleicht iſt es ihm gelungen, weil der 
Schauſpieler von ſeinem Innern weniger hergibt als 
der Dichter. Einen Mephiſto dichten, greift das 
geiftige Kapital doch etwas ſtaͤrker an, als ihn dar— 
ſtellen. Bei der inneren Verwandtſchaft zwiſchen 
La Roche und Goethe iſt es nun ein ſeltſames Spiel 
der Natur, daß auch das Außere des Schauſpielers, 
und zwar je aͤlter er wurde, deſto mehr, dem Außeren 
des Dichters nachzuarten ſchien. Nicht zwar der Ge— 
ſtalt nach, denn La Roche war nur mittelgroß, aber 
die oft bemerkte Ahnlichkeit mit Goethes Kopf iſt mit 
den Jahren gewachſen, und die leiſe Schlaffheit von 
Wange und Doppelkinn vollendeten das Löwenaͤhn— 
liche, das man dem Antlitze des alternden deutſchen 
Olympiers zuſchrieb. Wenn La Roche den Alten in 
„Hermann und Dorothea“ gab, war man betroffen von 
ſeiner Ahnlichkeit mit Goethe, und man konnte auf 
Augenblicke glauben, Goethe ſelbſt ſei herbeigekommen, 
um eine bürgerliche Rolle zu ſpielen. Die Holle in- 
deſſen, die La Roche unmittelbar mit Goethe ver— 
knuͤpfte, war Mephiſto. Goethe hat ſie mit ihm durch— 
gegangen, ſich mit ihm uͤber die Bedeutung dieſer Ge— 
ſtalt ausgeſprochen. „In der Rolle des Mephiſtopheles, 
wie ich ſie gebe,“ hat La Roche ſich geaͤußert, „iſt jede 
Gebaͤrde, jeder Schritt, jede Grimaſſe, jedes Wort von 
Goethe; an der ganzen Rolle iſt nicht ſo viel mein 


217 


Eigentum, als Platz hat unter dem Nagel.“ Wenn 
wir die in unſerem Gedaͤchtniſſe etwas verblaßte Figur 
von La Roches Mephiſto uns zuruͤckzurufen bemuͤhen, 
ſo ſpricht nichts dagegen, daß man ſie auf Goethe und 
ſeine Autoritaͤt zuruͤckfuͤhren koͤnnte. Sie hatte wenig 
von der giftigen Schaͤrfe, von der Überklugheit und 
dem Zynismus, womit andere Darſteller den Mephiſto 
auszuſtatten pflegen; La Roche war ein Teufel, der 
ſich in guter Geſellſchaft konnte ſehen laſſen; er war 
kein ſarkaſtiſcher Unflaͤter, ſondern ein Ironiker, dem 
es ſogar ſchwer wurde, grimmig zu werden. Er war 
ein Mephiſto, wie ſich ihn der alte Gyethe denken 
konnte, ein Mephiſto aber, der fuͤr uns nicht maßgebend 
iſt, weil wir in der Lage ſind, ihn an der Fauſt-Dich⸗ 
tung ſelbſt, die doch uͤber Goethe ſteht, meſſen und be— 
richtigen zu koͤnnen. Wenn indeſſen der Mephiſto eine 
jener Rollen iſt, die ſchauſpieleriſch ganz neu geſchaffen 
werden muͤſſen, ſo mahnt uns La Roches Beiſpiel, 
zuruͤckzukehren zu einer maßvolleren Auffaſſung, die 
allerdings eine groͤßere Schaͤrfe, eine ſtaͤrkere Betonung 
des Teufliſchen nicht ausſchließt. La Roches Mephiſto 
bleibt immerhin hoͤchſt wertvoll, weil er nicht aus 
Kommentarſtudien zuſammengeflickt, ſondern von 
Goethe angeregt iſt, wenn auch nicht von dem ganzen 
Goethe. La Roches Mephiſto iſt wenigſtens kein 
literariſcher Mephiſto geweſen. 

Und literariſch angekraͤnkelt war keine ſeiner 
Rollen. La Roche kam mit der Literatur faſt nur ins 
ſofern in Beruͤhrung, als ſie ihm perſoͤnlich (Goethe, 


218 


Holtei, Bauernfeld) oder auf der Bühne entgegenkam. 
Er bildete ſich an den Stuͤcken, in denen er ſpielte, und 
hatte ſo die echte Schauſpielerbildung. Als ihn einſt 
Karl Bauernſchmid auf der Straße traf, trug La Roche 
ein Buch unter dem Arme. Er mache Studien uͤber 
den Cromwell, ſagte er, den er naͤchſtes Jahr ſpielen 
werde. Als Bauernſchmid das Buch anſah, war es 
ein Band des Brockhausſchen Konverſationslexikons, 
Buchſtabe C. Bauernſchmid pflegte bedeutſam zu 
laͤcheln, wenn er dieſe kleine Geſchichte erzaͤhlte, und 
wer koͤnnte ſich des Laͤchelns erwehren, wenn er in ſol— 
chem Zuſammenhange das große Wort „Studien“ 
hört? Und doch — wenn dieſer Sachverhalt die 
literariſche Unſchuld La Roches bloßſtellt, koͤnnte er 
nicht auch fuͤr den Schauſpieler, fuͤr den Buͤhnen— 
kuͤnſtler ſprechen? Er wird den Cromwell ſpielen. Er 
erkundigt ſich in einem Nachſchlagebuche nach der Zeit, 
in der Cromwell gelebt, nach den allgemeinen Ver— 
haͤltniſſen, unter welchen Cromwell gehandelt. Das 
kann dem darſtellenden Kuͤnſtler genuͤgen, denn ſein 
Cromwell, der Cromwell, den er ſpielen ſoll, ſteht in 
ſeinem Buche; aus dieſem Buche hat er ihn zu 
ſchoͤpfen und ihn nicht in der Geſchichte zu ſuchen. Der 
Dichter kann ihn unhiſtoriſch aufgefaßt haben — und 
Raupach hat das mit Cromwell wirklich getan — es 
iſt aber nicht die Aufgabe des Schauſpielers, den 
Dichter zu berichtigen, ſondern mit ihm zu gehen durch 
dick und duͤnn. Was der Schauſpieler neben ſeinem 
Buche noch literariſch arbeitet, das tut er weniger fuͤr 


219 


feine Kunſt, als für feine allgemeine Bildung. Die 
Hauptſache für den Schaufpieler ift und bleibt, daß 
er ſich in ſeinen Dichter hinein- und ſeine Rolle aus 
ihm herauslieſt. Es waͤre mehr Geſundheit in der 
deutſchen Darſtellungskunſt, wenn ſich die Schauſpieler 
mehr an dieſe Grundregel hielten und ſich weniger 
einer dilettantiſchen Vielleſerei hingaͤben. Wer Talent 
hat, weiß immer mehr, als er gelernt hat. La Roche 
iſt zeitlebens der lebendige Proteſt gegen dieſes Pro— 
feſſorentum in der Schauſpielerei geweſen, welches 
den kuͤnſtleriſchen Inſtinkt untergraͤbt und es hoͤchſtens 
zu jenem falſchen Geiſt bringt, der weſentlich darin 
beſteht, es anders machen zu wollen, als andere es 
machen. Vor ſolcher Eitelkeit iſt La Roche durch ſeine 
geſunde Natur behuͤtet worden. 

Nur in einem Punkte hat La Roche ſeiner Natur 
Gewalt angetan: er wollte ihr auch tragiſche Wir— 
kungen abgewinnen. Nun war La Roche auf einen 
tragiſchen Kuͤnſtler urſpruͤnglich nicht angelegt; er 
konnte zwar im Voruͤbergehen tragiſche Lorbeern 
pfluͤcken, aber er war nicht anſaͤſſig auf dem Boden, 
in welchem ſolche Lorbeern gedeihen. Auch die aͤußeren 
Mittel, das Organ und die perſönliche Erſcheinung, 
ſchloſſen ihn von dem eigentlich tragiſchen Fache aus. 
Wir haben immer gefunden, daß ſeine groͤßte Kraft 
ſtets da lag, wo es ihm geſtattet war, eine Geſtalt mit 
komiſchem oder derbem Beigeſchmacke in das behag— 
lichſte Detail auszumalen. Der Kreis, in welchem ein 
alſo geartetes Talent Befriedigung findet, iſt weit ge— 


220 


zogen und ſchließt die Möglichkeit eines reichen und 
mannigfaltigen kuͤnſtleriſchen Geſtaltens in ſich. Und 
in der Tat, welche Fuͤlle von Geſtaltungskraft hat 
La Roche innerhalb dieſer Grenzen entfaltet! Von 
ſeinem Kent im „Koͤnig Lear“ bis zu dem aͤlteren 
Klingsberg, vom Juſt in „Minna von Barnhelm“ bis 
zu dem Kloſterbruder in „Nathan“, von ſeinem Shylock 
bis zum Malvolio — welche unabſehbare Reihe von 
meiſter⸗ und muſterhaften Geſtalten hat er nicht vor 
das Auge des Publikums gezaubert! Er war uner— 
ſchoͤpflich an charakteriſtiſchen und feinen Zuͤgen, und 
jeder Zug bekam wieder Junge. Solche einzelne Zuͤge 
ſind ihm oft von anderen abgeſtohlen worden; aber 
was man nicht ſtehlen kann, iſt die Seele, und La Roche 
hat ſeine Geſtalten ſtets von Innen heraus gebildet, 
und ein ſtarkes Grundgefuͤhl hielt ihre Glieder zu— 
ſammen. Bei aller Beweglichkeit lag in ſeinem 
Schaffen ein breites kuͤnſtleriſches Behagen, das alle 
Unruhe ausſchloß, und dieſer behagliche Zug, der auch 
ſein Leben beherrſchte, konnte dieſes geborene Berliner 
Kind mit gaͤnzlich norddeutſcher Bildung zu einem nie 
genug geſehenen Liebling der Wiener machen. La 
Roches Kunſt beruht ganz auf den Grundſaͤtzen, welche 
die großen Erneuerer der deutſchen Schauſpielkunſt 
zur Geltung gebracht haben. Es iſt die Natürlichkeit, 
die Wahrheit in Rede und Gebaͤrde, welche Eckhof und 
Schroͤder als Kuͤnſtler geuͤbt und welche Leſſing theo— 
retiſch vertreten hat. Dieſe Richtung, auf treue 
Wiedergabe des Lebens geſtellt, konnte gegen die kon— 


221 


ventionelle Manier, der fie das Genick brach, als Rea— 
lismus erſcheinen; allein ſie ſchloß einen geſunden 
Idealismus ſo wenig aus, daß ſie ihn vielmehr forderte, 
ja erſt moͤglich machte. Jener Schule gehoͤrte La Roche 
von Haus aus an, und die perſoͤnliche Beruͤhrung mit 
Goethe, welcher dem Schauſpieler gegenüber bekannt— 
lich auf „Stil“ drang, hat ihn feiner urfprünglichen 
Richtung im Grunde nicht untreu gemacht. Goethes 
Lehre machte ſich bei ihm wohl fuͤhlbar, aber, bezeich— 
nend genug, nur in Aufgaben, die nicht in der Rich— 
tung ſeines Talentes lagen. Da war ihm der Stil 
eine Kruͤcke, wie beiſpielsweiſe in der Darſtellung des 
Koͤnigs Philipp oder des alten Piccolomini. Wenn er 
aber in ſeinem eigentlichen Elemente war, dann warf 
er die Kruͤcke von Weimar ſofort beiſeite, und nun 
mußte man ſehen, wie gut und wie weit er auf den 
eigenen Fuͤßen lief. Neben vielen unvergleichlichen 
Figuren, die bis auf das letzte Haar und den letzten 
Knopf fertig daſtanden, hat er bis in das hoͤchſte Alter 
hinauf neue Geſtalten geſchaffen, die von Geiſt und 
Leben ſpruͤhten. Er hatte vierzig Jahre in Wien ge— 
ſpielt und war faſt achtzig Jahre alt, als er in Schau— 
ferts „Erbfolgekrieg“ jenen Bankier Lenz ſchuf, der zu 
ſeinen friſcheſten und geſchloſſenſten Rollen gehoͤrte. 
In dieſer Tatſache ſpricht ſich eine faſt unerhoͤrte 
Lebenskraft aus. La Roche war eine ſtarke Natur, 
und dieſe Staͤrke wurde durch ſeinen weiſen Sinn, der 
kein Übermaß duldete, weſentlich geſteigert. Stark 
und weiſe ſein, darin liegt das Geheimnis eines 


222 


dauernden Erfolges. Auch in dieſen Stuͤcken ift 
La Roche ein natuͤrlicher Verwandter Goethes geweſen, 
der nun nicht mehr von ihm zu trennen iſt. Einige 
Strahlen von der Sonne, deren herrlichen Niedergang 
er in Weimar zu ſchauen begnadet war, verklaͤrten das 
Antlitz des Lebenden und ſpielen mit ihrem Golde nun 
auch auf dem Huͤgel, unter welchem der große Kuͤnſtler 


zur Ruhe gebettet iſt. (Am 16. Maͤrz 1884) 


Sonnenthal als Wallenſtein 


Bevor Sonnenthal ihn geſpielt, hat wohl niemand 
an ſeinen Wallenſtein geglaubt, und er ſelbſt, der doch 
hundert dramatiſche Schlachten ſiegreich durchgefochten, 
iſt mit ſchweren Zweifeln an den Friedlaͤnder herange— 
treten, der das Waffengluͤck vieler bedeutender Schau— 
ſpieler ſchon gebeugt hat. Es gehen wohl alte Sagen 
von vorzuͤglichen Darſtellern dieſer Rolle — denn alles 
iſt ſagenhaft, was von toten Schauſpielern berichtet 
wird — allein ſeit mehr als einem Menſchenalter iſt 
kein Schauſpieler unter unſere Augen getreten, der 
uns den vollen Eindruck der Schillerſchen Dichtung ent- 
gegengebracht haͤtte. Die Überlieferung iſt bloß lite— 
rariſch, d. h. ſie iſt ausgeſtorben und knuͤpft an keinen 
lebendigen Faden mehr an. Anſchuͤtz iſt kein guter, 
Dawiſon — wenigſtens in ſeiner letzten Zeit — ein 
ſchlechter Wallenſtein geweſen, und was uns ſonſt als 
Wallenſtein auf deutſchen Buͤhnen begegnet iſt, hat es 
uͤber ein blindes Herumtaſten oder ein geiſtreiches, in 
letzter Inſtanz unmaͤchtiges Wollen nicht hinausge— 
bracht. Erſt Sonnenthal hat uns an die Darſtellbar— 
keit Wallenſteins wieder erinnert. Wir ſagen nicht: 
Da iſt er wieder, der verloren gegangene Wallenſtein, 
aber wir ſagen mit Zuverſicht: Hier iſt der Weg ge— 
zeigt, auf dem wir wieder zu ihm gelangen koͤnnen. 
Alſo nicht von einem Wallenſtein iſt die Rede, der voll— 
endet vor unſerem erſtaunten Blick ſtuͤnde, ſondern von 


224 


einem Wallenſtein, der die Möglichkeit ſeiner Ausge— 
ſtaltung in ſich traͤgt. Das Geheimnis dieſes Erfolges 
iſt ganz einfach. Ohne vorgefaßte Gedanken, ohne 
doktrinaͤres Wollen hat ſich Sonnenthal mit dem 
warmen kuͤnſtleriſchen Sinn, der ihm eigen, in ſeine 
Aufgabe hineingelegt; ſie iſt ihm zuerſt entgegenge— 
kommen im Sinne ſeines Talentes, und ſeiner heißen 
Bewerbung, ſeinem zarten Eindringen hat die Rolle 
auch ſolche Seiten erſchloſſen, die dem urſpruͤnglichen 
Talente des Kuͤnſtlers fernerſtehen. Die Dichtung 
ſelbſt iſt das Neſt, in welchem dieſe Rolle ausgebruͤtet 
iſt; das Stroh der Kommentatoren, die ausgefallenen 
Haare der Scholiaſten ſind zu dieſem Bau nicht herbei— 
getragen worden. Daher der lebendige Eindruck dieſes 
Wallenſtein — lebendig ſelbſt in dem, was an ihm 
verfehlt iſt. 

Als Sonnenthal am zweiten Abend den ganzen 
Wallenſtein abgeſpielt hatte, da merkte man erſt, wie 
feſt und klar ſchon im Anbeginne die Charakterlinien 
ſeines Helden gezogen waren. Wir haben Stimmen 
hoͤren muͤſſen, die in Sonnenthals Wallenſtein den 
Mann, den Helden vermißten. Im Gegenteile, ſchon 
in den „Piccolomini“ iſt der Soldat von ihm ſtark be— 
tont, der hellſte Akzent auf die Tat gelegt worden. 
Sonnenthal ließ es deutlich durchfuͤhlen, wie Wallen— 
ſteins Ehrgeiz nur an ſeine Macht, an ſein Koͤnnen 
geknuͤpft iſt, wie ſeine Zuverſicht auf die Sterne nur 
Wallenſteins Glaube an ſich ſelbſt iſt, der ſich in dieſem 
Aberglauben ſpiegelt. Er druͤckt das freilich nicht mit 


IVII5 225 


wilden Gebärden aus, oder indem er mit dem Abſatz 
auftritt, aber die gelaſſene Art und Weiſe, in der er 
es tut, iſt doppelt wirkſam und uͤberzeugend. Nach 
Sonnenthals Darſtellung iſt es gaͤnzlich ausgeſchloſſen, 
daß Wallenſtein einen Eingriff in feine militaͤriſche 
Stellung je dulden wuͤrde. Mit ruhiger Entſchloſſen⸗ 
heit ſagt er zu den ihn vorwaͤrts draͤngenden Freunden: 
„Ich kann jetzt noch nicht ſagen, was ich tun will. 
Nachgeben aber werd' ich nicht. Ich nicht! Abſetzen 
ſollen fie mich auch nicht — darauf verlaßt euch ...“ 
In keinem dieſer Worte ein ſtarker Laut, eine grelle 
Farbe: Alles geſagt wie ſelbſtverſtaͤndlich. Auch 
Queſtenberg gegenüber behält Sonnenthals Wallen— 
ſtein dieſe ruhige Entſchiedenheit, uͤber die nur dann 
und wann ironiſche Lichter hingleiten. In dieſem 
Wallenſtein iſt der Soldat unantaſtbar, und wo er 
rein Soldat ſein kann, nichts als Soldat, da fuͤhlt er 
ſich in ſeinem eigentlichen Elemente. Dieſen Zug haͤlt 
Sonnenthal unverbruͤchlich feſt, und einmal weiß er 
ihn zur hoͤchſten Wirkung zu ſteigern. Es iſt in dem 
Momente, da Wallenſtein von dem maſſenhaften Ab- 
falle in ſeiner Armee unterrichtet wird. Nun darf er 
den Staatsmann zuruͤckdraͤngen, nun kann der Soldat 
hervortreten. „Es iſt entſchieden, nun iſt's gut — und 
ſchnell bin ich geheilt von allen Zweifelsqualen ... 
Notwendigkeit iſt da, der Zweifel flieht, jetzt fecht' ich 
für mein Haupt und für mein Leben ...“ Es hängt 
mit Sonnenthals Auffaſſung eng zuſammen, daß er 
hier in einen wahren Jubel ausbricht und den Vers: 


226 


„Nacht muß es fein, wo Friedlands Sterne ſtrahlen“, 
mit droͤhnender Stimme in die Welt hinausruft. 

Dieſer Befreiungsjubel wirkt um ſo maͤchtiger, als 
Sonnenthal ſich mit groͤßter Hingebung in die Ge— 
muͤtsqualen vertieft, unter denen der von ſeinem Kaiſer 
abtruͤnnige Soldat zu leiden hat. Es iſt ergreifend, 
wie der Darſteller in dem Monolog vor der Zuſammen— 
kunft mit Wrangel in ſich hineinhorcht und ſein Ge— 
heimnis mit zoͤgernden Worten, und mit Worten, die 
ihren Stachel wieder zuruͤck in ſein Gemuͤt eindruͤcken, 
preisgibt. Es liegt eine tiefe Melancholie in ſeiner 
Stimme; die Gedanken ſteigen wie Geſpenſter auf und 
wenden ſich gegen den zuruͤck, der ſie geboren. Gerade 
hier tritt die von Sonnenthal jo ſtark betonte Soldaten⸗ 
natur Wallenſteins hervor, die, in einen ihr neuen 
Kampf verwickelt, Angſt hat vor dem eigenen Gewiſſen 
und vor dem Gewiſſen der Welt — zwei Potenzen, die 
den Arm lahm und das Schwert ſchartig machen. Wie 
Sonnenthal dieſen Monolog ſpricht, wie er ihn lang— 
ſam wachſen laͤßt, das iſt ein ſchauſpieleriſches Meiſter— 
ſtuͤck; nur ſchade, daß ſein Glanz durch einen truͤben 
Fleck entſtellt wird. In den Verſen: 


Denn aus Gemeinem iſt der Menſch gemacht, 
Und die Gewohnheit nennt er ſeine Amme — 


legt Sonnenthal den Hauptnachdruck auf das Wort ge— 
macht, ſo daß man ganz ratlos ſteht und vergebens 
daruͤber nachgruͤbelt, auf welcher moͤglichen Erwaͤgung 
denn dieſer unmoͤgliche Akzent beruhen koͤnne. Doch 


[15] 227 


läßt die Darftellung keine Zeit zum Nachſinnen, denn 
in dem Geſpraͤche mit Wrangel uͤberraſcht uns Sonnen- 
thal durch ſeine auf heißem Untergrunde ſpielende 
kuͤhle Ruhe, durch ſeinen großen Geſchaͤftston, durch 
die objektive Unbefangenheit, mit welcher er die von 
Schiller herrlich entworfene Schilderung der ſchwe— 
diſchen und oͤſterreichiſchen Armee dem Dichter nach⸗ 
ſchildert. 

Szenen, in welchen das Gemuͤt vorwaltet, die 
einen warmen Ausbruch des Gefuͤhls geſtatten, ſind 
von Haus aus Sonnenthals Eigentum. Den Aus— 
druck ſolcher Situationen braucht er ſich nicht erſt ab- 
zuringen, er liegt in ſeiner Natur, in ſeiner Begabung. 
Ruͤhrend im beſten Sinne war die Klage um den treu— 
loſen Piccolomini; unmittelbar ans Herz ſchlug die 
Schilderung des fruͤheren Zuſammenlebens der beiden 
Kriegskameraden. Noch waͤrmere Toͤne fand er beim 
Abſchiede Wallenſteins von Max Piccolomini. „Max, 
bleibe bei mir! ... Max, du kannſt mich nicht ver— 
laſſen! Es kann nicht fein, ich mag's und will's nicht 
glauben, daß mich der Mar verlaſſen kann ...“ Dieſe 
Stellen ſprach Sonnenthal aus der tiefſten Seele, und 
wie er nach den letzten Worten den abgewendeten Max 
mit beiden Haͤnden bei der Schulter faßte, dieſe durch 
und durch gefuͤhlte Bewegung vollendete das Ergrei— 
fende der Situation. Indeſſen dieſe und ähnliche Wir— 
kungen werden bei Sonnenthal ſelbſtverſtaͤndlich vor— 
ausgeſetzt. Fragt man nun, in welches Verhaͤltnis er 
ſich zu dem Wunderbaren in Wallenſteins Charakter 


228 


geſetzt, ſo kann man jagen, daß er es mit Vorteil in 
das Ganze ſeiner Darſtellung aufgenommen. Mit 
Wärme, mit Eiferſucht ſprach er von feinen himm- 
liſchen Beziehungen, er wies ſtets mit Nachdruck auf 
ſie hin und ließ ſie nicht bloß aͤußerlich an ſich haften. 
Nur einmal, bei der Erzaͤhlung des Traumes, ſchien 
der Darſteller aus dieſer Rolle zu fallen. Gewiß, die 
Erzaͤhlung rollte ſich ſchoͤn ab, ihr fehlte nicht das 
Anſchauliche, das Eindringliche; aber was ihr fehlte, 
war eben der Zauber, den fie aus Wallenſteins Wunder- 
glauben ſchoͤpft. Der Darſteller war zu wach, er ſprach 
zu den Anweſenden, wendete ſich ihnen zu, waͤhrend er 
doch die Wirklichkeit vergeſſen, im Banne einer Viſion 
ſich befinden ſollte. Am Schluſſe der Erzaͤhlung wurde 
der Vers: „Mein Vetter ritt den Schecken an dem Tag“ 
faſt hervorgeſchmettert, während bei dem Schlußvers 
„Und Roß und Reiter ſah man niemals wieder“ die 
Stimme herabſank. So wurde das minder Bedeutende 
betont und das Geheimnisvolle fallen gelaſſen. 

Man ſieht, der Tadel kann in Sonnenthals Leiſtung 
nicht ſehr tief einſchneiden. Was Sonnenthal verfehlt, 
das kann er verbeſſern, denn es handelt ſich dabei nur 
um ein momentanes Fehlgreifen des Urteils, nicht um 
einen Mangel an Begabung. Sonnenthal hat das 
Zeug in ſich, die Kritik zu entwaffnen. 


(Am 23. Maͤrz 1884) 


Amalie Haizinger 


Nun iſt auch Amalie Haizinger „zu den Mehreren 
gegangen“, wie die Hellenen in ihrer, das Notwendige 
mildernden Ausdrucksweiſe zu ſagen pflegten — auch 
inſofern zu den Mehreren, als ſie den geſtaltenreichen 
Totenreigen der alten Schule des Burgtheaters mit 
ihrem Hingang abſchließt. Das Theater freilich ver— 
liert zunaͤchſt nichts mehr an ihr, denn ſie iſt ihm ſeit 
zehn Jahren fern geſtanden; aber auf der Buͤhne des 
Lebens, auf der ſie ebenſo meiſterhaft geſpielt wie auf 
den Brettern, wird man die alte Dame ſchmerzlich ver— 
miſſen, denn ſie war mit ihrem geſelligen Beduͤrfnis 
und Talent bis in ihre letzte Zeit hinein ein belebendes 
Element der Wiener Geſellſchaft geweſen, das ſich ſo 
bald nicht erſetzen duͤrfte. Auch ſie gehoͤrte zu jenen 
hervorragenden Schauſpielern, die durch den Zauber 
ihrer Perſoͤnlichkeit, durch geiſtige Bedeutung und feine 
Sitte ihren Stand adelten und ihm in der buͤrgerlichen 
Geſellſchaft zu Anſehen und Einfluß verhalfen. Wenn 
man die Schauſpieler fruͤher in ungeweihte Erde be— 
grub, wenn man noch in der Mitte des vorigen Jahr— 
hunderts, ſo oft Komoͤdianten im Weimarſchen er— 
ſchienen, mit Entſetzen ausrief: „Die Waͤſche von den 
Zaͤunen, die Bande kommt!“ ſo haͤlt heutigentages die 
Geiſtlichkeit hoͤchſt erbauliche Reden am Grabe von 
Theaterleuten, und in guten Familien rechnet man 
ſich's zur Ehre, eine Buͤhnengroͤße zu bewirten. Frau 


230 


Haizinger war eine vornehme Frau, die empfing und 
empfangen wurde. Sie konnte mit ihrem ſprudelnden 
Weſen, ihrer anſteckenden Heiterkeit, ihrer durch feinen 
Takt gebaͤndigten Dreiſtigkeit einen geſelligen Kreis 
beleben und beherrſchen, die Rolle der Hausfrau ebenſo 
gluͤcklich ſpielen wie die Rolle des Gaſtes. Freilich 
auch, welche natuͤrlichen Mittel, ſich perſoͤnlich geltend 
zu machen, ſtanden ihr zu Gebote! Man kennt ihre 
Jugendſchoͤnheit aus guten Bildniſſen: die ſchlanke 
und doch volle Geſtalt, das friſche, lieblich ſchwellende 
Geſicht, den bluͤhenden Mund, die ſprechenden blauen 
Augen. Und nun beſaß ſie das Geheimnis, ſich ewig 
zu verjuͤngen, indem ſie ſich in die Zeit ſchickte und von 
jedem Lebensalter die ihm eigene Jugendbluͤte brach. 
So iſt ſie nie alt geworden, ſondern jung geweſen als 
Maͤdchen, als Frau, als Matrone, als Greiſin, und die 
uͤppige Spitzenhaube iſt der Achtzigerin ſo jugendlich 
geſtanden, wie der Achtzehnjaͤhrigen die Roſe im Haare. 
Die Natur hatte ſie wie einen Liebling ausgeſteuert. 
Sie war im Mai geboren und hatte die gute, ſtarke, 
dauerhafte Art einer Maikatze. Ihre Heimat war 
Karlsruhe, wo ſchwaͤbiſches und pfaͤlziſches Weſen ein— 
ander begegnen und umbilden; bei Frau Haizinger iſt 
der truͤbe Bodenſatz des ſchwaͤbiſchen Charakters durch 
die leichte pfaͤlziſche Blutwelle hinweggeſpuͤlt worden. 
Heiterkeit war ein Grundzug ihres Gemuͤtes; ſie hatte 
ein Talent, das Widerwaͤrtige, das ſie betraf, raſch zu 
verwinden. Ihre Rede, von einer weichen, warmen, 
doch auch der Schaͤrfe faͤhigen Stimme getragen, ge— 


348 


wann an Reiz durch den herzhaften Anklang an die 
ſchwaͤbiſche Mundart, die Frau Haizinger zu gemuͤt⸗ 
licher und ſchalkhafter Wirkung zu benutzen verſtand. 
In guter Stunde war ſie die Freundlichkeit ſelbſt, und 
ſie fuͤhlte dann das Beduͤrfnis, jedem, der ihr in den 
Wurf kam, etwas Angenehmes und Verbindliches zu 
ſagen. „Aber lieber Herr Joſeph, wie ſchoͤn habet Se 
heut' d' Kuliſſe g'ſchobe,“ konnte fie nach einer Vorſtellung 
zum Kuliſſenſchieber ſagen. Aber dieſe Freundlichkeit 
war — uns fehlt das deutſche Wort — sans con- 
sequence. Schalkhaft durfte fie, andere treffend und 
auch ſich ſelbſt nicht verſchonend, in ihrer heimatlichen 
Mundart ſcherzen: „Und a biſſele Lieb“ und an biſſele 
Iren’ und a biſſele Falſchheit iſcht alleweil dabei.“ 
Eine ſolche weibliche Vollnatur auf der Buͤhne zu 
ſehen, war ein Genuß, den die Wiederholung nicht ab— 
ſtumpfte. Dieſe Fuͤlle des angeſchlagenen Tones und 
dieſes reiche Nachquellen der Kraft erregte ſtets neue 
Verwunderung. Da ſtand es und da bewegte es ſich 
vor uns, dieſes Eigenwillige, dieſes Souveraͤne und 
Siegreiche einer wahren Natur. Sie hatte fruͤher 
naive und ſentimentale Rollen gegeben, auch ins Tra— 
giſche hatte ſie heruͤbergeſpielt und kleine Opern— 
partien geſungen. Ein muſikaliſches Element, auch 
wo ſie nur ſprach, iſt ihr immer geblieben, und die 
Naive und Sentimentale hatte ſie mit heruͤbergenom— 
men in das Fach der komiſchen Alten, das fie im Burg- 
theater von Anfang an vertrat. Ihrer Naivitaͤt 
glaubte man aufs Wort, und ihre Empfindung trug 


238 


den Stempel der Wahrheit an ſich. Sie konnte lachen 
und weinen, ihr Schluchzen in komiſchen Situationen 
machte ihr niemand nach; aber hinreißend war ſie, 
wenn ſie Lachen und Weinen in einem Sack hatte. Sie 
beſaß, was ſo wenig Frauen beſitzen: Laune, die ſich 
bis zum Humor ſteigerte; ſie konnte mitten in der 
Komik ergreifend wirken und bis zu Traͤnen, und ſelbſt 
uͤber die Traͤnen hinweg, ruͤhren. Wenn ſie einmal 
ſich ſelbſt einen Feiertag machte und auf Koſten der 
Rolle nur ihre eigene Natur walten und glaͤnzen laſſen 
wollte, da war ſie, und wenn man ſich nachtraͤglich 
auch aͤrgerte, ihres Erfolges ſtets ſicher; gluͤcklicher— 
weiſe wandelte fie eine ſolche Virtuoſenlaune, die uns 
zu Narren ihres Talentes machte, nur ſelten an. Ihr 
Fach fuͤllte ſie voll und glaͤnzend aus. Sie war, 
immer innerhalb des Rahmens der Komik, die vor— 
nehme Dame, die buͤrgerliche Frau, die Haushaͤlterin, 
die Baͤuerin, die Kupplerin — alles, was man wollte. 
Bei der niedrigſten Rolle, etwa der Marthe im „Fauſt“, 
ſchlug der Adel ihrer Begabung kraͤftig durch und hob 
das Gemeine in den Ather der Kunſt empor. Amalie 
Haizinger war ganz ſie ſelbſt auf der Buͤhne, aber eben 
das war ihre große Kunſt, daß ſie es wagen konnte, 
ſich ſelbſt auf der Buͤhne zu geben. 

Es wäre ein untroͤſtlicher Gedanke, wenn man ans 
nehmen muͤßte, daß ein ſo reiches Koͤnnen, wie es in 
Frau Haizinger wohnte, ſpurlos von der Erde ver— 
ſchwunden ſei. Talent kann man freilich nicht ver— 
erben, aber gluͤcklicherweiſe iſt es moͤglich, verwandte 


233 


Talente zu wecken und anzuregen. Vermoͤge dieſes 
Vorganges findet am Burgtheater eine fortwaͤhrende 
Übertragung der Kraͤfte, wenn man will eine Seelen— 
wanderung von Generation zu Generation ſtatt. Das 
kuͤnſtleriſche Erbe von Fichtner haben Sonnenthal und 
Hartmann angetreten; Lewinsky hat von Anſchuͤtz die 
Gabe der ſchoͤnen Rede uͤberkommen, Baumeiſter an 
demſelben Kuͤnſtler ſeine tragiſche Kraft entfacht; 
Gabillon hat etwas von der Maͤhne Ludwig Loͤwes, 
Schoͤne etwas von der erquicklichen Heiterkeit Beck— 
manns; Kraſtel und Robert haben ſich in Joſeph Wag⸗ 
ners Nachlaß geteilt. Jeder und jede haͤngt mit der 
Vergangenheit des Burgtheaters zuſammen, nur eine 
nicht — Frau Wolter: ſie iſt niemandes Schuͤlerin und 
jedermanns Meiſterin. Amalie Haizinger iſt nicht 
uͤber die Bretter des Burgtheaters gegangen, ohne 
ihnen dauernde Spuren einzudruͤcken. Was im Burg— 
theater nur immer Namen hat, iſt von ihrem Naturell 
erquickt, von ihrer ſchlichten Kunſt beruͤhrt worden. 
Wir wollen indeſſen nicht von dieſer allgemeinen Wir— 
kung reden, die ſich bei einer bedeutenden Kuͤnſtler— 
natur von ſelbſt verſteht. Ganz beſonders iſt Frau 
Haizinger geiſtig uͤbergegangen auf Frau Hartmann 
und Frau Schoͤnfeld, die zugleich ihre Landsmaͤnninnen 
find und durch Organ und ſchwaͤbiſch-pfaͤlziſche An⸗ 
klaͤnge ihrer Sprache an die Heimgegangene erinnern. 
Darin liegt ein Troſt und eine Hoffnung des Burg— 
theaters. Indeſſen ſei es ferne von uns, an dem 
friſchen Grabe der Geſchiedenen Vergleiche anſtellen zu 


234 


wollen, die etwa gar zu dem Ergebniffe führen jollten, 
daß Frau Haizinger laͤngſt erſetzt ſei. Nein! Etwas 
erſetzen laͤßt ſich nur in der mechaniſchen Welt, das 
Lebendige iſt zu vornehm dazu. Das Lebendigſte aber 
iſt ein Talent und als ſolches immer einzig. Dieſe 
Einzigkeit wird man auch der Dahingeſchiedenen laſſen 
muͤſſen. Amalie Haizinger wird als Kuͤnſtlerin eben⸗ 
ſowenig wiederkehren, als ſie ihr Grab verlaſſen wird. 


(Am 15. Auguſt 1884) 


Charlotte Wolter 
Fünfundzwanzig Jahre Burgtheater 


Bei den Feſtgelagen der Schauſpieler iſt die Kritik 
kein gerne geſehener Gaſt. Die Begeiſterung, die un— 
bedingte Bewunderung, fuͤhrt das große Wort, und 
was dieſen heißen Strom der Gefuͤhle, dieſe redneriſche 
Gluͤhhitze der Huldigung auch nur ein wenig abzu— 
kuͤhlen den Anſchein haͤtte, indem es Gruͤnde gegen 
Empfindungen ins Feld fuͤhrt, wird als eine frevel— 
hafte Stoͤrung, als ein gemuͤtloſer Eingriff in die Ge— 
rechtſame der Begeiſterung empfunden. Und doch kann 
ſich die Kritik auch bei ſolcher Gelegenheit ihr altes 
Recht nicht rauben laſſen, das einfach darin beſteht, 
die Dinge zu ſcheiden und zu unterſcheiden, an die 
Stelle des Glaubens die Vernunft zu ſetzen. Was nun 
Frau Charlotte Wolter betrifft, welche ihr fuͤnfund— 
zwanzigſtes Jahr am Wiener Burgtheater feiert, jo 
koͤnnten wir uns nie entſchließen, die Worte zu unter- 
ſchreiben, die ein jugendlicher Enthuſiaſt in einer ſelbſt 
das Maß bpzantiniſcher Lobeserhebung uͤberholenden 
Broſchuͤre niedergelegt hat. Nach dieſem Autor ſteht 
Frau Wolter da: „Bewundert, umjubelt und vergoͤttert 
von Millionen, geprieſen vom ganzen Jahrhundert.“ 
Von einer Schauſpielerin, und ſei ſie auch eine ſo be— 
deutende Schauſpielerin wie Frau Wolter, in ſolcher 
Weiſe zu ſprechen, verraͤt eine ſeltſame Verkennung 


236 


aller Werte menſchlicher Größe. Was bliebe denn für 
den Dichter uͤbrig, deſſen Erfindungen der Schau— 
ſpielerin erſt Gelegenheit geben, ihre Kuͤnſte zu zeigen? 
Wenn von Schauſpielern die Rede iſt, darf man nie 
vergeſſen, daß ſie als nachſchaffende Kuͤnſtler ſtets in 
zweiter Reihe ſtehen; wo ihre Kunſt ſelbſtaͤndig zu wer— 
den beginnt, da wird der Dichter entweder geopfert 
oder er iſt gar nicht vorhanden. Als nachſchaffende 
und im beſten Falle als ergaͤnzende Kuͤnſtler zu gelten, 
das iſt das Recht der Schauſpieler, und ſie als ſolche 
zu betrachten, zu verſtehen, zu beurteilen und, wenn es 
ſein kann, zu bewundern, das iſt die Pflicht des Zu— 
ſchauers. Steckt man die Grenzen in dieſer Weiſe ab, 
ſo bleibt fuͤr den Schauſpieler noch ein großes Feld 
der Wirkſamkeit, und wenn die kritikloſe Bewunderung 
mit ſich ſelbſt beginnt, jo kann es der Kritik leicht ge— 
ſchehen, daß ſie, nachdem ſie ſich gegen Einzelheiten ge— 
ſtraͤubt, mit der Bewunderung endigt. Das iſt auch 
der Fall mit Frau Wolter. 

Als Frau Wolter in das Burgtheater eintrat, kam 
ſie, obgleich noch unreif und nur eine Andeutung ihrer 
ſelbſt, wie gerufen. Die Darſtellungsweiſe der Tra— 
goͤdie ſtand an einer Kriſe; das Alte befriedigte nicht 
mehr, das Neue war noch nicht gefunden. Julie 
Rettich war tief durchdrungen von der Notwendig— 
keit, hierin eine Wendung vorzunehmen, denn wie ſie 
dem Publikum nicht mehr genuͤgte, genuͤgte ſie ſich auch 
ſelbſt nicht mehr; ſie hatte die Riſtori geſehen und 
empfing von dieſer bedeutenden Darftellerin, wie alle 


237 


Welt, die unter ihrer Wirkung geftanden, einen mäd)- 
tigen Eindruck. Viele deutſche Schauſpieler wurden 
an der beruͤhmten Italienerin gewahr, wie arm ſie, 
gegen jene gehalten, an Ausdrucksmitteln ſeien. An 
ihr war alles bis in die Fingerſpitzen Beredſamkeit; 
ſie ſchaltete ſelbſtherrlich uͤber die Sprache; ſie beſaß 
die zarteſten und grellſten Naturlaute; ſie warf ſich in 
den kuͤhnſten Gegenſaͤtzen umher und ging in der Natur— 
wahrheit bis an die Grenze des Moͤglichen. Ein feines 
Gefuͤhl des Schicklichen und eine innere Anmut be— 
wahrten ſie davor, dieſe letzten Grenzen zu uͤberſchreiten. 
Frau Rettich machte den Verſuch, dieſe Elemente in 
ihre Darſtellung aufzunehmen; fie machte ihn und iſt 
kuͤnſtleriſch daran zugrunde gegangen. Eine geiſtreiche, 
nur wenig ſinnliche Natur, war ſie gewoͤhnt, vom 
Geiſte aus zu arbeiten; als ſie nun an die volle Sinn— 
lichkeit appellierte, wollten ihr die Nerven, die Muskeln, 
das Blut nicht gehorchen. Ein Riß ging durch ihre 
Natur, und ſie konnte nichts erreichen, als das Gleich— 
gewicht ihrer Kraͤfte zu zerſtoͤren. Wie anders Char— 
lotte Wolter! Sie litt nicht an einem Überfluſſe von 
Geiſt, an einem Ungehorſam der Nerven und des 
Blutes. Sie war ſelbſt eine Natur und ſtand mit der 
Natur auf gutem Fuße, fie war Realiſtin der Auf— 
faſſung nach, aber leider auch Naturaliſtin in den 
Kunſtmitteln. Sie hatte wenig gelernt, aber ſie konnte, 
was man nicht lernen kann. Sie konnte nicht ſprechen, 
aber donnern; fie konnte nicht deuten, aber drohen; fie 
konnte nicht gehen, aber ſchreiten. Alles, was den an— 


238 


deren leicht wurde, ward ihr ſchwer, und woran die 
anderen verzweifelten, ging ihr wie von ſelbſt von 
der Hand. Sie fiel wie ein Element in das Burg— 
theater, von dem man noch nicht wiſſen konnte, ob es 
Verheerungen oder Segnungen mit ſich fuͤhre. 

Bald enthuͤllte ſich ihr Kern. Was zuerſt den 
Kuͤnſtler macht, iſt die ſtarke Perſoͤnlichkeit. Die Per— 
ſoͤnlichkeit, die Beſitz ergreift, wo ſie hintritt, konnte 
man ihr nicht ſtreitig machen, ſie gab ſich ſchon in der 
phyſiſchen Waͤrme ihrer Darſtellung kund. Doch was 
nuͤtzt dem Schauſpieler die ſtarke Perſoͤnlichkeit ohne 
die entſprechenden ſinnlichen Mittel? Ohne dieſe 
bleibt er ſtets ein kuͤnſtleriſcher Kruͤppel. Die Stimme 
iſt das vornehmſte Organ des Schauſpielers. Char— 
lotte Wolters Stimme iſt ein ſchoͤner Mezzoſopran, der 
in die Altlage reicht und ein ſchneidiges Kopfregiſter 
beſitzt; ſie leiht ſich allen Nuancen der Kraft, vom 
Fluͤſtertone bis zum „Wolterſchrei“. Ihr mittlerer 
Sprechton hat eine wohlige Tiefe. Fuͤr die koͤrperliche 
Beredſamkeit der Wolter hat die Natur muͤtterlich ge— 
ſorgt. Sie hat ihr einen Wuchs gegeben, der nicht ſo 
klein iſt, daß die Bewegungen zum Zierlichen zu— 
ſammenſchrumpfen, und nicht ſo groß, daß ſie ins Un— 
geſchlachte ausarten; ſie zeichnen ſich, je nachdem es 
vonnoͤten, durch Weichheit oder durch Energie aus. 
Im Kopf nun, als der Bluͤte des Leibes, faßt ſich die 
ſinnliche Ausdrucksfaͤhigkeit der Kuͤnſtlerin aufs ſchoͤnſte 
zuſammen: ein Geſicht, im Profil ſo edel geſchnitten 
wie eine antike Kamee, Augen — wahre Lichtſchmet— 


239 


terlinge — voll Leben und Feuer. Mit ſolchen finn- 
lichen Mitteln muß ſich wohl etwas ausrichten laſſen, 
zumal wenn fie vom feinſten Geſchmack in der Koftü- 
mierung und von dem ungewoͤhnlichen plaſtiſchen 
Talent der Kuͤnſtlerin unterſtuͤtzt werden. Dann, als 
Gaͤrungsſtoff in dieſe ſinnliche Fuͤlle geworfen, das 
mächtige Temperament der Wolter! Wie der Sala— 
mander nach der Sage im Feuer, ſo lebt ſie in der 
Leidenſchaft. Das Trauerſpiel iſt ihre Heimat, der 
Kampf auf Leben und Tod ihr eigentliches Element; 
da beſitzt ſie wahrhaft aufreizende und hinreißende Ge— 
bärden, Worte, die wie Blitze einſchlagen und wie 
Donner rollen und grollen, furchtbare, markerſchuͤt⸗ 
ternde Toͤne. Das moderne franzoͤſiſche Schauſpiel, 
in welchem das gefallene Weib buͤhnenfaͤhig geworden 
iſt, beherrſcht Frau Wolter als Meiſterin. Sie iſt es, 
die durch ihre verfuͤhreriſche Darſtellung noch mitten 
in der ſittlichen Faͤulnis an uneigennuͤtzige Liebe glau— 
ben lehrt. 

Daß eine ſolche Naturkraft auch ihre Schatten— 
ſeiten hat, verſteht ſich wohl von ſelbſt, und man darf 
dies auch an Frau Wolters Ehrentage ſagen. Es iſt 
ſo viel an ihr, daß ſie nicht klein wird, wenn man uͤber 
ſie die Wahrheit ſagt. Frau Wolter hat immer die 
Neigung gehabt, mit Haͤnden und mit Fuͤßen uͤber den 
gegebenen Rahmen des Burgtheaters hinauszuwachſen, 
ſich ſelbſt mit ihrem ſtolzen Talent zum Burgtheater zu 
erweitern. Das iſt der helle Undank. Ihre Natur, 
ihre reiche Begabung hat ſie zwar dem Burgtheater 


240 


zugebracht; das Burgtheater hat fie aber zu der Künft- 
lerin, die fie gegenwärtig iſt, gemacht. Wir haben fie 
in ihren Anfängen geſehen, wo fie vielfach nur ein 
Zerrbild deſſen war, was fie Später geworden iſt. Das 
Enſemble des Burgtheaters, dieſes Zuſammenwirken 
bedeutender und großer Kuͤnſtler, hat ihre Ecken ab— 
geſchliffen und ſie in ihren von Zeit zu Zeit wieder— 
kehrenden Auflehnungen ſtets wieder gebaͤndigt. Dieſe 
maͤchtige Umgebung iſt ihr groͤßter Segen geweſen. So 
groß aber iſt der Zauber ihres Talents, daß uns Frau 
Wolter auch noch in ihren Verirrungen Teilnahme ein— 
zufloͤßen verſteht. Es kommt wohl vor, daß Frau Wol⸗ 
ter ohne Ruͤckſicht auf die Dichtung, ja im Widerſpruch 
mit ihr auf eigene Fauſt zu ſpielen beginnt, wie ein 
Singvogel ſich im eigenen Liede berauſcht. Dann 
nimmt ſie uns das Urteil. Sie gewaͤhrt einen Schmaus 
für Ohr und Auge: es iſt, als höre man Muſik, als 
fuͤhre ſie uns Bilder vor, und dieſes Fortſingen der 
Sprache, dieſe malerifche Entfaltung der Geſtalt ver— 
ſetzt uns in einen traumhaften Zuſtand. Man fuͤhlt 
wohl, ſo ſoll es nicht ſein, und gleichwohl laſſen wir 
uns feſthalten. Man muß ihr Spiel bewundern, ſelbſt 
wenn man es nicht billigt. So zwingt, ſo bewaͤltigt ſie 


den hingegebenen Zuſchauer. (Am 15. Mai 1887) 


IVII6 


Ferdinand Bonn 


Spricht man bei uns, wie jetzt jo häufig geſchieht, 
von der veraͤnderten Darſtellungsweiſe, die ſich auf den 
deutſchen Buͤhnen einzubuͤrgern anſchicke, ſo wird wohl 
auch das neueſte Mitglied des Burgtheaters, Herr 
Ferdinand Bonn, als Vertreter dieſer neuen Richtung 
in das Geſpraͤch mit einbezogen. Von den einen, je 
nach Verſtaͤndnis und Standpunkt, mit Anerkennung, 
ja mit Begeiſterung, von den anderen mit Mißtrauen 
und Geringſchaͤtzung. Man kann von der einen Seite 
die Schlagworte hoͤren: bedeutendes Talent, genialer 
Mime, großer Schauſpieler, waͤhrend auf der anderen 
Seite ſolchen kraͤftigen Bejahungen ebenſo ſcharfe Ver— 
neinungen gegenuͤberſtehen. Wir haben dieſen Schau— 
ſpieler bei ſeinem Gaſtſpiele in drei Rollen geſehen: in 
einer Shakeſpeareſchen, Schillerſchen und Grillparzer— 
ſchen, als Hamlet, Franz Moor und Leon — drei ſo 
verſchiedene Rollen, daß ſie uͤber Begabung und 
Koͤnnen des Darſtellers wohl ein Urteil geſtatten. 
Genialer Mime, großer Schauſpieler, das ſind Worte, 
die nach dem Eindrude jener Leiſtungen ſofort auszu— 
ſtreichen; was aber das Talent betrifft, ſo laͤßt ſich dar— 
uͤber ja wohl reden. Ein Talent, ein gewiſſes Talent, 
nun freilich! Aber was iſt das Eigentuͤmliche daran, 
der Name, bei dem man es rufen kann? 

Eigentlich kuͤnſtleriſches Talent geht immer auf das 
Ganze, arbeitet aus dem Ganzen eines Kunſtwerkes, 


242 


aus Sinn und Seele des Kunſtwerkes heraus. Es 
kommt wohl vor, und vielleicht iſt es der gewoͤhnliche 
Weg, den der Schauſpieler geht, daß er zuerſt von einer 
einzelnen Szene eines Schauſpiels, von einem einzelnen 
Zuge einer Geſtalt gepackt wird, was aber dann den 
Kuͤnſtler macht, das iſt der Umſtand, daß er ſeinerſeits 
dieſe einzelne Szene, dieſen einzelnen Zug im Sinne 
des Ganzen ergreift, wie man ja an der menſchlichen 
Hand den ganzen Menſchen erfaßt. Von dieſem 
Punkte, von dieſem feſten Boden aus baut dann der 
Kuͤnſtler, indem er Stein nach Stein aus der Dichtung 
herbeiholt, ſeine Rolle auf. Und zwar nach durchaus 
verſtaͤndigem Maße; denn wenn er einem unmittel- 
baren Einblick, wenn er der Intuition das Verſtaͤndnis 
der Dichtung verdankt, ſo tritt hierauf, ſobald die Em— 
pfindung ſicher iſt, der Kunſtverſtand als bauender 
Werkmeiſter auf. Solches Arbeiten aus dem Ganzen, 
ſolch urſpruͤngliches Gefuͤhl, ſolch verſtaͤndiges Auf— 
bauen der Rolle hat ſich bei Herrn Bonn nirgends ge— 
zeigt. Er faͤngt mit jeder neuen Szene von neuem an, 
er trägt mit ſtets geſchaͤftiger Reflexion Einzelzuͤge zu⸗ 
ſammen, die kein Faden mit dem Ganzen verbindet, 
und indem er dieſem muͤhſam ausgekluͤgelten Unweſen 
den Schein der Improviſation leiht, verwirrt er den 
Zuſchauer mehr, als daß er ihn befriedigt. Wem Ver— 
worrenheit als Genialitaͤt gilt, ruheloſe Haſt als Leben, 
fuͤr den wird Herr Bonn ein genialer und lebensvoller 
Schauſpieler ſein. 

Welcher Art iſt nun Herrn Bonns Talent? Denn 


161 243 


von Talent ließe ſich bei ihm, haben wir gejagt, ja 
wohl reden. Welcherlei Talent? Nun, Herr Bonn iſt 
ein mechaniſches Talent. Er iſt ein Gymnaſtiker in 
jedem Sinne, ein Gymnaſtiker des Leibes und der 
Seele. Er beſitzt viele Vorausſetzungen des Kuͤnſtlers, 
ohne ſelbſt ein Kuͤnſtler zu ſein. Er hat ſeinem Koͤrper, 
der weder ſchoͤn noch haͤßlich iſt, eine ſorgfaͤltige Pflege 
zugewendet. Er geht gut, weil er den Gang aus dem 
freigemachten Huͤftgelenke heraus bildet und die Zehen 
lebendig benutzt — kein geringer Vorzug, wenn man 
an die ſteifen Huͤften ſo vieler deutſcher Schauſpieler 
denkt und an ihre Abneigung, die Zehen — außer bei 
pathetiſchen Schritten, wo die Sohle pedantiſch aus— 
gemeſſen wird — beim Gehen zu gebrauchen. Nur ver— 
faͤllt Herr Bonn zu leicht in Taͤnzermanieren, indem er 
die Übergaͤnge von der erſten in die zweite Poſition und 
von der dritten in die vierte beſonders bevorzugt. Wie 
er ſpringen und laufen kann, hat er in „Weh' dem, der 
luͤgt“ gezeigt, wo er mit gleichen Fuͤßen uͤber einen 
Tiſch ſetzte und mit einem langen Strick — auch ſo ein 
mechaniſcher Einfall — um den Baum lief, um den 
bloͤden Ritter feſtzubinden. Gegen die zweckmaͤßige 
Beweglichkeit der Beine ſteht die Verwendung der 
Arme, und namentlich die Beredſamkeit der Hände, be— 
traͤchtlich zuruͤck. Auch ſeine Stimme, die weder wohl— 
klingend noch groß, aber ausreichend iſt, hat eine gute 
Gymnaſtik erfahren, nur etwa drei Toͤne aus der mitt— 
leren Tonlage ſtehen in knabenhafter Unreife eigen— 
ſinnig feſt und wollen ſich der Klangfarbe der uͤbrigen 


244 


Stimme nicht angleichen. In allerlei Sprechart ift 
Herr Bonn geuͤbt, die Rede fliegt ihm raſch vom 
Munde, und wo er ſtarke und grelle Akzente braucht, 
ſtehen ſie ihm — freilich ein wenig muͤhſam — zu Ge— 
bote. An der Beweglichkeit der Gliedmaßen und der 
Zunge nehmen die Geſichtszuͤge nur wenig Anteil. Das 
Geſicht hat etwas Starres, Maskenhaftes, in welchem 
nur die Augen Lebenszeichen von ſich geben. 

Der Mechanismus des Koͤrpers greift bei dieſem 
Schauſpieler auch auf die Seele uͤber, ohne ſich in 
dieſem ungreifbaren Elemente zu vertiefen und geiſtig 
zu ſteigern. Mit Vorliebe ergeht ſich Herr Bonn in 
ſtarken Gegenſaͤtzen. Er ſetzt gern Schwarz neben 
Weiß; von vermittelnden Tinten macht er nur ſelten 
Gebrauch. Er fluͤſtert und parliert, oder er donnert 
und ſchreit. Und nun kommt der Kunſtgriff, in wel— 
chem eigentlich der ganze Spaß der allermodernſten 
Darſtellungsweiſe beſteht. Man ſpricht naͤmlich be— 
deutende Dinge unbedeutend, gleichguͤltig, blaſiert, man 
uͤberſetzt das Tragiſche in den Konverſationston. Das 
iſt neu, uͤberraſchend, pikant. Shakeſpeare im Salon, 
Schiller im ſeparierten Zimmer, Grillparzer auf dem 
Turf! An Stilforderungen wird nicht gedacht. Und 
doch: Schauſpiele muͤſſen, wie ſie gedacht ſind, auch 
dargeſtellt werden; der Stil der Dichtung muß auch 
der Stil des Spieles fein. Shakeſpeare wie Schoͤnthan 
ſpielen, Schiller wie Moſer, Grillparzer wie Michael 
Klapp — iſt es nicht eine Verſuͤndigung an dem 
innerſten Weſen dieſer Dichter? ... Aber welche 


245 


Pedanterie, ein jo vogelfreies Ding wie die Kunſt fo 
ernſt zu nehmen! Herr Bonn iſt kein Pedant. Er hat 
Shakeſpeare wie einen Rechtloſen behandelt. 

Herr Bonn als Hamlet! Wir wiederholen unſer 
erſtes Wort: Shakeſpeares Tragoͤdie, ſo aufgefaßt, iſt 
eine Trauerpoſſe, und wir fügen hinzu: Hamlet, fo dar- 
geſtellt, iſt ein tragiſcher Clown. Mit feiner Biel: 
ſpielerei hat er die ganze Buͤhne eingenommen, er hat 
nicht die Hauptfigur ſein wollen, nein, die einzige 
Figur. Nicht als einen Mann ſtellte er ihn dar, der 
nach dem Grunde der Dinge forſcht und forſchend, 
zweifelnd und zoͤgernd einem tragiſchen Schickſal ver— 
faͤllt, nein, als einen forſchen Burſchen, der allerlei 
Staͤnkereien anhebt und an dieſen Staͤnkereien einen 
großen Spaß hat. Wir wollen nur ein paar Punkte, 
an welchen die Auffaſſung des Schauſpielers am 
ftärfften hervortritt, beleuchten. In der Abſchiedsſzene 
preßt er Ophelien heftig an ſich und will ſie mit Kuͤſſen 
faſt erſticken. Man traut ſeinen Augen nicht. In 
dieſem Augenblicke, wo ihn ſeine große Aufgabe ruft, 
wo er die grimmigſte Verachtung des weiblichen Ge— 
ſchlechtes, die er aus dem ſchlimmen Beiſpiel ſeiner 
Mutter geſogen, vor Ophelien foͤrmlich ausſprudelt, 
wo er ihr raͤt, in ein Kloſter zu gehen — in dieſem 
Augenblicke findet Hamlet Luſt und Zeit, das Maͤdchen 
leidenſchaftlich zu umarmen, zu herzen, zu kuͤſſen. Es 
iſt im ſchlimmſten Sinne modern gedacht, aus dieſem 
erſchuͤtternden Abſchied eine wolluͤſtig-grauſame Szene 
zu machen. Und am Schluſſe des Trauerſpiels, bei 


246 


dem Tode des Königs, läßt Herrn Bonns Hamlet 
ſeinem Munde das Wort „Endlich!“ entſchluͤpfen. 
Dieſes kleine Wort bricht den Stab uͤber die ganze 
Auffaſſung des Hamlet. Endlich, was endlich? Man 
vergegenwaͤrtige ſich die Mordſzene, dieſes juͤngſte Ge— 
richt ohne Richter. Aus den handelnden Charakteren 
ſelbſt haben ſich die Faͤden zu jenem Schickſalsnetze ge— 
ſponnen, in welchem alle gefangen werden. Hamlet iſt 
auf den Tod verwundet, er hat nur noch die Zeit und 
Kraft, den Koͤnig wie ein Tier niederzuſtoßen. So 
tragiſch haben ihn die Schickſalsmaͤchte gefaßt, daß er 
die ihm auf die Seele gelegte edle Rache nur noch wie 
ein Fleiſcher nehmen kann. Und da ſollte Hamlet ein 
befriedigtes „Endlich!“ ausſtoßen? „Und die bei euch 
den Narren ſpielen,“ ſagt Hamlet zu den Schau— 
ſpielern, „laßt ſie nicht mehr ſagen, als in ihrer Rolle 
ſteht.“ Dieſes Wort iſt auch für andere als für 
Narren geſagt. Auch im uͤbrigen hat Herr Bonn viel 
gegen Shakeſpeare geſuͤndigt, namentlich mit ſeiner ab— 
ſichtlichen Einmiſchung des Konverſationstones. Er 
hat den Monolog „Sein oder Nichtſein“ nicht mit mehr 
Ausdruck geſprochen, als die Knaben, die mit Kreuzer— 
ſtuͤcken ſpielen, ihr „Kopf oder Wappen?“ ſagen. 
Nun ſind es nicht allgemeine Erwaͤgungen, die Hamlet 
hier ausſpricht, ſondern die ausgeſprochenen Ge— 
danken haͤngen mit der eigenen und eigenſten Lage zu— 
ſammen, haben daher perſoͤnliche Faͤrbung, perſoͤnliches 
Blut. Nicht der Denker, der Philoſoph ſpricht, ſon— 
dern der perſoͤnlich intereſſierte, der dramatiſche 


247 


Menſch. Daher muß die Sprache nicht etwa pathetiſch, 
aber erregt ſein. Vieles waͤre hier zu erwaͤgen, was 
Adolph Gelber in ſeiner geiſtreichen, ſcharfſinnigen, 
tief und uͤbertief bohrenden Schrift uͤber Hamlet 
(Wien, Karl Konegen, 1891) ausgeſprochen hat. Herr 
Bonn hat ſich auch in neuen Betonungen, alſo in neuen 
Auslegungen verſucht. So betonte er in dem Mono— 
loge: „O welch ein Schurk' und niedrer Sklav' bin ich“, 
die folgenden Verſe folgendermaßen: Haͤtte er, der 
Schauſpieler, 


Das Merkwort und den Ruf zur Leidenſchaft 
Wie ich: was wuͤrd' er tun? 


Das Merkwort und den Ruf, das iſt gegen den 
Sinn und gegen den Vers. Wir brauchen bloß das 
engliſche Original aufzuſchlagen, um recht zu behalten. 
Bei Shakeſpeare heißt es ſchlicht und glatt: 

What would he do, 
Had he the motive and the care for passion, 
That I have. 


Betont find die Worte: Merkwort, Ruf und ich. 

Doch genug! Es wird ſich nun zeigen, ob Herr 
Bonn geſonnen iſt, im Burgtheater ſeine uͤblen 
Manieren abzulegen, von den hier verſammelten Kuͤnſt— 
lern zu lernen. Wenn nicht — nicht! Falſche kuͤnſt⸗ 
leriſche Richtungen ab- und auszuſtoßen, hat das 
Burgtheater noch immer Kraft genug. 


(Am 28. Juni 1891) 
248 


Fritz Kraſtel als Fauſt 


Nun haben wir auch im neuen Hauſe den ganzen 
„Fauſt“, der Tragoͤdie erſten und zweiten Teil. Frei— 
lich macht uns dieſer Beſitz nicht ganz froh. Nach 
einem ſchon eingewurzelten Verfahren iſt „Fauſt“ erſt 
lange hinausgeſchoben und dann uͤberſtuͤrzt worden. 
Um in der Darſtellung reif zu werden, haͤtte der zweite 
Teil — ganz abgeſehen von dem Mißſtande, daß er im 
Schatten der gegenwaͤrtigen Direktion aufwachſen 
mußte — noch eine gute Reihe von Proben verlangt. 
Übrigens ſind wir ja an unfertige und halbfertige Auf— 
fuͤhrungen laͤngſt gewoͤhnt. Das Hauptaͤrgernis an der 
Sache aber iſt, daß wir einen „Fauſt“ ohne Fauſt, 
einen „Fauſt“ ohne Gretchen haben. Keinen Fauſt! 
Haben wir nicht Herrn Kraſtel? Kein Gretchen! 
Haben wir nicht gleich ihrer zwei, Fraͤulein Hruby 
und Fräulein Reinhold? Gewiß, das haben wir, aber 
das begruͤndet ja gerade unſere Klage. Wir haben 
fuͤr Herrn Sonnenthals Fauſt gewiß nie geſchwaͤrmt; 
er hat kein innerliches Verhaͤltnis zu dieſer Rolle, er 
hat kein Verſtaͤndnis fuͤr die innere Tragik geiſtiger 
Kaͤmpfe. Mit unſicherem Fuße, als ob der Boden 
gebrannt haͤtte, iſt er uͤber die großen Monologe im 
erſten Teile des „Fauſt“ hingegangen. Im ganzen 
aber war ſein Fauſt doch eine ſchauſpieleriſch aus— 
geglichene Leiſtung, die gegen das Ende des zweiten 
Teiles, wo Fauſts Streben eine praktiſche Wendung 


249 


nimmt, zu bedeutender Höhe wuchs. Dafür hatte 
Herr Sonnenthal Verſtaͤndnis, weil er ſelbſt vom 
Handwerke ausgegangen war. Ohne Zweifel liegt 
Herrn Kraſtel der geiſtige Gehalt der Rolle naͤher, er 
hat mehr Sinn und Verſtaͤndnis fuͤr das Fauſtproblem. 
Herr Kraſtel iſt — es liegt einiger Humor darin — 
Kandidat der Theologie geweſen, bevor er Taͤnzer und 
Schauſpieler geworden; außerdem fehlt es ihm nicht 
an poetiſcher Begabung. Trotz dieſer guͤnſtigen Vor— 
bedingungen iſt es Herrn Kraſtel nicht gegluͤckt, die 
Rolle des Fauſt kuͤnſtleriſch zu bezwingen. 

Unſere beiden Fauſtdarſteller ſtraucheln gleich an 
der Schwelle des Schauſpiels. In den erſten Saͤtzen 
die er ſpricht, verzweifelt Fauſt an aller Erkenntnis 
und faßt ſeinen Seelenſchmerz in den ergreifenden 
Worten zuſammen: 


Und ſehe, daß wir nichts wiſſen koͤnnen, 
Das will mir ſchier das Herz verbrennen. 
Nun handelt es ſich um die richtige Betonung der erſten 
Zeile. Herr Sonnenthal betont folgendermaßen: 
Und ſehe, daß wir nichts wiſſen koͤn nen ... 
Herr Kraſtel betont in der folgenden uͤppigen Weiſe: 
Und ſehe, daß wir nichts wiſſen koͤnnen, 
wobei auf das Wort „wiſſen“ der verhaͤltnismaͤßig 
ſchwaͤchſte Ton faͤllt. Es iſt allerdings wahr, daß dieſe 


kurze Zeile voller Sinn und Akzent ſteckt; aber ein 
Sinn und Akzent muß am Ende doch der richtige ſein. 


250 


Ich kann nacheinander, jedesmal mit einem Anjchein 
von Recht, betonen: Und ſehe, daß wir nichts wiſſen 
koͤnnen; daß wir nichts wiſſen koͤnnen; daß wir nichts 
wiſſen koͤnnen; daß wir nichts wiſſen koͤn nen. Man 
mag indeſſen die Sache wenden und drehen, wie man 
will — der Hauptbegriff des Satzes und daher das 
hauptſaͤchliche Wort iſt doch das Verbum wiſſen, und 
auf wiſſen faͤllt daher die Hauptbetonung. Man kann 
ja vermuten, meinen, glauben, aber der Gegenſatz iſt 
das Wiſſen, und dieſer Gegenſatz iſt hier gemeint. Die 
Sprache ſelbſt ſcheint mit dieſem Worte zu philo— 
ſophieren. Es gehoͤrt zu jenen Zeitwoͤrtern, die in der 
Form der Vergangenheit etwas Gegenwaͤrtiges aus— 
ſagen Praeteritopraesentia). Ich weiß heißt eigent- 
lich: Ich habe geſehen. Im Griechiſchen hat dasſelbe 
Wort denſelben Sinn. Wie ſchoͤn paßt dieſes Wort 
zu Fauſts vergeblichem Streben, den Dingen gleich— 
ſam ins Geſicht zu ſehen, ſie perſoͤnlich kennen zu 
lernen! Alſo um das Wiſſen handelt es ſich hier, und 
das Wort „wiſſen“ allein muß betont werden. Die 
Nebenziehungen ſind ja um dieſes Schlagwort herum 
klar ausgeſprochen, man hoͤrt und faßt ſie ja, und das 
Wort „koͤnnen“ iſt ſogar in den Reim geſtellt und da— 
durch genugſam ausgezeichnet. Wir koͤnnen uns fuͤr 
unſere Auffaſſung noch auf die juͤngſte und beſte franzoͤ⸗ 
ſiſche „Fauſt“-Überſetzung berufen. Frangois Sabatier 
uͤberſetzt die beiden in Rede ſtehenden Zeilen: 

Et vois que l'on ne peut rien connaitre, 

C'est comme un feu qui là pénè tre 


251 


Wie man fieht, hat der franzoͤſiſche Überſetzer das volle 
Gewicht des Satzes auf das Wort connaitre (wiſſen) 
gelegt, indem er es an das Ende der Verszeile ruͤckte 
und noch durch den Reim verſtaͤrkte. Wenn daher 
Herr Sonnenthal das Wort „koͤnnen“ betont, ſo iſt es 
unrichtig, und wenn Herr Kraſtel auf drei Worte 
hintereinander den Akzent legt, ſo iſt das unklar und 
aus einer Unklarheit hervorgegangen. Wir haben als 
Beiſpiel falſcher Betonung aus den Monologen Fauſts 
nur eine Stelle gewaͤhlt, weil ſie mit dem Grund— 
problem der Dichtung aufs innigſte zuſammenhaͤngt 
und Fauſts Wendung zum Leben, erſt im Genuß, dann 
in der Tat, geradezu begruͤndet. 

Sonſt iſt es eigentuͤmlich mit Herrn Kraſtels Fauſt: 
Manchmal, in einem Wort, einer Wendung, einer Be— 
wegung ſcheint ein beſſeres Verſtaͤndnis der Dichtung 
aufzublitzen, gleich darauf iſt es wieder weg, und der 
Schauſpieler ſchaͤdigt durch einen ploͤtzlichen Mißgriff 
die Wirkung, die ihm ſo ſicher zu ſein ſchien. Sein 
Fauſt iſt ganz ohne Haltung, ohne Stil, aus Einzel— 
heiten zuſammengeſtuͤckelt, die einander widerſprechen. 
Wie oft faͤllt er aus dem Erhabenen ins Gemuͤtliche, 
Alltaͤgliche, Spießbuͤrgerliche, wo dann die Melodie der 
pfaͤlziſchen Mundart eine ungewollte heitere Wirkung 
hervorbringt. Ungluͤcklich genug iſt bei Herrn Kraſtel 
der Übergang Fauſts vom Gelehrten zum Liebhaber. 
Er huͤpft wie ein Springinsfeld aus dem Talar hervor, 
mit einer tanzenden Jugendlichkeit, die doch peinlich 
iſt, weil ſie von einem behaglichen aͤlteren Mann her— 


252 


rührt. Bei allen guten Anläufen ift Herrn Kraſtels 
Leiſtung doch unerquicklich. Man kann von ſeinem 
Fauſt ſagen: er iſt halb geſungen und halb geſprungen. 

Das letzte intereſſante Gretchen des Burgtheaters, 
Fraͤulein Barſescu, hat man ziehen laſſen. Die beiden 
gegenwaͤrtigen Gretchen, ſo unzulaͤnglich ſie ſind, ſollte 
man eigentlich nicht tadeln, denn was koͤnnen ſie dafuͤr, 
daß ſie ein Mann, der dem Theater fremd iſt, in einer 
Aufgabe, der ſie nicht gewachſen ſind, hinaus- und 
bloßgeſtellt hat? Und doch iſt wieder ein Unterſchied 
zwiſchen Fraͤulein Reinhold, die doch manches Tech— 
niſche los hat, und zwiſchen Fraͤulein Hruby, die in 
einer ruͤhrenden Unſchuld des Nichtkoͤnnens das Gret— 
chen ſpielt. Man muß die Kraͤfte des Burgtheaters 
entweder nicht kennen, oder man muß dieſe Kraͤfte 
nicht benutzen wollen, wenn man Goethes „Fauſt“ in 
zwei Hauptrollen ſo beſetzt, wie er gegenwaͤrtig beſetzt 
iſt. Es iſt oft von dem Einfluß geſprochen worden, 
den Shakeſpeares Ophelia auf die Geſtaltung Gret—⸗ 
chens genommen hat. Ahnlichkeiten ſind vorhanden. 
Haͤtte ſich nun nicht ein Direktor bei der Beſetzung der 
Gretchenrolle fragen muͤſſen, wer die Ophelia ſpiele? 
Die Antwort: Frau Hohenfels, waͤre fuͤr einen Mann, 
der ſeine Sache verſteht, entſcheidend geweſen. Iſt 
eine Kuͤnſtlerin, die als Ophelia ſo viel innige Poeſie 
entfaltet wie Frau Hohenfels, nicht das Gretchen, das 
man erfinden muͤßte, wenn man es nicht haͤtte? Nein, 
man laͤßt ſie heute von einer Soubrette ſpielen und 
morgen von einer Anfaͤngerin, die auf der Buͤhne noch 


253 


nicht das erfte Paar Schuhe ausgetreten hat. Und was 
den Fauſt betrifft, wer ſollte, wenn die Rolle einmal 
frei iſt, nicht ſofort an Herrn Robert denken? Er mit 
ſeinem eindringenden Verſtaͤndniſſe waͤre der Mann 
der Monologe, er waͤre auch mit ſeinen liebhaberiſchen 
Erinnerungen der Kuͤnſtler fuͤr die Liebesſzene und als 
erfahrener Vertreter des herbiſchen Faches der die Welt 
bewaͤltigende Held des zweiten Teiles. Wir hoͤrten 
einmal von Herrn Robert ſagen: „Ich wuͤrde die 
Liebesſzene im „Fauſt“ mit grauen Haaren ſpielen!“ 
In dieſen Worten, worin ſich eine tapfere Geſinnung 
ausſpricht, iſt nur der geſteigerte Ausdruck einer rich— 
tigen Empfindung. Es iſt widerwaͤrtig genug, den 
Fauſt bei Gretchen als wuͤrdigen Privatdozenten auf— 
treten zu ſehen. Herrn Robert den Fauſt ſpielen zu 
laſſen, waͤre kein Experiment, ſondern ein ſicherer 
Treffer. 

Der zweite Teil des „Fauſt“, wie wir ihn nun ge— 
ſehen haben, iſt eine Kopie der Wilbrandtſchen Ein— 
richtung. Nichts Weſentliches iſt geaͤndert, und was 
geändert iſt in Nebenſachen, iſt nicht beſonders gluͤck— 
lich ausgefallen. Was im zweiten Teile des „Fauſt“ 
ſtets am meiſten anzieht, ſind die Helena-Szenen und 
die letzten Szenen des Fauſt. Die Helena-Szenen ſind 
allerdings ſtark in Symbolik eingetaucht; aber ſie be— 
deuten nicht nur, ſie ſind auch, weil ſie ganz in Poeſie 
aufgehen. Frau Wolter als Helena hat ihre Trimeter 
— dieſes großfaltige ſprachliche Gewand der antiken 
Tragoͤdie — fruͤher breiter und wuchtiger behandelt; 


254 


als kuͤnſtleriſcher Beirat fehlt ihr jetzt ihr Gatte und 
ein ſachkundiger Theaterdirektor. Immerhin iſt ſie 
eine klaſſiſch bewegte Geſtalt mit einer Stimme, deren 
Zauber unwiderſtehlich iſt. Euphorion, der in den 
Augen des Publikums zu vielerlei iſt, um etwas zu ſein, 
iſt eine reizende Rolle der Frau Hohenfels. Der un— 
baͤndige, anmutige Junge, wie ſie ihn darſtellt, laͤßt 
uns nicht zur Beſinnung kommen, reißt uns mit ſich 
fort in die Breite, in die Hoͤhe, in die Tiefe. Unter 
anderm iſt Euphorion auch Lord Byron, und als ſolcher 
wird er nach feinem tödlichen Fall gefeiert: ein daͤmo— 
niſcher Menſch, ein Dichter mit „eigenſtem Geſange“ 
— in Verſen, ſo ſchoͤn und hinreißend, daß man ſie auf 
der Buͤhne nur ſchwer vermißt. Dingelſtedt in ſeinem 
Entwurfe einer „Fauſt“-Trilogie hat dieſe Figur ein— 
fach geſtrichen. Sehr mit Unrecht, duͤnkt uns, da dieſes 
Gebilde, das ganz Rhythmus, Muſik und Tanz iſt, ſich 
nur auf der Buͤhne ausleben kann. Freilich ſollte die 
Regie mehr Witz an dieſe Figur ruͤcken, als es gewoͤhn— 
lich geſchieht. Wenn man uͤberhaupt in Betracht zieht, 
was die Technik gegenwaͤrtig zu leiſten imſtande iſt, 
ſo ſtehen die Auffuͤhrungen des zweiten „Fauſt“, der 
doch als Zauberſtuͤck hoͤchſten Ranges ſaͤmtliche tech— 
niſche Hilfsmittel in ſeinen Dienſt zu rufen berechtigt 
iſt, noch auf einer niederen Stufe des Dilettantismus. 

Fauſt als Koloniſator, der dem Meer Land ab— 
gewinnt, macht ſtets den tiefſten Eindruck. Da ſind 
wir auf dem eigenſten, ganz auf modernem Gebiete, 
Geſtalten aus neueſter Zeit ſteigen in unſerer Phantaſie 


255 


auf, Herſteller gemeinnuͤtziger Unternehmungen. Ich 
ſehe beiſpielsweiſe den Ingenieur Gabrieli, den 
Meiſter der Wiener Hochquellenleitung, wie er einmal 
auf einem Gange der Redaktion der „Neuen Freien 
Preſſe“ vor einem Waſſerauslauf ſtand und gedanken— 
voll den Hahn hin und wieder drehte, daß manchmal 
das Waſſer hervorſchoß, bei deſſen Melodie er gewiß 
auf neue weitausſehende Werke ſann. Dann, wenn 
Fauſts reinſte Unternehmungen durch Mephiſtopheles 
in den Schmutz herabgezogen worden, erſcheint mir die 
tragiſche Figur des großen Leſſeps. Unter den wich— 
tigen Dingen, die Goethe hätte erleben mögen, nannte 
er auch den Durchſtich der Meerenge von Panama. 
Leſſeps hat dieſes Werk unternommen, allein Mephifto- 
pheles — nein, die Geldgier, der Schwindel, der mora— 
liſche Schmutz haben ſich daran gehaͤngt und es mitten 
im beſten Gelingen vereitelt. Fauſt iſt waͤhrend ſeines 
Unternehmens, von der Sorge angehaucht, erblindet, 
Leſſeps iſt von Alter und Krankheit niedergeworfen, 
ſeiner Beſinnung beraubt worden. Hier wie dort 
Fluͤche der Betrogenen, der Beraubten. Ob die 
Himmelfahrt auch fuͤr Leſſeps kommen wird, wie ſie 
für Fauſt gekommen iſt? Wenigſtens hat in Leſſeps“ 
Leben, wie das ewig Maͤnnliche, ſo auch das ewig 
Weibliche eine große Rolle geſpielt. 

Nach ſolchen Betrachtungen, die den Geiſt ins 
Weite ziehen, kehrt man zu der Buͤhnendarſtellung des 
„Fauſt“ nur ungern zuruͤck. Das Beſte, was man von 
Herrn Kraſtel ſagen kann, iſt nicht mehr, als daß er 


256 


ſich im zweiten Teile des „Fauſt“ bis an die letzte 
Szene hin eine wohltuende Maͤßigung auferlegte. Zu— 
letzt aber ließ ſich der Deklamator ſein Recht nicht 
nehmen. Die herrlichen Weisheitsſpruͤche, in denen 
uns Goethe ſein Teſtament gibt, wetterte er uns un— 
barmherzig in die Ohren. Herr Kraſtel verſteht viel— 
leicht den Fauſt, aber ſpielen kann er ihn nicht. 


(Am 1. Juni 1893) 


UvII7 


Ludwig Gabillon 
Vierzig Jahre Burgtheater 


Als der Herausgeber des „Decamerone vom Burg— 
theater“ auch Herrn Gabillon anging, ihm etwas 
Schriftliches zuwenden zu wollen, gab ihm der Kuͤnſtler 
nicht etwa eine Skizze aus ſeinem Buͤhnenleben, ſon— 
dern eine mit breitem Behagen erzaͤhlte Aventuͤre, wie 
er einen der ſtaͤrkſten Maͤnner ſeiner Zeit, den Maler 
Urmuͤller, im Ringkampfe beſiegt habe. Die Tatſache 
iſt bezeichnend fuͤr Gabillon, aber vielleicht doch nicht 
in dem Sinne, wie manche wohl annehmen moͤchten. 
Es lag darin kein Urteil uͤber ſeine Kuͤnſtlerſchaft 
und daß er ſie als Nebenſache betrachte. Denn daß er 
ein Schauſpieler, und als ſolcher ein Kuͤnſtler ſei, ver— 
ſtand ſich fuͤr ihn ſo von ſelbſt, daß er es nicht erſt zu 
ſagen brauchte; aber die Grundlage ſeiner Kuͤnſtler— 
ſchaft, eine allſeitig ausgebildete Mannhaftigkeit, ſchob 
er gern in den Vordergrund der Eroͤrterung und be— 
trachtet ſie nicht ohne ein Gefuͤhl kraͤftigen Selbſt— 
behagens. Er hatte ſtets Freude an ſich ſelbſt, eine 
Vorbedingung alles Gluͤcks und alles Gelingens, ſei es 
im taͤtigen Leben, ſei es in der Kunſt. Er kannte dieſe 
Freude an ſich ſelbſt vorzugsweiſe in der Form des 
Kraftgefuͤhls. Mit Armen und Beinen etwas zu 
koͤnnen, koͤrperlich mächtig zu fein, war ihm eine große 
Sache. Er waͤre die groͤßte Zierde eines Zirkus ge— 


258 


worden, er hätte Gewichte gehoben und Feuer ver: 
ſchluckt, ſtand auf ſeinen Schultern nicht ein Kopf, 
worin doch Hoͤheres lebte. Wir kennen Gabillon, ſeit 
er in Wien iſt. Als er in Wien ankam, hatte er noch 
rote Backen wie ein reifer Apfel. Was ihm zum vollen 
Manne noch fehlte, holte er bald ein. Er glich dann 
einem jener langbeinigen deutſchen Recken, wie ſie 
ſchon in alten Roͤmerzeiten uͤber die Alpen geſtiegen 
und in unſeren Tagen in Frankreich einmarſchiert ſind. 
Über feinen ſcheinbar welſchen Namen Gabillon 
brauchte der Mann nicht allzuſehr betruͤbt zu ſein, 
denn in unſerem Epos „Gudrun“ erſchlaͤgt Hagen ein 
drachenartiges Ungeheuer, das gabilün heißt und 
deſſen Blut uͤbermenſchliche Kraft verleiht. Wenn man 
nun Gabillons Studierſtube betrat, fand man ein 
ſchmales, luͤckenhaft beſetztes Buͤchergeſtell, aber 
Waffen in Huͤlle und Fuͤlle. An der Wand hing eine 
reiche Auswahl von Rapieren und Schlaͤgern, von 
Flinten und Piſtolen, kurz von allem, was Gefahr 
bringt und vor Gefahr ſchuͤtzt. Gabillon iſt ein guter 
Fechter, ein vortrefflicher Schuͤtze, er iſt Weidmann, 
Schiffer, Schwimmer, Laͤufer. Ob er je ein Pferd 
beſtiegen hat, wiſſen wir nicht, jedenfalls iſt er kein 
beruͤhmter Reiter geworden; aber zu ſeinem Troſte ſagt 
ja ſchon Tacitus, daß die Hauptſtaͤrke der Germanen 
im Fußvolk beruhe. Wenn man ihn in ſeinem Ele— 
mente, in der Ausuͤbung ſeiner Kraft und ſeiner Fertig— 
keiten ſehen wollte, mußte man ihn in den Sommer— 
ferien am Grundlſee aufſuchen, wo er ſich ſein be— 


171 259 


ruͤhmtes Blockhaus gebaut hatte. Was in der Stadt 
manchmal als Prahlerei erſcheinen konnte, wurde hier 
zur Wahrheit und Wirklichkeit. 

Als ein tapferer Menſch hat ſich Gabillon auch f 
die Buͤhne durchgeſchlagen und ſich auf ihr behauptet. 
In der Zeit, da er zum Theater ging, hatte man noch 
etwas zu verlieren, etwas aufzuopfern; man gab ein 
verhaͤltnismaͤßig ſicheres Auskommen fuͤr eine unſichere 
Zukunft auf. Damals wurde man noch nicht aus der 
Theaterſchule als fertige Ware geliefert. Die Buͤhne 
ſelbſt war — wie es auch ſein ſoll — die Theaterſchule. 
Gabillon hat von unten auf gedient. Er hat, wie in 
der guten alten Zeit der Komoͤdie, alles verrichtet: 
geſprochen, geſungen, getanzt. Zu Guͤſtrow in Mecklen⸗ 
burg geboren, begann er in Roſtock als Choriſt und 
debuͤtierte als Grenadier in der „Tochter des Regi— 
ments“. Seine erſte Sprechrolle war ein Diener, der 
nach abgeſtotterter Meldung vergebens die Tuͤr ſuchte 
und ſchließlich durch eine Seitenwand abging. Mit 
ſehr geringem Erfolge ergab er ſich einem ſchweifenden 
Wanderleben. In Hannover ward ihm ein Lichtblick. 
Es fehlte an einem jugendlichen Helden und Charakter- 
darſteller, und neben Romeo und Ferdinand durfte er 
den Baſtard im „Lear“ und — ein gewaltiger Sprung 
— ſogar den Julius Caͤſar ſpielen. Das waren ſtolze 
Stunden fuͤr ihn. Eines Morgens nun tritt ein fremder 
Mann zu ihm in die Stube, der unter anderm auch 
von Gabillons Heldentat (Rettung eines Ertrinkenden 
aus dem Waſſer) gehoͤrt hatte. Herriſch fragt er den 


260 


angehenden Kuͤnſtler nach feiner Gage und nach der 
Dauer ſeines Kontraktes; Gabillon wurde faſt grob, 
da enthuͤllte ſich der Mann als Laube, Direktor des 
Burgtheaters in Wien. Wechſel der Dekoration! Er 
bot ihm ein Gaſtſpiel an; Gabillon kam nach Wien 
(1853), mißfiel als Don Caͤſar, als Schiller („Karls— 
ſchuͤler“), als Ferdinand. „Sie koͤnnen etwas,“ ſagte 
Laube zu Gabillon, „ich weiß nur nicht was. Sie ſind 
kein Liebhaber.“ — „Aber Don Carlos, den Sie mir 
vorſchlagen?“ — Iſt kein Liebhaber!“ fiel Laube 
ſchnell ein. Gabillon ſpielte den Don Carlos und griff 
durch mit ihm. Als Dawiſon das Burgtheater verließ, 
erſchien der „Fechter von Ravenna“, und Gabillon 
machte als Caligula großes Aufſehen. Laube jagte 
nun den Gluͤcklichen durch eine lange Reihe von Tragoͤ— 
dien hindurch. Ohne großen Erfolg; nur Richard III. 
blieb laͤngere Zeit an ihm haͤngen, und Hagen in 
Hebbels „Nibelungen“ iſt in ſeinen Haͤnden geblieben. 
Gabillon wurde nach und nach ins Luſtſpiel hinuͤber— 
gedraͤngt und fand hier ſein fruchtbarſtes Feld. Sein 
Benedikt in „Viel Laͤrm um nichts“ iſt nie uͤbertroffen 
worden, komiſche Charakterrollen, wie Udaſchkin, Bof— 
feſen-Ritter und Delobell, wird ihm nicht leicht ein 
Zweiter nachſpielen. Die groͤßte Rolle ſeines Reper— 
toires, ſeine Rolle ſchlechtweg, moͤchte man ſagen, iſt 
Hagen in Hebbels „Nibelungen“. Da findet er Raum 
fuͤr ſein Reckentum, da darf er ſchwelgen in Helden— 
taten, da darf er ſein wie er iſt: tapfer und treu. Noch 
einen beſonderen Reiz hat ſein Hagen fuͤr diejenigen, 


261 


die Hebbel perſoͤnlich gekannt haben. Als ein großer 
Kuͤnſtler hat es Gabillon verſtanden, den Dichter ſelbſt 
in die Geſtalt des Hagen heruͤberzunehmen. Ohne daß 
die Einheit der Darſtellung gefaͤhrdet wuͤrde, ſieht man 
die Gebaͤrde des Dichters, hoͤrt man ſein Wort. 
Gabillon als Hagen iſt wie ein lebendiges Denkmal 
Hebbels. Spricht man von Gabillons hoͤchſten 
Leiſtungen, ſo darf ſein Don Lope im „Richter von 
Zalamea“ nicht unerwaͤhnt bleiben. In dem alten 
Haudegen lebt wieder die tapfere Natur Gabillons, 
maͤnnlich und ſchlagfertig, aber mit welcher Herzens— 
guͤte, mit welchem Humor! Wie der Menſch auch der 
Kuͤnſtler iſt, ſieht man nirgends deutlicher als hier. 
Eine wertvolle Perſoͤnlichkeit kann in ihren Rollen 
nichts Beſſeres geben als ſich ſelbſt. 

Spricht man von Ludwig Gabillon, ſo kann man 
es kaum tun, ohne auch an Zerline Gabillon zu denken, 
die uns ohnedies in einem anmutigen Buche von Lud— 
wig Hevefi, das in dieſen Tagen erſchienen iſt, nahe— 
gebracht wird. Wir haben einmal verſucht, den Ein- 
druck zu fixieren, den Zerlinens erſtes Auftreten im 
Burgtheater hervorgebracht hat. Wie ein erquickender 
Luftzug von Jugend und Schoͤnheit wirkte ihr Erſcheinen 
auf den Brettern der Burg. Auf einem ſchlank und 
ſchwellend gebauten Koͤrper, der die reinſten Verhaͤlt— 
niſſe teils zeigte, teils verriet, ſaß, von einem zierlichen 
Halſe getragen, ein ſchoͤn geformter Kopf mit einem 
maͤdchenhaft vollen, bluͤhenden Geſicht, deſſen ſemitiſch 
angelegte Zuͤge in das nachbarliche Ideal des grie— 


262 


chiſchen Profils mit eigentuͤmlichem Reiz hinüber: 
ſpielten. In dieſer friſchen Jugendlichkeit und dieſer 
Daͤmmerung von Formen lag eine Romantik, die das 
Publikum entzuͤckte. Alle Welt war verliebt in ſie, 
ſelbſt die Kritik; aber nur der jugendliche Recke Ludwig 
Gabillon fand Gnade vor ihren Augen und durfte ge— 
meinſam mit ihr die ſuͤßen Bitterniſſe ehelichen und 
theatraliſchen Zuſammenlebens genießen. In dem 
Buche von Heveſi wird dieſes Verhaͤltnis mit einer 
Wahrheitsliebe geſchildert, die nur noch von dem Takte, 
womit die Wahrheit geſagt wird, uͤbertroffen werden 
duͤrfte. Mit der heftigſten, mit einer dem Haß ver— 
wandten Leidenſchaft, wie wenn Feuer und Waſſer 
aneinander geraten, liebten ſich die beiden; aber ſie 
ſtritten nur, um ſich wieder zu verſoͤhnen, und nahezu 
vierzig Jahre, bis zum Tode Zerlinens, ſind ſie ſich 
unentbehrlich geweſen und haben mit unverbruͤchlicher 
Treue zueinander gehalten. Das Jubilaͤum Gabillons 
wird ihm nur durch den einen Gedanken getruͤbt, daß 
er es nicht zugleich mit ſeiner Gattin feiern kann. Sie 
fehlt ihm auf der Buͤhne, wie er ſie im Leben vermißt. 
Er hat ſo lange gemeinſam mit ihr gearbeitet, er iſt ihr 
in der langen Zeit, da ſie ſich von der tragiſchen Lieb— 
haberin bis zur ſcharfen Dame entwickelt hat, in die 
Tragoͤdie nachgeſtiegen und in das Luſtſpiel nach— 
gegangen. Sie, die große Kuͤnſtlerin, haͤtte ihm nicht 
fehlen duͤrfen bei ſeinem Jubilaͤum, aber man ſieht ſie 
neben ihm ſtehen und man feiert ſie mit. 

Die Gabillon-Feier gilt dem braven Manne fo gut 


263 


wie dem Kuͤnſtler, daher der herzliche Ton, der fid) 
allerwaͤrts kundgibt. Ganz Wien kennt und ſchaͤtzt 
ihn. Er war allezeit ein Mann, der die Wahrheit ſagte 
und die Wahrheit hoͤren konnte, der dankbar war fuͤr 
jeden gerechten Tadel, und der es der Kritik nie ver— 
gaß, wenn ſie ihn im entſcheidenden Augenblicke in der 
oͤffentlichen Meinung um eine Stufe hoͤher gehoben 
hatte. Er iſt immer ein guter Kamerad geweſen — 
„einen beſſern find'ſt du nit“. 


(Am 31. Oktober 1893) 


Adele Sandrock 


Adele Sandrock verdankt die Entdeckung ihres 
Talentes einem gluͤcklichen Zufall. Nach langer, un— 
wirtſamer Wanderung durch die Provinz fuͤhrte ſie 
die Sehnſucht nach einer wuͤrdigeren kuͤnſtleriſchen und 
materiellen Stellung nach Wien. Vergebens pochte 
ſie hier an die Pforten mehrerer Buͤhnen, bis ſie end— 
lich im Theater an der Wien Gelegenheit fand, an der 
Stelle einer ploͤtzlich entlaſſenen Schauſpielerin ihr An— 
recht auf einen beſſeren Wirkungskreis geltend zu 
machen. Sie ſpielte die Rolle der Iza im „Fall 
Clemenceau“ und trug einen glaͤnzenden Sieg davon. 
Der Reiz ihres eigenartigen, vom Herkoͤmmlichen ab— 
weichenden Naturells erwarb ihr im Fluge die Gunſt 
des Publikums; im Handumdrehen war ſie jemand, 
war das bisher gleichguͤltige Wort „Sandrock“ ein 
Name geworden, und ſchon nach wenigen Wochen war 
es der Gluͤcklichen vergoͤnnt, als anerkannte Kunſtgroͤße 
ins Deutſche Volkstheater uͤberzuſiedeln. Hier nun be— 
gann fuͤr ſie eine Epoche fortgeſetzter Erfolge, die als— 
bald ihre Berufung ans Burgtheater herbeifuͤhrte. 

Indem Adele Sandrock ins Burgtheater eintrat, 
kehrte ſie eigentlich zu ihrem kuͤnſtleriſchen Urſprung 
zuruͤck. Sie hat ihr Licht an der Fackel der Wolter an— 
gezuͤndet. Aber nicht von mechaniſcher Nachahmung, 
nur von lebendigem Einfluß kann hier die Rede ſein. 
Wenn man beide Kuͤnſtlerinnen gegeneinander be— 


265 


leuchtet, jo ſpringt ſchon der phyſiſche Unterſchied raſch 
hervor. Fraͤulein Sandrock verfuͤgt keineswegs uͤber 
den Orgelklang des Wolterſchen Organs, ihr Geſichts— 
ſchnitt hat nichts von den edlen Zuͤgen der Wolter, die 
ein antiker Meiſter in einem ſeiner gluͤcklichſten Augen 
blicke gebildet zu haben ſcheint. Dagegen hat Fraͤu— 
lein Sandrock eine große, nicht zu große, ſchlanke, ge— 
ſchmeidige Geſtalt fuͤr ſich, die jeder Aufgabe koͤrper— 
licher Beredſamkeit willig entgegenkommt. Dann 
ſind ihre großen Augen jedes Ausdrucks faͤhig, und in 
der Erregung zucken uͤber ihre unregelmaͤßigen Zuͤge 
Blitze von Schoͤnheit. Das Wort intereſſant ſcheint 
fuͤr ſie eigens erfunden zu ſein. Elementare Kraft und 
plaſtiſchen Sinn — bei der Wolter ſo ſiegreich Ver— 
buͤndete — hat Fraͤulein Sandrock nur in ungleichem 
Miſchungsverhaͤltniſſe in ſich verarbeitet. Der jahres 
lang empfundene Zwieſpalt zwiſchen den Forderungen 
ihres Ehrgeizes und der Beſchraͤnktheit ihres Wir— 
kungskreiſes, die unwuͤrdige Selbſtvergeudung einer 
geborenen Kuͤnſtlernatur hat in ihr eine Reizbarkeit 
der Nerven erzeugt, welche die Quelle ihrer Vorzuͤge 
und Schwaͤchen wurde. Ihr verdankt ſie den Reich— 
tum ſcharf individualiſierter Ausdrucksmittel, die 
Faͤhigkeit intereſſanter und feſſelnder Geſtaltung, die 
Virtuoſitaͤt, auf unſeren Nerven zu ſpielenz fie aber iſt 
auch Urſache, daß ſich bei ihr Geſchmack und Tempera- 
ment nicht zur Einheit zuſammenſchließen, daß ihre 
Darſtellung meiſtens den Eindruck des Unharmoniſchen 
hervorruft. Unfertige Genialitaͤt — wenn man ein 


266 


eigenwilliges, eigenſtaͤndiges Talent genial nennen 
darf — iſt der Stempel ihrer Kuͤnſtlerſchaft. 

Das erſte Repertoire des Deutſchen Volkstheaters 
hat dieſe bedenkliche Richtung der Kuͤnſtlerin vielfach 
beguͤnſtigt. Rollen wie Sanda, Alexandra und Eva 
waren ganz geeignet, die einſeitige Ausbildung ihres 
Talentes nach der Nervenſeite zu foͤrdern und die 
edleren Kraͤfte des Herzens und des Verſtandes zuruͤck— 
zudraͤngen. Dazu kommt, daß dieſe Geſtalten flach und 
unwahr ſind in ihrem Weſen, und darſtellbar nur in 
ihren einzelnen Zuͤgen. So lernte Fraͤulein Sandrock, 
daß das Detail alles, die Zacken weſentlich ſeien; die 
charakteriſtiſche Woͤlbung der Figuren aber nur Neben⸗ 
ſache. Alſo an Stelle der Naturbeſcheidenheit und 
Naturwahrheit Pomp und Poſe der Leidenſchaft und 
Vorliebe fuͤr den Effekt, die nach Richard Wagners 
gluͤcklicher Paradorie Wirkung ohne Urſache iſt. 

Die erſten laͤrmenden Erfolge waren bald ver— 
rauſcht. Ihnen folgte eine Epoche kuͤnſtleriſchen 
Niederganges, herbeigeführt durch die ſouveraͤnen 
Divalaunen der Kuͤnſtlerin und ihre eigenſinnige 
Rollenwahl. Namentlich ihre Vorliebe für jugendlich⸗ 
lyriſche Rollen, die ihrem heroiſchen Weſen wider- 
ſprechen, wie Louiſe, Emilia Galotti, Vaſantaſena, 
buͤßte ſie raſch mit dem Verluſt der uͤberſchwenglichen 
Meinung, die das Publikum von ihrer kuͤnſtleriſchen 
Omnipotenz hegte. Erſt mit der Darſtellung der 
Rebekka in Ibſens „Rosmersholm“ vollzog ſich ein 
Umſchwung. Zwar ſtimmte die verhaltene Gefuͤhls⸗ 


267 


innerlichkeit dieſer Rolle nicht zu ihrer Iosfahrenden 
Art, aber ſie widerſtrebte wenigſtens nicht ihrer aͤußeren 
Erſcheinung und dem letzten, verborgenſten Grunde 
ihres Weſens. Und ſo ereignete ſich denn das Unver— 
hoffte, daß ihre ſchaffende Phantaſie das Schlum— 
mernde und Traͤumende ihrer Seele an die Oberflaͤche 
lockte und einen Charakter ſchuf, den ſie zwar nicht in 
ihren Details ergruͤndete, aber in ſeinen Hauptumriſſen 
erriet. Was ſonſt an ihr ſtoͤrte, alles Laͤrmende und 
Ungezuͤgelte, war ploͤtzlich beſeitigt. Sie fand zum 
erſten Male Freude daran, ſich liebevoll in den Sinn 
eines Stuͤckes zu verſenken, den Charakter, den ſie zu 
verkoͤrpern hatte, einfach und beſonnen auseinander— 
zuſetzen, die Saͤtze ihrer Rolle nicht ſprunghaft wie die 
Katze ihre Beute zu faſſen, ſondern behutſam in den 
Schlangenlinien der Ibſenſchen Dialektik fortzugleiten 
und den langen Weg zum Ziele mit Maß und Takt 
zuruͤckzulegen. Und noch eine andere Überraſchung hat 
Fraͤulein Sandrock gebracht. Kurz vor ihrem Abgange 
vom Deutſchen Volkstheater hat ſie ſich auch als be— 
deutende komiſche Kraft erwieſen. Fuldas „Kame— 
raden“, die ſich an zwei großen Buͤhnen (Berlin und 
Frankfurt) nicht behaupten konnten, errangen durch ſie 
einen Erfolg. Sie wirkte durch den Widerſpruch mit 
ſich ſelbſt, indem ſie ihre eigenen nervoͤſen Heldinnen 
parodierte und durch kecke Übergaͤnge und dazwiſchen— 
geworfene unartikulierte Laute dem Sinn der Rede 
Nebengedanken lieh, die in den Bereich des Komiſchen 
und Grotesken hinuͤberleiteten. So mit ſich ſelbſt Ball 


268 


ſpielen zu koͤnnen, verrät eine große Kraft und Frei: 
heit des Geiſtes. 

In das Burgtheater iſt Adele Sandrock bekanntlich 
als Maria Stuart eingetreten. Sie fand großen Bei— 
fall, obgleich ihre Leiſtung noch nicht ausgeglichen war. 
Das Publikum ſah offenbar mehr auf das, was ſie dem 
Burgtheater werden kann, als auf das, was ſie ihm 
ſchon iſt. In der Szene mit Burleigh entwickelte ſie 
mehr phyſiſche als geiſtige Energie. In der großen 
Gartenſzene geriet ihr alles Ruͤhrende und Flehende 
außerordentlich. Der verſchleierte, aus der Tiefe der 
Seele quellende Ausdruck, womit ſie die Worte ſpricht: 
„Ihr habt das Außerſte an mir getan, habt mich zer— 
ſtoͤrt in meiner Bluͤte“ — rief eine allgemeine Be— 
wegung hervor. Dieſe Worte ſind im Burgtheater 
wohl nie ſchoͤner geſprochen worden. In „Klein 
Eyolf“ hat Fraͤulein Sandrock als Rita redlich mit— 
geholfen zum Gelingen des glaͤnzenden Theaterabends. 
Sie beſtand neben Herrn Mitterwurzer, neben Frau 
Mitterwurzer und neben Frau Hohenfels, welche die 
Aſta in unvergleichlicher Weiſe — ſo hoch und rein! 
— ſpielte. Als Feodora fehlte es ihr nicht an wirk— 
ſamen Momenten. 

Im ganzen hat Adele Sandrock gezeigt, daß ſie viel 
kann, aber noch viel zu lernen und mehr noch zu ver— 
lernen hat. Wenn jemand, ſo bedarf ſie eines tuͤch— 
tigen Regiſſeurs, der ſie, aͤhnlich wie Foͤrſter die junge 
Wolter, als Bildner und Leiter verſtaͤndnisvoll unter— 
weiſt, der ſie daran gewoͤhnt, langſamer und harmoni— 


269 


icher zu wirken, der ihr das Gefühl einflößt, einem 
Inſtitut anzugehoͤren, in dem man nach Jahren, nicht 
einigen Abenden beurteilt wird. Fraͤulein Sandrock 
iſt berufen, im modernen und klaſſiſchen Repertoire 
einen großen Rollenkreis anzutreten. Alle jugendlichen 
Rollen der Wolter von Clara in Hebbels „Maria 
Magdalena“ angefangen bis zur Adelheid im „Goͤtz“, 
alle jugendlichen Salondamen der Gabillon, alle 
modernen Mädchen und Frauen, die der harmonischen 
Natur der Hohenfels widerſtreben — alle dieſe Rollen 
harren ihrer Darſtellung. Ein wenig von ihrer nervoͤs— 
modernen Art kann auch das Burgtheater vertragen, 
ſelbſt in ſeinem klaſſiſchen Repertoire. Adele Sandrock 
iſt ein verjuͤngendes Element fuͤr unſer Burgtheater, 
das der Verjuͤngung in jedem Sinne ſo ſehr bedarf. 


(Am 24. Maͤrz 1895) 


Friedrich Mitterwurzer 


Die letzte große Rolle, die Friedrich Mitterwurzer 
im Burgtheater ſpielte und die er oft genug wieder— 
holte, um ſie dem Publikum unvergeßlich einzupraͤgen, 
war Hjalmar Ekdal in Ibſens „Wildente“. Er ſtand 
hier auf der Hoͤhe einer Kuͤnſtlerſchaft, die keinen 
Wunſch unbefriedigt ließ. Indem der Darſteller jeder 
einzelnen Wirkung aus dem Wege ging, war das 
Ganze wirkſam, das auf jede Einzelheit ſein Leben 
ausſtroͤmte. Kunſt und Wirklichkeit ſchienen einen un— 
trennbaren Bund geſchloſſen zu haben, das Problem, 
nach deſſen Loͤſung die Gegenwart fieberhaft ſtrebt, in 
der Tat geloͤſt zu ſein. Die außerordentliche Leiſtung 
ſchreckte vor einem Verſuche der Zergliederung zuruͤck, 
man ſchien ſie nur genießen, nicht analyſieren zu 
koͤnnen. Von der Hoͤhe, auf die uns Mitterwurzer hob, 
warf man den Blick unwillkuͤrlich auf die Anfaͤnge zu— 
ruͤck, von denen der Kuͤnſtler ausgegangen. Sein Aus— 
gangspunkt war das Burgtheater, zu dem er, wenn 
auch auf den abenteuerlichſten Wegen, ſtets wieder 
zuruͤckkehrte. Das Burgtheater hat ihn dreimal be— 
ſeſſen und dreimal verloren, zuletzt in einem Augen— 
blicke für immer verloren, da es feine Kraft am wenig— 
ſten entbehren konnte. Sein fruͤheres Verhaͤltnis zum 
Burgtheater iſt fuͤr ihn kein ſehr erfreuliches geweſen. 
Im Gefuͤhle einer unbaͤndigen Kraft, die ihn zum 
Hoͤchſten zu befaͤhigen ſchien, fuͤhlte er ſich erſt unter— 


275 


druͤckt, und als man ihm die Zügel ſchießen ließ und 
weitere Ziele ſetzte, waͤhnte er ſich verkannt und ver— 
worfen. Seine Lehr- und Geſellenjahre waren 
ſchmerzlich fuͤr ihn ſelbſt und nicht ohne Widerwaͤrtig— 
keiten und Enttaͤuſchungen fuͤr Publikum und Kritik. 
Wir ſelbſt koͤnnen uns von einer gewiſſen Haͤrte und 
Schaͤrfe ſeinen Leiſtungen gegenuͤber nicht freiſprechen, 
und wohl koͤnnen wir uns erinnern, daß wir einſt uͤber 
ſeinen Mephiſtopheles das zweiſchneidige Urteil „graͤß— 
licher Hanswurſt“ faͤllten, und als er dieſen Ausſpruch, 
den er nicht vergeſſen konnte, noch in ſeiner letzten Zeit 
gegen uns erwaͤhnte, antwortete er auf die Frage, ob 
das Urteil nicht richtig geweſen, mit einem reſignierten: 
„Gewiß, ja!“ Und doch geſtand ihm damals wohl 
jedermann zu, daß in ihm etwas Geniales lebe, daß 
er ein geborener Schauſpieler ſei, wobei freilich auch 
faſt niemand den Ausruf unterdruͤckte: „Der verruͤckte 
Mitterwurzer!“ Freilich, als Schauſpieler ließ er 
nichts beim alten, er hatte eine Manie, ſeine Rolle zu 
verruͤcken. Von Gedanken und Einfaͤllen geplagt und 
gejagt, wohl auch von der Eitelkeit beſeſſen, es anders 
als andere zu machen, zerriß er eine Rolle in lauter 
Einzelheiten und fing nicht ſelten jeden Akt mit einem 
neuen Charakter an. Von wenig Rollen abgeſehen, 
die er doch ſorgfaͤltiger zuſammenhielt, ließ er im Zu— 
ſchauer das Bedauern zuruͤck, daß ſo viel Talent, ſo viel 
Genialitaͤt umſonſt verpufft wurde. Noch einmal kam 
Mitterwurzer in das Burgtheater zuruͤck, als ob es 
ſeine Heimſtaͤtte waͤre; allein, von der Theaterleitung 


272 


nicht als voll anerkannt, vom Publikum verlaſſen, von 
der Kritik gegeißelt, ging er durch wie ein ſcheues 
Pferd, das ſich dem blinden Zug ſeiner Nerven 
uͤberlaͤßt. 

Er ging, zu ſeinem Heile und zum kuͤnftigen 
Heile des Burgtheaters. Mitterwurzer fand auf ſeinen 
Wanderungen, was er in Wien nicht gefunden haͤtte: 
eine neue Schauſpielkunſt und endlich ſich ſelbſt. In 
Deutſchland waren mittlerweile große Dinge vor— 
gegangen, und wie bedeutende politiſche und ſoziale 
Veraͤnderungen nichts im Volksleben unberuͤhrt laſſen, 
ſo zeigte ſich auch Literatur und Buͤhnenleben von 
einem neuen Geiſt ergriffen. Alte Traͤume waren — 
freilich nicht traumweiſe oder durch die Macht des 
Wortes — in Erfuͤllung gegangen, und die Wirklichkeit 
trat gewaltig in den Vordergrund. Neben der Real— 
politik iſt kein Raum fuͤr einen daͤmmernden Idealis— 
mus. Realismus, Naturalismus wurden auch die 
literariſchen Schlagworte. Anſchluß an die Wirklich— 
keit, an die Natur — die ewige Wurzel aller Kunſt — 
war die Parole. Man ſchloß ſich an die zunaͤchſt 
liegende Natur an, an die — man laͤchle nicht — preu— 
ßiſche Natur. Sein Genie und die Verhaͤltniſſe, die 
er zu ſich heranzwang, hatten den maͤrkiſchen Junker 
Otto von Bismarck auf eine weltgeſchichtliche Hoͤhe ge— 
hoben. Nach ſeinen Erfolgen ſah und hoͤrte man nur 
ihn, vom verhaßteſten Manne, der er geweſen, wurde 
er zum volkstuͤmlichſten, den es je gegeben. Not— 
wendigerweiſe muß ein ſolcher Mann auch Einfluß 


IIVIIS 272 


nehmen auf Kunſt und Literatur. In Bismarck war 
der maͤrkiſche Edelmann zum Helden emporgewachſen. 
In ihm fand man wieder die realiſtiſche Nuͤchternheit 
jenes Junkers, ſeinen Mangel an Sentiment und 
Pathos, die Ironie und den derben Humor, nur alles 
ins Geniale gehoben. Der maͤrkiſche Edelmann, oder 
was man jetzt mit einem in der Sozialpolitik techniſch 
gewordenen Ausdruck den „oſtelbiſchen Junker“ nennt, 
iſt eines der Ideale der norddeutſchen Literatur ge— 
worden, und ſeine geiſtige Mundart, zum Teil auch ſein 
Jargon, macht ſich breit auf der norddeutſchen Buͤhne. 
Dieſes Ideal im Guten wie im Schlimmen auszu— 
geſtalten, daran hat Sudermann in ſeinem letzten 
Roman und in ſeinem vorletzten Theaterſtuͤck ſein ganzes 
Talent geſetzt. 

In dieſe Bewegung, die den Roman- und den 
Buͤhnenſtil zum Teil umgeſtaltete, iſt Mitterwurzer als 
Wanderſchauſpieler mitten hineingeraten. Mit neuen 
Eindruͤcken befruchtet, kuͤnſtleriſch in ſich gereift und 
geſammelt, Neues mit Altem genial verknuͤpfend, iſt 
Mitterwurzer zum letztenmal in das Burgtheater zu— 
ruͤckgekehrt. Nicht als ein Fremder iſt er zuruͤckgekehrt, 
ſondern als einer, den alte Verwandtſchaft an dieſen 
Ort bindet. Er iſt trotz aller Seitenſpruͤnge ſtets ein 
Schuͤler des Burgtheaters geblieben und iſt als einer 
ſeiner Meiſter geſtorben. Er hat noch die Nach— 
wirkungen der alten Schule erfahren, hat Anregungen 
eines damals jugendlich aufſtrebenden Schauſpieler— 
geſchlechtes, das nun ſelbſt zur alten Schule geworden 


274 


ift, vielfach in ſich verarbeitet. Das Prinzip der 
Natuͤrlichkeit, das im Burgtheater neben Deklamation 
und Pathos ſtets gewaltet — Anſchuͤtz war nach beiden 
Seiten hin ein gewaltiger Kuͤnſtler, Fichtner und 
La Roche waren in der Natuͤrlichkeit unuͤbertroffene 
Meiſter — das Prinzip der Natürlichfeit übertrug 
Mitterwurzer auch auf klaſſiſche Rollen und brachte 
es in modernen Stuͤcken ohne Übertreibung zu erwei— 
terter Anwendung. Sein Junker Roͤcknitz, ſein Hand⸗ 
lungsreiſender Keßler, ſein Hjalmar waren Meiſter— 
ſtuͤcke des Natuͤrlichen im Modernen, ſein Koͤnig 
Philipp im Klaſſiſchen. Nie verfiel Mitterwurzer dem 
gemeinen Naturalismus, eine vornehm gezogene Linie 
trennte ihn ſtets von der gewoͤhnlichen Wirklichkeit. 
Sein Koͤnig Philipp, welch koͤnigliche Natur war er 
ſchon in der Erſcheinung! Wie er den Thron beſtieg, 
wie er ſich ſetzte, ſaß, ſprach, ſich bewegte, wie er den 
Thron verließ, ſich vornehm wendete und mit laut— 
loſem Schritte aus dem Gemache ging — Koͤnige 
konnten daran lernen. Und ſeine inneren Bewegungen, 
ſein tiefes Intereſſe an Poſa, ſein unendlicher Gram 
uͤber Sohn und Gattin! Manche haben ihm Inner— 
lichkeit und die Fähigkeit, zu rühren, abgeſprochen; 
bevor man einem Schauſpieler Mangel an Innerlich— 
keit vorwirft, ſollte man ſich dreimal bedenken, denn 
meiſtens gibt man, anſtatt den Kuͤnſtler zu beurteilen, 
nur ein Urteil uͤber ſich ſelbſt ab. Eine merkwuͤrdige 
Leiſtung neben dem großen Wurf ſeines Franz Moor 
war ſein alter Moor. Es iſt eine der duͤrftigſten Rollen, 


18] 275 


die Schiller geſchrieben, und der Dichter ſelbſt ſpricht 
wegwerfend genug über fie. Was machte nun Mitter: 
wurzer aus ihr? Andere Darſteller ſpielen einen 
weinerlichen alten Mann, Mitterwurzer ſtellte eine 
Figur hin, die unſer Intereſſe erregte. Seinen Mangel 
an Urteil, an Kombinationsgabe konnte er ihm nicht 
nehmen, allein Mitterwurzer gab ihm ein gewiſſes 
Maß von Kraft und mannhafter Phantaſie. Man 
mußte ſehen, wie lebhaft, wie mitagierend er ſich an 
der Erzaͤhlung von dem Kampfe und Tod ſeines Sohnes 
beteiligte. Das iſt der echte alte Moor, der Vater 
zweier gewaltſamer Soͤhne, ein kraͤftiger Greis, der, 
wie Franz klagt, nicht leicht zu beſeitigen iſt und der 
ſich bei Waſſer und Brot geraume Zeit fortfriſtet. Hier 
ſah man den genialen Kuͤnſtler, dem, wenn ihm ſonſt 
das Groͤßte nicht zu groß, auch das Kleinſte nicht zu 
gering war. 

Fuͤr das Burgtheater bedeutet der Verluſt Mitter— 
wurzers eine große Verarmung. Auf ihn geſtuͤtzt, 
wollte Direktor Burckhard dem modernen Schauſpiel 
eine Staͤtte bereiten und das klaſſiſche Repertoire ver— 
juͤngen; von da an, als an die Stelle dilettantiſcher 
Verſuche ein ernſter, anſcheinend zukunftsvoller Plan 
trat, ließ ſich mit der Leitung des Burgtheaters auch 
wieder gehen. Das iſt nun alles gewaltſam ab— 
gebrochen. Mitterwurzer iſt nicht zu erſetzen. Große 
Schauſpieler ſind ſo ſelten wie große Dichter. 


(Am 24. Februar 1897) 


Charlotte Wolter 


1834-1897 


Es iſt Charlotte Wolters Wunſch und Wille ge— 
weſen, im Kleide der Iphigenie begraben zu werden, 
und nun iſt ſie, das weiße Gewand um die Glieder, 
den goldenen Eichenkranz auf der Stirne, zu den 
Schatten hinabgegangen. Es liegt ein guter Sinn in 
dieſer Anordnung, denn die Kuͤnſtlerin hat ſich ſelbſt 
in ihrem harten Todeskampfe von der Buͤhne nicht 
trennen koͤnnen, und die Geſtalt der Goetheſchen Iphi— 
genie hat in ihrem Leben eine bedeutſame Rolle ge— 
ſpielt. Sie gab die Iphigenie, als ſie ins Burgtheater 
eintrat, ſie gab ſie wieder nach etwa zwanzig Jahren 
an dem Abende, da das alte Burgtheater fuͤr immer ge— 
ſchloſſen wurde. Zwei denkwuͤrdige Tage fuͤr die Wiener 
Buͤhne, der eine ſchenkte ihr eine große Begabung, 
der andere fuͤhrte ihr eine vollendete Kuͤnſtlerin vor. 
Wer an die Iphigenie zuruͤckdenkt, wie fie die Wolter 
in ihren Anfaͤngen am Burgtheater ſpielte, dem 
kommt nicht das anmutigſte Bild entgegen. Die Wol— 
ter kam von einer ganz anderen Seite her als Goethes 
Iphigenie; von vollendeter Menſchheit und Menſchlich— 
keit zeigte ſich bei dieſer Schauſpielerin noch keine 
Spur. Sie war als Kuͤnſtlerin faſt wild aufgewachſen, 
ſie hatte wenig gelernt, aber ſie konnte, was man nicht 
lernen kann. Sie konnte nicht ſprechen, aber donnern; 


277 


fie konnte nicht deuten, aber drohen; fie konnte nicht 
gehen, aber ſchreiten. Alles, was den anderen leicht 
wurde, ward ihr ſchwer, und woran die anderen ver— 
zweifelten, ging ihr wie von ſelbſt von der Hand. Geiſt 
war ihre Sache nicht, aber ſie beſaß Inſtinkt und Blut 
und Nerven. Sie war ſelbſt eine Natur und ſtand mit 
der Natur auf gutem Fuße. Nun denke man ſich aber 
die Rolle der Iphigenie in der Hand einer Schau— 
ſpielerin, der alle Vorbedingungen, dieſe Aufgabe zu 
faſſen, fehlten, ja die von ihrer eigenen ſtuͤrmiſchen 
Natur nach einer ganz entgegengeſetzten Himmelsrich— 
tung hingepeitſcht wurde! Es war ein Jammer, dieſe 
Darſtellung. Freilich, die ſchoͤne Erſcheinung zog 
immer wieder an und ſprach und bat fuͤr die verfehlte 
Leiſtung, aber die Heftigkeit der Bewegungen, die miß— 
verſtandene Rede warfen dieſe Bemuͤhungen ſtets wie— 
der zuruͤck. Und nun zwanzig Jahre ſpaͤter wieder die 
Iphigenie, welcher Sprung oder vielmehr welche Ent— 
wicklung! Die Wolter ſchied ſich lange vom Burgtheater 
durch die ungleiche Ausbildung der Rede, durch eine 
teilweiſe Vernachlaͤſſigung des Wortes. Als Iphi— 
genie legte ſie noch den letzten Schritt zuruͤck, der ſie 
vom Burgtheater trennte: auch als Redewerk war ſie 
eine bedeutende Leiſtung. Man berauſchte ſein Ohr 
in dem ſuͤßen Geſange der Rede, in dem leicht hin— 
getragenen Sinne der Worte, und fuͤr das Auge war 
das wie unabſichtlich herbeigefuͤhrte rhythmiſche Spiel 
des griechiſchen Gewandes ein wahrhafter Schmaus. 
Man hat ſelten ſo genoſſen im alten Burgtheater. Bei 


278 


der herrlichen Stelle, wo Iphigenie erfährt, daß ihre 
Geſchwiſter leben: 
Goldne Sonne, leihe mir 
Die ſchoͤnſten Strahlen, lege ſie zum Dank 
Vor Jovis Thron! Denn ich bin arm und ſtumm — 


bei dieſer Stelle, bei dieſem: „Denn ich bin arm und 
ſtumm,“ worin der ganze Wohllaut der Wolterſchen 
Seelenmuſik zitterte, hielt das Publikum den Atem an 
— man mußte ja dieſem Klange nachhorchen — und 
dann erſt brach es in einen Sturm von Beifall aus. 
An dieſem Abend war viel zuſammengetroffen, um die 
Kuͤnſtlerin in eine hoͤhere Stimmung zu verſetzen; es 
wurde bewegt Abſchied genommen von dem alten 
Burgtheater, in welchem Charlotte Wolter gereift war, 
und wie mochte ihr nicht ihr kuͤrzlich verſtorbener Gatte 
vorſchweben, der ſie in die Empfindungsweiſe Goethes 
eingefuͤhrt hatte? Daß ſie ihm nun als Iphigenie ent— 
gegengegangen, wird uns nicht mehr wundernehmen. 

Als Gegenſatz zu dieſer Beurteilung erinnern wir 
an ein Urteil uͤber Charlotte Wolter, das wir im erſten 
Monate des Erſcheinens der „Neuen Freien Preſſe“ 
(September 1864) in dieſem Blatte veroͤffentlicht 
haben. Es war Moſenthals „Deborah“ mit der Wol— 
ter in der Titelrolle gegeben worden. Unſer Urteil 
lautete: „Fraͤulein Wolter zeigt ſich als Deborah in 
der vollen Bluͤte ihres groben Naturalismus. Kurze, 
eckige Bewegungen, die einander in der unſchoͤnſten 
Weiſe ſchneiden, gewaltſame Ausrenkungen des Satz⸗ 


1 


baues, grelle Naturſchreie, wie fie den Gipfel der Luft 
und die Spitze des Schmerzes bezeichnen, vor denen 
aber die Muſe, welche auch die Leidenſchaft ſchoͤn will, 
die Ohren verſtopft. Dazu dieſe breite niederdeutſche 
Mundart, welche bei allen Vokalen den Mund ausein— 
anderzieht, wo der Hochdeutſche ihn ſpitzt. Der Fluch 
— dieſe effektvolle Bravourarie — war gut angelegt 
und in mancher Einzelheit gelungen; aber bald uͤber— 
ſchrie ſich Fraͤulein Wolter dermaßen, daß die Stimme 
beſtaͤndig umſchlug und eine Steigerung nicht mehr 
moͤglich war ...“ Ein ſolches Urteil uͤber die noch 
jugendliche Wolter iſt unſchwer zu begreifen, wenn 
man auch noch viel ſpaͤter eine Neigung zu Gewalt— 
ſamkeiten an ihr wahrnahm und einen Überſchuß an 
elementaren Kraͤften nach Außerung ringen ſah. 
Heinrich Laube ſtand vor Charlotte Wolter ſtets 
wie vor einem halb unbegriffenen Wundertier, und 
wenn er bei ihr einſeitig auf ſprachliche Kultur drang, 
ſo verkannte er ihre Begabung und wo ſie hinaus— 
wollte. Daß ſie der hoͤchſten Sprechaufgabe gewachſen 
und die hoͤchſte Höhe des Burgtheaters zu erfliegen im— 
ſtande ſei, hat ſie mit ihrer Iphigenie bewieſen. Aber 
ihre Natur war urſpruͤnglich nach einer anderen Seite 
hingewendet, ſie wollte nicht bloß ſprechen, ſie wollte 
ſpielen im vollſten Sinne des Wortes. Echte Spiel- 
nationen, Franzoſen und Italiener, weckten, was in 
ihr traͤumte und ſchlummerte. Sie wollte malen, nicht 
nur zeichnen, nicht bloß die ſprachlichen Umriſſe, ſon— 
dern die volle dramatiſche Erſcheinung bis auf ihren 


280 


letzten bunten Faden wiedergeben. Ohne viel zu 
gruͤbeln uͤber eine neue Kunſt, wie ſie ja zumeiſt vom 
Inſtinkt lebte und eine Aufgabe mit einem Schlage 
entweder verfehlte oder traf, hoͤrte ſie mit feinem Gehoͤr 
ein unterirdiſches Rauſchen der Zeit, das Kunde 
brachte von einer lebendigeren Kunſt, als die auf der 
Buͤhne bisher geuͤbte. Es erging ein Ruf nach Farbe, 
auf der Bühne wie in der Malerei. Die Dekorations- 
periode des Burgtheaters unter Dingelſtedt hatte ſie 
mitgemacht und mitbeſtimmt. Hans Makart iſt erſt 
durch ſie und an ihr ganz lebendig geworden, weil ſie 
zum Kleiderſchmuck und zu der Farbe erſt den atmen— 
den bewegten Leib und die Seele hinzufuͤgte. Ihre 
Meſſaline, in den leidenſchaftlichſten Farben aufbren— 
nend, war ein Makart, den es nicht mehr zwiſchen den 
Rahmen duldete. Und als Makart laͤngſt tot war, 
ſetzte ſie ſeine Malerei genialer, als er es ſelbſt gekonnt 
hatte, fort. Man kennt ja die von ihr gemalte Galerie 
dramatiſcher Geſtalten, gemalt mit Leib und Seele, 
ſchimmernd und leuchtend. 

Eine Geſtalt, in welcher dieſe Beſtrebungen beſon— 
ders maͤchtig lebten und die in ihrer Art einen ſo hohen 
Gipfel bezeichnet wie ihre Iphigenie, iſt Lea, die Mut— 
ter der Makkabaͤer. Man entſinnt ſich, wie am Ende 
des dritten Aktes Lea ihrer Kinder beraubt wird. Von 
hier an haben wir nur noch Sinn und Teilnahme fuͤr 
das Schickſal Leas; an ihren Reden ſammeln wir uns, 
waͤhrend wir das uͤbrige Geſchehen, ſo bunt es auch 
ſein mag, nur mit zerſtreutem Auge betrachten. Was 


281 


ift uns Jeruſalem, was die ganze Welt, wenn wir eine 
große, ſtarke Seele, nicht ohne ihre Schuld, aber weit 
uͤber ihr Verſchulden hinaus leiden und dulden 
ſehen! .. . Und hier ſetzte in großartiger Weiſe das 
Spiel der Wolter ein, an tiefer Leidenſchaft mit dem 
Dichter wetteifernd, durch ſchauſpieleriſche Erfindung 
ihn uͤberbietend. Lea, die ihren Kindern nachfolgen 
will, wird von ihren Feinden an einen Baum gebunden. 
Das ſchoͤne Bild, wie ſich die Darſtellerin binden ließ 
und wie ſie mit ausgeſtreckten Armen gebunden an dem 
Baume ſtand! Sie iſt bei ihren Kindern, ſie traͤumt, 
ſie ſchwaͤrmt von ihnen: „Auf meinen Haͤnden fuͤhle 
ich Traͤnen, weiche Locken fallen darauf. Oh, das ſind 
Haare, ſo wie Joarims, ein Veilchenatem, ſo wie Ben— 
jamins.“ So weiche, warme Laute, ſo zaͤrtlich, ſo un— 
gluͤcklich, ſo ſehnſuchtsvoll! Welche Mutter hat das 
der Kuͤnſtlerin geſagt? Nun erſcheint Naemi, die 
Ahrenleſerin, die arme Magd, die von Lea ſonſt ſo 
feindſelig behandelte Schwiegertochter, und bindet ſie 
vom Baume los. Da war es nun ein feiner Zug der 
Darſtellerin, daß Lea, obgleich ſchon losgebunden, in 
ihrer vorigen Stellung verharrte und wie abweſend 
weiterſprach. Dann erſt trat ſie hervor, um ihr Ober— 
kleid zu zerreißen und ihren Schmuck wegzuwerfen. Es 
iſt ein Bild, das ſich bewegt, dieſe Szene, in der ſie ſich 
ſelbſt verflucht: „Sieben Soͤhne, wie ſie nie ein Mutter— 
auge ſchoͤner ſah, hat ſie, ſie ſelbſt verderbt!“ Naemi 
faͤngt die Zuſammenſinkende in ihren Armen auf und 
ſchleppt ſie zu einer Quelle. „Sie trinkt,“ heißt es ganz 


282 


trocken in der Theateranweiſung; aber wie trank die 
Darſtellerin? Das zuſammengebrochene Weib hebt 
ſich gegen die Trinkſchale hin, mit unartikulierten 
Lauten naͤhert ſich der Mund dem Rande des Gefaͤßes, 
und nun ſchluͤrft die Durſtige gierig wie ein Kind, daß 
man das Geraͤuſch des Waſſers zu hoͤren meint 
Hier nun ſtutzte der Zuſchauer doch einen Augenblick 
und fragte ſich, ob ſolche Naturwahrheit nicht doch die 
Grenzen der Kunſt uͤberſteige. Die Frage iſt erlaubt 
bei einem Dichter, der, wie Otto Ludwig, ſich ſelbſt, 
im Gegenſatze zum Idealismus und Naturalismus, zu 
dem bekannte, was er als den „poetiſchen Realismus“ 
bezeichnete. Moͤglich, daß die Darſtellerin zu weit ge⸗ 
gangen, wenn man auch die intereſſante Erfahrung 
nicht miſſen moͤchte, die Natur auch einmal auf der 
Buͤhne getroffen zu haben. Dafuͤr hat ſie die große 
Szene im letzten Akte, wo Lea der Hinrichtung ihrer 
Kinder beizuwohnen gezwungen iſt — eine der grau— 
ſamſten Szenen, die je ein Dichter gewagt — im 
groͤßten Stil und mit einem bewundernswerten Reich— 
tum an Tönen und Tonarten dargeſtellt. Durch die 
Rolle der Lea ift ein großer moderner Zug gegangen, 
der uͤber die Grenzen der bloßen Sprechkunſt, wo es 
das Gefuͤhl der Darſtellerin gebot, kuhn hinwegſetzte. 

Wir haben Frau Wolter nur vom Theater aus ge— 
kannt und ſind daher nicht in der Lage, ihr Bild auch 
nach der menſchlichen Seite hin zu ſchildern. Wir 
wiſſen nur, daß ſie eine ſtarke Natur war, die ſich aus 
dunkeln bürgerlichen und kuͤnſtleriſchen Verhaͤltniſſen 


283 


durch eigene Energie emporgearbeitet. Sie gehörte 
nicht zu den Frauen, von denen man fich geiftreiche 
Ausſpruͤche mitteilte, doch iſt das Wort, das ſie auf 
ihrem Krankenlager geſprochen: „Nehmt mir die 
Blumen weg, ich werde bald Blumen genug haben,“ 
von einer ſo ſchmerzlich-ironiſchen Sinnigkeit, daß man 
es oft wiederholen wird. Nun iſt ſie tot, und es iſt 
ruhig geworden um ſie her. Wie es aber erloſchene 
Sterne gibt, die ihr Licht noch immer ſenden, ſo wird 
der Name Charlotte Wolter fortleuchten an der Stirne 


des Wiener Burgtheaters. (Am 17. Juni 1897) 


Joſeph Kainz 


Als Fremder und in ſeiner ganzen Art befremdend 
beruͤhrte Joſeph Kainz das Publikum, als er bei Ge— 
legenheit ſeines Gaſtſpiels zum erſten Male im Burg— 
theater auftrat. Nach dem erſten Eindruck konnte man 
bezweifeln, ob ſich zwiſchen dieſem Schauſpieler und 
dieſen Zuhoͤrern je ſympathiſche Beziehungen herſtellen 
würden. Und doch iſt Kainz ein Sſterreicher, ja faſt 
ein Wiener, da er ſeine juͤngeren Jahre in unſerer 
Stadt verlebt hat. Freilich hat er Wien faſt noch als 
Knabe verlaſſen und, wenig beruͤhrt von der heimiſchen 
Schauſpielkunſt, ſeine Ausbildung in Norddeutſchland 
gefunden. Was die Wiener auf den erſten Blick an 
ihm vermißten, war eine ſinnlich einleuchtende Er— 
ſcheinung. In der Tat ſah er als Erneſto in „Ga— 
leotto“, der erſten Rolle, die er ſpielte, verzweifelt 
duͤrftig aus. Die buͤrgerliche Kleidung, die er trug, 
ſchien ziemlich leer zu fein; die Seele ſaß dem Körper 
zu nahe, ſie ſchlug gleich an die Rippen, und doch liegt 
in dem Umweg der Seele zum Leib, und wie ſie im 
Sinnlichen allmaͤhlich aufbluͤht, ein großer Zauber der 
Kunſt. Um dieſen Mangel unſchaͤdlich zu machen, be— 
ſitzt Kainz ein einfaches, aber kuͤhnes Mittel: die Auf— 
richtigkeit. Ich gebe mich, wie ich bin, ſcheint ſein Auf— 
treten zu ſagen, ich bin nun einmal nicht ſchoͤner. Als 
Meiſter Heinrich in der „Verſunkenen Glocke“, da er 
auf den Tod verwundet auf das Lager gelegt wird, 


285 


entblößt er feinen mageren Hals und ſeine fleiſchloſe 
Schulter. Dieſes Vertrauen erweckt wieder Vertrauen, 
und man ſagt ſich: Was ſo offen gezeigt wird, kann 
nicht haͤßlich ſein. Nun freilich, wie er es zeigt! Da 
wirkt ſeine geiſtvolle Technik Wunder. Überhaupt iſt 
es der Geiſt und die Phantaſie, was dieſe ganze kuͤnſt— 
leriſche Erſcheinung moͤglich macht. Die Natur hat 
den Kuͤnſtler, was aͤußere Mittel betrifft, faſt ſtief— 
muͤtterlich behandelt. Die Geſtalt iſt mittelgroß, 
ſchmaͤchtig, ſchmalſchulterig; die Geſichtszuͤge ſind nicht 
bedeutend, ausdrucksvoll nur Auge und Mund; die 
Stimme iſt ein Bariton-Tenor, in der Sprechlage 
etwas trocken, erſt in der hoͤheren Lage Klang und 
Kraft gewinnend. Mit ſo beſcheidenen Mitteln, die 
ſich doch ſtets wieder geltend machen wollen, Großes 
zu erreichen, iſt an ſich, wir moͤchten ſagen, ein Genie— 
ſtreich. Ein Genieſtreich, der doch wieder gruͤndliche, 
anhaltende Arbeit vorausſetzt. Kainz hat ſeinen Koͤr— 
per ganz dem Willen unterworfen, er gehorcht ihm, 
ohne daß ein Zwang ſichtbar wird. Die mannig— 
faltigſten Gebaͤrden ſtellen ſich, je nach der Situation, 
wie von ſelbſt einz die Augen ſind wahre Lichter und 
Leuchten der Seele; der Mund hat nicht bloß zu ſpre— 
chen, der Kuͤnſtler hat aus ihm in der Art, ſich zu 
oͤffnen oder geoͤffnet zu ſein, ein bedeutendes Werkzeug 
des Ausdruckes geſchaffen; die Haͤnde leben, jeder 
Finger lebt. Der ganze Koͤrper, geloͤſt in ſeinen Ge— 
lenken, bewegt ſich mit lebendiger Freiheit. Nun 
kommt zu dieſer ſinnvollen Beweglichkeit des Koͤrpers 


286 


eine ungewöhnliche Gabe und Kunft der Rede. Kainz 
ift ein unvergleichlicher Sprecher und Redner, der die 
ganze Tonleiter von der Plauderei bis zum erhoͤhten 
Worte als Meiſter beherrſcht, der die ſchwere deutſche 
Sprache leicht dahintraͤgt, manchmal in einem Tempo, 
das ſchwindeln macht. Er iſt ein Redner, ohne ein 
Deklamator zu ſein, ein Redner, der noͤtigenfalls auch 
die Schoͤnheit des gebundenen Wortes hervorzuheben 
verſteht und noch im zerbrochenen Verſe die Bruchſtuͤcke 
metriſch erklingen laͤßt. Ein durchaus jugendlicher 
Zug geht durch dieſen Kuͤnſtler, „das Kind in ihm“ iſt 
ſehr ſtark ausgeprägt, Unſchuld und Naivität treten 
aus ſeiner Darſtellung oft ruͤhrend hervor. Wenn er 
als Erneſto ſagt: „Alle Welt luͤgt, und ich ſage die 
Wahrheit“ — wer glaubt ihm nicht aufs Wort? Wer 
nun mit ſo ausgebildeter Technik, die ſelbſt ein Werk 
des Geiſtes iſt, ein ſo ſtarkes und im tiefſten Sinne 
liebenswuͤrdiges Temperament verbindet, wie ſollte 
der, wenn man ihn nur erſt naͤher kennt, nicht imſtande 
ſein, die Maͤngel ſeiner aͤußeren Erſcheinung auszu— 
loͤſchen? Wien hat dieſe Macht an ſich erfahren. Als 
Fremder iſt er hier empfangen worden, und nach acht 
Tagen iſt er als der Liebling des Publikums von hier 
geſchieden. 

Als Erneſto in „Galeotto“, mit dem er ſein Gaſt— 
ſpiel eroͤffnete, hat Herr Kainz, wie geſagt, keinen 
reinen Eindruck gemacht. Der Geſtalt fehlte der ſinn— 
liche Reiz, auf den man in Wien ſo ſchwer verzichtet. 
Dazu kam die moderne Spielweiſe des Kuͤnſtlers, die 


287 


man im Burgtheater nur durch Mitterwurzer kennen 
gelernt hatte, der ſie als urſpruͤnglicher Zoͤgling der 
Wiener Schule doch nur in gemilderter Form in ſich 
aufgenommen. Fremde Erſcheinung, fremde Rede, 
fremde Gebaͤrde! Ein Natuͤrlichkeitsbeſtreben, das aus 
dem Ring der Kunſt hinauszuſpringen ſchien. Erſt 
das Aufflammen der Leidenſchaft im letzten Aufzug 
brachte den Gaſt dem Publikum naͤher. Da ſpuͤrte man 
ſeinen raſchen Puls, da ſchlug ſein Herz verwandt— 
ſchaftlich waͤrmer an das Herz der Wiener. Am 
zweiten Abend, als Herr Kainz das Fritzchen in den 
„Morituri“ ſpielte, nahm er das Publikum im Sturm. 
Man war gepackt, gefeſſelt, erſchuͤttert. Es war ver— 
wunderlich, daß das kleine Stuͤck, das man doch mit 
ziemlich ruhigem Blute leſen kann, von der Buͤhne aus 
ſo ſtark wirkte. Man moͤchte ſagen, der Kuͤnſtler gab 
in der Rolle mehr, als der Dichter gegeben. Ent— 
ſchiedener Realismus, moderne Spielweiſe waren hier 
ganz am Platze, wo ein preußiſcher Leutnant unſerer 
Zeit im Mittelpunkt der Handlung ſteht. Herr Kainz 
war keineswegs beſtrebt, dieſe Figur zu heben, im 
Gegenteil, er ſtellte einen Alltagsmenſchen hin, der 
leicht ins Komiſche gefallen waͤre, haͤtte es ſich nicht 
um die Soldatenehre des armen Kerls gehandelt. Mit 
bewundernswerter Energie hielt der Darſteller dieſen 
militaͤriſchen Typus feſt, dieſe nur in kleinen Zuͤgen 
bewegliche ſtarre Maske, hinter welcher ſich ſo Erſchuͤt— 
terndes abſpielt. Es war ein Meiſterſtuͤck im engen 
Rahmen. 


288 


In der Rolle des Hamlet, die von Shakeſpeare wie 
nicht leicht eine andere ſo recht fuͤr den Schauſpieler 
gedacht iſt, entfaltete Herr Kainz den vollen Reichtum 
ſeiner Kunſt. Sein Spiel glich einer Polemik gegen 
die unzaͤhligen Hamlet-Kommentare, die ſich vor den 
Hamlet ſtellen, wie eine immer undurchdringlicher 
werdende Mauer. Er ſtellt ihn nicht vorzugsweiſe als 
einen Mann dar, der unfaͤhig iſt zu handeln, ſondern 
mehr als einen, der klar ſehen will, um handeln zu 
koͤnnen. Seine Melancholie entſpringt nicht aus 
ſeiner Schwaͤche, ſondern aus ſeiner ihm durch ſeine 
Lage aufgedrungenen Betrachtung des gemeinen 
Ganges dieſer Welt. Man ſehe ihn im Geſpraͤche mit 
Ophelia. Es gibt Schauſpieler, die Ophelia gegen— 
uͤber einen blutigen Sarkasmus aufbieten. Kainz 
nicht. Er iſt voll Mitleid mit Ophelia, daß er ſie in 
dieſe Welt geworfen und ihren Wechſelfaͤllen ausgeſetzt 
ſieht. „Geh in ein Kloſter!“ Das iſt ein Rat, der aus 
einem mitleidsvollen Herzen kommt. Kainz muͤßte 
nicht der Redner ſein, der er iſt, wenn er nicht an den 
Hamlet⸗Monologen ſein beſonderes Wohlgefallen 
haͤtte. Aber auch in dieſem Stuͤck iſt er anders als die 
meiſten anderen. Der Monolog: „Sein oder Nicht— 
ſein“, der ſo oft als rhetoriſches Prunkſtuͤck behandelt 
wird, verliert bei Kainz dieſen Charakter ganz und gar. 
Er beginnt ganz ruhig: „Sein oder Nichtſein“ und 
laßt ſich auf einem Ruhebett nieder, den Monolog fort— 
ſetzend und endigend, wie er ihn begonnen, in ruhiger 
Reflerxionsweiſe. Das befremdet zuerſt, trifft aber 


IVII9 289 


doch wohl das Richtige, da der Monolog gar nicht 
darauf angelegt iſt, in die Welt geſchrien zu werden. 
Schwach iſt — um doch auch einmal zu tadeln — die 
Szene mit der Mutter, die doch am meiſten geeignet 
waͤre, den vollen, aufrichtigen Hamlet an das Licht 
zu ſtellen. Alles in „Hamlet“, was den konverſatio— 
nellen Ton geſtattet, wurde von Herrn Kainz in vor— 
nehmſter Weiſe geſprochen. Er ließ nie vergeſſen, daß 
er koͤniglicher Prinz iſt. 

In Grillparzers Trauerſpiel „Die Juͤdin von 
Toledo“, die er mit jugendlichem Glanze erfuͤllte, iſt er 
dem Dichter hilfreich an die Hand gegangen. Die 
Tragoͤdie iſt nicht rein geloͤſt. Was die Leidenſchaft 
angeſtiftet und verſchuldet, ſoll durch Reflexion und 
moraliſierende Redſeligkeit zu einem guten Ende ge— 
fuͤhrt werden. Das heißt gluͤhendes Eiſen, das noch 
nicht geſchmiedet iſt, in Waſſer loͤſchen. Man erinnert 
ſich des Moments, wo der Koͤnig von der toten Juͤdin 
kommt und um ihren Mund einen ſchnoͤden Zug, in 
ihren Augen etwas Lauerndes entdeckt hat. Er ſagt 
ſich deshalb von ihr los. Da iſt es nun das Verdienſt 
unſeres Berliner Gaſtes, daß er dieſe brutale Wendung 
(brutaler faſt als der Mord ſelbſt) ſo einleuchtend 
macht, als ſie ſich uͤberhaupt machen laͤßt. Sein 
ſtummes Spiel, als ſich der Koͤnig von der Beruͤhrung 
der Juͤdin reinigt, iſt von uͤberzeugender Gewalt. Das 
Sinnliche macht er ſinnlich verſtaͤndlich und fuͤhrt es 
leiſe ins Sittliche hinuͤber. Der phyſiſche Ekel ver— 
wandelt ſich in einen pſychiſchen. An der Haäͤßlichkeit 


290 


der Leiche geht dem König die Haͤßlichkeit der Lebenden 
auf, an ihr die Haͤßlichkeit ſeines eigenen Tuns. So 
hat Kainz durch ſein geniales Spiel die Loſung des 
Trauerſpiels annehmbarer gemacht, aber gerettet hat 
er ſie nicht. 

Wenn wir uns nun ſchließlich fragen, welche 
Wirkung Joſeph Kainz im Burgtheater hervorbringen 
wird, ſo kann man ſagen: eine zerſtoͤrende und eine 
aufbauende. Eine ſo lebensvolle Perſoͤnlichkeit, die 
mit Entſchiedenheit auf den Grundſaͤtzen der modernen 
Darſtellungsweiſe fußt, kann es im Burgtheater nicht 
beim alten laſſen. Seine bloße Gegenwart iſt ein 
Proteſt gegen das Alte. Er wird das Veraltete — 
nicht etwa gewaltſam, aber durch ſein Beiſpiel in 
ſeinem Beſtande erſchuͤttern. Und dann wird er das 
Lebensfaͤhige zu ſich bekehren und verwandte Kraͤfte 
an das Burgtheater ziehen. Das iſt die aufbauende 
Wirkung. Und daran haͤngt vielleicht die Zukunft des 


Burgtheaters. (Am 17. Oktober 1897) 


[19] 


Helene Hartmann 


Man erſchrak, als man heute früh die Kunde ver— 
nahm, daß Helene Hartmann tot ſei. Eine jo lebens⸗ 
volle Frau, die ſo viel Leben um ſich verbreitete, konnte 
man ſich nicht ſo raſch aus der Welt denken. Hatte 
man ſie doch vor wenigen Tagen noch in ihrem kuͤnſt— 
leriſchen Wirkungskreiſe geſehen, Genuͤſſe gewaͤhrend, 
neue Genuͤſſe verſprechend. In dem neuen Schau⸗— 
ſpiele „Neigung“ von J. J. David ſollte ſie die Rolle 
einer ſchwergepruͤften Gattin und Mutter ſpielen. 
Jedermann erwartete das Hoͤchſte von ihrer Kunſt gerade 
in dieſer Aufgabe; war es doch die Aufgabe auch ihres 
Lebens, Gattin und Mutter zu ſein, und niemand war 
es leidenſchaftlicher, inniger, treuer. Das alles iſt nun 
voruͤber, Leben und Kunſt, und wen es angeht, wird 
ſich darein finden muͤſſen, wie es denn menſchliches 
Schickſal iſt, das vermiſſen zu muͤſſen, deſſen Verluſt 
unmoͤglich zu ſein ſchien. 

Blicken wir von der ſchmerzlichen Gegenwart zuruͤck 
in die Vergangenheit, ſo liegt auf Helene Hartmanns 
erſtem Erſcheinen in Wien ein ſie ſelbſt und andere be— 
gluͤckender Sonnenſtrahl. Im Jugendglanze ihres Da— 
ſeins, als zwanzigjaͤhriges Maͤdchen, kam ſie hierher, 
um auf dem Burgtheater als Gaſt aufzutreten, das 
junge Herz von dem Ehrgeize geſchwellt, der erſten 
deutſchen Buͤhne als Mitglied anzugehoͤren. Sie war 
von Hamburg hergekommen, das ein dramatiſches 


292 


Brutneſt beherbergte, welches Laube nur nach und 
nach auszunehmen brauchte, um im Burgtheater die 
glaͤnzendſten Talente auffliegen zu laſſen. Wieviel 
vornehme und reizende Weiblichkeit verdanken wir dem 
Hamburger Stadttheater! Frau Hartmann mit dem 
Maͤdchennamen Schneeberger erfuͤllte uns gleich bei 
ihrem erſten Auftreten mit jenem leiſe waͤrmenden, 
wohltuend anregenden Gefuͤhl, das wir liebenswuͤrdig 
geſchaffenen Naturen gegenuͤber ſtets empfinden. Fraͤu— 
lein Schneeberger erinnerte einigermaßen an die un— 
vergeßliche Neumann und ein wenig auch an unſere 
ruheloſe Goßmann. Wie man es gerade bei den hol— 
deſten weiblichen Weſen findet, daß die Sentimen— 
talitaͤt und der Schalk Wandnachbarn ſind, die durch 
eine unſichtbar gehende Tapetentuͤr fleißig miteinander 
verkehren, jo trafen wir auch bei Fräulein Schnee- 
berger auf eine gluͤckliche Miſchung von empfindſamen, 
naiven und ſchalkhaften Elementen. Ihre Stimme, 
nicht groß, aber ſympathiſch, beſaß einen weichen, 
warmen Gefuͤhlston, und noch durch die Naſe, gerade 
wie es weiland bei der Neumann der Fall war, wußte 
ſie den Weg zu unſeren Herzen zu finden. Unterſtuͤtzt 
wurde die Kuͤnſtlerin durch eine huͤbſche, treuherzige 
Geſichtsbildung und eine feingegliederte Geſtalt, die 
eine gewiſſe Fülle des Leibes nicht ausſchloß; ſchlanke 
Haͤnde und ein kleiner, intelligenter, man moͤchte ſagen 
ſprechender Fuß vollendeten das Bild dieſer an 
genehmen, anleuchtenden Erſcheinung. Mit ſolcher 
Begabung und ſolchen Mitteln, zu denen noch die an 


295 


die ſchwaͤbiſche Mundart anklingende Sprache kam — 
ſie war ja in Karlsruhe geboren, wo ſchwaͤbiſches und 
pfaͤlziſches Weſen einander entgegenkommen — konnte 
ſie ſich einem neuen Publikum nicht beſſer vorſtellen, 
als indem ſie das Lorle in „Dorf und Stadt“ zu ihrer 
Antrittsrolle waͤhlte. Gleich in der erſten Szene legte 
ſie den Charakter des ruͤhrenden Weſens in der feinſten, 
umſichtigſten Weiſe an; keiner von den Zuͤgen, die im 
Verlaufe der Handlung ſtaͤrker hervortreten, blieb un— 
angedeutet: der Flachs war um die Kunkel gebunden, 
die Kuͤnſtlerin brauchte, um den reinſten Faden zu 
ſpinnen, nur die Spindel tanzen zu laſſen; die mädchen- 
haft daͤmmernde Neigung zu Reinhard; der verſchaͤmte 
Empfang, den ſie ihm zuteil werden laͤßt; der einem 
tief verletzten kindlichen Gefuͤhle entſpringende Tadel, 
den ſie mit holdem Ernſt gegen den uͤbermuͤtig ſcherzen— 
den Maler wendet; das Wachſen ihrer Liebe, und wie 
ſie durch einen ploͤtzlichen Schuß, gleich der Aloe, in 
voller, uͤppiger Bluͤte ſteht — dieſe ganze Steigerung 
wurde von Fraͤulein Schneeberger in zart abgeſtuften 
Nuancen, die aus einer vollen kuͤnſtleriſchen Grund— 
empfindung hervorgingen, an uns voruͤbergefuͤhrt. In 
gleich uͤberzeugender Weiſe fuͤhrte ſie ihre Rolle von 
dieſer Hoͤhe abwaͤrts. Noch einmal, im Geſpraͤche mit 
dem Fuͤrſten, leuchtete die treuherzige Natur des 
Bauernkindes in all ihrer Reinheit auf, dann bricht 
Lorle, die zu einem beſcheidenen Gluͤck geſchaffen war, 
unter der Laſt eines ungluͤckſeligen, von Anbeginn un— 
geſunden Verhaͤltniſſes zuſammen. Den Schluß des 


294 


Schauſpiels konnte auch Fräulein Schneebergers 
Talent nicht genießbar machen, denn Frau Birch— 
Pfeiffer hat hier den ſinnvoll aufgefuͤhrten Bau Auer— 
bachs gaͤnzlich zerſtoͤrt und ihm ein elendes dramatiſches 
Notdach aufgeſetzt. 

Das war im Jahre 1864! Etwa zwei Jahre darauf 
trat ſie ins Burgtheater ein. Wieder war man ent— 
zuͤckt von ihrem Naturell, von dieſer gluͤcklichen 
Miſchung von Unbefangenheit, Schalfheit und 
Empfindſamkeit. Ihre Erſcheinung hatte an Bedeut— 
ſamkeit gewonnen. Ihr Mund, der ſich wie friſches 
Obſt anſah, ihre Naſe, die vom Striche der Schoͤnheit 
mit reizendem Eigenſinne abbog, und ihr inniges, 
rundes Auge, das in der Erregung feucht erglaͤnzte 
oder wie durch einen Schleier blinkte — ſie wieder— 
holten aͤußerlich die Eigenſchaften ihrer Seele, und 
auch die Stimme, welche den Ton bald frei entließ, 
bald preßte und ſchnarrend an den Gaumen quetſchte, 
bald innerlich erzittern machte, auch ſie ließ jenen Drei— 
klang ihres inneren Weſens wiederklingen. Ihre 
jugendlich volle, etwas gedrungene Geſtalt hielt eine 
gute Mitte zwiſchen der Schoͤnheit, wie ſie im Buche 
ſteht, und der perſoͤnlichen Eigenart, wie ſie im Leben 
gefaͤllt, kuͤnſtleriſch iſt ſie viel reicher zu uns zuruͤck— 
gekehrt, als ſie von uns geſchieden. Und nicht minder 
erfreulich als dieſer Fortſchritt war die Erſcheinung, 
daß die ſelbſtbewußtere Ausbildung der techniſchen 
Mittel die urſpruͤngliche Friſche ihrer Natur nicht ge— 
faͤhrden konnte. Die Hand, welche dieſe wilde Roſe 


295 


von der Hecke gebrochen, hat keinen Tropfen Tau ver- 
ſchuͤttet. An ihrem erſten Burgtheaterabend ſpielte 
ſie wieder das Lorle, reifer als damals, aber mit der— 
ſelben Innigkeit und Waͤrme. Ihr Lorle iſt typiſch 
geblieben fuͤr ihre Darſtellung. Sie hatte hier ihren 
ganzen Beſitz beiſammen, den ſie, je nachdem die Rolle 
war, auch teilen und im einzelnen verwenden konnte. 
Sie trug als Lorle gleichſam drei Blumen in der 
Hand: Roſe, Nelke und Gaͤnſebluͤmchen; aber jede war 
auch einzeln reizend, wenn die Kuͤnſtlerin ſie uns ent— 
gegenhielt, ſie an den Buſen oder gar hinter das 
Ohr ſteckte. 

Helene Schneeberger und Ernſt Hartmann wurden 
einander bald gefaͤhrlich. Sie ſah ihn gern, er ging ihr 
nach. Junges Blut und verwandtes Streben fuͤhrten 
ſie zuſammen. Kuͤnſtleriſch wuchſen ſie aneinander in 
die Hoͤhe. Hartmann war ein Miterbe der Fichtnerſchen 
Kunſt, der Einfachheit befliſſen, obgleich ihrer nicht 
immer maͤchtig, voll liebenswuͤrdiger Eigenſchaften, 
mit einer Kraft der Heiterkeit begabt, die an den 
Humor ſtreifte. Damit erreichte er Gipfel der Dar— 
ſtellungskunſt, wie „Prinz Heinz“ und der Koch in 
„Weh' dem, der luͤgt“. Der Reiz und die Macht des 
Gegenſatzes feſſelten die beiden Kuͤnſtler aneinander. 
In Helene Schneeberger ſprudelte ihm der friſche 
Quell der Natur entgegen. Sie war ja ſelbſt eine 
Natur. An ihm gefiel ihr ein gewiſſes ritterliches 
Weſen. Was wir aber bewundern, wollen wir be— 
ſitzen, ſei es zu unſerem Gluͤck oder zu unſerer Enttaͤu— 


296 


ſchung. So wurden Ernſt Hartmann und Helene 
Schneeberger ein Paar. Sie haben auf der Buͤhne 
zuſammen Schoͤnes geleiſtet; wir erinnern nur an das 
Schauſpiel: „Der zuͤndende Funke“, das ſie vollendet 
ſpielten. Mit den vorruͤckenden Jahren hatten ſich 
beide zu entſcheiden. Ihm werden die Übergaͤnge hart, 
er weiß nicht recht, wohin er uͤbergehen ſoll. Sie da— 
gegen fand nach einigem Straucheln den Übergang 
gluͤcklich in ein aͤlteres Fach, in das ſie den ganzen 
Reichtum ihrer Jugend hinuͤbertrug. Sie konnte lachen 
und weinen, ſie reichte aber auch bis ins Tragiſche 
hinein. Auf dieſer Hoͤhe, nach menſchlichem Ermeſſen 
noch voller Zukunft, iſt fie geſtanden ... 

Ein jaͤher Tod hat ſie weggeriſſen. Burgtheater 
und Publikum ſind im tiefſten erſchrocken und wiſſen 
ſich noch nicht zu faſſen. Sie werden ſich erſt ſammeln 
muͤſſen, um Traͤnen zu finden. 


(Am 13. Maͤrz 1898) 


Georg Engels als Kollege 
Crampton 


Zwei Maͤnner haben in erſter Reihe dazu beige— 
tragen, ein gerechtes Urteil über Hauptmanns Komödie 
„Kollege Crampton“ herbeizufuͤhren: Paul Schlenther, 
der Kritiker, und Georg Engels, der Schauſpieler. 
Wie Schlenther in ſeinem mit Mut und Geiſt ge— 
ſchriebenen Buche uͤber Hauptmann zum Verſtaͤndnis 
der „Einſamen Menſchen“ das klaͤrende Wort ge— 
ſprochen, daß das Recht zur Tragik nicht vom Grade 
der intellektuellen Faͤhigkeit des Helden abhaͤnge, ſo hat 
er auch den Profeſſor Crampton unſerem Herzen naͤher 
gebracht, indem er die Gemuͤtsſeiten dieſes Charakters 
in das hellſte Licht ſtellt. Engels' Gaſtſpiel, das wir 
den Bemuͤhungen Schlenthers verdanken, hat vollends 
ergaͤnzt, was bloßen Worten verſagt iſt: Engels hat 
den Crampton im Sinne Schlenthers geſpielt. Wir 
ſtehen noch alle unter dem Eindrücke dieſer vollendeten 
Darſtellung. Sie hat einen Umſchlag des Urteils be— 
wirkt. In Wien betrachtete man die Geſtalt des 
Malers Crampton mit einer Art inſtinktiven Wider— 
willens, weil man ihm in einer Stadt, wo die gebildete 
Geſellſchaft im Genuſſe geiſtiger Getraͤnke ſehr maͤßig 
iſt, ſein maßloſes Trinken nicht verzeihen konnte. Wer 
wollte und ſollte ſich fuͤr einen Saͤufer intereſſieren? 
Freilich war auch der urſpruͤngliche Darſteller der Rolle 


298 


feiner Sache nicht gewachſen, jo daß von der „goldenen 
Seele“, die Schlenther an Crampton ruͤhmte, nur wenig 
zu entdecken war. 

Was aber in Wien an Crampton Anſtoß erregte, 
gehoͤrt zu den Fundamenten ſeines Charakters. Man 
kann weiter gehen als Schlenther ſich getraut, und 
geradezu jagen: Crampton iſt eine typiſche Figur. 
Gewiß, eine typiſche deutſche Figur. Sie haͤngt mit 
der unbaͤndigen deutſchen Trinkluſt zuſammen, die 
ihre tiefdaͤmoniſche Seite hat. Von Tacitus bis auf 
Bismarck herab, der beim vollen Becher uͤber den 
Alkoholismus raͤſonniert, iſt ſchon viel uͤber das 
deutſche Trinken geſagt worden. Ein deutſcher Philo- 
ſoph hat ſogar eine Art Metaphyſik des deutſchen 
Trinkens entworfen. In einem ſeiner vielen ver— 
ſchollenen Bücher macht Karl Roſenkranz, der menſch⸗ 
lichſte und eleganteſte Schuͤler Hegels, den Verſuch, 
die deutſche Luft an geiſtigen Getraͤnken aus der Deuts 
ſchen Volksſeele herzuleiten. „Der Germane,“ ſagt 
Roſenkranz, „iſt von den aͤlteſten Zeiten her dem 
Trunke leidenſchaftlich ergeben. Deutſchland iſt das 
Land, in welchem Wein, Bier und Branntwein herr— 
ſchen. Der Deutſche trinkt alles ... Bei ihm iſt es 
der Übermut des Selbſtgefuͤhls, der ſich mit dem Trunk 
gleichſam als mit einem Feinde einlaͤßt, der ihm nichts 
ſoll anhaben koͤnnen. Es iſt die bis zum Frevel kuͤhne 
Freiheit des Selbſtbewußtſeins, die ein ſchauerliches 
Geluͤſten empfindet, mit der Natur ſich einzulaſſen, zu 
ſehen, wie weit es ſie wohl zwingen koͤnne. Der Ger⸗ 


299 


mane hat ſozuſagen einen Überſchuß von Kraft in ſich, 
dem er abermals durch ein Unmaß begegnet... Das 
Trinken, nur um ſich zu berauſchen, um die Seligkeit 
des Nichtſeins zu genießen, wuͤrde ihm gar keinen Ge— 
nuß gewaͤhren, aber als eine Macht, gegen die er ſich 
frei erhaͤlt, indem er ſie unmittelbar in ſich aufnimmt, 
ſie mit ſeinem Blut ſich vermaͤhlen laͤßt, hat das 
Trinken für ihn einen grauenhaften Reiz.. Ohne 
dieſe daͤmoniſche Tiefe der Verſuchung wuͤrde es kaum 
zu erklaͤren ſein, mit welcher Luſt der Germane trinkt. 
Viel trinken zu koͤnnen, iſt bei ihm eine Art Ehrenſache.“ 

Aus dieſer Gegend, die von Roſenkranz ſo geiſt— 
reich ſkizziert iſt, kommt Crampton her, ein durſtiger 
Sohn ſeines Volkes. Er ſteht, da wir ihn kennen lernen, 
in den beſten Jahren. Seine fruͤheren Werke bezeugen 
ein hohes kuͤnſtleriſches Streben. Er iſt Profeſſor an 
einer Akademie, wo er durch eigene und fremde Schuld 
manches zu leiden hat; enge Verhaͤltniſſe, die Philiſter— 
haftigkeit talentloſer Kollegen fordern ſein Selbſtgefuͤhl 
heraus, reißen ihn hin zu unklugen Reden und Taten. 
Wie oft erinnert er an Anſelm Feuerbach in Wien, den 
tapferen Trinker und Raͤſonneur, den wohl der 
Schmerz, an der Grenze ſeines Koͤnnens zu ſtehen, noch 
in guten Jahren aus dem Leben rief. Von ihm unter- 
ſcheidet ſich Crampton, daß der Damon des Trinkens 
an ſeinen beſten geiſtigen und ſittlichen Kraͤften nagte, 
allerdings ohne ſeine innere Guͤte und Liebenswuͤrdig— 
keit anzufechten. Sorgen kommen uͤber ihn; ein hoher 
Goͤnner, der ihn fruͤher uͤber alles geſchaͤtzt, entzieht ihm 


300 


feine Gunſt; er wird von der Akademie entlaſſen; Frau 
und Kinder — die juͤngſte Tochter ausgenommen — 
verlaſſen ihn. Wir finden ihn zuletzt, tief herabgekom— 
men, aber immer voll Selbſtgefuͤhl und genialer Ein— 
faͤlle in einem Wirtshauſe, in welchem er ein elendes 
Zimmer gemietet, ſtets trinkend und ſpielend, Tag und 
Nacht wachend, von gemeiner Geſellſchaft umgeben 
und doch ein im Innern adeliger Menſch. Er ginge 
zugrunde, wenn ihn ſeine juͤngſte Tochter mit einem 
jungen Schuͤler Cramptons, den ſie liebt, nicht rettete. 
Ob er zu retten iſt, das iſt die Frage, die ſich bei vielen 
wiederholt, die aus ähnlicher Lage in beſſere Verhält— 
niſſe gekommen ſind. Ja, von vielen kann man ſprechen, 
denn Crampton iſt keine vereinzelte Erſcheinung, er iſt 
vielmehr, wie wir ſchon gejagt, eine typiſche Figur, die 
unter dem Einfluſſe der Trunkſucht durch alle Berufs— 
kreiſe in allen deutſchen Gauen zu finden und wieder— 
zufinden iſt. Und meiſtens ſind es begabte Leute, die 
ſolchem Schickſale anheimfallen, noch in ihrer Verkom— 
menheit ſcharfſinnige, phantaſievolle, erfindungsreiche 
Menſchen, die nun, halb angeſtaunt, halb verachtet, als 
verbummelte Genies in der Welt herumlaufen. Einen 
ſolchen Typus aufzugreifen und auf die Bretter zu 
ſtellen, war wohl die Aufgabe eines Dramatikers, der 
ſeine Geſtalten aus dem wirklichen Leben holt. 

Die Frage, ob dieſes Wagnis erlaubt ſei, kann nur 
ein bedeutender Schauſpieler beantworten. Georg 
Engels hat ſie beantwortet. Ja, es iſt erlaubt. Phy— 
ſiſch und geiſtig iſt Herr Engels der richtige Darſteller 


301 


für den Crampton. Er hat eine Geftalt von guter 
Mittelgröße, breit in Bruſt und Schultern mit kraͤftig 
aufgeſetztem Kopfe, plaſtiſch herausgearbeiteten Zuͤgen, 
lebhaften Augen. Er bewegt ſich leicht und mit einem 
gewiſſen Wohlgefallen an ſich ſelbſt — ganz ohne 
Affektation. Es kleidet ihn gut, kuͤnſtleriſch behaglich, 
wie er in ſeinem Atelier ein Jackett aus braunem Samt, 
eine gleiche Weſte, graue Beinkleider und einen roten 
Fes traͤgt. Spaͤter zum Empfange des Herzogs nimmt 
er ſich in ſchwarzer Kleidung vornehm aus, und auch 
in ſeiner Verwilderung adelt ſeine Geſtalt die duͤrftige 
Kleidung. Die Bewegungen ſeiner Arme und Hände 
ſind voll edlen Rhythmus und in ihrer Einfachheit 
kaum zu kontrollieren. Was ſagt nicht ſo eine ausge— 
ſtreckte, ſo eine ſich drehende, ſo eine in die Finger auf— 
geloͤſte Hand! Oder welche Beredſamkeit, wenn er ſie 
— wie Mitterwurzer es verſtand und wie andere es 
ihm aͤußerlich nachmachen — in die Taſchen der Bein— 
kleider ſteckt. Seine Stimme iſt ein Bariton, der in 
der ruhigen Rede ſehr naſal klingt, aber in der Erre— 
gung ſich nach unten kraͤftig, nach oben klangvoll er— 
weitert. Mit ſolchen angeborenen und erworbenen 
Mitteln iſt leicht zu arbeiten, und zu alledem geſellen 
ſich noch die Hilfsmittel, die hinter dem Außeren liegen, 
ein Geiſt voll Treffſicherheit, Situationswitz und Er— 
findung. Im „Kollege Crampton“ glaͤnzt ſein Talent 
wohl am ſtaͤrkſten in den Szenen, die ſich im Wirts— 
hauszimmer abſpielen. Auf einem tiefen Grunde von 
Liebenswuͤrdigkeit baut ſich hier die Geſtalt Cramptons 


302 


auf. Es zeigt ſich hier wohl die Schwächung des 
Willens, die Steigerung des Eigenſinns; je mehr 
Crampton ſein Selbſt verliert, deſto ſtaͤrker werden die 
Ausbruͤche ſeines Selbſtgefuͤhls, das bis zum Groͤßen— 
wahn geht. Er wandelt auf den Konfinien der Komik 
und Tragik, der Genialitaͤt und des Wahnſinnes. Ein 
nahender Ausbruch des Saͤuferwahnſinnes — das 
Schauen nach Ratten und Maͤuſen in den Ecken der 
Stube — wird von dem Darſteller genial hinzuerfun— 
den. Der Gedankenentwurf eines Gemaͤldes, das 
Crampton an den Plafond eines Konzertſaales malen 
will — nach Art der Maler beſchreibt es Herr Engels 
ſehr beredtſam durch Arm- und Handbewegungen — 
gehoͤrt dieſer halbverruͤckten Sphaͤre an. Und doch 
fuͤhrt uns der Darſteller immer wieder auf Cramptons 
„goldene Seele“, auf die unerſchuͤtterliche Kraft ſeines 
Gemuͤtes zuruͤck. Crampton iſt ſchnoͤde aus Gemuͤtlich— 
keit, er iſt grob aus Herzlichkeit. Als er ſeine juͤngſte 
Tochter, fuͤr die er ſchwaͤrmt, wieder in ſeinen Armen 
haͤlt, da iſt alles, was er ſpricht, Muſik. 

Seit Mitterwurzer, der Große und Geſchmaͤhte, tot 
iſt, hat das Burgtheater keinen Abend erlebt, der dem 
geglichen haͤtte, den uns Georg Engels durch die Vor— 
fuͤhrung des Profeſſor Crampton bereitet hat. Dieſer 
Kuͤnſtler vereinigt in ſich, was die Alten gekonnt und 
was die Jungen errungen haben. Er waͤre der rechte 
Mann fuͤr das Burgtheater, das zwiſchen Vergangen— 
heit und Zukunft unentſchieden ſchwebt. 

(Am 29. Mai 1898) 


303 


Stella Hohenfels als Iphigenie 


Klara Ziegler darf wohl als die Vertreterin der 
typiſchen Heroine betrachtet werden, die bis in die 
achtziger Jahre die deutſche Buͤhne beherrſcht hat. Un⸗ 
gefaͤhr wie die Ziegler mußte man ausſehen, den Er— 
ſcheinungen einer höheren Koͤrperwelt mußte man an⸗ 
gehören, um nach der Meinung der damaligen Theater— 
direktoren und Theaterbeſucher die tragiſche Titelheldin 
eines Jambendramas ſpielen zu koͤnnen, namentlich 
eines Jambendramas, deſſen Stoff der griechiſchen 
Heldenſage entnommen war und deſſen Form ſich mehr 
oder minder dem Stil und der Sprache des antiken 
Trauerſpiels annaͤhert. Geſicht und Stimme mußten 
der maͤchtigen Figur entſprechen. Dieſe Vorſtellung 
entſprang der klaſſiziſtiſchen Vorſtellung helleniſchen 
Weſens, die ſeit Winckelmann bis tief ins neunzehnte 
Jahrhundert herab unſer kuͤnſtleriſches Empfinden 
durchdrang. Mußte man ſchon darauf verzichten, die 
Statur der Schauſpielerin durch den Kothurn ins 
Übermenſchliche zu erhoͤhen, das individuelle Geſicht 
durch ein Maskenantlitz zu erſetzen oder tragiſche Hel— 
dinnen durch Maͤnner ſpielen zu laſſen, ſo waͤhlte man 
wenigſtens ſolche Frauen, deren Langleibigkeit der 
Kothurn angeboren war, deren individuelles Geſicht 
die gewaltigen Zuͤge einer tragiſchen Maske hatte, deren 
Stimme Mannesſtaͤrke beſaß, ja in denen überhaupt 
ein heimlicher Mann zu ſtecken ſchien. Auch Kuͤnſt⸗ 


304 


lerinnen, denen, wie der Wolter, die große Statur 
fehlte (ſie trug daher Schuhe mit kothurndicken Sohlen), 
waren in ihrem Streben von dieſen klaſſiziſtiſchen Er— 
innerungen beherrſcht. Die Stimme der Wolter war 
gleichſam uͤber Lebensgroͤße, und ihr beruͤhmtes klaſ— 
ſiſches Profil hatte mehr die erhabene Schoͤnheit einer 
Marmorſtatue, als die eines ſterblichen Weibes von 
Fleiſch und Blut. Daß ihr der Rieſenwuchs der 
Ziegler fehlte, war, ſo ſehr ſie es zuzeiten bedauern 
mochte und ſo raffiniert ſie ſich bemuͤhte, ihren Wuchs 
zu dehnen, ein wahres Gluͤck fuͤr ſie. Denn die Wiener 
wollten auch in den tragiſchen Heroinen auf das Weib 
nicht ganz verzichten. Der deutſche tragiſche Grena— 
diertypus hat ſich in Wien niemals eingebuͤrgert. 
Eine ganze Reihe von dramatiſchen Frauengeſtalten 
iſt faſt ein Jahrhundert hindurch auf den deutſchen 
Buͤhnen von tragiſchen Mannweibern verkoͤrpert wor— 
den und hat jo für die Phantaſie des Publikums eine 
Umwandlung erlitten, die Weſen und Charakter dieſer 
Frauen⸗ und Mädchengeftalten faſt unkenntlich zu 
machen und auszuloͤſchen droht. Wir nennen nur die 
Antigone, die Phaͤdra, die Sappho, die Julia, die Hero, 
die Iphigenie. Alſo eine Reihe eigentuͤmlicher, hoͤchſt 
individueller weiblicher Charaktere, die auf der Buͤhne 
eigentlich als ſolche gar nicht zum Vorſchein kamen, 
weil der Charaktertypus des heroinenhaften pathe— 
tiſchen Mannweibes, den die Perſoͤnlichkeit der Schau— 
ſpielerin in ſtarken Zügen ausdruͤckte, ſich an die Stelle 
des vom Dichter mit zarten Linien gezeichneten weib— 


IVI20 305 


lichen Seelenportraͤts ſchob und es gewiſſermaßen über- 
taͤubte. Dem Zuſchauer wurde es oft ſchwer genug, 
der pathosſchnaubenden, an Lungen- und Koͤrperkraft 
unverwuͤſtlichen tragiſchen Dampfmaſchine, die da oben 
arbeitete, zartere Weiblichkeiten zuzutrauen. 

Es war das Buͤhnenereignis dieſer Tage, daß 
Stella Hohenfels, dieſe lebende Tanagrafigur, die Rolle 
der Iphigenie gab. Damit uͤbernahm ſie die ſchoͤne 
Pflicht, die von Goethe mit ſicherer und zarter Hand 
ausgeführte Geſtalt eines hoͤchſt eigenartigen Mäd- 
chens, das bisher meiſtens hinter der Heroine ver— 
ſchwunden war, auf der Buͤhne zu leiblicher und 
geiſtiger Erſcheinung zu bringen. Mit einem Worte: 
Goethes Iphigenie zu ſpielen. Leicht iſt dieſe Aufgabe 
nicht, denn gegen die durch ſtarke Perſoͤnlichkeiten der 
Phantaſie des Publikums eingepraͤgten Eindruͤcke 
kommt die beſcheidene Wahrheit, auch wenn erleſene 
Kunſt ihre Sache fuͤhrt, nur ſchwer zu Ehren. Ja die 
Kuͤnſtlerin ſelbſt wird nicht ohne Schwierigkeit durch 
all die Theater-Iphigenien hindurch, die vor ihrem Ge— 
daͤchtnis ſchweben, die Iphigenie, wie ſie im Buche 
Goethes ſteht, erblickt und erfaßt haben. Einer tieferen 
Betrachtung muͤſſen die entſcheidenden Zuͤge doch nah— 
und naͤhertreten. Als einer echten Tochter Goethes 
fehlt ihr vor allem alles Nonnenhafte, Prieſterliche und 
Myſtiſche, das verſchiedene Ausleger in ſie hinein— 
ſchieben wollen. Sie iſt nicht etwa Schweſter an ſich, 
nur Schweſter, ſondern gleich der Antigone iſt ihr Sinn 
darauf gerichtet, ihr Frauenleben voll und unverkuͤm— 


306 


mert zu erleben. Statt zu opfern, der Göttin zu 
dienen, möchte fie zuruͤck in ihren Familienkreis, um 
dann den Gatten zu waͤhlen, Kinder zu gebaͤren und 
zu erziehen. Sie iſt ein ganzes Weib, Prieſterin iſt ſie 
ja nur, weil ſie muß, nicht aus innerem, dem Welt— 
lichen abgewendeten Drange. Das ſpricht ſie ſelbſt 
klar aus. Als ein tuͤchtiges Weib uͤbt ſie freilich ihren 
prieſterlichen Beruf mit voller Hingebung aus, ſolange 
ſie es als ihre Pflicht empfindet. Ihre Tugend und Rein— 
heit iſt keine myſtiſch-uͤbernatuͤrliche, keine hyſteriſche, 
ſondern die Tugend eines leiblich und ſeeliſch voͤllig ge— 
ſunden und wohlgebildeten Weibes, fuͤr das die Gebote 
der Sittlichkeit eins ſind mit den innerſten Inſtinkten 
ihrer Natur. „Ich unterſuche nicht, ich fuͤhle nur.“ Leb— 
haftes Mitgefuͤhl mit allen Leidenden, hilfreiche Liebe, 
ſtolze Wahrhaftigkeit, das ſind die Eigenſchaften ihrer 
Natur, die ſie betaͤtigt in dem uͤberzeugten Gefuͤhl, daß 
das Walten der Goͤtter und das Treiben der Welt mit 
ihrem Charakter uͤbereinſtimmen muß. In die Zwangs— 
lage verſetzt, gegen ihren Charakter handeln, luͤgen und 
hintergehen zu muͤſſen, wandelt ſie die furchtbare Em— 
pfindung an, daß ſie gleich ihren frevelnden Ahnen an 
den Goͤttern und an dem Leben irre zu werden in Ge— 
fahr ſteht. Das Auftauchen des Parzenliedes, des Leit— 
motivs ihres Stammes, bezeichnet dieſe Anwandlung. 
Doch dieſes ſtarke energiſche Weſen erweiſt ſich als un— 
faͤhig, ſelbſt unter dem Drucke der aͤrgſten Zwangslage, 
ihre Natur zu verleugnen. Daher geſteht ſie dem Koͤnig 
auf jede Gefahr hin die Wahrheit, nicht aus morali— 


[20] 307 


ſchem Gewiſſensſkrupel, ſondern um ſich ſelbſt treu zu 
bleiben. Überhaupt, ſtatt das Suͤße, Holde, Liebe— 
volle ihres Weſens zu uͤbertreiben, tut die Darſtellerin 
gut, die herben und kraͤftigen Zuͤge dieſes friſchen Maͤd— 
chencharakters hinreichend zu betonen. Iphigenie 
koͤnnte ſich und ihren Bruder augenblicklich retten, 
wenn ſie ſich entſchloͤſſe, des Koͤnigs Werbung zu er— 
hoͤren. Aber dieſes Auskunftsmittel verwirft ſie ſo 
entſchieden, daß ſie es nicht einmal ernſtlich erwaͤgt. 
Bei aller Sanftmut und Liebe hat ſie doch den Mut und 
die Kraft, dem Koͤnig ihre Meinung nicht vorzuenthal— 
ten. Zum Gehorchen geboren („Folgjam fühlt‘ ich 
immer meine Seele am ſchoͤnſten frei“), liegt es ihr 
doch fern, ſich von einem Manne befehlen zu laſſen. 
Sie iſt ſtolz, ja bei allem Schauder vor den Greuel— 
taten ihrer Ahnen, ahnenſtolz, und vor der ungeheuren 
Kraft ihrer Vaͤter, obwohl ſie ſich in ungeheuren Ver— 
brechen äußerte, hat dieſes Tantalidenfraͤulein ein Ge— 
fuͤhl, das der Ehrfurcht nicht ferneſteht. Daß ſie will, 
was ſie will, das hat ſie doch von ihnen geerbt, wenn 
ſie's auch anders uͤbt. Sie beſteht auf der Wahr— 
haftigkeit, wie einſt Atreus auf ſeinem Haß. So rein 
ſie iſt, ſie hat doch Familienzuͤge mit ihrem wilden 
Stamm gemein. „Nur ja nicht zu heilig, zu katholiſch“ 
ſoll man Iphigenie ſpielen, nicht als „heilige Jung— 
frau“. Wohl iſt ſie fromm, jede Steigerung ihres Ge— 
fuͤhles ſchwillt ihr zum Gebet an, ihr Gebet wird auch 
erhoͤrt, wie es ſcheint, gleich dem einer Heiligen, aber 
darum traͤgt ſie doch keinen Heiligenſchein um das 


308 


Haupt. Die Heilung ihres Bruders ſcheint doch un— 
mittelbar von der Geſundheit und Reinheit ihrer Per— 
ſoͤnlichkeit auszugehen, nicht von oben. Wer kennt 
nicht Frauen, welche die Gabe haben, Erinnyen zu ver— 
ſcheuchen? 

Mit dieſen Auseinanderſetzungen geben wir der 
neueſten Darſtellerin von Goethes Iphigenie wieder 
zuruͤck, was wir aus ihren Haͤnden empfangen haben. 
In dem angedeuteten Sinne hat Frau Hohenfels die 
Iphigenie geſpielt, nicht als eine falſche Antike, nicht 
als ein Kompoſitum von Poſe und Deklamation, ſon— 
dern als ein einfaches Griechenmaͤdchen, deſſen ſchlich— 
tem Sinn die Aufgabe geworden, ein großes tragiſches 
Geſchick zu loͤſen. Sie ging nirgends auf Effekt los 
und war dann noch, wenn ſie die herben Seiten ihrer 
Natur hervorkehrte, nur eine bewaffnete Grazie. Sie 
ließ ſogar viel ausgebeutete Wirkungen fallen, ſo 
machte ſie es beiſpielsweiſe mit dem Parzenlied, nach 
welchem die meiſten Darſtellerinnen der Iphigenie ihre 
Rolle zu ſtimmen pflegen. Sie behandeln es als 
toͤnendes Deklamationsſtuͤck, als Bravour-Arie. Ganz 
anders Frau Hohenfels. Sie laͤßt das Parzenlied 
ſcheinbar fallen, um es pſychologiſch an feine rechte 
Stelle zu ruͤcken. In einem ſchickſalsvollen Augenblicke 
erinnert ſich Iphigenie des Parzenliedes, wie ſie es in 
ihrer Kindheit von ihrer Amme hatte ſingen hoͤren. Es 
ſchildert die Verbrechen ihres Ahnengeſchlechtes. Wie 
paßt es nun zu der Situation, daß Iphigenie gleich— 
ſam als Chorſaͤngerin aus ſich heraustritt und das Lied 


309 


mit der Staͤrke rezitiert, wie es nach Theaterbegriffen 
die Parzen mochten geſungen haben? Wenn nun Iphi— 
genie, ganz in Erinnerung auf die Stufen des Altars 
niedergleitet und das Parzenlied, nur die ſtarken 
Stellen mit erhoͤhter Stimme hervorhebend, mehr vor 
ſich hinſagt als deklamiert — ſollte ſie damit nicht die 
feierliche Stimmung der Situation getroffen haben? 
Man koͤnnte noch eine reiche Ausleſe von ungewoͤhn— 
lichen Stellen treffen, allein unſere Anerkennung moͤchte 
lieber die ganze Vorſtellung in ſich ſchließen. Herr 
Kainz, ein unuͤbertrefflicher Oreſt mit unvergleichlichen 
Einzelheiten, und Frau Hohenfels holten ihr Beſtes 
auseinander heraus und ſtanden in der Bluͤte ihres 
reichen Koͤnnens. Überall ging die Darſtellung von 
der Deklamation auf einfache Rede zuruͤck und lockte 
durch ſie und mannigfaltiges Tempo neue Schoͤnheiten 
und neues Leben aus der Dichtung hervor. 

Fuͤr unſer klaſſiſches Repertoire hat uns dieſer 
Iphigenien-Abend die ſchoͤnſten Ausſichten eroͤffnet. 
Die Reform, die uns hier vonnoͤten iſt, kann in der 
einfachſten Weiſe bewerkſtelligt werden: — Steigen 
wir von den Stelzen herab und gehen wir zu Fuß! 


(Am 17. Juni 1900) 


Fritz Kraſtel 
Zu ſeinem vierzigſten Jubiläum 


Fritz Kraſtel, deſſen vierzigſtes Jubilaͤum wir feiern, 
iſt 1839 in Mannheim geboren, ein Sohn der froͤh— 
lichen Pfalz. Von ſeiner erſten Jugend wiſſen wir 
wenig. Er ſtudierte erſt, wie man erzaͤhlt, Theologie, 
wurde dann Taͤnzer, ging aber vom Ballett bald zum 
Schauſpiel uͤber. Seiner Landsmannſchaft iſt er in 
Charakter und Ton ſtets treu geblieben, von der Theo— 
logie her iſt eine gewiſſe paſtorale Salbung ihm nie 
ganz fremd geworden, und in unbewachten Augen— 
blicken ſprang der Taͤnzer unwillkuͤrlich in ihm auf. 
Er hatte mannigfaltige Bildung in ſich aufgenommen 
und beſaß in hohem Grade die Leichtigkeit der Rede. 
So war er auch als Lyriker und Dramatiker nicht un— 
begabt, dichtete viele gute, klingende Gelegenheits— 
gedichte und ſchrieb das fuͤnfaktige Drama „Der 
Winterkoͤnig“, in welchem faſt ſaͤmtliche Rollen, die 
er zu ſpielen pflegte, einen klangvollen Nachhall fanden. 
Im Hoftheater zu Karlsruhe hat er unter Eduard 
Devrients Leitung ſeine erſte kuͤnſtleriſche Ausbildung 
genoſſen. Erſt als ihn Laube ihm Jahre 1865 ans 
Burgtheater engagierte, wird er fuͤr uns eine lebendige 
Geſtalt. Gleich als er am erſten Abend den Don 
Carlos ſpielte, hatte er das Herz der Wiener gewonnen. 
Er war die Jugend, das Leben, das Temperament. 


311 


Bis zu feinem fuͤnfundzwanzigjaͤhrigen Jubilaͤum 
ſpielte er faſt ſaͤmtliche jugendliche Heldenrollen des 
klaſſiſchen Repertoires. Im Jahre 1888 wurde er 
Regiſſeur, und erſt von da ab datiert ſein Übertritt in 
das reifere Helden- und in das Heldenvaͤterfach. 
Kraſtel war einer der glaͤnzendſten jugendlichen 
Heldenliebhaber. Alles an ihm trug die ſpezifiſchen 
Merkmale ſeines Rollenfaches, ſo daß man ihn mit 
Recht das Urbild eines jugendlichen Helden nannte. 
Er bedurfte nicht erſt der Mittel des Darſtellungs— 
apparates, um das zu ſein, was er zu ſpielen hatte. 
Er brauchte ſich nur hinzuſtellen. Er war das Ding 
ſelbſt, der jugendliche Held an ſich. Man erinnert 
ſich ſeiner kraͤftigen und doch geſchmeidigen Geſtalt, 
ſeines leuchtenden, blitzenden Auges, ſeiner lebendigen 
Bewegungen, die, wenn auch ein wenig zum Taͤnzer— 
haften neigend, doch voll maͤnnlicher Grazie waren. 
Dazu geſellte ſich ſein ungeſtuͤmes Weſen voll ſpruͤhen— 
den Temperaments, eine ſchmetternde Stimme Choher 
Bariton) voll jugendlichen Schmelzes; raketenartig 
praſſelnd, freilich mehr fliegende Hitze als leidenſchaft— 
liche Glut, machte ſich ſein Feuer Luft. Seine Rede 
ging raſch dahin, wohl etwas uͤberſtuͤrzt, aber doch 
immer deutlich, weil ſinngemaͤß und richtig geſteigert 
und ſo voll Schwung, daß ſie im Momente des hoͤchſten 
Affekts hinreißend wirkte. Dieſer Schwung war die 
Quelle aller ſeiner Vorzuͤge und Maͤngel. Er verlieh 
ihm jenes unſagbare Etwas von Poeſie und Idealitaͤt, 
das den modernen Heldenſpielern nachgerade abhanden 


312 


zu kommen ſcheint, führte ihn aber auch mitunter zum 
Überſchwang, der ans Groteske ſtreifte. So lange der 
Glanz der Jugend dieſen Schwung verklaͤrte, hatten 
dieſe Zwiſchenfaͤlle, die aus einer Übertreibung von 
Vorzuͤgen hervorgingen, nur wenig zu bedeuten. Als 
er im Jahre 1880 in Muͤnchen gelegentlich der von 
Poſſart arrangierten ſogenannten Muftergaftipiele 
auftrat, wirkte ſein Erſcheinen ſo erfriſchend und er— 
quickend wie ein junger Maientag. Erſt ſpaͤter, als 
reifere Jahre uͤber ihn kamen, erſtarrte dieſer Schwung 
zur Manier und wirkte durch das Widerſpruchsvolle 
ſeiner Art, indem Junges und Altes durcheinander— 
lief, oft geradezu peinlich. Der Pfaͤlzer wuchs immer 
ſtaͤrker aus ihm heraus und zerſtoͤrte durch ſeinen 
monotonen Singſang jede feinere Stimmung. 
Neben dem Pathos, das Kraſtel beherrſchte, ge— 
brach es ihm nicht an gemuͤtlicher Laune, weshalb 
ihm Heldengeſtalten, die ins Naturburſchenhafte 
gingen, beſonders gluͤckten: Percy, Tempelherr, Wetter 
vom Strahl, Siegfried. Sein Tempelherr, der auch 
damals in Muͤnchen die Gemuͤter gefangennahm, 
war eine praͤchtige Figur, nicht zum mindeſten durch 
ihre Kindlichkeit und Naivitaͤt, die das ernſteſte 
Pathos noch durch einen Anflug des Komiſchen wuͤrz— 
ten. Seine ſchwaͤchſte Seite lag in der Charakteriſtik 
und pſychologiſchen Vertiefung. Deshalb war er der 
ideale Vertreter Schillerſcher Jugendgeſtalten: Karl 
Moor, Ferdinand, Max Piccolomini, Lionel, deshalb 
auch ein vortrefflicher Schiller in Laubes „Karls— 


313 


ſchuͤler“, ein unvergleichlicher Franz in „Goͤtz“, ein 
hinreißender Jaromir. Minder gut waren Mortimer 
und Ruſtan, die tiefere Charakterzeichnung verlangen. 
Nur ſein Ingomar im „Sohn der Wildnis“ ſchlug aus 
der Art. Charakteriſtiſche Zuͤge, wie dem Leben ab— 
gelauſcht, ſtellten ſich reichlich ein. Man vermutete 
fremden Einfluß. Und in der Tat war ihm an Salvini 
ein Licht aufgegangen, das aber nicht dauernd uͤber 
ihm geleuchtet hat. 

Leider hatte Kraſtel, wie aus dem Geſagten genug— 
ſam hervorgeht, keinen Übergang in das reifere Fach. 
Er blieb immer jugendlich in Haltung, Ton und Ge— 
baͤrde, mußte ſich daher, im Gefuͤhl dieſes Mißſtandes, 
Zwang auflegen und wurde ſteif, gezwungen, mani— 
riert. Nur ſein Tell machte hiervon eine Ausnahme, 
da kam ihm wieder ſein Naturburſchentum zuſtatten. 
In der letzten Zeit hat Kraſtel fuͤr das Burgtheater 
den groͤßten Wert als Regiſſeur. Er iſt einer, der 
Sinn und Ohr fuͤr das geſprochene Wort beſitzt, von 
dem die Schauſpieler etwas Tuͤchtiges lernen koͤnnen. 
Als Regiſſeur leiſtet er Vorzuͤgliches, namentlich als 
Bildner der jugendlichen Mitglieder, denen er die 
Rollen foͤrmlich vorſpielt. Er iſt ein ausgezeichneter 
Lehrer, ſchon von ſeinem Wirken am Konſervatorium 
her, deſſen Schauſpielſchule er mehrere Jahre hindurch 
geleitet hatte. 

An dem Namen Fritz Kraſtel haftet ſo viel Jugend, 
daß er uns zuruͤckleitet in verſchollene Tage, die einſt 
jung geweſen ſind wie wir. Ich erinnere mich, daß 


314 


ich vor vielen Jahren den Maler Guſtav Gaul in 
ſeiner Werkſtatt aufſuchte, weit oben in der Vorſtadt 
Margarethen, wo Vater Gaul einen Kaffeeſchank be 
trieb. Ich ſah dort Nachbildungen Raffaelſcher Ge— 
maͤlde, die Gaul fuͤr Dumba gearbeitet hatte. Als ich 
durch den Hof zuruͤckging, ſtieß ich auf Kraſtel, der 
dem Wohnhauſe der Familie Gaul zueilte, indem er 
mit heller Stimme die Melodie „Guten Morgen, ſchoͤne 
Muͤllerin“ aus Schuberts Muͤllerliedern ſang. Kraſtel 
war damals Braͤutigam einer der Toͤchter des Hauſes, 
die er nachmals geheiratet. Wenn ich an Kraſtel 
denke, ſo ſehe ich ſtets den jungen, vor Liebe ungedul⸗ 
digen Mann in dem kleinen Hofe, wie er das Lied von 
Schubert ſingt. Er iſt ja innerlich immer jung und 
dem Leben gegenuͤber ein ewiger Braͤutigam geblieben. 
Es machte ſich nicht zufaͤllig, daß bei ſeinem Jubilaͤum 
Fritz Kraſtel und der Fruͤhling ſich gruͤßen. Er und 
der Fruͤhling, ſie kennen einander doch ſo gut! 


(Am 2. April 1905) 


Inhalt 


Bogumil Dawiſon . 

Julie Rettich 

Karl La Roche. 8 

Clara Ziegler in Wien 

Erneſto Roſſi als Hamlet und 
Othello „ 

Karl Fichtner . 

Die Meininger in Wien . 

Zwei Jubilare: Karl Meixner — 
Bernhard Baumeiſter . 

Erneſto Roſſi 

Koͤnig Lear im Burgtheater (An⸗ 
ſchuͤtz — Wagner — Foͤrſter — 
Hallenſtein) - 

Zweites Gaſtſpiel der 1 
in Wien 3 

Tommaſo Salvini . 

Schauſpieler uͤber Schanſpielkunſt 

Muͤnchener Geſamtgaſtſpiel . 

Adolph Sonnenthal 

Sarah Bernhardt . ; 

Sarah Bernhardt. Joſephine 
Gallmeyer. Charlotte Wolter 

Coquelin und Tartuffe 

Joſeph Lewinsky 


102 
141 
123 
170 
177 


184 
193 
201 


Agathe Barſescu als 1 und 


. Wa unse 208 
Karle Roche 8 
Sonnenthal als Wallenſtein 5 
Amalie Haizingeens 88 
Charlotte Wollten 286 
Ferdinand Bonn . 242 
Fritz Kraſtel als Fauſt. . . 249 
Ludwig Gabillon 238 
Adele Sandro . > +... 2:2 868 
Friedrich Mitterwurzer . 271 
Charlotte Wolter. 18341897 200 
%%% ( 2 ut Rose 
Helene Hartmann 292 
Georg Engels als Kollege Sean 

7 298 


Stella ee al ebnen 304 
FF . . .. .. 314 


Gedruckt in der Buchdruckerei von 
Herroſé & Ziemſen, G. m. b. H. 
in Wittenberg. Titel und Einband 
zeichnete Lucian Bernhard, Berlin 


Bei Meyer & Jeſſen / Berlin W 35 find erfchienen: 


Ludwig Speidels Schriften: 

Erſter Band: Perſoͤnlichkeiten. Biographifch-lite- 
rariſche Eſſays. Broſch. M. 4.—, geb. M. 5.—. 
Zweiter Band: Wiener Frauen und anderes 
Wieneriſche. Broſch. M. 3.50, geb. M. 4.50. 


Dritter Band: Heilige Zeiten. Weihnachtsblaͤtter. 
Broſch. M. 1.50, geb. M. 2.50. 


Alfred Freiherr v. Berger, Buch der Heimat. 
Erinnerungen. 2 Baͤnde. Broſch. M. 5. —, geb. M.7.—. 


Theodor Gomperz, Eſſays und Erinne— 
rungen. Geh. M. 3.—, geb. M. 4.—. 


Jacob Grimms kleinere Schriften in einer 
Auswahl fuͤr das deutſche Volk mit einer Einfuͤhrung 
von Ludwig Speidel. Kart. M. 2.50, geb. M. 3.50. 


Anſelm Feuerbach, Ein Vermaͤchtnis. Her⸗ 
ausgegeben von Henriette Feuerbach. Elfte bis 
vierzehnte Auflage mit einem Vorwort von Hermann 
Ühde-Bernays. Kart. M. 2.50, geb. M. 3.50. 


Anſelm Feuerbachs Briefe an ſeine Mutter 
aus dem Beſitz der Koͤniglichen National— 
Galerie. Herausgegeben von G. J. Kern und 
Hermann Ühde-Bernays vollſtaͤndig in zwei 
Baͤnden. Kart. M. 15.—, geb. M. 18.—. 


Bei Meyer & Jeſſen / Berlin W; 35 find erfchienen: 


Ulrich Braͤkers (des armen Mannes im 
Tockenburg) Schriften: 


Erſter Band: Das Leben und die Abentheuer 


des armen Mannes im Tockenburg. Von ihm 
ſelbſt erzaͤhlt. Mit einer Einfuͤhrung von Adolf 
Wilbrandt. Kart. M. 2.50, geb. M. 3.50. 


Zweiter Band: Etwas uͤber William Shake— 


ſpeares Schauſpiele von einem armen ungelehrten 
Weltbuͤrger, der das Gluͤck genoß, ihn zu leſen. 
Kart. M. 2.50, geb. M. 3.50. 


Es iſt ein ſinniger Zufall, daß die Schriften Ludwig 
Speidels in dem naͤmlichen Verlag erſcheinen, der 
uns dieſen Neudruck des armen Mannes im Tocken— 
burg beſchert hat. Denn dieſe beiden Maͤnner, welche 
an den aͤußerſten Polen geiſtigen Lebens ſtehen — 
Natur, die faſt ſchon Bildung iſt, und Bildung, die 
faſt wieder Natur wird — haben mehr Verwandtes, 
als mancher ahnt. Wem dies paradox duͤnkt, der 
leſe das feine Buͤchlein, das Ludwig Heveſi auch im 
Meyer & Jeſſenſchen Verlage uͤber Speidel geſchrieben 
hat. Dort, wo er die Anſicht ablehnt, Speidel waͤre 
ein gewiegter Germaniſt geweſen, ſagt Heveſi: „Sein 
Deutſch war das einer genialen Triebnatur, eines 
Germaniſten, wie das Volk einer iſt.“ 

(„Neue Freie Preſſe“ vom 30. Auguſt 1910.) 


2 1 1 5 bb N * 
i ' 


diene M 
1 N 10 Miete 
9471 * \ 1 ji AL N 
| 175 MEN 5 N, 
DEE 15 18 
U ’ x 1 5 1 4 


UNIVERSITY OF CALIFORNIA LIBRARY 
Los Angeles 
This book is DUE on the last date stamped below. 


IT, 
lenz Bl 


„Mamma 


3 1158 01186 3015 


” ann 


— — ne 
eee eee eee 


N A a ee 
* . 
ee